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Full text of "Velhagen & Klasings Monatshefte Jg 35.1920-21, Band 3"

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THE UNIVERSITY 
OF ILLINOIS 
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| Berliner Bühnen. Bon Dr. 


' Meiglin. Mit 15 Abbildu 


Neues vom Büchertiſch. 


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4 ‚Sttuftrierte Rund} dau: 


Bildhauer Adam Antes — 
|» von Hermann Weingand — 
Werk des Urditetten Dipl. 
Ernſt Pring — ‘Qu unfern Bi 
 — Gdjren|djnitte von Lija 
SelmolD und Helmuth Haupt 


Runftbeilagen in Mebrjar 


Der Tiger. Gemälde von 
ALG GR enee Ké 


Bildnis. Gemälde von Se 


geplius. . - 
Wn ber Molga. Gemälde vor 
Robert Steri 
Snnenraum. Gemälde von 
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Aunftbeilagen in Ton 


Kette Sonnenftrahlen. £ 
von Prof. Peter PaulMill 

Kleinplaftit für einen Bru 
Bildwerk von Prof. Augufi 
(mit Erlaubnis von — C 
Wet...» 

Att. Gemälde von Prof 
Purrmann. . . 

SmGrünen. Qünftlerilde Au 
von E. Bajow-Minde 


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Umſchlagzeichnung und Bud 
Prof. Heinrih Wieynd 


Geihäftliches: 


Borderer Anzeigenteil 
darunterfolgende Sonderab 
-Tódterpenjionate . 
Gier delen 
Hotels . . ; > 
Heilanftalten Ara 

Hinterer Anzeigenteil 


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enn Hans aus dem Tageslicht ber 
SIM: 7 ipäteren Jahre in icine Rindheitss 
SNIPS) Dämmerung zurüdblidte, fah er 
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ONASA lauter Zimmer. Reine Straßen, 
feine Spielplábe, feine Garten oder Walder, 
Jondern nur Zimmer. Da ift zuerft fein 
Rinderzimmer mit dem Schaufelpferd, ben 
ritreuten Bautlógen, dem verjchnißelten, 
ttefledigen Wadhstudtijd und mit dem 
Hulrangen, aus dem jo viele Gorgen her: 
prquillen. An den Wänden des Zimmers 
efinden fih einige fauftgroße Loder, deren 
Hornung Hans in geheimnisvolles Schweigen 
i Wud [ibt über bem Ofenrobr ein 
Hwarger Fled, ber fih mit der Damme: 
ung in einen Menjchenfrejler verwandelt. 
och verjchwindet dieſer jogleih, wenn 
janjens Mutter hereintommt. Denn mit 
E wird es jedesmal Dell Zum Feftfaal 
er wird das Zimmer, wenn fie abends 
RK einer Gejellihaft fid) nod) zu ihm fegt 
D ibm GBeichichten erzählt. Dann [djmiegt 
feine Wange an ihren weichen bloßen 
tm, atmet den morgenländijchen Duft ihres 
ngen Spiken|dals, und feine vertraute Als 
Basliebe wird zu einem feierlich brennenden 
Lieber nod) als alle Märchen aus 
iid hort er bas Märchen ihrer eigenen 
inbbeit. Rein verzauberter Wald ift fo 
amt und. heimlich wie ber, in bem fie Erd: 
en juchte, und alle Ledereien bes Knuf- 
bausdens verlieren ihren Wohlgeichmad 
jor den Äpfeln und den am offenen Feuer 
jebratenen Kartoffeln aus ihrem elterlichen 
arten, 
¿Dann gibt es Zimmer, deren Türen man 
be nicht außerhalb der Klinte anfafjen 


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35 Jahrg. / Mai 4924 / A Heft 


Hwei freunde 
Roman von Wilhelm Hegeler 


Belbagen & Klafingé JRonatébefte. 35. Jahrg.1920/1921. 2. Bd. Naddrud verboten. Copyright 1921 by Belbagen & Klafing 






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darf. Dort werden bie Beſucher hineinge—⸗ 
führt, die ihren Namen nicht felbft jagen, 
jondern auf einem gedrudten Kärtchen ab: 
geben, damit man ibn beffer behält. Die 
Herren nehmen fomijcherweife ihren ſchwarzen 
Hut mit hinein, als wenn fie wüßten, daß 
es da drinnen ziemlid) talt if. Manchmal 
aber werden die Öfen gebeizt, und dann ift 
abends Gejellidjaft. Dann freien bie Leute 
alle laut durcheinander, dak Hans nicht 
I&hlafen tann und manchmal in die Verjudung 
gerät, hereinzuftürzen und zu rufen: „Wollt 
thr wohl [tille fein, ihr verdammten Bengels!” 
Für gewöhnlich aber liegen die Zimmer uns 
benubt und find irgendwie unwirflid und 
verwunfchen mit der glajernen Luft, bie von 
dem Parkett, bem polierten Flügel, dem 
Geidenbezug der Möbel ausgeht. Er mag 
[ie nicht, jo wenig wie bie exotijdjen Bier: 
pflanzen auf bem Meflinggrund des Blumen» 
tiihes. Wenn er zufieht, wie feine Mutter 
jie aus dem dünnen, gebogenen Hals ber 
Gieptanne begieBt, fommt es ihm vor, als 
gäbe fie Kranten tceliffelweije Medizin ein. 
Manchmal betrachtet er fih in dem hohen 
Spiegel, feine langen, dünnen Beine, fein 
blajjes, abweijendes Gefidjt, und fühlt fih 
irgendwie an dieje Pflanzen erinnert. 

Und dann ilt da das Arbeitszimmer, in 
bem [ein Bater fit, feine Schläfe immer 
gegen die fnodige, große Hand l[ehnend. 
Mit der andern ftreichelt er bem fleinen 
Hans mandmal übers Haar, blidt ihn mide. 
angeftrengt, lächelnd an, fragt, wies ibm 
gebe, und jagt: „Ich möchte |o gern ein 
bißchen mit dir fpielen, aber gerade heute 
babe ich fo viel zu tun.” 

15 


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918 seess) Wilhelm Hegeler: Keess 


Gein Bater ift Geheimer Regierungsrat 
im Minifterium, und Hans hat einmal ges 
bört, wie feine Mutter zu einer andern Dame 
bemerkte: „Mein Mann überarbeitet fih.” 
Geitbem bat er tiefes Mitgefühl mit feinem 
lieben Papa, ber bis [pat in die Nacht hinein 
feine Stirn gegen die Hand prept und in 
Akten lieft. 

Ale diefe Zimmer wedfeln ihren Ort 
und liegen bald in diejem, bald in jenem 
Teil Deutidlands. Aber Hans tann fie 
Ichwer voneinander unterjcheiden und nur 
nod) gang bunfel erinnert er fid) an bie vers 
ichiedenen Ctübte. Nur eine große, graue 
Stadt |djmebt ibm noch deutlich vor, mit 
ihren verhaßten Stuben, in denen jedes 
Möbel und jeder Begenftand fein heimlicher 
Feind ijt. 

Damals ift fein Vater ertrantt und bes 
findet jid) mit Hanjens Mutter im Süden. 
Er jelbft wohnt ein ganzes Jabr lang bei 
feiner Tante. Und wenn er an dies Jahr 
guriiddenft, glaubt er nichts anderes getan 
zu haben als Schularbeiten machen, überhört 
werden und aufräumen. Aufräumen — 
lange Zeit muß vergehn, ehe er bieje drei 
Silben hören tann, ohne einen leifen Schreden 
zu befommen. 

Mod eine andere Erinnerung verbindet 
fid mit diefen Räumen. Eines Morgens, 
als er von der Schule heimtommt, jagt ibm 
bas Dienftmädchen, er folle fid) gleich zu 
feiner Tante ins Wohnzimmer begeben. Das 
Wohnzimmer ijf der Raum für befonders 
feierliche Tadel und Grmabnungen. Geine 
Tante [ibt dort auf einem mit blauem Stoff 
verhängten Gejjel, hält eine Depejche in der 
Hand, und Hans ift wie vor etwas Uns 
natürlichem er|d)roden, als er [tebt, daß aus 
den harten Glastugeln ihrer Augen Tränen 
tropfen. | 

„Hans,“ fagt fie, „ih muß dir etwas 
Trauriges mitteilen. Dein armer Bater ift 
geftern geftorben. — Du but nun eine Halb» 
waije.“ Statt eines großen, erjchütternden 
Schmerzes empfindet Hans ein leijes Stechen 
in feiner Magengegend. Er weint an diejem 
Tage nicht, jondern hodt nur blaß unb [till 
in irgendeiner Ede, und wenn er effen foll, 
Hagt er über Leibweh. Manchmal geht er 
in das unbewohnte Wohnzimmer und be: 
tradtet aufmerkſam die blau verhängten 
Möbel, und nod) nad) Jahren bedeutet ihm 
eine beftimmte Jtuance von Blau die Farbe 
der Trauer. 

Menn in der Schule oder auf dem Heim: 
weg bie Kameraden lahen und er jelbjt: 
vergefjen mitladt, befinnt er jid) plóslid 
auf ben ſchwarzen Flor an feinem Armel 
und verftummt. Zu Haufe erzählt feine 


Tante ihm viel von den hervorragenden 
Eigenſchaften des Berftorbenen, von [einer 
Tüchtigfeit, feinem forjchen Sinn, feiner Ge: 
Ihidlichkeit in allen Dingen. Hans hört mit 
gerunzelter Gtirn zu und fragt jid nur 
manchmal, ob die Tante nicht von einem 
ganz Fremden jpridt. 

Das Laden huſcht nur nod ganz felten 
und von außen ber über fein verjchloffenes 
Geliht. Und das Leben ift nod viel froftiger 
und eintöniger geworden. Dod) findet er 
das in ber Drdnung Nur nad) feiner 
Mutter hat er große Sehnjudt. Ihre Briefe 
Hingen mandmal wie einft, als fie ibm das 
Marden ihres Lebens erzählte, und erweden 
Hoffnungen in ihm, an deren Berwirtlibung 
er faum zu glauben wagt. 

Dann aber geht es Doch zu wie in einem 
Mardhenftiid. Das dunkle $Bor[piel ift zu 
Ende, bie engen Wände beben fih, Licht 
ftrablt auf unb bietet dem Muge buntere 
Bilder bar: bie Schickſalsgeſtalten feines 
Lebens betreten den Plan. 

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Diejer Geburtstag eines neuen Lebens 
fnüpfte fih an bie Stunde, als Hans nad) 
langer Fahrt, von ber immer wieder ans 
gejpannten Erwartung ganz ausgerentt, auf 
dem Bahnhof ber Rbeinftadt antam. Sn 
feiner Bruft tangte über Müdigkeit und 
Trauer ein bunter Traum wie ein Schmets» 
terling über grauem Wafjergewoge. Während 
ber Zug langjam in bie Babnbofshalle eins 
fuhr, blidte er durch das belle Rund in ber 
bejchlagenen Scheibe, gewahrte unter ben 
wenigen Menjchen eine fremdartige, ſchwarze 
Gejtalt, unb das Leuchten in feiner Bruft 
erlojd. Mühſam, verquer fchleppte er den 
Koffer vor fid) Der, während die Ausfteis 
genden an ihm vorbeidrängten. 

Wher nod) hatte fein Fuk bas unterfte 
Trittbrett nicht erreicht, als fein Name mit 
wunderbar vertrautem Ton ihm entgegen» 
Hang, als er, ergriffen und umjchlungen, im 
warmen Drud ber Lippen das liebe Geficht 
feiner Mutter fühlte, ehe er es noch fab. 
Dann aber beugte er fid) in ihrem Arm 
zurüd, blidte fie an, durd)drang fie in tieffte 
Tiefen, bis in diejem kurzen Augenblid die 
talte Berlajjenheit eines ganzen Jahres zer: 
ſchmolz, in heißem Glüdsjchwall, der fein 
Inneres burd)brad), es ganz durd)flutete. 

Darauf fuhren bie beiden in einem be: 
quemen Mietswagen zur Stadt hinein. Frau 
Bolelmann madte ihren Jungen auf dies 
unb jenes aufmertiam. Da war der Stadt» 
graben, da das Theater, da der Hofgarten, 
da ber große und der Heine Weiher und 
dort die Goldne Bride. Hans nidte nur, 
ohne recht Hinzujehn. Ein andermal — 


FE Zwei 


morgen vielleiht wird er das alles an: 
Bounen, Nur jet nidjt! Nur nichts bem 
Einen vorwegnehmen, was feine Bruft ers 
füllte wie bie reifende Nuß bie bedrángte 
Schale. 

In immer neue Ceiten[iraBen bog ber 
Wagen ein. Als endlid) feine Mutter fagte: 
„Das ift unfere Straße,” Hang es ihm wie 
bas weihnachtliche: „Es ift beſchert!“ Dod 
gab er nur ein gleichgültig Mingendes „So?“ 
zur Antwort. 

Cie ftiegen aus. Frau Bofelmann ver: 
handelte mit dem Kutjcher. Hans ftand, 
ſcheinbar von Müdigkeit betäubt, mit feiner 
Taſche in der Hand neben ihr. Dod) jobalb 
die Haustür geöffnet wurde, fuhr er auf, 
rannte an dem Dienfimädchen vorbei, ließ 
bie Taſche auf den Flur fallen, op die Glas: 
tür, die bas Vorderhaus von dem Anbau 
trennte, auf, öffnete mit bemjelben Ungeſtüm 
eine zweite Tür, ftiirgte auf den Hof hinaus 
und blieb dann, mit offenem Wlund nad) 
Luft ringenb, ftehn, um das langerjebnte 
Wunder in fid aufzunehmen: den Garten. 

Er ftand und ftarrte und jah nidts von 
diejem Iánglidjen Biered, bas weißgekalkte, 
hohe Mauern umgaben und zwei herzförmig 
geichnittene Rajenplage zum größten Teil 
bebedten. Gar nichts jah er von biejer 
Heinen Wirklichkeit, jondern hatte nur bie 
Vorſtellung von einer paradiefijden Unends 
lichkeit. Erft nad) einer Weile wagte er mit 
ebrfiirdtigen Schritten bie neue Welt zu 
betreten. 

Da 30g ein gewaltig Hoher, über unb 
über mit Früchten bebangener Baum fein 
Auge auf fid), und aus feiner Kehle fam 
ein Laut überjtrömender Dankbarkeit und 
Freude: „Der Birnbaum!” 

Seine Mutter batte thm [hon gejchrieben, 
daß außer fleineren Objtbäumen auch ein 
großer Birnbaum im Garten ftánde. Oft 
batte er von ihm geträumt und hätte bod) 
nie geglaubt, daß er jo groß... fo grün... 
unb fo voller Birnen wäre. Der König, 
nein, ber Herr Jejus unter den Birn: 
bäumen! 

Langjam, den Blid immer auf den hohen 
Mipfel gerichtet, ging er näher. Und da 
nun der Wind durch die Zweige fuhr und 
die Blätter ihm guraujdhten, durchfuhr ihn 
ein freudiges Erjchreden, wie wenn ber 
Baum taujenb Fahnen im Huldigungsgruß 
vor ihm neigte. Und als follten dem Gruß 


gleich bie Gaben folgen, Hang im Gras ein. 


leijes Pochen, ein weicher, gebümpfter Ton. 
Hans ftreifte bie Rafenfläche ab, ohne etwas 
zu entbeden. Da podjte es zum zweitenmal 
und jien thm zugurufen, er folle doch fuden. 
Er tat’s und fand zwei Birnen, die eine 


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heil, die andere leicht aufgejprungen, fo daß 
man ihre jchwarzen Kerne fab. 

„Drama! Mama!” jchrie er. 

Ziele fam bie Bartentreppe hinunter. 

„Mama! Mama! Gieh mal, ich hab’ 
[don zwei Birnen. Eine für dich, eine für 
mid. Darf ich fie effen?” 

„Ja, mein Junge.” 

Er biB hinein. 

„Wie jchmedt fie denn?” 

à nl, hundertmal füßer als eine Apfels 
me!” 

Ihre Hand um feinen Hals legend, ging 
grau Botelmann mit ibm zur Bank an der 
Dauer und fragte, ob ihm der Barten gefiele. 

Er wollte antworten, griff hod) hinauf 
zum jchönften, volfommenjten Wort, ſchluckte, 
ftodte, jab fie nur rajd) verwirrt aus heips 
feuchten Augen an und lief davon. 

Während die Mutter ihm nadblidte, lief 
jie ihre Gedanfen in die Zukunft ziehn und 
fragte fih, was das Leben in diejem neuen 
Zuftand ihnen Gutes und Schweres bringen 
und wie fie felbft ihre verantwortungsvolle 
Aufgabe erfüllen werde, 

Gegen feine Neigung zum Juriften be: 
ftimmt, hatte ihr Mann feine ganze Kraft 
unb aud ein gut Teil Ehrgeiz an feinen 
Beruf gejegt, railh Karriere gemabt und 
bis zu feinem körperlichen 3ujammenbriud) 
9tusjid)t auf eine nod) angejehenere Stellung 
gehabt. ber nicht erft im legten Jahr, auch 
früher |djon, ehe die Krankheit ihn verbitterte, 
batte er Andeutungen fallen Iajjen, daß ibm 
trog feinem vielbeneideten Aufitieg bie innere 
Benugtuung fehle. 

Dies Schidjal hatte fie gelehrt, was es 
mit dem äußerlihen QGlüd für eine Bes 
wandtnis hat und ihren Ginn in die Stille 
ihres Vaterhaujes zurücgelentt. Und wenn 
fie jet, ba diefe goldenblaue, weiche unb jo 
gejegnete Stunde jedem Verlangen Erfüllung 
Icymeichelte, an bie fommende Ferne einen 
Wunſch richtete, jo war es der, daß ihr Sohn 
in diefer neuen Umgebung Kraft und Freude 
und Rechtſchaffenheit jammeln und dann 
den Meg zu einem be[djeibenen oder Hohen 
Ziel einfchlagen möge, auf ben Neigung und 
yúbigteiten ibn hinwiejen. 

Die Reihe ber neuen Häujer, von denen 
eins jet Frau Botelmann bewohnte, nahm 
ben Plak eines ehemaligen ländlichen Wns 
wejens ein, deffen großer Garten durch die 
Miltür bes Bauunternehmers in [ánglidje 
NRechtede gerjdjnitten war. Noch wucherten 
in der fetten, ſchwarzen Erde die Überreſte 
der alten lora, wie fernbajter Bauern» 
geihmad, ber das Schöne gern mit dem 
Nüslichen verbindet, fie gepflanzt hatte, 
Gattes Gelb, tiefes Blau, Scharlach und 

15* 


990 sees Wilhelm Hegeler: see 


Purpur, mildweike Floden, Perlmutter: 
Ihalen, Gloden aus buntem Glas, famtne 
Schmetterlinge, Sonnenráder und fanft: 
glühende Rämpchen flammten als bie buntejte 
Gtiderei aus dem Grunde der Blätter und 
Kräuter von vielfahem Grün. 

Hans fap davor, und feine Wangen 
brannten jdjn vor Cntdedergliid. Bald 
lodten ihn die Blumen, die er nicht nur bes 
jehn, jondern auch berieden und befühlen 
mußte, bald 30g feinen Blid eine Reihe 
Ameijen an, und, bis zur Gedanfenlofigfeit in 
Betrabtung verjunten, jah er ihnen zu, wie 
He auf ihren in den bartgetretenen Weg 
gegrabenen Gängen emfig hin und ber liefen, 
und bald wieder verfolgte er den Flug einer 
Biene, die fih [Hwerfállig aus ihrem Blüten- 
telh erhob, um bann, als wäre fie vom Luft: 
ſtrom ergriffen und fortgejchleudert, rajh im 
Blauen zu verjchwinden. 

Plöglich aber fprang er auf, und als er 
nun wieder auf ben Birnbaum losjchritt, 
überlief fein Herz ein neues Verlangen. Er 
verjuchte, fid) an dem borfigen Stamm hoch: 
zuziehn, rutjchte aber jedesmal jammerlid ab. 
Alſo fletterte er auf bie Bank und von dort 
aus auf bie Mauer. Bon oben fah die Ents 
fernung bis zum Boden nod) einmal fo tief 
aus. Ihm tlopfte das Herz. Wher er gab 
fid einen tiidjtigen Schwung, bing aud 
wirklich einen 9Iugenblid awijden Himmel 
und Erde, da aber jeine Hände den diden 
Aſt nicht umtlammern konnten, glitten fie 
ab, und er fiel hinunter. 

„Gemein !” fagte er und humpelte, während 
es in feinem Ropfe dróbnte, als wenn eine 
Hummel darin fummte, wütend, halb weiners 
lid) nod) einmal zur Gartenbant. Diesmal 
bajchte er einen tleineren Nebenaft, an dem 
er fid) aufziehn fonnte. Er fletterte ein 
wenig höher und blidte über die Mauern. 
Die Nadbargárten boten nichts Bejonderes. 
Uber mit dem Rüden grenzte ber eigene 
Garten an ein [males Gagden, hinter dem 
fid) ein großes Anwejen, eine Gärtnerei mit 
Gewádsbiujern, WMijtbeeten und regels 
mäßigen Blumenbeeten ausdebnte. Ein bes 
brillter Mann mit einer halblangen Pfeife 
im Munde ftand vor einem der geöffneten 
Rajten und braujte die Blumen ab. Auf 
dem Grasplak davor fpielte ein feiner 
Sunge mit einem Sonnden, 

„Hoho!“ [hrie Hans übermütig in die Welt. 

Der Junge fprang überrajcht auf, Dep fid) 
aber, ba er nichts jab, nad einer Weile 
wieder nieder. 

„Hoho!“ jchrie Hans nod einmal und 
bog die Zweige auseinander. 

Da bemerfte der Junge ihn und rief ihm 
etwas Unverjtändliches zu. 


„Was meinft du?” fragte Hans zurüd, 

„Du folft bid) nicht |o dide tun, du 
Brummodje!” 

Cnttáu|djt Tieß Hans den Bláttervorhang 
fallen. Mit einem foldjen Grobian hatte er 
teine Luft fid) einzulajjen. 

Nachdem er nod ein wenig höher gee 
Hlettert war, wählte er fid) einen gegabelten 
Aft zum Rubefig und hatte bas ſchöne Ge: 
fühl, daß nun der Baum ihm wirklich ganz 
gehörte ... 

Nah dem Abendeſſen ftahl Hans fid) 
nod einmal in den Garten hinaus. Es war 
mittlerweile völlig duntel geworden, und die 
Luft von tauiger Feuchte durchtühlt. 

Den Rüden an den Stamm gelehnt, fab 
er im Gras, und feine Bedanten waren bei 
den Ameijen, den Bienen, den Vögeln. Die 
rubten nun aus und jchliefen in weichen 
Kammern, in warmen Meftern.- Aud bie 
Blumen [djliefert nun und wurden im Traum 
von bunten Schmetterlingen bejucht, und der 
dide, fomijde Kürbis hatte es fih ebenfalls 
zum Schlaf bequem gemadt und lief fein 
gelbes Buttergelicht von ben grünen Blätter: 
hánden bejchirmen. Und die Kleinen, [djillerns 
den Käfer, die in ben Rojfenbláttern faken, 
waren nod) ein wenig tiefer gefroden, um 
es redjt warm zu haben, und jdjnardjten 
vielleicht ganz zart, ganz fein. 

Es war jo woblig, an alles dies zu denfen, 
das geheimnisvolle Raujden der Blätter 
unb Dann und wann ein Dumpfes Pochen 
zu hören, wenn eine Birne vom Baum fiel, 
der immer, aud im Schlaf nod) [djenfen 
mußte, und dabei in den |djmargen Himmel 
mit feinen hellen Gternbildern zu ftarren. 
Gie famen ihm ganz nah vor, wie filberne 
Blumen, welde die Stadt auf bielen dunklen 
Beeten hatte aufblühn laffen. Während er 
tief und woblig atmete, weitete fid) fein Herz 
und erfüllte fidh mit einer beglüdten Liebe, die 
alle Kreaturen Gottes um[djloB: die Sterne, 
die Blumen, die Käfer und auch ihn Jelbft, 

88 


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Eines Tages waren die Herbjtferien zu 
Ende. Hans padte feinen Ranzen mit neuen 
Büchern voll und machte fih wieder auf den 
Weg zur Schule. Der Ton, der dort herrichte, 
war ihm ganz ungewohnt. Auf der Berliner 
Anftalt hatten jüngere Lehrer nad) neueren 
Grundjäßen unterrichtet, und zwijchen ihnen 
unb den Schülern hatte ein ziemliches nüd: 
ternes, ausgeglichenes Verhältnis beftanden. 
Auf dem ehrwürdigen Bymnalium der Rhein» 
ftadt aber gab es noch den alt überlieferten 
Krieg, ber von feiten der Schüler mit vielen 
Lijten und Fredheiten, von feiten der Lehrer 
mit polterndem Scelten und gelegentlichem 
Dreinfdlagen geführt wurde. 


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Kaiſerin Auguſte Victoria T 
Von Max Arenz 
(Letzte Zeichnung nach dem Leben) 


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EE Zwei Freunde see ee 991 


Ein wenig zaghaft und benommen von 
diejem geräufchvollen Treiben hielt Hans fid) 
anfangs abjeits und war herzlich froh, daß 
ein anderer Schüler, der gleichzeitig mit ihm 
eingetreten war, die allgemeine Aufmertjam: 
feit von ihm ablentte. Er hieß Klaus Eben: 
fto und war jener Junge aus der Gärtnerei, 
den Hans am erften Tage vom Birnbaum 
aus angerufen hatte, Durch fein rauhhaariges 
Wams, feine Blodenhojen, feine bäuerlichen 
Manieren, vor allem aber durd) feinen fremd: 
artigen thiiringijden Dialeft war er gleich 
zum Gejpótt der Klajfe geworden. Uber er 
wußte fih mit Bejchid feiner Haut zu wehren, 
und Hans, der fein Nachbar war, bemertte 
mit Erftaunen, wie ſchnell er fid) ber neuen 
Umgebung anpafte. Is erjtes legte er fein 
fpotterregendes Gefieder ab und erjchien in 
einem blauen Matrojenangug. Und [Hon 
nad einigen Tagen frod) er mit feinem rote 
gewiirjelten Tajchentuch beim Naſeſchnauben 
nicht mehr unter bie Schulbant, fondern bes 
nubte auf ganz manierliche Weile ein weißes 
Tuh. Aud) ber grobe Dialekt verjdwand 
jeden Tag mehr und lam nur nod) zum 
Vorſchein, wenn Klaus zornig wurde. Da 
er auf feiner heimatlichen Dorfidule und 
beim Pfarrer eine Jolide Grundlage erhalten 
hatte, war er in manden Gegenftánden 
einen Rameraden überlegen und wußte, ehr: 
geizig, bie graugrünen Augen ftets aufmerts 
jam auf den Lehrer richtend, in ben Haupt: 
fáchern bald deren Liebling zu werden, um 
dann in anderen Fächern, wie Gingen 
und Zeichnen, bie bei den Zeugnijjen feine 
bejondere Rolle fpiclen, durd) ein dreijtes 
Benehmen die Achtung jeiner Kameraden zu 
erringen. 

Für Hans zeigte er gleid) von Anfang 
an eine naive Zuneigung, fragte ihn neus 
gierig und frühreif nach allem möglichen 
und erzählte jelbjt von feinem früheren 
Leben auf dem Dorf, wobei er gewaltig den 
Helden fpielte. Darüber beluftigte Hans fid 
im ftillen, während thm das forjde und 
geſchickte Auftreten feines Nachbarn zugleich 
imponierte. Er wäre ganz gern fein Freund 
geworden, aber ehe es zu einer Annäherung 
fam, hatte Klaus es [Hon mit thm vers 
dorben. 

Auf Beſchluß ber Klaffe hatten bie beiden 
im Ringlampf ihre Kräfte mellen miüjjer, 
und Hans hatte den um einen Kopf Rleineren 
regelrecht zu Boden geworfen. Als er ihm 
aber die Hand zur Berjóbnung entgegen- 
ftredte, umfaßte Klaus ihn bligjchnell nod) 
einmal, [tellte ihm ein Bein und bradte ihn 
fo zu Fall. Hans ſchimpfte, Beinftellen wäre 
gemein und Ebenftod ein Schuft, der aber 
batte [Hon ReiBaus genommen und hóbnte 


aus ficherer Entfernung, nun hätte Hans 
auch auf ber Nafe gelegen. 

Sn den nád)ten Stunden gab bieler auf 
feine Fragen teine Antwort und mied ihn 
aud) auf dem Nachhaujeweg. 

Als er aber nachmittags im Garten grub, 
fab Klaus ploglidc) auf der hohen Mauer 
und rief ihm zu, ob er immer noch böje wäre? 

„Natürlich! Beinftellen finde ich gemein.“ 

„Warum haft bu mid) jo gewiirgt? Das 
tft aud) gemein.“ 

„Das ijt bod) ganz was anderes.“ 

„Da habt ihr aber mal hübſche Blumen. 
Weißt du auch, wie fie alle heißen?“ 

„Ale fenne ich nicht.“ 

„SH fann bir die Namen fagen, wenn 
du illit." 

„Dante, Meine Mutter hat ein Garten: 
bud. Das ijt nur nod nicht ausgepadt.“ 

„Wir haben fo eine Menge Blumen in 
der Bärtnerei. Und was wir für Gewads- 
baujer haben! Komm bod) mal 'nüberl^ 

Hans jehüttelte ben Kopf und grub weiter. 

„Wir haben eine Königin der Naht,” 
fuhr Klaus fort. „Die blüht nur alle Hundert 
Sahre einmal. Geftern ijt fie aufgeblüht. 
Einen richtigen Knall hat’s gegeben. Die 
follteft du bir anjehn.“ 

Die Verfuhung war groß, und um ihr 
nicht zu erliegen, fagte Hans, er müßte 
Schularbeiten madjen, und ging ins Haus. 

Aber an diefem Abend galt fein Iebter 
Gedante vor dem CGinjdlafen der Königin 
der Mat. Alle Blumen des Gartens mite 
jamt der Gonne und den Gternen vers 
einigten Déi zu neuen, wunterjamen Gebilden, 
die feinen gejchlojfenen Augen entgegen- 
ſchwebten, ihn heiß entgiidten, um, plóglid 
verſchwunden, ihn noch jehnjüchtiger zuriids 
aulajjem. Und während er badjte, daß er 
Diele Wunderblume, bie alle hundert Jahre 
nur einmal bliibte, hätte jehen Tonnen, hatte 
er die dunkle Empfindung, daß er dadurd) 
in eine bejonders begnadete Klafje von 
Menſchen aufgeriidt wäre, dies aber für 
immer verjcherzt hätte. 

Klaus erncuerte von Zeit zu Zeit [eine 
Einladung, und wenn Hans ihr immer nod) 
nicht folgte, [o war weniger fein bald wieder 
verrauchter Zorn, als feine fpróde Zaghaftig« 
feit daran ſchuld. Und dann Hatte er felbft 
einen andern Klajjenfameraden in fein Herz 
gefdjloffen, Rudi Dewerth, den Sohn eines 
Malers, der gerade durch Eigenjchaften, 
die Klaus nicht bejaß, feine Zuneigung 
gewann. Wenn Rudi in der Stunde auf: | 
gerufen wurde, erhob er fid) behaglich lang: 
jam, jah den Lehrer wohlwollend an und 
blieb regelmäßig die Antwort [Huldig. 

(Fines Tages ftand bie Pforte in der 


222 Wilhelm Hegeler: 


hinteren Gartenmauer offen, und ein Gartners 
gehilfe mábte das Gras ab. (Es dauerte 
nicht lange, ba erjchien auch Klaus, begrüßte 
Hans, warf einige oberflädhliche Blide auf 
die Beete und fagte dann, nun wollten fie 
gujammen die Gärtnerei bejehn. 

Zuerjt begrüßten bie Jungen Frau Eben: 
tod, bie in einem Rorbftubl an der von 
Weinreben begriinten Gonnenjeite des nieb: 
rigen Haufes jak. Cie hatte feines, rötlich: 
blondes Haar, das Hans irgendwie an fergens 
burdjglübten Chrijthaumjdmud erinnerte, 
und tiefliegende, Dunkle Augen, bie bas zarte 
Beficht zu einem jchmalen Rahmen machten. 
Es fiel ihm auf, daß troß der Wärme ein 
Plaid über ihren Knien lag. 

Seine Begrüßung erwiderte fie mit etwas 


dünner Stimme, erfunbigte fih eingehend‘ 


nad Lebrern und Unterrichtsitunden, und 
als Hans erflärte, daß Deutjch fein Lieblings» 
fad) wäre, und fie darauf von Gedichten 
ipradjen, jagte fie, wenn es ibm Freude 
machte, würde fie ibm einmal weldje vorlejen. 

Darauf trabten die beiden Jungen davon, 
um aud) Vieifter Ebenjtod guten Tag zu 
jagen, der an feinen Miftbeeten ftand und 
zu Hans bemerkte, die Hand Tonne er ibm 
nicht geben, die fei zu dredig. Dann hieß 
er jeinen Sohn beim TFeniterverlegen mit ¿us 
greifen. Hans half dabei und freute [id) 
jedesmal an dem bunten Pflanzenteppich, 
ber mit betäubendem Duft zum Vorſchein tam. 

Der Winter madjte biejen Bejuchen bald 
ein Ende. Im Frühjahr darauf aber ente 
widelte fic) gwijden den beiden Jungen ein 
reger Werfehr, der freilid) anfangs von 
Hanjens Sette mehr den Eltern feines Shul- 
lameraben als Diejem felbft galt. Er wurde 
nicht müde, dem biederen, etwas langjamen 
Meifter Ebenftod bei feiner Arbeit zu helfen, 
und lernte in furger Zeit nicht nur pifieren 
unb ofulieren, jondern fonnte feine Mutter 
gelegentlid) aud) über die gänzlich ver: 
Ichiedenartigen Wirkungen bes higigen Taus 
bendiingers unb des milden Ruhdungs auf: 
tláren und darüber, baB man Abort niemals 
in frijdem Zuftand verwenden dürfe Frau 
Botelmann freute fid) über fein Tun, bei 
dem er tráftig gedieh. Wenn er aber mand: 
mal, ftrablend von Schweiß und Befriedigung, 
nahdem er armvoll Töpfe oder jchwere 
GieBlannen gejdleppt oder Cand gefiebt 
hatte, zu Frau Cbenftod fam, jo fragte 
dieje ihn verwundert, ob er denn derlei Ura 
beiten auch wirklich) gern oder etwa nur 
ihrem Mann zu Gefallen tate? 

„Nein,“ verlicherte er, „es macht mir 
wirklich Spaß. Aber nun möchte ich, daß 
Cie mir wieder ein ſchönes Gedicht vorlejen.“ 

Gie läcdhelte und ftrich ibm dankbar durchs 


Haar, ließ jid) nod) ein wenig bitten und 
ſchlug dann einen der neben ihr liegenden 
Bände auf. Sie liebte bejonders traurige 
Gedichte, bie fic mit Ieijer Stimme, ein wenig 
ichleppend, vorlas, und bei bejonders ge: 
fühlvollen Stellen ließ fie die Worte zu einem 
taum bérbaren Hauch verjchweben. Dann 
fühlte Hans jedesmal, wie fein Herzichlag 
ausjebte, und er mußte erft einige Viale 
Ihluden, ehe er etwas jagen fonnte. 
Obwohl er fid) im allgemeinen gegen die 
Berührung von Fremden Heftig ftraubte: 
wenn fie ihn mit ihrer ſchmalen Hand lieb» 
tofte, wagte er nicht, fid) zu rühren. Er 
wurde nicht müde, ihr jdjmales Gefidt zu 
betrachten und darüber nadyzudenten, mit 
welder Blume man es wohl vergleichen 
tónnte, oder fich zu fragen, in welchem Kleid 
jie ſchöner wäre, in dem roja von geftern 
oder in bem lichtblauen, das fie heute trug, 
oder in dem weißen Conntagstleib. Eines 
Tages fagte er, halb im Scherz, zu Klaus, 
die feinfte Blume, die fie im Garten hätten, 
wäre feine Mutter. Die andern Blumen 
hätten immer biejelbe Farbe, fie aber 
wechlelte [tets. 
Klaus iiberbradte dicje Bemerkung feiner 
Mutter, in deren Wangen eine Blutwelle 
aufítieg und rajh wieder verftrómte. 
Geitdem Hang in den Unterhaltungen 
awijden ihr und ihrem feinen, ftillen Ver. 
ehrer manchmal ein neuer Ton. Gang um: 
rißhaft, mit halben Worten verriet fie ihm 
ihr Innerftes und ſprach, fid) vergeffend, 
mit ibm wie mit einem faft Erwachjenen. 
Was fie von ihrem Leben erzählte, Hang 
wie ein buntes, melandjolijd) endendes 
Marden. Lehrerin in einer Bolfsjdule im 
Berliner Often, hatte fie infolge irgend» 
welcher Beziehungen viel bei reichen, vors 
nehmen Leuten verfehrt, Balle und Gefell- 
[haften mitgemadt, auf denen bie vers 
Härende Erinnerung fie die rührende und 
poetijde Rolle des Heinen Mädchens im 
billigen Fähnchen jpielen ließ, das durch 
Anmut und Get alle glänzenden Erjchei- 
nungen überjtrahlt. Später freilich batten 
bie Mtenjden aus Ddiejen Kreijen, wie fie 
jagte, ihre wahre Natur, ihre vom Gelb vers 
härteten Herzen enthüllt. Cin bißchen frant, 
am Herzen und wohl aud an der Lunge, 
hatte fie dann einen Gommer bei ber 
gamilie ihres jpäteren Mannes in dem 
thiiringijden Sujtfurort verbradt. Als ber 
jüngfte Sohn ihr in feiner treuberzigen, 
ihwerfälligen Art zu ver|teben gab, daß er 
jie liebte, war fie auer[t zurückgeſchreckt bei 
dem Gedanken, die Frau bieles einfachen 
Mannes zu werden. Aber fie batte dow 
recht daran getan, nidjt wahr? Mas bes 


PSSSSSSSESCLSCCSLE 


deutete alle Beiftesbildung gegen ein treues 
Herz! Und ihr Mann war gut zu thr. 
Und fie madte ihn gliidlid)! Darauf tam 
es ja an! Dazu lebte man: nicht um felbjt 
glüdlich zu fein, Jondern um andere glüdlich 
gu modern, Nicht wahr? 

Hans gab ihr recht, wenn er auch zweifelnd 
meinte, wer andere gliidlid) madte, hätte 
bod) wohl aud) Redt auf eigenes Glid. 

„Blüd! Was ift Glück?“ fragte fie mit 
zerbrochener Stimme. Und fid) ein. wenig 
aufrichtend und über das Bud auf ihren 
Rnien ftreichend: „Da — ein ſchönes Gedicht, 
bas ift Gliid. Und das lann einem niemand 
nehmen.“ 

Mod andere nicht minder rätjelhafte Be: 
mertungen entjcylüpften ihr. Einmal — fie 
hatte wohl leichtes Fieber — fagte fte: „Die 
Männer fpielen mit uns wie auf einem Sn: 
ftrument. Man legt es beifeite, und es ilt 
ftill, Aber wenn die Saiten unjeres Herzens 
einmal wirklich berührt find, dann tingen 
fie weiter. Klingen, bis fie ſchließlich entzwei— 
[pringen. — Uber bu fannft bas nod) nicht 
verftehen.“ 

Nein, er verftand nicht, was [ie meinte. 
Und bod) blieb ihm aus foldhen Worten eine 
frühreife Ahnung von ber ?Bermorrenbeit 
bes jehnjuchtzerquälten menjchlichen Herzens 
zurüd, wie man in einem duntlen Zimmer 
die Begenftánde zwar nicht Debt, aber bod) 
taftend ahnt. 

Nachmittags hatte Frau Agnes oft Be: 
lorgungen in der Stadt zu maden und mußte 
dazu von ihrem Manne Geld holen. Bei 
diefen Gelegenheiten madjte Hans die Be: 
obadtung, baB Mteijter Ebenftod ftets eine 
Weile mürrifch war, wenn er feinem Porte: 
monnaie einen Taler oder Fünfmarkſchein 
entlodert hatte. Sans hielt ihn für etwas 
geizig. 

Es fam wohl vor, dak, wenn Hans [id) 
in der Gärtnerei umbertrieb, Klaus auf 
dem Zimmer feines Freundes jak und deffen 
Gefdjidjtenbüdjer las oder Frau Bolelmann 
Gefellidjaft leiftete. Wenn diefe fragte, wo 
ihr Hans eigentlich ftedte, antwortete er, der 
bülfe feinem Bater. Und einmal fügte er 
hinzu: „Sie müjjen nicht denten, Frau Ge: 
beimrat, daß ich nicht auch gern arbeite. 
Nur ſchmutzige Arbeiten mag ich nicht. Ich 
arbeite lieber mit dem Kopf. Sch helfe 
meinem Bater bei den Rednungsbiidern. 
Mein Bater jagt, 9tedjnen ift bas Echwerite 
bei der ganzen Bärtnerei, Er will lieber 
einen Meter gefrorenen Boden haden, als 
eine Stunde rechnen. — Was gibt es eigentlid) 
für einen Beruf, bei dem man das Rechnen 
gebrauden tann?” 

„Kaufmann ober Bantbeamter.” 


Zwei 


Freunde (3333333333339 223 


»Bantbeamter — ift bas was Feines? 
Mas tann man da werden ?“ 

„Wenn du tüchtig but. fannft du Leiter 
einer Bant werden.“ 

,Seiter einer Bank. Ift das was Hohes? 
Hat man ba viel Maht?” 

„Da haft du unter Umftänden mehr Maht 
als ein Minifter, Denn bie Finangleute 
regieren heute ja die Welt.“ 

„Wiefo? Das verftehe ich nicht.“ 

Frau Bofelmann ertlárte ibm, wie fie's 
meinte. Er hörte mit jchillernden Augen 
gu, ftellte immer neue Fragen und fagte 
ſchließlich: „Das dente id) mir famos. Da 
bildet fo ein Minifter fid) ein, er maht alles 
jelbft, und tut [djlieBlid) bod) nur, was id) 
will. Bantbirettor —! Rechnen tann id). 
Geben Cie mir, bitte, mal eine Aufgabe 
auf, Frau Geheimrat, fie tann nod fo 
ſchwer fein.” 

88 ag 38 
Das Haus des Malers Dewerth lag neben 
dem Schloß und — wie Hans fid) ausdrüdte 
— es tam gleich hinter dem Schloß. In 
feiner Borftelung war es ein Balaft, ein 
Mufeum und eine holländijche Fiſcherhütte; 
der Boden war ein Spielplaß für die Jungen, 
beinah fo groß wie die Turnhalle, und fein 
Garten ein Part mit jeltenen alten Bäumen, 
mit weiten Rafenplágen und einem eid. 

Und dann gab es Pferde und Wagen und 
einen Diener. Seine blaue Livree trug 
Auguft allerdings erft von zwölf libr ab, 
von ba an puderte er aud) feine rote Nafe. 
Wenn er bie ſchwere Eichentür, bie (id) ges 
räufchlos wieder ſchloß, geöffnet Hatte, fagte 
er berablajjend und ein bißchen wehmütig: 
„Och, guten Tag!” legte die Hand an bie 
Ohrmuſchel, indem er gleichzeitig den Mund 
ipikte, und fragte: „Od, Sie wollen zum 
jungen Herrn? — Dann tommen Cie, bitte, 
mal mit.” Aber nad ein paar Schritten 
drehte er fid) [hon um: ,Od, Sie finden 
den Weg wohl [hon felbft, Wenn’s gefällig 
ijt.” Und mit freundlich einladender Miene 
wies er auf die Treppe. 

Die Wände bes Treppenhaujes waren 
bis zur Mannshöhe mit duntlem Holz ver: 
tieidet und darüber in [Hweren Goldrahmen 
alte Gobclins gelpannt. Nie fonnte Hans 
vorübergehen, ohne daß fein Auge aus deren 
Farben tranf. Als wäre das Feuer eines 
Gonnenuntergangs in dem Gewebe eins 
gefangen, ftrablten fie warmen Glanz aus, 
jo daß aud) an regnerifden Novembertagen 
das Treppenhaus Ion und feitlich glangte. 
Auf den Borden reibten fid) Delfter und 
chineſiſche Vaſen und Teller und merkwürdig 
ver[djnite Figuren, von denen einige zer: 
broden waren. Ging man über den weichen 


294 EI Wilhelm Hegeler: ses 


Sáufer die Treppe hinauf, fo fal man in 
zwei, drei Reihen übereinander eine Mtenge 
Bilder der verjchiedenften Art, wie ein durch» 
einander gewiirfeltes Weltbilderbud. Da 
raudte neben einer altdeutjchen Ratsherrns 
ftube ber Veſuv; ba fegelte auf gelbjprikenden 
Meereswogen ein Schiff auf einen fupfers 
roten Herrn im Lebnftubl los; Filcher, bie 
in napfalter Abenddämmerung übers Eis 
Ihritten, waren die Nachbarn einer Havier» 
ipielenden Dame. Noch  mertwiirdigere 
Bilder hingen im erften Stod, vor Schmutz 
und Alter waren fie taum noch zu erfennen, 
und was fie behandelten, war recht uncr: 
freulich: runglige Männertöpfe, böje, alte 
rauen, betruntene Bauern, Mtenjden mit 
verrenften Gliedern. Hans war von ihnen 
abgeftoßen und bennod) immer wieder ge: 
zwungen, fie anzujchauen, als wäre gerade 
ihre Häßlichkeit intereffant und ihre duntle 
Rátjelbaftigteit verlodend (Er erfuhr, daß 
es Kopien alter Meijter feien, die Herr 
Dewerth in feinen jungen Jahren gemacht 
hatte, 

Der Profeffor gehörte zu den Berühmt: 
beiten der Stadt. Geinen Namen und feinen 
Reichtum hatte er fih als Maler hollandijder 
Genrebilber erworben. Auf ben meijten 
diejer Bilder wurde gegejjen, getrunfen, ge: 
liebelt, geraucht, Karten ober Würfel gejpielt, 
Was immer an diejen Bildern Nachahmung 
und. leeres Roftiim fein mochte, bie unvere 
wültliche Lebensfreude daran war edt: ein 
Niederjdlag ber vergnügten Gejelligteit int 
Haufe, wo die Maiträuterbowlen von den 
Erdbeer: und diefe von ben Pfirſich- und Anas 
nasbowlen abgelóft wurden; wo an [djonem 
Sommerabenden der Garten weit in Die 
Duntelbeit hinausftrablte von bunten Lam: 
pions und blaffen Windlichtern, und zur 
Minterszeit die Tangmufif bis tief nad) 
Mitternabt in den verjchneiten Hofgarten 
binausflang. 

Eines Tages beim Nachhauſeweg aus ber 
Schule — es war nod am Anfang ihrer 
Belanntjchaft — begegneten Hans und Rudi 
zwei Damen in Schwarz und einem wunders 
hübſchen Kind, das, abgejehen von den 
Ihwarzen Knöpfitiefeln und Der breiten 
ſchottiſchen Schärpe, ganz in Weiß gekleidet 
war. Die eine Dame, von ziemlich bedeus 
tendem Umfang, madte auf Hans einen 
äußerſt jtolzen Eindrud und erinnerte ihn 
in ihrem gejchnürten ftarren Geidenfleid 
irgendwie an einen Nitter in RiiraB und 
Turnierhelm. Die andere wirkte defto diirftiger. 
Das blonde Rind hüpfte zwijchen beiden, 
mit feinem Plaudern fih bald an Die eine, 
bald an die andere wendend. 

Als Rudi die drei bemerkte, eilte er auf 


fie zu und rief: „n Tag, Mama!“ Sanjens 
tiefen Gruß beantwortete bie forpulente 
Dame mit [teifem Ropfniden, was feinen 
Rejpeft noch erhöhte. 

Um fo erftaunter war er, als er, bei Rudi 
zum Kaffee eingeladen, Frau Dewerth zum 
erftenmal zu Haufe fab. Sie fab in einem 
breiten Korbftuhl auf ber nad) bem Garten 
führenden Terraffe, immer nod) in Schwarz, 
aber die Steifheit war gänzlich von ihr ge» 
widen. Statt des Ceidentleids trug fie eine 
Tritottaille, unter ber alles wadelte und 
wogte wie Weingelee. 

„Buten Tag, Hans!“ fagte fie, mit einem 
Heinen, gemütlichen Gtóbnen jid) im Gejjel 
aufrichtend. „Wir find ja alte Bekannte.“ 

Ehe biejer antworten konnte, tam Annie 
berangejchwebt, mit ihrer Erzieherin, bie 
Mademoijelle Jüliten genannt wurde. Annie 
gab Hans die Hand und fagte dann, auf 
ein Schaumtörtchen weijend: „Mama, das 
Stüd will id) haben.“ 

„Quelle modestie!“ bemerfte Mademoifelle. 
„WBohlerzogene Mädchen fagen nicht: id) 
will. Moblerzogene Mädchen fragen biúbid: 
darf ich?” 

„Alſo das Stüd darf ich dod haben?” 

„Laſſen wir mal zuerft unjern Gaft aus» 
ſuchen,“ entjchied Frau Dewerth. 

Uber Hans wehrte fih entichieden, vor 
den Damen auszufuchen, was Frau Dewerth 
Anlaß gab, gegenüber ihrem Sohn [eine 
gute Erziehung zu loben. 

„Ach Gott, Mama, du mußt dir nur nicht 
einbilden, daß ich nicht weiß, was fid) [djidt. 
Bei fremden Leuten beige ich auch den Feinen 
heraus,“ 

„Und warum bt bu bet uns nicht fo?” 

„Srgendwo muB man dod ungezogen 
fein,” geftand er ehrlich. 

Als bann bie Reihe an ihn fam, erflárte 
er zur allgemeinen Heiterkeit: ,Moblerzogene 
Knaben nehmen immer das Gtiid, das gerade 
vor ihnen liegt. Aber Huge Knaben brebn 
gleich ben Teller fo, daß das größte Ctüd 
vor ihnen liegt.“ 

Der Berg von Apfel>, Schaum: und 
Cd)otolabentórtd)en, von Gabnenbaijers und 
Cremejdnitthen nahm jchneller ab, als 
Hans es für móglid) gehalten hätte. Frau 
Dewerth [tieB jedesmal einen feinen bes 
bagliden Geufzer aus, wenn fie ein neues 
Greme[d)nittden nahm. Endlich fragte fie: 
„Sol ich oder fol id) nicht ?“ 

„Laß lieber fein, Mama. 
Zuder!“ 

„Ad, Jung’, es [djmedt mir aber bod) 
jo gut." 

„Aber es befommt bir bod) nicht.“ 

„Die Cadje ijt nämlich bie," wandte fie 


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SSS] Zwei Freunde sel 995 


fid) an Hans. „Ich leide an 3uder und foll 
nichts Süßes effen. Aber. wenn id) mid) 
entzudern laffe, bin ich fo kratzig wie.’ne 
alte Sabnbiür|te. Da will id) bod) lieber 
zehn Jabre weniger leben und vergnügt jein. 
Was meinft du?“ 

Hans erflärte, bas fet unbedingt aud 
feine 9Infidjt. Courte et bonne‘: fet ſchon 
der Wahlſpruch Gujtav Adolfs gewejen, der 
in der Cdjladjt bei Lüken gefallen jet. 

Frau Dewerth zolte ibm Beifall, Gte 
babe zwar wenig Ausjicht, in einer Schlacht 
au fallen, und Guftav Adolf fei ein Reker 
gewejen, aber fein Wahljpruch fet zu Toben. 

Bern hätte Hans aud) an Annie bas 
Mort gerichtet. Wher jedesmal fühlte er 
fid angefichts ihrer ftolgen Bornehmbeit 
eingefchüchtert und vom Gefühl ber eigenen 
linbebiljfidjfeit Durddrungen.  Bejonders 
feine Hände [bienen ibm plößli in bes 
leidigender Weile vom Tiſchtuch abzuftechen, 
fo daß er fie jchnell herunternabm. 

Es waren nur nod einige Blätterteig» 
tránze übrig, als Herr Dewerth er|djien. 
Hans fprang auf und machte eine Ver: 
beugung, bie ber Profeſſor nur mit einem 
furzen Blid aus feinen grauen Mugen er: 
widerte. 

,Cdulfamerab ?^ fragte er, ibm die Hand 
binftredend, indes er mit der andern bie 
Zeitung ergriff. 

Hans mufterte ihn verftoblen. Es war 
das erftemal in feinem Leben, daß er einen 
berühmten Dtann fah, und in der Meinung, 
daß fie alle irgend etwas Bejonderes an fih 
batten, fuchte er bas herauszufinden, fonnte 
aber nichts dergleichen entbeden, höchſtens 
fiel ihm auf, daß der Profeſſor zu ber eles 
ganten Sommerboje ein ziemlich abgemebtes 
Samtjadett trug, aus Dellen äußerer Bruft: 
taſche bas Tajdentud mit langen 3ipfeln 
berunterhing. Übrigens jah er durdhaus 
nicht fo vergnügt aus, wie man nad) feinen 
Bildern hätte vermuten fónnen; fein eners 
gijches Geſicht mit dem jpigen grauen Boll» 
bart machte eher einen abgearbeiteten Eins 
drud. Bon feiner Umgebung nahm er nicht 
die geringfte Notiz, fondern [djien ganz in 
feine Zeitung vertieft, bie er bod) nur wieder 
zerftreut ñiberflog. Dazwijchen verzehrte er 
einige Ruhen, brummte: „Pfui Teufel, Mars 
garinel* und griff nad) bem Paden Briefe 
vor ihm. Die mit Rechnungen [hob er uns 
gelejen jeiner Frau zu. 


Die Kinder wurden mit Mademoijelle 


Syülifen in den Garten gejdidt, wo fie 
Rrodett fpielten. Annies Ball hatte ben 
Gigen[inn, fid) ftets gerade vor eine Ceite 
bes Reifens zu legen, ein Umjtand, dem fie 
durd einige Heine Stipe mit ber Fußſpitze 


abgubelfen juchte. Ihr Bruder riet ihr, bas 
gefálligit bleiben zu laffen. Gie berief fid) 
für ihre Unfchuld auf Hans, der nichts ges 
jeden Hatte und ritterlich für fie eintrat. 
Aber bald ertappte Rudi fie wieder. Auch 
Hans hatte nun ihre Diogelei bemerkt und 
geriet, als er von neuem zum Zeugen ans 
gerufen wurde, in eine traurige Lage: wie 
maner Berehrer hätte er für die Königin 
feines Herzens gern eine große Heldentat 
unternommen, fie aber begehrte eine fleine 
Niederträchtigkeit von ihm. 

Übrigens ließ fie ibm feine Zeit gum fiber: 
legen, fondern verfodt ihre Gace fo bit» 
tópfig und wußte die Schmähungen, die ihr 
Bruder gegen ihr ganzes Geſchlecht ausftteB, 
jo höhniſch zu erwidern, dak Rudi jchließlich 
voller Wut mit dem Rrodethammer auf fie 
losging. 

Mademoifelle Syülifen rang die Hände und 
ermabnte ihn, feine wilde Gtreitluft auf: 
gujparen, bis er zu den Fahnen Builleaumes 
einberufen würde, Annie [pudte ibm geſchwind 
auf bie Hofe und lief bann Ichreiend Herrn 
Dewerth entgegen, der gerade die Garten: 
treppe binunterfam und fragte, was los fei. 
Annie erflärte, bie Jungen wären fo fred 
gegen fie. 

"Bas, Liebling, bie beiden großen Ben: 
gels? Marte, denen werden wir’s mal ors 
bentlid) bejorgen!” 

Er nahm feine Tochter auf den Arm und 
eilte in fomijden Sprüngen auf die beiden 
los, die gleich gemerkt batten, daß fein Zorn 
Icherzhaft gemeint war, und auf das Spiel 
eingingen. Annie jaudyzte, wenn [ie glaubte, 
einen gehajdt zu haben, aber die Jungen 
riſſen fid) im legten Augenblid immer wieder 
los. Eine ganze Weile tollte der Profeffor 
mit den Kindern, bis er nach kurzem zer» 
ftreuten Gruß wieder ins Haus ging. 

Auf dem Heimweg dadte Hans immer: 
fort an Annie, Cigentlid) war er erzürnt 
über fie. Warum batte fie gejagt: „Die 
Jungs find fo fred) zu mir!” Das war bod) 
nicht richtig. Er hatte ja gar keinen Streit 
mit ihr gehabt. Oder hätte er fie gegen 
feine Überzeugung in Schuß nehmen follen? 

„Das bilde bir nur nicht ein!” fagte er 
bei fid), als wenn Annie neben ibm ginge. 

„Aber jo meinte ich’s ja aud nicht. Gei 
nur nicht böfe,“ antwortete fie fanft. 

„Böſe? Böfe bin ich ja auch nicht.“ 

Da late fie und hüpfte vergnügt davon. 
Er gab ihr einen Schlag auf die Schulter: 
„Krieg mich!“ Und lief davon, aber mit 
halber Kraft, fo daß fie ihn einholen konnte. 
Darauf verfolgte er fie, nachdem er ihr groß— 
miitig einen Borjprung gelaffen hatte, bis 
er fie bajdte. So fpielten [ie zujammen. 


008 ESSSesotcctccccj Wilhelm Hegeler: — 


Sie beide ganz -allein ... in feiner Cine 
bildung. 

Als Hans bas nadfte Mal eingeladen 
wurde, traf er eine Freundin von Annie 
dort, Lila Bendemann, die Tochter eines 
Malers, ein zartes, dunteláugiges Mädchen, 
bas ganz in Annie verliebt fdien unb fid) 
von ihr beberr[djen ließ, bet ben gemein: 
lamen Spielen aber ihre Sympathie für 
Rudi zeigte. Was biejer vorjchlug, war ihr 
recht, und fie nahm ftets für ibn Partei. 
Annie dagegen fannte nur ihren eigenen 
Willen und jchien fid) aus niemandem viel 
zu machen. 

Bon Diefer neuen Freundſchaft erzählte 
Hans aud Klaus, der nun mit Anjpielungen 
nibt nadjlieB, bis aud) er von Rudi ein: 
geladen wurde. Auf dem Wege zu Dewerths 
wußte er Hans [Hon eine Menge von dem 
Profeffor zu erzählen: daß er jchredlich reich 
jet, aber auch [chredlich viel Geld verbrauche, 
daß er einen fiirftlidjen Weinkeller bejáBe 
und fogar den Champagner oxhoftweije tom: 
men ließe, und dergleichen mehr. Das Wohl: 
wollen der Frau Tewerth gewann Klaus 
durch einige wunderjchöne Rofen, welche nur 
die Gigenidjaft zeigten, [bon am Abend ver: 
welft zu fein. Dagegen gelang es ihm nicht, 
bei den Mädchen Gnade zu finden. Am Turns 
red machte er jo oft bie Rniewelle, daß Annie 
Ichrie, er folle aufhören, ihr würde Jonft jchlecht. 
Und als er ihnen dann zeigte, wie man auf 
den Händen fpaziert, [bien bas zwar ans 
fangs ihre Bewunderung zu erregen, Globe 
lid) aber fliijterte Annie ihrer Freundin 
etwas zu, und beide liefen lahend davon. 

Sie laten nod) immer, als Hans fie 
zurüdholte unb fragte, was denn eigentlich 
los fei. | 

„Daß bu's nicht fagft! Dab bu's auf 
feinen Fall [agit!^ befahl Annie ihrer 
Freundin und hielt ihr, bie gar feine Wns 
ftalten zum Reden gemacht hatte, ben Mund 
zu. Gleich darauf aber vertraute fie Hans 
an, ob er denn nicht gejehn hätte, daB Klaus 
feine Unterhofen anhatte? Das Ferfel! 

Mährend die Mädchen [páter mit ihren 
Buppen fpielten, vergnügten die Jungen fid) 
mit Gdjeibenjdiefen. Als fie wieder ins 
Haus zurüdfamen, ergriff Klaus bie Arm: 
brut unb meinte: „Ho, bas wäre ein feines 
Riel, bie alten Broden da.“ 

„Bit bu verriidt?” fagte Rudi. „Du 
weißt wohl nicht, was bie Teller Toten. 

„Was follen die toften ? Gold alte Sher: 
ben ſchmeißt meine Dintter auf ben Kehricht- 
haufen.“ 

„Du Kaffer haft eine Ahnung!” 

Zufällig fam der Diener aus bem Keler, 
an den Rudi fid) entrüftet wandte. Auguft 


[pibte diesmal nicht nur den Mund, fondern 
ftieß einen wirklichen Pfiff aus. 

„Oioioi! Die Delfter Teller, oioioi, bie 
find heute ein Vermögen wert. Die haben 
[ihon vor zwanzig Jahren, als wir fie aus 
Holland mitbradten, das Gtüd Hundert 
Gulden getojtet.” 

„Das ift ja Unfinn. Ihr wollt mid) nur 
foppen,“ brummte Klaus, jah aber von nun 
an die Scherben mit andern Augen an. 

Eines Tages um Faſtnacht herum ent: 
dedten bie Kinder auf bem Boden eine 
Truhe voller Roftiime. Wunderbare Möglich: 
leiten, erregenbe Gchidjale breiteten jid) vor 
ihnen aus. Klaus ftiirgte fih gleich auf einen 
Dogenmantel, aber nein, das Wams eines 
Edelpagen erjdien ibm. nod) feiner. Doch 
am imponierenbften fam er Dë in einer 
Generalsuniform vor. Klein wie er war, 
verjant er beinah in den hohen Reiterftiefeln. 
Rudi frod) behaglich in bte baufchigen Hojen 
eines bolländijhen Fiſchers, Annie wurde 
als Rotofodamaden herausgepußt, die dbuntel: 
áugige Lila als Rolombine. Hans hatte 
einen alten Burnus gefunden, voller Motten 
lóber, aber bie verblichene Gtiderei um: 
ſchwebte irgendein Märchenglanz. fiber al: 
lem Helfen batte Mademoijelle Jiiliten fih 
felbft nicht “vergejjen. Gie verjdjwand im 
Nebenzimmer und fam nad) einer Weile in 
einem roja Taffetlleid guriid. Hinter einem 
ungeheuren Fächer blidte fie jchelmijch bie 
Kinder an, während ihre welfen Lippen fid 
kußlich runbeten. 

„Run ratet mal, Kinder, wer id) bin!" 

Die Kinder rieten bie unmöglichiten Dinge. 

„Aber febt ihr denn nicht ben Rofentrana 
in meinem Haar? Sch bin dod Dorn: 
röschen.” 

Darauf wären fie nie gelommen. Annie 
hatte fie für bie Raijerin von China ge: 
halten, 

Es ftant im ganzen Zimmer nad) ver» 
branntem Kort, womit man fid) bie Brauen 
geihwärzt ober Fünftliche Schnurrbärte ge: 
malt hatte. Dies Umfleiden war eine glüd: 
jelige halbe Stunde, in der jeder, ganz mit 
fid) bejchäftigt, fih bod) wieder über der 
neuen Crjdeinung vergaß. Nur Klaus gab 
feinem {Freund einen fleinen Stoß unb hieß 
ihn nach den Madden febn, als diefe nadt. 
armig unb in furgen Unterrddden umbers 
büofet. 

Nadhdem man bann aber fih gegenfeitig 
bewundert hatte, wurde jeder wieder fonder: 
bar an feinen Alltag erinnert. Berlegen, 
mit albernem Lächeln ftanden die Kinder 
berum und wußten nicht, was beginnen. 
Mamjelle Sjülifen, nun wieder ganz Gou: 
vernante, ſchlug vor, man folle fid) um ben 


Zwei 


225^ 22252 25.225 22 22252 22 22 252252 25 2. 


Tijd fegen und jeder im Charatter [eines 
Koftüms eine Geſchichte erzählen. 

„Um den Tifd) fegen!” rief Hans ents 
riiftet, bem von dem jrembartigen Roftiim 
ein abenteuerlicher Schein im Herzen ge: 
blieben war. „Unfinn! Wir bilden ja eine 
Karawane! Wir find in ber Miifte Gas 
bara! Ein Zelt miiffen wir bauen!“ 

Und gleich begann er, aus dem nebenan 
liegenden Schlafzimmer Bettlafen zu holen. 
Sie gaben über Stühlen ein herrliches Belts 
dad. Eine italienische Dede bildete den 
Teppich.  Co[afij[en bie Sige. Einer nad) 
dem andern troh hinein. 3ulegt Mamſelle 
Júltten mit dem Licht in der Hand, 

Hans hatte einen erhöhten Gib, denn er 
folte erzählen. Im legten Wugenblid hatte 
er Angft, ba er fiürdjtete, feine Zuhörer 
würden lachen, und [ab vor fih nichts als 
ein ſchwarzes Lod ... aber irgendwo jchims 
merte ibm eine jchöne Stele aus einem 
feiner Bücher, eine wunderjchöne Stelle, bei 
der fie gewiß nicht lachen würden. Auf die 
eilte er mit atemlojen Worten zu, nachdem 
er nod) bie feierliche Erklärung abgegeben 
hatte, er wäre gar nicht der Scheich Almanfor, 
jondern der Zauberer Zirlofan, der König 
aller Geijter. 

Zuerft ging es miibjam und ungewiß, 
aber dann [jebte der Wind fih in feine 
Gegel. Sobald er die ſchöne Stelle erreicht 
batte, jentte er feine Stimme zu geheimnis» 
vollem Flüftern, wie Frau Agnes es tat bei 
gewiljen Berjen. Bom Raujchen und Brau: 
fen in feiner Bruft wurde er von jelbft vor: 
wärtsgetragen, und immer neue, nod) ſchö— 
nere Stellen lodten ihn. Seine Angſt war 
jest ein waghaljiges Spiel mit den Ge: 
fahren, in bie er feine Helden ftürzte, um 
fie wunderbar daraus zu erretten. Bon feis 
nen Zuhörern jab er nichts, fondern unver» 
rüdt gerade aus. 

Diefe aber träumten alle feinen Traum 
mit, jeder auf feine Weile. Klaus blidte 
ihn unruhig, gejpannt an und [mien fih 
alles merten zu wollen. Rudi lag lang hin 
geftredt mit behaglid ernftem Geſicht und 
hielt verloren bie Tonpfeife vor feinen halb 
geöffneten Lippen. An feine Schulter hatte 
fid) Lifa ein wenig fofett hingejdmiegt. Das 
Dornröschen hielt den Leuchter in ihrem 
Schoß, und ihr hell bejdjienenes rungliges 
Bratapfelgelicht tidtadte zu den Worten bes 
Erzáblers bald fdneller, bald langjamer, 
näherte aber bie Gejdjidjte fih einem Höhe: 
punft und waren die Gefahren jehr drohend, 
jo ftand es eine Weile gang [till. 

Die teilnahmvollite von allen aber war 
Annie. Es war, als hatte fih in ihr plötz— 
lid) eine bis dahin verjdlojjene Rammer 





yreunde seess sl 227 


geöffnet. Die aierfidje Anmut ihres Befichts 
war überjchattet von großäugig verjuntenem 
Ernft. Manchmal blidte fie [djnell bie an: 
dern an, als wollte fie fih ihrer Leibhaftig— 
teit vergewillern, doch jogleich hing ihr Auge 
wieder an Hans. Unter ihrem Puder ers 
tötete fie bald, bald wurde fie blaß und 
zwang ein trodnes Schluchzen hinunter. Bei 
den geringften fomijden Stellen aber brad) 
jie in unterdrüdtes Laden aus, das ihren 
ganzen Körper erjchütterte und glänzende 
Tropfen an ihre Wimpern hängte. 

Im Zimmer batte die Dunkelheit alles 
verjhludt. Es ftand wie ein Jdwarger 
Tauertlo vor bem [d)neegrau dämmernden 
Fenſter. Plöglich trat Frau Dewerth ein. 
Als fie im Lichtfchein der geöffneten Tür da 
und dort nur ein Häufchen Kleider gewabrte 
und unter ben Lafen ein unbeutlides Ges 
murmel hörte, 30g jie rajd) einen der Stühle 
beijeite. Da brad) bas Wültenzelt gujammen 
und mit ihm aud) das Märchen. Die Kin: 
der |prangen auf. Licht wurde angedrebt. 
Annie aber umjchlang ihrer Mutter Arm, 
und von ihrer Aufregung auf: und nieder: 
gejchnellt, erzählte fie wire atemlos von den 
WBundertaten, die Hans vollführt. „Aber 
bod) ich nicht,“ unterbrach er fie. „Das war 
bod) alles der Zauberer Zirlofan.“ 

Geit dem Tage war Annie ihm verfallen, 
ber mit Geijterbaud) ein neues Leben in ihr 
gewedt hatte. Er mußte nod) oft Bejchichten 
erzählen. Einige durften die andern mit 
anhören, andere aber, und das waren folche, 
in denen fie die Heldin war, wollte fie für 
fih allein haben. Als es draußen wieder 
wärmer wurde, machten die beiden jid) auf 
einer Steinbant am Teich zwei Site zurecht, 
und wenn eins der andern Kinder fih ihnen 
nähern wollte, erhob Annie wie ein eifers 
ſüchtiger Kleiner Vogel unwilliges Bezwitjcher. 

Gtatt in den Schulftunden aufzupaſſen, 
fabulierte Hans jebt in einer entriidten Welt. 
Annie war unerjattlid. In immer neuen, 
verführerijchen Gejtalten folte der Zauber: 
ipiegel feiner Gejhichten ihr Bild zurüd» 
werfen, während Hans als ihr demütiger, 
durch feine Tapferteit und Treue aber alle 
liberjtrablender Ritter auftrat. Manchmal 
jedod rig die Luft den Poeten bin, mit 
ftarferen Gewalten an ihr Herz zu rühren: 
dann graulte er fie ein, daß [ie ängftlich mit 
beißen Wangen jid) an ihn jdjmiegte, oder 
er búufte Elend und Schande über fie, um 
jie am Ende dann wieder zu deſto glors 
reidjerem Glüd zu erheben. Wenn fie dann, 
befreit aufatmend, ihn zärtlich und mit glán- 
zenden Augen anjab, fühlte auch er jid) einer 
tiefen Angſt entronnen und hielt ihre Hand 
fejt in der feinen. 


998 seess seess Wilhelm Hegeler: — 


Ten andern blieb fie, wie fie gewejen, 
herrſchſüchtig und voller Launen, namentlich 
Klaus behandelte fie mit graujamer Serab: 
laffung. Nur Hans hatte Macht über fie. 
Während ber gemeinfamen Spiele fam es 
wohl vor, daß fie fid) gantten und in Grol 
auseinanderliefen. Aber Jolde Zwijte gingen 
rajd) vorüber und waren eigentlich nichts 
Wirklidhes. Das Wirklihe war ihre tiefe 
Verbundenheit und das Bedürfnis, einander 
gut zu fein. Als Annie an den Dlajern ers 
franfte und während ber Genejungszeit fid) 
im Bett langweilte, verlangte fie immer 
nad Hans. Da er fie nicht bejuchen durfte, 
ichrieben fie fid) in ihrer ungelenfen Kinders 
Banb[d)rift Briefe voll Abkürzungen, bie nur 
fie beide verftanden. 

Dies [chine Verhältnis dauerte den gare 
zen Sommer und Winter über. Das fome 
mende Frühjahr aber führte fie aus ihrem 
Kinderland in ein gefährlicheres Reih. Hans 
hatte nun [don monde Romane gelejen, 
und auf der Schule unterhielten feine Ras 
meraden fid) piel über die Geheimnifje bes 
andern Gejdledts. Wenn er jebt Annie 
von feurigen Riifien und Umarmungen ers 
zählte, gejchah das nicht mehr mit der Naivie 
tät von einft, fondern er mußte eine Scheu 
überwinden, die zu überwinden ihn dennod) 
ein ftárteres Berlangen antrieb. Und Annie 
bordte bejonders hingegeben auf jolche Shil: 


derungen. Manchmal begegneten fih dann 


ihre Blide, und er las etwas furchtjam 
Rodendes, Verwirrtes und tief Berwirrendes 
in ihren Augen, auf ihren tnofpenbaft fih 
öffnenden Lippen, bie ein jchücdhternes Eva: 
lächeln verrieten. In thm aber erhob fid) 
jedesmal ein Sturm verworrener Wünjche. 
Es war in folden Augenbliden, als wenn 
fie von einer geheimnisvollen Kraft auf: 
einander zugedrängt würden, um dann, von 
einer andern, nicht minder ftarten und ges 
beimnispollen Gewalt gelentt, [till aneinander 
vorüberzugleiten. 

Sn ibm aber blieb nod lange hinterher 
eine brodelnde Dumpfbeit, die, wenn fie zer» 
floB, ihn felbjt ganz und gar auflófte. Gin: 
mal fand feine Mutter ihn weinend unter 
dem Birnbaum liegen. Als fie fragte, was 
ihm fehle, warf er fid) auf den Rüden und 
fonnte vor Schluchzen nicht fpreden. Nah 
allem Zureden gab er feine andere Antwort, 
als daß er fo furdtbar traurig fet. 

Fines Tages hörte Hans von feinem 
Freund, daß Dewerths den Sommer in Hols 
[anb verbringen und Annie mitnehmen toll: 
ten. Die Abreije war [Hon für den nádj[ten 
Tag feitgelebt. Nudi war wütend, da er 
wieder zu einem Lehrer in Penfion tommen 
jollte. 


Als Hans ganz beftürzt nachmittags zu 
Dewerths fam, hieß es, daß Annie nicht 
wohl jet. Man ließ ihn trobbem zu thr. 
Gie lag in ihrem weiß ladierten Bett und 
lächelte ihn ein bißchen matt und verſchüch— 
tert an, während fie ibm aus den Spigen: 
ármeln bes Nachthemdes ihren bloßen Arm 
entgegen|tredte. Auf feine Frage, was thr 
fehle, bob [ie nur die Finger von der Bett» 
dede und jagte: „Ach nichts.“ 

„Halt du Leibweb?” 

„Auch,“ erwiderte fie. 

„Es ift weiter nichts,“ mijchte Mademoi— 
fele Jüliken fid) ein, die frijch gepláttete 
Wäſche in einen Koffer padte. „Klein Annie 
[oll nur heute ftill liegen, weil [ie bod) mor: 
gen bie große Reije vorhat.” Nach einer 
Meile lieg Annie jid) einen Bleiftift und 
Papier geben und drehte fih nad) der Wand 
zu. Hans durfte nicht jehn, was fie |d)rieb, 
unb mußte fo lange ans Fenſter treten. 

Dann wurde er gerufen. Während Mame 
felle Syülifen ihnen den Rüden zudrebte, 
reihte Annie ihm ralh den Brief, indem 
jie dabei den Finger auf den Mund legte. 
Nad einer Weile nahm Hans UAbfdied. Auf 
der Treppe [Hon öffnete er das vielfach gus 
lammengefaltete Papier. Es war ein Ring 
darin mit einem Heinen Türkis, den Annie 
bisher getragen hatte, und der Brief lautete: 

„Lieber Hans! Mir fehlt was Scheuß—⸗ 
fides! Aber jag’ es niemand, Du mußt 
mir verjpreden, daß Du’s feinem fagft! 

Syilifen ijt gemein, daß fie nicht "raus: 

geht, unb [ie hat's mir bod) verjprochen. 

Ich bin wütend. Sd) bliebe 10000 > 

lieber bier. Den Ring fbente ich Dir. 

DEINE Annie.” 

In der linten Ede aber war ein Kreis 
gemalt, und in biejem Kreis befand fih 
ein $. 

Bom Glid und Abichiedsichmerz wie von 
einem warmen und einem falten Strom durd: 
weht, bie fih Jchlichlich beide zu einer lau» 
liden Schwere vereinigten, jchlenderte er 
nod lange burd) den Hofgarten, bis er fid) 
endlich nad) Haufe fand. 

Der Sommer bradjte den Jungen neue 
Grlebnijje. Cie ließen fih Rajafs bauen und 
führten nun an den [chulfreien Nachmittagen 
ein glüdliches Robinjonleben auf dem Ufer 
der andern NRheinjeite. 

Dewerths blieben über ein halbes Jahr 
fort. Als fie im Winter guriidfehrten, er: 
Härte Rudi, feine Schweiter wäre eine furcht— 
bare Pute geworden. Und in ber Tat fand 
Hans fie ganz verändert. Ctatt des weichen 
Kindergelichts blidte ein |d)maler, unfertiger 
Sungmaddenfopf ihn an. Ihre Wangen 
waren von dcr Gecluft verzehrt und ge: 











EE SS Zwei Freunde see ll 229 


bráunt, ihr jchwellender Mund geformt, und 
bie graziójen Lippen Hatten beim Sprechen 
etwas unbewußt hodmiitig Spöttijches. Bei 
ber erften Begriigung war Annie verlegen, 
als fie aber feine unbeholfene Schücdhternheit 
bemertte, gab fie fih jofort eine überlegene 
Driene. Sie verjuchte, die vornehm läjlige 
Haltung einer Dame einzunehmen, wurde 
aber von ihrer federnden Unruhe und ihren 
edigen Gliedern fortwährend geftört, jo daß 
fie alle Augenblide ihren Sik veränderte, an 
ihrem Kleid berum[trid) und ihren Geiden: 
Ibal auf: und niebergog. Dabei erzählte 
fie, als wenn fie eine auswendig gelernte 
Lektion herunterrafjelte: von ihrer fabelbaften 
Reife, von dem entzüdenden Leben in dem 
Heinen $yilderborf, von dem fabelhaften 
Treiben in den Straßen Amiterdams, und 
daß fie in der Gaijon mit ihrer Mutter 
Sdeveningen bejucht hätte, unftreitig bas 
vornebmjte Bad in ganz Holland, mit einem 
reizenden Rajino, in bem entzüdende Reunions 
ftattfanden. Gie hatte mehrere mitgemacht 
unb jehr nette Jungen fennen gelernt. 

- „Nicht wahr, Mama, die Hollander find 
doch fabelhaft nett?“ 

Hans verjuchte, fid) einzubilden, daß alles 
dies thn nicht berührte, und bod) fühlte er 
fid von jedem Wort verwundet, als wenn 
es mit einer boshaften Spike gerade gegen 
ipn gielte. 

‚Als er dann, von Frau Dewerth aufge: 
fordert, auch erzählte, dabei ein bißchen ins 
Renommieren geriet und die Wellen auf 
dem Rhein, durd die fie mandmal mit 
ihren Rajats gefteuert, aufjchäumen ließ, daß 
ein mitfühlender Zuhörer Herzklopfen be: 
Zommen hätte, fiel Annie ibm ins Mort: er 
jole nur mal an bie 9torbjee tommen, auf 
ber gingen bei einem mäßigen Sturm Dic 
Mellen gleid) [o bod) wie der Kölner 
Dom, 

Da erlahmte er wie mit durchjchnittenen 
Sehnen. Und feine jpätere Schilderung ber 
verjchiedenen Rlajjitervorjtelungen, bie ihn 
bod) |o begeiftert batten, war ganglid ohne 
Schwung. Aber zum Abjichied erlebte er 
noch bie tiefite Rrántung. Auch Annie war 
einige Dale im Theater gewejen. Und fie 
wäre unbedingt für die Operette! Das Aller: 
Ichönfte aber wäre ber Tanz! Ob Hans 
Ion bie berühmte — er verjtand nicht den 
Namen. Und als fie nun eine Melodie 
fummte, [hien ein Motor in ihr angejprungen, 
lo daß alle ihre Muskeln biipften und 
ſchnellten. Plötzlich Hatte fie Mamſelle 
Jüliken umhalſt und ans Klavier gezerrt. 
Und nun ſah Hans, wie ſie ſich bog und 
drehte, mit den Händen fächelte, die Arme 
hinfließen ließ wie wallende Tücher, den 


Oberkörper herumwirbelte, daß er glaubte, 
ihre Beine müßten davonfliegen. 

„Total blödſinnig!“ fagte Rudi und nahm 
den Freund mit in ſein Zimmer, wo ſie 
Flaſchenbier tranken und Zigaretten rauchten, 
um den ſchlabbrigen Kuchengeſchmack loszu— 
werden, wie Rudi ſagte. 

„Hat fie nicht "nen Drehwurm, Hans?“ 

„Sa, fie hat fid) febr verändert,“ ant: 
wortete biejer. „Schade!“ 

Als er aber jpäter die Treppe binunters 
ging und an dem Kinderzimmer vorbeifam, 
das nun Annie allein bewohnte, bing fein 
Auge verlangend an der Tür, als müßte fie 
herausfommen oder er felbft eintreten und 
mit einem einzigen Wort alles Fremdjein 
unb Mißverſtehn bejeitigen. Aber er ging 
vorüber, und die Tür blieb ver|djlojjen. 

Geitdem lag in ihm jelb|t hinter einem 
wunderbaren Gtiid Leben eine verjchlojjene 
Tür. Und Jahre vergingen, ohne dak Annie 
oder er verjuchte, He wieder zu öffnen. Wenn 
fie von jet ab zujammentrafen, jo war es, 
als müßten fie fic) in aller Freundichaft und 
Liebenswiirdigfeit immer wieder verfichern, 
daß fie fich fremd geworden und das, was 
den einen erfreute, den andern gleichgültig 
ließ. 

Damit hatte zugleich für lange Zeit fein 
intimer Berfehr im Dewerthichen Haus feinen 
Abſchluß gefunden, wenn er aud nod) ab 
und zu Dinfam und die Freundfchaft mit 
Rudi weiterbeftand. Aber deffen auf prat: 
tilde Dinge gerichteter Ginn brachte ben 
Neigungen feines Freundes wenig Interefje 
entgegen, und Hans jchloß fid) immer enger 
an Klaus an, ber ihn durd) feine Nüchtern- 
heit wohl manchmal verlegte, Dellen bell: 
äugiger, gejdjmeidiger Berjtand ihn aber 
immer wieder anzog. 

Der Eindrud, den Hans in der Familie 
bes Profejjors empfangen Hatte, wirkte aber 
fort. Zum erjtenmal hatte er in einem 
Rreije verkehrt, in bem man von der Kunft 
[pradj, wie man etwa unter Geijtliden vom 
lieben Gott |pridjt: als von bem Ebhrwiirdigs 
ften und zugleich bod) als von etwas zünftig 
Vertrautem. Er Hatte gelernt, daß es 
Künſtlermenſchen gab und andere, die nichts 
von Kunſt verftanden: Banaujen oder Phi- 
lifter. Und nod) oft mußte er an Die ges 
bräunten alten Bilder denten, deren fhid- 
jalsgeprágte Gelichter ibm in Stunden bes 
Träumens erjdienen, jeltjame, ftumme Be: 
Inder. bie ibm etwas Gebeimnispolles an: 
vertrauen zu wollen jchienen, dafür aber 
feine Morte fanden, fondern ihn nur bes 
Deutungsvoll anjaben, als müßte er alles 
aus ihren Zügen lejen, und die, wenn fie 
verjhwunden waren, ein Gefühl rätjels 





SE EES Zwei Freunde seiss 231 


fie fagen: „Aber gerade die möchte ich 
haben.“ 

„SH Tann fie Ihnen nicht laffen. Aber 
id) babe ebenjo [dine bunfelrote. Gehen 
Sie nur, gnädige Frau.“ 

„Bewiß, fie find aud) febr fin. Uber 
fie paffen nicht für meinen Zwed.” . 

„Es tut mir herzlich leid. Bielleicht fann 
ich Ihnen mit weißen Chryjanthemen dienen.“ 

- „Nein, es müfjfen weiße Rofen fein. War: 
um wollen Cie fie mir nicht lajfen? Sind 
fie [djon vertauft?” 

„Sie find nicht verfauft. Wher ich brauche 
fie für mid) felbft.” 

„Sa, wenn Cie Ihre beiten Blumen für 
fid) brouden —“ erwiderte die Dame und 
ging beleidigt davon. 

„Die fommt nicht wieder,“ fagte Herr 
Gben[tod befümmert. „Und ’s war eine gute 
Kundin. Warum babe id) nicht gejagt, fie 
wären [Hon verkauft?“ 

Hans ftredte bem Meijter feine Hand hin. 
„sh wollte Ihnen nur fagen, Herr Eben» 
ftod, es tut mir fo leid. Gite find gewiß jehr 
traurig.“ 

„Sa, Hans, ich hatte mid fo auf das Glüd 
gefreut, und nun ijt ein Unglüd daraus ges 
worden.“ 

„Wie geht's Ihrer Frau?“ 

„Schlecht. — IH batte gehofft, bas Kind: 
den würde fie gefund maen. Der Dottor 
hatte aud) gemeint, das wäre leicht möglich. 
Und nun bat es fo fommen mëllen, Ich 
verſteh's nicht.“ 

Er wiſchte ſeine beſchlagene Brille ab und 
ſchüttelte traurig den Kopf. Dann nahm er 
eine Knoſpe in ſeine hohle Hand, um ſie 
nad Gärtnergewohnheit ein wenig aufzus 
blaſen. Aber als wenn fie ihm gerade in 
bieler geichloffenen Form am geeignetiten 
er[djiene, ließ er die Hand wieder finten unb 
[bob ben langen Stiel durd bie Kranz 
¿weige. 

„Das arme SBürmden! Die Mutter 
tonnt's nicht mal in den Arm nehmen, fo 
ſchwach war’s. Aber weiß man’s denn, viel: 
leiht wär’s nie [o Wort geworden, um all 
den Kummer unb die Sorgen, aus denen 
das Leben nun mal befteht, zu ertragen. 
Das Kleine tann mir nicht leid tun. Nur 
eins verfteh’ ich niht, Hans, und du vers 
ftebft es aud) nicht. — Ihr mögt viel in der 
Schule lernen, aber das tann einem niemand 
lernen. Ich babe mit dem Pfarrer geiprochen. 
Herr Pfarrer, habe ich gejagt, wenn Gott 
nicht wollte, daß es groß wurde, warum läßt 
er denn meine Frau die Schmerzen ausjtehn ? 
Warum tut er ihr das Leid an? Ja, jagt 
der Pfarrer, das Leid ift dazu da, um die 
Menſchen zu láutern. Obne das Leid würden 


fte übermütig. — Ich bin nie übermütig ges 
melen, bas fannft du mir glauben. Ich wäre 
glüdlich genug, wenn fie es ware. Und nun 
muß thr bas pallieren. Sollft Jebn, davon 
erholt fie fid) nicht. Sie hat fih zu febr ges 
freut. Cie hat fid) richtig feftgeflammert an 
dicle Hoffnung. Sie hat immer gejagt, ich 
weiß bejtimmt, es wird ein Mädchen. Es 
folte Agnes heißen wie fie. Und fie hat ibm 
Kleidden genäht, roja und hellblaue, wie 
fte fie trägt. Und nun — nun muß id) ihr 
Jagen, es lebt nicht mehr. Sd) bring's nicht 
fertig. Ich bring's nicht fertig.“ 

„Weiß denn Ihre Frau nicht, dak es tot 
ift?” 

„Bis jebt nicht. Gie ift ja fo ſchwach, 
daß fie von einer Obnmadt in die andere 
füllt. Der Dottor fagt, man muß es ihr 
Ihonend beibringen.“ 

Meifter Ebenftod erhob den Kopf, und 
mit hochgezogener Stirn und aufgeriffenen 
Augen Hans anftarrend, während es um 
feinen Mund awilden Weinen und Hohn: 
vollem Laden zudte, fagte er: „Hans, ift 
es nicht gerade, als follte ich ihr [djonenb — 
ein Mejjer in bie Kehle ftoßen?“ 

Den ganzen Winter blieb Frau Ebenftod 
bettlágerig, und wenn Hans ſich nad) ihr 
ertundigte, hörte er nur, daß es ihr immer 
nod) nicht beffer ginge. Das änderte fih 
aud) nicht, als es wieder Frühling wurde. 

Eines Mittags aber, gegen Ende April, 
wollte Hans feinen Freund einer Schularbeit 
wegen fchnell etwas fragen. Er tletterte 
über bie Mauer und lief in bie Gärtnerei. 
Da jah er vor bem Rebitod am Haus eine 
ibm fremde Gejtalt, eingewidelt in ein graues 
Umjdlagetud, aus bem nur das Profil eines 
bageren Köpfchens, bebedt mit glanzlofem, 
fudjigrotem Haar, das hinten in einen dün 
nen Knoten zujammengewidelt war, hervor: 
blidte. 

Erft als fid) ber Kopf jebt langjam zu 
ibm binwandte und die tiefliegenden Augen 
mit jeltjamer Schwere auf ihm rubten, ers 
fonnte er das QGejidjt Bor Schreden und 


anbrángenben Tränen wäre er am lieb[ten 


umgefebrt und davongeltürzt — er fühlte 
bie jábe Angft auf feinem Geſicht verraten 
und fühlte zugleich, daß er aus Barmberzig: 
teit mit ber Kranten eine beitere Miene ans 
nehmen und unbefangen erjcheinen mußte. 

Cr madte einige Hopfer, als wenn er in 
freudiger Überraſchung auf fie zueilte, Bot 
perte dabei über feine eigenen Füße und 
jagte: „O guten Tag, Frau Ebenftod, Sie 
find wieder aufgeftanden! Mjo geht es Ihnen 
befjer!“ 

Cie jhüttelte den Kopf und flüfterte mit 
rauber Stimme etwas, das er nicht verftand. 


232 Wilhelm Hegeler: B3323323333333233894 > 


Wufgeregt erzählte er dies und jenes, 
während er zugleich fortwährend mit feinen 
Augen  aminferte. Plötzlich unterbrad er 
fi: „Die Sonne blendet jo auf der weißen 
Raltwa nb, das ift ſcheußlich. Alſo Sie reien 
nun fort. Da werden Cie fih gewiß bald 
ganz erholen.“ 

Gie jehüttelte nod) einmal ben Kopf. „Du 
wolltejt zu Klaus. Er ijt drinnen.“ 

„Dann will ich zu ihm gehn.“ 

Wieder ftredte fie ihm ihre Hand bin, 
diefe weiche und bod) tnodig harte Hand 
und ftreidelte zärtlich einige Male über bie 
feinige: „Adieu, Hans! Es waren jchöne 
Tage. Weißt du noh? — Laß es bir gut 
gehn im Leben.” 

Er drüdte die ſchwere Klinte auf und trat 
aus dem grellen Sonnenlicht ins fühle Halb» 
dunkel. An der weißen Wand [tanben einige 
Zorbeerbäume und Lauruftinusbújbe. Er 
glaubte einen Garg zu jehn. Ihn fror unter 
ben Schauern bes Todes, ber ihn überfallen 
hatte am hellichten Tage wie ein Gejpenft. 
Und gleichzeitig dachte er an die [Hóne Frau 
Agnes von einft, an ihr Haar, das wie 
Chriftbaumgoldfäden glübte, an ihr feines 
Beliht, das ihn an die Blüte einer Mide 
erinnert hatte. Und eine Stimme in ihm 
ſprach: „Auh du wirft einmal jo.“ Lange 
Zeit wirkte diejer Ginbrud in ihm fort, und 
fein unjchuldiges Lebensgefühl war von Vers 
wejungshaud) umuwittert. 

Obwohl er jebt nod) feltener als früher 
in bie Gärtnerei fam, behielt er fie dennoch 
im Auge. An ſchönen Sommerabenden war 
fein LieblingsfigB nod) immer in bem Wipfel 
bes Birnbaums. Bon biejem Beobadtungs: 
poften aus verfolgte er bie Vorgänge dort 


und gewann ben Eindrud, als wenn drüben- 


etwas nicht ftimmte. Die früher jo fauberen 
Anlagen fchienen verwahrlojt und verfallen, 
Gras und Unfraut wuchs auf den Wegen, 
in ben Miftbeeten waren Fenſter zerbrochen, 
und manchmal lag das große Anwejen gang: 
(id) verödet. Er wußte, baB Meifter Eben: 
ftod bald nad) ber Abreiſe feiner Frau aus 
Cparjamteitsgrünben zwei Gebilfen entlajjen 
batte. Als er einmal mit Klaus über diefe 
Veränderungen fprad),, erwiderte biejer Def: 
tig, fein Bater made befjere Gejdáfte als 
je. ‚Aber warum denn zwei Gebilfen ent: 
laſſen? date Hans. 

Eines Tages beobadjtete er etwas, was 
feinen Befiirdtungen eine neue Richtung 
gab. 

Gbenftod fniete vor einem Miftbeet, um 
irgendwelche Pflänzchen zu pifieren. Die 
[were Nachmittagsjonne glühte auf feinem 
Riiden. Da fiel ibm plößlich die Pfeife aus 
dem Munde. Er hob fie wieder auf, unb, 


bas Pflanz holz aus der Hand legend, febte 
er fid) auf den Holzrahmen, wobei ihm fein 
Kopf wie vor übergroßer Müdigkeit auf die 
Bruft fant. Nach einigen Augenbliden [djob 
er den runden Gtrobbut in den Naden, rieb 
lich Die Stirn, und nachdem er fid) umgeblidt 
hatte, holte er aus feiner Geitentajde ein 
flaches Fläſchchen hervor, tat einen langen 
Zug, bann nod) einen und gob, ein drittes 
Mal anjebenb, den ganzen Inhalt gierig 
hinunter. 

Was Hans geahnt hatte, das wurde ihm 
einige Wochen fpáter von Klaus beftätigt. 
Mit bem luftigen und gefunden Jungen war 
in leßter Zeit eine [oldje Veränderung vor 
fid gegangen, dak Frau Botelmann [Hon 
die Befürdtung ausjprad, bie Krankheit 
jeiner Mutter hätte fid) auf ihn vererbt. Als 
Klaus wieder einmal auf dem Zimmer feines 
Freundes in per[tórtes Schweigen verfiel unb 
Hans in ihn drang, er follte bod) fagen, was 
ihm fehlte, antwortete er plößlich, wie wenn 
er eine unerträglidhe Dual von fih abftoßen 
wollte: „Ich hab’ jolde Angft.“ 

„Deiner Mutter wegen ?^ 

„Nein, wegen Bater. Wher du gib[t mir 
dein Ehrenwort, Hans, daß bu's niemandem 
weiterjagft.“ Ä 

Mein Ehrenwort.“ 

„Der Bater Bat fih übernommen mit der 
Arbeit. Sorgen hat er aud) viel im Geſchäft. 
Und um fic bei Kräften zu erhalten, ba — 
er läft fic) öfter vom Lehrling heimlich 
Schnaps holen. Ich hab’ ihn [don zweimal 
abends im Zimmer gefunden, den Kopf über 
ben Gejdajftsbiidern. Ich Dachte, er wäre 
vor Müdigkeit eingejchlafen, aber es war 
niht Müdigkeit. Er — er war bejoffen. 
Und die Lampe hatte er umgejchmiljen, und 
wenn ich nicht gelommen wäre, dann wäre 
er verbrannt. Was fol id) nur machen, 
Hans? Ih Hab’ folde Angft. Es nimmt 
nod einmal ein [djledjtes Ende,“ 

Und das Ende fam, jchneller und Schlimmer, 
als die beiden Jungen in ihren ſchwärzeſten 
Befürchtungen geahnt Hatten. 

Eines Sonntag nachmittags war Klaus 
wieder bet feinem Freund gewejen, aber ans 
ftatt wie fonft bis zehn Uhr zu bleiben, hatte 
er jid) gleich nad) bem Abendeffen verabs 
ichiedet, getrieben von der Furcht, daß zu 
Haus irgendein Unheil auf ihn lauere. Er 
fand die Gärtnerei gänzlich verla|Jem. Als 
er an der Klingel rig und bas Doble Ge: 
bimmel durd) die Gtille taumelte, fuhr der 
Spig-aus-feiner Hundehütte hervor, rif mit 
wiitendem Getláff an ber Kette, berubigte 
fih aber jogleich wieder, als er bie Stimme 
von Klaus vernahm. Da niemand ante 
wortete, jchellte er nod einmal und ein 


















































fis Ka 
1 er 3 


> es SSS — — 


s. Mal, pobte an die Tür und rief: 
A Sater! Bater!” 
* Ber ift denn da?“ vernahm er endlich 
time. Das ſchwere Schloß [Hnappte 
Den roftigen Riegel traf ein |d)merer 
tiblag. Sein Later ftand in der Tür, 
E angezogen, im übrigen aber fo 
usjehend, wie fonft nur bei der [d)mubig: 
Mrbeit. ` Dide Schweißtropfen perlten 
s e em gerdriidten Haar und quollen 
Den tiefen Falten feines blaffen Gefichts. 
jn langjhößigen Rod hingen Gage: 
nb Enden von Strohhalmen. Seine 
waren tohlihwarz. Im Munde hielt 
e Ichiefbrennende Zigarre. 
) dui — Sid) dente, du bijt bei Hans eins 


jd) bin [don früher nad) Haus gegangen, 
t nod) Schularbeiten machen will.” 
ularbeiten — jebt? Am Sonntag 
4 . Das gibt's nicht. Dafür ift bas 
um au teuer." 

tiam, bei biejem Mort rod) Klaus 
b slid (b, daß feinem Bater ein Dorfer Petros 
ngeruch entitrömte. 

jer warum denn heute nicht? Ich hab’ 
hon manken Sonntag abend ge: 


BR: i Ëm genug! Zum Arbeiten find die 
T er age ba. Sannft morgen früh auf: 
= Berdammter Bengel, heimlich die 
€ brennen, daß nachher fein Petroleum 


ft, — Marte hier! Rannft mid) dann 


ebe lab mid) bod) wenigftens ins Haus!“ 
onnerjchod! Willjt du parieren?“ 
X Ebenſtock und holte zum Schlage aus. 
hroden wich Klaus zurück. Noch nie 
ein Vater ihn jo rauh angefahren. 
inter dem zur Schau getragenen Zorn 
X Angſt zu verbergen. War er etwa 
E betrunten und hatte die Lampe ums 
? 


—* lief Klaus in die Bretterbude, 

e in die Gewächshäuſer, rief die Namen 

A allen, bes Lebrlings, der Dienftmagh. 

waren fort. 

tge Zeit verging, ehe fein Vater wieder 

t es ai lam, eine €ebertajdje in der 
mb. Haftig verichloß er bie Tür mit 
4^ er Umdrehung. 

Warte hier!” 

€ E ging in das Ralthaus, und wieder 
merte es cine Weile, ehe er ohne Tajde 
rüdtam. 

q Bomm mit!” 

Bater, es ijt ja niemand zur Aufficht Da." 

ſt bas deine Sahe? Gib mir bie Hand!” 

SÉ og ihn förmlich mit fih durd bie 

nerigen Groben, - Gein Atem ging 


or, 
= 
— 
he 


— iur 
- 


E- Belhagen 4 ftlafings Monatshefte. 35. Jahrg. 1920/1921. 


Zwei Freunde seess 233 


feuchend, und immer wieder mußte er fid) 
den Schweiß von der Stirn wilchen, ohne 
daß er deshalb feine Schritte mäßigte. 

„Bater, fag? um Gottes willen, was ift 
dir?” 

„Was mir is? Niſcht is mir. Halts 
Maul!“ 

Cie durchſchritten die ausgeftorbenen 
Gafjen. ber Vorftadt und flommen auf Feld- 
wegen eine fleine Anhöhe hinan. Einige 
hundert Meter hinter den lebten Haujern 
warf fih Ebenjtod ins Gras. Gein Atmen 
war jet ein [djweres Röcheln und Hang 
mandmal wie Schluchzen. Angſt und 
Ichmerzliches Mitgefühl durchwogte Klaus. 
Er fühlte, bap i in feinem Bater etwas Furcht: 
bares vorging. 

Es war ein ſchwerer, bunjtiger Juliabend. 
Tagsüber war os bei bebedtem Himmel frijh 
und windig gewejen, nun rührte fic) an den 
Pappeln auf der Chaufjee fein Blatt. Raud 
in den verichiedenartigften Farben quoll aus 
ben fleinen Sjaus|d)orn[teinen, weißer Waller: 
dampf, ſchweflig gelber Dunjt unb bläulicher 
Holgraud) fonnte [id) nicht verteilen unb 
trod) über die Dächer. Aus den hohen Fabril: 
Idioten rollte, zuerft träge geballt, bann in 
Zidzadfäden verfidernd, ber ſchwarze Qualm, 
nicht wie jonft in langgezogenen Fahnen 
fortwebend. Cine graujd):marge Wolfe, |djmer 
und unwettertrádtig, einem apofalyptijden 
Ungeheuer ähnlich, fentte ihre Krallen und 
Rüſſel zu ben Häufern hinunter. 

Raum hatte Ebenftod etwas Atem gejchöpft, 
als er fid) eine neue Zigarre anjtedte, bie 
er feiner Gewohnheit entgegen haftig und 
aufgeregt raudte, indem er den Dampf 
förmlich herausriß. Er hatte fih aufgerichtet 
und ftarrte mit feinen turzfichtigen Augen 
auf die Stadt hinunter. Plöglich warf cr 
den Kopf vor. 

"Es brennt! Es brennt! Giebft dws?” 

„Bo denn?“ 

„Da!“ 

Hinter bem grünen Behang von Obfts 
bäumen war ein gelblidher Schein aufge: 
flammt, ábnlid einem zerrifjenen Mejfings 
ſchild. | 

„Aber nein, Bater, bas ift aus einem 
Zimmer. Vielleicht hat jemand da bas Gas 
angeftedt. Jetzt ift es [Mon wieder weg.“ 

„Wieder weg!” edjote Ebenftod wie im 
Traum. tad) einer Weile jagte er: „In 
welder Richtung liegt bie Gärtnerei ?” 

„Ich dente, in ber." 

„Kann man’s Haus ſehn?“ 

„Am Tage vielleicht. Jebt fiber nicht. 
Aber ich glaube, aud) am Tage nicht.“ 


„Es brennt! 3d) riedh’s ja. Irgendwo 
muß es brennen.“ 
2. Bd, 16 


034 LSSSsssSesesssseq Wilhelm Hegeler: B33333323333333331 


In ber Tat verbreitete fid) ein branbiger 
Gerud. Aber er fam offenbar nur von dem 
niebergebrüdten Rauch, ber immer niedriger 
trod. Klaus fagte bas feinem Bater. 

Dichter und dichter wob fih bas Duntel 
um bie roten Biegel: und bie |djmargen 
Sdchieferdader. Am gerfloffenen Himmel 
glangte nod) nicht ein Stern. Raum |chim« 
merte hier und dort ein trübes Licht aus 
einem Fenfter. Da ledten aus einem fernen 
Schornftein, von bem nur bie äußerfte Gpibe 
jhwad zu erfennen war, einige rötliche 
ylammenzungen hervor. 

„Jet brennt’s!“ ſtieß Ebenſtock hervor, 
und es klang faſt wie ein mühſam unter: 
drüdter Freudenruf. 

„Aber nein, Vater, das iſt ein bißchen 
Feuer aus einem Fabrikſchornſtein, wo [ie 
friſch angebetgt haben.“ 

Klaus hörte einen ächzenden Laut. 

„Bater, warum fols denn brennen? 
Sag’s doh! Ad Gottt, ich hab’ ſolche Angit. 
Vater, haft du die Lampe umgejchmiljen? 
Gag's, lieber Vater, was es ijt.“ 

„s nildt! Sch fag bir: ’s is nildjt. Du 
Haft nijdit gejehn und nilcht gehört. Du 
Bajt's Maul zu halten. Ich jchlag’ dich jonjt 
taputt.” 

Da warf der Junge fid) zurüd, bededte 
fein Gejid)t mit den Händen und brad) in 
haltlojes Schluchzen aus. 

„Hör auf! Aufhóren foUft bu mit bem 
Heulen!“ 

Ebenftod rüttelte an ibm, riß ibn hod), 
jah ihn mit wutverzerrtem Gefidt an: „Soll 
id) Dich — ?“ und plóflid) abbrechend ftóbnte 

„Quäl' mid) bod) niht! Dual mid) pod) 
nicht!“ Gr op ibn an fih, ſchlang ſeinen 
Arm um ibn und preßte ihn mit aller Ge: 
walt an die Bruft: „Haft du die Mutter 
nicht lieb? Die Mutter ijt bod) frank! Die 
Mutter braucht bod) Geld! Sie muß gejunb 
werden Haft fie nicht lieb? Kónnteft du 
nicht alles tun für fie? Für bie Mutter! — 
Haft fie nicht lieb?” 

„Sa, id) hab’ fie lieb. Und did aud. 
Du lieber Bater! Gag’ bod), was dir ijt. 
Du lieber, lieber Bater!” 

Und mit einer wilden Zärtlichkeit bededte 
et feines Baters jtacheligen Bart, feine Augen, 
jeine jcehweißige Etirn mit Küjjen. Der 
[treidjelte ibn und hielt ibn eng um: 
Ihlungen. 

„Ja, behalt mich aud) lieb, Mutter und 
mid. Lak bir nur niſcht vorreden. ’s is 
nijdt. Wirft’s Schon nod) mal verjtehen. 
Gei nur ruhig! ’s is nifdt.“ 

Und mit weicher, trójtenber Stimme wieder: 
holte er immer Diejelben Morte. Lange 
jaken fie eng umſchlungen, von ber |djmargen 


Finfternis gänzlich eingebüllt. Eine Uhr 
ſchlug Balb, dreiviertel, Dann voll. 

„Wieviel ijt es?“ 

„Elf Uhr.“ 

"Elf. Komm mit!“ 

Zangfam wandertef fie nad) Haus. Als 
fie in die Straße, von ber bas Gabden ab: 
bog, famen, blieb Ebenftod nod einmal 
ftehen: „Du weißt von nifdt.” 

Bor dem Torbogen, der in die Bärtnerei 
führte, erblictten fie einen von einer Menjcdhen- 
menge umlagerten Sprißenwagen. 

„Laß uns umtebren, Bater!” flehte Klaus 
in plößlidher Angit. 

„Barum 2^ 

Gein Bater gab fih einen Rud und drängte 
fid) durch bie Mienge. 

Das Gäßchen war von PBoliziften ab» 
gejperrt. 

„Was wollen Cie? Hier darf niemand 
palfieren!^ erklärte einer. 

„Ic bod) wohl. Ich will in mein Haus.” 

„Wer find Cie denn? Wie heißen Cie D 

„Ebenjtod ift mein Name,“ 
"Ebenftod! Aba.” 

Sofort nahmen zwei Poliziften ihn zwijchen 
fid. Klaus wurde beijeite gejtoßen. 

„Rommen Sie mit!” 

Feuerwehrleute hielten im Licht von Fadeln 
ihre Schläuche auf bas Hausdad) gerichtet, 
das von dunflem Dualm umquollen war. 

„Hier ijt er! Hier ift ber QGben[tod!" 
riefen die Schußleute. 

Ein SBoligeibeamter [chritt eilig auf ihn 
zu. „Sind Gie ber Beliger bes Haujes?“ 

„Jawohl.“ 

„Dann erkläre id) Cie für verhaftet.“ 

„Bas? Was ijt denn los?“ 

„Sie haben Branditiftung begangen. 
Halten (Cie feine Reden! Die Sache ift 
jonnenflar. Führen Cie den Mann ab!” 

Klaus hatte vergeblich verjucht, au feinem 
Pater zu gelangen, und fih Dann im Duntel 
verloren. Auf ber Wieje hinter Pflanzen 
tiibeln verftedt, verbrachte er bie ganze Nacht 
und ftarrte den qualmenden Dadjtuhl an. 
Bald nad) Mitternacht verlor fih die Menge. 
Nur ein Feuerwehrmann blieb zur Be: 
wabung zurüd, Als die Sonne aufging, 
quoll nur nod) ein dünnes Rauchwölkchen 
aus dem ſchwarzen Gebált, 


Einige Wochen fpäter jak Hans eines 
Abends über feinen Schularbeiten, als er 
einen Namen rufen hörte. Er blidte auf 
unb gewabrte auf ber Mauer feinen Freund 
Klaus. 

„Du bier? Mo fommit bu Der? 3d) 
dente, du but langft in Thüringen.“ 


Re E EE — 


„n Abend,“ fagte Klaus. ,Gibjt du mir 
nod) die Hand?“ 

„Du bijt wohl verrüdt! — Wher um Gottes 
willen, was ijt — bift du frant ?" 

„Krant? Das ijt das einzige, was mir 
noch fehlt. Ich habe nur die Nacht im Freien 
geichlafen. Deshalb fehe id) |o aus. Mie 
gebt's dir?” 

„But. Ich war gerade am Arbeiten.“ 

„Und deiner Mutter?“ 

„Die ift heute abend eingeladen.“ 

„Dann but du aljo allein!” — Er blidte 
in ben Xenophon. „So weit feid ihr jchon! 
Und im Latein?“ 

„Da lejen wir jebt eine Ovidjche Fabel. 
— Uber, Klaus, fag? — wie gebt's dir? 
Warum haft du im Freien geichlafen?” 

„Weil Mutter Grün immer mod) beffer 
ijt als ein muffiger Hängeboden über Herings- 
tonnen unb. Rajefajjern. Du dad)teft, id) 
wäre in meiner Heimat. Sch bin oder war 
vielmehr bier bei meinem Ontel in der Rhein: 
gajje. Der hat mich zu einem Kolonialhändler 
in bie Lehre gegeben. Drei Wochen habe id) 
Heringe vertauft, Schmierjeife, Raje, Glanz: 
ftdrfe, Stiefelwichje. Ein feines Leben! Wenn 
ich abends den Laden ausgefehrt hatte und 
in meinen Hängeboden troh, bann jagte id) 
mit Fauſt: Das ijt meine Welt! Das heißt 
eine Welt! — Ovid — bu Blüdlicher! König 
Midas, bem alles zu Gold wurde. Mir 
wird alles zu Heringen und Ráje. Wo id) 
gebe und ftebe, rieche ich Heringe und Ráje, 
Und wenn’s bod) tommt, Kaffee. Kaffee ab: 
wiegen, bu, das ijt ne bejondere Runft! Du 
mußt tun, als ob bn wunders wie reichlich 
abwiegft, aber wehe bir, wenn du ue Bohne 
zu viel gibjt. Und pop du nicht vergißt, die 
dide Tüte zu nehmen! Gonjt gibt's Obr: 
feigen.“ 

"Bas — gehauen ?” 

„Rein, du, das nicht. Denn — eine Grenze 
bat XIyrannenmadt! Der Kerl Dat's ver: 
juht. Aber als er das erftemal ausbolte, 
bab’ id) ihm gejagt: Wenn Sie mid) ans 
rühren, dann lajje id) das PBetroleumfaß 
unb bie Siruptonne auslaufen. Dann haue 
id) Ihnen den ganzen Klumpatſch zujammen. 
Meinetwegen Tonnen (Cie mid) dann ins 
Gefängnis [teden. Da tomme ich wenigitens 
zu meinem Bater und habe jo was wie "ne 
Heimat. Mein Ontel behandelt mid) ja bod) 
wie einen bergelaufenen Hund.” 

Gr|d)roden von biejer Wildheit, zugleich 
hingerijjen, betrachtete Hans den Freund, 
ber fein Taſchentuch herauszog, ein [djmubiges, 
burdjweidjtes Tuch, bem man anjah, daß es 
biejen Morgen als Handtuch gedient hatte, 
und fid damit bie Tränen der Wut Aus 
feinem blajjen Geſicht wijdte. 


Zwei Freunde | 





| 235 


„Jeden Abend dachte ich: ich halte es 
feinen Tag länger aus. Wher was folte id) 
maden? Borgeftern aber tam es bod) zum 
Krah. Es fehlte Geld in ber Ladentaffe, 
nnb ich folte es genommen haben. O Gott, 
Hans, du Blüdlicher, fannjt dir ja nicht 
voritellen, was es heißt, wenn man webrlos 
dajtebt und eine ganze Meute von gemeinem 
Pad auf einen jehimpft und einhadt. Aber 
id) wurde ganz ruhig. Ich war jelbjt über 
meine Raltbliitigteit erftaunt. ‚Bitte,‘ fagte 
id, ‚wenn id) das Geld genommen babe, 
werde ich es bod) wohl irgendwo verjtedt 
haben. Sehen Gie in meinem Bett nad)! 
Durhjuchen Sie meine Tafden! Ziehen Cie ` 
mich meinetwegen bis aufs Hemd aus!‘ Gie 
baben’s, weiß Gott, getan und natürlich nichts 
gefunden. Nun habe ich den Spieß umgedreht. 
— Schön, ba Gie mid) für einen Dieb 
halten, find Cie wohl damit einverjtanden, 
daß ich nicht wiederfomme. Sch halte mid) 
jedenfalls zu gut für einen Heringsbändiger. 
Adieu! — Zu meinem Ontel bin id) erft 
gar nicht gegangen, jondern babe mid) in 
ben Wald fdlafen gelegt." | 

„Das ift ja-furdtbar, was du alles er: 
lebt haft, aber — aud) fabelhaft intereffant. 
— Hör’ mal, Klaus, haft du [hon zu Abend 
gegeljen ?^ 

„Beitern abend.“ 

„Und das fagft bu jebt erft! Komm, wir 
gehen ins Haus. Minna jol gleich für dich 
mitbeden." 

Während bes Ubendeffens erzählte Klaus 
jeinem Freund, was er über die verzweifelte 
Tat feines Baters wußte, und feste ibm 
feine Zulunftspläne auseinander. Er hatte 
lich bei verjchiedenen Buchhändlern um eine 
Stellung bemüht, bis jet aber vergeblich. 
Dagegen wollte der Inhaber eines Anti- 
quitätengejhäfts in ber Altſtadt ibn als 
Lehrling annehmen, bod) jollte er bie 
Empfehlung einer befannten Perjónlicteit 
beibringen. Vielleicht wiirde Profeſſor 
Dewerth ibm eine geben. Hans ver[prad) 
gleid) am nädjlten Tag Rudis Bater darum 
zu bitten. Nachdem die beiden Freunde, 
glücklich, fid) wieder gefunden zu haben, bie 
halbe Nacht durchſchwatzt hatten, legte Klaus 
fih in Hanjens Bett [djlafen und diejer auf 
ein Cofa. 

Als aber Frau Bofelmann am nüádjten 
Diorgen von biejen Abenteuern hörte, machte 
jie ein etwas bedenflides Gejidjt und meinte, 
jie müßte fih bod) erft mal erkundigen, ob 
nicht hinter den Ausreißegejchichten etwas 
Erniteres ftedte. Indes fiel ihre Nachfrage 
günftig für Klaus aus. Der Filchhändler 
erklärte, mit Rückſicht auf feine zahlreiche 
gamilie nichts für den Neffen tun zu können, 

16* 


236 seess) Wilhelm Hegeler: — 


ber Kolonialhändler bradte nur das eine 
9tadjteilige gegen Klaus vor, daß es ihm 
an feinen Manieren und Höflichkeit gegen: 
über der Rundichaft fehle und er deshalb 
für den Beruf ungeeignet erjcheine. 

Nachmittags ging Hans mit Rudi zu 
Dellen Bater und erzählte ibm mit dem 
ganzen Mitgefühl, bas ihn erfüllte, vom Un: 
glúd des Meijters Gben[tod und feiner 
traurigen Tat. 

„Weiß ich, weiß ich,“ unterbrad) ibn Des 
werth. „Der dumme Michel bat fid) von 
feiner Frau ruinieren laffen. Statt daß fie 
ibm half, Bat fie bie feine Dame gejpielt. 
Und als bie Sade |chief ging, bat er das 
Saufen angefangen. Das hat [Hon manchen 
armen Teufel ins Unglüd gejtürzt. Uber 
was ijt nun mit dem Jungen los?“ 

Hans berichtete von Rlaujens Plan und 
bat um die Empfehlung. 

„Was? Zum Meufinger möchte er hin? 
Da fommt ein ilou zum andern. Ihr beide 
wißt ja, daß id) euren Freund nie redt 
babe ausjtehen Tonnen, Schon feiner ab: 
ftehenden Ohren wegen. Und aud) fonft. 
Aber bas fol jchließlic egal fein. — Aljo 
zu dem? Da fann er viel lernen. Bielleicht 
nit viel Gutes, aber jedenfalls viel 
Niiglides.” 

„Dit Ihnen denn über Herrn Meufinger 
etwas Nlachteiliges befannt, Herr Profeffor ?^ 

„Was mir über den befannt ijt, bas tann 
dir hier jeder ältere Maler erzählen. Wenn 
er’s vielleicht auch nicht jo miterlebt hat wie 
id. Denn id) bin mit dem Meufinger auf 
bie Akademie gegangen. Ein ganz talent: 
voller Kerl — aber ein loderer Bruder, immer 
in Weiberjachen verwidelt. Das hat ihn 
auf bie fchiefe Bahn gebradjt. Er ließ fih 
von dem früheren Inhaber des Beichäfts, 
das er nun felbft befigt, verleiten, Bilder zu 
füljdjen. Das fam heraus, und er mußte 
brummen. Ein paar Jahre fogar. Daß er 
dann in feiner Not zu feinem früheren Brote 
herrn zurückkehrte, tann id) ihm nicht übels 
nehmen, er war ja drunter Durd und mußte 
leben. Geitdem behauptet er, nie wieder 
einen Pinfel angerührt zu haben. Ob's 
wahr ijt, wer weiß das? Diejenigen, Die 
falidje Bilder von ihm befigen, fidjer am 
wenigften. — Ich war mal in feinem Laden, 
wollte eine biibjde Holzfigur taufen, aber 
ih lich es. Weiß der Teufel, ob fie nicht 
gefällht war. Der will eine Empfehlung 
von mir haben? Jungs, id) glaube, der 
möchte meine Unterjchrift haben, um fie bei 
Gelegenheit faljden zu können.“ 

„Dann geb bod) lieber perjönlic bin!” 
fagte Frau Dewerth. 

"Ad Unfinn! Rudi, Hol’ mal einen Bogen.“ 


In feiner großen, [teilen Schrift malte 
ber Profelfor einige Zeilen auf das Papier 
und gab es Hans mit. 

Diejer brachte den Brief feinem Freund, 
indem er ibm zugleich erzählte, was er über 
Meufinger gehört hatte. Er dadbte, Klaus 
würde nad) biejer Auskunft vielleicht bie 
Stellung ausidjfagen. Der aber bedantte fih 
nur mit furgen Worten und machte fid) fofort 
auf den Meg. Nach einiger Zeit kehrte er 
mit dem Bejcheid zurüd, daß Herr Meufinger 
ibn probeweije auf vier Wochen angenommen 
habe. Die Lehrzeit follte drei Jahre dauern 
unb Klaus während diejer Zeit freie Bes 
tóftigung und Wohnung befommen. Wäjche 
und Kleidung mußte er felbft bejchaffen. 

„Das laß nur meiner Mutter Sorge fein,” 
erwiderte Hans. „Überhaupt, Klaus, ich bin 
bir eigentlich ganz böſe, dab du bid) nad) 
bem furdjtbaren Unglüd nicht gleich an mid) 
gewandt haft. Wir waren bod) Freunde, 
Donnerwetter! Und nun follten wirs auf 
einmal niht mehr fein? Das wäre bod) 
einfach gemein.“ 

Ein ſchwaches Lächeln umipielte Rlaujens 
edig gewordenes Gelicht, und er erwiderte: 
„sch bin bir jehr dankbar. Hoffentlich tann 
id) mid) bald mal revandhieren.” 

Als Klaus am nädjften Morgen, ehe nod) 
bie Uhr adt gejchlagen, vor dem Laden er: 
ihien, war diejer noch gejchlojjen. Es dauerte 
reichlich eine halbe Stunde, ehe der eijerne 
Rolladen fnarrend hocdhgezogen wurde und 
Herr Meufinger erjchien, das weißgraue, 
fettige Haar nod) ungetámmt, in einem lan: 
gen, ſchmutzigen Mallittel und grünen Plüſch— 
pantoffeln. 

„Aha,“ bemerkte er, bünbereibenb, in der 
geöffneten Tür Klaus mufternd. „Da find 
wir — wie man zu jagen pflegt, mit prompter 
Pünktlichkeit. Und bas da ijt die [ogenannte 
Ausrüftung? Was haft du denn da drin?“ 

„Deine Kleider und Wälche.“ 

„Werden wir uns anjehn und alles hübjch 
genau buchen, damit es nachher nicht heißt, 
es wäre was weggefommen. Alſo nur hereins 
Ipaztert.” Er jtieg voran bie altmodijche 
teile Stiege hinauf und führte Klaus in 
eine muffige Rammer, deren Wände ganz 
mit birfenen und fichtenen Glasjchränten ` 
voller Porzellan, mit eichenen Büfetts und 
aufeinander getürmten Rommoden verftellt 
waren. Die auf den Hof hinausgehenden 
Fenfter waren mit Ausnahme ber oberen 
Scheiben mit weißer Saltfarbe bejtrichen. 
In einer freien Ede ftand ein gejchweiftes 
Sofa, aus Delen aerjdjlijjenem Lederbezug 
Geegras hervorquoll. 

„Das Bett!” fagte Herr Dicufinger kurz. 
„Daß bu dich nicht unterjtebjt, bid) mit den 





EES SE Zwei Freunde01237 


Gtiefeln bineinzulegen! Die Folgen wären 
unabfebbar. Waſchen fannjt bu bid) in der 
Kühe. Komm mit!“ . 

Durch Balbbunfle Räume, die jámtlid) 
mit Möbeln |o angefüllt waren, daß man 
fi nur mit Mühe hindurdwinden fonnte, 
gelangten die beiden in eine ſchmutzige Feine 
Küche. 

„Bas maht ber Menſch, wenn er auf: 
geftanden ift?” fragte Herr Meufinger. 

„Er wüjdt ich.“ 

Meujinger [chüttelte fid) und erwiderte: 
„Er — frühftüdt. Er früb|tüdt, und zwar 
mit Bonne. Das Friibftiid bejorge ich, bas 
Feueranmachen ift deine Gahe. Sim Hof 
liegt Holz, das wird Hein gehadt. Du kannſt 
es jrühmorgens tun, du fannft es abends 
tun, in der Beziehung but du Freiherr. Aber 
um adjt muß das Feuer brennen. Unpiintt- 
lichfeit wird nicht geduldet. Pünktlichkeit, 
Ordnung und Ehrlichkeit find die Grund: 
pfeiler meines Geſchäfts. Komm mit!” 

Sie gingen in den Laden hinunter. Ein 
ibráger Dellgolbener Sonnenftrabl, in dem 
ein Bewimmel feinjter Staubteilchen müden: 
Ihwarmartig tangte, glitt durch bas Shau: 
fenfter, [trid) über bas rötlichſchwarze, roftige 
Rettengefledt einer alten Ritterrúftung, hob 
einen mit graujamer Wahrheit gemeißelten 
elfenbeinernen Chriftus an einem Kreuz von 
poliertem Ebenholz aus dem Halbdunfel her: 
vor und fpiegelte fic) im Glas eines daneben 
hängenden frivolen Rupferjtids. 

Teufinger zeigte Klaus eine Klingel, bie 
er zu ziehen habe, um feinen Brotherrn zu 
rufen, wenn ein Runde fam. Nur im Fall, 
dağ Herr Meujinger ausgegangen war, durfte 
er jelbjt etwas verfaufen. Bet den Büchern 
auf den Regalen waren die Preije angegeben, 
Durdaus angemefjene Preije. Klaus folte 
feft darauf beftehn. Nur im Fall, daß ein 
Runde durchaus nicht anders wollte, durfte 
er zehn, im Notfall fünfundzwanzig Bros 
zent beruntergehn. Doch folte er jid) mcr: 
fen, die fogenannte Tüchtigfeit eines Ver: 
fäufers wurde nad) ben Preijen, bie er ers 
zielte, geihäßt. Eins aber war bas oberjte 
Geſetz: ein Runde, ber den Laden verlief, 
ohne etwas zu taufen, bedeutete für einen 
Händler fo viel wie für den Feldherrn eine 
verlorene Schladht. Hier gab es feine Stiefel: 
widje und Heringe und feine Ród)innen und 
Proletarierweiber, jonbern &unjt und Mijjens 
ſchaft und Individualitáten, bie ftudiert fein 
wollten. Es gab Kunden, die etwas ganz 
Beltimmtes begehrten, aber diejem Gegen: 
ftand gegenüber völlige Gleichgültigfeit zeig: 
ten. Es gab Runden — Damen und junge 
Leute in erjter Linie — die man bejdwaken 
mußte. Es gab Kunden, die felbft wählen 


wollten und Die jedes Anpreijen verlepte. 
Es gab Kunden, die nur aus Langweile in 
den Laden famen und die man firre madjen 
mußte. Es gab Kunden, die ihre &enntnijje 
austramen und einen belehren wollten, denen 
mußte man mit offenen Mund zuhören. Es 
gab Sunnen, bie man einjchüchtern, und ane 
dere, denen man jchmeicheln mußte. Es gab 
Runden — 

Uber mitten in feiner Schwaghaitigteit 
hielt Meufinger inne, während fein Blid auf 
drei mit miniaturhajft fein gearbeiteten Blus 
menfträußen bemalten Rototojd)alen haften 
blieb. Er fog die hohlen Baden ein, bie 
Zunge jpielte um die gejpibten feuchten Lips 
pen, Waſſer lief in feinen trüb verquollenen 
Augen gujammen. 

preter!” fagte er. „Ledere Stiidden!” 

Mit feiner frauenbaft zarten Hand hob 
er die mitteljte Schale hoch, betaftete und 
betätjchelte fie von allen Geiten, rod) daran, 
hauchte darüber, flenrmte ein Vergrößerungs— 
glas in fein Auge und mufterte den Blumen: 
ftrauB fo genau, als handelte es jid) um Die 
Entdifferung einer geheimnisvollen Schrift. 
Geine Miene drüdte ge|panntejte Aufmert: 
jamteit aus und Lotte fih wieder in genieße: 
rildes Entzüden. 

„Nichts dagegen zu fagen. Beim beiten 
Willen nicht. Alerfeinfte Ware. Das find 
mal ein paar Mujeumsjtüde, — unge, 
weißt du, was das ijt?” 

Klaus |djüttelte ben Kopf. 

„Wie jollteft bu aud)! Du but ja dumm 
wie Bobnenftrob. Rannft gewiß nicht mal 
gayence von Porzellan unterjdeiden. Du 
mußt unglaublich viel lernen. Drei Lehr: 
jahre find nidts. Wenn fie herum find, 
wirft bu jagen, nun will ich erft anfangen. 
Sn meiner Brande tann man fein Lebelang 
lernen und bleibt immer noch ein Stümper. 
Meine Brande ijt bie Kunjtfertigfeit ber 
ganzen Menjchheit! Mir können nicht Spe- 
zialiften fein wie die Mujeumsherren. Wir 
find univerfell, wenn wir aud) nicht auf der 
Univerfitát waren, mein Freund. — Das ba 
it Alt: Straßburg aus der Manufaktur der 
Brüder Hammond. Dieje Manufaktur wurde 
von Ludwig dem Fünfzehnten aufgelöft, 
burd) cin Vefret vom Fahre 1759. Was 
aus der Manufaktur hervorging, ift Louis 
Quatorze oder Rofofo. Mer? dirs! Mad) 
die Augen auf, Junge! Geg’ dich bin und 
lieh dir die Stüde an, bis du jedes Blatt 
unb jede Craquelure abzeichnen fannft. Aber 
rühr’ fie nicht an mit deinen Pfoten! fiber: 
haupt mer? dir: bier ftehn Runftmerte, er: 
lejene Roftbarteiten. Du but nicht mehr 
gwijden Heringen und Stiefelwidje, du but 
bei — Lyonel Menfinger!” 


238 Wilhelm Hegeler: 


Er ftellte bie Schale aus der Hand, blidte 
nod) einmal umber, und während er einem 
drabtgeflodhtenen Schäldhen eine Handvoll 
Münzen entnabm, die er Durd die Finger 
laufen ließ, lagte er mit bem Ausdrud eines 
böjen Rettenbundes: „Alles abgezáblt, numes 
tiert, etifettiert und in meinen Gejchäfts« 
büdjern eingetragen. Jeder Diebftahl wird 
jofort entbedt und unnadjidtlid) verfolgt. 
Dn der Beziehung bin ich ſcharf wie ein 
Schweißhund.“ Dabei ballte er feine jchmale, 
mollustenbaft weiche Hand mit den tief: 
Ihwarz geránderten Fingerndgeln zur Fauſt. 
„Sp, und nun werden wir, wie man zu 
jagen pflegt, frühftüden. Aber erft jchließen 
wir den Laden zu.“ 

In der Kühe gok Herr Meufinger feinem 
Lehrling eine Taffe Tee ein, gab ihm zwei 
Semmeln und ein nußgroßes Stüd Butter 
und hieß ibn, fid) in feine Rammer zu be: 
geben. Zur Würze feines eigenen Früh- 
ftüds holte er einen mádtigen Edamer 
Käje aus bem Küchenſchrank. 

Nahdem Klaus dann bas Gefdirr ab: 
gewafden und an feinen alten Pla gejtellt 
batte, unterrichtete ber Antiquitätenhändler 
ihn über die geheimnisvollen Zeichen, die 
römilhen und arabijden Zahlen und die 
Buchſtaben, mit denen die Kleinen Bettel auf 
ber Riidicite ber Werlaufsgegenjtände be: 
Ihrieben waren und aus denen man Die 
Preije erjehen fonnte. Dann jchlurfte er 
davon, nachdem er bie burd) einen Salis 
in der Tür eingeworfene Poft an fic) ge: 
nommen und Klaus empfohlen hatte, nichts 
zu berühren und, wenn jemand fame, Die 
Klingel zu ziehen. 
| Klaus feste fih auf den ihm zugewiejenen 

Stuhl, einen unbequemen, harten Sjolaftubl 
mit [teifer Lehne, und dachte nad). 

Jenfeits ber diden Glas|djeibe auf ber 
[onnenbe[djienenen Straße mit ihrem holpri= 
gen Pflajter und den ſchmalen Bürgerfteigen 
rumpelten Karren, rajjelten Wagen, der 
Menſchenſtrom zog bin und Der: Bürger: 
frauen mit gefüllten Martttórben, Hand: 
werter mit ihren Geräten, eilige oder ge: 
mádjid) jehlendernde Herren, Kinder, die 
manchmal ftehenblieben und neugierig in dic 
Muslage blidten — das alles, der grelle 
Sonnenglanz, der Lärm, bie flutende Be: 
wegung war trog der Nähe doch wie durd) 
eine unendliche Entfernung von dem Laden 
abgejchieden, von feinem jputbajten Dämmer: 
licht und feiner Gtille, in bie nur das 
Mijpern bes Pendels einer Boule-Uhr tónte 
unb in beftimmten Zwijlchenräumen ihr ffir: 
rendes Schlagen. 

Die gebräunten Bilder und Stiche, bie 
Binns und bunten Fayenceteller an den 


Wänden, bie MteBgewander, bie altertüm- 
liden Schmudjadhen, bie Miniaturen, Stide- 
reien, Porgellane und Perlarbeiten in den 
Cdránfen, bas Gpinett und bie Lauten; 
man brauchte nur ein Haudlein Schöpfer: 
Irajt, ein Hein wenig Farbenglang und in: 
nere Mufit zu haben, [o wäre das Leben 
aller biejer Dinge neu erwadt: Stimmen, 
die längft verftummt, Lahen, bas in Todese 
jeufzern ausgeröchelt, Lieder, bie wer weiß 
wohin getragen, hätten neu getönt, und 
ber modrige Laden wäre zur bunteften Bühne 
geworden, auf der ein farbiges Gewimmel 
reizender, lächerlicher, heroijder Gejtalten 
nod) einmal die Komödie ihres Dafeins 
jpielte. (Es gehörte viel nüchterner Bers 
ftand, viel ehrgeiziger Wille dazu, um ans 
gelichts diejer Umgebung nicht in rüdjchauende 
Träumereien zu verfinten, jonbern jo ents 
Ihloffen in die Zukunft zu bliden, wie Klaus 
es tat, 

Das Ende feiner Überlegungen war, daß 
es nod) jdjlimmer hätte tommen fónnen. 
Für den Augenblid war er jedenfalls ge» 
borgen. Es war ja eine unbegreifliche Dumm: 
heit von feinem Bater gewejen, gerade zu 
diejer Zeit das Haus anzufteden. Hätte er 
nod) ein fnappes halbes Jahr damit ge: 
wartet, jo hätte Klaus das Einjábrigen: 
zeugnis gehabt und wäre gerettet gewejen. 
Nun war er ausgeftoßen aus den Reihen 
feiner Schulfameraden unter bie Voltsjchüler 
unb GtraBenbengel. Es war ihm furchtbar 
Ihwer gemadt, ein Herr zu werden und 
zu Anjehn und Geld zu gelangen. Go leid 
fein Bater ibm tat, das fonnte er ihm nidt 
verzeihn. Und wenn er fid) vor[tellte, wie 
bieler oder jener Mitjchüler oder wie Annie 
ibm begegnen und ihn faum wiedergrüßen 
würde, ibn, ben Labdenlebrling, dann fühlte 
er einen Haß aufjteigen, baB ihm [Hwindlig 
wurde. Aber — das eine fagte er fid) mit 
verbijjener Sabigteit immer wieder — er 
würde den Weg bergan [Hon finden. Er 
fonnte bier viel lernen und wollte die Augen 
offen halten. Jebt [Hon betrachtete er mit 
angeltrengter Aufmerkſamkeit dieſen unb jenen 
Gegenjtand und hätte ihn gern von feinem 
Pla genommen, um die geheimen Zeichen 
auf der Riidjeite zu enträtjeln. Dod fühlte 
er fid) mit Unbehagen aus dem duntlen hin: 
teren Raum, den eine Blastür trennte, be: 
obadtet und war in Furcht, jeden Augen: 
blid fonnte Herr Dieufinger hereinjchlurfen. 

Ein übler Patron, diejer Vicufinger! Das 
einzige Gute an ihm war, daß er [bon ein: 
mal gejejjen Hatte. Dieje Tatjache machte 
alle feine Drohungen zum Kinderjchred. 

In dem TFegefeuer feiner erften Lehrzeit 
batte Klaus gelernt, wie unangreifbar ein 


— —9— 


Fee EE El Zwei Freunde 


Menſch ift, der feine Sahe auf nichts ges 
Hellt bat. Und er war entidhloffen, wenn 
er’s für nötig hielt, von diejer Macht wieder 
Gebraud) zu machen. Cinftweilen freilich 
wollte er fid) duden, fih beliebt und unent— 
behrlid) machen — dod) eines Tages würde 
er dem PBrinzipal vielleicht Hinter feine 
Schliche Zommen. und dann konnte der fih 
gratulieren. 

Es ſchlug elf, ohne daß ein Runde er: 
Ihienen wäre. Plögli öffnete Meufinger 
die Tür und fragte, mißtrauijch um fid 
blidend: „Niemand dagewejen ?“ 

„Niemand,“ erwiderte Klaus, der von 
feinem Stuhl aufgejprungen war. „Herr 
Meufinger, ich wollte mal fragen, fol id) 
auf den Regalen nicht ein bißchen Staub 
wildjen 2“ 

„Staub wijden?” wiederholte ber Antis 
quitätenhändler jcheinbar in grenzenlojem 
Erftaunen. „Warum?“ 

„sh badjte nur. Es fieht bod) bejjer 
aus, unb der Staub friBt doch die Bücher.“ 

„Der Staub friBt die Bücher... Laß 
ihn freffen! Laß ihn freien! Der Staub 
will aud) leben!“ 

Und Herr Meufinger lachte, bis er [id) 
veribludte und einen Suftenanfall befam. 

Darauf verſchwand er. Klaus begann fih 
furdtbar zu langweilen. lim fih die Zeit 
zu vertreiben, holte er fih von ben Regalen 
ein Buch herunter, eine alte Ausgabe der 
Kuglerſchen &unftgeldjid)te, und begann zu 
lefen. 

Gnblid) öffnete fih mit gedämpftem ril» 
lern einer eleftrijden Klingel bie Ladentiir. 
Ein junges Madden erldten und wünjchte, 
ein Buch zu taufen, um daraus Englijch zu 
lernen. Herr Meufinger erklärte, er glaube 
einen derartigen Schmöfer mal bejeffen zu 
- haben. Genau fónne er es nicht fagen. Er 
wolle nadjeben. 

,Cud) mit, Junge, verjtehft du!” 

Rad langem Serumitóbern förderte er 
eine alte Grammatik und einige Lexifa zu: 
tage, die aber das Fráulein nicht gebrauchen 
fonnte, Gleidgiiltig [lug Mteufinger Hinter 
ihr die Tür zu. 

‚Schau, fhau, dachte Klaus bei fid), ‚da 
ijt thm eine Kundin entichlüpft. Er fieht 
aber gar nicht aus wie ein Feldherr nad) 
einer verlorenen Schladht.‘ 

Gott weiß, nad) welchem Syftem die 
Bücher geordnet waren! Mommjens Rü- 
mijde Geſchichte und Marlitts Romane, 
Belang: und Kochbücher, alles ftand tunter: 
bunt durcheinander. Es war ganz unmög: 
lid), in bielem Wirrwarr fid) zurechtzufinden. 
Klaus hätte rein zum Zeitvertreib gern 
Ordnung gefdhaft. Aber eingeben? feines 


BEFSFESFZEZFTZFFEFEZFZZN 239 


erften Vorſchlags hütete er fih, ein zweites 
Mal abzulaufen. 

Mad einiger Zeit erjdien wieder ein 
Runde: ein alter, Jympathifd ausfehender 
und mit wiirdiger Eleganz gefleideter Herr. 
Klaus ſchätzte ihn zum mindeften auf einen 
Beheinrat. Er war jebr erftaunt, als Herr 
Meufinger ibm wie einem guten Befannten 
die Hand [djüttelte und ihn fragte, ob er 
wieder im Lande wäre und was die Ges 
Ihäfte machten. 

Damit ftände es faul, erwiderte der alte 
Herr. Geld fet in Hülle und Fülle vor: 
handen, aber bas Publifum fet feit einiger 
Zeit verrüdt geworden. Es wollte nur nod 
moderne Runft taufen. Nádftens bringe er 
fein eigenes Gejchäft unter den Hammer und 
made eine moderne Runftbude auf. 

Herr Meufinger, der die Hände in bie 
Taſchen vergraben hatte, wedelte mit den 
langen Schößen feines Maltittels und lachte, 
den Kopf tief ¿wijben bie Schultern ge: 
zogen, bis er wieder feinen Huftenanfall 
befam. 

„Alter Spakvogel, bas madjen Cie nur. 
Wher paffen Sie auf, daß Ste niht bas 
jogenannte Rogen friegen in Ihrer modernen 
Kunftbude. — Kommen Gie, ich zeige Ihnen 
oben was feines.“ 

„Was haben Cie denn da?” fragte ber 
Bejucher und hob eins der Alt: Straßburg» 
Gtiide auf. „Die Dinger find ja gut.” 

,Sun[t[tüd! Haben Sie bei mir [hon je 
was Cdjledjtes gejehn ?” 

„Wo haben Sie bie her?” 

„Auf bie habe ich ſchon feit Jahren ge: 
giepert. Gie gehörten einer alten Dame, bie 
(id nicht für 'ne Million davon trennen 
wollte. Aber, Gott jet Dant, wurde [ie end: 
lid) frant, und ich babe mit ihrem Sohn 
verhandeln Tonnen, Der nahm Vernunft an, 
als ich meine Goldftiide aufmarjchieren lieh.“ 

„Was wollen Sie denn dafür haben?“ 

„Was wollen Sie geben?“ 

» Steibunbert." 

„Sie haben wohl zu reichlich gefrühſtückt. 
Sechshundert habe ich jelbft bezahlt.“ 

„Sie haben“ — erwiderte der alte Herr 
ruhig — „noch feine hundert Dafür bezahlt, 
wie id) Gie fenne.” 

„Da fónnt' ich bod) gleich Galle fpuden! 
Sol ih den jungen Mann tommen 
lajjen ?" 

„Regen Gie fid) nidjt auf! Die Stiicde 
find gut. Aber wer jammelt heutzutage nod) 
lt: Straßburg? Wer fammelt überhaupt 
nom? Ic jagte Ihnen ja: alles ftürzt fih 
auf die moderne Runft. Wenn ich nicht zus 
fällig einen Liebhaber dafür wüßte, td) fönnte 
Ihnen nicht vierhundert dafür bieten." 





940 Ise ee ST Wilhelm Hegeler: [I2:2422424242:242:2€42:2:32 2:34 


„Und wenn id) vor der Pleite ftánde, ich 
würde fie unter fünfhundert nicht laffen.” 

„Rommen wir uns auf halbem Wege ent: 
gegen.“ 

„Es ift ne Schande,“ ftöhnte Meufinger 
getnidt. „Sch bin rein verliebt in die Din: 
ger, wie man zu Jagen pflegt. — Aber weil 
Gie's find.” 

„Und was haben Gie oben?“ 

„Was großartig Feines. Wies mir feit 
langem nicht gelungen ijt. Einen Primi- 
tiven.“ 

Die beiden blieben eine geraume Weile 
verjhwunden. Der alte Herr verließ den 
Laden durch den Flur. Als Meufinger wie: 
der erjchien und feinen Lehrling beim Lefen 
entbedte, ergriff er das Buch: „Du lteft? 
Kunſtgeſchichte? Warum Kunftgejchichte?“ 

„Weil ich mid) für alte Bilder intereffiere.” 

„Du interejfierft did) für alte Bilder?“ 
wiederholte Meufinger mißtrauifh. Und in 
plögliher Wut: „Junge, wenn bu mid be: 
lügft! Wenn bu etwa hier herumfpionierft! 
Sd) fage dir, ich ſchrecke vor nichts zurüd.“ 

„Warum jollte id) Sie belügen?“ 

„Na, es tónnte bod) fein,“ erwiderte Mens 
finger, plötzlich wieder bejänftigt. „Jetzt 
gehit du ins Hotel ‚Zum Bater Rhein’. Du 
weißt Doch, wo der ‚Bater Rhein‘ ift?” 

„Jawohl.“ 

„Alſo da gehſt du hin und ſagſt im Aus— 
ſchank, du wollteſt das Diner für Herrn 
Meuſinger holen. Hier ſind drei Mark. In 
der Küche ſteht der Korb mit dem Geſchirr.“ 

Als Klaus zurückkam, hatte ſein Brotherr 
bereits in der Küche für ſich aufgedeckt. 


Unter dem laufenden Waſſerhahn ſtand eine 


Flaſche Rheinwein. 

Klaus erhielt fünfundſiebzig Pfennig und 
die Weiſung, ſich damit den Bauch vollzu— 
ſchlagen. 
8 BB 8 

Nad ber hertömmlichen Meinung ermer: 
ben wir uns die Anhänglichleit der Men— 
[den, indem wir ihnen Gutes tun. Aber 
ebenfo häufig geht die Entwidlung den um: 
gefebrten Meg. Je mehr wir uns um einen 
Menjden forgen und mühen, defto mehr bes 
müdjtigt er fid) unjeres Herzens. Der Edem: 
tende fühlt fid) bereichert und beglüdt und 
ift von einer Dankbarkeit erfüllt, bie der Be: 
ſchenkte häufig als demütigende Laft emp: 
findet. ' 

So war bas Verhältnis ber beiden Kna: 
ben, wenigftens auf Hanjens Geite, zur wirt- 
lien Freundimaft geworden. Als Klaus 
von dem Ungliid betroffen wurde, hatte er 
die Not des Rameraden zu feiner eigenen 
gemadt. Den Schmerz und bie Angit um 
die todfranfe Mutter, bas Grauen vor ber 


Tat des Baters, bic bod) wieder fo verzeib: 
lid) und aus der Hilflojigteit und Verjtórt: 


bet bes armen Mannes begreiflid) war, die 


Gorge um Klaufens aerftórte Zulunft: bas 
alles batte Hans in mander jchlaflojen 
Stunde in fih herumgewalgt. Und fortan 
jah er den Freund immer mehr im Licht 
feines warmen und reichen Herzens. 

Für Klaus aber war Hans die Briide 
An feiner Vergangenheit. In feiner Gegen: 
wart erinnerte ihn alles an das, was er 
verloren hatte und was er hätte werden 
tónnen. Manchmal empfand er darüber 
brennenden Neid und beinah etwas wie Haß, 
unb bennod) — wenn er aud) nur in kurzen, 
jeltenen Stunden an das jenjeitige Ufer 
jeines Jugendlandes gelangen fonnte, es tat 
ibm bod) wohl, dort zu verweilen. Der (e: 
rud) in biefem reinlichen, behäbigen Haufe, 
der Anblid der Möbel tat ihm wohl; es tat 
ibm wohl, an einem fauber gebedten Tijch 
mit filbernem Befted zu effen und von einem 
Dienjtmädchen mit weißer Schürze bedient 
gu werden, wenn er aud) oft genug in deren 
Miene etwas wie mitleidige Herablaffung 
argwöhnte, weil er bes Freundes abgelegten 
Anzug trug. Und es tat ibm wohl, dab 
Frau Botelmann ihn ganz als Bleichberedh: 
tigten behandelte, eigentlich wie einen zweiten 
Cohn des Haufes. Er wußte, daß fie feine 
Mutter unterjtügte, bod) tat fie es heimlich, 
jo daß ibm das Danten erjpart blieb. 

Es war merfwiirdig und gab Klaus Grund 
zum Nachdenken, wie viel die beiden Men: 
Iden fic) mit feinen Eltern bejchäftigten. 
Wud) Hans fprad oft von Klaujens Bater 
und entwarf Pläne, wie biejer nad Wb: 
büßung feiner Strafe fic) fein Leben neu 
aufbauen finnte. Cie madjten fih faft mehr 
Gedanfen um diefe ihnen bod) fremden 
Leute, als er felbft es tat. Aber fie batten 
aud) mehr Zeit und weniger Gorgen um 
ihre eigene Zukunft. 

Eines Morgens, als Klaus die Süde ges 
reinigt hatte und wieder in den Laden fam, 
fab er, daß fein Prinzipal die Münzen in 
dem geflodtenen Körbchen nachzählte. Sos 
bald Meufinger feinen Sebrling bemertte, 
drehte er fih haftig um. Er möge nur ruhig 
weiter zählen, dachte biejer höhniſch. Er 
jelbft hatte es aud) getan. Eechsundvierzig 
Stüd mußten darin fein. 

Es gab eine andere Berjuhung, ber zu 
widerftehn Klaus jeden Tag ſchwerer wurde. 
In der Küche lagen große Brotjtüde umber, 
die vertrodneten, Butter, die ranzig wurde, 
Ráje, der [himmelte. Klaus hungerte. Die 
drei fargen Mahlzeiten, die er befam, reichten 
niht aus. Und mandjes Mal ftand er mit 
begehrlihen Augen und offenen Nültern, 


Jod) Hndngg Jost uag 'uauunig, uaua ani julio duras 





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(upaa “1211/05 toi; sant saq Bundnugausg ndr) 


AAA "` 


Lee SEH Zwei Freunde seess 941 


unb bie Luft wurde in ihm beinah übers 
madtig, etwas von diefem Abfall, ben fein 
Prinzipal wahrſcheinlich wegwarf, an [id) 
zu nehmer. Wher er bezwang fid. Wenn 
er heute etwas nahm, würde er es aud) 
morgen tun und endlich einmal erwijdt 
werden. Dann hatte Meufinger ihn in der 
Hand. Aber er wollte ja ben Meufinger in 
die Hand befommen. 

Er widerftand, obwohl der Hunger ihm 
jeden Tag mehr aujebte. WMtandhes Vial 
wurde ibm [o [djmad), dak er auf feinem 
Stuhl einjdlief. Schwere Arbeit hatte er 
überhaupt niht leiften Tonnen, Aber es 
gab auch Herzlich wenig zu tun. Hin und 
wieder wurde er fortgejchidt, um Kunden 
bie gefauften Cadjen ins Haus zu tragen 
oder um dies und jenes heimzubringen. 
Mandhmal waren feltjame Dinge darunter, 
deren Verwendung ihm rátjelbaft war. Gin: 
mal mußte er von einem Zimmermann einen 
Wagen voll wurmitichiger Bretter holen, ein 
anderes Mal von einem Hauderer einen 
Paden alter, zerſchliſſener Drojchlenbezüge. 

Bon Zeit zu Zeit fuhr aud) ein Fracht— 
wagen vors Haus, es wurden in Riften und 
Holggeftelle perpadte Sachen eingeladen, und 
Klaus mußte mit zugreifen. Bei diejer (9e: 
legenbeit befam er einmal einen alten bin: 
tenden Mann au leben, ber fonft ein ver: 
borgenes Dajein in einem neben dem Bar: 
ten liegenden Schuppen führte. Meuſinger 
warnte ihn vor dem Dianne. Er wäre nicht 
richtig im Kopfe, unb wenn man ihn ans 
jprade, befäme er leicht Tobjuchtsanfälle. 
In ber Tat machte der Alte mit feinem hohl- 
wangigen Geficht, bas in einem Muft un: 
gefammter Bart: und Ropfhaare verjchüttet 
lag, einen unheimlichen Eindrud. Klaus 
begegnete ihm ein zweites Mal frühmorgens, 
als er ben Kehricht in den Garten trug, und 
befam auf feinen Gruß einen miptrauild) 
finfteren Blid aus den von entzündeten 
Lidern eingefaBten dunklen Augen, aber fonft 
feine Antwort. Es mußte ein Tijchler fein, 
denn aus bem Schuppen Hang tagsüber 
manchmal fein Hammern und das Rreijden 
feines Hobels. 

Im übrigen aber hatte Klaus nicht viel 
anderes zu tun, als im Laden zu warten, 
bis ein Runde erjchien, und dann feinen 
SBringipal herbeizuflingeln. Cr hatte endlos 
lange freie Stunden, die er mit Lejen von 
kunſtgeſchichtlichen Büchern und Zeitjchriften 
verbrachte. Wenn Meufinger grade bei Laune 
war, gab er Klaus Belehrungen. Es tam 
vor, daß er angelichts eines Gegenitanbes 
in einen 9taujd) von Entzüden geriet und 
dann einen [djeinbar unergriindliden Shag 
clijeitiger Kenntnilje Derporframte. Mand: 


mal geftattete Rlaus fid) eine Frage, was 
bei Menfinger zuerft immer eine Art erftauns 
ten und zornigen Erjchredens hervorrief, bis 
er fid) bequemte, eine mit höhniſchen Aus: 
fallen gegen die Unwiffenbeit feines Lehrs 
lings gewiirgte Antwort zu geben. ber 
bei diejen Gelegenheiten merkte Klaus, dab 
bas Mijien des Antiquitätenhändlers aud 
erhebliche Liden hatte. 

Als beinah ein halbes Jahr vergangen 
war, ohne daß Klaus feinen Laufpak be: 
fommen hatte, faßte er fic) eines Tages 
Mut und fagte: „Herr Meufinger, id) hatte 
eine Bitte an Cie." 

Zieler audte zufammen, 30g den Kopf 
zwilchen bie Schultern, verjchräntte die Arme 
und [tand mit, gejpreizten Beinen wie ein 
wütender Scharfrichter ba. 

„Oben in der Küche liegt [o viel Brot 
herum, bas Cie nicht aufejjen. Könnten Sie 
i das nicht lajjen? Ich werde bier nicht 
att.” 

„Freſſen! Nichts als Freffen!” Inirjchte 
Meulinger. „Wie fann man nur fortwährend 
ans Freſſen denten? Du but bod) fein 
Vieh.“ 

Plötzlich fuhr er auf Klaus los und packte 
ihn an ſein ſchlotterndes Jackett. „Du — du 
haſt mir ja ſchon von dem Brot geſtohlen! 
Jetzt weiß ich, wo's geblieben iſt. Geſteh, 
oder wir marſchieren auf die Polizei.“ 

Klaus fühlte, wie ihm das Blut in den 
Kopf ſchoß und die Muskeln ſteif wurden. 
„Laſſen Sie mich los!“ 

Meuſinger ließ von ihm ab. 

„Ich habe nichts geſtohlen. Wenn ich das 
wollte, brauchte ich nicht zu bitten.“ 

„Du — paß auf! Du biſt mir ſehr ver— 
dächtig. Der Apfel fällt nicht weit vom 
Stamm.“ 

Klaus wurde kreidebleich, holte dann aber 
ein paarmal Atem und ſagte ruhig: „Ich 
bin kein Dieb, verſtehn Sie! Ich habe Ihnen 
damals geſagt, meinem früheren Prinzipal 
habe ich den Kram vor die Füße geſchmiſſen, 
weil er behauptet hat, ich hätte was aus 
der Ladenkaſſe genommen.“ 

„So! — Und mit mir willſt du's auch ſo 
machen? Geh! Marſch, pack' deine ſogenannten 
Sachen.“ 

„Ich habe ja gar nicht geſagt, daß ich 
gehn will. Der Antiquitätenhandel gefällt 
mir an ſich ſehr gut. Nur möchte ich nicht 
dabei verhungern.“ 

„Wozu habe ich dich eigentlich? Zum 
Maulaffen feilhalten! Was nützſt du mir? 
Was arbeiteſt du?” 

„Ich könnte Ihnen [Hon mehr nügen, wenn 
Cie nur wollten. 3d fünnte die Bücher 
nad) Materten ordnen und einen Katalog 





049 Fees E Wilhelm Hegeler: seess sl 


anlegen. Außerdem verfaufen Cie mande 
Bücher viel zu billig.“ 

„Du Griinjdnabel!” fagte Meufinger ver» 
&djtlid), aber bod) aud) in feiner Habgier 
gereizt. „Was follen bas für Bücher fein ?" 

Nun zeigte Klaus ihm eine alte Ausgabe 
von Jean Baul, eine Erftausgabe von Heines 
Bud der Lieder, eine Reihe Xajdjenfalenber 
aus dem achtzehnten Jahrhundert unb be: 
wies ihm aus Antiquitátstatalogen, die er 
von Hans befommen hatte, daß er dafür 
das drei: und vierfade verlangen könnte. 

Meufinger wand fid) unb tnurrte zuerft, 
bie angegebenen Preife wären veraltet, er 
hätte bisher nur feine Zeit gehabt, fie richtigs 
au|tellen, als aber Klaus an immer neuen 
Bänden bewies, daß fid) in ber Bibliotbhet 
Geltenheiten befanden, von denen fein Pringi: 
pal nichts geabnt hatte, wurde bieler alls 
müblid) immer freundlicher, rieb [id) bie 
Hände, lachte wohlig und jagte: „Na, mad)’ 
nur Deine jogenannte Ordnung und deinen 
Katalog. 3d) babe bas alles ja längft ge 
wußt, aber es freut mid), daß du aud) da: 
hinter gefommen but. Du [djeinjt überhaupt 
nidt dumm, mein Söhnchen.“ 

„And wie ift cs mit dem Brot, Herr 
Meufinger?“ 

„Meinetwegen Tout dir jede Wohe ein 
Fünfgrojchenbrot. Aber bie Refter laß liegen. 
Die braudj id. — Als ich fo alt war wie 
du, habe ich überhaupt nur von Brot und 
Waſſer gelebt.“ i 

‚Das war wohl, als du gebrummt halt, 
du Schuft,‘ dachte Klaus. 

Bon nun an hatte er für eine Zeitlang 
Beihäftigung Sans fbidte ibm einen 
Sebrer vom Gymnafium zu, der Bücher: 
jammler war. 

Zieler faufte ibm nicht nur jelbft einige 
Werte zu guten Preijen ab, fondern empfahl 
aud) anderen Liebhabern das Gejdaft. Mit 
der Zeit gog Herr Meufinger einen ganz 
hübſchen Gewinn aus feiner verachteten 
Bibliothe?, ohne fid) freilich feinem Lehrling 
dafür irgendwie erfenntlid) zu zeigen. 

Klaus madte bie Beobachtung, dak, wenn 
Meufinger morgens mit ber Handtajche aus: 
ging, er meijtens erft am fpáten Nachmittag 
¿uriidtebrte. Dieſe Gelegenheit benubte 
Klaus eines Tages, um dem alten Tijdler 
einen Bejud) abzuftatten. Da er auf fein 
Klopfen an der Tür bes Schuppens feine 
Antwort befam, trat er nicht ohne einige 
Sagbaftigfeit ein und ließ vorjichtshalber 
die Tür hinter fid) offen. 

Dn einer Ede des lángliben Raumes, in 
dem fo viel Geriimpel der verjchiedenften 
Art herumftand, lag und an den Wänden 
hing, daß man meinen fonnte, er jet eine 


Ablagerungsftátte für alle zerbrochenen 
Gegenftánde aus dem Antiquitätenladen 
vorn, fab auf einem Haufen Hobeljpäne ein 
feines blondes Rind. Neben ibm bodte auf 
einer Fußbank ber alte Mann und hielt in 
feiner fladen, von Beize gejchwärzten Hand 
ein korkgeſchnitztes Stehaufmanndjen, welches 
das Kind mit feinen unbeholfenen Händchen 
niederzudriiden ver[udjte, Es jauchzte ent. 
züdt, gerade als Klaus bie Tür öffnete, hielt 
dann aber inne und blidte großäugig mit 
offenem Máulben auf den Eintretenden. 
Wud der Alte wandte fih nun langjam um. 
Gein breites, gutmütiges Ladeln, bas eben 
nod) feinem Geficht eine gewiljle Füle ges 
geben hatte, verjchwand, während er fih mit 
erzwungener Haft, auf feinen Stod ftüßend, 
erhob. 

„Buten Tag!” fagte Klaus freundlich, 
deffen Angſtlichkeit fih angefichts des Kindes 
jofort verlor. „Ich wollte nur mal guden, 
was Cie madjen.” 

Obne ein Wort der Erwiderung ftarrte 
der Alte, vornübergeneigt mit |chiefhängen- 
ber, linter Schulter daftehend, ihn an. Seine 
Stirn war fo finfter ¿zujammengezogen, daß 
die Augen unter den dichten Bülcheln der 
Brauen faft verjhwanden. Seine groben 
Hände hingen wie jchwere Gewichte hinunter. 
Der Rriiditod fiel zu Boden. 

„Buten Tag,” wiederholte Klaus, ging 
auf das Kind zu und reichte diefem feine 
Hand. „Ift das Ihr Kleines?“ 

Wieder fam teine Antwort. Während 
er den Schweigenden verwundert betrachtete, 
fiel fein Bli auf ein flaffenbes Dreied in 
deffen Jadartiger Manchefterhofe, und er fab, 
wie darunter das Knie zitterte. Beftiirgt 
über die Wahrnehmung, melden Schreden 
jein unerwarteter Eintritt verurjacht hatte, 
fagte er baftig, daß er nur gefommen wäre, 
um guten Morgen zu wiinjden, und nicht 
itóren molle. Dann wandte er jid) wieder 
dem Rinde zu, bob bas zu Boden gerollte 
Stehaufmannden auf und begann das unter: 
brodene Spiel von neuem. 

„Sie hat’s mir erft vor einer Miertel» 
ftunde gebracht,“ jagte der Alte endlich. 
,Gerabe als id) mein $yrüb[tüd effen wollte. 
Ich [djmóre Ihnen, daß ich nichts von meiner 
Arbeit verjaumt babe.” 

„Aber was tate denn bas! Der Pringipal 
it ja weg. Der fommt nod lange nicht 
wieder.“ 

Der alte Mann Bunipelte zur Hobelbant, 
ergriff einen Hammer, ließ ihn aus der 
ihlaffen Hand finfen und murmelte: „Nun 
muß ich wieder tippeln. Ach Gott, ad) 
Gott!” Ging dann auf Klaus zu und fagte, 
feinen Arm ergreifend: „'s ift mein Entel: 


—— 





LSSeseosococtcoctccca Zwei Freunde RE32232232333323 243 


find. Ich hab’ fie feit einem Vierteljahr nicht 
gejeben.” 

Klaus wußte nicht, was er erwidern follte, 
jolde Pein verurjadjte ihm der Anblid des 
Crjdrodenen. Er wollte fih gerade ent: 
fernen, als eine junge Frau mit einem Markt⸗ 
forb voller Gemiije eintrat. 

Das Rind [djrie vergnügt auf. Die Frau 
blidte mit mehr Berwunderung als Beftür: 
zung die fremde Erjcheinung an. 

„Wer ijt denn das, Bater?” 

Klaus erwiderte, er wäre. der Lehrling 
des Herrn Meujinger. Sie brauchten feinets 
wegen feine Angft zu haben. 

„Bitte den jungen Herrn, daß er uns nicht 
verrät,“ jagte der Alte. 

„Das werden Cie dod nicht tun! Der 
Tieufinger ijt ja fon böjer Hund.“ 

„Bewiß nicht,“ verjegte Klaus. 

„Er ijt nicht bbje," verbejjerte ihr Bater 
fie. „3% laffe nichts auf ihn Zommen, Ich 
bin ibm febr dankbar.“ 

„Ein Shinder und ein Duälgeift ijt er!” 
Ichalt bie junge Frau noch heftiger, Elopfte 
dem Kind bie Hobeljpäne von feinem Kleid 
und nahm es auf den Arm. 

„Bleiben Sie bod) noch!“ bat Klaus. „Ich 
geh’ ja ſchon. Entſchuldigen Sie nur bie 
Störung.“ 

Er hatte bereits die Türklinte in der Hand, 
als fein Blid von einem auf der Hobelbant 
ftehenden Gavonarolajtubl gefeffelt wurde, 
deffen Polfterung ein zerjchliffenes Gtiid 
Cammet bebedte. | 

„Ad, bas ijt ja ein Stüd von ben Drojch: 
tenbezúgen, bie id) getauft habe.“ 

„Das da” — erwiderte ber Tijchler, ben 
Bezug glatt jtreichend — „das ift bod) fein 
Drojdfenbegug. Das ijt alter Genuejer 
Sammet.” 

Von nun an erneuerte Klaus feine Bes 
jude beim Dieifter Böger — das war ber 
Name bes alten Mannes — fo oft fick ihm 
Gelegenheit dazu bot. Durch kleine Gefüllig: 
teiten gelang es ihm mit der Zeit, deffen 
Vertrauen zu gewinnen, und eines Tages 
hörte er aud) von der Tochter feine Ges 
ſchichte. 

Böger war urſprünglich Graveur geweſen 
und hatte das mit Schulden belaſtete Ge— 
ſchäft ſeines Vaters weitergeführt. Um dem 
drohenden Konkurs zu entgehen, hatte er ſich 
verleiten laſſen, für eine Falſchmünzerbande 
die Platten zu liefern. Er war ertappt und 
zu einer langjährigen Zuchthausſtrafe ver— 
urteilt worden. Während feiner Gefangen: 
Ihaft hatte er das Tiichlerhandwerf erlernt. 
Nad feiner Gntlajjung hatte er verjudt, 
auf ehrliche Weile fein Brot zu verdienen, 
batte aber nirgendwo ſeßhaft zu werden vers 


moht. Sobald feine Vergangenheit irgend: 
wo befannt geworden war, hatte entweder 
die Polizei — er ftand unter polizeilicher 
Aufſicht — ihn ausgewiejen, oder feine Mit- 
gejellen hatten fih geweigert, mit ihm zus» 
jammen zu arbeiten. Er hatte die Erfah: 
fahrung mamen miijjen, daß die fd)werfte 
Strafe erft nach Verbüßung der vom Gericht 
ibm auferlegten gefommen war. Jahrelang 
hatte er ein firomerndes LanditraBendajein 
geführt. Endlich Hatte fid) dann Meufinger 
feiner „erbarmt“, indem er ihm einen Unter: 
ſchlupf bot. Aber Böger bezahlte feine Rube 
mit lebenslängliher Gefangenjdaft. Meu: 
finger hatte nur unter der Bedingung eim: 
gewilligt, ihn ohne polizeiliche Anmeldung 
bei fih zu behalten, daß er jeden Verkehr 
mit der Außenwelt mied. Get vielen Jahren 
hatte er feinen Blid auf die Gaffe hinaus» 
getan. Geine Frau lag auf dem Kirchhof 
begraben, und er hatte nie ihr Grab be: 
Iden Tonnen, Seine Freunde aus früherer 
Zeit gingen an dem Haus, Hinter deffen 
Mauern er verborgen war, vorüber, mand) 
einer hatte den Laden felbft betreten, aber 
er hatte mit feinem von ihnen je ein Wort 
gewechjelt. Das einzige Band, das ihn mit 
ber Gemein|daft ber Menjchen verknüpfte, 
die einzigen Zeichen men[djlidjer Anhäng: 
lichkeit und Liebe, bie ihm zuteil wurden, 
rührten von feiner Tochter und feinem Entel: 
find ber. Wher auch deren Bejuche konnten 
nur felten und mit der größten Heimlidfeit 
ftattfinden. Meufinger hatte fie ftreng ver: 
boten unb ihn mit jofortiger Entlaffung 
bedroht. Die ftete Furcht vor der Polizei, 
die den Antiquitätenhändler jelbjt beherrichte, 
hatte er bei dem alten Mann nod) gejteigert, 
um Dellen unjchägbare Wrbeitsfraft defto 
Ihamlofer ausniigen und jede Bitte um 
Erhöhung des elenden Lobnes abjchlagen 
zu Tonnen, 

Klaus wurde von diejer Bejchichte tiefer 
erregt als nur von dem traurigen Schidjal 
irgendeines Bleichgültigen. Ihm war zu: 
mute, als hätte man ihm die Zukunft feines 
eigenen Baters erzählt. Auch der würde ja 
nad) verbüßter Strafe auf Jahre unter Poli: 
zeiauflicht ftehn und ein gebebtes, vogel- 
freies Dafein führen. 

Jeder Anzeige eines Feindes war er 
ſchutzlos preisgegeben. Eine ſchöne Einridh- 
tung, diefe bürgerliche Geſellſchaft mit ihrer 
Moral und ihrer Ebrbarteit, dachte Klaus 
vol Hak. Worin beftand denn die Ehrlich. 
feit ber meiften Menjchen anders, als dak 
jie nicht ber Verſuchung ausgejegt waren? 
Und die Gerichte und die Polizei — faben 
fte nicht ihre Aufgabe darin, den, der burd) 
Unglüd, durd) Verführung oder Schwäche 


244 Wilhelm Hegeler: 


in Schuld geraten war, bis an fein Lebens: 
ende zu verfolgen, während ein wirklicher 
Gdujt unb Menſchenſchinder wie Meufinger, 
nachdem er feine paar Jabre abgejejjen, une 
bebelligt ein üppiges Leben führte und zu 
Moblitand und Anjehen gelangte! 

Mit der Zeit empfand Klaus wirklich 
etwas wie Zuneigung zu dem alten Böger. 
Und bieler vergalt ihm feine Freundlichteit, 8 
indem er ihm fein Wiſſen von allen Zweigen 
ber Antiquitätenfälfchungen mitteilte. In 
feiner Einfamteit und einzig auf feine Arbeit 
angewiejen, hatte er feine angeborene Ges 
ſchicklichkeit zu einer vieljeitigen Runftfertig- 
teit ausgebildet. Er felbft freilich hielt fid 
für einen Stümper und Pfujcher, ba er aus 
Mangel an Material und geeigneten In: 
ftrumenten und fihlichlich aud) an Zeit nie: 
mals ein wirkliches Meijterftiid, fondern nur 
Mittelgut hervorgebradt batte. Wher gerade 
weil feine Tatigeit ins Breite gegangen war, 
ftellte er einen um jo bejjeren Lehrer für 
Klaus dar. 

Er zeigte ihm, wie man an Möbeln tinte 
lihen Wurmfraß berftellte unb ben mit ber 
Maſchine gepreften Schnitereien ein jahr: 
hundertealtes Ausjehen gab. Er lehrte ibn 
bas Zujammenfliden echter und imitierter 
Teile, und der erftaunte Schüler fah, wie 
unter feiner Hand aus einer Banerntrube 
ein foftbares Büfett, aus einem Empireftubl 
ein ganzes Kanapee erftand, Er verriet ihm, 
wie man modernen Bläjern den antifen Iris» 
(immer verlieh, wozu ein wenig Jaude 
und viel Geduld gehörte, wie man die fofts 
baren Bronzebejchläge des 18. Jahrhunderts 
berjtellte und Gips in Wlabajter und weifen 
Marmor verwandelte. Er ließ ihn zujehen, 
wie er einem Hirjchvogelfrug einen neuen 
Henkel anjegte und zerbrocdhene fFanencen 
ausbejjerte, und madte ihn darauf auf: 
mertjam, wie diefe Reftaurierungen zu ers 
tennen waren, daß, wenn bas Auge vers 
jagte, immer nod) bie Nafe bie übermalten 
Stellen aufipürte. Er wies auf bie unjd)át- 
bare Mitarbeit eines guten Düngerhaufens 
bin, ber die Prozedur bes rajden Yllterns 
zwar nicht von heute auf morgen, aber bod) 
in einigen Monaten und defto täujchender 
vollzog, und veranibaulibte zugleich bie 
‚ Unterjchiede zwiſchen gemadjjener und fünjt: 
lid) aufgetragener Patina, awild)en den Gra: 
quelüren, die bas geduldige Nagen der Zeit 
und denen, bie bas hibige Feuer eines Bad: 
ofens eingeribt hatte. Er unterrichtete ibn 
über die Marken ber Porzellane und Die 
Beichauzeichen und Stempel auf den Silber: 
geräten, über Taujchieren und 3ijelieren, 
über die Eigenheiten der Emailarbeiten und 
Miniaturmalereien. Und das Ende jeder 


EE 


Belehrung war die Warnung: „Alles ijt 
Schwindel. Wenn dir nicht ein glüdlicher 
Zufall zu Hilfe tommt, darfft du nicht hoffen, 
baB du ein echtes Stüd aufjtöberft. Und 
was den Zufall betrifft, jo mußt du bes 
denten, daß er ber größte Schwindel ijt. 
Bon neun in zehn Fallen ijt ber glüdliche 
SE nichts als eine aufgeftellte Falle.“ 


8 

Verwundert, erſchrocken ſah Frau Botel. 
mann, die eben ins Zimmer getreten war, 
ihren Sohn an. 

„Was ift bir?" 

„Hör zu! Ceg’ did)!” Mit haftiger Bes 
wegung [|djob Hans feiner Mutter einen 
Stuhl bin. „Hör zu!“ 

lind er las: „Zarathuftra fapte den Baum 
an, bei welchem ber Jiingling fag, und fprad) 
alfo: Menn id) diejen Baum da mit meinen 
Händen jchütteln wollte, id) würde es nicht 
vermögen. 

‚Aber der Wind, den wir nicht leben, der 
quält und biegt ihn, wohin er will, Wir 
werden am. jchlimmiten von unfidtbaren 
Händen gebogen und gequält.‘ — Wie [Hón 
ijt das und wie wahr!“ | 

Für feine Mutter, die eben aus der Stadt 
fam, die Hand voller Patete, den Kopf 
voller Bejorgungen, war der Übergang ein 
wenig ſchroff. Dod) verjuchte fie ibm zu 
folgen, bat ihn nur zum Schluß, ihr abends 
den Abſchnitt nod) einmal vorzulejen, und 
fügte mit einem Blid auf feinen Tijd Hinzu: 
„Hans, fónnteft du da nicht einmal ein 
bißchen Ordnung madjen ? Das Chaos wird 
immer wilder.” 

Er lahte und verjprad’s. Als er ihr 
die Heinen Päckchen reichte, gab fie ibm eins 
davon: „Die Handjduh [dente ich bir. 
Hoffentlich haben fie bie richtige Farbe.“ 

Gein Gejidt [trablte auf, wurde aber 
gleich wieder ernjt, während er fih bebantte. 
Als feine Mutter fort war, türmte er auf 
Thomas Mann die Logarithmentafel, Hers 
mann Hejje, Strindberg, Roufjeau, Gedichte, 
Schulbücher, Reclambefte, wie er die Bücher 
gerade errafite, und dachte, nicht ba, Bier 
inwendig müßte man Ordnung fchaffen. 
Entſcheiden müßte man fidj, nicht wahllos 
(id hingeben! Aber wie war es möglich, 
eine Wahl zu treffen, da aus allen diejen 
Stimmen Berführung, Schönheit und Wahr: 
heit [prad), und da er jelbjt der Freund des 
TFeindes von geftern war. Wie fonnte man 
[o baltlos, jo ohne Richtung und feftes Ziel 
fein! Uber als wenn er wüßte, daß alles 
Fragen darum vergeblich war, fuhr er fort 
zu leen. 

Nach einer Weile reigte ibn der feine 
Ledergerud. Er wollte das Padden bci: 


— 


ee — — 


ſeiteſchieben, öffnete es ſtatt deſſen aber und 
nahm die Handſchuh heraus. Ganz der 
dunkelrote Kupferton, wie er ihn ſich ge— 
wünſcht hatte. Halb noch mit dem Blick 
auf das Buch, begann er ſie anzuziehen. 
Wie prall ſie ſaßen! Er erhob ſich, nahm 
auf dem Korridor Hut und Stock und trat 
ſo vor den Spiegel im Wohnzimmer, wo er 
ſich ſehr ernſt eine Weile betrachtete. Er 
hatte ſehr viel an ſich auszuſetzen. Aber 
die Handſchuh ... die neuen Handſchuh — 
ihm jchien, als feien jte der Licht: und Augen: 
punit, von bem aus man bas Ganze bes 
urteilen müßte, der Anfang einer neuen, uns 
tadeligen Geftalt ... Bon welder denn? 
fragte es in ihm. War etwa die Eleganz 
eines Herrenausitattungsgejmáfts fein Bors 
bild? 

Als wäre er auf einer jchimpflihen Tat 
ertappt, ging er hinaus, rig bie Handjchuh 
ab und warf fid) aufs Sofa. 

So wars immer! Immer! Vorgeftern 
hatte er morgens Strindberg gelejen, hatte 
einen jo furchtbaren Haß, eine |o grenzen» 
loje Beradtung diejes ganzen vampirhaften 
Weibsgeſchlechts gehabt, und nachmittags 
war er Frau Dewerth und Annie begegnet, 
und da more wieder über thn gefommen, 
diefe finnloje Blodigfett, dies Gefühl, gleich 
müßte etwas GSchredliches pajfieren, und 
während fein fedes Lächeln fagte: ich bin 
bod) gar nicht rot, feinen Schimmer, hidjtens 
jegt ein bißchen, vor Freude... waren ihm 
die Bücher aus dem Arm gerutibt, und 
Annie hatte ibm noch [pöttilch mit ihren 
Fingerjpiken eins gereicht. 

O Niederträchtigfeiten! Trübes Chaos! 
Beinftellen der eigenen Natur! Ob er ein 
Bruder und Diener der Menſchen war oder 
ein einjamer fiberwinder, ob er fih bem 
Leben ans Herz warf oder abjeits enttäujcht 
eine -jchmerzlich tóftlime Chronik bieles vers 
worrenen Spieles jchrieb, alles jchien ibm 
gleich verlodend. ber daß er ein eitler 
Affe war, nahdem er eben ein von Erfennt: 
niſſen ergriffener (Get gewejen, bas war 
widerlich unb empórend und zerbrach wieder 
einmal fein Selbjtgefühl. 

Aber derlei Widerjpriihe und Mirrnifje 
zerrten ohne Zahl an ihm, jo daß jchroffer 
Medbjel von Sonne und Schatten fein dan 
ernder lee der 3ujtanb ward. Dn der Seele 
diejes Siebzebnjábrigen rangen ber erwadte 
Geift und bas erwachte Geſchlecht mit gleich 
ungebándigter Sjeftigfeit, und ihre Stürme 
rijjet ihn entweder bod) in die Lüfte oder 
in trübe Gründe; ruhiges Schreiten war 
ihm jelten gegönnt. 

Geine Kameraden empfand er als eine 
andere Rajje als fid) und Hatte unter ihnen 


Zwei Freunde | BE23332333233331 245 


wohl gute Freunde, aber nicht den Freund. 
Das Verhältnis zu Klaus dagegen vertiefte 
fih, wenn Hans aud gelegentlich immer wies 
der durch irgendeine Nüchternheit oder Bana: 
lität von ibm abgejtoBen wurde. Aber blib- 
ſchnell verſchwanden dieje gewöhnlich hinter 
dem andern, als wären fie nur ber Wusbrud 
einer augenblidliden Berjtimmung. Klaus, 
joviel rajcher und gejchmeidiger und weniger 
cinfeitig als fein Freund begabt, jab im 
Grunde auf diejen herunter, empfand aber 
Dod) bie Bejonderheit und das Brunner 
bafte an ihm, aus dem zu jchöpfen nicht nur 
förderlich war, fondern auch eigentümliche 
Befriedigung gewährte. Keime feines Mes 
Jens waren mit Hans verwandt und wurden 
von ibm befruchtet, und bieje Befruchtung 
empfand er, wenn aud) halb widerwillig, 
als Glüd. In der legten: Zeit brachte eine 
gewijje Ühnlichkeit ihrer Entwidlung fie 
einander noch näher. Die Erjehütterungen, 
die Hans innerlid) erlebte, hatte Klaus als 
bitteres Schidjal an fih erfahren. Es gab 
jeinem verwundeten Gelbjtgefühl Genug» 
tuung, wenn er die ganze hergebradhte Ord: 
nung umjtoßen und Gott und die Welt ans 
Hagen fonnte. An den Eonntagabenden 
erhigten bie beiden fid) in leidenſchaftlichen 
Ge|prádjen, und Hans merkte nie, wenn 
Klaus mit feinen Z Delen von der vorigen 
Mode fam, die er zäh und meijt fiegreich ver: 
teidigte, Denn er war ein Menjch, ber immer 
recht behalten mukte, und zäher als fein Freund. 

Viel mehr aber nod) bedeutete für Hans 
in biejer Zeit feine Mutter. Er, ber beim 
Zujammentreffen mit feinen Freundinnen 
aus alter Zeit alle Unbefangenheit verlor 
und den es doch mit tiefiter Gewalt zum 
weiblichen Geſchlecht Hinzog, fand bei ihr 
Halt unb Troft. Auch fie war eine Frau, 
aber nichts, was ihn mit fih felbft entzweite, 
ging von ihr aus, Jondern [ie war Friede 
und miitterlide Büte. Sie abnte die Schwere 
feiner Kämpfe, aber fie wußte auch, daß fie 
nur eine Entwidlungsftufe bedeuteten. Dies 
Hürde Braujen war etwas wie cine Gr: 
neuerung ihres allzufrüh zur Rube getoms 
menen Lebens. Und gerade daß fie abnte, 
in der Tiefe Diejer geiltigen Nöte ringe eine 
ganz andere Not um Erlöjung, gab ihrer 
Teilnahme eine Güte, die ihn wie die Zärt- 
lichkeit einer Geliebten begliidte. Go ers 
neuerte fid) in Diejer jchmerzlichen Übers 
gangszeit bas Gohnesverhältnis beinah mit 
gleicher Snnigfeit wie in feinen Rinderjahren, 
da er nicht minder ſchwach und troftbedürftig 
war als damals. Noch einmal bedeutete 
feine Mutter ibm die Zuflucht Jchlechthin 
und alles, was in biejer dunklen, verworres 
nen Welt der Liebe wert war. 


046 B23:-::::::23:2:$::3223:23:232] Wilhelm Hegeler: 22243824 


Uber dann war gerade fie es, bie ibm 
wieder zum Anſchluß an feine Altersgenofjen 
verhalf. Einige Rlajfenfameraden, darunter 
aud) Rudi, nahmen in diefem Winter Tanz: 
ftunde. Hans fprad) ‚darüber in überlegen 
wegwerfendem Ton. Doc fie bewies thm, 
daß er daran teilnehmen müßte, [don feiner 
forperliden Kultur wegen. (Es bedurfte 
nicht langer fiberredung, denn innerlich war 
er nur allzu geneigt. Aber diefe Tangftunde 
wurde ibm zu neuer Pein. Er war oergebe 
lich, gerftreut und unmufifalifd. Wenn alles 
wie bei der Parade ging, |o war er es, ber 
Berwirrung anridtete. 

Auch Annie nahm an dem Kurjus teil, 
wenn fie auch alle Tänze, felbft bie mo: 
dernften, [Hon fannte. Der Tanz war nod) 
immer ihre Leidenihaft. Zu Haus mußte 
Mademoijele Syüliten ftundenlang Chopin 
und Grieg und Gtrauß fpielen, bis ihre 
altersihwacdhen Hände erlahmten, während 
Annie, am liebiten in jeidenen Pagenhisden, 
alle die funjtvollen Verjchlingungen nad): 
abmte, bie [ie von den berühmten Tänze: 
rinnen gejehen hatte. 

Shre ganze Phantafie fet in ihre Füße 
gerutſcht. Früher fet bas einmal anders ges 
melen, fagte Hans gelegentlich. 

Und feine Phantafie, die früher [o Schönes 
erfunden, fónnte jest nur nod Bosheiten 
ausdenten, entgegnete fie. 

Anfangs gehörte für fie mehr Selbſt— 
überwindung dazu, als Hans abnte, an feiner 
Geite ben zähen Kampf, den er mit ber 
Mufit führte, ein wenig zu deren Gunjten 
zu beeinflujjen und Gorge zu tragen, daß fie 
nidt mit anderen Paaren zujammenitießen 
oder den zujchauenden Müttern auf den 
Schoß flogen. Dann jedod) fhien eine uns 
bewußte Umwandlung und Erwedung in 
ibm vorgegangen zu fein. Die Diufit löfte 
die Rhythmen feiner Glieder, und er emp: 
fand Annie nicht mehr als fremden, eigens 
willigen Körper — mit ihr zulammen fonnte 
er auf einmal tanzen. Daß aber aud) in 
ihr eine Wandlung fih vollzogen hatte und 
daß fie jebt wieder um ihn warb, wenn 
aud) ganz ſchüchtern und vor ihr jelbft vers 
ftedt, dafür war fein Auge nod) verjchlojjen. 

Manchmal lag fein Blid mit jchmerz- 
lihem Entzüden auf ihrer ſchlank hinfließen: 
den Gejtalt, auf ihrem Gelicht mit der fühlen, 
etwas niedrigen Stirn, bem feinen Strich ber 
faft wageredjten Brauen, den Augen, deren 
lange Wimpern das Blau nod dunkler und 
bas Weike nod) flarer erjcheinen ließen, den 
zart geformten Xippen, bie nicht mehr der 
weiche, etwas volle Rindermund waren, jon: 
bern Grazie und Spott und Stolz verrieten 
— auf diefem ganzen fo ebenmäßigen, edlen 


Oval, bas er fühl zu ftudieren glaubte wte 
ein Bild, indes er bod) unrubvoll grübelte, 
warum fie ihm entglitten fei und ob fie ihm 
wohl je wieder gehören würde. Wenn fie 
dann aber fragte, woran er bádjte, gab er 
eine |d)roffe oder gleichgültige Antwort. 
Gern hätte fie ihm eine bedeutende Bosheit 
erwidert, bod) fiel ihr felten etwas ein. Cine 
bhodmiitige Viene war ihre einzige Waffe 
und der Schild, hinter ber jid) ihre gefräntte 
Liebe verbarg. Dod) eines Abends ftrafte 
jie ihn auf luftige Meije, indem fie zu Haufe 
eine fleine Pantomime aufführte, „Den 
erften Walzer mit Hans,” wozu fie eine 
Glieberpuppe ihres Baters als Herrn ans 
gekleidet hatte, mit fteifen Armen und jchwes 
ren Schuhen an den Füßen. Cie per|tanb 
jo brollig, fih von Ddiejer Figur [cheinbar 
fortwährend aus dem Taft und in die une 
möglidhften Stellungen bringen zu laffen, 
bis fie jdjlteBlid) von ihr auf einen Stuhl 
geworfen wurde, daß alle [adten und Hans 
am meijten. ( 

Ziele Heinen Tanzereien unter den Alters» 
genojjet ber Gejdwijter machten jebt fo 
ziemlich bie einzige Gejelligteit tm Dewerth= 
jhen Haufe aus. Gonft war es ret [till 
geworden. Sahraus, jabrein hatte der Pros 
feffor unermüdlich gejchafft. Rings um ihn 
ber waren neue Runftribtungen groß ges 
worden, für bie er fid) intere]lierte, ohne daß 
fie ihn beeinflußten. Schließlich war er aber 
bod) beunruhigt worden und hatte einen 
Sommer lang in Holland experimentiert. 
Aber bie Runjthändler, bie feine Abnehmer 
waren, zeigten fih von feiner neuen Art 
teineswegs entzüdt. Das Publifum war nun 
einmal an einen ganz bejtimmten Dewerth 
gewöhnt. Er durfte nicht fid) felbft untreu 
werden. So febrte er zu feiner alten Art 
zurüd, obwohl das ganze Haus und er an 
der Cpibe fih [Hon lángft dem neuen Runjts 
geihmad zugewandt hatten. Cr arbeitete 
jeitdem in einem miibjam ergwungenen Fieber 
und war glüdlich, wenn er ein neues Bild, 
das immer noch glänzend bezahlt wurde, 
faum fertig gemacht, aber ihm felbft jchon 
langweilig, von ber Staffelei nehmen fonnte. 
Mit feiner Arbeitsluft hatte er auch feine 
Genubtraft verloren. Er äußerte oft Sehne 
juht nad) Rube. Geiner Frau, bie mit den 
Jabren immer bequemer geworden war und 
jest auch manchmal ans Sparen date, tam 
bieles veränderte Leben nicht unerwünjcht. 
Mur Annie beflagte fid) manchmal. Aber 
ihre Mutter tröftete fie: wenn fie aus ber 
PBenfion guriidfame, würden fie wieder mehr 
Gejelligteit pflegen. 

Es war ein Tag in den Weihnachtsferien. 
Der graue Schneehimmel hatte fic entladen, 


ee ::3:-] Zwei Freunde E333333353333349 247 


unb jebt herrfchte flares Froftwetter. Die 
ganze Stadt Hatte ein luftigeres Ausjehen 
befommen, als hätte fie fic) verkleidet für 
eine. Redoute in Weih. Aus ben Scorn: 
fteinen wirbelte der Rauch eilfertig in bie 
dünne Luft, und die Pferde vor bem Dewerth- 
iden Haus [diittelten ungeduldig bie Klingeln 
ihres Zaumzeugs. 

Als Hans und ifa fid) trafen, fam falt 
im felben Augenblid aud Rudi aus der Tür. 
Alle drei gerieten in Begeifterung über ihre 
Pünktlichkeit. Nur Annie fehlte. Rudi rief 
nach ihr, unb nad) einer fleinen Weile tónte 
ihre Stimme von der Treppe, ihr Bruder 
folle nicht fo jchreien, wo er ihre Schlittſchuhe 
hätte? 

 „Broßartig! Auch dafür fol id) forgen ?“ 

„Selbftverjtändlich !“ 

Während er zurüdeilte, half Hans den 
Mädchen in die Fußjäde und breitete die 
Dede über fie. 

Dann. bimmelte der Schlitten davon. 
Connen[djin wedjelte jah mit bläulichen 
Schatten. Wenn fie um die Ede bogen, [prübte 
ihnen Diamantjtaub ins Gefidht. Annie, Kifa 
und Rudi [chwaßten luftig. Hans hörte mit 
halbem Obr zu; er beobachtete vielmehr. Mie 
rajd) Annies Züge wechjelten! Und mit 
welder Beltimmtbeit fie alles äußerte! Mit 
einer fo glüdlichen Beftimmtbeit, als hätte 
nie ber leijefte Zweifel fie berührt... Dest 
Iadten die drei. Worüber? Warum pakte 
er nicht auf? Warum fprad) er nicht mit? 
Immer wenn mehrere zujammen waren, war 
er ¿erftreut, träumte vor fid) bin oder bildete 
den abjeitigen Zufchauer. 

Dod augenblidlich fot ihn das nicht an, 
da er die Überzeugung hatte, daß heute ein 
Glüdstag für ibn fei. Auf ber legten Tang: 
ftunde hatte er ein langes Gejprád) mit Annie 
gehabt, durch das fein hartes Urteil über fie 
gänzlich erjchüttert war. 

Das Gejprad Hatte, ftreng genommen, 
Hans allein geführt, und vielleicht hatte es 
ibm gerade deshalb eine jo gute Meinung 
von Annie beigebrabt. Es hatte damit be: 
gonnen, daß fie ihm erzählte, fie würde nun 
bald nad Montreux in Penjion tommen, es 
würde ficher fürchterlich langweilig werden. 
Aber fie wäre ja zu beneiden, daß fie den 
herrlichen Genfer Cee zu jeben befäme, hatte 
er lebhaft erwidert und deffen Schönheiten 
fo.anjchaulich bejd)rieben, daß fie ihn erftaunt 
unterbrad): wenn fie nicht bas Gegenteil 
wüßte, würde fie glauben, er wäre [Hon eins 
mal dort gewejen. Nun war er erft ret in 
Feuer geraten, hatte von Genf und Calvin, 
von Voltaire und Fernay, von Rouffeau, bem 
Bosquet de Julie, der Neuen Heloije erzählt 
und war jchließlich anf die nenefte Literatur 


gu [predjen gefommen. Singeriffen hatte [te 
zugehört, einem Herrn nad) dem andern 
Körbe erteilt, um fid) von ihm immer neue 
Bücher empfehlen zu laffen, die fie lejen 
wollte. Und als fie fid) trennten — immer 
nod) fühlte er ihren Händedrud, geheimnis» 
voll, fura, wie einen Schlag ihres Herzens 
— hatte fie gejagt, ehe fie abreifte, müßten 
He noch einmal miteinander |pred)en. Wher 
ordentlid) und vernünftig, nicht jo fort: 
während geftirt wie jest. 

Und das würde heute gejchehen. Er las 
es aus ihren Augen, die manchmal voller 
Verſprechungen feinem Blid begegneten. 

Nun [djraf er auf. Aus dem langen Zug 
des jungen Volts, das einzeln, paarweije, in 
Heinen Trupps auf bie überjchwemmten 
Wiejen vor die Stadt hinauszog, hatte ein 
junges Mädchen aus ber Tanzftunde, Olga 
Blak, gewintt, ob man fie nicht mitnähme. 

Annie ließ jofort halten, und bie etwas 
bidlidje Olga flemmte fid) gwijden ihre 
Freundinnen. Wher gleich darauf wurde 
Annie, bie einen ganzen Trok von Freundin» 
nen hatte, wieder angerufen. Um den beiden 
neuen Inſaſſen Pla zu machen, mußten die 
beiden Jungen fih auf den Boden jeßen. 

Schon von weitem hörten fie bie Muſik 
ber Militirtapele. Nahe am Ufer ftanden 
die Bretterbuden, in denen heiße Getránte 
unb Badwerf vertauft wurden. Bor den auf: 
geld)fagenen Bánten daneben waren bie mit 
Pfriemen, Bohrern und Riemen bewaffneten 
Männer, bie einen ftarten Groggerud) auss 
atmeten, bereits eifrig bei der Arbeit. Weiters 
bin, wo bie Kapelle |pielte, treifte, dicht ge: 
drängt, bie [chlittjchuhlaufende Menge. Aber 
da und dort jah man abge|prengte Teile, 
unb in ber glastlaren Luft, bie bie Leud)t: 
fraft aller Farben erhöhte, fonnte man in 
[dier endlojen Fernen nod) einzelne Laufer 
erbliden, die wie dunfle oder helle Sieden 
über die bläuliche Fläche |d)mebten. Wegen 
bes Flüßchens, bas dort ftrömte, galt das 
Eis in bieler Zone als unficher. 

Während man die Mäntel auszog, bie 
Deden durcheinander warf, bie Schlittfchuhe 
juhte, entjtand ein eifriges Durcheinander: 
reden über die Zeit, wann ber Wagen zurüd 
fein folte. 

„Romm, Annie!” fagte Hans. „Was 
willft du ba Herumftehen und dir von fo 
einem Schnapsterl bie Schlittſchuh anziehen 
laffen? Da jek’ bid) bin." 

Er fniete vor ihr auf einem fchneefreien 
Sled der Böſchung. Aber gerade, als er die 
Riemen umjchnallen wollte, gewahrte er Olga 
Blak, bie traurig, ganz allein, über ben 
Steg |d)ritt. Mitleidig rief er fie an. Als 
bie Schlittſchuhe feitiahen, nahm er bie beis 


248 PBESSSSSSSSSITAI Wilhelm Hegeler: see 


den Mäbchen an der Hand. Annie wollte 
zur Mufit. Ihm war es redjt. Dort würde 
er Dejto eher jemand finden, der ihm bie 
Heine Olga abnahm. Gie liefen nun Tandem. 
Olga war in der Mitte. Ihr Gliid verjóbnte 
Hans ein wenig mit feiner Unflugheit. Da 
fam in fiihnen Bogen, mit verjchräntten 
Armen und burdjgebrüdtem Kreuz ein 
Klafjen: und Tanzftundentamerad an und 
Ge ehe Hans es fid) verjah, Annie ents 
hrt 


Als biefer feine Dame endlich auf eine 
Bank gejegt und Annie wieder entbedt hatte, 
lief [ie mit einem Maler. In ihm verfinfterte 
lich plöglich alles. Er hatte auf diefe Stunde 
gewartet! Er hatte, [o [hien ihm, feit Jahren 
darauf gewartet! Und nun folte er fid 
darum beftehlen laffen von bielem Maler, 
ber nod) dazu gänzlid) alte Schule war! 

Er lief auf.das Paar zu, umtreijte es, ine 
bem er Annie mit ungeduldigen Bliden vers 
Ichlang. 

„Bleih, wenn die Mufit zu Ende ift,” 
rief fie. 

„Ein Dibiger junger Mann,” 
Maler. 

„Dein befter Freund!” erwiderte Annie 
ſchnippiſch. „Wir find wie Gejchwiiter.“ 

Die Mufit jchwieg. In demjelben Augen: 
blid ftand auch Hans vor den beiden. 

„Wie der Beilt aus der Verjentung,” Jagte 
der Maler lächelnd. „Viel Glid, Herr 
Bruder!” 

„Warum fagt er Bruder?” fragte Hans. 

„Aus Wig.” 

„Sp ein Kamel! — Nun aber fort!“ 

Gr wies in die Ferne, wo vor den mit 
ihren fnorrigen Kronen aus dem Gije ragen 
den Weiden vereinzelte Laufer auftaudten. 

„Aber da hört man ja bie Mufik nicht.“ 

„Da hört man taujenbmal [Hónere Muff. 
Da pfeift der Mind und da fingt das Gis.” 

„Und wenn’s bricht?“ 

„Unter uns beiden nicht. Komm, Annie, 
tomm!” o 

Shr Lauf gli einem Fliegen über das 
dünne Eis, das da und dort aus der Tiefe 
braune Brasbüjchel und feltiam geformte 
Grajer durchicheinen ließ. Das leije Kniftern, 
die fternartigen Riſſe, bie unter ihrem Stahl 
fid) bildeten, das Gefühl einer gewiljen Ges 
fahr erhöhten für Annie nod das Vergnügen. 
Wie fie mit ibm, in langen Kurven [id) 
wiegend, dahinglitt, empfand fie ein Gliid 
und eine Leichtigkeit, die ihr fonft nur ber 
Tang gab. 

„Himmliſch,“ jagte fie, als fie aufatmend 
am Ufer bielten. 

„Ja, herrlich! Ift das nun nicht hundert: 
mal jdjóner als Tanzen?“ 


bemertte der 


„Ad, das verftehft bu nicht. Tanzen ijt 
eine Runft.“ 

„Aber bod) nur eine recht untergeordnete.“ 

„zangen ijt die Zufammenfafjung, über: 
haupt der Inbegriff aller Riinfte. Das habe 
id) nod) neulich gelelen, in einer modernen 
Zeitſchrift.“ 

„Was? — Gewiß — ja — aber doch nur 
in geiſtigem Sinn. Wenn man ein Tänzer 
wie Nietzſche ijt." 

„Nietzſche als Tänzer — den Helle td) mir 
malos fomifd) vor. Sat er nicht immer 
einen langjchößigen Rod getragen?“ | 

„O Annie... manchmal redeft du, wie 
von allen guten Geiftern verlaffen.” 

„Na, weißt bu —“ 

„Sa, du Haft dich febr verändert! Wenn 
ich dente, wie du früher warft — 

„Früher!“ ftieß fie leidenjchaftlich hervor. 
„Du follteft lieber nicht von früher |predjen. 
MeiB Gott, du nicht!“ 

"Ja, wer ift denn jchuld, daß alles anders 
geworden ift?” 

„Wer fchuld ift?" 

Beide Jahen fid) an, mit fpriihenden Augen, 
im Gefühl ber mit Bitterfeit und Ente 
täufhung geträntten Cebnjudjt, unb [tteBen 
dann heftig hervor: , Du!" 

Dieje Gleichgeitigfeit machte fie einen 
Augenblid beinah verjöhnt lahen. Aber 
jogleid) fuhr Annie fort: „Ich habe wahr: 
baftig feine Schuld. Ich habe bid) nie ans 
gegrobft und wie etwas Inferiores behans 
belt. Sd) habe mir ebrlidje Mühe gegeben, 
nett zu fein. Aber bu — bir tann man’s 
ja nie redit machen. Vorigen Sonntag — 
ich denfe, ich mode dir eine Freude, indem 
id) bir meinen Cdjleiertana zeige, dir ganz 
allein —“ 

„Bitte, Da war noch der Herr Lutas ba: 
bei. Und nur das hat mich geärgert.“ 

„Aber ber ijt bod) Maler,” erwiderte fie 
naiv. „Alfo über den warft du wütend? 
Wie fonnte id) bas nur ahnen? — [lbri: 
gns, bu bift ein zu fomijdjer Menſch! In 
der Theorie und in der Praxis ganz ans 
ders.“ 

„Das ijt nicht wahr. Was ich einmal als 
richtig ertannt habe, das fege id) aud) 
durch.” 


„So? — In der Theorie haft du bod) 
jogar bie 9tadttángerinnen verteidigt.“ 

„Woher weißt bu das? Hat Rudi bir 
das erzählt?“ 

„Der hat mir überhaupt noch eine ganze 
Menge erzählt. Du haft ſchöne Ideen. Die 
Ehe ertlárft du für eine Lüge —" 

„Das habe ich nicht behauptet. Sondern 
nur, daß es junge Dienjchen geradezu zum 
Meincid verleiten heißt, wenn fie vor dem 





An der Molga Gemälde von Prof. Robert Sterl 














——— See 


SSES Zwei Freunde seess 949 


Altar ſchwören follen, daß fie fid) ihr ganzes 
Leben treu bleiben. Für die Dauer feiner 
Gefühle tann niemand garantieren.” 

„Wenn er das nidt tann, fol er es eben 
bleiben [ajjen," erwiderte fie aufgebradt. 

Aber das hätte fie lieber nicht jagen fols 
len, wie ihr fofort zum Bewußtjein fam, 
denn es reizte ibn über bie Maßen, fo daß 
er jede NRüdficht vergaß und ihr fein Be: 
dauern ausdriidte, baB auch fie zu ber gros 
Ben Herde zu gehören fheine, die in ber 
Ehe nur eine Berjorgung auf Lebenszeit 
erblidte. Mie es jchweigfamen Menjchen 
manchmal ergeht, befam er einen Beredjam: 
teitsanfall, der ihn wie ein Rataratt mit 
fortriß. Gleich $jagelldjojjen prafjelten die 
Namen gánglid) unbefannter Autoren auf 
fie nieder, deren Bücher fie lejen folte. Er 
erórterte das Problem ber 9tadjfommenjdjaft 
und gebraudjte Fremdwörter wie Sexuali: 
tät, Mtetaphyfif, Evolutionismus, die ihr um 
jo unanftándiger flangen, je weniger fie fie 
verftand. 

Annie hatte bei einer Table d’höte einmal 
erlebt, daß ein Herr fi an einer Filchgräte 
rerjdjludte. Es war eine ihrer peinlichften 
Erinnerungen. Und dem Gefühl von ba: 
mals gli) ganz und gar bas, weldjes fie 
jest hatte. Schließlich unterbrach fie ihn, 
indem fie frie: „Hör’ auf, wir find bod) 
feine Tiere!“ 

Die diimmite Huferung fann burd) ihre 
Herzensangjt überzeugender wirfen als ein 
fdjarffinniger Einwand. Hans ſchwieg wirt: 
lid, fragte fid), einen Augenblid ganz ver: 
wirrt, ob er nicht auch eine ganz andere 
flbergeugung babe, und wollte jdjon ein: 
lenten, als Annie fortfuhr: das alles wäre 
ja ſcheußlich und blódiinnig und gar nicht 
Hanjens Anficht, jonbern von Niegjche an: 
gelejen. j | 

Allein ber Ton, in bem fie diejen Namen 
ausjprad, madte ihn von neuem auffahren. 
Nichts wäre angelejen! Alles wären hart 
ertämpfte Überzeugungen, erklärte er jchroff. 
Aber er wiffe wohl, fie würden fih nie ver: 
ftehn und immer aneinander vorbeireden wie 
die Bewohner verjchiedener Welten. Er 
würde feinen Weg allein gehn. 

Cie war glüdlid), als er |djtoieg, fie oe: 
noB dies Schweigen geradezu körperlich. Die 
Fiichgräte war glüdlid) binuntergerutid)t unb 
die Rataftrophe abgewendet. Was Hans 
badjte, war ihr im Grund ganz gleichgültig. 
Cie fonnte ibn ja viel zu gut, als daß feine 
Gedanten ihr irgend etwas Neues über ibn 
hätten fagen Tonnen, Berubigt und ver: 
fóbnt nahm [ie feine Hand, und wieder 
flogen fie bogenjchneidend dahin. Ihn er: 
füllte eine tiefe, aber gemejjene Traurigteit. 


Belbagen & Rlafings Monatshefte. 35. Jahrg. 192021. 2. Bb. 


Mie anders war diefer Tag verlaufen, als 
das betörende Gliidsgefiihl ihm vorgetäufcht 
hatte! Aber es berridjte nun wenigitens 
Klarheit awifden ihnen. Den Halbbeiten 
war ein Ende gemadjt. Den Hoffnungen 
freilich aud)! Cie würde abreijen, und wenn 
fie zuriidtam, würden fie fid) wieder fremd 
begegnen. ®Bielleicht fpäter einmal... viel, 
viel jpäter würde fie fid) an diefe Stunde 
erinnern und zugeltehn, daß er recht ge: 
habt hatte. 

Es war ein wundervolles Gefühl, fic mit 
ihr zu wiegen und aud) im Zuihrneigen zu 
fühlen, daß fie fid) an ihn jchmiegte. Wie 
in der Abjchiedsjtunde ber 9tadjflang alles 
Benofjenen ganz ohne ViiBtlang jchwingt, 
ſolch ein tiefes Gliid lag in diefem Ber: 
bundenfein ihrer Körper. Bis fie endlich 
jagte, fie tónnte nicht mehr. Nun ergriff er 
(ie um bie Hüfte und |djob fie Jaujenb vor 
fid ber, in der Meinung, fie würde zu ber 
Vienge, bie, vom bläulichen Abenddunft um: 
woben, fid noch immer drehte, binlenten. 
Aber fie glitt an dem einjamen Ufer ent: 
lang, bis fie plóglid) wieder ans Land ab: 
bog. In längeren, dann kürzeren Sprüngen 
ftolperten fie nod) über die gefrorenen Schol» 
len, ebe fie auf einem Grasfled niederjanten, 
Shr Schlittſchuh Hatte fih verjchoben, er 
rückte ihn zurecht, unb im Augenblid, wo er 
ihren Fup fanft wieder auf den Boden jebte, 
ließ fie ihre Hand in feine gleiten und fagte: 
„Ad, Hans, daß ich jebt gerade fort muß!” 

Er blidte zu ihr auf, und wie jeßt ihr 
trauriger Ausdrud zu etwas unendlid Süßem 
zerſchmolz, richtete er fih empor, feine Hände 
glitten an ihren Armen hinauf, fein Gejicht 
náberte fich, er wußte nicht wie, dem ihrigen, 
und während etwas wie ein Wirbeljturm 
über ihn binbraujte, lag fein Mund auf ihren 
regungslojen Lippen. Dann flüfterte er ihren 
Namen. 

„Mein Hans!” gab fie flüfternd zurüd 
und öffnete blak ihre Augen. Wieder tüpte 
er fie und fühlte ihre gleidjjam [chlafenden 
Lippen, bie er mit [eijen Sollen zu weden 
juhte. Und auf einmal antwortete ihm ein 
janfter Gegendrud ihres Mundes. Da um: 
Ihlang er [ie ungeftiim, tüpte fie immer 
feuriger, bis fie fid) ibm plößlich entwand 
und aufiprang. 

Won ihm verfolgt, eilte fie über das Eis 
dahin, als er fie greifen wollte, biidte fie 
(i, und er ftob an ihr vorbei, febrte im 
Halbfreis um, wollte fie wieder greifen, über: 
holte fie von neuem, drehte fid) dann aber 
plögli um, jo daß fie ihm gerade in bie 
Arme flog. Wieder tiiBten fie fid), wieder 
entſchlüpfte fie ihm, wieder haſchte er fie. 
So, bald umjdlungen und umeinanber- 
17 


d 


950 FSSeSSSS38 Klabund: Wanderung zur Nacht seiss 


wirbelnd, bald getrennt und einander ver: 
folgend, flogen fie bin, bis fie, ganz außer 
Atem, fid) in feinen Arm legte. 

„Mein Hans!“ 

„Deine Annie!“ 

„Wirt du mir jchreiben ?" 

«Ja. — Du mir aud)?" 

"Ja. — Alles mußt bu mir foreiben. 
Mas du tuft und was bu benfjt. Alles!“ 

„Alles!“ 

Als fie endlich bie andern wiederfanden, 
berrichte großer Aufruhr. Man wartete auf 
fie, Bott weiß wie lange! Man war halb 
gu Tode gefroren! Es war unerhört! 

„Romm, Hans, wir fteigen ein! Wenn 
die andern fo find, mögen fie jehn, wo fie 
lab finden,” jagte Annie ruhig und lebte 
(id) vergnügt auf den beiten Plaß. 

Wn biejem Abend war Hans wiegewöhnlich 
noch ein wenig mit feiner Mutter gujammen 
und las ... und las in einem Bud, auf 
deffen Seiten nur die Morte ftanden: „Daß 
id) nun gerade fort muß!“... Dieje rátjel: 
haften Worte! 

Eben hatte der Abgrund, der ihre fiber: 
zeugungen trennte, fih aufgetan, eben hatten 
fie fid) voneinander losgejagt und... nun 
gerade! O Morte, wider alle Logik, höher 
und [iegreid)er als alle Logit! O Wunder 
der Liebe, bie hört, was [ie ¿erftóren müßte, 
und die antwortet: „Nun gerade!...” 

„Worüber denkſt du fo eifrig nad) ?^ fragte 
feine Mutter. 

nod) ...?“ antwortete er auffabrenb. 
„Sch dachte eben über die Frauen nad.” 

„Und was benfjt bu von uns?" 

„Ah nur jo... Daß ihr fo... fo mert: 
würdig feid. — Aber id) bin ein biBd)en müde 
und will ins Bett.“ 

Er trat an feiner Diutter Gejjel, unb wie 
er nun bie Linte um ihre Schulter legte und 
mit ber Nechten leicht ihr Kinn emporbob 
und feinen Mund faum merfbar länger und 
fefter als fonft auf ihrem ruben ließ, fühlte 
(ie, daß ein neues Liebesempfinden von ihm 
Beli ergriffen hatte. 


„— Nacht, Mutter!” 

» — Nacht, mein Junge! Schlafredht wohl!“ 

„Du auch!“ 

Frau Botglmann blieb nod eine Weile auf. 
Und die bingleitenben Fäden ihrer Gedanfen 
färbte ein ganz Meines Trépfden Blut und 
ein ganz leifer Schmerz, faft als hätte ihr 
Sohn ihrem Herzen eine Wunde zugefügt. 
Aber dann liefen die Faden weiter ihren 
eigenen Weg, verblaßte Erinnerungen bes 
lebten fic) in fanftem Glühn, und unter den 
Icyweren Hüllen, bie die lange Zeit darüber 
gelegt, ertónte fern, ganz fern die Melodie 
ihrer eigenen Jugend. 

Hans lag nod lange wach, ganz regungs» 
los, als fühlte er [o inniger die Küffe, bie 
er gegeben und empfangen hatte. Und bei 
aller Erregung, in der fein Blut puljte und 
jang, erfüllte ihn zugleich etwas von ber 
wunderbaren Stille eines gläubigen Menjden, 
der eben das heilige Gaframent empfangen 
hat. Nur daß diefe glüdjelige Leichtigkeit 
und Bereitidhaft nicht bem Sterben, fondern 
dem Leben galt. 

Dann reilte Annie ab. Gie fdrieb an 
Hans gleid) nad ihrer Ankunft, nur wenige 
Zeilen, aber der ganze Brief duftete nad) 
Veilchen, feinen Lieblingsblumen, die fie im 
Bosquet de Julie für ibn gepflüdt hatte. 
Cie jdrieb nod) mandes Mal, und er ant: 
wortete ihr getreulid), wenn er aud von 
dem, was ihn beichäftigte, nur bas wenigfte 
mitteilen fonnte, ba die anfommenden Briefe 
von ber Leiterin bes Penfionats gelejen 
wurden. Mit ber Zeit bejchränfte fid) ber 
Briefwechjel auf gelegentliche Lebenszeiden. 
Hans wurde von neuen Sorgen in Anipruch 
genommen. Gein Examen rüdte heran. 
Dann ging er nad) Münhen. Er hatte jid) 
darüber jdjlüjjig werden müjjen, was er 
ftudieren follte. Wenn er darüber nad)vadjte, 
fam er immer zu dem Ergebnis, daß er am 
liebften bie Menjchen ftudieren würde. Da 
dies aber auf der Univerfitát nicht gelehrt 
wurde, jo wählte er das Studium feines 
Raters, Jurisprudenz. (Fortjegung folgt.) 


Wenn id) in Nächten mandre, 
Ein Stern, wie viele andre, 
So folgen meiner Reife 

Die goldnen Brüder leife. 





\/ 


Wanderung zur Nacht. 


Don Klabund 


Der erfte fagt's dem zweiten, 
Mid zártlid) zu geleiten. 

Der zweite fagt's den vielen, 
Mid ftrablenb zu umjpielen. 


So [djreit' ih im Gemimmel 
Der Sterne durd) ben Himmel. 
Id) lächle, leuchte, manbre, 
Cin Stern wie viele andre. 





kal, A OW ROL WC CC IC MIC e 


: Neue BilderhanofWriften 


Bon Dr. Georg Giejede 


( CS (A) C MY ye Ti IC 


S$ororoiorototorototorororotorororororororororotororororororototorororororororotorototo 


omit mam ES, damit wird 
man geftraft. Dian ijt von Kind» 
| beit auf eine Lejeratte und fennt 
AL. OR leinengroBeren Genuß alsBücher. 
: Man begreift den jungen Leffing, 
der burdjaus als Heiner Gelehrter gemalt 
werden wollte, und man ftimmt Hugo von 
Hofmannsthal zu, der den modernen Mens 
iden in feiner typijden Gebárde mit dem 
Bud in der Hand erblidt. Aber bald wird 
ber Biicherlejer zum Bücherfammler, und 
damit fängt das Elend an. Es ift natürlich 
tlar, daß irgendeine Vollitándigteit felbft auf 
einem bejchräntten Teilgebiet einer von Tag 
zu Tag unermeplid) wadjenden Literatur 
aud) dem umlichtigften und fapitalfraftigiten 
Liebhaber nicht vergönnt wird. Doc) ijt die 
Leidenſchaft zum Buch nod zu groß, als daß 
nicht jeder wertvolle oder wenigitens felt[ame 
Zuwachs der Bibliothek mit Freuden begrüßt 
würde. Bis dann, oft mit einem Schlage, eine 
Überjättigung eintritt. Vian ftebt zweifelnd 
vor den langen Bücherreihen unb fragt fic, 
was unter ben aufgehäuften Schäßen em Er: 
lebnis bedeutet. Monad) würde man fih jehnen 
wie nad) einem Gtiid Brot, wenn man plö- 
lid) auf eine einfame Infel verbannt würde? 
Ad, ein paar Reclambefte würden reichen: 
die Slias, der Don 
Quixote, der SM 
ober Die i 





ibel. 
Unendlid viel von 
dem, was da ge: 
jammelt und ge: 
ordnet ftebt, wars 
tet feit Jahren auf 
die gute Ctunde, 
wo es gu uns [pres 
den darf, und wir 
zweifeln, ob diefe 
gute Stunde jes 
mals fommt. Ja, 
man bat Zeiten, 
wo man am lieb: 
ften Diejen papier: 
nen Wuſt ver: 
brennte und dem 
KRalifenbeipflichtet, 
der in der Alexan: 
driniſchen Biblio: 
thet ein jo luftiges 
Feuer von Did). 
tung und Gelebr: 
jamfeit entfadhte. 
Steht niht auf 
allen Blättern Die 
eine Weisheit, da 
alles ganz eitel ift 
Und wo viel Meis: 
heit ijt, ba ift viel 


Grámen Einband zu Will 





Saedel: Die Matthäuspalfton‘ 
Bon Ricard Weber, Berlin 


Womit man fiindigt, damit wird man ge- 
ftraft. Die allzu zärtliche Liebe zum Bud) 
wedt jchließlich ben Widerwillen. Oder fie 
madjt uns zu Narren. Man fhilt über den 
Snob, ber nur bie foftbarften unb jeltenjten 
Werfe fauft, unb nennt ihn heute öfter in 
ber Bejellichaft ber neuen Reichen, bie Das: 
jelbe tun. Uber es be[tebt ein großer Unter: 
Ihied. Der Snob fammelt nicht wahllos 
und benft vor allem nicht an eine giinjtige 
Anlage feines überflüjligen Geldes. Er tit 
vielmehr von der Worten Leidenjchaft bes 
echten $tebDabers bejejjen, und wenn er auf 
einen fühlen Beobachter lächerlich wirkt, fo 
teilt er biejes Ped) mit jedem, der wahrhaft 
liebt. Er empfindet auch die größte Qual 
des Liebenden: die Eiferjucht, unb fie ijt es 
recht eigentlich, Die d treibt, feine Schäße 
immer jorgjamer zu jieben. Es peinigt ibn 
zu willen, daß er feine Lieblinge mit andern 
teilen muß. Daher die Subt nad) feltenen 
ertet Ausgaben, nad) modernen Luxus: 
druden, nad fignierten und numerierten Exem: 
plaren. Und felbjt fie tun ibm im Grunde 
nod) nicht genug. Gelbjt wenn er bie Num: 
mer 1 von irgendeinem Privatdrud erwijcht 
an und auf bie folgenden Nummern mit ` 

erabtung blidt — fie find da, und er muß 
in einem gewijjen 
Sinne feinen Beliß 
mit ihnen teilen. 

Wer des Glaus 
bens lebt, bap Lite- 
ratur und Runit 
eine Angelegenheit 
ber Mtenge find, 
daß man die Emp: 
fanglidfeit und 
Genußfreudigkeit 
des Durchſchnitts 
heben muß, um zu 
einer lebendig wir: 
fenden Kultur zu 
Zommen, wird den 
Snob  beládjeln. 
Aber es ift am 
Ende nod) nicht 
einmal entjchieden, 
ob Bildung Alge- 
meingut fein tann. 
Und wenn das 

möglich 
wiünjchens» 
wert ift: es ijt nur 
natürlid), wenn 
ih ber Wider: 
pruh bes einzel: 
nen gegen Die 
Maffe regt, zumal 
jest, wo Mehrheit 
auf allen Gebieten 

17* 


959 | PFESSSSSSSSSCSSES Dr. Georg Biejede: seess ZZZ] 


entjcheiden will. Man möchte irgendwo und 
irgendwie einfam fein, ohne teilen zu miijjen. 
Und wer dem Bud) feine Liebe über Die 
erjte Stufe des freudigen Sammelns und 
die zweite müder Überjättigung bewahrt bat, 
der darf fid) zu den bewährten und aus: 
ermüblten Liebhabern zählen. 

Für fie bat der Berliner Verlagsbud- 
händler Auguft Kuhn, ein junger Rhein: 
länder, mehr Künftler und Gelehrter als 
Kaufmann, ein Bibelwert ins Leben gerufen, 
bem taum Ahnliches an die Seite gejtellt 
werden tann. Er läßt einzelne Abjchnitte 
aus der Bibel, wie etwa die Enthauptung 
Johannis des Täufers oder bas Bleichnis 
vom barmberzigen Camariter, in einer Folge 
von Bildern malen und den biblijchen Text 
dazu jchreiben, jo daß eine Bilderhandfchrift 
entjteht, bie es nur ein einziges Mal gibt 
und die der glüdliche Befiger mit niemand 
anberm zu teilen braucht. Wer zuerft Davon 
hört, wird denten: da handelt es jid) aljo 
nm eine Fortjegung mittelalterlicher Mönchs— 
fünfte. Jeder tennt diefe prachtvollen Werte, 
von denen fid) einige nicht blog mit farbigen 
Snitialen und Dr: ` 
namenten — begnii: 
gen, jondern figür- 
lide Darjtellungen 
aud) auf ganzſei— 
tigen Blätternbrin: 

en. Aber jo eins 
las at fid) Kuhn 
eine Aufgabe nicht 
gejtellt. Er will 
nidt nachahmen; 
er will neue Wege 
einjchlagen. r 
benft nicht daran, 
eine Runjt oder 
beffer gejagt: ein 
Handwerf neu zu 
beleben, das am 
Buddrud gejtorben 
war. (Er bemüht 
fi mit 
Riinjtlern 
Schreibern um die 
Löſung eines Pros 
blems, Dem mit jo 
bewußter Schärfe 
nod) nicht zu Leibe 
gegangen ijt: um 
die Wereinigung 
von Wort und 
Schrift. — Dem al- 
ten Schreiber fam 
es vor allen Din 
en darauf an, den 
Fort eines Budes 
dem Lejer zu vers 
mitteln. Davon 
tann heute feine 
Rede mehr fein; 
das bejorgt Der . 
Buddrud viel aus 
verläjliger. Die 





hießen 
Es 


(1116 
gingen Davon 
IL 


ty 
8 begab ſich abe 
Fale AaB an Pref = 


Text zur gegenüberjtehenden Bildjeite aus dem ,Barmherzigen Samariter‘ 


Bilder in ben mittelalterlichen Handjchriften 
waren eine |dymüdenbe Beigabe, und wenn 
jie fih in der Blütezeit farolingijcher und otto= 
niidjer Klofterfunft der Schrift mit feinem (es 
fühl unterordneten und anglidjen: in den |pá- 
teren und prunfvolliten Werten namentlich 
des ausgehenden Mittelalters ijt bie Einheit 
wilden Wort und Schrift zeritört. Sie 
de fid) erft wieder in Der Zeit des illu- 
trierten Blodbudes, b. b. bei ben Zeitgenoſ— 
jen der Gutenbergijdhen Runft im 15. Jahr- 
hundert. Hier wurden Bild und Text auf 
einem Holzblod zujammen ausgejchnitten, 
und dieje Technik, die Bild unb Buditaben 
üuperlid) vereinte, zwang auch zu innerer 
Einheit, zumal bie Lettern meijt von dem= 
jelben SHolzichneider wie die Jluftrationen 
entworfen waren. Gewóbnlid war diejer 
Solzjchneider fein jehr gewandter oder gar 
flotter Zeichner. Geine Figuren gerieten 


ihm edig, die Linienführung war jtarr und 
hart gebrochen, wie es das Meſſer im Holz 
hergibt. Ter künjtleriiche Ginorud von Bild 
und Text war der gleiche. Seitdem mit be- 
weglichen Lettern gejegt wurde, wird diefe 






all tot 
die⸗ 


Bon Audolf Rod 














Neue Bilderhandichriften 253 


Einheit in wadjendem Maße zerftórt. Schrift 
unb Sluftration wandern getrennte Wege. 
Die Type ijt ba und unveränderli. Der 
Zeichner oder Maler Ichafft ohne Rüdficht 
auf fie, und tiinftlerijd) ungebildete Augen 
merten taum den jcheußlichen Abgrund, der 
bier tlafft. Ihn zu jchließen, hat man fih 
in neuerer Zeit eifrig bemüht. Große Drude: 
reien verfügen über eine reiche Auswahl von 
Schriften, bie von ausgezeichneten Künjtlern 
entworfen find. Wer heute ein Buch illu: 
ftriert, wird fid) gunüd)jit nad) der Type er: 
fundigen und banad) ftreben, daß feine Bil: 
ber und Schmudjtüde fih ihr möglichjt innig 
anjchmiegen. Aber jelbjt die lebensvollite 
Schrift wirkt ftarr gegenüber der Zeichnung; 
weiche Lithographien oder gar malerijche Ra: 
Dierungen ftehen in unvereinbarem Wider: 
jprud) zur Type, und felbft der Feder: 
eihnungen vortäujchende Holzjchnitt, wie 
ihn Menzel in bewunderungswürdiger Weile 
ausgebildet bat, ijt drudtechnilch ein Unfinn. 
Sollen im gedrudten ilujtrierten Buch gute 
Wirkungen erzielt werden, muß fich das Bild 
der Schrift unterordnen. Je weniger das 
Schriftbild geftórt wird, je ruhiger es ift, 


Bild zu der gegeniiberftebenden Schriftjeite aus bem ‚Barmberzigen Samariter‘ 
Dedfarbengemälde von Erich Waste 





delto beffer. — Gang anders find Bild und 
Schrift in ber Bilderhand|drift zu vereinigen, 
und das hat Kuhn richtig erfonnt und feine 
Folgerungen daraus gezogen. Hier wird die 
Schrift nicht fertig aus dem Geßerfaften ge: 
nommen. Der Schreiber fann fie nach Belieben 
modeln, und feine Aufgabe ift, fid) bem Dialer 
oder Zeichner unterzuordnen. Er vermag feine 
Budjtaben ftándig neu zu formen. a es 
wird jein Ehrgeiz fein, fid) als nadempfins 
denden Künitler zu fühlen, der, von Bild: 
und Textinhalt gleichmäßig erregt, feiner 
Schrift jeelilden Ausdrud leibt. Der Illu—⸗ 
jtrator bes gebrudten Buches wird nur in 
kerga er und oft quälender Gebundenbeit 
eine bildlicen Einfälle ben [tarren Typen 
anzugleichen vermögen. Der Schreiber da: 
gegen wird gerade Durch die Unterordnung 
unter das Bild erft wirklich frei. Er emp: 
fängt von ihm den Mut und die Kraft, Die 
Buchſtaben aufzulodern, und er genießt bas 
nadjidjaffenbe Gliid, ben künſtleriſchen Ein: 
drud des Bildes zu unterjtügen. Er wird 
nicht bloß wie der gewöhnliche Schriftmaler 
durch Farben wirken; er wird, wo es ihm 
nötig [deint, bie Buchftaben wandeln, die Sei: 
lenführung je nad) 
der Stimmung Des 
Textes und Des 
Bildes ruhig oder 
bewegt halten und 
jo fein Ziel erreis 
chen: eine Beglei= 
tung zur Melodie 
bes Bildes zu 
ichreiben. 

Co drüdt fid 
Kuhn felber aus 
— E 
reffli ejag 
was er will Der 
Weg von Ddiejer 
theoretijden Er: 
tenntnis der Auf» 
abe zur pratti- 
den Ausführung 
war jchwer und 
miibjam, und es 
ijt nicht auf An: 
a alles geglüdt. 

Is Stoff für feine 
Bilderhandjdrij- 
ten wählte Kuhn 
die Bibel. Nicht 
nur weil ihre ehr: 
würdigen Erzäh— 
lungen die Rünler 
immer von neuem 
beichäftigt Haben 
und fie in Der 
Fülle ihres Ge- 
halts bildlich eben= 
Jowenig auszus 
[hopien find wie 

urd) die Dichtung 
oder Predigt. Son: 
dern vor allem in 


254 pee) Dr. Georg Gielede: 





e 





Aus der ‚Enthauptung Johannis bes Täufers‘. Dedfarbengemälde von Willy Jaedel 
(Im 3Beji von Martin Breslauer, Berlin) 


dem richtigen daß die Kunft von 
heute mit einer faft mittelalterlichen Ins 
brunjt um Gott ringt. Nur weil die große 
Menge Gott entfremdet ijt ober fid) aus ver: 
blaßten Überlieferungen Bild und Gleidnis 
von ibm gejchaffen bat, fiebt fie dem febns 
füchtigen Ringen um eine Vertiefung unferes 
Glaubens, wie es unjere fünftlerijche Jugend 
mächtig durdtobt, gleichgültig oder ſpöttiſch 
zu. Der Zukunft wird diejes Gottjuchertum, 
diefer Drang nad) dem Gebheimnisvollen, 
bem Tiberirdilhen und Rätjelhaften als das 
ergreifende Sinnbild einer zerrijjenen Zeit 
und eines troftbediirftigen Volkes erjcheinen. 
Deshalb wurden für diejes Bibelwerk Künft- 
ler herangezogen, Die bie Qual und die Größe 
der Gegenwart empfinden und gejtalten, die 
die heiligen Gejdichten erleben, als wenn [ie 
von heute wären, und fid) in ihrer Darjtellung 
durch feinerlei Überlieferung binden laffen. 

Die eriten, die Kuhn für feinen Plan ge: 
wann, waren Dax 3Bedimann, der in fünf 


Dedfarbengemälden die Bejchichte vom ver: 
lorenen Sohn erzählte, und Milly Jaedel, 
der in derjelben Technik bie Enthauptung 
Iohannis des Täufers |djilberte. Das Bed: 
mannjche Werk war mir nicht mehr äng: 
lid. Nad) Kuhns eigenem Urteil bildete es 
nicht viel mehr als einen taftenden Verjud. 
Dasjelbe gilt aud) von der zweiten, Der 
Taedelihen Handjchrift, aus der wir ein 
Bild wiedergeben. Der Prophet fteht mit 
warnend erhobener Rechten vor Herodes und 
Herodias und mahnt ben Vierfúrften: „Es 
ijt nicht recht, daß du deines Bruders Weib 
babe|t.^ Gs ift bas zahmite ber fünf Blatter. 
Auf den andern ijt dargeftellt, wie Salome 
zu Herodias tritt und fragt: „Was foll ich 
bitten?”, ber Tanz Galomes, bie Enthaup: 
tung und bie Grablegung bes Täufers. Be: 
jonders auf dem lebten offenbart fich bie 
Kraft Sjaedels in gewaltiger Weile. Ein 
Jünger in rotem Gewande, ber das weiße 
Leinen um die blaffen Lenden des Toten 














ESSSSSSSSSSSesal Neue Bilderhandſchriften 255 


jchlingt, wird für jeden, ber ihn einmal fab, 
zu den unpergeBlid)en Gejtalten der Malerei 
gehören. Aber auch das hier abgebildete Blatt 
mit bem mannigfad abgeftuften bedrohlichen 
Braun, in bas das falte Blau des Frauen: 

ewandes fremd u We ift, wirft ftart. 
Man fühlt: das ift der Beginn zu einer Tra: 
gödie. Doch fo ſchön die Bilder gelungen find: 
das Werk als Ganges ijt nod) nicht vollendet. 
Die Schrift von Grete Ratſchitzky, gewiß eine 
tüchtige Leiftung, aber den Gintlang mit den 
Bildern hat fie nicht ganz gefunden. Gie hält 
fid) allzu eng an ihre Aufgabe als gute und 
lesbare Schreiberin. In ihren Linien lebt ein 
anderer Geijt wie in denen Jaedels. Diejer 
ruhige Text ahnt wenig von des Malers 


P Mus dem Barmberzigen Samariter‘. 


Wucht unb Reidenjchaft. Die Ang 
von Bild und Wort ift durch Neutralität 
und reine Ornamentierung nicht zu erreichen. 
Der Schreiber muB fih dem Künftler treuer 
und gleichzeitig charaftervoller anjchließen. 

‚St das möglih? Man bat jchlagend be: 
wiejen, daß die Handjchrift eines Künfilers 
die Re ilt, ob er einen Brief ſchreibt ober 
ein Ölgemälde malt. Die Hand fann nicht 
anders arbeiten, ob jie die Feder oder den 
Pinjel führt. Man fonnte deshalb glauben, 
es wäre das Befte, der Maler jchriebe auch 
den Text, wenn nicht n Lójung ek Auf: 
gabe technilche Renntnijje und vor allem eine 

bung erforderlid) wären, woran es dem 
Künftler in der Regel fehlt. Hier hat der 





Dedfarbengemälde von Grid) Waste ei 


256 ESSEN Dr. Georg Giejede: Neue Bilderhandidriften BS=2222223 


Runftgewerbler EEN en, und einen 
folhen bat Kuhn in bem Offenbacher Schrei- 
ber Rudolf Rod) gefunden. Über ihn und 
feine Schule werden diefe Hefte fpáter an 
anderer Stelle berichten. Hier fet nur foviel 
ejagt, daß er fid) vor diejer eigentümlichen 
ufgabe als ein Meilter von beweglicher 
bantajie bewährt. Was er zu leiften hatte, 
ann man vielleicht am beften mit der Tätig» 
teit bes Cdjaujpielers vergleichen. Er jollte 
mit feinen Mitteln noch einmal jdaffen, was 
vorgeſchaffen war, in felbjtändiger Dienfts 
barfeit, in allen Einzelheiten fret und dens 
me an das große Gange gebunden. 
as erte Buch, das Koch für Kuhn [d)rieb, 
war der Text zu Wastes „Barmherzigem 
Camariter", wiederum fünf Dedfarbenges 
mälden. Um dem Lejer einen Begriff von 
ber Farbenglut Wastejcher Malerei P genen; 
g hier das erfte Blatt farbig abgebildet. 
brijtus ſpricht zu bem Schriftgelehrten, ber 
ibn fragt, was er tun miijje, um das ewige 
Leben zu ererben: „Wie jtebet im Geſetz ges 
dirieben ? Wie ltejeft du?“ Die beiden Ges» 
talten find in eine vifionáre Landſchaft ges 
elt. Ein Meg jchlängelt fid) durch Hügel, 
ein paar Palmen, im Hintergrund eine 
—— LINE Stadt mit Ruppeln und Mina- 
retten. es wie in flüjliges Gold BECH 
nur am Simmel ballen ki dunkle Wolfen 
über bem jilbernen Mond. Der Herr leuchtet 
in unirbilem Glanz. Seine Augen find 
durdbringend auf den Heinen, didbäudhigen 
unb fabifópfigen Mann gerichtet, ber mit 
lelbitgered)tem Wiſſenshochmut auf bas auf: 
RE Gejegbud ftarrt. Unfer zweites 

ild — es ift aud) das zweite der Hand» 
[rift — bringt den Beginn bes Bleichnijjes 
Chrifti. Wieder die Straße durch bergiges 
Land, aber die Hügel find höher getürmt 
und laffen feine rettende Fernſicht offen. 
Die dunfeln Wolfen entladen no in Un: 
wetter: ein Blig fährt audenb hernieder. 
Die Mörder haben den Wanderer überfallen. 
Der eine Halt ibn und plündert ihn aus, 
der andere |djlügt mit geballter Fauſt auf 
den Unglüdlichen ein, der überwältigt in bie 
Knie finit. Go weit Waste. Das Bild ijt 
bie Hauptſache. Es fragt fid) nun, wie ber 
Schreiber feinen Text mit ber Darftellung 
des Malers in ang jet. 

Unſere einfarbige Abbildung fäljcht leider 
ein wenig. Die Schrift, ber dte Farbe fehlt, 
wirft zu onn und 3u bart neben bem 
tonigen Bilde. Wher das hindert nicht, bie 
GER Rudolf Kohs zu würdigen. In 
ber einleitenden Zeile bes Abjchnitts zittert 
[don etwas von der Erregung bes Kom: 
menden. Gie ift nicht ganz gleichmäßig ge: 
führt. Einzelne Buchjtaben haben ihren 
Halt verloren. Dann Debt die Initiale E 
por einem großen, beunrubigenden, weißen 
Fled. Die Buchftaben werden zu (Golden 
(man vergleiche bas J in Jeriho mit bem 
in Jefu). Überall ftarren Cpiben, fangen 
Gdlingen. Die Zeiten wanten wie die Ge- 
rechtigleit auf Erden. Die Gewaltjamteit 


bes im Bilde bargeltellten Borwurfs hat die 
Schrift aufgenommen und drüdt fie nicht 
minder beredt in ihrer Gprade aus, und 
wer die beiden Blätter nebeneinander fiebt, 
d den Eindrud einer vollfommenen, ein: 
eitlihen Schöpfung. In ber Fortiegung 
bes Gleidjnijjes wandelt Rod feine Schrift, 
ohne an ihren Brundzügen zu rütteln. Aber 
er wird je nad) bem Inhalt der Worte, nad) 
der Stimmung der Bilder ruhig oder laut, 
maßvoll oder regellos. 
Dieje Runft einer ftets bereiten a di 
cn ibn aud) nicht sean, als er Willy 
aedels vierzehnbilderige Matthäus» Baffion 
chrieb. erie pradtvolle Band ijt wohl 
er, ber der Vollendung am nádjiten fommt. 
— empfindet religiös tiefer als Waske. 
ies bereits ſeine Enthauptung SNCI 
jtarfe monumentale Züge auf: in der Ballion 
zeigte er fih als ber Vieifter eines ungleich 
erbabeneren Gegenftandes. Auf dem Dedel, 
der ein wë tüd ber Buchbinderfunft ge- 
worden ift, leben wir Jaedels Chriftustopf 
eingelegt. Dies Haupt voll Blut und Wunden 
bat fid) der Riinjtler jelbit gejchaffen. Wenn 
man vor ibm nod von Überlieferungen 
reden fann, jo fühlt man fich am ebeften an 
ühchriſtliche Darftelungen erinnert, wo 
er göttliche Heiland mehr als Wundermann 
denn als des Menjden Sohn aufgefaßt 
wurde. Wher das [inb Antlánge, die nicht 
viel jagen wollen und auf bie bie nur bine 
generen wird, weil im Urteil vieler das 
eue er[t dann Berechtigung hat, wenn es 
irgendwie, und fei es nod) do loje, mit ber 
Vergangenheit zujammenhängt. Wer bie 
Aratt aufbringt, diejen Kopf auf fih wirken 
zu laffen, als hätte er noch niemals eine 
Darftelung Chrifti gejehen, der wird fih 
bald von bem tiefen Ernft diejer mächtigen 
Augen, von dem Schmerz bieles |djmalen 
Mundes mädtig ergriffen fühlen. tele 
unit hat (id) von allen Feſſeln der Tradition 
befreit. Gie jchafft, als wäre bie Bibel ein 
ganz neues Bud. Und mir will jcheinen, 
als bi bas ein jehr ET ER e Beginnen. 
Als fünfte Handichrift bereitet Kuhn bie 
ER Dein von Hedendorf und Koch vor. 
Selbitverftändlich ftellt jedes Diejer Bücher 
ein feines Vermögen dar, aber da fie jehr 
ernft und im gewöhnlichen Sinn nicht reizend 
find, werden fie vor dem Scidjal bewahrt 
bleiben, in die Hände faltherziger Progen 
gu fallen. Die Bilder find zu weiterer Vers 
reitung in Mappen mujtergiiltig wieder: 
egeben, aber der Hauptreiz, bas Zujammen: 
piel von Illuſtration und Text, fehlt ihnen, 
und |o finnen fie nur Dazu dienen, vor 
einem größeren Kreije von dem religiójen. 
Ernft nnjerer jungen Runft zu zeugen. Die 
Handjchriften felber erfüllen eine höhere Auf⸗ 
abe. In einem verarmten Deutſchland haben 
Boa Maler mit monumentaler Begabung auf 
dem eng begrenzten Raum von ein paar Bud, 
feiten ausjprechen miijjen. Aber bas jchadet 
nicht. Die burgundijden Mintaturijten waren 
die Vorfahren der Brüder van End. 


Wai. Von Helen Fidelis Butſch 


Die Erde firahlt! Ihr liebftes Rind, Die Wiefe ladelt wunderlieb, 


Der Mai ifs, der Geburtstag hat! Die finftern Sidten wurden froh, 

Ein holder, fpielerifher Wind Und jede redt den jungen Trieb. 

Roft flühtig durd) die junge Saat. Raftanien blühen lichterloh. 

Es rantt fid grün um dürre Zäune, Und ich möcht’ wie die Sinten fihlagen, 
Und zart im rofa Blütenfhaum Möcht' fliegen über Feld und Tann; 
Derneigt fid) vor der grauen Scheune Jd Fann die Luft ja gar nicht fagen — 
Der alte, Erumme Apfelbaum., Gottlob, daf es die Lerdje Fann! 


Rein verlorener Tag. Don Criba Spann ⸗Kheinſch 


So wie im $rühling ein Reis die fhwellenden Rnofpen entfaltet 
Und bei Sonne und Sturm Blätter und Blüten erfchließt, 

Weil ja die Stunde des Grünens gefommen, — fo nüte dein Leben, 
Und in Freunde und Leið flode der Saft nicht in dir! 

Wäreft du felbft gefangen und lägeft in tödliher Krankheit — 
Wie der gebrochene Zweig immer nod) Blätterchen firedt, 

So entfalte did) weiter, und nimmer vergehe der Tag dir, 
Wo du nicht reidjer zur flad)t blüht, als du morgens geblüht ! 


flieder. Von Ernft Ricarde Mellinghoff ` 


Der Maifaun Eniet vor feiner Vafe, Jd Eniee zu dem Waldgott bebend. — 
€s regnet auf die Büfhe haudjend — — Die Zweige fegnen mid) wie Hände, 
Aus übervollem Perlenglafe Die Himmelsfüße läßt vergebend 

Fließt Slieder tief, — ` Den Schlaf in mid), — — 

Und düfteraufhend Das war die Wende 

Tropft über meiner Seele Schleier Der Wintermärhen weiß und blendend, 
Ein Atemzug der Sriiblingsfeier. Springen wadjen fü — verfhwendend, 


Aquarell von Hans Beyerlein 





— ⸗ Y — —— 


Werbung. Von Heinrich Lerfd) 


Trauerft du? 

Schau’ um did), nun bift du ganz allein, 
Dater, Mutter find nun nicht mehr dein. 
Die Gefhwifter fallen ab von dir, 
Schließen zu des Daterbaufes Tür. 
Rindbeit ging unà Maddengli¢ dazu, 
Leben treibt und läßt dir Feine Rub — 
Darum trauerft du? 


Romm zu mir! 
Sieh, id) hill’ did) ganz in Liebe ein, 
Mann und Dater, Mutter will ich fein. 
$reund bin id) und Schwefter, mild und gut, 
Denn ich weiß, wie Einfamkeit dir wehe tut. 
Jd) bin grof und ftill, bin wild und fromm 
und fcóblid) leicht zu dir, 
Komm zu mir! 


Jd) bin fort, 
Sieh, id) finge, wenn der Boden unter 
meinen Süßen brennt, 


. Romm, o komme du! 


Singe, wenn mid) Gottes Zorn anrennt; 

über aller Welt unà Menfhen Kampf: 
gefhhrei 

Tónt mein göttli Laden: Jd) bin frei! 

Was dein ängftlid Herz mir lang verbarg: 

Daf du mein bift, mein bis in das Mart — — 

Macht mid) ftark! 


Liebling, mir und dir 

Gab fid) nun die große, Heine Welt; 
Und wir nehmen draus, was uns gefällt. 
Sieh, id) brauche dod) nur deinen Mund, 


Und du meine Arme febnig und gefund. 

Romm, wir find der Menfchen Setteldinge 
los. 

Wundergärten blühn in unferm Schoß ! 

Und das Erdenfhidfal, Gottes flartes 
Tier, 

Will bezwungen fein von dir und mir, 

Liebling, dir und mir. 


Sieh, die Himmel blau'n unendlich weit, ! 

Deranab blüht des Waldes brüderlihe Cinfamteit, 

Süferklingend tönt der Wald, durdgliiht von grünem Erdeblut, 

Heilig wachfen wir mit Gras und Kraut, wenn Leib an Leib darinnen ruht — 
— Romm, wir löfen von den Füßen ab der Werkwelt fAlltagsfdyub, 
$rudjtbar zeugende Schöpferkraft erneut die Welt in ftillfter Rub. 


Braut, o femme, Femme du! 


fleues Leben wird! 


Sieh, id) bin erneut, bin Adersmann und Dirt, 

Scholl’ auf Scholle brad) id), Wiefe blüht, die Frucht 
Des Weizens wogt, ein golden Meer in grüner Sudt, 
Segnend fiel in meinen Schweiß des Himmels Cau; 
Ernte reift aus meinen Händen hod), geliebte Frau. 
Frau, für dich fintt Garb’ um Garbe, wenn die Sichel firrt, 
Romm, o komme, neues Leben wird. 


O, Geliebte mein, 


Meine Freunde: Wolken, Bäume, warten dein, 
Tauben, die ich zähmte, gurren längt nad) dir, 
Dogelruf lodt zártlid) aus dem Laubgewirr. 


hirſche äſend unfer Haus umflehn, 


Mit den Rehen werden unfere Rinder fpielen gehn... 


O — du Fommft? 


Nun bring’ id) did) ins neue Land! 


Segne meines Herdfeuers heiligen Brand. 
Schenke mir mein Glüf aus deiner Hand! 





Heut lodt das frifhe Grün Daf das Gras entzündet ift, 

Und die Füble Dimmelsbláue Gelb, wie Sonnenblumenblätter. 
Alle zu den Birnenbäumen, Seht die RI à i 

Zu den Hügeln vor die Stadt. Sei SOR tet oan EES 
Awar, die Garten find nod) braun, Springen wie Champagnerpfropfen, 
Dod) die Seete find gehäufelt. Und im Sdhilfe regen fid) 

Dit und faftig Neht der Laud), Rleine leichte Silberwellen. 

Und nad) Deildjen riecht die Luft. Frauen gehn die Uferpfade, 

Durd) das Lod) im Gartenzaune Ladheln früher Liebestage. 


Scheint die warme $rühlingsfonne, Und auf jener Hiigelwelle, 


Die das weite Land erblidt, 
Sinnend febt den alten Knaben. 
Denn der Weile madt im Frühling 
Seine Pläne für das: ganze Jahr. 


Kurzes Glüd 
Von Frida Schanz 


Aquarell von Hans Beyerlein 
Erfter Friihlingstag. Von Alfons Paquet 
Sie weiß, es kann nicht dauern. | 
Sie weiß, daf es bald verweht. 
Sie lebt unter feligen Schauern, 
Fede Stunde wie ein Gebet. 
Sie firablt von Geben und 
Güte. 
Sie empfindet mit feiner Glut 
Das feine Olüd einer Blüte, 
Auf der ein Schmetterling 
rubt. 









































Goldregen. Von Karl von Derlepfd) 


Halt ein, du hohe Zeit! Ihr goldnen Büſche, 
Derfdyüttet nicht das tropfende Sefdymeid’. 

Ihe Dolden, düftefhwer in trunfner Friſche, 
verſchenkt niht eure Bienenfüßigkeit! 

Lihtgrüne Höhn, bewahrt den famtnen Schimmer, 
Die zarte Jugend haltet zártlid) feft! 

Ihr, in der blauen Luft, geliebte Schwimmer, 
Mit Fubelton baut ewig euer Neft! 

Ad, bütet euren Himmelsüberfhwang, — 

Der Morgen ift fo Eurz — der Tag fo lang! 

— Es wird nod) heiß um cure Häupter fein! — 


Id) mag der Uhren harten Schlag nicht hören, 
Die fremdes Out vergeben reuelos, 

Der Glanz der Sernen foll mein Herz betóren, 
Und taub und ftumm wird meine Seele groß, 
Jd) will nichts Rrantes febn und nichts Gemeincs, 
Verhaft ifl mir der Streit nad) Recht und Zunft, 
Jd) will in einem Seder roten Weines 

Ertrinten meine flerbende Vernunft. — 

Und wenn du von Entfagen fprihft zur Stund’, 
Mit Rüffen ſchließ' ich deinen ftrengen Mund! — 
Es wird nod) beif um unfree Tage fein! 


Um Teih. Olftudie von Got Müller-Bernburg 











Der Prophet Ses Qtntergargs 
Don prof. Dr Rurf Sreyfig 








Yur die munteren Stets:Fertigen, die 
Nay auf der oberiten Dberfläche der Zeit 

(4) bebaglid) plátid)ern und denen die 
ck, Addition Expreffionismus, Attivis: 
mus, Boljehewismus etwa bie 
Summe der Gegenwart bedeutet, wähnen, 
d'r Miebldes auf Geift und Willen nun 
ion ber zweiten Generation einftrablende 
Wirkung Deut erlojchen fet. Bm inneren 
Sinn tann davon mit feinem Worte Die 
Rede fein, denn feit bem legten Juhrzehnt 
bes 19. Jahrhunderts, b. b. feit bem fins 
greifen diejer Wirkung fegt in ben Gewäſſern 
der Tiefe eine irgendwie individualijtijde 
Gegenftrómung gegen den Sozialismus ein, 
die ihm vermutlich weit mehr als irgendeines 
der Schuß: und Gtauwerte überlieferter 
Staatsgefinnung Eintrag getan haben. Denn 
von diejen werden unter ben Jtad)wadjen: 
ben nur bie nad) rüdwärts Gewandten, d. h. 
(don eben nicht die Starken erfaßt, bie aller 
SJugendart nad) an fih viel lieber einer 
neuen eigenen unbefannten und dod erjehn= 
ten Zufunft fih entgegenreden. Es ijt nicht 
abzujehen, wieviel halt» und gedanfenlojer 
fid) die Zeit dem marxijtijdjen Begehren ber 
breit vorwärts [türmenben Wtajjen on 
E baben würde, wenn diefe maljtroms 





tarte Kraft aus der Tiefe fie nicht auch an 
ich gerijjen hätte. 

Dod) aud) in einem viel engeren Ginn ift 
der Reiz bes Zauberers aus 3aratbujtras 
Land nod) nicht ermattet. Alle bie jüngeren 
(Siferer, Die mit bem Tonfall fieghafter Uns 
widerlegbarfeit vor ihre Zeit bintreten und 
ihr auf drei bis jechshundert Geiten aus: 
einanderfegen, woran fie frante und welde 
Arzenei allein ihr helfen könne, find für den 
nicht immer geredjtjertigten Mut ihres Uns 
ternebmens, und Wo) SE jede Fügung 
ihrer Worte Befeuerte von Nietzſches Gnaden. 

In diefe Reihe gehört der neuefte Pro: 
phet des gebildeten Deutichlands, der Ver: 
tiinder der Lehre vom Untergang des Abend: 
landes. Aber Spengler hat vor den meijten 
jener 9tie]d)e: Jünger den Vorzug, daß er 
über einen großen Belig eigener, wenn aud) 
nicht immer ¿uverláfjiger Gedanfen verfügt 
und vor allem, daß er zu den Blüdlichen 
— oder Unglüdlichen! — gehört, die aud 
eine Fülle geijtreicher Einzelbeobachtungen 
ober GEinzelerörterungen lediglid) unter bas 
Gebot von ein oder zwei jehr leicht faßlichen 
$€ojungen zu ‘ano verjiehen. Kommt nun 
eine jolche Lojung ben intimjten, wenngleich 
gewiß nicht beten Inftintten einer Zeit ent: 

egen, wie ¿um minbe[ten bie eine der von 
pengler ausgegebenen, und zwar gerade die 
das Leben angehende: Marine bejjer als 
Dialerei, Technik beffer als Lyrik, Kultur ijt 
überjlüffig, es lebe bie Zivilifation — mellen 


Mund jo übergeht von dem, wovon das 
Herz ber Zeit voll ijt, wie folte dem ber 
Beifal der 3ebntaujende nicht ficher fein, 
vorzüglich dann, wenn er um diejes der Tat 
ac wahrlich nicht neue Ads a zu 
Käsen Geiftreiches zu lagen unb in einer 
Gre fortreiBenden Weije vorzutragen 
weiß. 

Man fieht, Spengler fteht in einem bop: 
pelten und febr gegenläßlichen Verhältnis 
zu Nietzſche: Gebárde und Tonfall feiner 
Rede und ein gut Teil ihrer überredenden 
Kraft trägt er von ihm zu Lehen; das 
Feldgeſchrei, bas er ausgibt, würde feinen 
— Verurteiler, keinen unerbittlicheren 
ichter finden als Niegjche. 

Doh bevor von dem Ziel des Spengler» 
[hen Buches gejprochen werden fann, muß 
von dem Wege die Rede fein, auf dem er 
zu biejem Ziele gelangen will. Ihn tenn: 
— die zweite Überſchrift, die er ſeinem 

uche gegeben hat: Umriſſe zu einer Mors 
phologie ber Weltgejchichte. Bor — 
tigen Eet bat Spengler den Bors 
zug, p er feiner Lojung ben im Vergleich 
viel fejteren Unterbau einer erfahrungs» 
wijlenichaftlichen Grundlage gibt. 

Dieje Grundlage wird zunädit zu prüfen 
und zu werten fein: denn es fónnte fein, 
daß ihr ein ganz anderes Urteil ¿uzumejjen 
wäre, als dem trónenden Beftandtei. der aus» 

egebenen Rulturlofjung. Man wird für ein 
olches Urteil Den Boden am zweckdienlichſten 
dadurch vorbereiten, daß zunächſt von dem 
Stande der Gejchidtsforjdung Bericht er- 
5 wird, den Spengler antraf, als er 
eine neue Formenlehre der Weltgejchichte 
entwarf. 

Es fommt Bier an auf eine Gebweife, 
bie da bricht mit der ftarren Ordnung des 
geihichtlichen Stoffes nad) ber Zeitjolge und 
nad) dem Beftande ber Überlieferung. Es 
iit vor allem das alte Schema Altertum— 
Mittelalter— Neuzeit, das zerbrochen und bets 
Jette geworfen werden mußte. Es ift zum 
zweiten das Monopol, das dem ganz bes 
grenaten weitaliatiich:nordoftafrifanijch-euros 
pdijden Rulturfreije nod) von Rante und 
unter feinem Einfluß von den meijten Ges 
Ihichtsichreibern als dem Schauplag der 
eigentlichen Weltgeichichte zugeteilt wurde 
und mit dem gebrochen werden mußte. Dran 
tann nun ganz gewiß nicht jagen, daß in 
Deutichland die Geichichtswiljenichaft, b. D. 
bie Bejamtheit ber berufsmapigen Geſchichts— 
forjder von biejen beiden Zwängen übers 
lieferter Sehweije fic) losgefagt habe. Uber 
ebenjowenig bat es an febr ernithaften und 
intenfiven Verjuchen gefehlt, einer in beiden 
Beziehungen völlig feffellojen und vor allem 
von liberliefertem Worurteil befreiten Wn: 


262 Prof. Dr. Kurt Breyfig: BESSSSSSSS3S333Z1 


ihauung zum Siege zu verhelfen. Darüber 
Auslagen zu machen, ijt ber hier ſchreibt in: 
| D eigens befugt, als er in immer neuen 
nläßen von 1896 bis 1908 bemüht gewejen 
ift, in bielem Sinne zu wirfen. Es wurde 
guerjt bie europäilche Geſchichte in drei pa: 
rallele Reihen, bie griechifde, bie rómildje, 
bie germanilcheromanijche, aer[palten und in 
jeder von ihr Die Abfolge ungefähr gleicher 
Gtufenalter, der Urzeit, des frühen und des 
ipáten Mittelalters, ber neueren und ber 
neueften Zeit nadjgemiejen. Der gleiche 
Grundplan erwies jid) als brauchbar für 
eine Einordnung auh aller außereuropäilcher 
MWeltgejchichte und jo wurde von 1904 ab 
biejer erweiterte Grundriß verfochten und 
an den Bau einer ganz übereuropäijchen 
Gejbibte ber Menſchheit Hand angelegt, 
wenigitens für die Urzeitvdlter roter Rolle, 
Es war möglich an einem einzelnen Bei: 
Ipiel, ber wadjjenden Gottesgeftalt der Ur: 
zeit, Baudhnlidfeiten, von ben Indianern 
bes amerifanijden Nordoften bis zu Indern, 
Babyloniern, Agyptern, Briechen und Gers 
manen, bis hinauf zu der Gipfelgeftalt bes 
altjiidijden Jahve nachzuweijen, tm einer 
tieferen (Ebene einige Grundformen des 
alteften, ee und Gtaat nod) in eines 
iehenden Bejellichaftsbildes, des Bejchlechter- 
facts von Indianern, Auftraliern, Negern 
bis zu Japanern, Griechen, Römern, Kelten, 
Glawen zu verfolgen. Eine Fülle von ähn- 
licen Erträgen vergleichender Forſchung zu 
veröffentlichen, war nod) die Stunde nicht 
BE NEN. In anderer Form, etwa in Bors 
efungen, find fie feit einem halben Menjchen» 
alter mannigfad mitgeteilt worden. 
gampredjt, ber bod) burd) die freie und 
weite Art feiner Verſchmelzung von Staats: 
und QGei|tesgeldjid)te die Durdibneidung 
aller, aud) ber ibn ſelbſt noch nicht drücken⸗ 
den Feſſeln ber gelehrten Überlieferung erft 
möglih gemadjt bat, hat h jahrzehntelang 
an der Arbeit ber vergleichenden Geſchichte 
nicht beteiligt. Aber die deutſche Geſchichte, 
die er ſeit 1884 ſchrieb, war ihrer innerſten 
Anlage nach inſofern ſchon eine Abweichung 
von dem Grundgeſetz der reinen Zeitfolge, 
als fie an die Stelle der überlieferten Zeit— 
abichnitte eine Abfolge von Entwidlungs: 
zujtänden fegt, die ihrerjeits von innen ber 
daratterifiert und zueinander in das Ver: 
Ee einer wenngleich nicht ganz feft ¿us 
ammenbángenden Reihe gebracht waren. 
Man wird jagen dürfen, er innerhalb 
der Einzelgejchichte eines bejtimmten Voltes 
es móglid) war, die Verwendung feiner Ents 
widlungsabjdnitte für eine allgemeine und 
vetoleldiende Geſchichte vorzubereiten, ijt es 
bier geſchehen. Lamprecht 30g hieraus felbft 
bie ;yo[gerung, daß er von einem gewijjen 
Zeitpunft ab (1902), in den nunmehr einge: 
Ichlagenen Weg einbiegend, den Sak auf: 
tellte, die von thm gefundenen Entwidlungs: 
ufen des deutſchen Volkes feien 45 alle 
DIfer bes Erdballes gültig. Dod ift er 
über diefe Aufjtelung einer [ehrhaften For: 


derung und die ganz umrißhafte 9Inbentung 
eines Weltgejchichtsplanes in einer furgen 
Abhandlung (1909) niht hinausgefommen. 
Merttátigen Anteil an der Arbeit der ver: 
gleidjenben Gejcdidtsforjdung bat er nicht 
nehmen tónnen: nur eine Vorbereitung auf 
bie große Arbeit, ber er feinen Lebensabend 
widmen wollte, a er (1914, auf der Leip- 
giger Budausitellung) gezeigt: etne Samm— 
ung von Lidtbildern au einer vergleichen- 
ben Urgejchichte ber Kunft. Bon bem Wert 
jefbit ijt meines Wiſſens nichts vollendet 
worden: ein an ne nie genug auszu: 
tlagender Berluft für die Wifjenfdaft von 
der Vergangenheit bes Menſchen. 

Die begrifflidd notwendige Krönung aller 
Verſuche wahrhaft freier Geſchichtsforſchung 
im Ginne vergleichender Entwidlungsge- 
jchidte wird immer eine Bejchichtswiljen: 
ſchaft allgemeinjter Ebene fein müjjen, die 
über den Zeiten und über den Völkern die 
Formen des gejchichtlichen Werdens als 
Lea feititellt. Der bier berichtet bat 

ufgabe und Amt einer jolden Gejchichts: 

lebre (1908) umriffen und ift feit Jahren be: 
häftigt, den dort aufgeftellten Plan auszu- 
ihren, wenn aud) gewiß nur erft anden: 
tungs: und verjuchsweile. Yamprechts ijt aud 
in Diejem Zujammenbang zu gedenfen; im 
Borbeigehen hat er doch aud [hon Aufgaben 
diejer Art angeriihrt: jein Berjuch über die 
Mechanik der Übergangszeitalter zu handeln 
(1905), ſtützt fid) nod) taum auf eine breitere 
Grundlage als bie deutjche Gelchichte ber 
Gegenwart und wird aud jchwerlih in 
jeinem Sinne weiter a werden, da 
in Den — einer Wiſſenſchaft kein 
Forſcher auf das Königsrecht einer Arbeit, 
ſelbſt das Geſetz zu finden, verzichten wird. 
Aber aus der Geſchichte der Geſchichtslehre 
iſt dieſer Verſuch ebenſowenig fortzudenken, 
wie der älteſte und erlauchteſte dieſer Art: 
der den Hegel machte, um für den Übergang 
von einem zu dem anderen der Stufenalter, 
bie er feinen (Get ber Menjchheit durch» 
[reiten ließ, Regeln aufaujtellen. 

Mor biejen Bejtand wiljenichaftlicher Er: 
fenntnis oder jagen wir richtiger Erkenntnis» 
ftrebens war Spengler gejtellt, als er fein 
Bud [brieb. Wer an bielem Forjdungs: 
freie Anteil nimmt, iff gejpannt zu ver: 
nehmen, in welches Verhältnis der Verfajjer, 
der bie Lójung einer jo großen Aufgabe [Hon 
auf dem Titelblatt feines Wertes vorjieht, 
zu diejen Ergebnijjen tritt. 

Die Antwort, die Spengler felbft auf diefe 
ftille Frage zu erteilen nicht müde wird, ijt 
Dod) erjtaunltd). Er beginnt fein Werk da: 
mit, dak er gütig lächelnd erklärt, mit biejem 
Gegenftand babe fid) bisher — leider und 
unbegreiflicherweife — noch niemand befaßt. 
Wiles aljo was im Sinne einer — 
den Formenlehre des geſchichtlichen Werdens 
gearbeitet worden iſt, erklärt er für nicht 
vorhanden. Dies getan, ſetzt er zunächſt aus: 
einander, die alte Einteilung ber europäiſchen 
Gejdjid)te in Altertum, Mittelalter, Neuzeit 


ESSSSSSSSLESLA Der Prophet des Untergangs BS333338334 263 


jet überlebt und aufzugeben, zwilchen ber 
griedhijd-romijden und ber neuen europát: 
ſchen "pe OMM be[tánben bedeutende Paral: 
lelen, eine Reihe gleichbleibender Entwids 
lungsalter müjje für alle Rulturvólter, aud) die 
außereuropäijchen, feſtgeſetzt werden, es müſſe 
eine von bem ftarren Gejeg ber Zeitfolge 
befreite Morphologie der gejchichtlichen Zus 
ftände, aljo der Entwidlungsalter, gefunden 
werden. Und jo fort. Vian fiebt, ber Ver: 
fajjer wird nicht müde, Iángit an oder 
wenigjtens geltend gemachte Befistiimer ber 
Forſchung als en Entdedungen feines 
Geiftes vorzulegen. Man wird jagen dürfen, 
diefe in Wahrheit [hon vorhandenen Auf: 
jaflungen bilden den Grundjtod feines Wer: 
es, vor allem deswegen, weil fie auch Die 
Unterlage für die von ihm aufgegebene Les 
benslojung ijt: Verzicht auf Kultur, Ausbau 
einer möglichſt medaniftijden Zivilijation. 

Quisquis praesumitur bonus... 

Us liegt nicht ber leijefte Anlaß dafür 
vor anzunehmen, daß Spengler hier geiftige 
Abhängigkeiten, von denen er weiß, abjicht: 
lid) verbirgt. Es pe móglid), daß die ent: 
[d)eibenben älteren Erfenntnijje durch einige 
der taujend möglichen Randle des Ge|prádjs, 
bes Jeitungsaujjabes ober jonftwie gu ihm 
gelangt find und von ihm, wie eigene, weiter 
benu&t und geformt find. Es ilt jchließlich 
aud) möglich, wenngleich am wenigjten wahr. 
icheinlich, daß er fie alle wirklich auf eigenem 
Wege und jo wenigitens für jid) neu, wenn 
aud) für die übrige Welt einigermaßen post 
festum entdedt bat. CErftaunlid an dem 
gangen Borgang ift nur die Jtaivitát feiner 

erfündung, wie urlprünglich unb — neben: 
her — wie unermeßlich bedeutend dieje Ent: 
dedungen feien. Wäre Spengler ein Forſcher 
— was er gewiß nicht ijt — fo müßte man 
von befremdlicher Unwifjenheit in biejem 
Betracht |predjen. Da er dies weder ijt nod) 
fein will, jondern halb Liebhaber, halb Ro: 
pernilus — bas ijt der ihm geláufigfte von 
ben Ebrentiteln, mit denen er fih felbft, 
häufig genug, bedentt — jo mag er als 
oberjtes Gejeg feines Tuns für fid) in Ans 
jprud) nehmen, daß er nur zu willen braucht, 
was ibm zu wijjen Luft mad. 

Zulegt geht uns andere der ganze Sad): 
verhalt taum an, [o wenig wie die Bejchmads: 
richtung, aus ber heraus Spengler fid felbft 
und fein Wert feinen Lejern in immer neuen, 
immer lauteren Fanfarenjtößen anzupreijen 


bedacht ijt. Gefällt es ihm, Gedanten, die 


lángit vor ihm gedadjt worden find, als 
Groptat feiner benferijd)en Schöpfertraft aus: 
zurufen oder unablájitg fid) feinen Leſern 
anzurühmen, fo ijt bas legten Endes feine 
Angelegenheit und fein Schaden. Ein öffent: 
liches Snterejje be[tebt nur daran, daß diefe 
unerfreulichen Formen literarijcher Gebärde 
nicht noch weiter nadygeahmt werden. 

n Ausführungen und Ausfúllung ber 
angedeuteten Grundgedanfen in Spengler 
mit unbezweifelbarer GSelbjtändigfeit vorge: 
gangen. Wher, mich diinft, hier wird bas 


taum bingunehmen, ijt bie Zuweijung a 


Bild eher nod) unerfreulicher. In den ver: 
gleichenden Tafeln zur Weltgejchichte, in bie 
Spengler eine jehr überfichtlihe Zujammen: 
fajjung feiner vergleichenden Formenlehre 
eingeordnet hat, ijt ein Brundftod der Ver: 
gleihung gwifden alt: und neueuropäilcher 
Beichichte unumitóBlid, aber er ift Tediglich 
Ausführung der Spengler nicht eigentiima 
lichen Grundgedanfen. So wenn griechijche 
und germanijch-romanijche neuefte Zeit ein: 
ander im einzelnen angeglichen werden. Aber 
Spengler ift E bereit, auch bier durch die 
ganz unbeberr|djte Willfiir eines bilflofen 
Rolleftivismus allen Eindrud zu zerftóren. 
Er Dellt Luther, Zwingli und Calvin mit 
ber Dionyjosverehrung und den orphijden 
Dienften auf eine Linie. Luther und Dio: 
nylos: ich glaube bier ift der Grengpuntt 
Dellen, was menfdlide Kreatur nod) angu- 
hören erträgt, erreicht, ober im Grunde über: 
— Hier beginnt ſchon die körperliche 
belkeit als Reaktion. An dieſer Stelle wäre 
es Herrn Spengler zuträglicher geweſen, die 
Nichtoriginalität ſeiner erſten Gedanken noch 
etwas länger feſtzuhalten: er hätte dann 
leicht lernen Tonnen, daß wenn man ben 
unmißdeutbaren Anzeichen der ſtaatlichen 
Entwicklungseinſchnitte folgend, die Grenze 
zwiſchen altgriechiſchem Mittelalter und alt— 
ie d euzeit etwa bei 510 fegt, b. b. 
ei dem (Ende der athenijchen Tyrannis, 
dann bie myſtiſchen Dienfte unb Anſchau— 
ungen fic) richtig als |pátmittelalterlid) bar: 
ftellen und innerhalb des neueuropätjchen 
Weltalters mit Vieifter Edehart und den 
Geinen vergliden werden miijjen. Se 
dann jpiegelt fic) in bieler Zuordnung no 
aller (Gegenja& hellenijcher Heiterkeit und 
Ginnenftärte zu germanijcher traumtiefer 
Wucht, aber diefer Gegenjas ijt das Über: 
verftandesmábige,das die beiden geiltestiefiten 
Boltstiimer der Menſchheit durch Abgründe 
trennt; eine Kluft, bie feinem diejer begrifis: 
mäßig abgepaßten und deshalb an jid) me: 
chaniſchen Ordnungsverjude zu überbrüden 
oder gar zu perjteden möglich oder nur ver: 
ftattet fein fol. 
Ein minder greller Mißgriff, bod) an le 
er 
irgendwie glaubensmäßigen, auperverftandes: 
EES Regungen ber Kaijerzeit an eine 
von pene rledthin fingierte arabijche 
Frühzeit. Bon allen anderen Unmöglichkeiten 
abgeleben, wird hier die Gleichung Plotin 
leid) Meifter Gdebart herbeigeführt, die in 
Bo unzuläjlig ift. Spengler ver|d)üttet hier 
einen ber wertvolliten Erträge ber verglei: 
henden Weltgejchichte bes Glaubens wieder: 
die Erkenntnis, dab bie dritte Myſtik einer 
neuejten Zeit, für bie Plotin den klaſſiſchen 
Fall, Börres, Rohmer und die anderen auf 
unjerer Ceite, in ber neneften Zeit bes ger: 
manijdjen Weltalters den Beleg darbieten. 
Un fid) fein Wunder, da ja Spengler von 
ber erjten Myſtik, ber ber Urzeit, bem tiej[ten 
Brunnen aller Glaubensitröme bis an un: 
lere glaubensihwachen Zeiten hinein nicht 


264 ESSSESSSSESS3I Prof. Dr. Hurt Breylig: B=223233333333333 


bie leifefte Runde hat. Uber Meifter Eder 
bart mit Plotin zu vergleichen ift ebenjo 
weile, als wollte man Homer mit Jordans 
Nibelungen zujammenftellen oder Tauler mit 
Shelling, . 
Bei der Anlage feiner griechiſch⸗germani— 
SCH Gtufengleidjumgen in ber Meihe der 
taatliden Entwidlung wird Spengler, fei 
es burd) unbewußte Einwirkung älterer und 
Jicherer Forjchungen, fei es Durch die minder 
leicht zu mißdeutende Miderftandstraft ftaat: 
lich:gejellfchaftlicher Gebilde vor ben ärgiten 
SRerjeblungen bewahrt. Tak fein Hammer 
gleichwohl oft genug dicht neben bem Kopf 
des Jiagels niederjährt, läßt fih ibm den: 
nod) leicht genug nachweilen. Go entgeht 
ibm bie völlig ungezwungene Zuſammen— 
ge örigfeit ber beiberjeits jpätmittelalter: 
iden Tyrannisverfaffungen von Stadtitaas 
ten im alteuropáijben Griechenland Dort, 
im neueuropäilchen Italien bier, und er ge: 
langt zu der ganz unmöglichen Angleichung 
- von Richelieu, Wallenjtein und Cromwell an 
die griechilchen Tyrannen. Weder bas Haus: 
meiertum des einen, noch das erftrebte oder 
erreichte Rónigtum der beiden anderen Dat 
mit den Baueigenſchaften ber Tyrannis aud 
nur bas mindelte zu jchaffen. Zuweilen aber 
verwirrt Spengler aud) die großen Kultur- 
anteile von Griechen bier, Germanen dort 
auf bas grunbjáblid)tte und unerträglidhite. 
Co wenn er in jeiner überaus pomphaft 
auftretenden Diatribe auf den apollinijden 
Grundzug bellenifjber, ben faujtijd)en ger: 
manijcher Geijtigteit an zweiter und inner: 
lid) bedeutendjter Stelle als Eigenbeſitz bes 
germanijden Glaubens die fatbolijd): pro: 
tejtantijche Dogmatik anpreijt. Vielleicht greift 
Herr Spengler zu einem Hilfsbuch für den 
Religionsunterridt auf den höheren Gym: 
najialflafjen und überzeugt fih dort, daß 
jene Dogmatif im Jabre 430, dem Todes: 
jahre Auguftins, in allem Wejentlichen ihrer 
Beitandteile vollendet war. Haben die Vater 
der vier friihdrijtliden Jahrhunderte viel: 
leicht Faujtens Geift vorweggenommen ? 
Ganz untlar und verjdwommen bleibt 
bei Spengler das Berbáltnis ber altrómi: 
Iden zur altgriedjijden Entwidlungsreibe. 
Er überjieht völlig den Parallelismus ihrer 
einzelnen WBegjtreden, der, wie begreiflich, 
nod) viel enger und ftrenger ift, als alle 
Bleichläufigfetten griedjijdjer unb germani: 
ier Cntwidlungslinien. Seine Tafeln 
ſchweigen von ber Beiltesgejchichte ber Rö— 
mer — aus leicht erratbaren Gründen — 
ganz, übergehen, aus innerlich unerfindlichen 
Gründen, alle frühen Entwidlungsalter der 
Römer und laffen von bem — für Rom 
ganz unerheblichen — Zeitpunft der Erobe: 


rung Griechenlands ab bie griechilche Ber. 


Ihichte ftilljchweigend in bie rómildje übers 
geben. Mit welchem Recht? 

Vollends ins Bodenloje gerät Spengler 
mit feinen außereuropäilchen Parallelen. 
Schon die Gleichung zwijchen der Ausbildung 
des olympijchen Götterfreijes und den erjten 


drei Jahrhunderten des Chriftentums ift nur 
möglich bei [djledjtbin unerträglicher Bers 
tennung des greijen|páten Grundwejens aller 
paulinijden und nacdpaulinijdjen Lehren, 
b. Db. von den Evangelien ab aller Schriften 
des Neuen Teftaments. Einen ebenjo frarfen 
Widerjinn enthält bie Gleidjegung gwijden 
Mohammed und — man traut jeinen Augen 
nicht — den englijden Buritanern von 1620 
ab. Der febr augenfällige Zug verftandes= 
dürrer Nüchternheit in Mohammed und feinen 
yolgern tann bod) diefe in Wahrheit un: 
emein oberflächliche Zuordnung nicht redt: 
ertigen. Räme es Darauf allein an, jo fonnte 
Spengler nod) mand Bolt auf Erden in dies 
SBuritanerjad) einräumen: 3. B. die Chines 
jen bes Ronfutje. Völlig miBgriren ijt die 
nee lung der indijden Geſchichte. Noch 
bie Lehre Buddhas trägt alle entjcheidenden 
Ctufenmerfmale mittelalterlicer Myſtik an 
fih, ganz abgejehen von bem ebenjo mittel: 
alterlidjen Staats- und pele bay nee 
des damaligen Indiens. Dem Gehen Spengs 
lers aber erjcheint Buddha als eine Gejtalt 

von Rang und Art des 19. Jahrhunderts. 
Doh wird auch biejes Wahngebilde noch 
übertroffen durd) die Behandlung Ägyptens. 
Hier feiert Spenglers fröhlich und jorglos 
fabulierender Dilettantismus Gaturnalien. 
Die ägypt he Geſchichte, die zwar ähnlich 
wie die ihr in mandjem Betracht nahe dt: 
nejifde, in der Reihe ihrer ftaatlihen Ent» 
widlung mehrere, wie id) fie zu nennen vors 
geſchlagen babe, faljche Mittelalter aufweilt, 
trägt bis qu ihrem Ende unter dem Jod) 
römiſcher Weltherrichaft ben unverfennbaren 
Stempel ber Altertumsftufe, ber archaiſchen, 
d.h. etwa mykeniſchen, etwa farolingijden 
und jedenfalls afinrifd) : babylonijd : cinefis 
iden Dejpotie. Epengler aber bringt in thr 
alle Entwidlungsalter, die nur Griechen, 
Römer, Germanen, Romanen Durchlebt 
haben, unter. Er jet von 1788 bis 1180 
vor Beginn unjerer Zeitrechnung eine Zeit 
der Revolutionen und des Militärregiments 
an, bie der großen franzöſiſchen Revolution 
ent]pridjt. Der Lefer hat das Gefühl, daß 
er von Blüd zu jagen bat, wenn Epengler 
nicht aud) nod) einen ber Pharaonen biejer 
Zeit, etwa Neferhotep I. mit Rapoleonmasfe 
als Imperator auftreten läßt. Ter Pyras 
mibenbauer 9tamjes II, Debt nicht etwa mit 
dem 19. Jahrhundert auf gleicher Ebene, 
jondern erft um 2200 wird bas heutige 
Europa ben Zuftand feiner Zeit erreichen, 
Höher tann der Aberwig nicht getrieben 
werden; Spengler erreicht bier ben Liefjtand 
eines mijjenidjajtltd)en Wigblattes und mabt 
aus dem edlen Amt vergleichender Menſch— 
beitsgejchichte ein Epott: und 3errbild. Am 
erjtaunlichiten ijt vielleicht, daß er feine deli- 
rierende Bhantafie auf jo dürrer Heide um: 
herirren läßt. Denn er felbft wird faum be: 
haupten können, daß aus diejen langweiligen 
Konftruftionen aud) nur ber geringfte Er» 

oe zu erhoffen iit. 

ie deutſche Lejerwelt aber hat eine Feuer- 





älde von Prof. Hans Purrmann 


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Bi ; Gräeügni: 
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Wie abet fot nn Wine: 


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266 IESSE) Prof. Dr. Rurt Vrenfig: 


Schidjal aufrechterhalten, ohne bie ganze 

ülle feines Melt= und Götterglaubens. 
Ware es nicht leere Bofe, bie eine ohne den 
anderen zu verlünden ? 

Und was heißt nun überhaupt Schidfal, 
als Schlüſſel für bie Grfenntnis gejchicht: 
lichen Werdens? Es birgt unter bem Vian: 
tel einer literarifch, ja Dm äfthetijch wir: 
tungsvollen Benennung im Grunde nichts 

nderes als den fablen Verzicht auf jede 

tfenntnis bes inneren Merdegangs menfd: 
lichen Gefdehens. Der nüchtern»elementare 
Dejtriptivismus einer nur chronikaliſchen Ge: 
Ihichtsichreibung triumphiert. Denn wenn 
der Forſcher né damit begnügt, alle Er: 
Härung der Schichtung des Völker- und 
Menſchengeſchehens als Schidjal, Fügung 
binzunehmen, wird er unzweifelhaft am 
gweddienlidjten fid) darauf bejchränten, zu 
ermitteln, wie die Dinge eigentlich gewejen 
find, nie aber danad) forjden, wie fie ges 
worden find. 

Wozu aber, fragt man, dient bei ganze 
mübjam, wenn aud SC und chief ge: 
nug ¿ujammengetlitterte Gtufenbau von 
Gpenglers eigener Lehre? Wenn alles 
Menſchen-, Wolters, GStaatenihidjal bod) 
nur duntel unerflárlidje $yügung ijt, wozu 
dient Dann bas Aufjuchen von Stufenähn: 
lidjfeiten in dem Bau der Einzelgeichichten 
der Völker, wenn bier nicht ein gang ans 
deres, und in irgendeinem Ginn begrifflich 
PEE Drdnungsprinzip porausgejebt 
wir 

Hier flafft ein Abgrund in Spenglers Bes 
weisführung, über ben es feine Brüde gibt. 
Gr offenbart das innerjte Wejen feiner or. 
Ihungsweije: feine unjicher taftende Hand 

reift nad) allem Schimmernden, was ihr 
im Augenblid gefällt. Zuerft ift es der Gee 
dante der Gtufung, der ein im tiefiten 
Grundjak erfenntnismápiger ift. Dann ijt 
es wieder bas Duntel:lUnbeftimmte des 
Shidjalbegriffes, das ibn Iodt: ein gänzlich 
Strationales. Er vergibt ganz, daß er mit 
feiner Annahme alles bis dahin in feinem 
Buhe Aufgebaute preisgibt, ja verleugnet. 
Die Zahl ber fenngeidnenden Wterfmale bes 
wijjenjchaftlichen Dilettantismus in Gpeng: 
lers geijtigem Bild wird hierdurch erfüllt. 

Die Kerneigenichaft, bte ihnen allen ¿us 
grunde liegt, eine hochgradige Unfabigteit, 
die tragenden Begriffe tlar zu umreißen und 
ftetig feitzuhalten, tritt unúbertroffen deut: 
lid) an btejem Ort zutage. In dem Geſetz, 
bas nur der Natur gufommt, liegt, jo er: 
Härt Spengler die Notwendigkeit bes Mathe: 
matijden, in bem Scidjal, bas die Ges 
Ihichte beberrjd)t, bie Notwendigkeit des 
Tragiichen. Tod) unmöglicher tann man den 
Gedanten nicht von einer Begriffsebene auf 
eine andere, Die zu ihr in durchaus feinem 
Verhältnis der Zuordnung ftebt, fpringen 
lajjen. Man bat oft und mit Recht über 
Hädels Atomjeele als bem Gipfel heutiger 
Begriffsverwirrung gejcholten; hier wird er 
nod) übertroffen. 


Und mögen bie Taufende von Spenglers 
Refern, von feiner — Guada vers 
führt, über dieje und hundert andere Un: 
möglichkeiten binweglejen, es ift unnötig, 
weil an fich Har verhändiich, einem Denfen- 
den auseinanderzufegen, was an Ddiejer 
Gegeniiberfegung fali und jchief ift. Ein: 
mal aufmerfjam gemadt, wird cr es allzu 
leicht finden. Miejo it Geſchichte tragijd, 
wodurd) wird Geldjidjte aud) nur als unter 
dem dramatijden Gejeh ftehend erwiefen 
unb gelebt den Fall, dies wäre möglich, fo 
erwädlt bie Frage: und wenn in den Ges 
feben der Tragödie, des Dramas Folge- 
ridjtigfeit waltet, fann fie eine andere fein, 
als die derjelben ving Weu aus der alle 
Mathematik erfliegt? SHeillofe Sulammen- 
wirrung von Begriffen im Vordergrund, eine 
leere petitio principii im Hintergrund, das 
ijt der Inhalt diefer jchillernden Sprache. 

Ganz ftumm bleibt aud) in Spengler die 
Stimme bes forjderlicen Bewiljens nicht. 
Er ertlárt einmal, wi ein Geſchichtsforſcher 
um [o bedeutender ijt, je weniger er ber 
eigentlichen ell Lol aft angehört. An diefem 
feinem eigenen Maßſtab gemejjen, ift Speng» 
ler ber bebeutenb|te Gefhichtsforfher nicht 
der Gegenwart nur, nein aller Zeiten. Und 
bas ift ja wohl aud feine Meinung. Ein 
anderes Wtonumentalwort Gpenglericher 
Prägung lautet: Natur fol man wijfens 
Kg: traftieren, über Gejdidte fol man 
dichten; alles andere find unreine Lófungen. 
Wem follte, nad allem zuvor Gejagten, an 
Gpenglers Dichterjendung in bielem Sinne 
nod) ein Zweifel fommen und ich glaube, 
bie Forjdung hat feine Urfache, feinem Ab» 
gug in das Lager der Dichter gram zu fein. 

ur erhebt fih die doppelte Frage, werden 
die Dichter ibn willlommen heißen und zum 

weiten: wird irgendeine Inftanz des Getftes 

penglers dichtende Willenjchaft, bie weder 
an Tatjahen noch an Gebote der Begriff: 
lichkeit fih binden will und bod) Erkenntnis 
u E behauptet, als reine Löſung aner: 
ennen 


88 8 

Zulegt ijt traurig, was bier von Cpeng: 
ler bem Forſcher gefagt werden mußte. 
Denn in Wahrheit tritt er bod) als folder 
auf, und alles, was er von notwendigem 
Dichtertum jagt, ift wie jo vieles bei thm 
bloße Redensart. Ein Mann glánzender — 
wenn auch niht urjpriinglider — drifts 
ftellerifcher Begabung — an a rope 
Geltenbeit im Siffenkhaftlichen Deutichland; 
dazu eine Geiftigteit von wundervoll leich- 
tem Maelen weitreichender Zujammenhänge, 
ein Überjchauer und Zufammenjeger hohen 
Ranges, dies eine nod) viel jeltenere Gelten- 
heit in unjeren Tagen einer jchwer geriijte- 
ten aber jeltjam engen Gelehrjamfeit; ein 
Forſcher endlich, ber darin allen heutigen 
und allen früheren Bejchichtsichreibern über: 
legen ijt, daß er über ein beneidenswertes 
aB von matbematijdjen Kenntnijjen ver: 
fügt, ein MBorzug, der ihn in den Stand 


Der Prophet bes Unterganges B3333333334 267 


lebt, die Mathematik früherer Entwidlungs:» 
alter mit einer Sicherheit in Gtufen zu 
ftaffeln und fie den Entwidlungsaltern 
des allgemeineren Erfennens zuzuordnen. 
Und ein (Get, in dem fo viel eigen: 
tümlihe Befähigungen zujammentreffen, 
verfpielt den gar nicht gering angujd)lagens 
den Vorteil, den die Geldjidjte ber Geſchichts— 
forfdung aus ihm ziehen fonnte, zum aller: 
größten Teil, nur weil er nidt das Maß 
von Geduld und notwendiger Gelbftzucht 
aufzubringen weiß, um den Früchten feines 
Baumes Belt gum Wahlen und Reifen au 
iter und weil er es vorziebt, den literas 
rilchen Effekt über bie wiſſenſchaftliche und 
das heißt pod eu bie tiefere geiftige Wir: 
fung zu Wellen, Und Diejer eft jollte 
bod) gerade ihm wabhrlid) zu billig fein, 
weil er ihm aud) dann zu Gebote ftehen 
würde, wenn er feinen Weg in viel Dieb- 
Ger und jdwererer Rüſtung angetreten 
ätte, 

Uber bie Wilfenfchaft und die Erfenntnis 
find ftandfefte Körper, die [hon gefährlichere 
Angriffe ohne allen dauernden Schaden über: 
ftanden haben. Gie werden, was aus ber 
Reibung mit Spenglers [chweifenden Ge: 
danfengángen und noch mit feinen tr: 
tümern an MBorteil zu gewinnen ift, fid) 
ajjimilieren unt einverleiben, und alle jeine 
Wahngebilde [dell genug wieder auss 
ſcheiden. 

Uber es ift nod) eine zweite Anklage, dir 
gegen Spengler erhoben werden muß. Gein 

ud will ja niht allein Geſchichte fein, 
jondern aud Prophezeiung und, mehr, ein 
großer Sebensbeje an die Zeit: diejen Weg 
in bie Zukunft folt ihr wählen. Den Über: 
gang zu Deler Sendung, die er fic) jelbft 
erteilt, babnt fid) Spengler durch ben An: 
jprud, ben er für feine en sung 
erhebt, daß fie auch Philojophie fei, un 
zwar, da Spengler ungern andere als die 
lautejten Worte ausfpridt, die einzige heut 
mögliche Bhilofopbie. Mit welchem Necht, 
bleibt von Spengler ungejagt, und für feine 
Lejer vollends unerforihlih. Bisher vers 
fand man unter Pbhilojophie bie Lehre vom 
Gein und vom Sinn der Welt und von den 
Mitteln, fie zu erfennen. Zu diefem Kern 
alles Erfennens aber dringt Spengler gar 
nicht vor: immer wieder und wieder gibt er 
bódjit problematijde Deutungen der Menſch— 
heitsgeichichte, fajt immer ebenjo beftechlich, 
wie War Ze o a Wenn Spengler die Au: 
Benwerfe der enntnislehre berührt und 
etwa behauptet, die erfte und zweite Dimen: 

on jet eine Gade der Empfindung, die 

ritte aber ein Gegen[tanb ber 9In|djauung, 
fo jcheint mir Laten das ebenjo finbbaft- 
bilettantijd) und unfruchtbar wie etwa bie 
Unterjcheidung des ewig gewordenen Raumes 
von der ewig werdenden Zeit. Doch miij- 
len bier zuftändigere Rihter urteilen. 

Die Lebensverfiindung, um derentwillen 
Spengler feinem Bud bie jchwarzgallig: 
büjtere Aufjchrift gibt, bat mit diefem Um: 


weg nidjts zu ſchaffen. Sie fteigt unmittel: 
bar aus dem Gtufenbau der europäijchen 
Gejdjidjte auf, auf dem Spengler all feine 
Gefdjiditsforjdjung aufrichtet. 

Es ift bie Vorftellung, daß unfer Welt: 
alter, bas neueuropátide, wie id) es au 
nennen gewohnt bin, heute die Wegjtrecde 
erreicht und von ihr aud [Mon einen erften 
Abſchnitt ge hat, den in der Ent: 
widlungsreihe der Römer, Spengler be: 
Bauptet der Antife überhaupt, die Kaifer: 
zeit barftellt, Und weil mit ihr das Ende 
der römiſchen Rulturmelt gefommen war, 
jo folgert Spengler, ift unjerem WBeltalter 
ebenfalls bas Ende gefommen. Neu ijt aud) 
diejer Gedante nicht: der hier Bericht er: 
ftattet, bot 1900 in ben erften zwei Nume 
mern des Hamburger Lotjen alte und neue 
Symperialismen verglichen und in diefer Ge: 
dantenfolge die Frage aufgeworfen: ob nicht 
aus dem Tatbeftand der bier fic auf: 
drángenden Parallele auf das Herannahen 
einer Bölferdämmerung auch für unjere 
Rulturwelt zu jchließen ei. Dieje Frage ift 
damals verneint worden; Spengler, der fie 
nun nad) einem halben Dienjchenalter von 
neuem erörtert — felbjtverftindlid) nicht 
ohne neue iyanjaren|tóBe ob ber Außer: 
ee ei diejer geiftigen Leiftung — bes 
jabt fie. 

Man könnte meinen, an Mein und Ja 
fei bei einer Frageftellung, auf die die Ant: 
wort ehrlicherweije nichts anderes darjtellen 
tann, als einen eriten taftenden Verfud) ber 
Ausziehung von Linien der Vergangenheit 
in bie Zukunft hinein, nur im theoretijchen 


Ginne gelegen. Spengler aber hängt bie 


ichweriten Gewichte einer Umwálzung alles 
Rulturwillens unjerer Zeit an diefe Ent: 
ideibung. Alle die feltiamen Lofungen, bie 
er ausgibt unb von denen [bon die Rede 
war, daß es jebt an der Zeit fei, aller Kul» 
tur den Abjchied zu geben und einer über: 
wiegend technifch-mechaniitilchen Zivilijation 
mit Abjicht und Hingabe allein nod) Tür 
und Tor zu öffnen, gründet er auf die Rid): 
tigkeit Dieter feiner Hypotheſe. 

Daß es um eine folde fih handelt, Das 
für geht Spengler offenbar gana das Bes 
wußtjein ab. Denn da er aud) im einzel: 
nen weit mehr bas für wahr und alfo aud) 

eihichtlid — auf deutich geichehen — zu 
alten geneigt ift, was ibm in bie augen: 
lidiid) bevorzugte Sicht feiner Geldjidbts: 
behauptungen zu pajjen jdjeint, als was für 
ihn, geichweige denn, was für andere er: 
weislich wahr, d.h. alfo fozujagen wirtlid) 
gelthehen ift, Jo wandelt jid) ihm, was Vermu— 
tung iit, jogleich in Wirklichkeit. 

Da aber, wenigitens in Spenglers Ver: 
bindung, die nur allzu aufmerfjam aufge» 
nommen worden ijt, von der Gicherheit 
diejer an fih wiſſenſchaftlichen Schlußfolge— 
rung jo lebenswichtige Forderungen abges 
leitet werden, fo muß gerade diejes Glteb 
Sc Beweistette um jo gewillenhafter auf 
eine Feſtigkeit nachgeprüft werden. 

IS 


268 Prof. Dr. Rurt Brenfig: 


Eine 


rage ijt es, mit deren Beantwor: 
tung Die nth 


djeibung fällt. Der hier jchreibt, 
ift nicht im minbejtens geneigt, bie Gleich: 
Yäufigleit Der alt» und der neueuropäilchen 
Entwidlungsalter angujedten, um jo weniger, 
als er fie felbft, nur vor zwanzig Jahren, 
behauptet hat. 

Aber warum in aller Welt folgt aus ihr, 
Dak unjerem Rulturfreis bie gleiche Vólter: 
Jämmerung droht wie der Antike? 

Ganz ebenjo, wie Spengler heute tut, 
habe id) 1900 die Möglichkeit ins Auge ae: 
faßt, daß bier der Anfang von einem Ende 
erreicht fein fónnte. Wher id) habe ihon 
damals es als frivol bezeichnet, hier Einzel: 
prognojen aufitelen zu wollen. Und id) 
habe gegen die allgemeine Diijtere Folge— 
rungsmöglichfeit vornebmlid eine Gegen: 
beobadtung geltend gemacht, bie jchwer ge: 
nug ins Gewicht fällt: daß bie anti-imperta: 
lijtiide Gegenbewegung unjerer Set jo 
unvergleichlich viel ftárter fet als vie Der 

riechiichen Spät», der vómijd)en Kaiſerzeit. 
Sch babe damals darauf bingewiejen, wie 
unvergleichlich viel ftárter ber Demotratis: 
mus und Sozialismus unjerer Gegenwart jet, 
als alles, was man ihm aus der 9Intife zur 
Seite jtellen Tonne, 

„Dies alles,” fo wurde damals gejagt, 
ei aljo Zeichen des Auf» und nicht des 

ieberganges. Aber freili auf Frieden 
und fampfloje Entwidlung deutet feines 
von ihnen. Je ftárter der Imperialis: 
mus fortjchreitet auf feiner Bahn, beito 
eher wird er mit dem viel leifer, aber 
vielleicht nod) jtetiger wachjenden Demo: 
tratismus zujammenftoßen müffen. Und 
eine useinanderfegung zwiichen beiden 
(eint in Wahrheit bas müdjte Ziel Der 
Entwidlung zu fein.” 

Auch an ber Vorherjage einer neu=indis 
vidualiftiichen im edeln Sinn anardiftijden 
Gegenjtrömung gegen bie beiden Deut mite 
einander ringenden Gewalten, von denen 
damals gejagt wurde, daß ihre Vorboten— 
Anzeihen erft am Horizont auftauchen, 
würde id) nod) heute fe[tbalten. Aber für 
ben bier objdwebenden Gedanfengang ijt 
nod) wejentlicher eine zweite Reihe von Er: 
wágungen, an die Damals gerührt wurde: 
bab Die in der Vergangenheit [bon erwie: 
fenermaßen fo viel Iangjamere Entwidlungs: 
geldjminbigfeit bes germanijchen Weltalters, 
die hinter ber griedifden um etwa zwei 
Syabrtaujenbe aurüdgeblieben ijf, vermuten 
läßt, daß de jein Abjtieg viel langſamer 
vonftatten geht. (Wobei, nebenher bemertt, 
in Betradt zu ziehen ijt, daß wenn man, 
wie ich vorgejchlagen habe, den Beginn des 
Entwidlungsabjdnittes ber neuejten Zeit in 
Rom in das Jahr 133 vor Beginn unjerer 
Zeitrechnung fegt, jo würde felbft an biejem 
jo viel Heinere Einheiten aufweijenden 
Maßſtab ber alteuropäilhen Entwidlung 

emejjen, unjerem Bolte nod) faft ein halbes 
abrtaujend des Weges bis pum Ende der 
neuejten Zeit und, wie Spengler meint, zum 


Zujammenbrud unjerer ftaatliden und gei» 
ftigen Kultur bleiben.) 

Der Grund für das [o viel langjamere 
Tempo, alfo auch bas langjamere Altern 
und Welten ijt, wie mich büntt, in Himmel 
und Boden unjerer Lander zu Juchen, deren 
Herbheit und Rargheit bas Wadstnm ein: 
halten und die Kraft [paren 

Aber heute würde ich, nad welentlich 
weiterer und wie ich hoffe tieferer Ausbil» 
dung einer allgemeinen Bejchichtslehre, noch 
jehr viel entidloffener die Ab emng einer 
jo Ddiijteren Prophezeiung, wie die Cpeng- 
lers ijt, fordern. Die Lebensalter, die, wie 
id) lángft gewohnt bin und wie Spengler 
ebenfalls getan bat, an bic Stelle ber Ents 
widlungsabjdnitte gejegt werden tónnen, 
find zulegt bod) nur em Gleidnis. Auch 
AE gei 1 find weder Briechen nod) Römer; 
die einen find von der albanejijd-jlavijden, 
die anderen von Der feltijd) : germanijchen 
Einwanderung ihrer Lander aufgejogen wor: 
den. ber felbft wenn in bem Belleni[den, 
bem italijden Boltstórper von heute and 
nur geringe Reftbeftánde der Griechen, ber 
Römer von d no aufgegangen wären, jo 
würde Dadurd nidits an ber £atjadje ge- 
ändert, daß für bie lebenstráftigeren, lebens» 
iren Norovólter bes germani|djen neuen 

uropas bie 9Ingleidjung ber Entwidlungs» 
alter ber Vólter an bie Lebensalter des 
Gingelmen]djen nichts anderes bedeutet als 
eine Bergleichung einzelner ihrer Abwands 
lungsmerfmale. 
pengler bat bier, wie jo oft, nur bie 
Dberflähe der Dinge ge[treift. Geht man 
ihnen weiter nad, fo ergibt fih, daß bie 
Anzahl, faft aud) bte Wucht ber hnlich- 
leiten, bie fid) für beide Reihen von Ent: 
widlungsabjchnitten nachweijen laffen, fic 
mit bem Fortichritt der Reihen verringert. 
Auffällig zahlreich für Kindheit und Vorzeit, 
ind fie Mn für bie mittleren Streden, bie 
ugend und die Altertumsjtufe, bas Beits 
alter bes ardjaijd)en Defpotismus, für Jung» 
lings: und Mittelalter wejentlich geringer 
an Zahl und Bedeutung; für bie neuere 
Zeit und bas Mtannesalter, bie neuefte Zeit 
unb bas Greijentum laffen fid) wohl auch 
por einige, und zwar nod) febr einjchneis 
dende Ahnlichkeiten nachweijen, aber es fehlt 
bod) aud) nicht an offenbaren Widerfprüchen. 
Es bleibt ¿war befteben: bas ÜÜberwiegen des 
BerftandesmáBigen, bas das Mannesalter 
ganz ebenjo fennzeichnet, wie bie neuere zeit, 
bie tit Griechenland bie Copbijtif, in Neu— 
europa bie Aufklärung, tu beiden Meltaltern 
bie Bernunftzerjegung des Glaubens hervor: 
gebrad)t hat ober die üuBerjte und folge: 
ridjtigite Betätigung Der ¡ilenstraft in 
Mannesalter und neuerer Zeit, in biejer me 
jofern fie, ganz gleichmäßig bei Griechen, 
Römern und Germanen, bie wudbtigfte und 
ejáttigtite Ausgeftaltung bes Staates zus 
Kane gebradt bat. Und das Greiientum 
wird, ganz ebenjo wie die neue|te Zeit der 
Völker, ausgezeichnet durch bie Herrihjucht 


ESS=S== Secc Der Prophet des Unterganges [232333333343 269 


im Reid der Macht — man dente an den 
Imperialismus, der in allen drei Entwids 
Iungsreihen beider Weltalter bie mammut- 
a ten Weltreide der Gejchichte [uf — 
und, für bas Gingelleben, an die Grundtat- 
fade, dab Staat und Geſellſchaft von den 
Sedaigern und Giebzigern regiert werden. 
Im Reid) des Geijtes. werden beide Alter 
legter Reife gefenngeidnet durd eine Ord- 
nungsliebe und Folgerichtigfeit, die eine im 
einzelnen erfolgreiche, im ganzen ¿umeift 
peinlich,kleinliche Genauigkeit erzeugen, wie 
fte bas Alexandrinertum und der Dejtripti= 
vismus Der MEER und ber neueuro« 
paijden Wijjenjchaft diejer Stufe an ben 
Tag legen und wie fie die Altersweije nod) 
ber gropten Menſchen, man dente an Goethes 
Ipäte Tagebücher, ic ae 

Aber ebenfo gewiß ift ein augenfälliger 
Unterjchted, ber jih bei näherer Betrabtung 
als Haffender Gegenjat erweilt. Körperlid) 
iff bas Greijenalter durch nichts jo greifbar 
gefennzeichnet, als durch das Ermatten und 
allmählich ftárter GE Eritarren 
der Kräfte. Wer aber wollte angefidts ber 
unerbórten Leiftungen tätigen wie leidenden 
Kriegsdienftes, bie in dem lebten groben 
Kriege faft alle an ihm beteiligten Völter 
vollbradt haben, aud) nur im leijejten daran 
denten dürfen, von einem folden Erlahmen 
ber Rórpertraft unjerer Völker zu Iprechen ? 

Davon ijt in ER nichts zu fpiren. 
Und man wird zugeben, daß biel? Feſtſtel⸗ 
lung nicht nur den allgemeinen Wert der 
Beobachtung eines weiten Auseinander— 
gehens beider Vergleichsreihen hat. Biel- 
mehr geht aus ihr hervor, daß, wenn ſchon 
fein förperlicher, fein körperlich⸗ſittlicher Ver: 
fall, tein Abgang an den robufteften und 
jugendlichften Säin, den friegerilchen, 
zu ver[püren ijt, aud) ber —— te 
der Endpunkt des Vergleichs beider Wachs— 
tümer: der Tod, dahin 

Wenn unſere Völker feine Anzeichen för: 
perlichen Alterns an den Tag legen, warum 
iſt dann irgend Mii e aus den übrigen 

bnlidjfeiten ber beiden Bergleichsreihen 
acd ihre unbedingte Gleichheit au jchließen 
unb warum ift Anlaß, den Tod von Volts: 
per[ónlid)feiten vorauszujagen, nur weil 
Einzelperjönlichkeiten fterben müfjen? 

Denn mag bier auch eingewandt werden, 
daß das Ende von Voltsperjönlichkeiten auch 
burd) politiichen Mord, b. 5. Überwältigung 
von außen ber, niht nur durd) autogenen 
Tod, d.h. durd) natürliches Altern und Hins 
Ihwinden — werden kann, ſo iſt 
ohne körperlichen Verfall und ſeine ſittlichen 
Begleiterſcheinungen taum an ein Übers 
wältigtwerden ber zahlreichiten und beftge: 
rüjteten Böller der Erde zu denten. 

Und ein Freund, dem id) Dielen Sad): 
verhalt auseinanderfegte und ber aus ihm 
folgerte, daß bie Rórpereribeinungen über: 
haupt für alle Stufen beider Reihen aus 
bem Bergleichsbilde zu entfernen feien, mag 
recht haben. 


Dann aber ergibt fid) für den —A— 
beider Wachsſtumsformen als unumſtößli 
der folgende Schluß: er hat Wert für alle — 
oder viele oder einige? das mag ſpäteren 
Unterſuchungen vorbehalten bleiben — ſee— 
liſchen Erſcheinungen, aber er duldet keiner— 
lei Anwendung auf das körperliche Schickſal 
beider Weſenheiten, alſo auch nicht auf ihr 
Ende, ihren Tod. 

Alle derartigen Vergleiche ſchwanken nach 
meiner innerſten Überzeugung immer auf 
der Grenze zwilchen wirklicher Gleidjláufig: 
feit bier und Bild und Se i dort. Mit 
anderen Worten: fie haben für das wifjen- 
djaftfidje Erkennen nur das, was die Schule 
— Wert nennt, d. h. ſie 
weiſen Wege zum Suchen, doch nicht immer 


zum Finden des Zieles. Sie bieten Mög— 


ichkeiten nicht Sicherheiten der Gleich— 
ſetzung. 

Und nun kehre man den Blick noch ein— 
mal rückwärts zu dem Ausgangspunkt dieſer 
Erörterung. Die Griechen, die Römer des 
—— Weltalters find zwar forpers 
lich gewiß nur zum Teil als Völker ge— 
ſtorben, aber fie find es ſicher als Bolts: 
perſönlichkeiten; ihre ftaatliche, ihre geiſtige 
Weſenheit jchwand dahin, nur dem Erb» 
gono: nad an bie eigene eingejchränfte 
Nachkommenſchaft, öfter an fremde Cin: 
wanderer in Reiten hinterlajjend. Aber daß 
es gejd)ab, braucht niemals feine Urjache in 
dem Ablauf der Folge von Entwidlungss 
ftufen gu haben, ber bier mit Kindheit, 
Jugend und Alter bes Einzelmenjchen ver: 
TIER wurde. Es ift möglid), daß bas 

nde bieler Reihe einen bejonders tiefen 
Einſchnitt in bie Rebensmöglichkeit von Volts. 
perlönlichkeiten bedeutet. Aber unvergleichlich 
viel wahrjcheinlicher ijt, baB die ihrem Ur- 
iprung nad) nördlichen Bolter der Griechen 
und Römer von Sonne und Güden zwar 
zuerjt in ihrer Entwidlungs-, ihrer 3Badjs: 
tumsgeldjminbigfeit ungemein gefördert, 
nachher aber aud) fo früh zu fiberretje und 
Verfall’ geführt worden find: das Schidjal 
der feit 1564, 1680, feit Dtichelangelos oder 
um wenigjten feit Berninis Tod, faft gánz- 
ich erjtorbenen geiftigen Kultur der Yteus 
italiener, bie vollendete geiftige Unfrudtbar- 
feit der Neugriechen fpricht dafür. Beide 
Entwidlungen [predjn laut genug von 
nod) viel rajderem Abblühen im einen, 
von vollfommener Zeugungsunfraft im an: 
dern Fal. Die von Norden cinjtrómens 
den Germanenwellen find in Italien nod) 
viel früher verebbt, als die alte indogerma: 
nijde in Griechenland, die ebenfalls von 
Norden kommende flavijdhe Blutzufuhr 
hat, als viel zu ſchwach, Hellas überhaupt 
nicht wieder zu geiftiger Erhebung bewegen 
tónnen. 

Hält aber die Lebenstraft der im Norden 
verbliebenen germanijden Wölfer vor, fo 
find zwei Möglichkeiten gegeben für Den 
weiteren Diese ihrer Entwidlung. Es 
tónnen jid) neue Wadstumsabjdnitte an» 


270 ESSS3 Prof. Dr. Kurt Breyfig: Der Prophet des Unterganges 


legen, die weder in bem parallelen alt: 
europdijden, nod in bem eigenen neu: 
europäilhen Werdegang irgendwelche Seiten- 
tide oder Vorläufer haben und damit dann 
zur Evidenz ermeifen, daß dem Vergleich 
der Lebensalterreihen von Cingelmenjden 
und von Bolfsperjonlidfciten wirklich nur 
eine Teilbedeutung gutommt. Oder zum 
zweiten ein in irgendeinem Ginne wieder: 
holender, reiterierender Stufenlauf fegt ein: 
das Banze oder Teile der bisherigen Stufen: 
folge werden in irgendeiner Abwandlung 
von neuem durchlaufen. 

Dieje zweite CS es würde allen Bors 
ausjeßungen einer Bejchichtslehre entiprechen, 
die, volltommen ausgebildet, hier doch and 
nidt in Den EIN Umtrifjen angedeutet 
werden fann. Es gibt einige leije Anzeichen 
in dem — der römiſchen Railerzeit, 
aber auch in unjerer Gegenwart, die für eine 
ſolche Vermutung gedeutet werden fónnten. 
Im nad: dioflettaniihen Rom find es die 
Vorgänge einer immer weitergehenden Ent: 
ftadtlidung unb Agrarifierung, einer allge: 
meinen Rüdbildung der äußeren Zivilijation, 
aber aud) ber Geijtigteit felbft, einer Rück— 
bildung der Gtulptur ins Primitive, des 
Übergangs von Latifundien: und Sflaven- 
wirtibaft zu Grundherrſchaft und hörigem 
Bauerntum, eines en auffälligen Wachs: 
tums des Genoſſenſchaftsweſens und bes Be: 
meinjchaftsgedantens. Heute aber ijt es ein 
Kommunismus ganz — er, ganz kul⸗ 
tureller Richtung, der im Rücken des heu— 
tigen Marxismus und weit jenſeits auch 
noch von den Gebilden und Geſinnungen 
des neueſten und radikalſten der Sozialismen, 
des ruſſiſchen Bolſchewismus, emporwächſt, 
ganz getragen von dem Geiſt wahren Bru— 
dertums und wahrer Gemeinſchaft, der in 
allen Formen Des heutigen Sozialismus, 
aud) ben neuejten und folgeridjtigiten, bent 
ruſſiſchen, von einer Flut von majjenindivi: 
dualiftilchen Begenftrömungen und von einer 
imperiali[tijdjer Staatsalmadt faft über: 
flutet wird. 

Man wendet gegen die Möglichkeit einer 
Wiederholung der alten Stufenfolge wohl 
ein, baB dann ja and unjere Kultur auf 
alle die Langit oder eh E — Mert: 
¿euge der Technik, auf Waffen unb Via: 
Ihinen verzichten miijje. Aber bie Mertig: 
feit diejes Einwurfs entipricht etwa ber jenes 
ruhnmeihen Ginnipruhs von du Bois: 
Reymond, dag die Römer im Beli von 
Zündnadelgewehren nie von den Germanen 
hätten überwältigt werden fünnen. Sd) [telle 
mir die Wiederholungen der Menjchheits: 
geldjidjte, bie bod) nur Wiederholungen der 
Grundridjtung fein tónnten, geijtreicher vor. 

OH man aber verlegen um etn Gleidnis 
ober, wenn man will, ein jogar zu Hilfe 
tommenbes Geitenjtüd Der 9tatur, fo ent: 


finne man fic) bes feimenden, Jprojjenden, 
blühenden, reifenden, Früchte tragenden und 
endlich bod) welfenden unb in Winterfrojt 
eritarrenden Wachstums der Pflanzen: — 
es weift gegen Ende feines einmaligen Ber: 
laufes fo viele Merkmale bes Abftiegs und 
SBerfalles auf und weiß bod) von feinem 
Tod nod) Sterben. 

Dod id) Halte inne. Es folte me fein 
Gegenftúd gegen bie Spenglerjche Unpeils- 
propbetie aufgeftelt werden. obl aber 
fonnte erwiejen werden, daB die gejchichts: 
forſcherlichen Borausfegungen, auf bie fic 
fih ftüßt, in mehr als einem Betradht durd- 
aus unzuverläjfig find. Und dabei ijf die 
äußerlichfte und gröbfte, aber für Die ges 
ſchichtliche Wirklichkeit Ausichlag gebenbe 
trage nod ganz ln geblieben, 
ielde Bóltergruppe denn unjerem an Zahl 
[o úberjtarten Rulturtreije den Tod bringen 
fol; denn felbft das Ende der wahrlich über: 
greijen Rómerwelt war fein autogenes, fon: 
dern ein gewaltjames von außen ber bes 
reitetes, war nicht Tod, jonbern Mord. Will 
Spengler etwa dem dünnen und jchmal« 
brüftigen Bolfstum der Japaner und jet es 
aud) an der Spige der gejamten Mongolen 
dieje Siegerrolle zuweijen? Oder trennt er 
die Heute fajt völlig europáifierten Claven 
willfiirlid) von der Gejamtgruppe ber euro: 
püildjen Indogermanen ab und traut er ber 
weiblich weichen, jo gänzlich unzeugerijchen 
Art ber Ruffen die Fähigkeiten für diejes 
Herricheramt zu? 

Was aber heißt es nun eigentlid) auf 
einen fo brücdigen, von Wehlgriffen und 
Süden ftarrenden Bau die Krönung einer 
ſchickſalwendenden Kulturbotichaft zu grün. 
den? Regte Unvorlichtigkeit, wenn diefe 
Lojung felbft von Lebenskraft und Sutunfts: 
ftolz getragen wäre; ba fie aber nicht mehr 
und nicht weniger fih vorjebt, als die Bers 
itórung des Mutes unb der Kraft zu allen 
Werten tieferer Kultur, als die Beltártung 
der äußerlichften und feidteften Inftintte 
eines auf leere Madtordnungen oder auf 
eine ganz mechaniſche Sivilijatton und allen: 
falls auf Gewinnverteilung gerichteten Zeit» 
alters, jo ift es (Sen unb eine Berleugs 
nung bes beiten Erbes der Broßen, deren 
Namen Spengler mit jo eifrigem Lippen- 
dient im Munde führt, eine Schändung und 
SBeradjtung des einen, höchſten unter ıhnen 
vor allen: Goethe. Und was will denn alle 
Predigt von ber faujtijden Seelenmadt bes 
Germanentums, wenn diejes Germanentum 
einen Erdenlauf damit beenden foll, daß es 
bet bejter Kraft jid) fiir zum Tode reif er- 
Härt, weil Herr Spengler auf Grund eines 
zwar nicht von ihm gefundenen, wohl aber 
mipbraudlid) von ibm ins Schiefe und Ron: 

je umgewendeten Gejdidtsgedanfens es 
o befieblt? 





Blücher im Dufammen bruch 


Don Walter Don Molo 


DtttCCCCCCcCCCCoCecCCCCCCCECCCCCCCECCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCE CCC EE PIPIPIIFIIIFFIIFIFIIIIIFIIIIIFIIFIIIFDIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII3I0O 


Fortlos wartend ftehen Offiziere 
S Zb Vic K vor dem Zimmer bes fomman- 
KN LU dierenden Generals in Pom: 
AD mern. Ein forpulenter Herr in 
iod tritt dnaftlid) ein. Mit unfteten 
Augen [udjt er ein befanntes Geſicht. 
Sjajtig, duntelrotfegelt er auf einen Oberjten 
los. „Mein lieber Bülow! Sd) muB Blii- 
cher [predjen! Ihr Habt bod) bas Kriegs: 
gericht nod) nicht abgehalten ?" 

„Wir warten auf die Exzellenz! Aber, 
Herr von Rüchel, wenn id) Ihnen gut ra: 
ten darf, ich glaube, es ift beffer, Ste fpre: 
chen jeßt nicht die Exzellenz! Ste hat heute 
wieder die alte Uniform an!“ 

» 3d) muß! Lieber Romberg,” bittet ber 
verabjchiedete General, „ach bitte, um un: 
jerer ehemaligen Kameradjchaft willen, 
leben Sie doch nach, ob mich Blücher emp: 
fängt!“ 

Der junge Offizier geht in den Hinter: 
grund des Zimmers. „Wie fteht es mit 
Rombergs Bater?” 

„Er ift in der Vormode im Gefängnis 
geitorben !" 

„Ach Gott, ad) Gott." Rummervoll nidt 
Rüchel vor fid) bin. „Überall Unglüd! 
Überall! Diejes graufige Malheur! Ich 
[age Ihnen, nur der Maſſenbach war jchuld. 
Scharnhorſt unb Bneifenau find ungerecht. 
Sie find barbarti[d) in ihren Urteilen.“ 

„Ich will Rube haben,” brüllt Blüchers 
Stimme aus dem Nebenzimmer. „Und 
wenn’s der Kaifer von China ijt, er fann 
mir. .” Zugeſchmiſſen fnallt die Türe. 

Romberg madt eine bebauernbe Hand- 
bewegung. 

Berzweifelt wiſcht fid) Rüchel ben 
Schweiß vom Schädel. „Die Sade ift 
die, lieber Bülow! Der arme Schill! Sie 
willen Doch, daß er mit meiner Elfe ver: 
iprodjen war? Das Kind ift bem Wahn: 
finn nahe; fie ftirbt mir, wird heute hier 
das Andenken ihres Bräutigams ge: 
trübt . ." 

Die Türe lärmt auf unb zu. Mit un: 
heildrohendem Blid, in der verbotenen 
rot=filbernen Uniform des aufgelóften 
Zieten:Regimentes, mit etsgrauen, ac: 





ftriubten Brauen ftebt im 
Raum. 

» Geben !^ befiehlt Blücher. 

Mortlos nehmen bie Offiziere an der 
Tafel Plak; die Linke in die Schlanke 
Hüfte geftemmt, fommt Blücher mit ge: 
jtredter Rechten um den Tijd) herum. 
,SaB Er mid) in Frieden, Rüchel!“ bittet 
Blücher. Riel umflammert feine Hand; 
Blücher fchiebt ihn dem Ausgang zu. 
„Mah fein Lamento, Alter!” ſpricht 
Blücher. „Sag’ deinem Kind, der Schill 
war cin braver Mann! Heul nicht! Ich 
fann dir nicht Jagen, ob dir ein Unrecht 
gejchehen ijt. Wir Krieger müjjen immer 
ben Tred ausbaben!^ Blücher reißt den 
Aufſchluchzenden an feine Bruft; er um: 
armt ihn, er wirbelt ihn durch die Türe 
hinaus. Blücher wenbet[id). Sein weißer 
Schnurrbart zittert. Elaſtiſch, mit den 
Sporen Elingelnd wie ein blutjunger Kor: 
nett, beginnt Blücher Hinter der Reihe 
feiner’ fteif und reglos figenden Offiziere 
auf und ab zugehen. „Ich bin fein Darm: 
pionierer !^ fpricht Blücher. „Daher, durch: 
drungen, daß Seiner Majeſtät Angjthuhne: 
reien faljd) find, befeble ich,“ "Binder 
ftarrt in Bülows bewegungslojes Geficht, 
„daß ber Rittmeifter von Seydlig fofort 
aus feinem Lod) zu holen ift!” Wie ein 
Icheuendes Pferd ſchlägt Blücher einen 
Sjafen; bei eingezogenen Schultern, die 
zornige Adlernaje aufbegehrend vorge: 
ftellt, haut fid) Blücher in den Polſterſtuhl 
am Kopfende bes "des, „Schill und 
die Seinen taten mit ihrem ‚Aufruhr‘, was 
bie Ducdmäufer in Berlin |djon lange 
hätten tun müſſen!“ Blücher jtredt die 
Hand, mit wiitendem Stich zerftóBt er die 
Kielfeder, die vor ihm auf dem Tiſche lag. 
„Es ift im Sinne des edlen Toten,” fpricht 
Blüher, „daß er alle Schuld auf fih 
nimmt, Schreiben Sie! Sämtliche Offi: 
ziere, bie fid) vom Zuge Cdjills nad) 
Preußen retteten, haben bem unterzeich: 
neten Rriegsgericht eindeutig nachgewiejen, 
daß fie durch falſche Vorfpiegelungen 
Schills verführt waren. Cie vermeinten, 
im Wuftrage ihres oberjten Rriegsherrn 


Blücher 


972 EESE Börries, Freiherr v. Mündhhaufen: Ein Lied Boers B23222 323 


zu fechten! Gie find daher unfchuldig, da 

fie den Befehlen ihres Borgefebten zu ge: 

borden hatten!“ Blücher dreht den Kopf. 
Weiß man endlid) was von Lützow?“ 

„Er ift glüdlid) durchgefommen, Ex: 
geleng!” 

„Daher ift das unterzeichnete Kriegs: 
gericht,“ diftiert Blücher befriedigt weiter, 
„nach eingehender Beratung einftimmig 
zum Bejdlug gefommen, Jämtliche bejchul: 
digten Offiziere... freizujprechen!“ Blü: 
cher erhebt fih. „Punktum!“ fagt er. 
„Dred drauf.” Blüchers ſchwarzdunkle 
Augen lohen unter den bufchigen Brauen 
auf. „Schill,“ jchreit erbeierhobener Fauſt, 
„Du Held in ber Schmach! Du Vorbild! 
Edler Held: Hurra!“ 


yet | | an | | pees | | Kees | | js | | Em? | | ts | | ey / | Dees | | eee | | ey (eessen | | een | | peer | | 


Ein Lied Volkers. Don Börries, Stb. v. Münchhaufen ` 


Mir óróbnt der Helm an den Ohren, 

Wenn Hagen im Rampf Befehle 
gibt, =; 

Und hab’ unter Speeren und Sporen 

Dod) feine Stimme wie feine ge- 
liebt! 


Was immer der Tronjer begonnen — 

Es deudjte mir edel und eifern gut, — 

tind id) fab dod) am Odenwald-Gronnen 

An feinem Speere aud) Siegfrieds 
Blut! 


Hodmiitig und Freund der Sewalttat, 

So reitet er durd die umdüfterte Welt, 

Und um was feine Sauft fid) geballt 
hat, 

Das hält fie in Treue, die niemals aer: 
fpellt. — 


Wir, die wir den Lebnseio gefhworci:, 

Stehn tdglid) gelaffen vor offenem 
Grab, 

Dod) Hagen hat etwas verloren, 

Was Feiner von uns feinem Zehnsherren 
gab: 


GA) | samen | | eee | | gem | | cum | | usnm |} armen | | ae | | pen | | mem? || Besser | | E | see | | scat | | Dessen | | 


Drum, ob aud) das Herz mir erzittert, 

Als Siegfried geftóbnt und als Rriembilo geweint, 
Dod) bift du, vom Grauen ummittert, 

Der Held meiner Lieder, mein Hagen, mein Freund! 


Hart aufbäumend flirren bie Fenfter: 
Iheiben, unter dem furzen, drohenden 
Auffchrei ber Hochgelprungenen Offiziere. 
Blücher neigt den Kopf, die Hände auf 
dem Rüden, federnd, als zähle er feine 
Schritte, geht Blücher zurüd in fein 
Zimmer. 

Mit leuchtenden Augen feben [ie fic an. 

Nebenan fradht ein Piſtolenſchuß. 
Schutt riejelt ben Türjtod nieder. 

„Er |djieBt fih die Wut aus ben Fin: 
gern.“ 

„Deine Herren,“ mahnt Bülow. „Zur 
Arbeit! Stellen Sie Poften aus, damit 
uns niemand iiberrajdt, und dann los! 
Scharnhorft drängt!“ 

Cie eilen dem Ausgang zu. 


Wenn er geht durd die Gaffen der Zelte, 

So raunt's an den Feuern beidfeits um 
ihn ber: 

„Der beffere Mann, den er fällte, 

Trug büdend im Rüden den tüdiffyen 
Speer!” 


Und reiten im Heerzug die Scharen, 

So flüftert von Sattel zu Sattel es raub: 

„Der Hort, nad) dem wir cinfl gefahren, 

Er raubte ihn heimlid) der wehrlofen 
$ran 1” 


Er ift, den die Edelften fiheuen, 

Er iff von den Dornen des Grauens um» 
adunt, 

tind der treuefle aller Getreuen 

Sand felber nicht einen hingebenden 
$reund. 


Wir gaben an Plirrenden Tagen 

Dem König den Sdwertarm für billige 
Huld, 

Dod) an dunkelften Tage gab Hagen 

An Gunther den Eid: „Mein Teil fei 
die Schuld!” — 


— (med | | eee | | coy | | sosamnemy | | mem? || eener! Comas | | amc | | coats | | reece, || a || ee | | bree | | pulis 


[| pares | | mu: | ( coment || weem? | | gen | | mau | | Lass aep || cee | | eee | | pes | | Esc | | PRI | | ene | | pe 


Schmudpläße ber Großitadt 


Bon Friedrich Otto 





cas einft in andern Beitaltern 
SM reines Gefühl war, ijt heute 
SO) Y Sy, cine Kunft geworden. Co gibt 
SONAS es heute auch eine Garten: 
funjt, wo einmal die freie Seele waltete. 





Dod ebenjowenig, wiemanin bie Zukunft 


[eben fann, vermag man 
in bie Vergangenheit zu- 
rüdzugehen, und recht im 
Sonnenlicht ber Gegen- 
wart bejehen, hat aud) 
bie Gartenkunſt ihre eige- 
nen großen Reize, wie 
alles Bewußte, wenn ed): 
tesEmpfinden dießrund: 
lage ijt. Der Gartendiref: 
tor einer großen Stadt ijt ein Zauberer, 
der, felber meift unfichtbar, feine Riinfte 
in Blüten und Düften und gärtnerijchen 
Anlagen äußert und wie der ganz große 
Künftler durch fein Werk und feine Wir- 
fung uns ganz feine eigene Perjon verge]: 
jen macht. Es gibt zwar heute nod) gebo: 
rene Gartenjtädte, wo Überlieferung und 


JS 





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Gefühle vorherrichen und eine Verwal- 
tung für gürtnerijd)e Anlagen überflüjlig 
ift. Aber eine Broßjtadt, die ihr Dafein 
am liebjten im Turbinentempo genießt, 
würde ohne die Gunjt bejonders bejtellter 
geen ehr bald ohne gärtnerijchen Schmud 
bleiben und baburd) ihre 
zahlreichen nicht vorhan- 
denen Schönheiten um 
eine beträchtliche ver: 
mehren. Somit ijt jeder 
Grofftadt ein Garten: 
architeft vonnóten, und 
erfreulicherweije gibt es 
wohl aud faum eine 
Gropitabt in Deutjch: 
land, die nicht bie Ausgeftaltung ihrer 
gärtnerijchen Anlagen in berufene Hände 
gelegt hätte. Dieje Gartentiinftler find 
zugleich Gelehrte ihres Fachs. Sie müffen 
nicht nur die Blumen und ihr Mejen 
fennen, fondern aud) ihre Wirkung in 
dem wechjelnden Gelände beherrjchen, 
müſſen flimatijde, Iofale, ja nationale 


⸗ —. Kalbach, 


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Ki 


|| Einfarbiges Blumenbeet in ber Schloßitraße zu Charlottenburg E] 





Sé Eine Parfanlage entítebt in ber Vorftadtwiifte x 


Eigenheiten berüdjichtigen und vor allem 
ein untrügliches Gefühl für das Echte in 
fid) tragen. Ihre Augen haben die hiſto— 
riichen Garten Europas gejehen, bie von 
Verjailles, Potsdam (wo Schinfel unb 
Lenné den (ett wahrer Gartenfunjt 
nod) einmal aufleben ließen), Trianon, 
Florenz, Rom. Gie fennen die heutigen 
Bartenjtädte und wiljen von bem, was 
in Blumen und Biijden ausgedrückt wer- 


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den kann, aber nichts vermögen ſie auf 
die Gelände zu übertragen, deren Schmuck 
ihnen anvertraut iſt, denn jede Aufgabe 
verlangt eine beſondre Löſung. Man 
überblickt dies am beſten, wenn man die 
Entſtehung der Garten einer Großjtadt 
einmal an ihrer Quelle aufjucht, im Büro 
eines Gartendireftors, wo alle Pläne, 
alle Modelle, alle Zeichnungen beijammen 
find und man aud) die Mittel tennen ` 


Kéi d Sat 


Lët 
Xo? 


Dem Standbilde (Gánfelifel) angepaBte Gartenanlage an ber Trautenauftraße in 
Berlin: Wilmersdorf 





lernt, die dieſen Perjönlichkeiten zur Ver: 
fügung jtehen. (rit bann hat man den 
vollen Eindrud. 

Co hatte id) fürzlich Gelegenheit, in 
eine jolche geijtige Blumenjchmudzen: 
trale eingubringen, in das Büro ber Bar: 
tenverwaltungder Stadt Charlottenburg, 
des Gartendireftors Barth, der mid) aufs 
freundlichjteindiefoüber: 
aus angenehme und, wie 
id) zu meinem halben 
Cd)yreden fah, bod) recht 
\chwierige Materie ein: 
führte. Mit "ect hob 
er hervor, daß die deutſche 
Großſtadt trot allem aud) 
heute nicht auf öffentliche 
gärtnerijche Anlagen ver: 
Zichten fann, wenn aud) 
3. B. Berlin und fet: 
nen Vororten, bejonders 
Charlottenburg, Mil: 
mersdorf, Schöneberg, 
heute nicht mehr die Dit: 
tel wie einjt zur Ver: 
fügung fteben. Früher 
fonnten ganze Straßen: 
züge parademäßig mit 
endlojen Blumenbecten 
bejät werden, wie 3.8. 
in Charlottenburg etwa 
fünf Kilometer im Zuge 
der großen SHeerjtraße: 
Hardenberg:, Bismard: 
jtrake, RaijerdDamm. Dieje 

blütenflammenden 
Ströme find auf fleinere 
Plage zujammengezogen 
worden und wie Juwelen 
im Hoffnungsgrün der 
Alleen eingelagert. Es 
jpridjt für das jogtale Empfinden des 
Gartendireftors Barth, daß er fein Fül- 
horn nicht über einige wenige Parade: 
plage ausjchüttet, jonbern über bie eigent- 
lichen Erholungspläße der Bevölkerung, 
wo er die Blumen fih in ihrer innerften 
Eigenart auswirken läßt. Sämtliche far: 
bige Bildbeigaben diejer Zeilen find Zeus: 
gen feiner Fähigkeit, bem Eigenleben der 
Blumen und Stauden gerecht zu werden. 

Da dem Großjtädter ber Hausgarten 

jo gut wie ganz genommen ijt, vertritt der 





Gartendireftor den Blumenvater und 
achtet darauf, daß die öffentliche Anlage 
vom zeitigjten Frühjahr an bis in ben [paz 
ten Sjerbjt hinein möglich]t abwechjlungs= 
reich und angiehend ijt. Hier ijt er dem 
Vorbilde unjerer Urgroßpäter gefolgt, die 
bas ſchöne Leben ihrer Gärten aus einer 
Miſchung von Stauden und Sommer: 


Liwenmaul im Zuge der großen Hreritraße—Raijerdamm zu Char: 
lottenburg. Wirkung roter und gelber Farbentóne 


blumen hervorriefen. Auf folchen gemifch: 
ten Rabatten find Blumenzwiebeln, Al: 
penpflanzen und Sommerftauden ver: 
einigt, und in natürlicher Entwidlung 
vollzieht fic) auf ihnen bas Wunder eines 
wahren Gartens. Der Bejucher folder 
Anlagen findet alfo nicht eines Morgens, 
daß fid) in aller Frühe eine Reihe von 
magijtratlichen Heinzelmännchen über bie 
Beete hergemacht, Altes entfernt und 
Neues für ein paar Wochen angebracht 
hat, fondern er verfolgt das Werden, 


Wadjen und Bergehenderverjchiedenften natürlichen Verlauf nimmt und orga: 
Pflanzen während der ganzen Zeit. An nde Wirkungen ausjtrahlt. Die Wir: 
Stelle der wechjelnden Beete mit ihren fung der plößlich wechjelnden Beete ift 
Icharfen Senjationen, thren blen: eine Überraſchung, bie nach der 
denden Feuerwerkseffek _— nächiten verlangt. Den 
ten, ift ber wirkliche 4 Garten aber liebt der 
Garten getreten. 4 tägliche Befucher, er 
Man fónnte nun PM wünjcht nicht, dah 
meinen, etn Gar: Á À er über Nacht 
ten  wadje Á - ausgerijjen 


ſchließlich von 

















und durch eine 


jelbjt, und es andere , De: 
manbraude [ES foration“ er: 
feinen Gar: jebt werde. 
tendireftor Beete wed): 
dazu. Uber feln fann 
es ift — Joe 

umgefehrt. mancher, 

Es ift viel y wenn ihm die 
leichter und viel P entiprechenden 


" Borratstammern 
Y in Gewächshäus 
jern zur Verfügung 


weniger  funjt: 
voll, bie Bevilfe- 
rung von Zeit au Zeit ^ 
Durch neue Bectpilan: ſtehen. Etwas anderes 
zen zu überwältigen, als ijt Die Frage, ob nicht bas 
einen jchönen Garten Teppichbeet in —fünjtle: 


wachjen zu lajjen, der einen ^ Den mern l rijdjer Gejtaltung, etwa 





An Stelle von Vorgarten tescalfentótmige und in bie Gartenanlagen überlaufende Plabgeftaltung 
in Berlin: Wilmersdorf 





Bweifarbige breite Blumenbeete, bei denen bie Wirkung der Ergänzungsieiten blau-orange 
zur Geltung tommt. Studentenblumen und Ageratum am Krantenhaufe zu Meftend 


wie es Bruno Baul einmal verjuchte, feine 
Auferjtehung feiern wird. Der natürliche 
einfache Garten, wie ihn Direktor Barth 
in Charlottenburg und Gartenarditett 
Thiemein Wilmersdorf pflegen, verlangt, 
bap jedes Pflanzenindividuum bem Gärt- 
ner vertraut ijt und daß bas Werden und 
Welfen diefer Pflanzen in einem Rhyth— 
mus erfaßt wird, Der ftets neben ver: 
blühende Arten bas neue Leben jtellt. 
Nur ein folder mit Verftándnis und Liebe 
überwadhter Garten entfaltet feine ganze 
Schönheit. Die Höhe der Stauden, Die 
garbe ihrer Blüten, all das will wohl 
gegeneinander abgewogen fein, wenn 
ber Garten gedeihen und jchön fein foll. 
Manchmal wird der Aufbau der Blüten: 
ftande, manchmal die Farbe die ergán: 
¿ende Wirkung ergeben, oftmals aud) 
der Hintergrund, bas Behölz, eine Mauer. 
(fine gute Staudenrabatte macht einen 
jo jelbitverjtänd: 
lichen Eindrud, 
daß bie Laien, 
bejonders die 
Architekten met: 
tens glauben, 
jie fet mühelos 
entitanden und 





erjcheine jedes Jahr in gleicher Pracht 
von felbft wieder. Das ift ein großer 
Srrtum ; bie Anlage derartiger Rabatten 
ift, wie Direktor E. Barth jchreibt, viel- 
mehr eine der [djmierigiten Aufgaben, 
die wir auf dem Gebiete ber ange: 
wandten Gartenfunjt zu lófen haben; nur 
der mit allen Einzelheiten der Pflanzen 
vertraute Gärtner und Pflangenfenner 
fann ihr gerecht werden. Wenn die heu- 
tige Jugend immer fo gute Menjchen: 
gärtner gehabt hätte, wie dieje Blumen: 
anlagen, würde fie vielleicht ihre Jer: 
törungswut nicht fo oft an den heimlich 
jo wohl gepflegten Stauden auslajjen, 
und die Großjtadtgärtner haben einen 
\chweren Kampf gegen diefe Verwabr: 
lojung zu führen. Tod) [chlimmer faft dt 
die Rüdjichtslofigfeit der Diebe, und nie: 
mand jollte jid) jcheuen, öffentlich für 
feine Bärteneinzutreten, wenn fie von Ber: 
jtérern allerart 
gefährdet find. 
Ineinem®Bor: 
trag, den Gar: 
tendireftor 
(Y. Barth vor 
längerer Beit auf 
der  Sauptver: 


fammlung der „Deutjchen Gejellfchaft für 
Gartentunjt” gehalten Bat, fonnte er auf 
die merkwürdige Tatjache hinweijen, daß 
der Gartenfiinftler durchaus nicht immer 
in der Blume jelb[t bas ebeljte Material 
gejehen hat. Nod) vor einigen Jahren, 
als die Garten nod) melt im [ogenannten 
landjdaftliden Stil angelegt wurden, 
hat man [ie fehr vernachläfligt. DieBlume 
entzieht jid) aller: 
dings in ihrer 
Verwendung 

allen feſtſtehen— 
den allgemeinen 
Regeln. Sie ver: 
langt Erfahrung und Unjdhauung und ver: 
breitet richtig angewandt Leben, róblid): 
feit und Unterhaltung, daher ijt der Blu: 
menjchmud aud) fein Luxus, fondern von 
großer jozialer Bedeutung, und wo [olde 
Blumengärten jorgfältig angelegt und 
unterhalten werden, hat man die Erfah: 
rung gemadht, Daßgeradedie Arbeitervier: 
tel die Anlage mit großem Eifer dt ben. 

Das ziemlid) reichbewegte Charlotten: 
burger Gemeinbegelünbe gejtattet die un: 
gezwungene, freie Anordnung von Blu: 
men in mannigfachiten Formen, Jet es als 
Malduntergrund, als Gebirgswieje, als 





Wieſe bes Flad)landes, als Borpflanzung 
von Gebólzgruppen, als fünjtliche Fels: 
partie oder als Schmud großer Plage. 
Leider find gerade die Blumen jehr teuer, 
jo daß mit den Mitteln immer febr haus: 
gehalten werden muß. 

Wenn uns wirklich jdjóne Garten, wie 
wir fie heute banf bem Emportommen 
bedeutender Gartenardjiteften au |eDen be- 
fommen, beinah 
als etwas Selbjt: 
verjtändliches er: 
Icheinen, fo ahnen 
die meiften nicht, 





daß erft jahr: 
zehntelange und erbitterte Kämpfe diefe 
Anlagen ermöglicht haben. Bejonders 
haben die Bartenfünftler früherer Zeit ver: 
juht, ihren Stil ohne Riicjicht auf bie 
Architektur zu verwirklichen, wobei nod) 
hinzufam, daß man häufig den deutjchen 
Garten als etwas Minderwertiges anjah 
und allerlei ausländiſche Gartenjtile nad) 
Deutſchland zu verpflanzen verjuchte. Es 
ijt befannt, daß wir es nur einigen führen: 
den Garten: und Runftwarten verdanfen, 
daß wir heute wieder einen deutjchen 
Garten haben. Bezeichnenderweije mußte 
man bis in bie Zeit bes beut[d)en Mittel: 





Gemiſchte Rabatte von Stauden und Sommerblumen auf zem Guftav : Adolph: Blas 
in Charlottenburg. Frübjahrsbild 


alters zurüdgehen, um 
aus überlieferten Daritel- 
lungen Aufjchlüffe zu er: 
halten, wie ber deutjche 
Garten einft ohne fremd: 
ländiſchen Einfluß aus: 
gejehen bat, und dieje mit: 
telalterliden Roſengär— 
ten find nicht felten wie: 
der in unjern Tagen auf: 
erftanden. Dian denfe an 
den Frauen-Roſenhof in 
Köln, den Profefjor Ol: 
brih uns als etn vollende-. 
tes Gartenfunftwert bin: 
terlajjen hat. Aud) Pro: 
fejjor Schulze-Naumburg 
hat durch jeine berühmten 
Beijpiele und Gegenbei: 
jpiele dem guten, alten 
Garten wieder zu feinem 
Redht verholfen, denn 
aud) bie Zeit der höchſten 
Gartenfultur, das Baro, 

ift heute nur noch eine 

gejchichtliche Erinnerung. 

Seder begreift, daß ein 

italienischer Renaiſſance— 

garten wie der Giardino 

Giufti in Verona oder 

die Garten von Frascati, 

Tivoli, Albanoufw.,jeien 

fie aud) nod) jo ſchön, fid) 

nicht nad) Deutjchland übertragen laffen, 
und daß der Berjuch, etwa einen 3yprej: 
jengang aus dem alten Garten im Quiri: 
nal mit Hilfe von LXebensbäumen in 
Deutichland erfteben zu laffen, nur lächer: 
lich wirken fann. Es hat aber einer hef- 
tigen Gartenpolitif bedurft und ber zu: 
jammengefaften Arbeit ganzer Genera: 
tionen von Gartentinftlern, ehe diefe 
jelbjtverjtändliche Auffaſſung fid) durch: 
gelebt hat. Die Verirrungen find um: 
jo unbegreiflicher, als von jeher über 
ganz Deutjchland verteilt die herrlichiten 
Gärten ein verſchwiegenes Dafein geführt 
haben. In Corvey liegt Hoffmann von 
Fallersleben begraben, fein Entel hat 
uns eine Darjtellung Dinterlajjen, Die 
bie Poeſie diejer in Defter Ruhe Iie- 
genden Gärten ` anjdjaulid) jchildert: 
„Ein verjchilfender Teich träumt Hinter 





Kee d ee Tulpenbeet zeigt die Gegenüberftellung von rot in zwei 
Schattierungen. Stuttgarter Plat in Charlottenburg 


dem Schloffe, in deffen Röhricht die Blek- 
hühner flagen. Tief in den Bäumen 
per|tedt liegt ein altes Barodhäuschen 
mit weißen Jenfterfreuzen und grünem 
Weinlaube, einer breiten Freitreppe, 
fegelförmig gefchnittenenlorbeerbäumen, 
mit verjchnörfelten Wappen und ge: 
Ichweiften Gefimjen. Hier blüht ein Gar: 
ten in fommerlicher Fülle. Die Rofen 
verhauchen einen ftarfen, fügen Duft, und 
ihre abgefallenen Blätter bilden große, 
leuchtende Farbentupfen auf dem grünen 
Rajengrunde. Weitblütige Vialven ftehen 
dort, von Bienen umſchwärmt, elfenbein: 
farbene Spiräe ragt auf dünnen, roten 
Stengeln hervor, und mattblaue Glyzinen 
bláben fid) an gewundenen Stielen. Aus 
meitau[ge|perrten, tiefroten Blüten: 
rachen züngelt zarter Staubfäden zittern: 
des Gewirr, und ber ſchwermütig jüpe 





282 eeh Otto Stoelll: Keeser 


ernd in Die Kabine laufen. Er genoß alle 
Phajen bieler bewegten Herrlichkeit, wie ein 
Fachkundiger etwa im Mitroftop bie Jn: 
fuforien durcheinanderwirbeln fiebt, und 
überlegte dabei, ob er eine Karte löjen 
und binunterfteigen folte, um au baden; 
heiß war es, und unten ergab es fih etwas 
leichter ... Was denn? Er wartete immer: 
hin gelajjen darauf, als fei es [djlieBlid) 
dod) nur eine Beläftigung. Es gehörte zur 
Gade, zu einem normalen Commer[djau: 
jpielerleben. Der Winter! — Sprechen wir 
lieber nicht davon, er hatte nod) fein foltdes 
Engagement. Biele Briefe waren unbeants 
wortet geblieben. Aber wer denft an den 
Winter, folange die Heinen Fräulein da — 
im Badefoftiim find fie alle fo Hein, lauter 
Kinder Evas — plätjchern und einander zu: 
winten und ihn meinen. Schaut denn diefe 
Sdmadjtende, Mandeldugige, die in ber 
weißen Gonne, die Arme über dem Knie 
gefreugt, gerade unter ihm [ibt und gelegent: 
lich ihr tadellojes Bein, ihren Fuß mit den 
Heinen, parallelen rundlichen Zehen betrad: 
tet, um in den Paujen, welbhe ihr Boll: 
fommenbeitsbewußtjein zuläßt, aufgublingeln, 
etwa zur Eonne oder zu ihm hinauf? Kann 
es darüber eigentlich eine Frage geben? 
Und wenn ihr die lebhafte Braune, die fo 
tut, als wenn fie fünfzehn Jahre alt wäre, 
entgegenladt, die Zähne zeigt und etwas 
jchreit, einen Namen ober um den Kabinen: 
ichlüffel oder eine Verabredung für heute 
nachmittag, fo meint aud fie nur ihn. 
Wink aud) fie nicht nad) ihm, wenn fie vom 
Wetter |pridjt? Er vertritt die Himmels: 
gegend und Windrichtung und jegliche fonftige 
Werabredung. 

Die Badenden wiljer in der Tat, wer der 
intereffante Mann da oben ijt. Die Runde 
verbreitet fih fo wie eine Sfandalnadridt 
aus der Stadt oder wie Wolfen am Sim: 
mel, Mit einem Mort: man fennt ihn, man 
ift auf ibn gejpannt. Was ijt er für einer, 
ein „großer Künjtler"? Nein, das braucht 
man niht zu glauben, daß ein Mütter: 
wurzer fih juft in eine Schmiere verirren 
würde, objdon aud folde Wunder vor: 
tommen. Aber was ift er für ein Menih? 
Kann man mit ibm was anfangen? Mie 
würde er [id) beijpielsweije beim Tanzen 
benehmen? Gie [djauen zu ihm hinauf, in: 
dem fie die Augen mit der Hand bejchügen, 
angeblich vor der Sonne ; fie unterhalten [id) 
über ihn, fie machen Wie, fie tun, als ob 
De fpotteten. Go tun fie immer. Das [hadet 
gar nichts, Spott nicht, nur Mitleid tut ihm 
web, Spott, Mädchenſpott ijt jogar eine Er: 
leichterung für das Spätere. Er hört diefes 
Laden immer gern, obgleich es immer fo 


ähnlich flingt wie diefelbe Rolle, bie von 
verjhiedenen Perjonen gejpielt wird. Den 
Text fennt er auswendig, aber die Auf: 
faijung ift fo verjdieden, Beute hier, in pier: 
zehn Tagen drei, vier Stunden weit weg, 
turg fünf», jechsmal in einem Sommer, tann 
man rechnen. Im Herbſt geht es [don 
Ihwieriger zu, in den Heinen Städten bei 
den anfáffigen Hausfrauen, nur bie Zommen 
bann in Betradt. Dieje Hausfrauen aber 
haben Mitleid, gemildjt mit Grauen, und 
tragen Flanel. Die Angelegenheiten nehmen 
dann einen ängftlicheren Verlauf, zwilchen 
Küche und Treppe, es gibt allerhand Hinder- 
nijje, Unannehmlichkeiten, Priigeleien, Szenen 
der Wirklichkeit fallen vor, es wird aud) 
ion fühl, man ſchläft im Theaterfaal ober 
in Heuböden, das Gewand wird abgenüßt. 
Die Wintergarderobe erneuert fih ſchwie— 
tiger. Überhaupt der Winter — was fhert 
ihn diefe troftlofe Zeit. Hol’ fie der Beier! 
Ja, was die Frage betrifft, ob cr baden 
jolte? Es war ihm heiß, aber eine Krone 
Eintrittsgeld [bien ihm immerhin verſchwen— 
det, er fonnte ja |püter am Geeufer weiter: 
geben und ohne jyormlidjfeiten die Kleider 
am Ufer ablegen, ins Waffer fpringen und 
ſich's wohl geldjeben laffen. Die Schmach— 
tende gab fic) gar feine Mühe, den Ein: 
drud zu verbergen, den er auf fie gemacht 
hatte, jdjon teilte fie ihre Mufmertiamteit 
nicht mehr zwiſchen ihren Fußjpigen und 
ibm, jondern amijden bem blauen Himmel 
und ihm, cin entjdiedener Fortſchritt. Er 
raudte weiter, Er ging aud auf dem 
Wege auf und ab, um andern Bliden gu 
begegnen. War er etwa auf fie allein ange: 
wiejen? Da fet Gott vor! In der „Sailon“ 
hatte er dic Wahl. 

Die Schmadtende war in einer Rabine 
per|djmunben. Nun galt es aufgupajjen, ob 
fie vom Bade Hierher fam, d.h. wann fie 
fam, denn es blieb ihr ja feine Wahl. „Durch 
diefe boble Gajje"^ — Gin Bärtnerburjche 
trottet mit einem Korb Rofen vorbei. Rind 
Gottes, |djaut ber aber blöd’ drein! Er 
grinjt, beim lebendigen Gott, er grinft. Aus 
Verehrung oder aus Dummheit? Dem 
Touriften judt cs in den Fingern, fei es 
zu einer ODbrfeige oder nad) ben Rofen. 
Nein, er fann nicht mehr Einhalt tun, er 
pfeift Dem Jungen zu, gebieterijch, er wintt 
ibn berbei, er jchneidet ihm eine drohende 
grake, |o daß der Minderjährige cin jchiefes 
Maul zieht, er faBt ben vollen Korb an und 
prüft bie Rofen, er wählt mit ficherer Hand 
bic [djón|te, indejjen ber Jammerfrige für 
alle zittert, eine gelbe, leicht zugelpigte, in 
fih geſchloſſene wählt er, ba, darauf veritebt 
er fic), cine wilde, feu|dje, eine fromm: 


Lee Die Sdiniere sees ee 283 


abenteuerlide Marcchal Niel. Er benft an 
die leicht gebräunte Haut und an das glatte, 
fanfte Haar der Schmadhtenden da unten. 
Dafür paffen gerade diefe Rofen. Er wirft 
dem Jungen eine Krone zu unb gibt ihm 
einen leichten Stoß, um ihn in Bewegung 
zu feen. Er hält bie Marehal Niel vor: 
fihtig gwijdhen Daumen und Zeigefinger. 
Endlich fommt bie Perjon in dunfelblauem 
Matrojentleid mit gelblidem Kragen — 
alle Achtung! — Das glatte Haar fallt 
offen über ihren [Hónen gefühlvollen Rüden, 
fie fteigt Iangjam die fteile Holgtreppe Bin: 
auf, Schritt um Schritt, fie überlegt fic in 
ihrem Gang, fie hält den Kopf geneigt und 
blidt zur Erde, mit der Rechter [tibt fie jid) 
auf das Geländer, Ach, wie lange fie braucht 
zum Morüberfommen! Gie überlegt das 
Borüberlommen. Und wie atemlos ift biejer 
Verzug! Weile mit Eile. Ganz. zwedlos, 
ganz überflüjfig überlegt fie, aber fie hält 
es für unerläßlih, fo wie fie früher ihre 
Aufmertjamteit zwiihen ibm und ihren 
Seben|piben zu teilen für nötig erachtet 
batte. Sie überlegt ibn. Go ift es. Jebt 
hat fie endlich den Weg erreicht, fie geht, fie 
tommt näher. Warum gar fo langjam? 
Mod immer den Kopf gejentt?! Endlich, 
einen Schritt vor ihm, hebt fie den Kopf, 
als hatte fie erft jebt gejpürt, daß jemand 
vor ihr, in ihrem Wege ftebt. So ift die 
vorgejchriebene Szene! Regiebemerfungen 
der weiblichen Piyche, benft der jugendliche 
Held des modernen Enjembles! Aber jhon 
überreicht er bie Rofe. Es gibt feine Wahl, 
wenn jie vorbei will, als ihn anzujehen und 
bie Rofe und feine ganz zwangloje, leichte 
Gebárde, welbhe die Rofe anbietet. Es 
fommt wie immer. Gie errötet bis zu den 
Ihwarzen Haaren hinauf, fie wird ernit, fie 
überlegt ihn, fid), bie Rofe, den Meg an 
ibm vorbei, bie Leute im Bade unten, ob 
es wer Debt, überlegt bligjchnell, daß es nur 
eines gibt, die Roje nehmen, um unbemertt 
daponzulommen, denn jede Weigerung tónnte, 
müßte zu weiterem führen, das möchte auf: 
fallen, und fo fort. So langt fie nad) der 
Roje, blidt ihn aus den mandeljörmigen, 
lijtig gejchligten, jchläfrigen, ſamtſchwarzen 
Augen an, lächelt, wobei fie eine Reihe 
leuchtender Zähne zeigt, natürlich, dazu ift 
bas Ladeln da, für fie, für ihn, faBt ihren 
Rod fefter mit der Linten, mat eine leichte, 
ihmiegjame Wendung an ihm vorbei, einen 
Zentimeter verfehlt, und ihre Hüfte hatte 
thn geftreift. Sie nidt langjam, deutlich 
und bod) nur um einen Deut, während fie 
mit der Rechten die Roje hält. Endlich ijt jie 
an ibm vorüber, er glaubt einen Atem von 
Kühle, einer gebabeten, frijchen, braunen 


Haut zu [püren, einen Nixenhaud), er Hort 
das leije Raujden ihrer Kleider. Gie geht 
langjam weiter, er fiebt [ie mit der Rechten 
die Roje empor an ihre Bruft heben. Gte 
Hedi fie dott an, am richtigen Plage. 
Mus: 

Am Nachmittage wird beim Kaffee an 
den &ijden vor dem Hotel das Ereignis 
der Caijon bejproden: Modernes Enjemble 
der Madame Üiberader. Heute: „Der Sohn 
der Wildnis”, Dbramatijdes . Gebid)t von 
Friedrih Halm. Bei der Parthenia ftanden 
drei Kreuzen. Unten waren fie erflárt; 
Madame Friederife Therefe Überader als 
Debut. Dak man gehen wollte, war: jelbit» 
veritändlih; man verjprad jid) auf jeden 
Fall Unterhaltung. Der Baron Bühl, ein 
ftattlicher Fünfziger, ber hier ein großes Gut 
hatte und bie meifte Zeit des Jahres bier 
verbrachte, ein weltfundiger, funftfreundlicher 
Herr, fagte: „Sch möchte lieber nicht bins 
gehen.” „Warum niht?” bedrángte man ibn. 
„Ih tenne diefje Schmieren. Sd) habe [Hon 
jo viele gejehen. Elend und Armut, Un» 
fahigfeit und Eifer, Pathos, bas jid) läder: 
lid) macht, ein Unternehmen, bas auf den 
Hohn, auf bie Schadenfreude der Suldjauer 
berechnet ijt und fid) Dabei bod) jelb[t durch— 
aus ernft nimmt. Cine Runft, die wirklich 
nad Brot, nad) dem armieligiten Stüdchen 
trodenen Brotes geht und dabei zu den 
Sternen ſchmachtet. Sie fpielen die ‚Räuber‘ 
mit fünf Perjonen, und nicht nur Franz 
und Karl Moor werden von einer, fondern 
auch die ganze Bande.von einer einzigen 
andern gegeben. Sie haben nichts gelernt 
unb alles vergejjen. Als fie jung waren 
und Hoffen durften, war es ganz zuläſſig, 
aber nad) einem Dugend Jahren? Gie 
weinen unb briillen und reißen Rulijjen und 
ſchämen fic nicht im mindeften, ebenjowenig 
wie wir, daß wir Menfchen ausladen, die 
es jo ernft meinen und fich jo treu bemühen. 
Sie müſſen zujehen, wie wir lachen, bei allem 
Schweiß unb im Angelicht des Souffleurs 
auf uns Publifum aten. Dabei tónnte es 
bod) fein, daß fie zu etwas anderem, Hr be 
licherem taugten, wobei ihnen wohl wäre, 
wobei [ie mehr verdienten und endlich aus 
der ewigen Gorge herausfämen. Aber das 
wollen jie ja gar nicht, wollen nur ‚ihre 
Runft' — ihr Hundeleben!“ 

Die Schmadtende, die nod) die gelbe 
Rofe on ber 3Brujt trug, jagte nachdenklich: 
„Und dod haben bie meiften großen Shau: 
jpieler jo angefangen.“ Gie fentte rajd) bte 
Wimper, den Iangbefraniten Vorhang über 
dem dámmerigen Schauplaß ihrer Gefühle. 
„Aber fie haben nicht fo aufgehört.“ , Biel: 
leicht gibt es auch heut’ einen Helden für 

19* 


284 PSSSSSSSESSESESA Otto Stoeſſſ: sees 


bie ‚Burg‘ zu ſehen!“ „Nun und wenn! 
Um fo trauriger, daß er dann für uns bier 
[pielen muß.“ „Sch freue mid), bevor wir 
fortfahren, nod) den Spaß zu haben,“ fagte 
die Schmadtende, die mit einem gidt: 
brüchigen alten Herrn hier war, ihrem reichen 
Ontel, der ihre Launen und Einfälle mit ger 
lajjenem Witze hinnahm. Site wollten bald 
nad) Ling und von dort mit dem Sdiffe 
nad) Wien reifen. 

Am Abend fand fid) der Theaterfaal bes 
Eintehrgafthofes „Zum braunen Ochſen“ ges 
ftedt voll. Der „Braune Ochſe“ war ein 
altes Bauernwirtshaus, das nur von Vieh» 
bünblern, Gchwerfubrwerfern im Borüber: 
ziehen, fonft von ben Ortsanjájfigen bejudt 
wurde, Die Sommergáfte famen für ge: 
wöhnlid nit bin. Es lag in einer Ede 
des Marktes, an ber StraBentreuzung, weit 
weg vom Gee und von den hellen Lands 
bäujern und vornehmen Hotels. ber es 
hatte eben den Theaterjaal, das heißt eine 
geräumige Diele, wo ein Podium aufge: 
ſchlagen war. Wud ein Vorhang, rot mit 
goldener Lyra, war vorhanden und ein 
Gouffleurtaften. Im Winter wurde bier 
getanzt. In den vorderen Reihen faken die 
hodgeehrten Zufchauer, bie Sommergäfte, 
die gelangweilten jungen Herren in weißen 
Anzügen, mit Nelten im Rnopflod, bie ver: 
heirateten Damen mit den Batten, die jungen 
Mädchen. Weiter hinten bas weniger hod: 
geehrte, aber das eigentliche PBublitum, bas 
für eine Krone Entree minbejtens einen 
Kunftgenuß fürs Leben gewärtigte und fand. 
Es fam darauf an, für wen gejpielt wurde, 
Auch da gab es wieder „Schichten“ der Ges 
jelljdjaft: den beleibten Tierarzt mit Gee 
mablin und Töchtern, den Biirgermetfter, 
feines Gewerbes Fleiſchhauer, den Bäder, 
den &ijdjler, ben Schuhmachermeifter, alle 
mit ihren Frauen in ſchwarzen Kleidern mit 
goldenen Brojden und modernen Hiiten. 
Die Fräulein in den erjten Reihen trugen 
Dirnditleider und benahmen fih gar nicht 
zurüdhaltend. In den hinteren Reihen, wo 
man nod) wußte, was fih gehörte, befliß 
man fic) wiirdiger Zurüdhaltung. Nod) 
weiter hinten waren die Namenlojen, bie 
Bauern in [d)meren Stiefeln, Rnedhte, Mägde, 
die aud) jdjor wieder mit dem Dirndl: 
gewand ein ungezwungeneres Benehmen vers 
einbar fanden unb ficherten, Kinder, viele 
Rinder von jechs bis vierzehn Jahren, [tan: 
ben ganz hinten, blonde, blauäugige Einfalt, 
vielleicht wartete die eine oder andere auf 
ben Funken, ber von der Bühne in ein Herz, 
in ein Gehirn fallen fonnte. Wer weiß? 
Die meijten aber Iutjchten Erdápfelzuder. 
Ein Rlavierjpieler, der zu follen Gelegens 


heiten immer verfügbar war, Happerte etwas 
wie eine Ouverture. Dann begann Die 
Komödie. 

grau Friederike Therefia fiberader als 
Parthenia. Ihre Tectofagen, es waren nur 
zwei wilde Männer, bie Bauernlammfell- 
jaden mit nach außen gewendetem Futter 
umgebángt und mächtige Bárte trigen, 
jagten immer ,Bardenia”. Die edle Zäh— 
merin bes Widerjpenftigen hatte ein roja 
Tarlatanfleid, das ihr nur bis an bie Knöchel 
ging und mit geringen Veränderungen jeden 
falls auch im modernen Luftfpiel als Balls 
trabt ber „Naiven“ verwendet zu werden 
pflegte. Borfimishalber — für den Salon: 
gebraud) — war es unter dem Halje — zu 
weit darunter — ausgelchnitten und mit 
Rüſchen bejebt, aus denen fnodjige Schulter: 
blátter und ein langer Schwanenhals — 
einer der Herren nannte ein genießbareres 
Federvieh — hervortraten. Auf diejem Halje 
laß ein großer, forgfáltig frijierter Kopf mit 
gebrannten 2óddjen, ein altes, abgebraub: 
tes Gejid)t mit großem, vom vielen langen, 
lauten Gpreden ausgearbeiteten Munde. 
Der Mund und die noch ganz anftändigen 
Zähne bejaBen ohne Zweifel Ausdrud. Den 
Ausdrud von müder Schwärmerei, von ob, 
geraderter Gehnjudt, von alltäglicher Bes 
rufsleidenichaft, Brotjorge und Trog und — 
Gefalljudjt. Ihre Augen, braun und fling, 
[aben gewijjermaßen iiberallbin, ob alles 
reit war unb am Plage, Publifum, Mit: 
jpieler, Requifiten, Petroleumlampe in der 
Mitte — fie raucht bod) wohl nicht? — und 
Kerze im Gouffleurtaften! War der alte 
Glagtopf verläßlih? Ihre Arme, bis zu 
den Schultern bloß, [dienen fehnig und 
bager, die Ellenbogen [tadjen jpit hervor, 
unb am Halfe hatte fie viele Falten. Übrigens 
aud an den Schläfen und Augenwinteln. 
Sie lächelte als junge Griedin wie eine 
Giinfgehnjabrige, fie ſprach ihre Berfe, wie 
man vor zwanzig Jahren mit zwanzig Jabren 
gefíblvuol und jentimentali|d) redete. Die 
Bühne war febr eng, taum zwei Leute hatten 
hintereinander Blak. Gie mußte fi) nad) 
ihrer eigenen Infzenierung unb Borjchrift, 
von ber fie fid) Wirkung verjprad, in ber 
Ede niederlajjen. Die Dede jtand niedrig 
über ihr. Friederike Therefia war zu bod 
gewadjen, beim „Schreiten“ jchien fie die 
Wolfen zu berühren. Go waren die Bors 
züge ihrer Bühnenerjcheinung hier nadteilig. 
Wher wenn fie jab, bodte und ihr finniges 
Körbchen hielt, aus weldjem Ingomar die 
Blumenfprabe lernen jollte, erwies fid) ber 
Raum auch wieder als zu |djmal, [te mußte 
alfo die Beine über das Podium herab» 
hängen laffen, was einerjeits auf moderne 


ses SC Die Schmiere sees sl 285 


unmittelbare Wirkung berechnet war, aber 
anderjeits wieder zu Bemerkungen des vor: 
derften PBublitums Gelegenheit bot. Die 
Mädchen lachten, je inftändiger [te es ihnen 
gleihtun wollte, die bod) aus einer ganz 
andern Schule famen und anders Theater 
ipielten. Die Herren rijjen gewagte Wie 
und redeten in den Dialog hinein. Madame 
fiberader aber ließ fid) weder aus ihrem 
Lächeln, nod) aus ihrer Rede bringen, uns 
aufhaltiam ftrömten die glatten Berfe von 
ihren bitterlich jüBen, überroten, [chmalen 
Kippen, und ihre gebebten braunen Augen 
nur [prangen unruhig überallhin, wie Vögel 
im Käfig. Ingomar war nadlajjig, ein wilder 
Gentleman, er benahm fic auf gute Manier 
unmanierlich, er |prad) modern, [Hon weil er 
über der Rolle ftand und dem Gouffleur 
folgte; er hatte ein gewiſſes jpöttijches Lä— 
heln über Madame berader, aber aud 
über bie Herren ba unten und über bie 
Damen, denen er feine eigene Poefie gab, 
ftatt der papierenen des Herrn von Halm. 
Je weiter das Gtúd vorwärts ging, deito 
lauter wurde in den vorderen Reihen mit: 
geipielt, mandmal [djien fic alles in einen 
wunderliden neuen Dialog gwijden den 
Herrjdaften unten und Parthenia mit ihren 
Zectojagen oben zu verwandeln. Als fo 
die Handlung verdunfelt wurde, bejchwerte 
fid das hintere Publifum mit Zijchen, gebot 
Ruhe. Die Dorderen befannen fih bann einer» 
feits ber eigenen, anderjeits der Würde des 
Ortes und [djmiegen rin Weilden, fo daß 
Parthenias Rede wieder mächtiger anjdwol, 
Hinten wurde Beifall geflatjd)t. In dem 
Wogen und Diurmeln ber ftaunenden Bes 
wunderung Deler Wilden hinten, die hier 
aud) von der Runft gebünbigt und erzogen 
werden wollten, batten die Unerziehbaren 
vorn Gelegenheit zu laden. Den Baron 
Bühl jchüttelte es. Er ftand in einer Ede, 
SBartbenien gegenüber, und lachte lautlos, 
bas Geſicht mit der Rechten bededend, denn 
er |dümte fi. Gie mußte ibn ja leben. 
Die Ihmachtende, bráunlidje Mandeläugige 
aber neben ihrem alten Ontel lehnte fih in 
ihrem Stuhl zurüd und war ernft. Der 
wilde Ingomar jpielte für fie. Ihr galten 
feine feden Nebenbemertungen, fic fing feine 
Blide auf, bie er ihr Pott Rofen zuwarf, 
wobei er aber nachläſſig Donn und ging und 
fret war, als ftünde und ginge er unter 
hohem Himmel. Gie blidte fühl und gelang: 
meii, Damit niemand bemerkte, daß diefe 
Unverfhämtheiten auf fie gemünzt waren. 

So ward ein 9[ft nad) dem andern abs 
gejpielt unter Laden und Spott vorn, unter 
Beifall und fämpfender Aufmerfjamfeit hin: 
ten. Für wen plagte jid) Madame Tiber: 


ader, für wen Ingomar? Gie nahm Riid: 
fit auf bie „Gebildeten“, indem fie ihre 
Zwiſchenrufe ertrug, ja fogar gelegentlich 
wie in einem ſchweren Einverjtändnis mit 
einem Lächeln beantwortete, bas um Ges 
duld bat, fie zeigte ihre mageren Beine, 
bob ihre bürren Arme verführerifch auf und 
wand ihren faltigen Hals hierhin und ba: 
hin, gang wohl wifiend, daß alles den Teu: 
feln vorn ein Extravergnügen war. Aber 
die Rolle nahm fie bennod) bin, rif fie fort 
unb machte ihre Rede über die Worderen 
hinweg zu denen hinten dringen. Die Berfe 
Iprangen und [djmangen fih zu den Bauern, 
zu Tijoyler unb Schufter, zu den Knedten 
und Mägden, zu den mit offenen Mäulern 
ftaunenden Kindern hinüber. Denen galt 
fie, galt die Komödie, Handlung und Qe: 
dicht, Leben und Kunft, galt thre eigene, 
Friederile Therefia liberaders Abficht, Bes 
deutung, Schönheit und edler Anftand. Gie 
jpielte für beide Teile, für zwei Mejen inihrem 
eigenen Gelbjt und für zwei Ungeheuer da 
unten. In ihr ftand eine alte, wetterharte, 
verlorgte, Truppe, Geld, Requifiten und 
Mannihaft zufammenhaltende, faltenhallige 
Brinzipalin, bie felbft die noblen Bejtien 
bei ihren Schwächen paden wollte, und bie 
tar Parthenia heut, Amalia oder Wild: 
feuer morgen, war Gelbjtberaujdung trog 
allem, war  Theaternárrin und Gedidt, 
Schwung und Begeilterung, gelebtes Leben 
im Spiel, war höhere Wirklichkeit, wört: 
lichere Wahrheit, als diefe Elenden aud nur 
ahnen konnten. Sie verneigte fih nach jedem 
Alte, indem fie zierlich ihren Rod mit den 
Fingerſpitzen aufhob vor den Vorderen, ihnen 
lächelte fie zu. Sie ertrug ihr robes Laden. 
Denen da hinten aber jdjentte [ie den ruhigen, 
gebteterijdjen und danfbaren Blid ihrer 
traurigen Serrjderaugen. Den MBVorderen 
warf fie, damit fie ihren Spaß Hatten, zu 
guterlegt nod) ein Kußhändchen bin, ehe fie 
nedijd) Hinter bie Rulijje zurüdtrat. Gie 
verftand ihr Geſchäft, fie fühlte thre Runjt: 
Madame Friederife Therefia flberader. — 

Ingomar aber tat nur gezähmt und jeßte 
jeine im Stüde angeblid) erlernte Erfahrung 
über bas Wejen der Liebe praftijd ins 
Gegenteil um. Denn wabhrlid, nicht auf 
jittige Gegahmtheit tam es heute an, das 
wußte er aus bejjerer Einjicht, als der Herr 
von Halm. Vielmehr auf Wildheit und 
Raub, auf unverjchämte Herrichaft: Liebe 
oder Leben. Liebe und Leben! Cinbrud 
ohne viel Zweifel und Bedenken! Dazu 
waren diefe Herzen da und bereit, bas wurde 
verlangt. Cie follten auf ihre Roften tom: 
men. Er [djmintte jid) rajh ab und erreichte 
die Schmachtende eben, als fie vor dem Hotel 


986 Ben 


einen Augenblid allein Honn, um auf jemand 
zu warten. Cr verneigte fich eilig vor ihr. 
Sie dankte mit einem fremden, erftaunten 
Blid. Er aber ftaunte darüber gar nicht, 
vielmehr flüfterte er, indem er Iangjam weiter: 
ging: „Ich warte am Ufer.“ Sie warf ihm 
einen Blid zu vol Berwunderung, Be: 
luftigung, Ärger, als fei feine Zumutung ein 
Mifverftandnis. Das Härte fih |páter [Hon 
auf, Er nidte noch einmal leicht mit dem 
Ropje und verfdwand in den dunklen Biis 
iden, denn eben fam ein ganzes Rudel aus 
der Halle des Hotels hervor, junge Männer, 
Damen in Dirndlfleidern, Schals umge: 
ſchlungen, lachend, angeregt, vor bem Speijen 
und bereit zu allerhand abendlichen Unter: 
haltungen. Ingomar hörte nod, wie [ie 
„Bardenia“ riefen. 
& 88 88 
Er beeilte fid) mit feinem Nachtmahl im 
„Braunen Odjen” und Dep fic) weder von 
der durd) den Erfolg erfreuten Pringipalin 
nod) von feinen minder unternehmenden 
Kollegen abhalten, weitere Krügel des ans 
genehmen braunen Bieres zu vertilgen, das 
hier ausgefdentt wurde. Vielmehr empfahl 
er fid) fura, warf fein „Mahlzeit“ faft per: 
üdjtlid) bin, zahlte feine Zeche und ver: 
ſchwand, nicht ohne daß bie Tiberaderin ibm 
ängſtlich nachſah. Sie hatte eine mit Ge: 
Ichäftseifer gemilchte, burd) die Rüdjicht auf 
ihr Enjemble weije eingeld)rántte Borliebe für 
ihn. Er gefiel ihr als Menſch, als junger un: 
bändiger Burjch, als Abenteurer, fie fonnte 
ihn in der Truppe gut verwenden, darum 
überjah [ie auch feine häufigen Launen, ge: 
niigte, jo weit es nur irgend angängig war, 
feinen oft unverjhämten 9Injprüd)em und 
Vorſchußforderungen, aber [ie zitterte um 
ihn, denn er war immer auf dem Sprunge, 
alles ftehen und liegen lajjen, wenn ibm 
der Raptus” fam. Diejer Halbjahrsraptus 
erldten aber immer gerade in ber guten 
Sahreszeit, wo jolche Seitenfpringe am ge: 


fabrlidften waren. Im Winter, wenn [ie 


jelbft nicht aus nod) ein wußte, wenn fie in 
ungebeizten Duartieren lagen, froren und 
vor leeren Häujern [ptelten, um den Betricb 
aufrechtzuerhalten, war er ganz vernünftig 
und anbünglid. Schon bas dritte Jahr. 
An ftändige Bühnen fam der arme Kerl 
wohl nicht mehr. Sie beobachtete im ftillen 
ganz genau, wie er im Winter Briefe nad) 
allen Meltgegenden ausihidte und vorteil: 
hafte Photographien gujammenjudte. Es 
mangelte an Garderobe, an Gelegenheit, an 
Reijegeld. Immer fehlte etwas unb immer 
war es gerade das wichtigſte. Aber trop- 
dem Honn er immer auf Dem Cprunge, als 
wollte er noch anderes als Engagement, 


Ime] Otto Stoll: ëss 


Rolen, Vorſchuß und Beifall. Sie fannte 
diefje Schmerzen, würdigte fie und fürchtete 
für ihn. Wenn er einmal den Raptus bes 
fam und wirklich aus|prang, Dann war alles 
aus! Ihr Enjemble war auf ihn geitellt. 
Er war Jozujagen der münnliche Stern. Die 
Kritit hat leicht reden, daß man eine Bühne 
nicht jo führen dürfe! Wachlen einem die 
Liebhaber aus der flahen Hand, konnte fie 
die gleichwertigen Kräfte aus der Erde 
ftampfen? and fie denn gleich einen ans 
dern? Ingomar hatte die Vorzüge feiner 
Mängel. Da war nichts zu maden, als daß 
man ein Auge auf ihn batte. Das andere 
mußte man zudrüden. Heute hatte der Junge 
gewiß etwas Neues vor. Die Gage hatte 
er auch [don befommen, einen Vorſchuß 
dazu. Wolle Gott, daß er vernünftig blieb! 
Ihre Augen flatterten unruhig wie bie 
Bögel im Bauer, indem fie den gefährlichen 
Helden begrüßten, aber zugleich den andern 
in der Runde die Honneurs madten. 

Ingomar aber betete um eine tolle Bes 
ftätigung feiner Unvernunft. Er wandelte 
an dem einjamen Ufermeg unter den taufend 
blinfenden Sternen der Haren Nacht, raudte 
eine Zigarette nad) der andern und wartete, 
ob die Schmadtende fame. Er befaßte [id) 
mit dem Gedanten, wie es auszulegen wäre, 
wenn fie nicht erjchiene. Das mußte feines- 
wegs eine Ablehnung fein, mußte feineswegs 
bedeuten, daß fie ihn als einen Fredling 
nicht weiter beadjtete. Gie fonnte ja eine 
Abhaltung haben als junge Dame, deren 
Schritte bewadht wurden. 

Er wartete. Alerhand Herridaften famen 
vorbei, Paare, größere Trupps. Gelegentlich 
bemerfte man ibn und flüjterte fid) etwas 
zu, bas fid) auf ihn bezog. Seine Zigarette 
funtelte wie ein böjes Raubtierauge. Er 
lauerte in ihrem Rauh. Bom Hotel dran« 
gen Lärm, Tellerflappern, bas Geräuſch von 
Beiteden, Stimmen Derüber. Ein Klavier 
jpielte einen Walzer. Wurde dort getanzt? 
Gr überlegte, ob er nicht hingehen und ein: 
treten folte. Der große Speijejaal mit den 
noblen Leuten jchredte ihn aber ab. Er 
paßte nicht in joldje aufreizend wohlhabende 
Gefelljdajft, objdon er gerade bei Kaffe war. 
Ste tonnten ihn über bie Achjel anjehen, er 
befäme dann aber unweigerlid) Luft, mit 
einem joldyen Affen anzubinden. Dann gab 
es einen Rrawall. Duelle mit einem Man: 
dermimen? Gein Touriftenanzug war für 
Gottes freie Natur, für Sternenhimmel und 
leijen Wellenjchlag der Ufer bejtimmt, für 
Menjchentinder, nicht für Hoteljaalgajte. 
Hier ſcheute er feinen Fürften, dort war er 
ein unzujtändiger Zaungalt. Er wußte ges 
nau, wohin er fid) zu jtellen Hatte. Und 


ee Die Sdhmiere Lee 287 


diefe Schmadtende mußte es auch willen, 
wenn fie überhaupt ein Gefühl ihrer eigenen 
Menſchenwürde bejaB. Wielleicht tanzte fie 
dort oben. Er ftellte fih ihre volle, ſchlanke 
Figur vor, wie fie im Arm des Tänzers 
faft lag, ben [d)meren [djmargen Kopf über 
feine Achjel Berüberbüngen laffend, gleid) 
einer überjchweren Roje, die Mugen halb 
geihloffen. Er hätte gern mit ihr getanzt, 
einen Walzer mit [djiebenbem Zweilchritt, 
als wiegte man fih zwijchen Himmel und 
Erde, aber irgendwo unter Gternen, auf 
einem weißen, ftillen &iespla& nad einer 
fernen Mufil, fie zwei ganz allein auf ber 
Welt unterm Licht der ftillen Lichter oben, 


unter wehendem Bäumeraujchen, erjchroden, 


wenn über ihnen ein Vogel mit jchwerem 
Fluge auffubr. Wher das ließ jid) wohl 
nicht machen. Nie fonnte er zu einem jolchen 
Tange fommen, ebenjowenig wie zu einem 
in der Réunion eines Rurfaales ober dort 
im Hotel. Das war vorläufig zu viel ver: 
langt. Borläufig! Wenn fie heute nur über: 
haupt fam. — Halt! Da fam fie! Gein 
SBunjd) hatte fie gerufen. Cie fam auf das 
Stihwort. Die verftand ihre Rolle! Er 
war auf ihre fpátere Auffafjung gejpannt. 
Nicht allein tam fie, fondern in Begleitung 
bes alten Herrn, der fic) miibjelig an feinem 
Stode fortbewegte, und eines jüngeren, der 
febr befliffen lächelte. Hinter ihr folgten 
aber nod) etliche junge Damen und Herren; 
fie alle gingen langjam, ladten und flüfter: 
ten. Hier und da gab es ein ordentliches 
Gejdret unb einen richtigen Lärm von 
Stimmen durcheinander. Er ftand ftill, er 
wid fogar einen Schritt zurüd, um dem 
Zuge Pla zu machen. Es war hell genug, 
daß man ihn jehen konnte, mußte, fo wie er 
die andern jah. Aber das hatte auc feinen 
Nachteil, denn die ganze Geſellſchaft, bie 
eben nod febr laut unb ungezwungen ges 
ſprochen und gelacht hatte, ſchwieg plößlich, 
wie auf ein Zeichen, und bewegte fid) be: 
haglich, aber riidjidjtsvoll abgejchloffen — 
o diefe guten Manieren! — an ibm vor: 
über, als an dem Fremden. Bewiß batten 
fie über das Theater geredet, über dieje un: 
glüdliche alte Madame und über ibn. Siders 
lid über ihn. Und hatten ihre Mib5e ge: 
rijjen und fühlten nun Mitleid mit ihm und 
Ihwiegen darum. O daß einer es gewagt 
und ein Wort hatte laut werden laffen! Er 
war gerade in der Stimmung, fih heute 
einen ungebetenen Zwijchenrufer auszuleihen, 
aud) ohne Gtod, bloß mit beiden Fáuften. 
Aber nein, diefe Ranaillen wareh taftvoll. 
Sie gingen in ihren weißen Sommerjchuhen 
wie auf Filzjohlen vorüber, und bie Schmad): 
tende warf ihm nicht einmal einen Blid zu. 


Das war übrigens ein feiner Zug, aud 
diejes Ausweichen des Blides war ja gerade 
auf ihn gemiingt, aljo mehr als ein Blid. 
Lautlos, wie die Buppen in einem Mario: 
nettenfpiel, 30g bie Gefell[Maft an ibm vor: 
über und verſchwand Hinter den Fichten und 
Strdudern vor dem Hotel. Gleich nad)bent 
fie durch diefe &ulijje verborgen und von 
ihm getrennt waren, begannen fie wieder 
zu lachen, zu [bwaben, er unterjchied beut: 
lid) die Stimmen. Da gábnte die lang: 
weilige des |djlanfen, eleganten Ravaliers, 
ber neben der Schmadhtenden ging, bie turze, 
behaglid) muntere bes diden Barons Bühl 
rief boren, er fannte ihn, bas war der Herr 
bieler Gegend, ber das jchöne alte Schloß 
und But bejaB und den jeder gleich par 
renommé jchäßte, der hierher fam. Dann 
hörte er mehrere Mädchenftimmen, belang: 
Iofe, bie [o lachten, als ftiegen fie in ein faltes 
Bad. Syebt mußte bie Schmadjtende etwas 
gejagt haben. Das war ihre Stimme, ein 
gurrender Taubenton, aus biejem vollen, 
Ihönen Bujen, faft aus dem Herzen, aber 
da fie vielleicht feines hatte, wenigitens fein 
moralijches Herz, wenn man fo jagen darf, fo 
lam der Ton von etwas höher oben, zwis 
[den Hals unb Bruft. Ingomar hätte die 
Stelle mit dem Finger bezeichnen Zommen, 
woher fie diejen Ton ihrer gurrenden Stimme 
309. Ja, das hätte er können. Übrigens 
nahm er fid) vor, dieje Prüfung nachzuholen, 
wenn es einmal fo weit war. Aber fam 
es fo weit? Was bedeutete diejer Spazier— 
gang mit Gejeljdaft am Ceeufer? War 
das ihre Art, feiner Aufforderung zu ents 
jpredjen? Wollte fie ibn fo zum Narren 
haben, juft indem fie ihm gebordte, aber 
nur halb? Bei einem folchen holden, janfs 
ten, jchweigjamen und immerhin taufends 
fad) bewadjten Gurrefind war niht ein 
Schrittchen, nicht ein Wörtchen, nicht ein 
Lächeln, nicht ein Schmadten und Vorüber: 
wandeln, Stehenbleiben, Sichumſchauen oder 
Sichnichtumſchauen ohne feinere Abſicht, 
ohne tiefere Bedeutung. Darum aud) nichts, 
das nicht ihm galt, nicht auf ihn gemiingt 
war, denn wenn ein Frauengimmer unter 
Taufenden den einen |pürt, der es auf fie 
abgejeben bat, jo jpürt ber es gewiß unter 
Tanfenden, in Gtodfinfternis und Wülte, 
wie und wann fie thm antwortet. Denn 
alles ift Antwort, was fie tut und unter: 
läßt. Go fam die Sdmadhtende entweder 
in Geſellſchaft hierher, weil fie anders übers 
haupt nicht hätte tommen Tonnen, ober fie ging 
jo ftumm vorüber, um jpáter allein wieder zu 
erjcheinen, damit er fic) bis dahin gedulde 
und wenigftens vorläufig einen Schimmer 
vonihrhabe und behalte. Geduld, liches Herz! 


288 see eeh Otto Stoeffl: seis 


Er ging langjam ben Berfchwundenen 
nad) und jah, wie es feiner erprobten Ges 
wobnbeit entjprad), zu Boden. Da lag 
weißer Gano. Halt! Unmittelbar vor dem 
Föhrenwäldchen, burd) Dellen Stämme bie 
Lichter bes Hotels ſchimmerten, hob fich 
etwas Kleines vom lidten Ries ab Er 
biidte li) Danad. Hoho! Ein weißer 
jeidener Handſchuh, ein langer, ber bis zu 
den Ellenbogen reichte, mit halben Fingern, 
leicht gewebt, wie aus Spinnfäden und — 
er führte thn zum Munde — woblriecend, 
nad ganz fernem, leifem, unbeftimmtem 
Parfüm und nad) einer holden, leicht ges 
bräunten fühlen Haut. Gie hatte ihn vers 
Loren, Natürli fie! Konnte er fid) nicht 
erinnern, ob fie Dente im Theater folche 
$anb[dube getragen hatte? Das war zu 
viel verlangt, daß er fih diefe Einzelheit 
ihrer Kleidung hätte merfen follen, aber es 
war niht anders móglidj Es pakte zu ihr, 
die Form, bas leichte, Doble, jeibene Gewebe 
mit den dünnen Majden, der Atem fernen 
Wobhlgeruds wie aus fremdem Morgenland 
und des nahen fühlen, gebadeten Wrms, der 
gebräunten Haut. Gewiß, fie hatte ben Hand» 
ſchuh verloren. Berloren? Mehr, fie hatte 
ibn verlieren wollen! Für ihn! Als 3ei- 
den und Gewähr, als Wink und Antwort, 
als Beftelung und Wbrede. Gein Herz 
tlopjte. Trogdem das Herz in joldjen Ans» 
gelegenbeiten zulegt gehört werden folte, 
machte es fih bod) zuerjt vernehmbar, und 
wohl nur, weil es immer flopft, glaubt man, 
iede €ieb|djaft pohe an diejer Tür, und man 
ſpricht vom Herzen, wenn alles andere mits 
bejdjáftigt bleibt. Er liebte mit den Sinnen, 
mit den Augen, die in der Nacht [o viel, 
mehr nod) jahen als am Tage, mit dem 
Gerud), ber die Herkunft bes Duftes eines 
Handjdubes ertannte, mit bem Gedádtnis, 
das fid) jede Linie eines Körpers, einer 
Behenden, Verweilenden merlte, mit den 
Händen, mit den Ohren, die das Tauben: 
gurren einer Gtimme aus vielen gleich: 
gültigen auf die richtige Stelle bezogen, von 
ber es fam. Er liebte aber aud) mit bem 
SBer|tanbe und wollte daher überlegen, was 
mit diefem Zeichen gemeint war. Gie hatte 
den Sjanb|djub im Weitergehen verloren, 
nein beffer: fallen laffen. Mjo mußte, nein 
folte er thr nadfommen, um ihn zu finden. 
Und dann? Dann, eben in ihrer Nähe 
warten. Auf fie, oder auf ein neues Zeichen. 
Er ſchlich daher durch bas fleine Behölz, 
weiter, bis er an der Geeleite des Hotels: 
außerhalb der Terrafje antam. Das mehr: 
ftödige Haus fah mit vielen dunteln, vielen 
bellerleuchteten Fenftern herab auf ihn. Er 
ftand auf dem großen Plage vor der Terrajje 


allein. Die Terraffe war leer. Die Abende 
am Ufer waren jebt jhon den verwóbnten 
Reuten zu kühl, darum faken fie alle im Gaal 
oder in ber gejchlofjenen Blasveranda. Nur 
ein paar eleftrije Rampen brannten fühl 
über den leeren, weißen Tijchen. Er über: 
legte, ob er fid) hier vielleicht niederlafjjen 
jollte. Er allein mußte wohl auffallen, bes 
jonders, wenn er nad) Bedienung rief und 


-mehrere Kellner durch Bejtellung in Atem 


hielt, in Bewegung febte und zwang, Durch 
Gaal und Beranda bier hinaus zu laufen, 
Bier, Effen zu bringen, Tijd zu deden, Bee 
fte® zu holen und jo fort. Er konnte bie 
Burjchen mit vielen Gängen in Atem halten, 
es lam nur auf jeinen guten Willen und auf 
die Ausgaben an, bie er jid) eben leijten 
wollte. Das hatte er denn bod) nod) in 
feiner Macht, daß ihn Kellner bedienen 
müßten, wie fie dieje höfliche, ifolierte 
Schwefelbande da drinnen bedienten. Bor 
bem Gefindel brauchte er feineswegs aurüd: 
gujteben, es war alles nur eine Gelbfrage. 
Aber wozu ſolche Depenjen? Geduld! fiber: 
legung! Borficht! Es handelte fid) ja nur 
darum, wie er am beiten für das Befte 
bereit blieb. Er mußte ganz [til unb ge: 
duldig warten, ob und wie fie fid am 
Ende neuerlid) bemerkbar madte. Co 
ftand er auf bem Plate vor ben vielen 
Fenftern und unterlag der Verſuchung nicht, 
ein feines Abendefjen auf ber Terrajje und 
mit vielem Hin und Her der Kellner heraus» 
zufordern, vielmehr ftand er [till ba und 
wartete, indem er bloß eine Zigarette um 
die andere raudjte und ihre glimmenden 
Augen durd) die Dunkelheit funteln ließ, 
oben ftanden und funtelten die Sterne gleich 
geduldig. Cine Stunde oder mehr. Er 
hatte Zeit genug. Er war aud) das Stehen 
gewohnt. Hier und da pfiff er etwas vor 
fid bin. Es múódte fein, daB man ein 
Zeichen benötigte. Wher das ließ er dann 
wieder, es war vergeblid), jolange brin 
Klavier gejpielt, getanzt, gegeljen wurde, 
folange Teller Happerten und eleganıe Tiere 
auf nichts anderes au[merfjam waren, als 
auf ihren Hunger. Wher aud) das fand ein 
Ende. Er fonnte fehen, wie bie Glas. 
veranda allmählich leer wurde. Mud ber 
Gpeifejaal wurde leer, das Klavier verftummte. 
Er jah die Kellner die Tijdhe abráumen. 
Die Hotelgäfte gingen wohl zu Bett. Es 
iblug zehn Uhr. Im Saale, in der Veranda 
ließ man nur mehr für etwaige Nachzügler 
eine und die andere Glühlampe brennen, Die 
übrigen drehte man ab. Auf ber Gerrajje 
brannte gar feine mehr. Jebt war die Zeit 
günftiger. Jebt erbellten fid) die Zimmer: 
fenfter in allen Stodwerfen, jebt gingen Die 


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d) Hübner 


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Innenraum 


E Die Schmiere 289 


Herrſchaften ſchlafen. Er glaubte ſogar die 
betreffenden Geräuſche zu hören, Waſſergüſſe 
in Waſchbecken, Türzuſchlagen auf den 
Gängen, vereinzelte Klingelzeichen oben, 
unten, einmal dem Zimmerkellner, zweimal 
dem Stubenmädchen, dreimal dem Haus— 
knecht, jetzt rechts, jebt links, jetzt oben, jest 
unten, die letzten Schlachtrufe eines müh— 
ſeligen Hoteltages. Dann ward alles mäh— 
lich ruhig. Der Koloß legte ſich in ſeiner 
ganzen Maſſe hin und ſchwieg, die Lichter 
in den Fenſtern erloſchen allmählich. Wels 
ches war das ihrige? Denn jetzt war es 
immerhin Zeit. Cs ſchlug elf. Er pfiff jebt: 
bojotobob, nicht allgulaut, aber immerhin 
vernehmbar. Jm zweiten Stode öffnete fih 
daraufhin — gewiß — eine Scheibe, flirrte 
leicht, er fab hinauf. Cin Arm [tredte fih 
aus und warf etwas hinunter, jchloß dann 
bas Sentier, Cs war bas Jecdhite von Der 
Ede nad) rechts gezählt. Er juchte den 
Gegenjtand. Diesmal Hatte er jchwerer 
juden, denn das Ding mußte in ben Shat: 
ten bes Baues auf den Boden gefallen fein. 
Er maß die vorausfidtlide Entfernung ab. 
Er jpürte mit dem Fuße. Er ep endlich 
auf etwas fleines Rajchelndes und hob eine 
Balb verweltte gelbe Rofe auf, mit gefnidtem 
Stengel. Das war ja feine Mtarédhal Niel, 
er ftad) jid) nod) leicht in eine ihrer Dornen. 

Nachdenklich jtedte er diefe welfe Bot: 
Ihaft an feinen Jágerhut und ging um Die 
Ede nad) bem Hoteleingang auf der Straßen: 
feite. Hier war nod) Liht in einem Zimmer, 
dem jogenannten ,Tourijtenftiberl” oder der 
„Schwemme“, wo die minder zablungs: 
fähigen Wanderer für geringes Geld abge: 
ipeift wurden. An einer Ede faBen denn 
aud) — et jchaute von der Straße hinein — 
ein paar abgeraderte, von der freiwilligen 
Anftrengung hergenommene, in alle ftandess 
gemáge Berlumptheit, als in das dels: 
gewand bes Bergiports vermummte foge- 
nannte Naturihwärmer und Fexen, deren 
Bergitöde an der Ede lehnten. An der 
andern aber madjte fih an einer Holzbank 
vor einem großen gebohnten braunen Tijche 
das Hotelperjonal breit, Garcons in jdware 
zen Fräden, Schankburſchen, Kellnerinnen, 
und verzebrten ihr verjpätetes aufgewärmtes 
NHadtmabl, das braune Bier ftand in den 
hohen Glajern ganz verlodend mit hohen, 
weißen Borten. Wie wärs, wenn er ein: 
trat und fid) einen Schlud vergónnte? Biel: 
leicht war von den LXeutchen etwas zu er: 
fahren? Vian mute fie nur richtig zu 
nehmen wijjen und mit ihnen freundlich fein, 
ohne fie jid zu nahe fommen zu lajjen. 
Aud ein Jäger mit zwei jchönen Dober: 
mannbunden zu Füßen, jak bei ben Schmau: 


jenden und rauchte langjam Zug um Zug 
aus einem Weichjelrohr mit. einem bunt: 
bemalten, geldjmadlIojen Borzellantopfe. 
As Ingomar eintrat, rührte fic) nie 
mand zum Empfange Es war wohl ſchon 
zu jpät für Höflichfeiten und Komplimente, 
am fpáteften bier in der „Schwemme”, Er 
jah jid) um, nahm fein Hütel ab, juchte einen 
Pla und näherte jid) endlich mit einer Teich: 
ten, zugleich freundlichen und den 9Ib[tanb 
ſichernden Berbeugung, der Tafelrunde der 
dienenden Geifter, um (Erlaubnis bittend, 
den freien Stuhl neben dem Herrn Förſter 
einnehmen zu dürfen. Der weltfundige Herr 
„ober“ erfannte jogleid) die Zugehörigkeit 
des Herrn, begrüßte ihn als vom Theater, 
fragte nad) den näheren 1Imjtánben, die üb: 
tigen, bejonders bie Rellnerinnen zeigten fid) 
lebhaft interejfiert, Durd) die Nähe eines 
„Künftlers“ gejdmeidelt. Der Piccolo 
bradte ihm devot jchmunzelnd Bier, In: 
gomar tat allen berablajjend Bejcheid, er 
fühlte fi) ganz wohl, er beantwortete mit 
Offenheit und einiger fibertreibung die 
Fragen nad) woher und wohin und wieviel. 
Er ließ einige Andeutungen über Affären 
fallen, Intrigen, die jeinem Engagement an 
einem Hoftheater in X — ber Rame tat 
nichts zur Gade — ein vorgeitiges Ende 
bereitet hatten. Im Hintergrunde Der Ge: 
ibibte, die aus lauter Andeutungen zu er: 
ratem war, ftand eine ſchöne Frau natürlich, 
bie fid) für ihn interefliert hatte, im Border: 
grunde ein gewmijjer fogenannter erfter Lieb: 
haber, ein im Dienft ergrauter Affe, ber, 
mit einer hohen *Berjonlidjfeit vertraut, es 
durchzuſetzen gewußt hatte, Daß er, ber feinen 
Fürſprecher batte als fein Talent — ober 
jagte Ingomar: Genie? — furz und gut 
hinausgeefelt wurde. Die Gejchichte Hatte 
fih vielleicht einmal irgendwo mit irgend- 
wem zutragen können. Vielleicht lagen ihr 
aud) gewijje ähnliche, Jagenhaft vergangene 
Begebenheiten der eigenen Künitlerlaufbahn 
Ingomars zugrunde Jedenfalls paßte fie 
febr gut in diefe Citation, und Ingomar 
ftattete fie mit allen forgfáltig beobachteten 
Zügen aus. Er glaubte fie fogar jelbft. 
War fie denn immabridjeinlid)? Wenn fie 
ihm nicht paffiert wäre, Das wäre unwabrs 
ideinlid) gewejen. Ergo! — Ecco! — Üb- 
rigens verlangten die Xeutchen hier ja jolde 
Gejdjdjten von ihm, Unterhaltung, nicht 
Tatjachen. So war er hier, nur zur Er: 
holung, zum lusfpannen und über den 
Sommer, zum Spaß, Damit er nicht aus Der 
Übung fam. Für den Winter war er [don 
verjorgt. Übrigens hielt ihn hier — er 
lächelte fein — nod etwas anderes zurüd, 
eine bejondere Gade, nicht der Rede wert. 





Der Oberfellner blinzelte: er verftand. Was 
das betrifft, jo war dem Herrn „Ober“ nichts 
unglanblid). Dieje reichen TFrauenzimmer 
haben den tollften Gejdmad, fie fliegen auf 
jold) dunfle Abenteuer, wie bie Miiden ins 
Lit. Ja — Ingomar zog ibn beijeite — 
er hätte fid) [Hon lángft vorgenommen, fid) 
bei dem Herrn Generalober zu erfunbigen — 
er erfand bielen |djmeidjelfaften Titel, ber 
immerhin beffer wirfen mußte als ein Trint: 
gelb — wer denn eine gewijje Dame eigent: 
lich jet. Gr bejd)rieb fie: eine Schmacdhtende, 
mit [djlanfer, aber voller Gejtalt, mit lans 
gem, glattem, ſchwarzem Haar, gebráuntem 
Teint, mit mandelförmig geldjIt&ten Augen, 
mit einem buntelblauen SUtatrojenfleib und 
gelbem Kragen, in Begleitung eines alten 
Herrn, der gihtbrühig am Stode trotte und 
boshaft rede. Ingomar ahmte Stimme und 
Gangart fo lebhaft und natürlich nad), dak 
alle zu lachen begannen und eine Ahnung 
betamen, was ein Schauspieler für ein Kerl 
und wozu er gut fei. Der ,Generalober" 
gab alle wünjchenswerte Auskunft: fteinreich, 
launenbaft, viele Anbeter, feinen aber, „auf 
ben fie fliegt“, bald traurig, bald leiden: 
\haftlich, ungemein gejund, mehr als lieb: 
Raſſe, das heißt nádtelang tanzen, tage: 
lang bergiteigen, ftundenlang ſchwimmen, 
ein Probeſtück für einen 9Berliebtem. Sabe 
fie vielleicht bem Herrn eine „Avance“ ge: 
maht? Er lächelte bedeutungsvoll, Ingo: 
mar gab es zurüd, mit einem Finger am 
Munde. Davon jpridt man nidt. Mo 
ging fie denn gewöhnlich fpagieren und 
wann? Der ,Generalober” unterrichtete ihn 
über eine jogenannte „Seufzerallee“, bie eine 
ihmale Landzunge mit hohen alten Linden 
einjaume und am Ende des Örtchens, den 
Mauerreften, ber einftigen Befeftigung ent: 
lang, eine Biertelftunde weit hinzöge. Dort: 
hin pflege man nad) dem Frühſtück zu fpa- 
zieren bis zur Badezeit, wenn man nicht 
gerade eine weitere Landpartie, eine Berg: 
befteigung ober Wajjerfahrt vorhabe. „Biel 
Glüd, aber auch viel Geld!” nidte er. In: 
gomar lehnte fih breitfpurig in feinem 
Gtuble bintenúber, ber nur mehr auf den 
Hinterbeinen ftand. O, was das betraf! — 
Man nahm von ihm gar feine Zeche am. 
Er war Gajt bei den freundlichen Gónnern, 
er [ud fie zum Dank dafür zu feinem Benefiz 
ein, bas für morgen angejebt war. Er ver: 
Ipra ihnen allen Freifarten. Ja, bas 
wäre [Món und gut, wenn fie nur Zeit hätten, 
aber dieje Sommergájte! Immerhin, einige 
würden fid [Hon fretmaden fónnen. Das 
Benefiz trüge wohl etwas ein! Ja, ja, das 
tat es immerhin, eine Kleinigfeit, auch die 
Sommergage überhaupt, für ihn freilich nur 


j Otto Stocfil: ae St 


eben das Zigarettengeld, eine Bagatelle, die 
man gewiljermaßen fo mitnehme, um den 
anderen armen Teufeln nicht das Brot zu 
vereteln. Da fei Gott vor, daß er auf fol- 
chen Bettel anjtiinde. Gein Alter mülle 
jhon das Weitere berappen. Er fei ganz 
gut bei Kaffe. Das könnten fie ihm glauben. 
Dabei ftreidelte er den einen jungen Dober: 
mannbund, der fid) merkwürdig zutraulich 
gerade zu ihm verhielt. Ingomar fragte 
den Sager, ber ſchweigſam raudend Dbabei- 
jag, um aud ihn zu erobern und in den 
Madtireis feiner Wirkung einzubeziehen, 
nad) dem Stammbaum des Tieres und nad 
Dellen &enntnijjem, nad bem Rollenfad. 
O, bas war ein ganz gejchultes, weijes Tier, 
auf Polizeihund gebrillt, fähig, einem Übel— 
táter nah bem Geruche zu folgen und ibn 
entweder zu verbellen und mit den Zähnen 
feftzuhalten oder nad) bejonderer Unweijung 
und in aller Rube zu begleiten, zu ftellen 
unb etwas Beltimmtes abguliefern oder ab: 
gubolen, je nahdem. „Nicht möglich!” Der 
Jäger beteuerte brummend die Verdienfte 
feines Tieres, deffen Bruder nebenan wieder 
als Jagdgenofíe feinesgleichen jude. In— 
gomar wollte wetten, ber gepriejene Dober- 
mann fei nicht fähig, mit einem gewijfen 
Gegenftand Delen Eigentümer aufzujuchen 
und bielem bas Ding ruhig zurüdzugeben. 
Der Förfter hielt jede Wette. Nun, fei ihm 
denn etwa der Hund feil? „Nichts für Sie, 
lieber Herr!“ „Zu teuer?“ Nun, für den 
Gaft wolle er [bon einen billigen Preis 
maden, wenn er den Hund burdjaus Der: 
geben folle, denn bas müſſe er, weil er für 
allzuviele Hunde feine Verwendung babe. 
Daheim befige er überdies noch einen Dadel; 
ben ,Borfteherbruder” Hier, deffen Mutter, 
eine gleichgute Jägerin aud), darum babe 
er den Dobermann als Polizeihund abge: 
richtet, um ihn eben würdig zu verfaufen. 
„Wie viel?“ drängte Ingomar. 

Tun, hundert Kronen, weil es Ingomar 
lei, einem Progen von ben Sommergäften 
hätte er ihn nicht für gweihundert hergcegeben. 
Ingomar überzählte im jtillen feine Bar: 
idjait, mehr als zweihundert Kronen bejaß 
er auf feinen Gall, aber er überjchlug bie 
Summe nur mit einem Gedanfen, dann lachte 
er: „Gut, Menjchenstind! Gemadt! Götter- 
freund! Her damit!” Ob er ibn aber auch 
anftändig halten, füttern, pflegen könne, Das 
mit es ber Kerl gut habe. „Seh' ich denn 
wie ein Geelenverderber aus, folange ich 
einen Biffen Babe, will id) ihn mit dem 
Treueften der Treuen teilen! Wie heißt er 
übrigens?“ ,Heftor.” „Na, Sjeftor, willit du 
zu mir? Nun fprih! Was meinjt du zu 
mir, wollen wir gujammenbalten?” Tas 





ee Die Schmiere see es 291 


Ihöne Tier blidte ihn mit den flugen brau- 
nen Augen freundlich an, wedelte leicht und 
legte jid) auf bas Gebot Des Förſters fo: 
aleid) bem neuen „Herri“ gehorjam zu 
Füßen. Ingomar entnahm feiner zierlichen 
Brieftajche — er hielt große Stüde auf alles 
notwendige Zubehör und Zeugnis bejjeren 
Lebenswandels — eine Banknote, nicht ohne 
die zweite und die wenigen übrigen Lappen 
zu verbergen. Geine weitherzige Rajchheit 
madte auf bie GejelliMaft mertbaren Gin: 
drud, und er empfahl fih dann wie cin 
großer Herr, leutjelig und beffer geadjtet als 
vordem. — Das Herz ging einem auf, wenn 
ein folder Tauſendſaſſa berfam und feine 
Mindbeuteleien ausftreute. 

Ja war denn alles nicht wahr und rid): 
tig? fragte mit treuberzigem Geficht bas 
demütige Stubenmäddhen, bas vom Ort 
ftammte und nur hotelmäßig angetan, aber 
nicht welterjahren war. 

Nicht ein Wort war wahr. Das tónnte 
fte fih bod) denten. Der arme Teufel brauchte 
vielleicht morgen [Hon eine fanfte Unter: 
fügung. Mer weiß, ob er fie nicht gelegent: 
[id anpumpen würde. Aber das made nicht 
viel aus, interejjant feien dieje Herrjdajten 
vom Theater. alle, einer wie Der andere. 
Man müffe fie jelbit ebenjowenig glauben, 
wie ihre Stüde und figuren. Dann aber 
unterhalte man fid) redjt gut mit ihnen. 
Die wirklichen Leute fonft feien ja auch nicht 
wabrbafter, jondern nur dDiimmer und hinter: 
haltiger. Und fie machten einander und dem 
Dienftperjonal nod) ganz andere Sader 
ror, und was [ie verrieten, indem fie fid) 
etwa geben ließen, jet noch viel weniger 
harmlos als bie Fajeleien bes munteren 
Bruders da und wahrlich viel weniger hübſch 
vorgebradt. Aber bie (Geldjid)te mit ber 
Schmadtenden, nad) ber er fih erfundigt 
babe? Der Generalober wiegte den Kopf. 
Da fei er fid) nicht gana tlar. Wielleicht 
bloße Renommage, vielleicht Cinbildung! 
Vielleicht gebe es ein Körnchen Wahrheit 
babet. Wenn einer von einer Spukgeſchichte 
erzähle, bie fih bet Mondenſchein in einer 
Gommernadt zugetragen habe, fónnen der 
Mond und die Naht unb die Jahreszeit 
immerhin wahr gewejen fein. Das übrige 
— wer weiß? Haben dieje Hotelgäjte nicht 


auch ganz gemeine und ganz hodjliegende 


abenteuerlide Grunb|dge, Launen, Gtim: 
mungen? Auch er fónnte Gejchichten er: 
zählen aus jüngeren Jahren, wo er nod) 
freiwilliger und munterer war, wo ihm der 
Beruf nod eine Herzensjahe war. Weiß 
denn einer, wozu ein joldjs verwöhntes, 
verdorbenes Geſchöpf einmal Luft befam, 
warum folte fie es nicht darauf abgejehen 


haben, einem Rombdianten den Kopf zu 
verdrehen, oder ihn zu beniigen, um einem 
andern einen Pojjen zu fpielen, oder um wen 
zu reizen und zu ärgern ober um fid) einen 
guten Tag oder eine gute Nacht zu machen, 
eine richtige Bewegung? Er lachte unver: 
jhamt und zeigte feine Goldplomben. Die 
Heine Kellnerin errótete. Sie glaubte bod) 
wohl nicht, daß bie reichen Leute etwa ans 
tändiger feien als die armen und daß ein 
jogenanntes Fräulein aus feinftem Haufe 
weniger ausgepidjt und in allen Ctüden 
beichlagen fei, als ein einfältiges Hotel: 
ftubenmädchen. Wenn man gewilje Dinge 
jelbft begebe, fei man doch wohl erfahrener, 
als wenn man ihnen nur zuichaue. Mas 
bie Unjchuld betreffe, fet fie gewiß nod) eher 
vom Lande als von der Stadt. Auf diefe 
Art wurde nod) einiges philojophiert, bevor 
der Chorus nad) dem abwejenden Helden 
abſchloß. 

Am nächſten Morgen ſchlenderte Ingomar 
mit feinem Hunde zu jener Landzunge hins 
aus, bie ihm vom DOberfellner bezeichnet 
worden war. Wie ein jtählerner Spiegel 
glänzte bie Fläche bes jonnigen Gees burd) 
die dunklen Stämme der Linden, welde in 
einer geraden PBaarreihe hinliefen. Hier und 
ba ftanden weiße Bänke und jchimmerten 
freudig im feuchten Mtorgenlidt. Der blaue 
Himmel, das Delle Grün der Linden wirkten 
wie frijdgewalden. Die Luft war warm 
und gewijjermafen im Kerne leicht gefühlt, 
jo angenehm ftrid) fie um das Geficht beim 
Gehen. In der Ferne fah man das andere 
Ufer des Gees, die Landzunge teilte ihn 
Dier an feiner jchmaljten Stelle in Hälften. 
Drüben lagen |djón bhingejtredte Berge voll 
Duft. Kinder bewegten [id) mit Reifen und 
Mágelben, mit jungen Bonnen, alten Kinds: 
frauen und mit lichtgefleideten Mamas durd) 
dieje natürlichfte Spielbahn. Auf ben Bän- 
ten faBen Fräulein mit Büchern und lafen, 
leicht gefleidet in hübjchen Morgengewäns 
dern, mit ganz fauber frifierten Köpfen, bie 
jelbjt fo frijd gewajden waren, wie bie Ge: 
gend. Altere Damen in loferen Jaden 
nábten was oder unterhielten jich, hier und 
ba war aud ein Herr dabei, melt beque: 
meren Alters mit ehrbarem Ctod, denn Die 
jüngeren Jahrgänge radelten wohl ober 
jegelten oder waren auf ernithafteren We- 
gen über Land. Ingomar jd)lenberte durch 
diefje Morgenfzenerie und blidte genau nad) 
der Erwarteten. Gie ließ auf fid) warten. 
Sie fam gewiß nicht allein. Junge Damen 
treten auf Promenaden immer rudelweile 
auf, aud) wußte fie ja nicht, daß er hierher: 
fam unb fie juchte. Er Jeßte fid) auf den 
Sand an ber Spike der Yandzunge, zu Füßen 


. Dazu hatte man ja Hunde. 





909 SSS EE SH Otto Stocifl: Re<22322232232322233233214 


des Heinen Wartturmes, der dort, ziemlich 
verfallen, mit einer morjchen Holzjtiege ver: 
leben war, damit man von feiner Spike 
nach allen Seejeiten ausjpähen fonnte. Biel: 
leiht fam fie hierher. Heftor lag neben 
ibm und genoß bebaglid) ber vollen Sonne. 
Ingomar fap mit eingezogenen Knien, 
rauchend und gedantenlos oder in Bedanten, 
wie man will, und jpähte auf die weißen 
Gegel, bie auf der Fläche bes Majjers rubten 
wie falter. Es ging fein Wind, barum 
bewegten fie fid) gar nidjt. Das Majjer 
war nur ganz leicht geftreift und gefurdt 
von oberflächlich treifelnden Wellenringen 
und jchlug mit gleichem, fabtem, gludendem 
Tonfall zufrieden ungefährlich an die Ufer. 
Ein altes Fladboot, an einen Pfahl ge: 
bunden, |djaufelte gelajjen auf und nieder. 
Ein gutes, jommerlidjes Nichtstun ftredte 
ih woblig allentbalben aus, indes oben am 
blauen Himmel ganz leije Feder: und Faſer— 
wölfchen zerzupft waren. Tb es hier wohl 
Stürme gab? 

Gr wollte den Hund jegt auf Intelligenz 
und Schulung prüfen. Er erzählte ihm alles 
MWillenswerte über die erwartete Dame. 
Seftor jak aufmerfjam ba und fien treu: 
lid) 3u3ubóren. Wenn fein Maul fih ge: 
legentlich zu einem mächtigen Bähnen öffnete 
und bas lange Gebánge dazu bin: und ber: 
pendelte, war es gewiß nicht Langeweile, 
jondern nur eben Hundegewohnheit. Dem 
unjduldig ehrbaren Freunde mangelte jede 
tattlofe Abjiht, man fonnte fih gewiß auf 
jeine Bereitwilligfeit verlajjen. Der würde 
ihn niht |djabenjrob anjehen, wenn ihm 
eine Sache vorbeigelánge. Alfo er bejchrieb 
ihm die Dame, aber furz, denn er nahm auf 
die Spradfremdheit des Kameraden Rüd: 
fid. Immerhin verjudte er auf deffen Jn- 
ftinft einzuwirten. Cr hielt ibm ben Hand- 
iub Hin, den feidenen. Heftor blinzelte bas 
ungenieBbare Gtüd gleichgültig an. War 
es etwa zum Efjen? Nein! Nun alfo. Aber 
da Ingomar es ihm immer wieder vor bie 
Naſe hielt, jdnupperte er daran, um dem 
unbegreiflichen Herrn eben Geniige zu tun. 
Dann hielt er 
ibm ein fleines, vielgefaltetes Stückchen 
Papier hin, fo lange, bis Heftor aud) das 
burd) bie Naje gewürdigt hatte. Was darin 
ftand, fonnte ihm ja gleichgültig fein. Hektor 
Ihnappte nad) Fliegen, gelegentlich wálzte 
er aud) feine feuchte, lackſchwarze Schnauze 
im Graje. Dann tat Ingomar das bewufte 
Stüd gujammengefalteten Papiers in den 
Handſchuh. Damit es nicht berausfalle, 
job er es in die Mitte hinein und band 
dann das Gewebe wie ein Stüd Schnur 
loje zujammen. Schändlid), einen Handſchuh 


fo zu verziehen und ein jo zartes Andenten 
jo grob zu vertnoten. Uber es blieb ja nichts 
anderes übrig. Wiederum webte er Damit 
dem Hunde unzählige Male an der Schnauze 
vorbei. Die Sonne ftand fdon bod) am 
Himmel, es war bald Badezeit, als fid) am 
Eingange der Allee eine Gejellihaft von 
lihten Roden, Blujen, Schirmen zeigte 
Wud) ein paar Herren waren dabei, man 
jah Zennis|djláger, Spagzierjtöde, weiße 
Schuhe. Debt folte es fid) zeigen. Settor 
wurde aufgefordert, den Handidub zu neh: 
men und bie Dame au: juchen. Der Hund 
erhob fid) langjam, ftredte zuerft die Bors 
derbeine und Hinterbeine gewaltig aus, fo 
daß fid) fein Körper gut um die Hälfte feiner 
Länge auszog. Das war fein Giniprud) 
gegen den mißlichen Botenweg. Uber er 
nahm den Handſchuh mit dem eingewidelten 
Briefhen immerhin ins Maul und trabte 
fort. Ob er das Pfand niht etwa verlor 
und fallen ließ? Ingomar bedrohte ihn mit 
gewaltigen Strafen für dieje etwaige Untat. 
Heltor achtete gar nicht mehr auf die War: 
nungen und Ermunterungen, die jein Herr 
ihm nachrief, fondern lief bis zum Anfang 
der Lindenallee, jo jchief nad) der Rechten 
geneigt, wie ein nachdenklich überlegender 
und geduldiger Hund. Ingomar jpähte ihm, 
die Hand über den jdjarfen, vorm Licht ge- 
Ihügten Augen nad) Set war der Bote 
bei dem Haufen von Gonnenjdirmen, lichten 
Róden, Blujen, weißen Schuhen und Tennis: 
Ihlägern. Er mijchte fid) unter die Leute. 
Er machte jid) bei ihnen zu jchaffen. Er 
blieb auch dort. Ha! Der Elende fing eine 
Annäherung mit einem Bulldogg an, Der 
zu ber Gelellidajt gehörte. Wenn er nur 
den Handſchuh nicht verlor, wenn er nur 
nichts Dejpettierlidjes damit anjtellte oder 
anjtellen ließ. Die beiden Hunde, der weiße 
und der graubraune, jagten umeinander ber 
und trieben in einem gewiljen Rreije um 
bie Gejellidjajt ftändig weiter, jo veran: 
laßten fie die Röde, Blujen, Gonnenjdirme, 
fid) etwas beffer vorwärts zu bewegen. 
Alles fpielte fid) in den zivilen formen des 
Hundelebens ab, ohne Lärm und Bellen, 
ohne offene Feindjeligteiten, bejonders weil 
fid) tein Menſch in ihren Berfehr mijchte, 
weil niemand fie hegte oder voneinander 
weg3zujdeuden judte. Wenn nur dem 
$janbidju) nichts paljiert. Wenn Ddiejer 
Heftor ibn nur richtig anbradte. Er lief 
immer im Kreije um diefe Herde, die er zu 
leiten ſchien. Endlid) famen allejamt näher. 
Die Cdmadjtenbe ging Arm in Arm mit 
der Heinen Braunen, bie fo munter lachte, 
wie eine fünfzehnjährige, imbeljen ein junger 
Herr mit bartlojem und fadem Belicht ihnen 


ee 


— cel Die Schmiere ZZ ZZ Zu 998 


irgend etwas erzählte, das er ihnen für febr 
fomijch einzureden fuchte, denn er lachte un: 
aujbórlidj, während bie beiden Mädchen 
ernft blieben. Seftor hielt fid) jet an der 
Seite ber Cdjmadjtenben, ja’ er trabte jo 
dicht neben ihr, daß man hätte glauben 
fönnen, er gehöre zu ihr. Die Gejellichaft 
ließ fic) auf einer Banf nieder. Man mußte 
Ingomar von dort ebenjo genau feben, wie 
er bie HerriMaften ausnahm. Die Schmad)- 
tende jab, bie übrigen umftanden fie, und 
nad) einer Weile nahm die fleine Braune, 
Dann der junge Miann Pla. Die andern 
machten fehrt und fpazierten nod) einmal 
auf unb ab. Seftor ließ jid) neben ber 
Schmadtenden nieder, ganz als gehörte er 
zu ibr. Er hatte richtig nod den’ Hand- 
[hub im Maul. Das Fräulein ftreichelte 
ibn. Er fab zu ihr empor, das intelligente 
Vieh! Debt fam der Augenblid. Die Heine 
Braune [bien den Handſchuh auerjt zu be: 
merten, wenigjtens madte [ie bie Schwarze 
darauf aufmertiam; der Herr lachte und tat 
jo, als wollte er Den Handſchuh an fih 
bringen. Die Schmadhtende nahm ihn aber 
ral aus dem Maul des Tieres. Gebt 
mußte fie fic) enticheiden. Hatte fie das 
Papier darin gefpiirt? Sie warf den Hand- 
¡hub wie einen eben weit weg. Heftor 
Hürate darauf zu, faBte den armjeligen Reit 
eines Gewebes, bas nad) fernem Morgen— 
land, nad) Fühler, gebadeter, bräunlicher 
Haut geduftet hatte und nun im Staube 
lag, unb bradte ihn ber Dame im Triumph 
zurüd. Hrgerlid) hielt fie den Handjchuh 
einige Cefunden lang, dann ließ fie ihn ein: 
fad fallen und auf dem Boden liegen biet 
ben. Sie [bien Ingomar nicht zu bemerfen. 
Menigftens blidte fie nicht ein einziges Mal 
nad) ibm, ber doch jowobl malerijd als 
imidlid, mit eingezogenen Knien und zu: 
riidgebeugtem Kopfe, ohne Hut, mit zurüd: 
geichlagenem, weißem SHemdfragen dajak 
und Darauf wartete, bemerft zu werden. 
Das war ija gerade das Wichtige, fie be: 
mertte ihn, indem fie ihn ignorierte. Settor 
war es müde, tatenlos neben der fremden 
SBerjon zu bleiben. Geine Dienfte wurden 
jedenfalls bier nidyt mehr benötigt. Er 
madje jid) Bewegung, indem er langjam, 
fid jchüttelnd, aufítand und Das entferntere 
Rudel Connen|djirme, weiße Schuhe, lidte 
Ride und Blujen bejuchte, indem er es 
wieder mit dem weißen Bulldogg in adjtbar 
weiten Kreijen umlief und zu bejjerer Be: 
wegung veranlapte. Das ging fo eine hübjche 
Meile bin und her, bis Heftor wieder vor 
ber Bank baltmabte und zu Füßen der 
Schmadtenden Pla nahm. Jebt ftreichelte 
fie ibn aber nicht mehr. Ingomar hielt es 


für angebracht, aller Welt zu zeigen, daß er 
der Herr des Hundes war. Darum tat er 
einen leifen Pfiff, worauf Heftor die Ohren 
|pibte und überlegte, ob er gleich folgen 
miüjje. Er jdjien es für richtiger zu halten, 
eine deutliche nodmalige Willensäußerung 
jeines Herrn abzuwarten, daher -wedelte er 
ein bißchen herausfordernd und fprang erft 
auf die Beine, als Ingomar ein zweitesmal 
lauter und mit einem deutlichen Ton von 
Drohung ont, Heftor blidte nod) einmal 
furz auf bie Dame, ob fie dazu vielleicht 
etwas zu bemerfen habe, fie febe ja, dab ibn 
andere Pflichten riefen und miijje ibn ent: 
Ihuldigen, damit lief er Dann — er hätte es 
etwas rajcher tun Tonnen — Ingomar zu. 

Mas nun? Nichts! Warten? Warum 
jollte er denn immer fein Gehirn anftrengen, 
um etwas Neues herauszufriegen? Wenn 
der Dame dort an ihm lag, folte fie aud 
einmal zeigen, was ihr einfiele. Er war- 
müde, die Sonne brannte, feine Stellung mit 
den eingezogenen Beinen behagte ihm nicht 
mebr. Er lebnte fich leichter an die Gras: 
böjhung, die zum Wartturm anjtieg. Er 
lehnte und wartete jo, während Heftor ge: 
mädlich fauerte und die Wärme ohne ga- 
lante Wünſche auf jein Fell wirfen lich. Sn: 
gomar mußte fogar ein bißchen gejchlummert 
haben, denn als er nochmals aufjah, fak 
niemand mehr auf der nädjiten Bant, und 
am Wusgange der Allee bewegte fih das Ru- 
del Connenjdjirme, weiße Röde, Tennis: 
Ihläger und lichte Schuhe fort, nad) dem 
Bade. Das gab Ingomar einen Rud. Er 
iprang auf, Seftor zudte vor willfommener 
Bewegung. Beide jchüttelten fih und gingen. 
„Euch! Sud)!” befahl der Herr. Heftor ver: 
Honn, was gemeint war, und brachte richtig 
ben zerfnüllten, verftaubten Handſchuh zurüd. 
Aber bas Stiidden Papier war nicht mehr 
Darin, auch nicht mehr bei der Bank zu fin: 
den. Cie hatte es alfo bei Gelegenheit her: 
ausgenommen. Bewiß war es gelejen. Mert- 
würdig nur, daß ber Handſchuh wieder zu: 
gebunden und zu cinem Knäuel verkleinert 
war, wie vordem. 

Ingomar eilte wieder vor das Bad, aber 
bie Schmachtende fehlte. Bei allen Göttern, 
wo war fie? Was bedeutete das an jeinem 
Geutigen Benefiz? Gie fehlte. Ram fie nicht 
endlich zögernd hervor? Er hatte ihr wieder 
eine Roje gefauft und bielt fie verlegen 
gwijden feinen Fingern. Er Hatte einen 
zweiten Brief bereit, den er ihr mit der Blume 
überreichen wollte. Wie brachte er ben jebt 
an die richtige Adrejje? Heute am Tage feines 
Benefizes war Ingomar über diejes Aus: 
bleiben jehr beunruhigt, heute mußte fid) 
irgend etwas Bejonderes ereignen. Daß fie 


294 cSesecccscs Otto Stocifl: | B33323233323233323324 


fehlte, war das Bejondere. Das Haus war 
ausverfanjt, Er hatte eine gute Einnahme 
zu erwarten. Die liberaderin ftrablte. Sie 
jptelte bie Millerin gar zu gern. Ingomar 
bejhloß, fic) im Hotel nad) ber Schmad): 
tenden zu erfundigen. Was war fein Auf: 
treten heute ohne fie? Bor dem Eingang 
jah er einen Mietwagen ganz bepadt, die 
Schmachtende mit ihrem Ontel nahm gerade 
von allen Leuten bewegten Abjchied, die 
Damen überreichten ihr Blumen, die Herren 
machten ihr zum legten Male den Hof, fie 
trug ein graues Reijefleid, auf bem [d)malen 
Strohhut einen blauen wehenden Schleier, 
den fie fpáter wohl um den Hals zuband. 
Der Ontel lehnte bequem im Rüdfig. Sic 
machte jid) nod) mit den Roffern zu tun. 
Endlich zogen bie Pferde an, fie winfte mit 
beiden Händen und nidte. Heute gefdah 
das! Heute zu feinem Benefiz! Ingomar 
"Stand wie verfteint. Er 30g endlich tief feinen 
Dagerhut, ba winfte fie aud) ifm und ganz 
deutlich ihm, lächelte, ja fie ergriff eine Roje 
aus einem Strauß und warf fie ibm zu. 
Dieje Verwünjchte! Jet fonnte [ie ibm ein 
Zeichen geben, jebt verjtand fie es, jebt, wo 
es zu |pdt war, jekt rief fie ihn, jet follte 
er ihr folgen! Heute? Zu feinem Benefiz? 
Wo er auf dieje Einnahme wartete, wo er 
infolge des Sundeftaufes —  Sjeftor ftand 
neben ihm und wedelte unjchuldig — faum 
mehr für ein paar Tage zu leben hatte. 
Was tat's! Ihr nah! Wohin fuhr fie? Er 
309 das Stubenmädehen beijeite. Mie Dicie 
dumme Perjon im [djmargen Kleide mit dem 
weißen Häubchen dajtand und wintte und 
das eben empfangene Trinkgeld nod) warm 
in der Hand hatte! Bor allen Leuten 30g er 
(ie beijeite, jo daß man ihn mit bem Spiel, 
perjonal vertraut jah. Die Echmadhtende 
mußte es aud) nod) jehen! Wd was! Sin 
aller Eile, während man dem Wagen nad): 
winfte und Grüße nacdjdidte, erfundete er: 
Sie fubr heute nad) Salzburg, aber mit der 
Lofalbahn, um dort noch ben Abendzug nad) 
Ling zu erreichen. Ihr Gepäd ging gleich 
nad) Ling, von wo fie zu Schiff nad) Wien 
reijen wollte. Wenn er alfo bald aujbrad, 
fonnte er nod) den Dampfer erreichen und 
in ber nadjten Hauptbahnitation den Zug, 
jo daß er in Salzburg rechtzeitig für den 
9tbenbjdjnellgug nad) Linz eintraf. Ein 
raſcher Entſchluß! Hol ihn der Teufel, hole 
der Teufel das Benefiz! Sie hatte ibm ja 
gewintt, deutlich gewintt. Sollte er nicht 
fähig fein, ihretwillen auf eine Theatervor: 
itellung, auf eine Tageseinnahme zu verzid): 
ten? War er ein Mann, ein Licbhaber, ein 
Schwärmer oder eine Theaterfigur? War 
die liberaderin wichtiger als feine Leiden: 


Ihaft? Sollte er (id) über einem Benefiz 
verjäumen? Bon allen Gedanten durchwir: 
belt rannte er, den Heltor immer an ber 
Geite zum „Braunen Ochſen“ und ftaht fich, 
von den Edaujpielern unbemerkt, auf feine 
Dachjtube. In bódjter Eile warf er feine 
Giebenjadjen in feine Zedertajcdhe, einen alten 
Sodenmantel über bie Schulter und jchlich, 
pfiffig lächelnd, wieder über die Holzitiege 
hinab, deren Knarren er bei jedem Schritt 
verwiinjdte. Endli war er im Freien. 
Er hatte zwar Hunger — es war Mittags: 
zeit, die andern jaBen jet in der Gajtitube 
beim (Gillen und ftártten jid) — zu feinem 
Benefiz. Hol’ fie der Henter! Er konnte ja 
noch beim Krämer ein Brot und ein Stüd 
Wurft taufen. Seine Zeche berichtigte er 
nicht, das überließ er der Tiberaderin. Gie 
hatte ihn ohnehin genug ausgeniigt. So 
verjchwand er vom Schauplaße diejer Hand- 
lung und betrat die Landungsbriide Des 
Dampfers. Um dieje Zeit waren wenig Bájte 
da. Man erfannte ihn niht. Der Dampfer 
tam, legte pfauchend und gurgelnd an. Jn: 
gomar jtieg gejpannten Ausdruds ein, Heftor 
idlid) neben thm, ängjtlicher und ſchuldbe— 
wußter als jein Herr. ls das Schiff wieder 
mitten im Gee dabinfubr und bie hellen 
Häujer bes Ortes an dem waldigen Ufer 
feiner wurden, berubigte jid) feine Auf: 
regung und er malte jid) im Geijte die Ver: 
legenbeiten aus, welche heut abend entitehen 
wiirden, wenn der Ferdinand bei ber Kabale 
und Liebe fehlte Nun, mochte die liber: 
aderin jehen, wie fie ohne ihn fertig wurde. 
Er hatte Bejjeres vor, Gelt, Heltor? Der 
Treue jah ihn ratlos an und tat, als ver: 
ftünde er ihn. Dafür verabreichte ihm Ingo: 
mar ein Stüd Brot und Wurft. 

Abends — gerade als die Voritellung ans 
gehen mochte — fand er jid) in Salzburg in 
ber Babnbofshalle mit Heftor ein. Broßes 
Gedránge, er wurde in einen Wagen dritter 
Klaſſe hineingejhoben und fonnte nur eben 
von weitem einen blauen Reijejcleier winter 
jeben. Geduld, liebes Herz, in Ling feben 
wir uns wieder! — 

& 88 

Die Tiberaderin müßte eine  [djlecbte 
Pringipalin gewejen fein, wenn fie ben Ab— 
gang ihres erjten Helden nicht lange vor 
dem Beginn der Borjtellung gemerkt hätte. 
Schon am Jtadymittage fehlte ihr der Junge. 
Seine Stube war leer, aufgeräumt. Rein 
Zweifel, er war bapongegangen. ©, ihre 
Abnungen! Mun hatte er wirklich den ge: 
fiirdteten Raptus betommen und gleid) aud) 
bas Außerfte ausgeführt. Daß er jehr bald 
in Verlegenheit jein würde, tonnie fie hier 
weder trüjten, nod) beruhigen. Was jollte 


PESSSESESSSTSTLSTLA Die Schmiere 295 


ſie mitten in ihrer Saiſon ohne Helden an— 
fangen? Ob ſie ſich heute mit einer Erſatz— 
vorſtellung helfen fonnte? Aber man tann 
leider nicht täglich Erſatzvorſtellungen geben. 
Seine Zeche fiel ihr auch zu. Sie rannte 
in alle Geſchäfte des Ortes, um nach dem 
Flüchtling zu fragen, er hatte jid) ja aid) 
im Hotel herumgetrieben, fie verjudte beim 
Oberfellner etwas Näheres herauszubringen. 
Der |djmungelte und deutete mit aller Bor: 
fidt und gewählten Ausdrüden an, daß 
vielleicht irgendein galantes Abenteuer den 
Herrn weggelodt haben möge, vielleicht 
ftiinde bie Abreije einer gewiſſen Dame mit 
der feinen in einem gewijfen Zufammenbhange. 
O abnungsvoller Engel! Da erinnerte [ie 
(id, daß bie Sommergáfte alle um Diejen 
Herrn Baron Bühl veriammelt zu fein 
pilegten, ber getijjermaBen der Oberjte ber 
Sommerfrifchgejelichaft war und aud der 
anerfannte Herr bes Ortes jelb[t. Wielleicht 
wußte der Näheres, fonnte ihr raten, helfen. 
So wagte fie denn, ibn aufgujuden, und 
ließ fid in dem vornehmen alten Schloſſe 
anmelden, bas hod) über bem Gee, halb 
Burg, halb Landhaus geräumig mit Wirt: 
Ihaftsgebäuden, Stallungen und behaglichen 
Wohnzimmern, inmitten eines gepflegten 
Gartens daftand und die ganze Landjdhajt 
überblidte. Bon den Fenftern der Halle fah 
man weithin in alle Himmelsrichtungen über 
den Gee, über die Streifen der Felder, über 
bie Höhenzüge nad) fernen Tälern, und in 
ihrer Aufregung glaubte fie, wenn fie nur 
einen Mint befäme, wo fie ihren Flüchtling 
eigentlich Juchen müßte, fie würdeihnirgendwo, 
als einen ganz Heinen ſchwarzen Buntt bin: 
ziehen jehen Tonnen und von feinem Benefiz 
wegjtreben. Der Baron war nicht einmal 
febr erftaunt, als man ihm die fiberaderin 
meldete. Da er mit allen Angelegenheiten 
und Neuigkeiten befaßt wurde, überrajchte 
es ihn nicht weiter, daß ibn aud) die Pringi- 
palin des wandernden „modernen Enjembles“ 
auffudjte. Er trat, ein freundliches Ladeln 
auf feinem roten und braunen Gefiht, halb 
Gutsherr und Bauer, halb Weltmann und 
ländlicher Gewalthaber ein und begrüßte 
die áltlime Perjon mit einer Verbeugung, 
welche leicht genug ausfiel, da er mit biejem 
Theater nicht zu viel Aufhebens machen 
wollte, aber bod) angemejjen jdjien, da er 
mit einer Tame an tun hatte. Denn irgend- 
wie war dieje ältliche, anftándig, aber 
tümmerlid) geffeibete Perjon bod) eben eine 
Dame und verriet aud) eine gewilje Gebieter: 
Ihaft und Bildung. Ja, ihr verblübtes (Be: 
licht, ihre groben, bei Tageslicht fon recht 
grauen Haare unter dem altmobijdjen Blau: 
menbut, die hageren Arme in Zwirnhand: 


ſchuhen, bas graue Wollfleid, bie verjorgten 
Züge und bie unrubigen dunfeln Augen 
machten bier im Leben, nachmittags, einen 
bejjeren Eindrud von Ernft, Verantwortung, 
Sorge und Gelbftbeherrichung, als jemals 
in ber Abendbeleuchtung des Theaters, wo 
jie gejchminft war und jugendlid tat. Gie 
legte denn auch glei mit anftändigen 
Worten ben Zwed ihres Bejubes aus: 
einander und verhehlte nicht, dak die Flucht 
ihres Schaujpielers für fie eine fürchterliche 
Merlegenbeit bedeute, ja den Beltand 
ihres ganzen Unternehmens in bódjite Ge: 
fahr bringe, ba fie ohne Helden und Sieb: 
Haber überhaupt fein Stüd aufführen und 
ihr Enjemble nicht zufammenhalten finne. 
Cie felbft und aud) bie Mitglieder ftiinden 
brotlos da.  Grjat& fei jebt faum zu be: 
Ihaffen. Darum frage fie den Herrn 
Baron, ob er ihr nicht einen Mint geben 
tónne, wie fie ben Unglüdlichen fuen, 
auffinden und zur Gtelle jchaffen möge. 
Denn aud) der Reichtlinnige jet mehr zu be: 
Hagen, als zu verdammen. In jedem Riinftler 
[tede nun einmal irgendein gefährlicher Hang 
zum Abenteuer und Ausbruch, eben dadurd) 
und deshalb jei einer ja eben Riinftler und 
man müſſe einen follen bitteren Mangel 
eben um bes Vorzugs willen verzeihen, dem 
er entitamme. Gie babe an bem Entflobenen 
bod) trog allem einen fleihigen, begabten 
und jtrebjamen Schaujpieler gehabt und ge: 
\hägt, dem fie jchließlich auch Delen un: 
verantwortlichen Streich zugutehalten miijje 
als einem rechten Rinde, nur wolle fie ibn 
zurüdbefommen und zur gewohnten Arbeit 
wieder haben. Der Baron hörte fie höflich 
und geduldig an. Er wußte nichts anderes, 
als was alle wußten, daß Ingomar entflohen 
war. Sowohl bie fiberaderin als er jelbit 
Düteten fih, den Verdadt auszufprechen, 
der ihnen beiden zu Ohren getommen fein 
mußte, daß ber Leichtjinnige einer fchönen 
Perjon zuliebe das Weite gefucht habe und 
nun ins Blaue hinein einem blauen Reije: 
\chleier nachziehe. Beide waren welterfahren 
genug, eine jolche, andere Damen der Ge: 
jelichaft und mittelbar auch bie Gönner bes 
Theaters berührende Beziehung nicht zu 
erwähnen. Der Baron madte fid) freilich 
ebenjo wie die fiberaderin feinen Reim auf 
die Schmadjtende und auf den von ihrem 
Magnet angezogenen leichten Span. Er 
wußte aber nichts über Ingomars Verbleiben, 
Reijeziel oder Aufenthalt und konnte mit 
gutem Bewiljen verfichern, er ahne nicht ent: 
fernt, was der Held und Liebhaber draußen 
in ber Welt vorhabe. Die liberaderin 
imúttelte jchmerzlich den Kopf, fie fehe nun 
ein, daß fic wohl auch nur geringe Hoffnung 


296 Otto Gtoejj[: | Rx=2=323232223323223224 


hegen dürfe, den Flüchtling wiederzube: 
tommen. Wie fie fid) nun helfen folle und 
tónne, wiffe fie freilich nicht. 

Der Baron Bühl betrachtete fie mit einem 
gewillen Wohlwollen, bie ordentliche, nüd- 
terne und jelbft in aller Aufregung gefaßte 
Perjon gefiel ibm gar nicht übel, und da es 
[don fein Beruf war, begann er wieder 
Borjehung zu fpielen und nachzudenfen, wie 
er ihr helfen Tonne Wenn er nicht Ion 
ein jo alter Knabe gewejen wäre, hätte er 
ihr vielleicht angetragen, felbft als Ferdinand 
oder in anderen Rollen aufzutreten, um ihr 
bas Weiterjpielen zu ermöglichen, denn er 
hätte zeitlebens für das Theater eine rührende, 
wenn aud) unerwiderte Liebe gehabt. Aber 
Scherz beileite, er möchte ihr einen anderen 
Vorſchlag machen. Da er nicht zum Theater 
fommen fünne, möge vielleicht fie zu ihm 
tommen. Die Überaderin fah ihn erftaunt 
an. Nun, das fet nicht jo unglaublich und 
unmöglich, wie es fheine. Er halte [ie für 
eine ordnungsliebende, genaue und ehrliche 
Frau, ber man wohl aud ein Hauswefen 
anvertrauen fónne, das ja [|djlieBlid) aud) 
nidjt viel verwidelter zu betreiben fei, als 
vine Theaterwirtidaft. Kurz und gut, er 
juhte eine Bejchließerin, bie ihm auf feine 
Borräte fehe, das Nötige austeile und über: 
wade. Die Vorgängerin fei ihm zwar nicht 


Durdgegangen, wie Frau Überader ihr Held, 


aber fie Habe ihm gekündigt, und nun fheine 
ihm das Zujammentreffen zweier Verlegen: 
heiten einen gemeinjamen Ausweg zu zeigen. 
Cie jet bod) [djlieBlid) im Theater nicht 
gerade glüdlich, meinte er, die ewigen Ver: 
legenheiten und Corgen müßten einer Frau 
in vorgerüdten Jahren, fie verzeihe, daß er 
jo aufrichtig rede, bod) zuwider werden, das 
Eintommen ſchwanke von Schulden zu ge: 
ringitem Ertrag, jeder Tag bringe neue Ent: 
táujdjungen, neue Schwierigkeiten, er glaube 
taum, dah fie auch nur einen Zehrpfennig 
für Zeiten der Not und Krankheit zurüd: 
legen Tonne, Gie babe vielleicht felbft jhon 
mandesmal die Bühne und ben faljen 
Zauber diejes Berufes verwünjcht, ein ruhiges, 
bürgerlihes Gejchäft begehrt, eine fichere 
3utunft und eine Wusniigung ihrer fraulichen 
Fähigkeiten. Was aber ihre Heine Truppe 
anlange, um Die jie fid) etwa auch nod) Sorge 
machen miijje und die fie niht ohne weiteres 
im Stich laffen fónne, jo glaube er and) für 
die Leutchen, wenn fie nur arbeiten wollten 
und ehrlich feien, Arbeit und Brot fhaffen 
zu können. Jeder würde jid) [don an einer 
geeigneten Gtelle verwenden laffen und 
wenigftens jo lange hier bleiben tónnen, bis 
er etwas anderes, Geeigneteres gefunden 
babe. Aber auch von den Mitgliedern er: 


warte er, daß fie in das bürgerliche Dajein 
am Ende nicht ungern aurüdtebrten. 

Er hatte jid) in edlen Eifer bineingeredet 
und alle Gründe erjchöpfend vorgetragen, 
bie er für feine gute Abſicht nur geltend 
machen konnte. Die Äberaderin jaf ftill ba, 
lenkte den Kopf unb jpürte, wie fie rot im 
Gelicht wurde und wie ihr langjam, unauf: 
haltjam Tränen in die Augen drangen, fo 
daß fie, als er endlich gejchloffen batte und 
auf ihre Antwort wartete, taum jprechen 
tonnte, denn fie fühlte fih völlig verwirrt 
unb nun nod) mehr aus allem Gleichgewicht 
gebradt, als vordem. 

Einen Augenblid jdjiem ihr freilid) aus 
diejem gutgemeinten Angebot die Rettung 
jelbft, eine bejjere Zufunft zu winten, ein Ende 
aller Mühen und Sorgen, eine aufrichtige, 
einfache, wahre, menl|djlidje Exijtenz, ohne 
Gelbjtbetrug und ohne jene abendliche Tau- 
ſchung, die jie — geld)eit wie [ie war — als 
joldje verjpürte unb als jchidjalhafte Laft 
ertrug. Aber aud) nur einen Wugenblicd 
lang. Im nádjten [bien ihr bie Zumutung 
unglaublich und unwürdig. Cie follte einen 
Beruf aufgeben, dem fie ein Leben lang in 
Sorge und Eifer, aber auch treulich gelebt 
hatte, der mit alien feinen Miibjeligteiten, 
aud) mit feiner Züge und feinem Gelbftbetrug 
bod) aud) die Schönheit, das Wunder der 
Welt jelbjt bedeutete und ihr gerade daran 
Anteil gab, je ftiefmiitterlicher fie fonft vom 
(Slid bedacht war. Hatte fie denn ihr Ge: 
ichäft nur betrieben, weil fie fein anderes 
Brot finden fonnte, oder weil es eben ihre 
Runft war? bhre &unjt, ihr Wille und 
Wunſch, ber feit ihrer Kindheit ihr ganzes 
Gelbft ausgefüllt batte. Mie mußte man 
einen Menſchen und fein eigentlides Mejen 
gering ein]d)iten, wenn man ibm zumuten 
tonnte, es an einem böjen Tage aufzugeben 
und ein anderes anzunehmen. Gie mochte 
freilid) anderen Belleren, Glüdlicheren ar 
Erfolg, an Begabung nadjteben, aber viel: 
leiht waren ihr Wille, ihr Streben, ihre 
men|djidje Kraft eben darum mehr wert, 
als der leichtere Triumph der anderen, denn 
fie ertrug Leiden und jahrelange Qualen, 
eine Manderihaft von Entbebrung, Ver: 
drug und Enttäufhung um Ddiejer Kunft 
willen. Und nun folte fie ihren Beruf, ihr 
eigentliches Wejen, das einzige, wofür fie 
lebte, wenn anders fie eben überhaupt für 
einen Swed lebte, aufgeben, bieje Runft 
verlafjen, bie ihr treuer geblieben war, als 
Jugend, Hübjchheit und Liebe? Denn Die 
Kunſt hielt bei ihr aus, fo wie fic bei ber 
&unjt. Wenn man vierzig Jahre Schau: 
jpielerin ijt, Dann ijt man es eben und wird 
nicht Belchließerin oder irgendwas Jonjt auf der 





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Künftleriihe Aufnahme von E. Wajow, Münden 





IS Die Schmiere 297 


Welt. Sie Heidete ihre Ablehnung freilich 
in höfliche unb bejonnene Worte, um den 
wohlgemeinten Rat nicht zu franfen und 
den hilfreichen Baron nicht zu verlegen; fte 
ließ zwar durdbliden, dak ihr Stolz und 
ihre eigentliche Natur das Angebot ver: 
werfen müßten, aber fie fand eine leidliche 
Form dafür, indem fie fih auBer[tanbe er: 
tlarte, fo jpät und in jo vorgerüdter Zeit 
ut neue Verhältnijje einzutreten, bie alten, 
wenn auch fümmerliden und jchwierigen 
aufzugeben, in denen dod, trog allem, eine 
gewijje Befriedigung, fogar, wenn man es 
jagen dürfe, aud) bas eigentliche wahre Glüd 
eines fummervollen Dajeins läge. 

So empfahl fie jid dem Baron, der fie 
mit bebauernbem Kopfichütteln entlieB. — 
Wem nicht zu raten ijt, bem ift nicht zu 
helfen. — 
8 8 

Wie erging es mittlerweile unſerem, ihrem 
Ausreißer? 

Der Abendzug fährt von Salzburg nad) 
Ling feine guten drei Stunden und verliert 
allmählich die Dämmerung, die Paffagiere 
werden müde, Draußen zieht die Duntelbeit 
auf und weht fühl in bie Fenfter. Ingomar 
fröftelt und er ſpürt aud das Zittern des 
empfindlichen Hundes, der unter der Bant, 
hinter den Beinen jeines Herrn fauert. Al: 
müblid) denkt der Herr nicht mehr an die 
Berlodungen feiner Flucht, jonbern an die 
näheren unbequemen Umftände, weniger an 
den böjen Spaß feiner Benefizvoritellung 
ohne ihn, als an die Kälte im Wagen und 
an das warme Nachtmahl, das es jegt im 
„Braunen Odjen” gegeben hätte. Hingegen 
mußte er in Ling mit jeinem Gelbe zu Rate 
gehen, wenn er jeiner Schönen nod) eine 
gute Weile nad)reijen und aud) einen ernfteren 
Erfolg erzielen wollte. Nichts da, warmes 
Nachtmahl und bequemes Quartier! Wir 
werden im Freien auf einer Gartenbant 
warten, bis es Zeit ijt, zu Schiff zu geben. 
So begann unjer Held zu denten, womit 
jein Hund anfing und blieb: Ejjen und 
Schlafen! In Linz jdjüttete der Zug bie 
Leute rajd) aus, und Ingomar erbajdjte 
nicht einmal mehr ein flüchtiges Wehen des 
blauen Schleiers, ber lángft [hon in einem 
Hotelwagen verjorgt war. Durd)froren und 
hungrig ftieg er über die Treppe in Die 
Stadt hinab und gab jid) gar nicht einmal 
mehr bejonbere Mühe, der Begebrten, der 
er nadjreijte, eindringlich nachzulehen. Er 
perjuchte feinem Gang immerhin eine muntere 
Bewegung, einen gefälligen, gejdwinden 
Rhythmus zu geben, erjtens wegen der Gt- 
mármung, zweitens weil dadurch aud) fein 
ganzes jeelijches Verhalten wieder elajtijd) 


Belhagen & Klafings Monatshefte. 35. Jahrg. 1990/1921. 2. BD. 


unb fdjwungvoll werden jollte. Damit be: 
tam aud) das träge Pendel feiner Phantafie 
einen Stoß, daß es herzhafter [hwang und 
in der Richtung einer wunderbaren Strom: 
fahrt mit einem wunderbaren Mädchen in 
Duft und Märchen. Um bis zu biejent 
Morgen — das Schiff fuhr gottlob wenigftens 
jehr früh am Tage ab — feine Phantafie 
nidt völlig nüchtern durch anjtrengende 
Vorftelungen weiter jagen zu miijjen, juchte 
er mit feinem Sjeftor ein tleines Bafthaus 
auf und genoß ein bejcheidenes, aber ſchmack— 
haftes warmes Effen, dazu das kühle, frijche 
Bier, ließ aud) dem Hund ein ftandesgemäßes 
Futter reichen, trat jo gejtártt feine nächtliche 
Wanderung durd) die Stadt an, jo lange, 
bis er [djlájrig war, daß er auf einer Bank 
im Volksgarten halbwegs ungeftórt bis zum 
Zagesanbrud) einzuniden hoffen fonnte. 
Sjeftor leijtete ibm babet [till und geduldig 
Gejelljdjaft. Endlich war es jo weit 3Utorgen, 
daß bas graue Licht des jpäteren herbitlichen 
Tages bie Stille jhon mit Hahnenrufen 
unb erftem Marktfuhrwertslärm durdbrad. 
Ingomar wuſch fid) etwas oberfladlid an 
einem fließenden Brunnen und fümmte fih 
vor feinem &ajdjenipiegel, zupfte fein Hemd, 
jeine Krawatte, Rod und Weite zurecht, gab 
dem weichen Hütel eine neue gefälligere Form 
und bejtieg als erfter das Schiff, um Die 
Schöne nicht zu verfäumen und [ogleid) mit 
den Augen wenigftens gefangenzunehmen, 
wenn fie auftrat. Seine Mittel erlaubten 
ihm freilich nicht, eine Fahrkarte für den 
erjten Blak zu löjen, wie bie Schmacdhtende 
gewiß tat, aber auf bem Verded nahm man 
dieje böjen Gelbunter|d)tebe nicht |o genau und 
fonnte fic) hierhin und dorthin ergehen, bie 
Ausficht bewundern oder ein hübjches Gegen: 
über und immer fo tun, als fet man an 
ber geziemenden Ctelle. Borderhand füllten 
fih die Räume ber zweiten Kajüte und 
das Sinterded rajcher als bie der erjten. 
Bauern, Städter, ländliche Frauen, Student: 
lein, reijenbe Handwerfsleute fanden fid) 
gleich mit Zajdjen und Koffern, Waren und 
Körben unb mit Muſik, Gejang und Fröhlich: 
feit zueinander, und faum war ber Einlaß 
eröffnet, fo trugen die eilfertigen Schiffs— 
fellner [Hon Bier und Mein und warme 
Wiirjte, ja faftiges Fleiſch mit fo[tlidjem 
Zwiebelgeruch herum, boten Obft und Kuchen 
aus. Ein retjenber Mufifmacher fpielte auf : 
der Ziehharmonifa, die Zuhörer fangen zu 
feiner Begleitung, und in aller Eile war 
gleid) eine ganz luftige Welt auf pelen 
Blanfen zufammengebradt und in ihrem 
Gange; bie muntere reijehafte Welt der ein: 
fachen Leute: als beftiinde fie ewig und nicht 
bloß für ein paar Stunden Fahrt über den 
20 





ralh bintragenden Strom. Ingomar fühlte 
(id) von diefem Durcheinander heimelig be: 
rührt, glich es Dod) irgendwie ber vertrauten 
Welt des Theaters mit jeinem Gedrange 
und Gejdiebe, mit feinen allbefannten, darum 
nidt minder wahren Figuren und Gi: 
tuationen, dem allerweltsweijen Wirt, der 
jedem feine Erfahrungen zum Bejten gibt, 
dem jugendlichen Reijeanfanger in taujend 
Berlegenheiten, netten, achtzehnjährigen 
Schönen, die mit vollem Herzen lachen und 
ihre dunklen Blide nad) gefälligen männlichen 
Reijegenoffen auswerfen, bis fie in eine 
Heine Galanterie eingefangen find, wo fie 
(id) und den lieben Nächſten haben wollen. 
Dazu ein Chorus von Ctati[ten, jchreienden 
Kindern, mufizierenden Bejellen, ausrufenden 
Kellnern unter einem Gerud) von Wein, 
Bier, Speije, Petroleum und Hanfjeilen. 
Schon war Ingomar mitten in biejem un: 
willtürlichen Trubel, als er von weitem den 
blauen Schleier flattern und jeine Schöne 
einfteigen fab. Nicht nur ihr Oheim war 
bei ibt, jonbern aud) ein hoher, jtattlicher 
und fidtlid) reicher Kavalier mit einem 
prächtigen englijden braunen GSchafwoll: 
mantel, meidem Gilghut und dauerhaften, 
anjebnlidjen Schuhen, kurz mit einer Gomm: 
lung von Cigenjdaften und Zubehör, die 
ihn von vorneherein verdächtig und zugleich 
hochachtungswürdig madten. Ingomar ver 
ftand fi als Schaujpieler auf diefe Garde- 
robe und auf ben Charatter, ben fie zugleich 
fördert und ausdriidt, ja erjchafft: ben Gent: 
leman. Mit ruhiger, beinahe hobeitsvoller 
Gelbftverftändlichteit umgab diejer Frembling 
die Sdmadtende wie mit einer unnabbaren 
Atmojphäre von Reichtum, Unduldjamteit 
und Gelbjtgeniigen. (Er verjorgte fie mit 
allem erdenklichen Jiótigen, das Debt auf 
feinen Mint wurde alles zur Stelle gebradt. 
Ein Liegeftubl am geeignetiten Plate, fo 
daß man die vorbeigiebenbe Landidaft in 
bequemer Haltung genoß, auf einem Stühlchen 
wurde eine Platte mit Wein, Süßigkeiten, 
laltem Braten, Objt binge[tellt, Dazu nahmen 
der Gentleman und der Oheim rechts und 
linfs ihre Gige ein, jo daß die Schmachtende 
zwilchen zwei Paladinen gejchüßt dalag und 
jeelenvergnügt ſchmachten fonnte. Das tat 
fic Denn aud) auf bie unverjchämtefte Weife, 
indem fie in die eben ftárter aufglühende 
— Morgenfonne Hinanjblingelte, dann einem 
Scherz des Gentlemans mit halbem Obre 
borchend, halb im Traum vor fid hinladte, 
die Beine über die ganze Lange des Liege: 
jtubles ausjtredte, Dann wieder fafenbajt 
eingog. Man hätte fie nur jo ſchnurren hören 
mögen vor Zufriedenheit. Ingomar nahm 
it der Nähe an einem Pfolten Aufſtellung, 


j Otto Stoefjl: 33333 zz3gN 


wo er in ganzer Figur und guter Haltung 
aud) in bejcheidener Tracht immerhin Ein: 
drud machen fonnte. Denn [djlieBlid) braucht 
fid) ein Künftler von einem Jtur-Gentleman 
feineswegs bejchämen zu laffen, wenn ber 
Blid, der beide beobadtet, die höhere 
Menjchlichkeit und Bedeutung eben zu er: 
fennen und zu würdigen weiß. Ingomar 
fühlte, daß er einen ganzen Menſchen, eine 
Gattung Menfd) für fic) vorjtelle, dafür 
fogar verantwortlich fet, beinahe fozufagen 
vor Gottes Richterftuhl. Er felbft beherrichte 
darum feine Züge, das zugleich Werbende, 
Flehende und Triumphierende des Blides, 
ein Lächeln bes Munbdes, fragend und über: 
legen, bas fih eben fo leicht in Schwärmerei 
wie in Bitterteit erhöhen oder vertiefen 
fonnte, eine Haltung des leicht zurüdge: 
beugten Kopfes mit dem vollen braunen 
Haar, bie Entriidtheit und Sicherheit, Sidh- 
gebenfajjen und Fallung darftellte. Gein 
Anzug war nadláffig und über bie bürger: 
lide Korrektheit des andern erbaben. Den 
Hut trug er in der Hand, einesteils weil jein 
Haar in ber 3Brije wie eine braune Flamme 
im Wind [türmijd) webte, alfo fühn wirten 
mußte, andernteils weil die Ropfbededung 
am meiften die unzulänglichen Mittel verriet, 
mit denen er fid) bebelfen mußte, und daß 
fie in Regen und Gonne ohne Schirm, in 
Staub und Schmutz im Dienft berabge: 
tommen war. Seftor achtete feinen Herrn 
augenblidlid nicht jo jehr, um fich eine 
vorjichtige aber eigentlich ſchamloſe Gtreife: 
reien nad) Ebbarfeiten auf eigne Fauſt hier: 
bim und dorthin zu verjagen. Go fam er 
für dieje Szene nicht in Betracht und zur 
Geltung, bie gewifjermaBen monologi[d) dare 
geftellt wurde. Lange Zeit bemerkte Dic 
Schmadtende ben mabnenden, hocdhaufge: 
richteten, [dwermiitig Bezwingenden an 
einem Pfahle gar nicht, weil fie mit den 
beiden Herren ihrer Gejellichaft lebhaft 
iprechend bie Uferlandichaft würdigte, Die 
fid) in gefällig Iangjamer Bewegung, ein 
Bild máblid ins andere überleitend, vor 
den Angen der Rubenden entfaltete. Oder 
die Schlaue tat fo, als bemerfte fie ibn 
niht. In der Wirkung fam es auf dasfelbe 
hinaus. Gnblid) fonnte fie freilich nicht um: 
bin, aud) einmal anderswobin zu fdauen, 
als auf die Bäume und Berge. Da beeilte 
er fih, ihrem Auge richtig zu begegnen, und 
legte in jeinen Blid allen nur in einer 
Gefunde möglihen Ausdrud von Begehr: 
lichkeit, Vertraulichkeit, 3ujammengebórigteit 
und [o weiter, als jeien fie beide längjt [Hon 
ein nur bird) ben fatalen Bindeftrid): Raum 
getrenntes Doppelwort. Aber nun dente 
man: fein Blid traf ins Leere, ber Binde: 





BSSSSFSTHHTTHHTET Die Schmiere 299 


ftrich traf bas andere Wort nicht mehr an 
feiner Stelle, fie jah ihn zwar an, aber fie 
ihien ihn nicht zu erfennen, das heißt fie 
gab ibm zu verfteben, dak fie ihn nicht 
fannte, nod) erfannte, dak er für fie ein 
fremdes, beliebiges, wenn jdjon nicht un: 
beliebtes, cin gleichgültiges Mtitretjewejen 
war, nicht ein Dlitreijebetörter, Mitlebens» 
verlodter. Gie hatte eine Art, bie ſchwarzen 
Augen zu öffnen und dabei die Geele da- 
hinter zu veribliegen, um die fie ber arme 
Sdaujfpieler hatte beneiden können, wenn 
er an Runft, an feine Runft bei dem arm: 
jeligen fleinen Trauerjpiel hätte denten 
Tonnen. deffen lebte Szenen — Dajteben, 
Schauen und Angejehenwerden — er hier 
aufführen, mit fid) aufführen lajfen mußte. 
Gr ſchämte fih, wie er daftand und gejehen 
wurde, ohne zu einem eigentlichen Bemertt: 
werden zugelajjen zu fein. Ein umgetebrter 
Santt Gebaftian am Pfahl, ber gemartert 
wird, indem man ibm die holden Pfeile ent: 
zieht. Er wartete auf einen zweiten Blid. 
Der war aber nicht befjer als der erfte. 
Ingomar fühlte jid) fo burd)[roren von diejer 


Kälte, daß er jeine Haltung aujgab und- 


müde, verdrojjen über das Ded zu wandern 
anfing. Auch das war nicht leicht, denn es 
gab allenthalben SHindernijje: Liegeftühle, 
Hoder, Opernguder, Koffer, Kinder und 
Große. Er wollte nod nicht alle Hoffnung 
aufgeben, vielleicht fonnte er ihr bei einer 
bejjeren Gelegenheit bejjer begegnen, Er 
fand feinen Weg genau an ihr und ihren 
Bejhüßern vorüber. Er jtreifte jie beinahe. 
Der Gentleman fah über ihn hinweg, ber 
Ontel dachte nicht an ihn, die Schmachtende 
zeigte ein verdrießliches Gelicht. Nein, fie 
tannte ihn nicht, jie hatte es jo beichlofjen, 
die Elende, diefe gewiljenloje Verfiibrerin, 
die ihn richtig aus feinem fideren Gangen 
herausgedreht und als einzelnen Faden um 
ihren Finger bis hierher gewidelt hatte. 
Sekt warf fie diejen Faden weg und drehte 
bereits mit allem Behagen an einem neuen: 
Gentleman! Ingomar hatte nicht übel Luft, 
mit diejem Selbftvergnügten anzubinden, um 
ihm irgendeine Wahrheit bieles Weib be: 
treffend an ben Kopf zu werfen. Aber er 
bejann fid) zeitig feiner Menjchenwürde und 
verihmäbhte den Streit. Zudem war Der 
Kerl beffer genährt als er, mithin zum Giege 
bejtimmt. Hatte Ingomar nidt jchon 
Schaden genug an jeiner bereitwilligen 
Phantajie erlitten, um Schluß zu madjen? 

Das Schiff legte bei einer ganz fremden 
Station an: Hier ijt gewiß aud) eine ſehens— 
werte Gegend, und aller Vermutung nad) 
wird es auch hier nicht mehr Elende geben 
als jonjtwo, dachte Ingomar, pfiff feinem 


E — — 


Hektor und verließ zu feiner eigenen Über: 
rajdung über einen [o eiligen Entjchluß das 
Schiff. Dabei wintte er nod) ber Schmad): 
tenden mit einem höhnijch » ehrerbietigen 
Grupe, den [ie ebenjowenig erwiderte, wie 
alle bisherigen Grüße auf der Fahrt. 
88 Si Be 

Nun ftand er alfo in der Fremde mit 
einem Hund allein, inmitten ber neugierigen 
Menge, bie mujternd die Ausjteigenden um: 
ringte und den Cinjteigenden nadblidte. 
Er drang eilig durch den Haufen und ge: 
wann die Landjtrage, einen jo heißen Zorn 
und jolde Veradtung im Herzen, daß es 
ihn gelüjtete, feine Arme und Hände und 
Beine zu brauchen, um über irgend etwas 
Hergufallen. Die Belinnung, die ihm jest 
tam, jtellte ihm aud) feine nádjjite Zulunft 
bedrohlich genug vor. Er hatte gerade nur 
nod) jo viel Geld in feiner Börje und Brief: 
tajdje, um fnapp ein paar Tage febr genau 
haushalten zu Tonnen, bis er wieder etwas 
Ordentlides verdiente. In Diejen paar 
Tagen durfte er aber beileibe feine Geiten: 
ipriinge machen. Nicht etwa eine Reije nach 
zwei elenden Werführerinnenaugen unter: 
nehmen, nicht einmal zwei Mahlzeiten im 
Tag und fein eigentliches Nachtquartier, 
jondern nur bei Dlutter Grün oder Bater 
Gelegenheit, im Heu oder in einem Wald- 
und Laubwinfel. War aber mit all Deler 
Vorſicht bas weitere Leben, bas jogenannte 
nadte Leben — es [ror ibn jchon bei diejem 
Eigenihaftsworte — gejtd)ert und gewonnen? 
Wohin folte er denn gehen, was juchen 
und unternehmen? Go gingen bie Aben- 
teuer auf diefer Welt des Wenn und ber, 
des Bargeldes und der moralilchen Sicher: 
beiten, ber genauen Rechnungen aus, bevor 
jie nod) angefangen batten. Wnftatt, daß 
einer Das Wunder wahrmaden durfte, fih 
auf dem Mantel feiner Wünjche in bas ferne 
blaue Land der Einbildung zu begeben ohne 
Tahrfarte und gejicherten Aufenthaltsaus» 
weis, anjtatt daß einer das fümmerlidje 
Denken auf Urlaub jdjiden durfte, um fid) 
vom mächtigen Gefühl allein tragen zu laffen, 
warf ibn der erte MinditoB gleich zu Boden, 
jtieh ibm die Nafe gegen die Härte und lehrte 
ihn denken. Lehrt Not beten? (Cie lehrt 
nur Häglich überlegen, beten wäre tröjtlicher, 
aber er hatte um eine Schmachtende gebetet, 
um zwei dunkle Augen, um ein verjlucht 
iones Lächeln, und das hatte nur den 
Erfolg gehabt, daß er jebt zu denken befam. 

(Er überlegte, vb er etwa an die fiber: 
aderin telegrapbieren follte: Alles verloren, 
hier bin ich oder jo ähnlich. Vielleicht würde 
jie ibn auslöjen, ibm das $yabrgelb jdjiden, 
und er fonnte wieder im modernen Enjemble 

20 * 





300 — Otto Stoeſſſ: 


erſcheinen. Aber das widerte ihn an, nicht 
nur weil er ſich vor dem ganzen ſchönen 
Ort am Salzkammergutſee und vor ben 
Schaujpielerfollegen und vor jedem Befannten 
und Unbefannten dort in Die tiefite Geele 
hinein ſchämte als blamierter, genarrter Gud: 
indiewelt, jonbern, weil ihm mit der Reue 
auch ein blutiger Zweifel an diejem ganzen 
bisherigen Bejchäfte bes Scheins aufgeftiegen 
war, bas er als &unjt mit felbftverjtand- 
lihem Stolze und [ogujagen von Natur aus 
betrieben hatte, als jet es gerecht und gut. 
Er hatte dieje Runft leicht genommen und 
war dabei jelber zu leicht. Darum erjdien 
fie thm jet — wahr oder unwahr — als 
eine arge rage bes Gigentlidjen, bas fie 
meinte oder wollte. Darjtellung und Runde 
bes Menjchen und der Geele durch ein wür: 
diges Merfzeug. Wer mit einer Schmiere 
umberzog und der nod) beim erften Anlaß 
davonlief, hatte bei der Kunjt nichts zu 
Juden. Er modjte wohl das Talent haben, 
jedod) der Charakter fehlte ihm. Er hätte 
wiljen müjjen, daß man als Künftler fih am 
Scheine zu fáttigen hat, an den Boritellungen 
bes Befühls, an ben beraujchenden Gedanken 
der Erfüllung, am Wort, daß man aber ein 
elender Narr ilt, wenn man die Abenteuer 
bar erleben, jeden Blid wirklich nehmen und 
eine Schmadtende anders erobern will, als 
im hohen Traum des erften Schauens zwi- 
iden Himmel und Erde. Er hatte Wirklich: 
teit haben wollen, ftatt Schein, Tatjache 
jtatt Einbildung, jo gehörte er in die Hölle 
der Wirklichkeit, nicht in die wunderbaren 
Himmel der Lüge und Einbildung Ihm 
war es nicht mehr gejagt, in irgendeinem 
bumpfen Theaterjaal mit einer jechzigjährigen 
armjeligen Parthenia und zwei bärtigen 
Tectojagen den „Sohn der Wildnis” zu er: 
leben oder Die ungeheure Wildnis der 
„Räuber“ oder der „Kabale” ober die mun: 
tere $üge irgendwelcher gefälligen Gattung. 
Ihm war der Glorienjchein ber Einbildung, 
der Schimmer des jelbjtverjtändlichen Tuns 
und Glaubens und Müljens, bes eigentlichen 
Epieles und Grn|tes vom Haupt genommen, 
er war wie ein geftürzter Engel bes Herrn 
in bie Finjternis des Ja, Ja, Nein, diem, 
der logijchen, wahrhaften, wirklichen Hölle 
perjebt worden. Nun war es nur recht und 
billig, daß er fid) Hier ordentlich láuterte. 
Er brannte ordentlich nad) läuternder ge: 
meiner Arbeit. Nicht dak er fie höher ftellte 
als feine leichtjinnige Runjt, im Gegenteil, 
aber er fühlte fih ihrer jehuldig, mit Arbeit 
ftrafbar. Er wollte feine Arme, Beine, 
Muskeln, jedes einzeln, jpüren und mit Be: 
imájtigung ftrafen, als lönne er dieje arge 
Melt umwerfen und einreifen. 


So wanderte er denn grimmig entjchloffen 
neben feinem von ſolchen Zweifeln vermut: 
lich nicht beirrten Heftor über die Zanditraße, 
burd) Heine Drtjchaften mit Objtbäumen und 
legten üppig blühenden Georginen und 
Dahlien und an manden fanft ober [teil an: 
fteigenden Weingeländen vorüber. Mirgends 
iier man ihn zu bemerfen, in ben Häufern 
alles ausgeftorben, denn es war volle Arbeits: 
zeit und bie Leute auswärts. Höchftens, dağ 
ihn eine ganz verblödete Alte oder ein nod) 
nicht vernünftiges, jlachshaariges, fleines 
Wejen unverjtändig anjah, wenn er fráftig 
binburdjging, denn es war ibm zumute, als jet 
er vom Bodenlojen, aus dem luftig unwabren 
Bezirk nun auf die Erde gelangt und gelandet. 

Endlich traf er auf der freien LanditraBe 
ein altes Anwejen, ein Haus, ein bißchen 
verwabrloft mit offener Türe, bie auf einen 
dunklen Flur feben ließ, unter dem Geſims 
Tauben, vor dem Ninnitein ein paar Enten, 
Bänje und auf dem. Mijthaufen, der bem 
Heinen Garten mehr als geredjt Raum weg: 
nahm, ein Shod Hühner. An der ganzen 
Hauswand entlang lief aber eine Holzbant, 
und auf der fap ein ältlicher Menſch mit 
einem zufriedenen, doch fümmerliden Ge: 
lihtsausdrud, hatte neben fih einen Raib 
Brot, ein großes Stüd Sped, einen anmutig 
geformten Krug mit Wein und ein volles 
Rriigelglas. Bon feinem Brote warf er ge: 
legentlid) den VBógeln ein paar Brojamen 
zu und betradjtete fie, wie fie fleißig und 
jauber jedes Gtiídlein auflajen, indes er 
einen großen Biffen in den Mund beförderte, 
dazu ein Stiid Spec abjdnitt, einen Schlud 
aus dem Krügel tat und mit dem Hand: 
rüden Danad den Mund wijdte. Heftor, 
der wohl niemals alt unb fatt genug wers 
den mochte, um gleichgültig einem möglichen 
Eſſen unbeteiligt zujchauen zu Tonnen, blieb 
ganz unverfroren vor bem Wianne, vor ber 
Bank Stehen und wedelte mit freundlichem 
Ausdrud. So blieb auch fein Herr unwill: 
fürlich ftchen und war — ohne es zu iij: 
jen — gebannt von der freundlichen Aus: 
ft einer joldjen einjamen Raft bei Brot 
und Cped und Wein. Indem dieje jed)s 
einfáltigen Augen einander mafen und 
wogen, ergab jid) auch eine rage nad) dem 
Woher und Wohin. Der Ejjende fand bald 
heraus, daß ber Stehende auf der Wander: 
Ihaft und hungrig fei, wie fein Hund, Sn: 
gomar aber, daß der Ejjende gewiljermaßen 
überjatt von Cinjamfeit und Arbeit ganz 
wohl einen Gejellen brauchen fonnte wie 
ihn, denn er [ub ihn zum Eben ein, brate 
ein zweites Brot, holte aus dem Keller, der 
gleid) vom Hausflur über ein paar Stufen 
erreichbar war und aus der geöffneten Tür 








den jäuerlichen, betäubenden Gerud) jungen 
Weines heraufjdhidte, einen zweiten Krug, 
aus der Küche ein zweites Ctiid Cped und 
für den Hund eine Ladung geeigneter Broden 
und fütterte jo zwei fremde Gájte wie die 
Vögel, bie er fpeifte an Stelle des Herrn, 
der bie Lilien auf dem Felde wachjen ließ 
und bie Vögel ber Cinjamfeit Jättigte. In- 
Dem Ingomar fih neben dem Alten nieder: 
ließ unb bie beiden dod) [Hon ermiideten 
Beine weit ausftredte, ins Brot hineinbiß 
unb vom Sped mit feinem zierlichen Taj het: 
mejjer anftándige Heine Schnitten mit An- 
[tanb unb guter Art abjäbelte und ap, hörte 
er bie Klage feines Wirtes an, Daß bem un: 
langjt jein Weib geftorben war und ihm 
Haus, Weingarten und Gerät in aller Un: 
ordnung allein iiberlajjen hatte, fo daß er 
fid) gar nicht mehr austannte vor Arbeit. 
Dağ er feine Kinder und niemand auf der 
Welt hatte, aber da nod) leben wollte, weil 
er eben da war und weil fid) bod) jemand 
der Hühner und Enten, des Kellers und 
der Reben annehmen mußte; daß er darum 
recht geplagt fet und Hilfe fuhe, ohne je: 
mand rechten zu finden. Indem er den vor: 
nehmen jungen Diann mit einem halb arg: 
wöhniſchen und verdädtigen, halb zutrau: 
lichen und freundlichen Blid vom Kopf bis 
zu den Füßen muljterte, jchien er zu fragen: 
Bift du zu brauchen und willft bid) brauchen 
laffen ober but du zu gut und zu ſchlecht für 
mid? Und indem Ingomar diefe halbe 
Werbung diejer Blide aus den Kleinen, von 
ihweren Augenlidern faft zur Hälfte ver: 
ſchloſſenen grauen Augen über fih ergehen 
ließ, ähnlich wie weiland bie Sdmadtende 
im Bade feine Blide, Dachte er jo von un: 
gefähr: Wie wär’s, wenn id) dabliebe und es 
verjuchte, bier Ernft und Arbeit und die Hölle 
ber Langeweile und Wirklichkeit zu ertragen? 

So famen die beiden, fikend und kauend 
unb zähe Morte wechjelnd, zu einer [till: 
ichweigenden Berjtändigung, während Heftor 
vor den Hühnern in aller Ruhe bie Rnoden 
jauber abnagte. Die Ganje und Enten gader: 
ten, dieTauben flogen elegant unb ſchwungvoll 
auf, ließen fih nicder und fpazierten mit 
ftolgen Ruden ihrer Heinen eingebildeten 
Köpfchen auf und ab, der Hahn |d)rie von 
feinem Miſte. Auf diejem Schauplage ward 
alfo ein 9Bergleid) zwijchen bem Abenteuer 
und der Wirklichkeit abgejchloffen, ein bes 
ihämender Friede, bei welhem die Kunſt 
ihre Waffen [tredte und ihre Fittiche einzog 
vor Brot und Cped. Ingomar verriet fih 
aber nicht, er gab nur beiläufig zu verjtehen, 
oak er als wandernder Student zufrieden 
jet, bier für eine Weile zu haufen und zu 
helfen. Shon um ein wenig in Gottes freier 





I Die Schmiere BISISZZIZZZZZZZZI 301 


Natur zu Schaffen und zu leben, wie fo viele 
Menjden vor, neben und nad) ibm. Der 
Alte machte fih über die Antwort nicht viele 
Gedanten und hatte genug an ber Ausficht, 
jemand bei fih zu wijjen, ber ihm arbeiten 
und jchweigen half. 

Nach ber Mahlzeit führte er den neuen 
Sjausgenojjen gleich auf den Weinberg und 
hieß ihn jäten und fáubern, Neben binden, 
bie Vogelſcheuchen inftandjegen, Waſſer holen 
und bie ſchweren Eimer von unten bis hod 
hinauf zu den lebten Reihen tragen, wo ge: 
gojjen werden mußte. Zwilchen den Neben 
wuchs aud) Kohl und Kraut und Unkraut, 
das bedient, aljo gereutet werden mußte. 
Angomar lernte bie [Hónen, flatterjüchtigen 
Schmetterlinge verachten und verjcheuchen, 
lernte Holz jägen und fleinmad)en, in ber 
Kühe Ge|djirr wajchen, ordnen, den Boden 
fegen und jäubern, fogar ein Effen fochen, 
wenn ihnen am Abend nad) etwas Warmem 
zu Cinne war. 

Unter dem Dad befam er ein Zimmer: 
chen, das er von Brund aus reinigen mußte, 
um es ohne Furcht bewohnen zu fónnen. 
Bom Feniter webte fogar ein alter roter 
Vorhang triegerijd) in bie Liifte, und Gera: 
nien ftanden in Tópfen am Brett, bie er 
begoß, damit fie wieder in Grün und Blüte 
famen, denn alles war recht verwabrlojt 
und vertan. Der Alte rauchte feine Pfeife, 
der Junge feine Zigarette, und fie tnurrten 
einander dabei mit wenigen und nicht eben 
ausgebildeten Worten an. 

Go flojjen bie Tage des Herbjtes mit Duft 
und Farbe ineinander und vorüber, die Land: 
Hrobe war einjam, man glaubt gar nicht, 
wie felten ein Wagen und Wanderer vorüber: 
zieht, wenn einer bei der Arbeit nicht Zeit 
hat, darauf zu achten, und wie rajd bie 
Sonne vorübergeht und wie fremd und un: 
nabbar die Molten am Himmel vorüber: 
gehen und wie plöglich fih die Baume fär- 
ben und das Laub bunt wird und wie wenig 
man vom fogenannten Leben fiebt, wenn 
man feine Zeit hat. Über der Arbeit ver: 
jaumt man es, und es ift gar fein Spiel 
mehr, fondern nur Mühe und Müdigkeit. 
Ingomar hatte nicht einmal Zeit, fih vor 
den Leuten zu ſchämen, die vorbeizogen, ja 
es fam ihm fogar vor, als bemerften fie ihn 
gar nicht, daß er, ein anderer, unzuftändiger, 
hier wie ein Knecht diente. 

Nad der Meinleje fam die Preſſe im 
yeljenteller, welder im Weinberg felbft ein: 
gemauert war. In dem jchwülen, ſüßen Ge- 
rud) der diden, Dunjtgejattigten Luft bes 
finfteren Raumes ward man von diejem 
Hauch von Schwere allein [Hon trunten, 
aber ohne Gedanken und ohne Traum. Vian 


302 Otto Stoejil: Die Schmiere et 


leerte ein Rriigel des trüben Mojtes nad) 
dem andern und af fettes Gejeldjtes Dazu. 
Draußen jammelte fih der Haufen rötlicher 
Treber, drinnen op langjam ber unge: 
gorene Mein in die großen Fäſſer. Dann 
ibleppte man auf umgehängtem Tragbrett 
den Dünger von unten bod) hinauf zu den 
begierigen, Schweiß und Mühe frejjenden 
nimmerjatten Reben. Dann ging man wieder 
in den Keller und jchwanlte wieder in dem 
traumlojen Schweben bieles ſchweren Duftes, 
bis man abends auf das Lager niederfiel. 
War bas 9tedjt und Unred)t, Strafe oder 
Lohn, Hölle oder Himmel, biejes Leben ohne 
(Debanfen, diefe Selbjtandigfeit der Hände 
und bes Hungers, bieles von der Hand in 
den Mund, diefe Nahrung wegen der Ruhe, 
dieje Ruhe wegen der Arbeit und immer 
neben bem alten Menſchen, der das gleiche 
tat und von heute auf morgen da war? 
Ingomar [bienen hundert Jahre feit Jeiner 
Berwandlung vergangen, und als würde er 
die andere, eigentliche Welt, die Welt der 
Worte und des Spieles, der gedachten Lei: 
Denjdafter und eingebildeten Figuren gar 
nicht mehr wiedererfennen, wenn er fie jemals 
wiederfánde. Wo war fie denn, war fie 
überhaupt wirklich auf der Welt, diefe ans 
dere Welt bes Scheines, der Bühne, der ge: 
pubten Menfchen, der gefalljamen Frauengim- 
mer, der wibigen, gutgefleideten Zujchauer, 
ber eiferjüchtigen Schaufpieler, der Rollen, 
bes Gouffleurs, der interejfierten Bedanten ? 
Langjam vergingen aud) die Herbfitage, 
liepen achtlos die Blätter fallen, führten 
adtlos Regenwolfen und jagende najje 
Schauer herbei, ftreiften die legten Beeren 
von den Trauben, vergoren den trüben 
Soft, jchloffen Türen und Fenfter vor ber 
madjenben Kälte. Die Bärtchen wurden 
fabl und unordentlich, die Aſtern verwidelten 
fih in ihren legten Blüten und verdorrenden 
Blätter, man hörte die Fubrwerte häufiger 
vorüberrajjeln, die Welt der Farben wich der 
Welt der Gerdujde und Töne, man hörte 
jegt den Strom [tárfer raujden unb braujen, 
in den Lüften jdjoll der Lärm der Winde 
und der Raben, das Pfeifen ber aufgejagten 
Staub: und Blätterhaufen, alter Kehricht 
pfiff um die Eden, die Türen jchlugen, die 
Schlüſſel Hirrten, bie Wände fnarrten, durd 
das einfame Haus fuhren Stöße. So redete 
die Einjamfeit und Leere, gedantenloje Hille 
der Arbeit und traumlojen Einfalt zu dem 
gejättigten, verftogenen Romödianten. 


8 
Im November folte er einmal ins nächſte 
Ctábtdjen gehen, um ein Fak Wein abzu- 
liefern. Er führte es in einem Handwägel: 
hen, und fein iiberfliijfiger, aber treuer Be: 


gleiter Heftor trabte frei daneben. Denn 
ber edlere Hund ließ fih nicht einfpannen, 
unb jo fam es, daß Ingomar wie ein Hund 
die Laft Ichleppte, während Heltor wie ein 
Herr [ujtig danebenlief unb ihn gewijier: 
mapen bewabtc. Der alte Mann hatte 
Ingomar gebeten, bieles Geſchäft zu bejorgen, 
das Fak Wein madte einen ganz guten 
vorläufigen Ertrag aus. Ward es vorteil: 
haft argebradjt, jo fonnte man nod) ein 
zweites und drittes liefern und für ben 
Winter allerhand Bedarf eintaujchen, fiğ 
dann in das Haus einjchließen und auf bas 
Frühjahr warten, denn das hieß hier und 
allzumal: Leben. 

Als Ingomar jo ingrimmig gedantenlos 
mit feinem Wägeldhen in Bie teine Stadt 
eingefahren war und das Fak Wein in dem 
großen Bajthofe abgeliefert hatte, der ibm 
bezeichnet war, trat er, feiner Laft und feines 
Auftrages entledigt, unwillfürlich vor einen 
großen Anljchlagzettel, ber am Tore hing, 
und ihm erft befannt vortam, als er [id) 
ber languergejjenen Gewohnheit bes Lejens 
entjann. „Friederife Therefia Tiberaders 
modernes Enjemble.” 

Und wie auf ein Stichwort fam aus dem 
Baftzimmer aud) die alte Pringipalin, fam 
der Gouffleur, Infpizient, dienfthabende Re= 
giffeur, fomijdje Alte und Zettelträger mit 
der Schirmlappe und dem Leinenfittel ber: 
vor. Beide maken Ingomar verdugt und 
trauten ihren Augen nicht. 

Gr war es, [ie waren es. Gie ſchwiegen 
betreten. Dann lächelte die Tiberaderin 
wunderlid, als wäre ihr ein Traum in Er: 
füllung gegangen, es zudte um ihre Augen, 
Ingomar ftand da und wußte nicht, welchen 
Gebraud) er von feinen fteif gewordenen 
Gliedmaßen, vor allem aber von feinem 
verhärteten Geſicht machen folte, denn er 
Ihämte fic) jebt und veradtete fid), nicht 
wegen feiner Wrbeitswochen und feines 
JleiBes, auch nicht wegen des lángjt ver: 
wundenen Wbenteuers um eine gewijje 
Cdmadtenbe, jondern wegen des begangenen 
MBerrates an feinem Cdjidjal und eigent, 
lihen Gelbjt: an feiner Runft. ` 

Cie jhüttelten einander bie Hände, und 
jo war er wieder bei ihnen, bei jid) felbjt. 

Seftor aber lief um dieje Gruppe, jdnup- 
perte gelegentlid an einem Gdjtein, febrte 
zurück und hielt die drei Wiedergefundenen 
gutmütig gujammen als ein gliidlid) uns 
wijjendes, glüdlich überlegenes Gejchöpf 
Gottes, das nicht irren fann, weil es fid 
auf die Höheren verläßt, felig, wenn alle 
irrenden Willen und Wünjche tröjtlich zu: 
lammenfommen, obne daß es für einen 
Hund Schläge und Hunger abjegt. 





Dom dehreibtiſch und aus der Werkſtatt 


Ehe EE eben) ento 
Bom „Defregger: Sranzl” 


ea Plauderei von Prof. E, v. Stieler —o 


GEERT? 


Mom „Defregger:Franzl” fol ich er: 
A zählen, niht vom Bo Künftler 
PS und feinem Schaffen, jondern von 
IA dem lieben, prächtigen Menjden, 
: den jeder gern haben mußte, der 
ibm im Leben näher treten durfte, von dem 
feltenen Manne, bejjen jchlichtes Menſchen— 
tum von Ruhm und Ehren allerart, bie 
mand anderen zum ftolzen, vornehmen Herrn 
gemacht hätten, völlig unberührt blieb. 
Gar monde Stunde babe ich mit di 
verplaudert, aber felten ging er aus fid 
eraus und nur auf Bitten — er von 
ch, ſeinem Werdegang und ſeinem “nanen, 
Nur wenn die Rede auf feine Heimat tam, 






. dann leuchteten feine Augen, Dann ward er 


warm und gejprádjig, denn ihr gehörte neben 
jeiner Familie und der Runft feine ganze Liebe. 

Und wie wenig vermochte ihm diefe Set: 
mat zu bieten! — Nur ein hartes, arbeits: 
volles Bauerndafein. Aber trogdem liebte 
er fie — um ihrer Schönheit willen, die Die 
Freude feiner Kindertage gewejen, und zu 
der es ihn immer wieder mächtig binzog. 

Sod oben im Buftertal, im berbo? zu 
Strona% ftand feine Wiege. Der welt- und 
tulturfrembe, zur Pfarrgemeinde SEN ge: 
hörige Weiler, wohin fich in ber damaligen 
eijenbabnlojen Zeit faft nie ein Fremder ver: 
irrte, ward, als Franzl vier Jahre zählte, von 
einem böjen Gaft, einer Typhusepidemte 
heimgejucht, ber auch er beinahe zum Opfer 
gefallen ware. Er erfranfte jo jchwer, daß 
er faft ein Jahr lang getragen werden mußte. 

Bolltommen genejen ftieg er mit [teben 
Jahren zum Rang eines Hüterbuben empor 
und fletterte mit ben Ziegen feines Baters 
fingend und jodelnd in den Bergen herum, 
jeines an Berufes und der ihn umgebenden 
Naturſchönheit fih erfreuend. 

Ein Hüterbub hat viel Zeit zum Schauen 
unb unfer Franzl hatte Augen, die nicht nur 
zu ſchauen, fondern wirklich zu [eben und 
das Gejehene feftzubalten wußten. In der 
wunderbaren Schönheit, die fih feinen Bliden 
von dem hochgelegenen Weidepla am jo: 
genannten Ederplan bot, feierte das jpätere 
Riinftlertum Defreggers fein erftes Erwachen. 
Der Gejtaltungsdrang fing an, fic in thm 
E regen, und da ihm hierfür fein anderes 

aterial zur Verfügung ftand, denn Blei- 
ftifte gab’s nicht im Ederhof, |djnitt er aus 
altem Papier die Silhouette der großartigen 
Bergformen aus, an denen fich fein Auge 
geweidet hatte. 

Auf dem Ederplan ftand eine alte Hütte, 
in der der Hüterjunge bei Sturm und Regen 


Unterfchlupf juden fonnte. Jn bie Tür 
diejer Hütte fragte Franzl, um fid) bie Zeit 
zu vertreiben, mit dem Mefjer die Figur 
einer Bemje ein. An diefe erfte fünjtlerilche 
Tat Defreggers Inüp[t fid) eine luftige Ge: 
ſchichte. 
Als nach vielen Jahren ſich einmal ein 
Fremder auf den Ederplan führen ließ und 
ihm dort die Gemſe als das Werk des in— 
wiſchen berühmt gewordenen Malers De— 
‘be ger gezeigt wurde, bejtimmte er bem 
Führer, ibm gegen ein gutes Trinkgeld bas 
Ctüd der Türe mit der ng heraus: 
zujägen. Unvorfichtigerweile zeigte er abends 
voll Stolz im Wirtshaus zu Dölſach feine 
Beute. Unter den anwejenden Burjchen aber 
war einer, der offenbar ein injtinftives Ge: 
fühl für Sat e bejab. Jn einem 
unbewadten Wugenblid gelang es ihm, dem 
Fremden bas Beuteftüd zu entwenden und 
unbemerft damit zu verjdwinden. Bon 
den Sina ERAS e wollte feiner den 
Burfden gefannt haben. Das Brett mit 
der eingelragten Gemje wurde vom red: 
e SE Finder Defregger nad München zu- 
elanbt und befindet [id) nod) heute im Be: 
en der Familie. 

Der Winter in dem einfamen verjchneiten 
Ederhof, in dem ein am Feuerſtein ent- 
zündeter Rienjpan die einzige Beleuchtung 
an den langen Abenden bildete, war für den 
aufgewedten Franzl recht öde. Wit der 
Schule, die bie Wintertage wejentlich hätte 
verkürzen können, war es in Ctronad) übel 
bejtellt, Ein Bauer, deffen Kenntnis bes 
Sejens und Schreibens fic) in ben bejchei: 
denften Grenzen hielt, übernahm die Ein: 
führung Franzis in die Geheimnijje des 
Gorifttums. Orthographie gehörte aber 
offenbar nicht zu ben Lehrgegenjtänden und 
blieb, wie aus Jugendbriefen Defreggers her: 
vorgeht, |püterem Gelbititudium vorbehalten. 
Die viele freie Zeit, die er hatte, vertrieb 
fid der Junge, indem er aus Rüben und 
Kartoffeln oder aus Teig Menjchen: und 
Tierfiguren formte. Lebhaft erinnerte er 
lich noch in feinen alten Tagen der Freude, 
bie er über ben erjten Bleiftift empfand, den 
ibm der Bater von einem Marttbejud mit: 
brachte. Nun fonnte er zeichnen. NRüdlichts- 
los betätigte fid) jet feine Phantafie an 
Wand, Tilh und Bánten. Die einzige Vor: 
lage, Die ihm zugänglich war, einen Gulden: 
zettel, fopierte er fo vorzüglich, daß ber Harm: 
lofe in Verdacht geriet, eine Fälſchung be: 
abfichtigt zu haben, und daß jid) fogar dic 
hohe Obrigkeit mit dem Fall befaßte. 


304 ees Vrof. E. v. 


Einen Lichtpuntt in ber Einförmigfeit bes 
Stronader Winters bildete die Muht Die 
Mutter bejaß eine Harfe, über deren Her: 
funft feine Nachricht binterfajjen ijt, und es 
machte ihr bejondere Freude, an den langen 
Winterabenden mit ihren mufifalijd febr 
begabten Kindern zu mufizieren. Won ber 
Mutter auf der Harte begleitet fangen Franzl 
und feine Schweltern vierftimmig alte Tiroler 
Meilen ober geijtlid)e Lieder. Mufit war 
ja aud) im |päteren Leben Defreggers einzige 
Leidenjdaft neben ber für jeine Malerei. — 
Als aus dem Frang! ein Franz geworden 
war, ber tüchtig im landwirtfchaftlichen Be- 
trieb feines Baters mitarbeiten mußte, trat 
er als Ylügelhornbläjer in. die Dorfmufit 
ein und fpielte bei allen Gelegenheiten in 
ber Umgegend zum Tange auf, fomponierte 
fogar jelb[t drei Walzer, die damals im 
Bujtertal viel gejpielt worden fein follen, 
aber leider nicht erhalten geblieben find. 

Die landwirtjchaftliche Arbeit im Dienfte 
feines Baters vermochte ibn nur wenig zu 
befriedigen, aber er jah feinen Meg zur 
Sinderung feines Lebens, fo jehr er A 
danad) jehnte. 

Als er nad) bem Tode feines Baters als 
einziger Sohn den Hof übernehmen und 
bewirtjchaften mußte, tam ihm immer mehr 
um Bewußtjein, daß er zum Bauer nur 
djled)jt taugte. Die Wirtichaft ging zurüd, 
tatt vorwärts, beim Viehhandel |djnitt er 
alt immer ſchlecht ab, jo daß ihn, wie er 
jelbjt erzählte, ein fórmlidjer Etel an dem 
bäuerlichen Beruf eriopte, Er wollte um 
jeden Preis fort aus der ibm jo wenig 3u- 
jagenden Tätigfeit. Aber was beginnen? 

Das Amerifafieber, bas damals unter der 
Tiroler Bevólterung berrjd)te, ergriff aud) 
ihn, und bie Auswanderung [cheiterte nur 
an bem Umftand, daß er feine thm zujagenden 
Weggenojjen fand. 

Um ihn von bem Entſchluß, den Hof zu 
verlaufen, abzubringen, verjuchten dié Seis 
nigen einen legten Anjturm. Karl Gtieler 
erzählt darüber nad Defreggers eigener 
Mitieilung: „Man hatte fid) zu einem Fejt 
in der Nachbarichaft verjammelt, und bei 
diejer Gelegenheit ward Franzl in den Pfarr: 
pol bejdjieben, wo alle feine Verwandten 

ereits vereinigt waren. Man bejchwor ihn, 
nicht die jchöne Heimat und ben [idjeren 
Boden feiner Väter preiszugeben um eine 
unbefannte Zufunft. Vian beftürmte fein 
Gemüt auf jede erdenfliche Weile; erft eine 
Obhnmadt, bie er Balb erfand und der er 
zur Hälfte wirklich nabeftand, erlófte ibn 
von jeinen Bedrangern. Er bat flehentlich, 
man möge ibn doch endlich in Ruhe lajjen, 
er werde bas Ridtige dann [hon finden. 
Unjer Herrgott wird’s fho recht machen —“ 
Einige Ces darauf verkaufte er den Hof an 
einen Wetter und wanderte aus, freilich 
nicht über ben Ozean, jondern zu Fuß nad) 
Snnsbrud in der Abjicht — Bildhauer zu 
werden. — Bor dem Eintritt in fein neues 
Leben bejuchte er nod) einen Better in Kemp: 


Stieler: a et 


ten in gejchäftlicher Angelegenheit. Wie ibm 
beim Abſchied von ber Heimat ums Herz 
war, befunbet ein Brief an feine Schweitern 
aus Innsbrud vom 28. April 1860: 


,JnvergeBlidje Schweitern! 


Als wir bas legtemal beijammen wahren. 
da wahr mein Herz nod) jo bedrängt und 
mit heißen Trebnen mußte id) ri unb 
meine Heimat verlajjen. Wher nad) Regen 
fommt Sonnenjcein, denn, als ich zum erjten- 
mal Innsbrud erblidte, da wahren meine 
Trehnen weggewijbt. Und bejonders, als 
id) bie Reiſe nad Rámpten madte, da 
weideten jid) meine Augen fortwehrend an 
idónen 2anbjdjaften, an glänzenden Dörfern 
und Städten, den man fonnte vaft nicht 
mehr aufhören, den Schöpfer zu preijen und 
an allen Merkwürdigkeiten, welche jede Stadt 
darbietet, bejonders Münden ... 

Und jebt ijf mein einziges Beltreben nad 
meinem Vorhaben, den meine Brofelion ſcheint 
aud) nicht Icylecht zu fein, wenn ich einmal 
weitere Bortjcehrite machen fan. Und wenn 
du vielleicht gebenfe|t, jezt ift er in einer 
Ctabt, da wird er fid) nur an eitelteit und 
unterhaldung ergözen, und bethen wird er 
nichts, jo wirft du Dich teujchen teure 
Sdwefter, denn Innsbrud bietet zum guten 
ebenjovil Gelegenheit dar als zum jchlechten, 
denn an Kirchen fehlt es ja nid)t, wenn 
man bethen will ...” 

Vier Wochen jpäter, am 21. Mai 1860 
Ichreibt er: ,... Wenn ich euch jagen möchte, 
wie viel fröhlicher, heiterer und zufriedener 
ich jezt lebe als zuvor beim Eder, es würde 
mir gar nicht geglaubt werden und id) muß 
meinem Schöpfer daujentmal danten, Daß er 
mich in bieles Schidjal gelenkt hat.“ 

Profeſſor Stolz in Innsbrud, dem der 
friiche Bauernburjche gefiel, ließ fid) durch 
Dellen bringenbes Bitten bejtimmen, ibn als 
Schüler anzunehmen. Cr jcheint nicht nut 
ein tüchtiger Holzbildhauer, fondern aud) ein 
Harblidender, verjtándiger Mann gewejen 
zu fein, der bald erfannte, daß in feinem 
neuen Schüler mehr das Zeug zum künftigen 
Maler als zum Bildhauer [tede. Ein paar 
Kompofitionsverjuche, bie Defregger trog 
feines Sträubens, weil er jo was ntdjt finne, 
maden mußte, überzeugten Stolz von der 
Nichtigkeit feines Urteils. 

Um dem ihm lieb gewordenen Schüler den 
Meg zu feinem eigentlichen — ebnen, 
lud er ihn gelegentlich einer Reiſe nach 
München ein, ihn zu begleiten. Dort nahm 
er ihn mit zu Karl Piloty, deſſen Ruhm 
als bahnbrechender Künſtler und als Lehrer 
bereits in aller Mund war. Gewaltig und 
für ſeine Zukunft entſcheidend war der Ein— 
druck, den Pilotys „Nero auf den Trümmern 
Roms“, woran der Meiſter eben arbeitete, 
auf den jungen Tiroler machte. „Ja, jest 
weiß ich, was ich will und muß. Maler will 
id) werden,” fagte er zu Stolz beim Verlaſſen 
von Pilotys Atelier. (EN die Aufnahme in 
die Akademie reichte fein Können damals 








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ee EES SS Bom Defregger: Franzl” seet 305 


nod nicht, weshalb ibm Piloty empfahl, fic 
zunächſt an der Runftgewerbejchule im Beidh- 
nen weiter auszubilden. 

In den erjten Tagen feines Münchener 
Aufenthaltes wurde Defregger, der in jeiner 
ert i Trabt durd) die Straßen 
chlenderte, von einem Herrn angeredet und 
gefragt, ob er Jäger fet. Auf bie Berneinun 
der Frage bemertte der Herr: „Schade, id 
foll für Seine Majeftät mid) nad) einem 
hübſchen, ftattlichen Leibjager umjehen, und 
da hätten Cie mir vortrefflich gepakt.” 


pet unb unbebolfene Tiroler fonnte in 
finnverwirrenden Trubel der Welt: 
t unmöglich das finden, was ihn in 
einer ftillen, tnnerlidjen Kunjt hätte för- 
Tonnen, Ohne Empfehlungen, der 
Landesiprabe unfundig, fonnte er weder 
in der Ecole des beaux-arts, nod in einem 
Privatatelier Aufnahme finden; er blieb auf 
das Studium der Galerien und auf eigene 
Arbeit, ohne ben gehofften Unterricht, om: 
gewiejen. Ziemlich unbefriedigt fehrte er 
nad fünfviertel Jahren nad) a zurüd 
und ging, ba er Piloty nicht antraf, in feine 
imat und malte dort Naturftudten und 
orträts von Verwandten und Betannten, 
um fein maltechnifches Können zu fórdern. 








Wud) der Entwurf zu feinem erjten Bild 
„Der verwundete Jäger” entitand in diejer 
Zeit unb verjdaffte ibm 1866 die enblidje 
Aufnahme in die Bilotyjchule, in der damals 
bereits Makart, Gyfis, Griigner, Gabriel, 
Max unb Lenbad von jid) reden madjten. 

Dem „Berwundeten Jäger“, mit bem De: 
fregger 1868, gum erjtenmal im Münchener 
KRunjtverein an bie Offentlidfeit trat und 
freundliche Beachtung fand, folgte 1869 das 


‘febr befannt gewordene Bild ,Spedbadber 


und fein Sohn“, das durch die Neuheit des 


, Nachdem er Stoffes und 
ein Jahr lang Die {harfe 
in ber Kunſt⸗ Charakteriſie⸗ 
gewerbeſchule rung jeder ein⸗ 
mit raſtloſem zelnen mr 
uw 4 earbei: eradezu Auf: 
tet e, be: fever erregte. 
ftand Defreg: on ba be: 
ger im Früh⸗ ginnt Defreg- 
jahr 1861 die gers — fünjtle: 
Wufnahme- riſcher Sieges= 
prüfung an lauf. Jedes 
der Mtiinche- neue Bild war 
ner Afademie. ein neuer Er: 
Der Unterricht folg. 
im  9JIntifen- Cs gebt 
faal undin der über den Rah: 
Maltlaffe von men — Diejer 
Profeffor An- Plauderei hin: . 
ihig bebagte aus, Defregs 
thm aber jo ers reiches 
wenig, daß er doten. das - 
pó entſchloß, bereits der 
ein Heil an= Runjtgejchichte 
derwärts zu angehört, zu 
verjuchen. verfolgen. 
Seine abl Die Tris 
I auf Baris, umpbe, die der 
as damals Künftler De: 
in München, fregger feierte, 
wie früher ließen jein We: 
Rom, als die jen völlig un: 
Heimat der berührt. Er 
wahren Kunit blieb der 
gepriejen wur: ſchlichte, ein: 
de. Daß dieje Gin nod unveröffentlichtes Selbftbildnis aus ber Parifer Zeit ` Tode Menjch, 
Wahl ein Mik: Defreggers 1863 der mit riib: 
griff war, er: R render Treue 
wies fid) bald. Der immer nod) welt: an feiner Heimat und an den Geinigen 


bing, wie bie Briefe an feine Sdwejtern 
efunden, in denen er fic) ftets mit war: 
mem Snterejje nad) allem, was daheim ge: 
ihah, erkundigt. Bezeichnend für fein Bart- 
gefühl ijt, daß er nie auf ben Widerjtand 
zurüdfommt, den feine Berufswahl bei der 
ganzen Familie gefunden, jondern immer 
nur dankbar Gottes Sügung preijt, Die ihm 
den rechten Weg gewiejen babe, — 

‚ Mitten in feinem glänzenden Aufftieg traf 
ibn ein ſchwerer Schidjalsichlag, ber ihn faft 
zwei Sabre lang der Gebfábigteit beraubte. 
Bei der Heimkehr von einem Ausflug ins 
Sjartal hatte er jid) verjpátet und juchte in 
vollem Lauf nod) den legten Zug nad) Mün- 
chen zu erreichen. Is er jchweißtriefend an 





306 Weeer Prof. E. v. Stieler: B2Z<Z332233333232224 


der Station eintraf, fuhr eben der Zug ab. 
Erſchöpft habe er jid) ins feuchte Gras ge: 
jegt, um etwas zu verichnaufen. Dabei jet 
er eingeichlafen unb als er ermadjte, babe 
er den Weg nad München faum mehr und 
nur unter großen Schmerzen zurücdlegen 
Tonnen, Cin jchwerer Gelenfrheumatismus 
mit vollftandiger Lähmung der Beine war 
die Folge. 

Da ber Zuftand trog aller Bemühungen 
ber beriihmtejten Münchener Ärzte (id) niht 
bejjern wollte, nahm Defregger feine Zuflucht 
zu einer Damals jehr gejudjten Rurpfujcherin, 
der Doftorbauerin in Mariabrunn, die ibn 


jedod) [hon nad) ment: 
gen Tagen wieder ent: 
ließ, weil fie ihm 


auch nicht helfen Tonne, 
Eine aufopfernde Pfle- 
erin fand er in Der 
chweren Zeit in An: 
nerl, der Tochter feines 
Quartiergebers, die er 
ion als Rind bei fei- 
nem erjten Münchener 
Aufenthalt fennen ge: 
lernt und in einem Gr: 
ztehungsinftitut hatte 
ausbilden laffen. Bei 
dem täglichen und ftünd- 
liben BZujammenjein 
entwidelte jid) bald 
eine tiefe gegenfeitige 
. Neigung, Die zu einer 
— Verlobung 
ührte. Bei der Aus— 
ichtsloſigkeit ſeines Zu— 
tandes wollte Defreg- 
er bem Mädchen das 
awort zurüdgeben, 
Annerl aber erklärte, 
den [abmen Mtann, der 
lie zur Pflege brauche, 
nicht verla|jen au wollen. 
Am 29. Juni 1872 
führte er bie 16 jährige 
als Gattin heim. Auf 
dem Sofa liegend wurde 
Defregger in feinem bejcheidenen Zimmerchen 
etraut. Er erwarb ein kleines Häuschen in 
dwabing, in bem ihm feine junge Frau ein 
Atelier einrichtete, wo er liegend den „Ball 
auf der Alm“ malte. 

Da aud) die ihm von allen Seiten emp: 
foblenen Heilmittel feine Bejjerung brachten, 
entjchloß er fid) zu der bei feinem Zujtand 
höchſt beichwerlichen Reife nach Bozen, von 
Dellen mildem Klima er wenigitens Erleid)- 
terung erhoffte. Trog aller Fehlichläge hatte 
er nie bie Zuverjicht verloren, mit Gottes 
Hilfe noch ein gejunder Mann zu werden. 
Und raider, als er gedacht, jollte feine Hoff: 
nung fid) erfüllen. 

Als Defreggers Ankunft in Bozen ruchbar 
geworden, erjchien eines Tages eine Depu: 
tation bet ibm, um ibm für das herrliche 
Altarbild zu danten, bas er der Pfarrkirche 





Defreggers tiroler Arzt: ber Rurpfufder 
MBabler 


in Dölfach geichenkt hatte. Mit bem Bürger: 
meilter von Doljad war ein Jugendireund 
Dejreggers, Franz Oberjteiner, nad) jeinem 
Hof „ver Waler“ genannt, gefommen. 
tejer, zugleich Bauer, Bader und Bieh- 
dottor, ber im Nebenamt aud) Mtenjden 
turierte, ließ fid) von Defregger feine Krant- 
heitsgejchichte erzählen und meinte darauf: 
„J bent wohl, Franzl, daß i dir helfen tunnt.” 
Defregger ging fofort darauf ein, fid) vom 
Mabler ZE eln zu lajjen, nahdem bie 
beiten 9irate fic) feinem Zujtand gegenüber 
als ratlos erwiejen batten. Die Kur mit 
Baunjheidtismus wurde Re begonnen, 
eine RoBtur im wahr: 
ften Sinne des Wortes, 
denn der Apparat, den 
Waßler bejak, war nicht 
für die Behandlung 
von Menichen, jondern 
ur MVerwendung bei 
indern und Pferden 
beftimmt. Die Gewalt 
fur, wirfte Wunder. 
Mad wenigen Tagen 
fonnte der Patient [Hon 
etwas geen; und ein 
paar ohen jpäter 
war er volltommen ber: 
geitellt. 

(eid) nad feiner 
Genejung begann er 
nod in bem Kleinen 
Zimmer, das er in 
Bozen bewohnte, fein 
vielleicht beriihmtejtes 
Bild „Das lebte Auf: 

ebot". Die Anregung, 
id) an bijtorijde Stoffe 
heranzuwagen, Der: 
dantte er feinem erften 
Lehrer Stolz, ber ibn 
bejtimmt hatte, nicht 
Bildhauer jondern Dia: 
ler zu werden und ber 
ihn babet darauf bin: 
wies, welde Fülle von 
| Motiven die Tiroler 
Gejdjidjte bes Jahres 1809 für die bildliche 
Daritellung bot. 

Mit bem ,Lebten Aufgebot” war Defreg: 
gers Aufitieg zum berühmten Riinjtler voll: 
endet; auf ebener Bahn fonnte er nun von Er: 
folg zu Erfolg weiterjchreiten. Ehrungen aller: 
art, Medaillen, Orden, Ehrenmitgliedjchaft 
mehrerer 9Ifabemien und Sinjtlertorpora: 
tionen wurden ibm in rajder Folge zuteil, 
am meiften aber freuten ibn bod) bie herz: 
liden Huldigungen, die in Proja und Ge: 
dichten aus der Heimat an ibn tamen. Dar: 
unter befand jid) ein Gedicht aus bem Him: 
mel von Andreas Hofer, dem zur Beglan- 
bigung der Echtheit eine Unterjchrift Hofers 
vom ahr 1809 und Dellen Siegel beigelegt 
war, dann ein rührender Brief der 85 jährigen 
Tochter und bes SOjährigen Sohnes Sped- 
badjers, die ihm für alles danten, was er 


EE Bom „Defregger : Franzi“ (i 





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& Der Riinftler auf feiner Alm in Spinges E 


mit feiner Runft für Tirol und den Ruhm 
ihres Baters getan. 

18:8 ward Defregger zum Profejlor an 
der Münchener Alademie ernannt und mit 
der Leitung. einer Romponierflajje betraut, 
aber im £ebrjad) lag feine Stärke nicht, er 
vermochte bie dazu erforderliche Strenge 
nicht aufzubringen und war immer mehr der 
T bereite Freund jeiner Schüler als ber 

eiftungen fordernde Lehrer. 

Einer feiner Schüler erzählte mir, er habe 
E ein Bild ein Roftiim SR zu Bellen 

efchaffung er jedoch die Mittel nicht bejaß. 
Als er dies Defregger mitteilte und hinzu: 
fügte, er wiffe aud) niemand, bett er um bas 
Geld anpumpen Tonne, erwiderte Diejer 
lahend: „Warum pumpen ©’ denn nicht mid) 
an?“ Demijelben Schüler räumte er fein 
Atelier zur Ausführung eines Porträts des 
Pringregenten ein und jaß jtundenlang unter 
Verzicht auf eigene Tätigkeit neben feinem 
malenden Schüler, mit bem Regenten plau- 
bernb, um ihn zum Vorteil des Porträts bei 
guter Laune zu erhalten. 

Bei dem hohen Rn ftand er in bejon: 
derer Gunft, und erftaunlid) war bie jchlichte 
PBornehmbeit, mit der er fih bei Hoffeſtlich— 
feiten zu benehmen wußte. An Haltung und 
Bewegung gab er bem vornehmjten Wrijto- 
traten nidjts nad. Trog all der Ehrungen, 
mit denen er überjchüttet wurde, blieb er 
von rührender Bejcheidenheit. Auf den be: 

eifterten Toaft, ben einmal ein Kollege in 
det Whotria auf den „großen Riinftler” aus: 


brachte, erwiderte er verlegen: „Aber meine 
Herren, ich tann ja nichts dafür.” 

Auf das Drängen, fid) dod öfter in 
Riúnjtlertreijen jehen zu laffen, meinte er: 
„Ich geh’ nicht gern in Künjtlergejellichaften, 
weil man immer fo ein Getu mit mir bat, 
als ob id) was Bejonderes wär’, und ba ift 
mir gleich der ganze Abend verdorben.“ — 

Inzwiſchen hatten jid) in feinem Haufe Be: 
Hagen und Moblitand gemebrt, wiewobl er 
in geldjáftliden Dingen jo unprattijd) war, 
wie eben nur ein Künjtler fein tann. In 
feiner Frau bejaß er aber eine äußerſt tüch— 
tige Selferin, die es vortrefflich verftand, 
bas Erworbene zujammengubalten. In dem 
neuerbauten Heim an ber Königinitraße ent: 
faltete fid) bald eine |djóne Gejelligteit. 

Gein geliebtes Tirol bejuchte er alljábr: 
lih. Wie viele glüdliche Stunden bat er 
mit den Geinigen in ber bejcheidenen Blod- 
hitte 3"gebrad)t, bie er fid) auf dem (Eder: 
plan, feinem alten Weideplaß erbaut hatte, 
um den vielen Bejuchen, denen er in feiner 
Villa in Bozen nicht ausweichen fonnte, zu 
entgehen. Als er aud) bier bie gewünjchte 
Ruhe und Einfamteit nicht mehr fand, jchentte 
er bas Blodhaus am Ederplan bem fter- 
reichiichen Touriftentiub, der es noch heute 
als „Anna: Schughütte“ bewirtjichaftet, und 
309 fid) im Sommer auf feine Alm bei dem 
aus den Tiroler Freibeitstimpfen betannten 
Spinges zurüd. Bis zu feinem 78. Lebens: 
jahr erftieg er nod) alljährlich biejen in ber 
Höhe von 1900 m gelegenen Lieblingsplas. 





308 Eessen Prof. E, v. Stieler: Bom „Defregger: Franzl” BSSssssess4a 


linpergeBlid) ift mir bie Erinnerung an 
feinen 70. Geburtstag, ben er auf ber lan 
lid) gelegenen Burg Rarneid bet feinem 
Freunde Ferdinand von Miller verbrachte, 
Bom Burgherrn in Bozen abgeholt, [tieg 
der 70jábrige allen voran mühelos den da: 
mals nod) ziemlich bejdwerliden Weg zur 
Burg hinauf. Böllerſchüſſe begrüßten den 
Antommenden, und als er den Bue bof be: 
trat, präjentierten bie Eggentaler Schüßen, 
die in ihren alten dE Uniformen er: 
\hienen waren, das Gewehr, bie Steinegger 
uliffapelle intonierte einen Marſch aus der 
Andreas Hofer: Zeit, bie Schulfinder waren 
vom Dorf Karneid beriibergetommen, und 
Alt und Jung jah man die Freude und den 
Stolz an, ihren berühmten Landsmann an 
feinem Ebrentag mitfeiern zu dürfen. — 

Geit Beginn des furdhtbaren Weltkrieges 
hat er Tirol nicht mehr bejudt, was ihm 
ein großer Schmerz war. Noch vor zwei 
Jahren, nach Wiederherjtellung des Friedens 
äußerte er fih, wie gern er nod) einmal feine 
Heimat gejehen hätte, aber „es geht ja nicht 
mehr,“ fügte er hinzu, „denn in meinem Haus 
in Bozen fiken die Italiener, und auf bie 
Alm Tonn 2 bod) nimmer [teigen." Bei 
aller Liebe für Tirol war er bod) zugleich 
ein warmer deuticher Patriot. Mit welcher 
Freude verfolgte er jede Giegesnadhricht unb 
wie tief [chmerzte ibn Deutichlands Zuſam— 
menbrudj! „Daß ich bas nod) hab’ erleben 
müjjen," fagte er nod) turg vor feinem Tod 
mit Tränen in den Augen. 

Von jeinen fünf Söhnen, denen er ein 
rührend guter und fürlorglicher Bater war, 
ftanden drei an der Front, während ber 
vierte in Auftralien interniert war und nur 
einer in militürijdjer Stellung in München 


Eé Defreggers Blodhütte auf bem Ederplan 


bleiben durfte, aber nie bot man ibn flagen 
— über die harte Prüfung, die das Vater— 
and während der langen Kriegsjahre ſeinem 
Herzen auferlegte. 

In den letzten zwei Jahren ſeines Lebens, 
in denen er ſchwer unter dem Druck der 
politiſchen Verhältniſſe litt, geſellte ſich zu 
manchen geſundheitlichen Störungen die ernſte 
Sorge um ſein Augenlicht. Eine Starope— 
ration, der er ſich unterziehen mußte, hatte 
eine Trübung ber Neshaut zurüdgelajien, 
die ihn fajt völlig am Lefen und Schreiben 
behinderte. Mie jchwer bie erzwungene Un: 
tátigteit bem an raftlojes Arbeiten gewöhnten 
Manne fief, davon zeugt ein ergreifender 
Vorgang, ber [jid taum 24 Stunden vor 
feinem Tode abjpielte. 

„Haben S' denn gar feine Arbeit für mid) 2” 
frug er feine treue Pflegerin, und als dieje 
ibm vorjdlug, ihr beim Kartoffelihälen be: 
bilflich zu fein, griff er fofort zu, und nad- 
dem bie Arbeit beendet war, fagte er auf: 
atmend: „Bott jei Dant, jest ab’ ich bod) 
nod) was geleiftet und bin niht ganz für 
nichts auf der Welt.” — — — Am darauf- 
olgenden Nachmittag, am 2. Januar 1921, 
hloh er fampjflos die miden Augen. 

Der Mann, der in feiner Runft jo Großes 
geleijtet, ber uns fo herrliche Gejdidten aus 
der Heimat in jeinen Bildern zu erzählen 
wußte, war aud) groß als Menjd. Frei von 
Eitelkeit, Neid und Mißgunſt, immer mild 
und gütig in feinem Urteil über bie Letftun- 
gen anderer, getreu bis in den Tod all denen, 
die er liebte, mildtätig bis zum Übermaß, 
verdient er wohl, daß die Taujende, Die Den 
Künftler aus feinen Bildern liebgewonnen 
haben, aud) dem Menichen Defregger ein 
warmes Gedenfen bewahren. 





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ore D FP 


DES 
















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i ner Bühnen. Mon Dr. Ka Weiglin 


weiße Lammaden' (Romdödienhaus) — Hans Badhwik und Hans Sturm: ‚Die 
Haus) — Rudolf Lothar: ,Cafanovas Sohn‘ (Kleines Theater) — Bernard Shaw 
Tsbiihnes Refidenztbeater; LSeffingtbeater) — Moliere: Ampbitryo' (Leffingtbeater) — 
hehe D (Rammerjpiele) — Leonid Andrejew: ‚Selaterina Jwanowna' (Theater in ber 
abe) — Peritles von Tyrus. Heinrich Eduard Jacob: ,Beaumardais und Sonnenfels, 
ues Boltstheater) — Tagore: ‚Das Poftamt. Shaleipeare: ‚Komödie ber Irrungen‘. 
Wer: .9Balleniteins Tod (Boltsbühne) — Wilhelm Schmidtbonn: ‚Baifion. Gerhart Hauptmann: 
am Geyer‘ (GtoBes Schaufpielhaus) — Hans J. Rehftich: ‚Der Chauffeur Martin‘ (Deutihes Theater) — 

> dn wea. ve: Müller: ‚Sterne‘. Goethe: alfo. Shatejpeare: ‚Sturm‘ (Staatliches 











Be Rämmen ift beffer iu 
taujefalle‘, und beide find 

als Caſanovas Sohn‘. 
| A wer fih wahrhaft erheitern 
pm ill, ber gebe zu ade oder zu 
aha Das tein freunblidje eugnis 
E | unfere S i; und gu fir teldichter, 

zu, wenn man den Gpiel: 

der Berliner Bühnen in der zweiten 
e des Winters mujtert. In Hanns Sap: 








Wax Pallenberg im ‚Weißen Lammaden von Hanns 
SaBmann. Komödienhaus. (Aufnahme Vita) 


manns ,Weigem Lámmojen' bat man das 
Vergniigen, Max Pallenberg in feiner zweiten 
ws == diesjährigen Rolle zu jehen. Er jpielt Herrn 


im ‚Mei ä , Adam Schigl, ben Heiratsichwindler und 
See ae “Au note 8 2 Meifterdieb, ja feinen glüdlichen Berteidiger 





310 FSSSSSSSSS) Dr. Paul Weiglin: seess 





Erna Reigbert als Allmene und Theodor Loos als 


Ampbitryo im ‚Ampbhitryo‘ von Violiére. Leffing: 
theater. (Aufnahme Bander & £abild)) e 


in bie gräßlichiten Berlegenheiten bringt. 
Denn — die ‚SFliegenden‘ laffen herzlich 
grüßen — eine Schwiegermutter ift immer 
nod) gefährlicher als der Staatsanwalt. Man 
laht von Herzen, wenn Goigl=Ballenberg, 
an Liebesichwüre gemabnt, beteuert, er fei 
bod) fein Eidgenojfe, oder in einem feiner 
verdrehten Gedantenjpriinge zitiert: „Kein 
ne teine Roble tann brennen fo heiß... 

alt du Minimax im Haus“, und man 
id)mungelt, wenn er eine weitere Enthüllung 
Bibi Delormes (Emmy Sturm) mit den 
Worten bejhwört: „Wir find bod) in feinem 
Ballſaal!“ Aber der Reiz diejes, aud) ab: 
geleben von Pallenberg, im Romdbdienhaus 
febr hübjch gejpielten Stüds überdauert nicht 
lange den Abend der Aufführung, und felbft 
das fann man von Der ‚Maujefalle von 
Hans Badhwik und Hans Sturm taum be: 
haupten. Auch hier ift der Held, bem Geijt 
der Zeit entjprechend, ein Verbrecher, aller: 
dings einer gröberen Sdlages, ein Geld: 
Ihranffnader, Bomfe, ber Sprengjuftav, den 
(id ein Fabrifant diejer nüßlichen Möbel 
mietet, um Durch einen, wie er zuverfichtlich 
hofft, mißlingenden Einbruch die Güte feiner 
Mare vor aller Welt unwiderjprechlich zu 
erweijen. Gelbjtverftändlich gerät ihm Diejer 
Plan vorbei. Er muß feine Ungejchidlichkeit 


teuer bezahlen, und Sprengjuftav zieht mit 
einem tüchtigen Bagen Geld, unbebelligt, ja 
fogar gefördert von der Polizei, davon. Das 
Lujtiptelhaus hat für diejen Guftav Bomte 
in Arnold Ried einen Darjteller echt ber: 
linijbhen  Wikes, fred), kaltſchnäuzig, 
jchnoddrig, ganz das, was man einen duften 
Jungen nennt. 
De Unfprühe erhebt ,Cafanovas 
Sohn‘, ein Luftipiel von Rudolf Lothar, das 
in Georg Altmans Kleinem Theater all: 
abendlich volle Häufer maht. Der Verfajjer, 
der einer Schniglerjchen Novelle, einem Hof: 
mannsthalihen Drama und einem Koge: 
bueden Lujtipiel innig verpflichtet ift, bat 
ben Abjchied bes alternden Mannes von 
Jugend und Liebe geftalten wollen, einen 
Stoff, der gewiß Bumorijtijd) zu fallen ift. 
Aber da er nicht den Humor des Dichters 
bat, jondern höchſtens den Wik des Feuille: 
toniften, ijt ibm nur eine Pifanterie gelungen, 
bie den Ruf der Bühne als eines künſtleriſch 
geleiteten Unternehmens gefährdet hat. Ein 
Graf, ber immer nod in den Jahren ftebt, 
bie man mit Unrecht die beiten nennt, bat 
fih für eines feiner zahllojen galanten Aben: 
teuer eine junge Baronin ertoren, die von 
ihrem im Cpiel verlumpten Manne getrennt 
lebt. Sie behauptet zwar, als der in allen 
Siebestiinften erfahrene Graf fein Spiel be: 
innt, ein Eiszapfen zu fein, bod) meint er, 
te werde [chmelzen, und um das auszuproben, 
gibt fie ibm für bie Nacht den Schlüfjel zu 
threm Haufe. Der Zufall will nun, daß fid) 
ausgerechnet in dieje Frau der, wie der Ver: 
fafjer glauben machen will, jehr ideal ges 
richtete Sohn Cajanovas verliebt hat. Und 
da der alternde Herr fid) doch vielleicht nicht 
mehr gang tattfejt fühlt, gibt er Dem Sohn den 
Sehliijjel unter der Bedingung, daß Ddiejer 
eine Rolle jpielen fol. 9tad) einigem Ans 
tandsftráuben geht bieler ideal gerichtete 
junge Mann adf ben Vorjchlag ein, tut bod): 
erfreut, was feine Cdjulbigfeit, reift aber 
nicht, wie verjproden, am nächſten Morgen 
ab. Denn der Berfaffjer braudjt ibn, um 
den Water in einige Bedrängnis zu bringen. 
Die Gräfin námlid) ijt von bem nadtliden 
Bejuche jo entzüdt, daß fie ihn unter Preis: 
gabe ihres ganzen Vermögens an den fo zur 
Scheidung bewogenen Gatten heiraten will, 
und über Cajanova |djmebt das jchredliche 
Scidjal, ein Gbetrüppel zu werden. Zum 
Glid ijt ber Sohn da, um etngujpringen, und 
die drei Menjchen werden jo glüdlich, wie es 
ihre Liebenswiirdigfeit verdient. Diejes be- 
denfliche und feiner Bejinnung nad) plebejijche 
Stüd genießt im Kleinen Theater ben Borzug, 
jeine innere Fäulnis nicht jedem Zujchauer zu 
entbüllen, weil die drei führenden Darfteller 
Eugen Burg als alter, Hans Albers als jun= 
ger Graf und Mady Gbrijtiaus als Baronin 
viel vornehmer Jpielen, als fie es eigentlich 
vor Rudolf Lothar verantworten Tonnen, 
Wenn man die Wahl zwilichen diejen Det: 
mijdjen Gewádjen und den englijden hat, 
bie in der Tribüne, im Refidengtheater, in der 


Kee SS Berliner 


Volksbühne, im Lefjingtheater zu genießen 
find, wird einem leider bie Wahl nicht ſchwer, 
zumal wenn man bei diejer Gelegenheit einen 
jo ternbaften Riinjtler wie Friedrich Kayßler 
und neben thm die heitere Helene Fehdmer 
in berrlidem 3ujammenjpiel (in Shaws 
Kapitän Braßbounds Belehrung‘) bewundern 
fann. Und auch Wilde, dejjen ‚Salome‘ mit 
der freilich etwas NE 
Orsta in der Titelrolle, ber jcharfen Roja 
Liechtenftein als Herodias und Dem padenben 
Ludwig Hartau als Herodes in der König: 
gräßer Straße eine trog Rihard — als 
berechtigt empfundene 
Bat — aud) Wilde zeigt fid) uns in ſeinen geift: 
reichelnden Luftipielen den Fabrifanten unjrer 
heimiſchen Durchſchnittsware überlegen und 
wartet noch auf ben deutjchen Dichter, ber 
ibn in der Eugen Beobadtung der Gefell- 
ichaft, in ber gejchlif- 
fenen Leidtigteit bes 
Dialogs zu |dlagen 
vermöcdhte. Gewiß wie: 
de D in E 
nadlajjig Hingeichrie: | 
benen Stüden. Er hat 
Menfchen und Einfälle, 
die er bejonders liebt 
und von einem Luft- 
ipiel ins andere bin: 
übernimmt. Aber der 
Genuß des Zujchauers 
wird durch diefe lite: 
rarhiſtoriſche Feſtſtel⸗ 
lung nicht — und 
für die 2 Weinen 
bieten dieje Werte nicht 
bloß bantbare Rollen, 
jondern die befte Schule 
ir Das, was man 
rüber Ronverjation 
nannte. Wenn man 
Lady Windermeres 
Fächer‘, wie es im 
NRejidenztheater ge- 
ibiebt, gut Heraus: 
bringen will, muß man 
bei aller Natürlichkeit 
und —ülligleit in 
Cpradje unb Beneb: 
men die größte Sorg- 
falt unb Pünktlichkeit 
bei ber Einftudierung 
walten tonet, Wenn 
man [djlupert, raubt 
man dem Ctüd feine 
Feimbeit und damit 
jeinen Reiz. War es 
hier die anmutvolle 
Hanfi Arnftádt, die fih 
den reidjten Beifa 
erjpielte, fo war es im 
Sdealen Gatten‘, den 
das Leffingtheater auf: 


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J 


uferjtehung gefeiert 


Bühnen EIIIIIZZIZIZIZZZ1 311 


und werden fid) faum vorftellen tónnen, daß 
man auf der sone ohne Gefahr von ihrer 
verführerijchen, blenbenben Schönheit reden 
darf. Aber diefe feltene Künjtlerin bat eine 
Brazie der Bewegung, einen Zauber der 
C pradje ohnegleichen, und fie tann fih geftat- 
ten, fogar bie gewagtejten Toiletten zu tragen. 
Den Wildeichen Chorus bieles Luftipiels, den 
Viscount Goring, ſprach Kurt Góg. Jedem, 
ber thn hörte, wird nod) lange die ironije 
Demut im Obr klingen, mit der er feinem 
vertroddelten Bater (Sans Juntermann) auf 
ben Borwurf der SHerzlofigteit erwidert: 
„Hoffentlich bin id) bas nicht, lieber Bater.” 

Einen neuen humorijtijden Künftler bat 
bas Lejjingtheater in Ralph Artur Roberts 
auf die Bühne geftellt. Er trat als Sofias 
in Molières ‚Amphitryo‘ auf und fpielte 
leije Jächjelnd ben vielgeprügelten Diener des 


ae AE. MT 
i i ; 4d d M 











führte, Tilla Durieux. 
Die meijten Lejer fen: 
nen Bilder bieler Frau 


Tady Chriftians als Carla von Helffenberg und Eugen Burg als Graf Kurt 
von Weyer in ,Cajanovas Sohn von Rudolf Lothar. Kleines Theater 


(Aufnahme Zander A Labijd) 


312 PBSSSSSSSSS3553) Dr. Paul Weiglin: ES=<3333S3=3S33=3===< | 


von Jupiter gehörnten Thebanerfeldherrn. 
Die Aufführung, die leider niht die flüffige 
Úberjegung Ludwig Fuldas, fondern eine 
andere von E. Neresheimer, der jelbft ba 
alexanbrinert, wo Molière es nicht tut, Au: 
grunde legte, hatte der Direktor Victor 

arnowsty in ein brolliges Barod geftedt. 
Erna Reigbert als Altmene in Reifrod und 
blauer Periide jab wie ein leicht angefaultes 
Königsliebhen aus, und ber männliche 
Theodor Loos in der nicht eben verlodenden 
Titelrolle, mit wallendem Helmbujd und 
bli&blanfem Panzer, wedte die Sebnjud)t 
nad) bem &leijtiden Drama, in deffen ge: 
danfenjdwerer Myſtik er fih zweifellos 
wobler gefühlt haben würde. In dem Trieb 
nad) loderer ag eer hatte fid) bie Regie 
ben alten und doch immer wieder über: 
rafhenden Wik erlaubt, die. Darfteller 
gelegentlid) aus dem pe ee auf 
die Bühne turnen zu lajlen. Das hatte 
wenig Sinn und ermiidete bald. Cigentli 
ijt es jchade, dak jo viel Liebe und Runjt 
auf ein Gelegenheitsjtüd Molières verwandt 
wurde. Wie lange ilt es her, daß man den 
Mijanthropen’ oder den ‚Eingebildeten 
Kranten‘ in Berlin: gejehen hat? 

Wieviel fefter padten uns drei ruſſiſche 
Komödien ans Herz, bie in den Kammer: 
[ptelen des Deutſchen Theaters zu jeben 





waren! Die erfte, von Toljtoi: ‚Er ift an 
allem ſchuld (nämlich ber Altohol) hat bei 
allem Humor, mit bem der durjtige Wander: 
burjche tm Bauernbauje feine tommuniftijchen 
Gedanfen ausbreitet und fie, etwas verfriiht, 
durch einen fleinen Diebjtahl in bie Wirklich: 
teit überträgt, zum Schluß eine ans Tra: 


gilde [treifenbe Wendung. Der grobe, aber ` 


iedere Bauer (Hermann Thimig) vergibt 
dem langfingrigen Schelmen, und Diejen 
trifft in feiner SSerfommenbeit und in feinem 
Unglüd diefe Milde wie ein Strahl ber gött- 
lihen Gnade. Er beugt fein Haupt und 
bricht in Tränen der Rúbrung aus, und in 
diejer EE aber fid) febr langjam ause 
wirfenben Gebdrde offenbarte Moiſſi eine 
ergreifende Echtheit des Gefiibls. In den 
andern beiden Ctüden, den „Spielern‘ von 
Gogol und dem ‚Heiratsantrag‘ von Tidhedow 
war es Max Güljtorff, der ſchauſpieleriſche 
Mujterleiftungen bot. Wie er, Ehrenmann 
und verfluchter Kerl in einer Perfon, in ben 
‚Spielern‘ den jungen hr ade im gleichen 
lichticheuen Gewerbe übertölpelt, mit Der 
faltblütigen Gelaffenbeit- des vornehmen 
Herrn und ber graujamen Entſchloſſenheit 
des abgefeimten Gauners, war ein Genuß 
zu jeben, und in einer erjtaunlichen Ber: 
wanblungsfübigleit |pielte er ein paar Mi— 
nuten jpäter im ‚Heiratsantrag‘ ben [Hrulligen 





Lucie Hóflid und Paul Bildt in ‚Jelaterina Iwanowna‘ von Leonid Andrejew 
Theater in der Königgräger Straße. (Aufnahme Zander A Labild)) 









Bee Berliner Bühnen E 





yg 
Lä x. 
Eo 


(Aufnahme H. Rofenberger) 


Bühnenbild von Ernft Stern für Ostar Wildes ‚Salome‘. Theater in der Röniggräßer Straße 











unb Itreitjüchtigen Junggefellen, ber um cin ' Dáchtigt wurde, einem ziemlich albernen 
verblibtes unb cigenfinniges Mädchen wirbt. ` Zierbengel, ben fie nad) ber erjten und ein: 


Ein anderer 

Ru le fam d der 
niggräßer 

Straße zu Wort: 
Leonid Anbrejew 
mit dem Drama 
Jefaterina Jwa: 
nowna‘.Dasbheißt: 
esifteigentlich fein 
Drama, jondern 
nur eine pſycho— 
logijde Studie, 
über Die fid) ber 
Dichter vermutlich 
ebenjowenig tlar 
war, wie fie dem 
Bujdauer ein 
eben will. Es 
fino: an mit einem 
iftolenjchuß, ben 
ein Dumaabgeord: 
neter auf jeine 
Gattin abgibt, die 
er im faljden Ber: 
badjt eines Ehe: 
brudjs bat. Er 
trifft fie zum Glück 
nicht oder viel- 
mehr: er trifft fie 
bod) Er „durd: 
bobrt ihre Seele“. 
Sie gibt jid) in der 
Folge dem Hin, 
mit Dem fie ver: 


| 


- — — j 





Maria Orsta als, Salome‘ tn der gleichnamigen Tragödie 
von Ostar Wilde Theater in der Róniggrager Straße 
(Aufnahme Zander & Labildy) 


Belbagen & Klafings Monatshefte. 35. Jahrg. 1920/1921. 2. Bo. 


¿igen Umarmung 
veradtet. Giejagt, 
fie werde jchledht, 
weil ihr Dann fie 
für jchlecht gebat: 
ten habe, der ihr 
mit einer an 
Schwachheit gren: 
zenden Büte ver: 
dk jadie Schuld 
auf [id nimmt. 
Wenn wir bis da: 
bin mitgeben, nicht 
ohne Mühe, aber 
mit gutem Willen: 
wir verjtehen nicht 
mehr, daß bieje 
Giinderin aus 
Trog aur Dirne 
wird, Die den 
Männern in ver- 
ächtlicher  Gelbjt- 
erniedrigungnad): 
läuft, bis ibr 
ihr guter Schwa— 
ger, Den fie aud) 
nur allzufebr liebt, 
ein Bädchen wohl: 
tätiges Gift gibt, 
womit ihr Leben 
und Das Drama 
ſchließen. Diejes 
Ctüd wäre lang: 
weilig und ärger: 
21 


314 Dr. Paul Weiglin: 


lich, wenn die Jefaterina eine minder voll- 
blütige und leiben|djaftbegabte Riinftlerin 
wie Lucie Höflih |pielte. Selbſt jo gute 
Kräfte wie Paul Bildt als der Mann, 
Grnjt Prödl als der Schwager unb Mar: 
garete Cdjlegel als Die zarte Schweiter 
Lija würden es ohne fie nicht für die Bühne 
retten können. 

Die Boltsbühnen, um deren Einrichtung 
fid auch andere GroBitábte bemühen und 
bemühen miijjen, fol das Theater 
nicht ein unbilliges Borredt 
der Reihen werden oder gar 
ihon bleiben, haben aud) 
in bielem Bericht wie: 
der eine ebrenvolle 
Stelle zu bean: 
jpruden. Das Nene 
Wolfstheater in 
ber Köpenider 
Straße, ein be 
Icheidener Saal: 
bau, bat eine 

pbantajtevolle 
Aufführung des f 
‚Berikles von Ty: 
rus‘ herausge: 
bradt, mit einfa: 
den Mitteln farbig 
und jelbft prunfvoll 
wirkend, wie es [td) fiir 
Dies früher Shafe)peare 
zugejchriebene, abenteuer: N. 
reiche Stüd gehört. Weniger “ESE 
Gliid hatte es mit einem Ghau- FEE 
ipiel ‚Beaumarchais Conner 
und Sonnenfels' von 





















Viargarete Sdiegel als Lija in ‚Setaterina 


ÁS — —r0p 


am Bülowplatz bat außer dem bereits er— 
wábnten Shaw Sbhafejpeares Komödie ber 
Srrungen in einer einfad) derben, falt tind- 
lichen Ausftattung mit luftigem Tibermut 
— und am gleichen Abend des 
nders Tagore ſinnreiches Märchenſpiel, Das 
Poitamt‘ aufgeführt. Die Regie hat ein 
übriges getan und die Kleider 3. T. mit dem 
Prunf ausgeitattet, den wir als orientalijd) 
empfinden. Indiſche Zuichauer behaupten, 
| es jet bes Guten zuviel gejchehen 

\ . unddie Jahrhunderte und Kaften 
> feien arg durcheinander ge: 
^ wiirjelt. Den Maler Stroh: 

bach wird diejerBorwurf 

. fo wenig fiimmern wie 

den Spielletter Für- 
gen Fehling; denn 
die Wirkung war 
für unjere Augen 
ión. Bon deut- 


ſchen — flajjild9en 


M on | Merken ijt ‚Wal: 
R lenſteins Tod‘ zu 
E nennen. Jedem 
2 Theaterfreunde 
e 


fam bug bas Herz, 
> / als er in ber Jet: 
/ tung las, Raypler 
TUM / merbebenjyrieblánber 
Pike [pielen. Diejer warme 
P^ herzige und tieffinnige 
Rünitler, war er nicht wie 

" geichaffen für diefen proble: 
— X matijden Helden? Was Kayßler 
ew. bot, wareine mächtige 
Sei[tung. Er ließ fid) 


er 


der Königgräger Straße. (Aufnahme Vita) 


Heinrich Eduard Ja: Swanowna' von Leonid Andrejew. Theater in nicht auf Tiifteleien 


cob. Literatur über 
Literatur hat immer 
thre Bedenken, und jo geldidt der Ver: 
fajjer bem gewijjenlojen franzöjiichen Litera: 
ten ben ebrenfejten öjterreichiichen Auf: 
Härer gegenüber[tellt, fo frajtig fid) das 
Theaterblutregt, wenn der längjt unterrichtete 
Sonnenfels den Fremden feine Liigenmárlein 
erzählen läßt, um ihn dann blofzujtellen: es 
tommt jchließlich bod) nur zu rednerijben Ers 
güjjen, und man glaubt eher einer philojopbi- 
¡en Disputation als einem Theaterjtüc bei: 
zuwohnen. Nachhaltigeren Beifall holte fih 
die Bühne mit ihrem Spielleiter Hans Brahm, 
indem fie den ,Barafiten' aufführte, bas von 
Schiller für die deutjche Bühne bearbeitete 
gujtipiel aus bem Franzöſiſchen. Das reizend 
ausgejtattete und ein wenig parodiltijch ge- 
ipielte Stüdf tat aud) jebt feine Wirkung. 
Und wie jollte eine jo menjchenfundige Moral 
feinen Widerhall finden, wenn fie aus allerlei 
Ranfen die Folgerung zieht: „Das Ge: 
ipinft der Lüge umjtridt ben Belten; der 
Redlide fann nicht Durchdringen; die frie- 
chende Mittelmäßigteit fommt weiter als 
das geflügelte Talent; der Schein regiert 
die Welt, und die Gerechtigkeit ift nur auf 
Der ech ch 

Die Volksbühne in ihrem großen Haufe 


— re ies ios .... ein. Er gerjfajerte ben 


Helden nicht wie Baſ— 
jermann, er ftellte fic) nicht unter den 
Bann eines geheimnisvollen Gternen|djidjals 
wie Mattowsty, er war nicht bas argloje 
große Kind wie Sonnenthal — er war ein 
Ihlichter, aufrechter Dann, der nur an 
wenigen Stellen jein Herz und dann um fo 
ergreifender öffnet. Neben ihm jtand Helene 
Fehdmer als Gräfin Terzty, fie als einzige 
ibm ebenbürtig, während im übrigen das 
Theater nicht reich genug an eriten Kräften 
ijt, um die hohen Anſprüche bieles Dramas 
zu erfüllen. — 

Die eigentliche Volksbühne Berlins ſollte 
Reinhardts Schmerzenskind, das Große 
Schauſpielhaus, werden. Aber je länger es 
ſteht, deſto mutloſer werden die, die ſich durch 
den kühnen Gedanken im Vertrauen auf den 
Mann, der ihn faßte, blenden ließen, während 
die meiſten achſelzuckend ‚Humbug‘ jagen. 
Man hat je&t nad) bem Vorgang Münchens 
(jiehe Die DEE DE im Februarheft) die 
Paſſion‘ von Schmidtbonn aufgeführt (Bud) 
bet Egon Fleilchel & Co. in Berlin). Dein 
nad) der Berliner Aufführung muß man 
Den rheinijden Dichter und nicht bie Brüder 
Greban aus dem Jahre 1452 als Verfajjer 
nennen. Es fei vorausgejdidt, dak die Bor: 








ee Berliner Bühnen 3333 ZZ 315 


ftellung mit Rlöpfer als Chriftus, Lina Loffen 
als Maria, Frig JeBner als Judas würdig 
und gum Teil ergreifend war. Aber unver: 
ftändlich blieb, warum man von der Arena 
[o gut wie feinen Gebraud) madte. Wenn 


man fie jet und ein mittelalterliches My— 
fterienjpiel, jet es felbft in ungemein ver: 
tiirzter 


STT anfiindigt — warum verjagt 
man fid das Bezeichnende biejes Bühnen: 
ftils: die Auf- und Umzüge der Menge? 
Dian dachte, ber Huge 9tegt|jeur (Frig Wend- 
—2— ſpare ſich die gewaltige Wirkung der 
Maſſe für bie Gerichtsverhandlung vor dem 
Hohen Rat ober vor Pilatus auf. Wenn 
bas RKreuzige erjchalle, würde gewiß ein un: 
abjebbares Meer von Menjchen gegen den 
einen Mann am Schandpfahl branden. Wher 
nichts dergleichen geihah. Der Herold, der 
Zeugen wider Jejum aufrief, jchrie ins 
Meere, und Pilatus wid) nidt vor mehr 
Bolt zurüd, wie bei ben Vieiningern um 
Cajars Leiche tobte. 

Und dennod bat uns Diefes Große 


Schaujpielhaus eines von den wenigen un- 





auslöſchlichen Erlebnifjen des verflojjenen 
Winters vermittelt: Hauptmanns — 
Beyer‘. Geit Rittner unter Otto Brahm 
die ſchwarze Fahne des Ritters in ſeinen 
Fäuſten gehalten hatte, war dieſe Tragödie 
des Bauernkrieges vergeſſen. Hauptmann 
litt ſchwer darunter. Jetzt verlockte die ge: 
räumige Bühne dazu, die faſt unüberſehbare 
Menge von handelnden Perſonen noch einmal 
in Bewegung zu ſetzen. Was die Bühne 
angeht, ſo zeigte ſich, daß ſie zum mindeſten 
ſoviel ſchadet wie nützt. Mochten die lär— 
menden Maſſenſzenen, die in die Arena 
wuchſen, bewegter und freier als auf einem 
gewöhnlichen Schauplatz wirken: alle ſtillen 
und zarten Wirkungen, an denen dieſes 
Drama reid) ift, gingen verloren, wenn nicht 
Kä alle, jo bod) für die meijten Zujchauer. 

nb trogdem war das Wert — und das lag 
nicht an der Bühne, jondern an der Zeit — 
wie neu erftanden, und mit einer |djam- 
vollen Ergriffenheit jagte man fih, mit wie 
tauben Ohren und wie jtumpfen Herzen es 
der Dichter zu tun hat. Denn man [oll nicht 





Helene Fehdmer als Gräfin Terzky am Srmela von Dulong als Thella in Echillers Mallenfteins Tod‘ 


ollsbühne. (Aufnahme Jeffen) 


PIT 








316 Se Dr. Paul Weiglin: — 


bodjmütig die Stirn runzeln über Ver: 
fennungen der Jahre 1895 und 1905. Wer 
ijt vor gleichen Fehlern fiber? Und wenn 
wir nicht an den bitteren Lehren einer Re: 
volution zu fauen hätten, wer weiß, ob wir 
heute den Florian Geyer‘ verjtünden ? 
Alle unjere deutjchen Revolutionen find 
- ein Unglüd. Wir find offenbar nicht begabt 
dafür, und wenn wir eine ins Wert jegen, 
ift fie verurteilt zu jcheitern und mit Recht, 
denn allzuſchnell beſchmutzt jte fid) mit Eigen: 
jucht und mit Niedertrabt, mit Gegánt und 
mit 3wiit. Es ftebt feft, dak der Bauern: 
trieg aus febr triftigen Gründen entitanden 
iit, daß er, glüdlich und klug durdgefampft, 
unjerm Volte eine jehr lange und jchmerz- 





afte Entwidlung erjpart haben würde, 
ber die Bewegung geriet in Schlamm und 
Moraſt. Wem greift es nicht mádtig ans 
Herz, wenn der Geyer, der Volksfreund, 
den Pöbel anfährt: „Kehricht feid ihr, Kot- 
von der £anb[trafe, elenbes Gerümpel, das 
Gott beffer ga hinterm Ofen laffen liegen, - 
nit das Geil wert, daran euch der Henter 
müßt ufziehen.“ Und wenn er, als alle 
verloren tit, tlagt: pt pam: Kaifer muß. 
weiter [djlajen. Die Raben jammeln 
wieder zu Haufen,“ oder wenn der alte 
Rektor Bejenmeyer jeufzt: „Wie fing fiH ber 
Handel fo glüdlich an und wie fajt gewaltig, 
und wie gebet er gar fo Häglih aus." — — 
Klöpfer gab den Geyer, einen deutjchen 
l Melancholikus, den 
elegentlid) der 
oro padt, einen 
* mit e 
mádtigen, fanfa=- 
renbellen — 
weich wieein Rind, 
einen gemütlichen 
ranten, aber zor= 
nig aufflammend 
und nicht umjonjt 
die Fäuſte etjen- 
bewebrt. Mit dies 
jer Leiftung bat ich 
Klöpfer in dieftolze 
Reihe Der gro- 
Ben, echt deutjchen 
Cdaujpieler ge 
ftelt. Man jab 
um ihn nod) man- 
chen tüchtigen 
Künftler. Gregori 
als Bejenmeyer 
war von erjchüt- 
termoer Schlicht⸗ 
heit, Kühne als 
Löffelholz, Geyers 
von lauterem Fa— 
natismus — bejeel- 
ter Feldjchreiber, 
siet ma — 
iger Na ger 
Sauers. Wilhelm 
Dieterle, der ſpä— 
ter die Rolle des 
Helden übernahm, 
ſpielte den treu— 
herzigen Teller» 
mann, Dellen Hel- 
dentod zu den herr⸗ 
lichſten Auftritten 
der Tragödie zählt. 
Aber alle über— 
ſtrahlte Eugen 
Klöpfer, und es 
war ein Meiſter— 
itiid der Regie, daß 
jie ibm und nicht 
dem Schreiber 
[s Torquato Taſſo in CSartorius den alle 
ulptelbaus) 3uldauer erjchüt- 


— 


3, 


: 


——— 





Lee EES Berliner Bühnen g24242:24242:24243:2:2:2423] 317 





AA". 
“eee 


—X 


“ 


Eugen Klöpfer als Florian meer — — 
uſpielhaus 


gleichnamigem Drama. 


(Aufnahme Rofenberger) 


ternden Ruf ſchenkte, mit dem er 


ſein Meſſer in den Kreis ſteckt: 
„Der deutſchen Zwietracht mitten 
ins Herz.“ 

Nöch in einem andern Drama 
hat fid) Klöpfer als einen unfrer 
bedeutendſten Schauſpieler ge: 
zeigt, und es liegt nicht an ihm, 
daß ſelbſt ſeine ſtarken Schultern 
es nur durch eine geringe Anzahl 
von Aufführungen zu tragen ver: 
mochten. Es will mir jcheinen, 
als jei das de, nicht die Schuld 
des Dichters, jondern eine ge: 
wiffe Trägheit des Publikums, 
das jelbjt durch harte und gefähr: 
[ide Zeiten nod) nicht dazu er: 
zogen ift, fic) über bie Zuſam— 
menbánge des Weltgejchehens 
(Sedanten zu machen. “Die Män— 
gel ber Tragödie ‚Chauffeur Mar— 


tin‘ von Hans Sy. 9tebji]ld) zu er: . 


tennen, ijt leicht, aber es ſteckt in 
ihr eine fo lautere Gefinnung 
und foviel tüchtiges Theaterhand- 
wert, ur man bem Deutjchen 
Theater für die Annahme und 
Aufführung nur dankbar fein 
tann (Bud) bei Diterfeld & Go, 
Berlin). Chauffeur Martin ift 


innigeren Wunjd bat, als in der 





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t man läßt jid) nicht feben!” 
Eein Gebet it immer nur, daß er 


pbdabinten bleiben darf,” daß „Es“ 


ihn nie ermijht — „Es“, bas 
Unglüd, die Schuld, das Gud, 
E — er weiß es nidt Aber 
don bat es ihn beim Kragen. 
Er überfährt einen Menjchen, ber 
in einer unglüdlichen Verfettung 
des an fih leichten Unfalls mit 
einer Tromboje ftirbt. Vian zieht 


| $ T . Martin vor Gericht. Dort ftellt jid) 


heraus, dak er jchuldlos ift, aber 
für ihn fängt nun erft der Berichts: 
tag an. Es gibt feinen Zufall. 
Gr bat bas Sdlimmite getan: 
einen lebenden Menſchen zu Tode 
gebradjt. Das wijbt fein (Be: 
ridjsbejdüuB weg. Der Himmel 
wäre voll Tollheit, wenn ein guter 
Mann nur fterben jollte ihm zur 
Prüfung. Wenn alles nad) Gottes 
Willen gejdicht, Gutes und Böjes, 
bann will Bott bas Boje und ift 
jelbjt ber böje Feind. 

Ein Verbrecher, dem er einmal 
Gutes getan und den er vor fei: 
nen Berfolgern verbirgt, wird fein 
Berbiindeter in dem Kampf, den 








ry ai 





ein orbentlidjer Mann, ber feinen 





A 
Berborgenbeit fein fleines Ve: "B | 
ben zu führen. Denn „jeder = -——— 
Menih hat einen $yeinb, ber ibm Albert Ballermann als Galileo Galilei und Annemarie Seidel 


‘ : als Marina in den ‚Sternen von Hans Willer. Staatliches 
ungejeben auflauert! Da ift ES &djauipielbaus. (Aufnahme Zander & Labijd) 





318 FS=SSSS595259] Dr. Paul Weiglin: Bee=22=22222222224 






Paul Hartmann als Dunvis in Schillers Tragödie 
‚Die Jungfrau von Orleans‘. Deutiches Theater 
(Aufnahme $. Rofenberger) 


er Gott anjagt. Ihn muß man treffen 
und nicht elende —— und Gtaats: 
anwälte. Und wie? „Unjer aller Tod iſt 
jein Ende! Er fann nicht leben als nur von 
unjrer, Qual! Wenn wir uns auslójdjen, 
ftiirgen wir ibn in Ohnmacht! Verzweiflung 
und Vernichtung bleibt dann jem Teil.” 
Dem Minijter Juftin, dem Bolfsbegliider, 
der fih bem Bolfsverjührer entgegenwirft, 
Hobt er fein Meſſer in die Brut. artins 
Anhang wählt. „Der neue Meſſias ift ge: 
tommen! Son feinen Gdultern Weder 
chwarze Fittiche bis in den Himmel — und 
eine Hände find fanft — fein Blid ijt 
Tröftung und Liebe — jein Stame ijt Tod!“ 
In einem ſymboliſchen Auftritt wird Gott 
der Prozeß gemadt. Ein 9Infláger nad) 
dem andern freit feinen Jammer hinaus; 
aud) Martins verlajjene Frau ift darunter, 
die er dem Erbarmen Gottes, feines Tod- 
feindes, empfohlen hatte, als er zum Kampf 
auszog. Martin wohnt mit Philipp bem 
Prozeß unerfannt bet. Da meldet jid) der 
Krüppel Binzens als Verteidiger Gottes: 
„Wenn Gottes Wille allgegenwärtig ijt, wie 
ihr Menjchen glaubt, . . dann mag er aud) 
die von euch bejdlojjene Vernichtung der 
ganzen Menjchheit wollen.” Der Elendejte 
der Elenden hofft auf ein neueres, erlaud): 
teres Bejchlecht, bas die Erde Levóltern foll. 
Er preijt die Schöpfung als voller Gnade. 
Gr weilt bie Verzweifelten auf die Dinge 
und den unjáglimen Trojt, der aus dem 
fnojpenden Strauch und dem im Mittags: 
wind fliegenden Haar eines Kindes quillt. 
Da Halt man ihm den Tod des voltsfreund: 


lihen Minifters als einen neuen Schurfen- 
[treid) Gottes vor. Er aber bleibt in dem 
wiitenden Toben der Mtenge dabei, Gott fet 
die Gnade, gloria in excelsis Deo. Und 
Martin, erjchüttert von diejem Glauben, ijt 
ſchwer und groß aufgeltanden, reicht dem 
lahmen Binzens die Hand und bejtátigt mit 
Har und ruhig gewordenem Gelicht: „Ehre 
jei Gott in der Höhe. — Sd) habe — es ge: 
tan.” Ein Schuß fällt ihn. Gein erfter An- 
hänger, der Verbrecher, hat ihn abgegeben. 

Gott ift unerweislid, unb wenn man mit 
bem Aufrührer Martin mitgegangen ijt, wird 
man jchwerlich durch die Predigt des lahmen 
$Bingens überzeugt. So |djón fie ijt und fo 
tlar man fic) darüber fein mag, daß zu dem 
Fall nicht viel anderes gejagt werden fann: 
man ijt am Ende doch von ihr enttäufcht 
unb findet, daß es nicht angeht, einen Ti: 
tanen durch Baldriantee zu beruhigen. Aber 
an diejer janften Kur nahm das Publitum 
feinen Anſtoß. Was es befremdete, war 
vielmehr das unbehagliche Gefühl, daß bier 
cinmal an den Jammer des Dajeins gerührt 
wurde, daß es mitnachdenfen folte über 
bie uralt-ewigen Fragen: Gott und Menſch, 
Freiheit und Notwendigkeit. Und vielleicht 
muB man das Elend, dem wir entgegen 
gehen, mit bem Dichter ahnen, um eine Eug: 
geftion wie den Mafjenjelbjtmord für mög: 
lich zu Halten. 

Das Staatlihe Schaufpielhaus unter Leo- 
pold JeBners weitherziger und anfeuernder 
Seitung bat zwei Neuheiten und zwei Neu: 
einftudierungen berausgebradt. Die eine 
Neuheit, Sort Zudmapyers ‚Rreuzigung‘, war 
ein HRátjel, bas aud) Ludwig Bergers ge: 
idjidte Regie zu feiner dramatijden Klare 
beit löjen fonnte. Was davon in der Er: 
innerung haftet, find ein paar eigentümlich 
itarfe Iygrijche Klänge, und unter den Dar: 
Itellern Annemarie Seidel, die in der Chrijta 
lo etwas wie bie ſuchende Mienjchenjeele ver: 
förperte. Der Spielleitung Reinhard Bruds 
GC Hans Müllers ‚Sterne‘ zu. Der Ber: 
aller der ‚Flamme‘ fehrt in diefem Drama 
gut Geſchichte zurüd, der er den großen 

heatererfolg der Könige: zu danten hatte. 
Er behandelt als ein Jtad)láufer von min: 
deitens einem halben Dugend Vorgängern 
das Cdjidjal Galileis, der durch die Jn- 
quifition zum Abſchwören feiner wijfenibafts 
lider Grfenntnijje gebradjt wird. Das 
„And fie bewegt fic) bod) !^ der Überlieferung 
erläßt Müller jeinem Helden, denn jeglicher 
Trok ijt ihm fremd. Er ijt ein gebrechlicher 
Alter, ber um feine Bejundheit und um fein 
Leben bangt und — fo ungefähr drüdt er 
(id aus — aus ganz gemeiner biindijder 
Angſt den Widerruf leiftet, zum großen 
Summer des Bapftes, ber die Welt für die 
Wahrheit noch nicht reif hält und den 
Foricher zu der Notwendigkeit ber firdjlid)en 
Sebte befehren möchte. Grit nad) neum 
Jahren fommt ber mittlerweile erblindete 
und von Reue gepeinigte Gelehrte dazu, 
jeinen Widerruf zu widerrufen, freilich nicht 


Reese ees ee ees Berliner Bühnen R=222222222249 819 


vor dem geiltlichen Gericht, bas ben alten 

Querulanten nicht hören will, Jondern vor 

einem budligen und lahmen Bettler, der die 

Rolle bes Inquifitors vor dem Sterbenden 

fpielt, Das Drama hatte einen ftarten 

Erjolg. Rraugned und Bajjermann ga: 

ben den Papſt unb Galilei, und es hatte 

einen eigenen Reiz, den ftandfeften Ver: 
treter einer alten (Cdjaujpieffun|t und den 
nervójen einer jüngeren im Wettjtreit mit: 
einander zu feben. Leider fetten fie ihre 

Kräfte für ein im Grunde gleichgültiges 

Wortgefecht ein. 

- Die Bergerjchen Neueinftudierungen von 
Goethes ,Tajjo' und Shakeſpeares ‚Sturm‘ 
zeigten deutlicher als Müllers ‚Sterne‘ den 

neuen Geijt, ber das Staatliche Schaujpiel- 

haus bejeelt und ber mit folder Friſche in 
ver hundertjährigen Gejdidte der Bühne 
nod) nie zu jpüren gewejen if. Wlan 
braucht nicht mit allem ein: 
veritanden zu fein, was 
geichieht. Rann der Tajjo:, 
ganz aufs Mort geftellt, 
die jtilifierte Klarheit der 

Szene vielleicht noch ver: 

tragen, obgleich Ferrara 

trog jeinem unglüdlichen 

Tichter ein heitrer Muſen— 

fig gewejen tit: Proſperos 

jelige Injel bat jid) bate: 
wer gewiß nicht als ein 
oralleneiland unter ewig 

Ihwarzem Himmel vor: 

geitellt. Litt die Dar: 

[tellung des Zajjo mit dem 

jungen, einer verheipungs- 

vollen Reife zuftrebenden 

Lothar lithel in Der 

Titelrolle, mit Decarli als 

Antonio und Johanna 

Hofer und Dagny Ger: 

vaes als den Leonoren 

unter biejer Starrheit bes 

Biibnenbildes nicht wejent: 

Ili: im ‚Sturm‘ fien 

die reudlofigleit — ber 

Szenerie aud auf die 

Sdaujpteler zu drüden. 

Es fam alles febr jchwer 

und ernjt beraus, und 

wenn Rortners Caliban, 
ein gutmiitiges, naturbaf: 
tes Ungeheuer, mit Trins 
culo und Stephano (Frig 
»irid und Eugen Hex) 
nicht gewejen wären, fo 
hätte man wenig von der 
ins llnirbijde verjchwe: 
benden Leichtigfeit gejpürt, 
die zum Mejen diejer Ho: 
manae gehört. Der neue 

Ausjtattungsitil, der nad) 

lajtig empfundener Brunt: 

juht in größter Einfad): 
heit fein Heil juchte, be: 


ginnt zu ermüden. rleans‘, 


Diejes Gefühl hat man aid) im Deutjchen 
Theater, das in diejem Winter fid) Schillers 
mit bejonderer Liebe angenommen hat. Es 
hat den ‚Carlos‘ mit einigen Neubejegungen 
herausgebradt (Krauß freilid) madt Bajjer: 
manns Philipp nicht vergejjen) und bereitet 
für den Schluß ber Spielzeit den ‚SFiesko‘ 
vor. Zu bem ftártiten künſtleriſchen Erfolge 
Dat ihm bie Neuaufjührung der ‚Jungfrau 
von Orleans‘ verholfen, Ur wegen, fondern 
trog ber Ausjtattung durch den Architekten 


Bruno Taut. Es ift an fid) ein gejunder 


. Bedankte, Ddiejes romanti|de Gedicht aud) 


izenijd) als eine Heiligenlegende auszudeuten, 
indem man für jämtliche Bilder einen glas: 
arditeftoni{den Rahmen ſchafft und mehr 
dureh Beleuchtung denn durch Dekorationen 
wirft, in bem Blau die myſtiſche Farbe, 
Rot die bes Befühls, Grün die der Erde 
ausdrüdt. Der Künjtler tann darauf poden, 


CAM 
Pe dic 


J "gäe: 








Helene Thimig als Johanna in Schillers Tragödie ‚Die Jungfrau von 
Ori Deutiches Theater. 


(Aufnahme $. Rojenberger) 


320 Dr. Paul Weiglin: Berliner Bühnen BS=3333333341 


daß jede Zeit fid) ihren eigenen Schiller 
Ihafft und daß diejer myſtiſche dasjelbe Recht 
hat wie der hiftorijch>realijtijche. Wher da: 
gegen gibt es zu bedenken, daß Schillers 
ichtung nicht in feinen Berjen beſchloſſen 
ift, Jondern daß er fid) von der gejamten 
Bühnenwirfung ein jehr deutliches und tares 
Bild gemacht hat und daß bieles Bild mit 
zu feiner poetijchen Leitung gehört. Mag 
man ben Rrönungszug als äußerlichen Pomp 
fallen laffen: muß die ländliche Gegend, in 
der Johanna ihre Herde weidet, in Wider: 
jprud) zu ihrer Schilderung eine Diiftere 
Schlucht fein? Ift es nicht eine Unterſchätzung 
des gejchichtlichen Reizes, wenn uns bie 
jedem Deutichen jchmerzlich betannte Rathe- 
drale von Reims durch ein dürftiges goti- 
es Gemäuer erjeßt wird? Und ijt es wirt- 
lid) die Berbejjerung eines opernbajten 
Schluſſes, wenn jid) bie Apotheoje der Jung: 
frau ohne bas Rauſchen der Fahnen eines 
ganzen Heeres vollzieht? Man jollte, wie 
es Reinhardt in feinen beiten Zeiten getan 
bat, ohne Boreingenommenheit durch einen 
beftimmten Biibnenftil oder eine bejtimmte 
Ausftattungstheorie dem Herafdlag jeder 
Dichtung nadjpiiren und würde auf jolde 
Gewaltjamfeiten in der Ausdentung nicht 

verfallen. 
ber jener alte Hamburger Theaterdiret: 





tor, ver den ganzen Ausftattungstram 
verachtete, — ein wahres Wort, als 
er ſeinen Schauſpielern riet: „Kinnings, 
ſpält man gaud.“ Das Deutſche Theater 
ge es unter der Regie von Karlheinz 

artin fertig gebradt, dak feine Auf- 
führung ber ‚Jungfrau‘ trog einer viel 
umjtrittenen, und wie wir geleben haben, 
zum mindelten fragwürdigen Ausftattung 
ein Ereignis wurde. Gewiß ift dies bas 
SBerbien|t der Dichtung, deren nationaler 
Gehalt heute bejonders mádtig zu uns 
ipridjt. Aber dagegen Debt bie alte Erfah: 
rung, dak gerade die ‚Jungfrau‘ mit ihrer - 
Romantik unjerm Herzen ein wenig ferner 
gerüdt worden war. Und nun begibt jid) 
bas Wunder, daß bieles Drama wie neu 
geichaffen zu uns fpribt. Nicht wegen 
des pradtvollen Dunois Paul Hartmanns, 
bes liebenswürdigen Königs von Walter 
Janſſen oder ber fonjtigen: panzertlirren: 
ben Nitterichaft. Sondern weil eine große 
Künftlerin die wehrhafte Jungfrau alles 
Heroinenhaften enttleidet. Vian bat das 
aud) früher verjudjt, aber was dann zu: 
tage fam, war ein Landmadden, unb Der 
gegenüber hatte die Amazone ihre Bor: 
glige. In Helene Thimigs Auffajjung ba: 
gegen feben wir zum erjtenmal, von Be: 
ginn bis zum Ende folgereht durchge: 
übrt, bas zitternde We: 
ag des Herrn. Eine De: 
miitige Magd nimmt Ce 
SCH Sendung auf fid. 

it traumwanbdlerijber 
Sicherheit gebt fie ihren 
Weg, finblid in Er: 
jheinung und Gprade, 
aber getrieben und er: 
últ von überirdijchen 

ächten. Sie bleibt ein 
Weib aud im Gewiihl 
des Kampfes, in Todes: 
not und Berzweiflung, 
bod) es ftrómt von ihr 
eine Kraft bes Bertrau: 
ens aus, die jeden zwin— 
gen. muß. Gie wird 
niemals patbetijd), aber 
ibre Sclichtheit führt 
die Schillerſche Della: 
mation zu ihrem Ur: 
jprung, dem Herzen des 
Dichters, zurüd. Gie 
wandelt wahrhaft auf 
den leichten Wolfen, die 
in das Land der ewi: 
gen Freude fdweben, 
und wer fie jehen durfte, 
ber bat einen Schaß 
der Erinnerung gewon: | 
nen, um den fid) viele 
Theaterabende lohnen 
und der die ganze Ein: 
rihtung der Schau— 


— 








Eugen Rex als Stephano und Frig Kortner als Caliban in Cbateipeares 
‚Sturm‘, Staatlihes Schauspielhaus. (Aufnahme Zander & Labijd)) 


bühne zu rechtfertigen 
imitanbe ijt. 








Neues bom Büchertiſch⸗ 


Bon Karl Ötrocer 


GetCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCOC CCC 227333333333333333333333333333333333333333:33332333232255O 


a Ve Zwijhenipiel: Agnes Miegel: Gedidte und Spiele — Carl Bröger: 


amme — Die vier — — 
ax Barthel: Utopia — Laj 


et uns 


Beine Lerih: Die ewige Frau — 


ie Welt gewinnen — Ricarda Hud: 


Alte und neue Gedidte — Eduard Studen: Balladen — Theodor Däubler: 


Die Treppe zum Rordlibt — Arno $ 


Erwade 


013: Bud der Zeit — Paul Warnde: 


olt! — Rudolf Presber: Pierrot 





Die jemand, ber nad) elf aufeinan» 
A derfolgenden Bortragsabenden 
am zwölften ein Konzert hört, ijt 
dem Bücherwart Dieter Spalten 
zumute, wenn er mit feiner Ar: 
beit an das Maiheft aech das ber Lyrif 
gewidmet ijt. Ein Aufatmen, ein Gefühl 
mufifcher Erholung und Erhebung erfrilcht, 
wie feines Summen und Klingen aus dem 
Waldgrund, wo Maiblumen im Frühlings: 
wind meipe Glidden ſchwingen, als wollten 
fie [hon Pfingiten einläuten. Cin Gleidj: 
nis fpringt auf vom Hauch fommender Le: 
bensjahreszeit, ber aud) bie Geelen der Fr 
ter in S iste a perjebt. Wher freili 





auch auf diejem äſthetiſchen Grunde geht es 
nicht ohne Maifröfte, Enttäufchungen, Schlo= 
Benwetter und Arbeit ab. Die von Jabr 
zu Jahr höher anjchwellende Majje von 
jenem Schwemmjand unfruchtbarer Dilet: 
tantenübungen, die den eigentlich fruchtbaren 
Boden überjchüttet, jene jchier ae 
Menge von Hauss, Kränzchen⸗ und Gevatters 
lyrit, bie, meift ohne Kolten der Verleger, 
auf den Markt gejpült wird, muß erft abge- 
tragen fein; eine |chredliche Arbeit, die an 
der Gage von ber Yusleerung bes Augias: 
Rolles verjtehende Teilnahme wedt. 

Uber bann wintt Genuß. Im Zwielicht 
unjerer binterbaltigen und rätjelvollen Zeit 
it man mehr als jonjt geneigt, auf Seelen- 
Ihwingungen wirfliher Lyrifer bas Ohr 
zu ſpitzen, denn [ie find Propheten, oft mehr 
nod im Gefühl, als im Wort. Gie haben 
arte Fühler, die mehr wittern, als wir er- 
and erhalten BotiMaft vom leijeften 
Lufthaud fommender Zeitwenden, ift dod) 
der perjönlihe Bemütsanteil, ber bas Bor: 
Hellungsleben des Dichters begleitet, in ber 
Lyrik ftárter als in jeder anderen Gorm der 
Boefie. Denn was bes Gängers Affekte 
zum Schwingen und get bringt, find 
ja gerade bie perjönlichen Kämpfe, in denen 
vas ringende Ich fid) mit Zeit und Welt, 
mit Umgebung, Scidjal und Aulturftrö- 
mung auseinanderjeßt, bis tief hinein in die 
redit unlyrijden Fragen des politijden, jo: 
zialen, wirtjchaftlichen Lebens. 

Um jedod den Übergang nicht gar jo 
Ihroff zu madjen, beginnen wir mit jener 
Sonderart bieler Dichtungsform, bie ber 
Epit am nädjten. verwandt ijt, mit ber 
Ballade. Ihre größte Meijterin in Deutjch: 
land ift noch immer Agnes Miegel. 


Dieje Dichterin bat bie feltene Gabe jener 
BEE bümoni|djen Schauer, bie 
en echten Balladendichter fenngeidnet, fie 
* die ebenſo ſeltene Gabe, wenigſtens in 
hren beſten Schöpfungen, alles zu erleben, 
was ſie formt, in die Geſtalten, die ſie ſchafft, 
hineinzuſchlüpfen wie in ein Kleid und ſie 
mit eigener Lebenswärme, mit ihrem Fühlen 
und Denken, ihrer ftarten Glut und Leiden: 
[att zu erfüllen. Hat ihr fo die Natur das 
ertvollite, das was „not ift” gegeben, jo 
war es der fo Bejdentten ftetes Bemühen, 
bieje Anlage durch fleiBiges Studium zu vers 
vollfommnen. Man tann feine Boldäderchen 
ihrer Runft finden, bie zurüdreichen in bie 
Gbelmetalljdjid)ten der’ alten deutiden und 
englijden Ballade, andere [d)einen zu Börries 
von Münchhaufen, zu Stradwik, zu Fontane, 
zu Storm zu führen, ohne daß jemals eine 
deutliche 9tadjabmung zu fpiiren wäre, es 
find nur übriggebliebene Heine en erniten 
Studiums. Dhne eine [oldje Mühe und Ar- 
beit- entjteht nichts Großes in der Kunft. 
Gelbjt der mit Dichtergaben verfchwenderifch 
ausgeftattete Schiller jagt: „Nur dem Ernft, 
den feine Mühe bleichet, Raujcht der Wahr: 
heit tiefverftedter Born; Nur des ee 
ihwerem Schlag erweidct Cid) bes Mar 
mors fpródes Korn.“ | 
Das neue|te Bud) Agnes Mtiegels Be: 
Didte und Spiele (Jena, Eugen Diede: 
tics) läßt im dritten Bedicht ‚Liebe‘ ers 
tennen, daß Agnes Miegel 9tieb]d)es Lyrif, 
bejonders feine Dionyjos : Dithyramben in 
ihrem feurigen Schwung zu werten weiß, 
übrigens bas einzige Beilpiel in dem Bud) 
und nur ein Zeichen für die unbejchräntte 
Mannigfaltigteit ber Dichterin. Es ift aber 
fennzeichnend für ihre Eigenart, daß im 
Reinlyriihen, im unmittelbaren Gefiibls- 
ausdrud fie niemals die Höhe erreicht wie 
im Balladenbaften. Hier weben uns fos 
gleich bie tiefen myjtilchen Schauer an, Die 
Glen den Bräberjchatten des Kirchhofs 
im ondenjchein weben, bie fo feltjam 
[oden und zugleich fortwinfen und wiederum 
uns zum Laujchen zwingen, wenn fie über 
bie Dichterharfe wehen. Vian Höre diefen 
Stadjtiput : 
Die tote junge Frau im Grab, 
Sie fprad): „Was Klingt nun Tag für Tag 
Bis in mein ftilles Bett hinab 
Mie Sággetnirid und Sammerídjlag ? 


Langit fraB bas Feuer unfer Dorf, 
Das Gott mit Pelt und Tatern fchlug. 


399 Iesel 


Nie fab ich Wtenichen, feit im Torf 
Der fremde Knecht den Jud erichlug.“ 


Sie ſchlug zurüd ihr Leidentud 
Und ftieg wie a berauf. 
Und barzig quolPs wie NN, 
ced WEI band bie Zöpfe auf. 

e. 


Die Fröſche qualten Dumpf im Robr, 
Und überm Tannidt groß und bla 
Stieg [till und rund ber Mond empor. 


Das hohe Gras war feudt vom Tau, 

Sie fpürte lächelnd es beim Gebn. 

Doch einmal aógerte die Frau 

Und blieb in tiefem Sinnen ftebn. 
Bergraben in ben Neffeln ſchier, 

Merjengt, verwittert aus bem Krant 

Ein Rofbaupt hod, des Firftes Bier, 
Drauf einit der Storch fein Neft gebaut... 

Das ift gana großer Balladenftil, aber — 
was ibm feinen bejonderen Reig gibt, ber 
Stil einer ausgelproden weiblichen Ballade, 
als deren Bertreterin (id) Agnes Miegel fo 
tapfer gegen bie große Ghar männlicher 
Meifter diefer Dichtungsart behauptet, wie 
die Jungfrau von Domrem gegen die ans 
itirmenben Heere. Ihre tiefe Seelengewalt, 
die im Empfinden und Schauen ferner Bor: 
welt zu wurgeln jcheint und bod) jo jung 
und neu ift, wie ber heutige Tag, jtrömt in 
dem vorliegenden Bud) am tráftigiten aus 
der Ballade ‚Die Fähre‘ hervor, einem ber 
itártiten poetijchen Zeugnijje von ländlicher 
—— in der gangen Weltdichtung. 

in geheimnisvoller Zug Auswanderer ruft 
in der Nacht der Fährfrau „Hol' über“, ſie 
folgt, trotzdem ihr alter Knecht ſich 
dies SE ite überzujegen, dem Ruf. 
Ein Ritter zu Pferde, der Führer des vers 
triebenen Voltes, läßt fie in der Mitte des 
Stroms halten: „Ich will nod) einmal jehn 
nad) meinem lieben Land.” 

Sd) weiß nicht, wann bie Dichterin diefe 
Ballade gejchrieben hat, aber der Schluß 
icheint mir ein dichterijches Sinnbild (von 
hoher Schönheit) zu fein, das den Schmerz 
über Deutjchlands vergangene Macht und 
Kraft ergreifend ausdriidt. Unter den Geld: 
ſtücken, mit denen bie fibergelebten reichlich 
zahlen, befindet fih auch ein Gilbertaler. 
Die abgegriffene Schrift am Rand ift nicht 
mehr zu entziffern, aber nod) [iebt man an 
einem Bild, wie fiinftlid) bie Prägung ijt: 

Wie ein gefrónter Woler war’s 
ber Wappenjchild und Bepter trágt. 
Dod halb verlojdt war [hon bas Haupt, 
bas auf der andern Seite ftanb. 


Ein mádtiges Haupt mit Helm und Krang; 
bod feiner bat es mehr qefannt... 


Wenn dies ein Jchmerzliches Ude an das 
Reih des erften Wilhelm fein fol, fo wird 
fid Karl Bróger jchwerlich Damit einver: 
itanben erfláren, er ift burdjaus Republi- 
taner, aber er ijf auch Künftler genug, ben 
dichterifchen Wert btejer mage anzuertennen. 
Bröger ift mit zweit Bedichtbüchern auf dem 
Blan: Flamme (Jena, Eugen Diederichs) 
und Die vierzehn Nothelfer (Berlin- 
Zehlendorf, Frig Heyder). ‚Flamme‘ ijt bas 
wertvollere, auch ältere der beiden Bücher; 
die meilten Gedichte find wohl 1919 ent: 
ftanden, fie find noch heiß von bem Wtem 
ber furdtbaren Umwálzung, jie ringen nad) 


rillen zirpten bell im Gras, 


Karl Streder: ' BR22U22%22222323323232323231 


List, Luft und Ausblid aus den Triims 
mern, Sdutthaufen und Staubſchwaden bes 
Zujammenbrucdhs. Aber Bröger, der Arbeiter: 
dichter, ijt weit entfernt von der Ungeredtig: 
feit fanatijcher Heger, bie noch unjere Gol: 
daten be|djimpften, er fingt: 
Deine gorun 
hat jeder Wind der Melt gebaufcht, 
raues Heer. 
ber deinen Bahnen 
ewig Geift der Liebe raufcht, 
Bolt in Wehr, 
Opfervolt. 


Liebe Reit d alle Brüden 


bir ein : 
£eibaerfurd)te Köpfe büden 
fid) nad) deiner Hand und tüjjen bein Gefidht. 
eer, ba li 
gras Ee in Een 
od das Haupt, ztebft du nun heimatwärts! 
Aber [Hon richtet Bröger feinen Blid zu 
neuen Zielen und Leitfternen empor. Noch 
einmal rechnet er in einem febr jchönen 
MWeihelpiel: ‚Rreuzabnahme, ein Spiel von 
Schuld und Cieg', mit allem, was der Krieg 
Furchtbares gebradt bat, ab, ohne Borur: 
teil und ohne Kleinlichkeit, um jchliehlich ein 
einziges großes Ziel aufzurichten: die Menſch— 
heit. Das klingt jo freilich recht allgemein, 
aber Bröger ilt weit entfernt von dem ge: 
danfenlojen Gejchwafel vieler moderner 
Lyrifer, er [faut in Bildern und lebendigen 
Gejtalten und hämmert mit ehernem Ge: 
banfenbammer an den Problemen der Zeit. 
Uber, was bas erjreulichite ijt: er bleibt 
immer Dichter. Hoch über denen, die aus 
ihrer Unfähigkeit eine Tugend maden und 
entweder bie Cpradje verrenfen oder ftatt 
Poeſie Leitartifel, Phrajen, Schlagworte 
plafatgrell in die Welt leben, jiebt er mit 
dem finnenden Auge des Rúnftlers auf das, 
was gejdjiebt; wo jene in Scheußlichkeiten 
und Widerwärtigfeiten mit Behagen wiiblen, 
weiß er auch den Nachtjeiten des Lebens, 
wo fie in den Plan feiner Darjtellung ge: 
hören, nod) eine künſtleriſche Linie zu geben, 
He durch ein Dichterifches Bild zu erheben. 
So |djilbert er eine ber triibjten Erſchei— 
nungen in unjerem Kriegselend, die Unter: 
ernährung der Kinder, tn einem dichteriich 
durchgeführten Vergleich von hoher Schönheit. 
Gs ift bid)terild)e Kultur, bie Bröger vor 
dem Ekſtatiſchen ber jungen Zeitdichter vor: 
aus bat, und diefje Kultur bat ihren Ur- 
iprung in nidts anderem als in tieferer 
Kraft und Größe jenen martlojen Aufgeredt: 
heiten gegenüber. Immer bat er ernite, 
roBe Stele vor Augen. Wud) in dem Kult- 
piel ‚Ranaan‘ und in dem Oratorium ‚Der 
junge Baum‘ jdjaut er mit gläubiger Sin: 
brunjt und leuchtendem PBrophetenblick nad 
einer Zukunft für neue ftarte Menſchen aus. 
Dabei beherriht er die Form mit meilter: 
bafter Sicherheit; in feinen &ultipielen wird 
man mebr als einmal an Goethes tyaujt er: 
innert Durch die fnappe, edle, gebaltvolle 
Bersfprabe, bie immer gedanfertreid ijt. 
Aber wie der Frucht nicht nur Nahrungs: 
gehalt und Gott das Merkmal ihrer Reife 


ESSSSSSSSESSSLTA Neues vom Viidjertijdy 323 


eben, fondern aud) Rundung, Farbe, Duft, 
laum, ja gulet nod) jene baubartige 
Herbftpatina, wie fie auf goldener Mein: 
tranbe liegt, fo vereinen jid) in diejen Ge- 
dichten Rhythmus, Wohllaut, Reimtlang, 
Anjhaulichkeit nnb. Schönheit der Bilder 
oft zur hodjten Vollendung. Und diejem jo 
felbftändigen, im Denten, Wollen und Schaf: 
fen jo ftarten Dichter fehlt auch die goldene 
Cdjwermut bes Ne es im Abend- 
Idein keineswegs. Dan höre Jeine „Stimme“: 
2 enden Hauptes wandelt Herbjt 
urd gilbende Haine 
Und blajt Flöten der Schwermut 
Traurigen Sdalls. 
Silberner $jaud) ftiebt von feinem Munde, 
Wenn er kühl atmend aufitebt 
Und, in fieben opale Schleier gebiillt, 
Sterbende Sonne umtanzt. 


Was glübt ber Wald brandrot 
Und flammt jeder Baum 
Mie eine Fadel? 


Berfhwunden find, 
Die hier einft wandelten 
Unter raufhendem Sommerlaub. 


Shr Blut, fernvergoffen, _ 
Wandert nadtens heimwärts 
Bertrautem Mutterboden zu. 


In allen Stämmen fteigt es hod, 
Schlägt durd bie Blätter 
Und tropit in ae Auge 
Gedächtnis unterer Toten. 


Bäume bluten. 
gone Löte fingt... ` 
Alles Leid ijt brüderlich! 
Man fiebt: immer noch weilen feine Ge: 
danten bei den toten Brüdern; er ijf ein 
uter Ramerad und ein feiner Menſch. 
er nicht in feiner Dichtung braucht er 
diefe Rameradjchaft, bie oft der legte Halt 
und Ruhm der Kleinen ijt, da geht er eigene 
Wege, wie fein Legendenbud ‚Die vier: 
zehn Nothelfer‘ beweilt. In ſchlichtem, 
wirflicem Legendenton oft mit bebaglid)em 
Humor werden hier bie Wundertaten der 
vierzehn Notheiligen, die ber Ratholif in 
befonderen Nöten anruft, erzählt. Cine 
fleine Probe wird zeigen, wie Bróger [id) 
bier in feiner Form und Art dem Stoff an- 
paßt. Die Himmelfahrtslegende (des Gantt 
Cebalb) beginnt: 
Feudt bampjit die Frühe um Fichten und Fóbren, 
(rin Deuchten Er flingend an ben Wald, 
Meife und Budfint laffen ihre Stimmlein hören, 
Und Sanft Sebald 
iebt feine zwei Kühe aus ihrem Stall; 
ta illt die Wärme aus allen Rigen. 


Der Wtorgen hebt den goldenen Ball 
Der Sonne fon über blante Tannenſpitzen. 


Nächſt dieſer ſind beſonders gelungen die 
Hirten-, die Schmetterlings- und die Tauben: 
legende, nicht zum wenigſten auch die Le— 
gende vom Feueroſen, in der Bröger Ge— 
legenheit findet, ein kräftiges Preislied auf 
die Fabrikarbeit anzuſtimmen; höchſt an— 
ſchaulich und nicht ohne Humor ſchildert er, 
wie St. Korbinian in den großen Walz— 
werfhof tritt und hingeriſſen von dem Fieber 
der Arbeit Deler balbnadten Männer in 
Senersglut jchnell feine Kutte nebjt ber ge: 
itridten Weite an den Nagel hängt, den 
Heiligenfchein aud) gleich dazu tut und nun 
mit fráftigen Fäuften das (Glen padt. 


Karl Bröger ift die erfreulidfte Erjchei« 
nung unter den Dichtern, bie der Krieg er: 
wedt und berufen hat. — bier feiner» 
zeit aus ſeinem ſtarken Bekenntnisroman 
‚Der Held im Schatten‘ die Kämpfe, Nöte 
unb Berfehlungen feiner Jugend kennen ges 
lernt, bie er mit einer wahrhaft rouſſean— 
Iden und — E Rückſichtsloſigkeit 
gegen ſich ſelber dargelegt hat. Er durfte, 
er mußte ein ſolcher Bekenner ſein, denn er 
dé lich zu einem erniten, tiefen Dichter und 

enjchen emporgeläutert. Das ift taujend: 
mal wertvoller, als der fichere und „malel: 
loje Wandel” derer, die auf den D bes 
Lebens niemals Grotte Not und ärgite Ver: 
judung fennengelernt haben. Brógerijt de 
ein weitichauender, ernjter Mann, von jidje: 
rem Fühlen und Denfen, fein Wort, das er 
Ipricht, ijt ohne Gehalt. Auch rein fünjtle: 
rijd ijt er erſtaunlich gewachſen und bat 
jeine Kameraden Lerjd und Barthel 
weit überholt. Zufällig war der Gdreiber 
diejer Betrachtungen einmal in der Lage, 
Lerih einen Literaturpreis verleihen zu 
Tonnen (wie übrigens auch Agnes Dtiegel) 
und es war rührend, wie ber junge Arbeiter: 


Dichter im grauen Goldatenrod mir damals 


in erfter Freude aufjubelnd jchrieb: Fest 
tónne er fid) wieder eine Mertitatt einrid): 
ten! Aud) das ift ein Zeichen feelijcher Ge: 
jundheit. Lerjd war Arbeiter, ber Krieg 
bat ibn zum Dichter geweiht, er fang wie 
wenige jo rein und bejeelt, jet ift er wieder 
Hill und bejcheiden zu feiner Arbeit zurück— 
nefehrt. Ehre ibm! Aber die Runft ijt eine 
jtrenge Göttin. Wer fic ihr nicht ganz bin: 
ibt, dem entzieht fie ihre Weihe. Aus 
einem Gedidthidlein: Die ewige Frau 
(Köln, Salm -= Verlag) — wir, daß er 
aud) glücklich verheiratet iſt, denn „IHR, 
meiner Frau“ hat er dieſe Liebesgedichte 
ewidmet. Lerſchs ſtarke und eigenartige 

egabung verleugnet ſich auch in dieſen meiſt 
kurzen und oft in die Form des Sonetts 
gezwängten Ergüſſen ſeiner Anbetung nicht. 
So wenn er den Garten ſeiner Braut be— 
ſingt: 

Die Stunden all, die wir darin verliebt, 

Die hängen nun wie Laub in Zweig und Aſt. 

Dennod: ganz ohne einen kleinen Genre 
oder Miptlang if laum eins der Gedichte, 
allenfalls das jchöne ‚Ich wußte nicht, was 
Gott mit mir bejdjlo|fen', Vian tann nicht 
zween Herren dienen, wo die ftrenge, uner: 
bittlid)e Gelbjtfritif fehlt, da geht es bald 
bergab mit der Kunft, bas aber wäre fade 
bei einer ee wie Diejer. 

Max Barthel dient einem anderen 
Herrn: ber Bolttif und zwar von febr radi: 
talem Standort aus. Sn [einem Gedicht: 
bud) Utopia (Jena, Eugen Diederid)s) 
ſchwenkt er die blutrote Fahne voll Zorn 
und Haß, und wer anderer Vieinung ijt, ge: 
hört für ibn zu „der Gejdjid)te ftintendem 
Yas”. Die politiiche Ridtung fann uns 
bier in unjerem fiinftlerijden Urteil nicht 
beeinfluffen, und wenn Barthel feiner über: 


924 Rarl Streder: Neues vom Büchertiſh B33333333 


ftiegenen Meinung den poetijchen Gilber: 
Hang Freiligrathicher oder aud) nur Herwegh: 
[deer Revolutionslieder gegeben hätte, mur: 
den wir ihm den Kranz nicht weigern. Aber 
Ichreien und fingen find zwei einigermaßen 
verjchiedene Tätigkeiten, es genügt nicht, 
daß in dem Bud bie und da ein ftartes 
bidjterildjes Bild aufbligt. Gemäßigter ift 
Barthel in dem Gedidtheft Laſſet uns 
die Welt gewinnen (Hamburg, Hoff- 
mann & Campe). Warum niht? Wir 
[ajfen jchon. Wher Ihr habt die Kraft nicht 
dazu, mein Freund. Gud) fputt Berworrens 
heit im Kopf, wenn Ihr fingt: 

fiber uns ift Heiliger Gei 

Mit ben jtarfen Raubtierfángen. 

Go hat fih die Ausgießung des heiligen 
Geijtes wohl nod) niemand vorgeftellt, wie 
diejer — Pazifiſt. Tiefjinnig fingt er ein 
andermal: 

ia lan ie Brent 
Tag ijt gut. Die Nacht ijt beffer; 
Alles ijt nur abgejpiegelt. 
Oder: 
Du goldgrün waldumfaufter Ort, 
An dem Die Rehe unjerer Schwermut grafen. 


Zeigt die erfte diejer beiden Proben ein 


etwas eingejchränttes Denten, jo die zweite 


ziemlich verfebrtes und untiinftlerijmes 
Schauen. Grajende Rehe find gerade das 
Gegenteil von einem Bilde der Schwermut, 


eher [hon ber Anmut. Nicht nur dem Weid— 
mann jchlägt dabei das Herz höher. — Hof» 
fen wir, daß Barthel nicht lange von der 
Hexe Politif feinen Moft bolt, es wäre 
ihade um fein ungwetjelbaftes Talent. 

Reinere fünjtlerijd)e Luft umwebt uns bei 
Ricarda Hud. Gie ift ja Lyriferin eigent: 
lid) nur fozufagen im Ntebenberuf, aber aud 
da ganze Dichterin. Gleid in dem erften 
Stüd ihrer Alten und neuen Gedichte 
(Leipzig, Infel : Verlag), dem ‚Rabenpara= 
dies‘, lächelt ein feiner, jchalthafter und an= 
mutiger Humor, Der freilich nicht oft 
wiederfehrt, aber abgelóft wird von Hang: 
vollen, gehaltreichen Verjen, finnig, an: 
mutig, mitunter Dot männlich, aber met 
mit dem Grundton einer verhaltenen Klage. 
Vian denft bei Ricarda Hubs Lyrif un: 
willtürli an Bódlins Frauengeftalt abends 
am Meer unter der hohen Pyramidenpappel, 
die in leife finniger Schwermut bie Gipfel: 
ipige al Bolltommen ijt bei Ricarda 
Hud) die Beherrichung der Form, man lefe 
nur das wunderjchöne Gedicht: ‚Mit unge: 
duldigem Flügel, Schmetterling‘. Weniger 
gelungen find ‚Alte Lieder‘, mitunter ftórt 
eine artijtilcehe Spielerei, aber um jo prád)- 
tiger bricht dann der ehrliche Zorn in einem 
wahren Haßgedicht auf Wilfon, gleich einer 
Hellen Flamme hervor. Die vielen Freunde 
ber Dichterin werden von dem hübjchen Band- 
chen nicht enttäujcht fein. 

Um jo mehr die Freunde Eduard 
Studens von seinen ‚Balladen‘ (Berlin, 
Grid) Reig). Man erjchridt förmlich über 
bie Weitjchweifigfeit und Leere, über bie in 


ſchlechte Berje gebradte Profa, über Die 
ewig faljche Betonung durd) den Reim, über 
bas Dilettantijche, namentlich in ber erften 
Hälfte bes Buchs. Stucken reimt: 

Denn febt, fie war ein Baftardfind 

Und ihre Mutter Herzogin, 

Unbánbig ift ein Herz, wenn in (!) 

Den Adern Blut der Großen rinnt. 

In der zweiten Hälfte des Buds wird 
es ein wenig beffer, ‚Nut und ST 3. B. 
ließe fid) hören, wenn niht Ausdrüde wie 
„Die tubhorn-bediademte” Nut wieder daran 
erinnerten, daß wir es mit Pjeudodidtung 
zu tun haben. 

Da ijt Theodor Däubler aus anderem 
Holz geld)nibt. Seine, Treppe zum Mord: 
licht‘ (Leipzig, Injel-Berlag) ift eine Treppe 
zu hoher dichteriicher Vifion, deren Nords 
lichtfrone wir aber nicht durd Steigen, die 
wir „fliegend oder nie erreichen“. Schade, 
daß der Raum es verbietet, von Ddiejem 
jchmalen Büchlein, bas aber jdjwerer wiegt, 
als mande didbaudige Anthologie, bier Pro» 
ben des dichteriichen Cchauens, des Rhythmus 
und des orange zugeben. Tan gi) auf 
Däublers weitere Entwidlung gejpannt fein. 

NRüdwärts hingegen wird unfer Blid ge» 
richtet, wenn wir das Bud der Zeit‘ von 
Arno Holz aufihlagen. Der einftige Wns 
reger der damaligen „Moderne“ bringt bier 
die „endgültige Ausgabe“ feiner im Sabre 
1885 guerft erjchienenen ‚Lieder eines Vio: 
dernen‘. Wie ein literarhiftoriiher Wis 
mutet uns dies „modern“ heute bei diejem 
Bud an, bas mit feinem Imprejfionismus 
von ehedem auf die heutige Jugend wie ein 
Schuhu auf die Krähen wirken dürfte, — 
reel weitab von dem Schwarm Der 
Aktiviſten und Futuriften und bod) ganz und 
gar im Luftitrom der Zeit [djmebt Paul 

arnde mit feinen paterlánbijdjen Ge: 
dihten ‚Erwade Bolt (Berlin, Herm. 
Krüger). Es find Zeitgedichte, nad) ber 
Revolution entitanden, voll glühender Bes 

eilterung für Deutjchlands Heiligtümer, für 
eine entIhwundene Maht und Größe, von 
tiefem Schmerz über feinen Zufammenbrud 
getragen. Jn einem anderen Volt würde 
Diejer oe e Tyrtäos gefeiert werden wie 
ein Held, bei uns wird er von ben Äſthe— 
tifern totgejchwiegen, wohl weil er „zu weit 
rechts“ jteht. Aber was heißt rechts und 
lints — vielmehr was jollte es heißen, wenn 
es — unſere gemeinſame Beige Mutter, 
das Vaterland handelt? — Go ernit diefer 
Norddeutiche, jo heiter ift der Frankfurter 
Rudolf Presber in feinem Pierrot 
(Stuttgart, Deutſche Berlagsanftalt). Pres- 
ber ift aber nicht nur Heiter, er ift aud) 
herzlich, er ijt leicht, aber aud) gelund, er 
hat Get, aber aud) ein ftartes mpfinden. 
Die Grazie feiner Form ijt eine glüdliche 
Ehe mit der Klarheit feines Denfens und 
Sd)auens eingegangen, ein gefährlicher Haus» 
freund bleibt der Wik, für Das Haus bes 
Sejers freilich ein Freund, der mehr will: 
tommen als gefährlid) ijt. 


e Slluftrierte Nundfchau e 


eh hh hh hehe y yyyyyyIIIIIIDIIIIIIIIDIIIIIPDIIIIIDIDIIIIIIIIIIIIIIIIIII0 


Der Bildhauer Adam Antes — Shmud von Hermann Weingand — Ein 


Werk bes Ardhiteften Dipl-3ng. Ernft 
Gderenjdnitte von Lija von Helmol 


nolo. oie A OMNA COOC '"YoloolooXoolte > > 2 G 5 D ( ele ec Dé 7 5 
Cere € 9 c 009) 09 8 8 8 0) 08 09 9) 08) 0 99) 09 08 08 6) 0 99 8) 9 8 8 S8 









Um den Lejern Adam Antes und fein 
Schaffen nahezubringen, haben wir 
ibm wohlvertrauten Runjtgelehrten Dr. Ro: 
bert Corwegh um ein paar Worte der Ein: 
führung gebeten. Corwegh madt darauf auf: 
merfjam, baB man eine lo junge, neujchöpfe: 
riſche Runft nur bann rıchtig werten und vor al- 
lem lieben lernt, wenn man jid) von der Windel: 
mannſchen Betrachtungsweije Ion, die von ber 
Plaſtik flare Formengebung, Körperlichkeit in 
vollendeter E forderte. Auch die 
neue &unjt Jucht Vollendung, aber im Zuſam— 
menflingen des Körperlichen mit bem (Zee: 
lifchen, und fie will bieles Seeliſche im Tiefiten, 
an der Wurzel paden. Go ift für Antes 
ber Lutherfopf nur der äußere Anlaß, Wil: 
lens: und Glaus 
bensftárte in Das 
Gefäß eines menjd): 
lichen Antliges zu 
bannen. Jede Be- 
wegung der Ober: 
fläche feines Steins 
dient diejem Zwed. 
Oder er juht bas 
Leid in den Zügen 
einer Frau aus: 
zudrüden. Wud) 
. bier fteht ibm ge: 
wif eine beftimmte 
Frau vor Augen, 
aber er erhöht He 
zum Symbol einer 
ſeeliſchen Bewe- 
gung. Einem zer: 
tijjenen Herzen 
paßt erdie Sprache 
jeiner Runjt an: 
er teilt die Biijte 
in eine fiárter ftilis 
fierte obere Fläche 
und in eine mehr 
der Natur nad): 
ebildete untere. 
paltung ift Ber: 
rijjenbeit. Der 
Torfo, Delen Ge: 
fichtszüge wie bin: ` 
ter feiern lie: 
gen, offenbart mit 
der verlodend ſchö⸗ 
nen Form Der Glie- 
berzugleichKteufch. 
de Er gibt 
nthüllung, und 
Schleier, wie jede 
echte M lodt 
undwiederverjagí. 
Bd & 88 


en 





Lutbertopf (Teilbild). 


ring — Zu unjern Bildern — 
und Helmuth Hauptmann 


SEH 


Auf ©. 327 bilden wir einige Sh mud: 
ftiide von Hermann Weingand ab, 
einem Lehrer an ber Fachſchule zu Schwä- 
bijd): Gmünd, von deren Zeitungen hier [hon 
wiederholt die Rede gewejen ijt. Weingand 
zählt feit bem Beftehen ber Schule, feit 1907, 
zu ihren Lehrern. Er ftammt aus Heilbronn 
und jchreibt ber alten und fleiBigen Reichsjtadt 
die erjte Anregung zu tünftlertichem Schaffen 

u. Sn den weltbefannten Werkitätten von 

. Brudmann & Söhne arbeitete er vier 
SE lang als Lehrling. Der gründlichen 

usbildung, die er bier genoB, gedenft der 
Künftler nod) heute mit Dankbarkeit. Er 
ging dann einige Jahre auf die Stuttgarter 
tunftgewerbejchule und jab fid) Darauf in ver: 





Bilowerf von Adam Antes : Worms 


326 SUuftrierte Rundſchau 





el Leid. Bon Adam Antes: Worms E 


Ihiedenen Fabrifen und Werkitätten (Geis: 
lingen, Köln, Budapeft, Gmünd) als Zeichner, 
Bildhauer und ĝi eleur um. Go ift er für 
eigene Lehrtatigteit ftiinftlerijd) und hand: 
werflich gleihmäßig gejchult und fühlt fih in 
einem Amt gliidlid. Er gibt praftijchen 
Unterricht im 3ijelieren und Metalltreiben 
jowie im Zeichnen und ift in feiner freien 
Zeit, um niht etwa im Dienftbetriebe zu 
erftarren, |dj)opferijd) tätig. Denn bie [tete 
Berührung mit dem Leben und Der Zeit 
diintt ibn mit Recht unentbehrlich. In diejen 
Eigenftunden find die hier wiedergegebenen 
Arbeiten entitanden, bie dann oft als Muſter 
für die Schüler dienen. Das Hauptgewicht 
legt Meingand auf gediegene handwerkliche 
Ausführung und gut abgeftimmte Befamtwir: 
fung. Leider Debt man an unjern Bildern 
nur die gliidlide Form und nicht den Ge: 
Ihmad, mit dem Vietall, Steine und Elfen: 
bein zueinander geftellt find. Jedes Gtüd 
ijt von Hand getrieben und vom Künitler 
volljtändig fertig gemadt; aud) bie Mon- 
tierung überläßt er nicht etwa Silfstráften. 
Auf bteje Meije ergeben fid) Arbeiten eigener 
Prägung und aus einem Buß. Weingand 
fertigt natürlich nicht bloß Schmud an, fon: 
dern weiß auch größere Aufgaben wie Be: 
cher, Dofen, Rajjetten, Ehrenurfunden, Ehren: 
fetten u. dgl. zu lójen. 

88 


89 £g 

Man redet jeit Jahrzehnten davon, daß 
Ihlichte Ehrlichkeit in ber Baukunſt am läng- 
Hen währt, unb es gibt eine Menge Künſt— 
ler, bie fid) mit unverbriidhlidhem Ernft fiir 
diejen Grundjag ins Zeug legen. Aber 
— man täufche jid) Darüber nicht — die Auf: 


traggeber laffen es noch immer febr häufig 
an der nötigen Selbftgudt fehlen, und bie 
notgedrungene Sparjamteit, bie heute walten 
mus wird feineswegs allgemein als Mobltat 
empfunden. Im Gegentetl: der Trieb, mehr 
zu jcheinen, als man ijt, maht fid) aud in 
der Architektur ftart bemerkbar. Wer das Geld 
hat, will auch bier prunfen und mertt nicht, 
wie ftillos, wie unmodern er ift, und leider 
gibt es Baumeijter, bie fid) dieler ungeitge- 
mäßen Prunkſucht fügen ober fügen müllen. 
Denn die Runft geht nad) Brot. Und bod: 
wie wenig äußere Mittel braudt ein guter, 
wahrhaft gebildeter Gejdmad, um fid) zu 
offenbaren. Das beweift der Kieler Archi— 
teft Ernft Pring mit feiner Gnugmann= 
iden Baderet. Diejes einfahe Haus 
wirft einzig und allein durch feine glüdlichen 
Berbáltnifje, durch bas feine Gefühl, das es 
in die Landidaft gelebt bat, durch den prat: 
tijden Sinn, der allein jchon ein Unterpfand 
für Schönheit ijt. Der Wrdhiteft wie der 














Bon Adam Antes: Worms 


E39 Marmortorjo. 





e 
Eesssesseeeoosos) Muftrierte Rundſchau 





Beliter dürfen überzeugt 
fein, daß bieles Haus 
nod) in fpáter Zukunft 


dade Wandel bes Ges. 


djimads trogen wird. 
Ja, wäre der gejunde 
Geift, ben es atmet, der 
allgemeine im Sater: 
lande: es ftünde beffer 
um uns, und unlere Nöte 
wären zu ertragen. — 
Unjer Titelbild jtammt 
von einem jungen Mind): 
ner Rünftler, dem 1884 
in Neuftadt a. b. $. ge: 
borenen Otto Dill. Er 
it ein Schüler Zügels 
gewejen, und. wenn er 
aud) aus Cigenem zur 
Meifterfchaft gereift ift: 
bie Wucht unb Lebendig: 
feit des Vortrags, Die 


ir. 


CA 


thn 
tüdjtigen Tiermalern auszeichnen, hat ihn 
zu Zügel als einem Wablverwandten a 
gen. — Mit uns werden fih bie Rejer 


Det — 
php = y Jar? 


Ardhitelt Dipl.-Ing. Ernjt Prinz, Kiel. 





Broichen, in Silber getrieben 
Bon $. Weingand, Gmünd 


vor andern 


DT lo u. — d á Wm ` e 
ege, NL m ` a 
HA ECK Pei Ion pe zt e Ze ais MAA 3a 
E > = ^ ` < — - -— gë e 


‘at oe - ^ "XE oa 
PF CU : Kot x em 





Báderei Gnugmann, Flintbed bei Kiel 


B. D. 9L. & D. W, Y, 





BRZE 327 


E 





freuen, wieder einmal 
Prof. Peter Paul 
Müller als Viitarbei: 
ter zu begrüßen (zw. ©. 
224 u. 225). Geine „Leh: 
ten Sonnenjtrablen“ 
verraten aud in Der 
einfarbigen Wiedergabe 
etwas von Der Dichteri= 
Iden Zartheit, dem lyri— 
Iden Schmelz ` bieles 
Yrühlingsbildes. — Das 
anmutige Damenbildnis 
der Berlinerin Sabine 
Lepfius (zw. ©. 232 
u. 233) ift nicht nur wegen 
feiner Duftigen SRofofo- 
farben Grau und Rofa 
reizvoll; es ijf Der 
Riinftlerin auch gelun: 
gen, die augenblidliche 


Bewegung Der mit einer Kette fpielenden 
linten Hand lebendig wiederzugeben. — Mit 
dem Entenbrunnen (zw. ©. 240 u. 241) zeis 
gen wir den Lefern ein neues Mert unferes 















Gladiolen 


Gemälde von 9. 


ittag 


M 


Keele 


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Q Qi 


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CKO 





35.Jahrg. / Funi 1924 /1OBeft CI 










heite? 


nef, freunde 









Is Annie aus England zuriidtebrte, 
wo fie bas zweite Jahr ihrer 
Penfionszeit verbracht hatte, er: 
fuhr fie, daß Hans kurz vor ihrer 


. a. 0 
M RING, 


o wel = 
SU 4) Y 


ON 
Ankunft zur Univerfität abgereift fet, Aud) 
ihr Bruder, der eine techniihe Hodjdule 





bejudte, war ſchon wieder fort. Sie folte 
noch andere Enttäufchungen erleben. Dabei 
batte fie fih fo leidenſchaftlich auf bte Riids 
febr gefreut. Mit nimmermiider Cinbildungs: 
traft batte fie fid) ausgemalt, wie herrlich 
das Leben werden würde, wenn erft dies 
langweilige Jahr zu Ende war, und hatte 
im Wachen und Gclafen getanzt. Aber 
wenn der Kobold Traum [ie häufig in ganz 
unzulänglicher Belleidung auf den Ball gehn 
hieß, jo daß es geradezu peinlich war, und 
fie an ihre Mutter [chrieb: „Ich ſchäme mid) 
bireft, daß id) immer fo was Dummes 
träume, aber id) benfe, es liegt an ben 
dünnen Deden bier, wo id) bod) gewohnt 
bin, unter einem ederbett zu ſchlafen“ ... 
in ihren wachen Träumereien trug jie immer 
die hübfcheften Toiletten und erntete auf 
allen Gejelimaften jo viele Erfolge, daß fie 
der Stolz ihrer Eltern wurde. Uber zu 
Haufe Hatte fih mittlerweile vieles ver: 
ändert. Ihren Bater feffelte ein langwieriges 
Sschiasleiden ans Zimmer. 

Profeffor Dewerth batte das zweifelhafte 
Blüd gehabt, beinah fünfzig Jahre feines 
Lebens [tets (Glod zu haben: in feiner Kunft 
ſowohl wie in feinem privaten Leben. 

Jabr auf Jahr batte-fein robufter Körper 
bie reidjlidje Arbeit und den nod reid) 
licheren Genuß bewältigt und nie verjagt. 
Auch in anderen Beziehungen waren ihm 


Tielbagen & Klajings Monatsbefte. 35. Jabrg. 1920/1921. 2.80, Naddrud verboten. Copyright 1921 by Relbagen & Rlajing 


Roman von Wilhelm Hogeler 


APP... ...o. a... .... 


a | Mae RD 








alle jene Heinen Warnungen, gelegentlichen 
Migferfolge, Enttäufchungen, Sorgen, diefer 
ganze Wechjel von Sonnenjchein und Regen, 
der erft eine Frucht wohljichmedend und fúB 
und einen Menjchen mild und ftart madt, 
unbefannt geblieben. 

Als er nun unverjehens den erjten Ans 
fall feines Leidens fpürte, hatte er ben 
Hausarzt Zommen laffen und ihn, halb 
ärgerlich, Halb lachend gebeten, das bißchen 
ſchmerzhafte Buden in feinem Bein jchleus 
nigft wieder in Ordnung bringen, aber ohne 
bie üblidjen Schifanen, bitte, auf Altohols 
unb Nitotinverbot ließe er fid) nicht ein, — 
wie man von einem Schufter bie fchleunige 
Reparatur eines Gtiefels verlangt. 

Als aber nad einigen Wochen der Haus». 
arzt Geduld zu predigen begann, taujchte 
er ihn iunmir[d gegen einen andern um, 
diejen gegen einen Profefjor und fuchte dann 
ein Sanatorium auf. Doch es zeigte fich, 
daß fein Bein fein Stiefel war. Und [djlieB: 
lid) ergriff dies bißchen ſchmerzhafte Buden 
bie Herrichaft über das ganze Haus und 
machte felbft die Dienftboten trübjelig und 
zänkiſch. Annie war von bem Wiederjehen 
ihres Baters erjchüttert. Cie, die ibn gejund 
verlaffen hatte, empfand die Veränderung nod) 
viel fdwerer als feine tägliche Umgebung. 
Als fie fein Zimmer zum erftenmal betrat, 
hatte er gerade einen Anfall gehabt, und 
wie fie fid) Dinunterbeugte, um ihm einen 
Kuß zu geben, ftieg er fie zurüd, ftöhnte, 
fluchte und verlor fid) ganz in dem Kampf 
gegen ben unjichtbaren Feind. Erft nad) 
einer langen Weile erinnerte er fid) feiner 
Tochter wieder, betradjtete fie mit bem 
22 


830 Fees SS) Wilhelm Hegeler: BZZZZZZ ZZZ ZEZA] 


neidiſchen Blid des Kranten und fagte, fie 
wenigitens fábe, Gott fei Dant, gefund aus, 
gut, daß fie ba fei, fie tónne ihrer Mutter 
bei der Pflege helfen. 

Anfangs gab fie fih redlihe Mühe. Das 
Mitleid und die Erinnerung an ihren frü« 
beren, liebenswiirdigen und ritterlichen Papa 
halfen ihr über vieles weg. Aber bie fins 
Here Laune des Kranten, ber über jede Heine 
lingeldjidlidjfeit in Zorn geriet, machte ihr 
die Aufgabe immer fchwerer. Jn fchmerz« 
freien Augenbliden Dammerte ibm manchmal 
auf, daß er ihr unrecht tat, aber bann trós 
[tete er fie mit Dem Hinweis, es Tonne ihr 
nichts ſchaden, wenn fie frühzeitig ben Ernft 
des Lebens tennen lerne. Bei ihren Shwe: 
ftern hätten bie Eltern das leider verjaumt 
und würden dafür jet mit Undant bes 
lohnt ... Annie vermochte nicht einzufeben, 
warum fie für die Fehler ihrer Schweitern 
büken jollte. 

An ihrer Mutter fand fie feine Hilfe. 
Deren’ Gereigtheit batte noch einen anderen 
Grund. Geit länger als einem Jabr hatte 
Dewerth nidjt mehr gearbeitet, und bie Ein» 
nahmen waren febr zurüdgegangen. Frau 
Dewerth [tedte in Beldnöten. Ohne ben Zus 
idnitt der Lebensführung im großen zu dns 
dern, [parte fie an Rleinigteiten, legte fid) 
felbft Entbehrungen auf, bie freilich in ihrem 
Alter taum welde waren und verlangte 
dasjelbe von ihrer Tochter. Aber anftatt 
ihr den wahren Grund zu fagen unb fie 
an ihren Gorgen teilnehmen zu laffen, bes 
mántelte fie ihre Notlage mit padagogijden 
Rüdfihten, [Walt auf ben übertriebenen 
Luxus ber jehigen und pries bie Anfpruds: 
lofigteit ihrer eigenen Jugend. Annie tonnte 
fid) diefe Veränderung nicht anders erfláren, 
als daß ihre Mutter, bie gerade wieder eine 
Kur gegen ihren Zuder burdjmadjte, das 
durch auch feelijd) mitgenommen fei und an 
tranthaftem (eig litte. Was fie zu Haufe 
entbebrte, fand fie bei ihren Freundinnen, 
bie aus der Penfion zurüdgelommen waren 
unb jebt ihr Leben genojjen. 

In dem Jahrzehnt nad) der Jahrhunderts 
wende hatte bie [tille Malerftadt durch den 
Zuzug reicher Induftrieller aus der Um: 
gegend einen äußerlich glänzenden Aufichwung 
genommen. Das Geld jpielte eine immer 
größere Rolle, Die ernjthaften Künftler bat: 
ten fid vom gelellidjaftlidjen Leben zurück— 
gezogen, bie andern waren bie Amujeure 
der reichen Leute geworden 

In den meiften Häufern, in denen Annie 
vertebrte, Derr|d)te eine rege und GuBerft 
[uxuridje Gejelligteit. Es fojtete immer einen 
Kampf, und gelegentlich mußten Liften und 
Notlügen fie unterftügen, ehe fie bie Cr» 


laubnis zum Ausgehen befam. Aber defto 
beraufchender war dann das Vergnügen. 
Und was ihre Erfolge angingen, fo batten 
ihre Träume fie nicht belogen. Gie bejaß, 
wie Olga Blah fagte, bas, was die Männer 
am meilten reizt: fie jprühte äußerlich Feuer 
und war innerlich fühl. 

Wie tónnte man anders fein, dabte Annie. 
Die Männer find jo wahnfinnig arrogant. 
Das einzige Mittel, fic) gegen fie zu bes 
haupten, befteht darin, nod) arroganter zu 
fein. Ihr Herz [djlief tief und traumlos in 
diefer Zeit, und nur felten, in einer leer 
bindämmernden Stunde, regte es fid ein 
wenig, jeiner felbft nod) faum bewußt und 
mehr verwundert als febnfiibtig. Was in 
diejer, an der Oberfläche gligernden und 
heiß jprühenden Welt von Annie lebte, war 
aud) nur ihre Oberfläche: Freude an ihrer 
Schönheit, Rráftejpiel ihrer Jugend und ein 
undifferengiertes Vergnügen am Mtanne. Je— 
der der jungen Herren hatte etwas Anziehen» 
des für fie, und jeder wurde ihr mit der 
Zeit langweilig. 

Da es [ie auf bie Dauer bedrüdte, daß 
fie fid) jo oft von ihren Freundinnen eins 
laden ließ, ohne [ie wieder einladen zu tön: 
nen, veranftaltete fie einige Dale in einer 
Konditorei kleine Schmaulereien für fie. Und 
auf einmal war eine Rechnung aufgelaufen, 
die Annie mit ihrem fnappen Tajchengeld 
unmöglich bezahlen fonnte. 

Schon mehrfad hatte die 9Befiberin ges 
fragt, ob fie die Rechnung an Frau Dewerth 
(iden folte. Annie, die Vorwürfe von 
ihrer Mutter befürchtete, erwiderte jedesmal, 
[ie würde fie felbft bezahlen. Doh von Mal 
zu Mal Hang bie Frage [piber. 

Eines Nachmittags [aBen Mutter und 
Tochter am £affeeti[d) — an einem jehr flags 
lich gebedten Kaffeetilch, der [tatt ber Kuchen» 
pyramide aus der jchönen alten Zeit ein 
icheußliches Rrantengebád für Frau Dewerth 
und fimples Weiß: und Schwarzbrot mit 
rheiniſchem Kraut für Annie aufwies... 
es brauchte nur nod) bas Tiſchtuch zu fehlen, 
dann wäre es genau wie in der Küche, Dachte 
fie. Sie hatte eben eine jchredliche Szene mit 
ihrem Bater gehabt, der ihr beinah einen 
zu heißen Wärmftein auf die Füße geworfen 
unb fie eine dumme Trine gejcholten Hatte, 
ein hartes Wort für eine junge Dame, bie 
nod fiirglid) cin aus dem Rahmen ge: 
ftiegenes Porträt von Gainsborough ge: 
nannt worden war. 

„Dama,“ fagte fie nad) einer Weile, „ich 
darf doh am Sonntag ins Theater?“ 

„Schon wieder! Du warft dod erft vorige 
Mode.” 

„Dttie und Burgel —“ 


SE EES SC Zwei Freunde sees 331 


„Romm dod nicht immer mit denen! 
Du fiehft ja, wobin's geführt bat. — Was 
wird denn überhaupt gegeben ?” 

,Garmen." 

„D Gott! Das ift ja überhaupt ganz uns 
paljenb für junge Mädchen. Das fann|t du 
bir anjehn, wenn du verheiratet bift.“ 

„Das babe id) überhaupt [bon gejebn, 
mit bir fogar. Damals fagteft du, wenn 
Mufit dabei wäre, fet überhaupt nidts un: 
pajjend.” 

„Aljo du gebft nicht. Und damit bafta.” 

War dies ganze Leben nicht widerfinnig ? 
date Annie. Man wohnte in einem prád): 
tigen Haus, hielt Pferde und Wagen, vier 
Dienftboten — und bann war ein Theater: 
billett zu teuer. Aber ins Theater ging fie 
dod. Gie hatte jid) mit Lifa und Olga 
Blaß verabredet. Und wenn fie bas Billett 
felbjt bezahlen mußte. 

Sie brauchte nur ein paar Zeichnungen 
oder Stiche, bie in Truben und Schränfen 
verjtaubten und um die fih fein Menſch be: 
fiimmerte, zu verlaufen, dann fonnte fie 
die Ronditorrednung bezahlen und [id) ein 
Theaterbillett taufen. Wud) Rudi hatte mand): 
mal alte Schulbücher oder Romane feiner 
Mutter verfauft, wenn fein Tajchengeld zu 
Ende war. Die Jungen Hatten das „vers 
timmeln” genannt. 

Gewobnt, ihre Entſchlüſſe rajh aussi: 
führen, fragte fie, ob fie Lija ein bißchen be: 
juchen dürfte. Ihre Mutter gab die Erlaub: 
nis. Auf dem Wege zu ihrem Zimmer trat 
Annie in bas Mufilzimmer, wo ihr Bater 
einen Teil feiner Rupferjtidjammlung vers 
mabrte. Nachdem fie mit einiger Mühe bie 
oberfte Schublade bes Dollánbijd)en Schranfes 
geöffnet hatte, hielt fie plößlich inne, von 


einer dunflen Empfindung bes Unredts ere 


griffen. Sie errótete. Eine Hand tajtete an 
ihr Herz. Ein Schatten glitt vorüber — 
Hans ... Aber wenn [ie jet etwas Gdjled): 
tes tat, wer hatte dann Schuld? Gie oder 
ihre Eltern? Und ftárter als Sham und 
Furht war das leije Frohloden eines be: 
friedigten Rachegefiibls. 

Ohne zu Juchen, ergriff fie bie drei ober: 
ften Blatter. Zujammengerollt und in einer 
anftändigen Papierumhüllung fonnten fie für 
Stotenblátter gelten. 

Cie wollte ein unjdjeinbares Mützchen out, 
ftiilpen, um möglichſt wenig aufzufallen, bes 
badjte bann aber, daß fie gerade recht grop- 
artig auftreten müßte, und wählte einen 
breitrandigen pelzbejegten Felbelhut und ihre 
Cfunfsgarnitur. Go begab fie fid) zu dem 
Antiquitätengejchäft Meufingers. 

Als die Ladentiir fid) mit geddmpftem 
Trillern öffnete, lab fie aus ber halbduntlen 


Ede zwei grünliche Augen jchillern. Eine 
Meine Geftalt erhob fid) rajd und fragte 
Dienernd nad) ihren Wünjchen. Gleichzeitig 
flammte Licht auf. Sobald es hell gewors 
ben war, erkannte Klaus bie Eingetretene. 
Bor ihrer Penfionszeit war er Annie einige 
Male begegnet, und fie Hatte für [einen 
tiefen Gruß mit dem kurzen Niden gedantt, 
mit dem eine junge Dame den Bruß eines 
Ladenlehrlings erwidert. 

„SH babe ba ein paar engli[dje Gtiche, 
die ich verfaufen möchte,” fagte fie, ihren 
Worten unwillfürlich ben breiten englijden 
Akzent gebend. 

Er öffnete bie Papierhiille und betrad. 
tete ftumm die Blätter. Wenn [te echt waren, 
bejaßen fie hohen Wert. Auf weilen Beran: 
lajjung fam Annie? Hatte ihr Vater fie ges 
ſchickt? 

„Was wollen Sie bezahlen?” 

"Es iit bei uns Ujus, daß der Verkäufer 
ein Angebot madjt" antwortete er aus: 
weidjend. „Wie viel verlangen Sie?” 

„Bott, id) babe feine Ahnung.“ 

Aljo verfaufte [ie bte Stiche ohne Wilfen 
ihres Baters. „Da mein Pringipal nicht 
zu Haus ift, tónnte id) Ihnen einftweilen 
nur eine Anzahlung geben.” 

„But. Wie viel?” 

Summen flogen ihm burd den Kopf, 
große und fleine. Es war immerhin mige 
lid), daß fie die Stiche in England gefauft 
hatte, und dann waren es vermutlich Res 
produftionen. Aber dann würde fie aud) 
den Preis willen. 

Er beobachtete Annie, bie auf einem Stuhl 
Blak genommen hatte und, den Ellbogen 
auf bie Kehne geftiigt, bie andere Hand in 
ihrem großen Wluff ruben Iajjenb, gleidh 
mütig und aufmerffam die in einem Glass 
ſchrank aufgejtellten Porgellane betrachtete. 
Mie eine edle Stulptur erhob fid ihr 
leicht bejchattetes bleiches Profil über dem 
dunklen Cfunts. Was für ein [Hónes Mäd« 
den! Die [Mónfte und elegantefte der gan: 
zen Stadt. Und — hatte vielleicht gejtob: 
let... Taumel ergriff thn. „Die Stiche 
maden einen guten Ginbrud, Aber die Fäl: 
Ihungen find heutzutage fo raffiniert, dab 
id) fie erft genau unterjuchen müßte.“ 

„Die Stiche find echt. Darauf können Gie 
lich verlajjen.” 

„So ...? Willen Sie bas genau?” 

Er zögerte, als tónnte er ijr eine bloß» 
ftelende Antwort herausloden. Aber fie 
Ihwieg mit Dodymiütig ungeduldiger Miene. 

Schließlich nannte er eine Heine Summe, 
die er als Anzahlung vorihlug Es war 
weniger, als Annie erwartet hatte, aber das 
Geld genügte für ihre augenblidlichen Bes 


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332 seess SE Wilhelm Hegeler: B2323323%332332333322 


diirfniffe. Überdies fand fie die Situation 
immer peinlicher. 

„Ich dente, Herr Meufinger wird natiir: 
lih erheblich mehr bezahlen,“ fügte er hinzu. 
„Berzeihen Sie einen Augenblid!“ 

Er ging in bie Werfitatt zu Búger bin: 
über und bat diejen, ihm die erforderliche 
Summe bis morgen zu leihen. Böger holte 
bas Geld aus feinem Bruftbeutel hervor, 
das Annie, ohne nachzuzählen, rajh in ihren 
Muff dob. Sie wollte [Hon gehn, als Klaus 
gejchmeidig, mit taum mertlidjer Schaden» 
freude fagte: „Darf id) Cie mod) bitten, 
gnädiges Fräulein, mir zu bejcheinigen, daß 
die Stiche Ihr Eigentum find. Das wird 
bet uns jo gehandhabt. Es ift natürlich nur 
eine Formſache.“ 

Sie [hien unangenehm berührt, erwiderte 
nad) furgem Zögern aber fühl: „Natürlich!“ 
und ftreifte ihren Sanb[d)ub herunter. Wäh— 
rend fie nach feinem Diktat die Erklärung 
nieber|d)rieb, fam ein wenig Tinte an ihren 
Singer, bie er, in übertriebenen Ausdrüden 
wegen des unfauberen Halters fid) entſchul⸗ 
bigenb, mit einem Ctüddjen Löſchblatt ab: 
tupfte. Dabei rette er einen flüchtigen 
Augenblid die fühle Snnenfládje ihrer Hand. 

Als er dann das Blatt las, färbte fein 
eben erblaßtes Geficht fih, und er neigte bie 
Stirn tiefer. Annie dachte [hon ärgerlich, 
jie hatte orthographijdhe Fehler gemadjt. Da 
bob er den Kopf, thre Augen begegneten 
fih ... unter der Flut böjer Empfindungen, 
bie in ihm aufichoß, war aud ein wenig 
Mitleid. Und vielleicht war es bieles, wel: 
des ibn veranlaßte, das Papier rajh in 
Heine Stüde zu zerreißen. 

Annie ließ hHodmiitig ihre Augen an ihm 
binuntergleiten, aber burd) die eistühle Helle 
ihres Blides fidterte bod) ein wenig Ber: 
wirrung und Furcht. 

„Was machen Sie?” 

„Dan fónnte Ihre Schrift erfennen unb 
fehen, daß Ihre Unterjchrift gefälfcht ijt. — 
Sd) habe nämlich die Ehre, Sie zu tennen, 
gnädiges Fräulein. Gie werden fid) meiner 
nicht mehr erinnern?” 

"3d wüßte nicht — 

„Wie follten Sie aud)? Ich war damals 
nod) ein kleiner Junge, und aud) Gie waren 
ein Rind. Klaus Ebenjtod — 

„Der find Cie?" 

Und im 9[ugenblid fiel ihr wieder der 
Sunge ein, ber auf den Händen berun:: 
ipaziert war unb feine Unterhojen angehabt 
hatte, der fid) |o vordrángte und den fie 
immer fo gebánjelt hatten. An feinen blaps 
grünen Augen erfonnte fie ihn wieder. 
Uber fonft hatte er fid) jehr herausqemadt. 


Der ſcharf umrijfene Mund, die gejdwun: . 


gene Wangenlinie mit bem [pig vorfpringen» 
den Kinn gaben feinem Geficht einen ener: 
gilh fübnen Zug. Und [ie erinnerte fih 
jebt auch, bap ihre Eltern oder Hans davon 
gefproden hatten, er fei bet Meufinger un» 
tergebradjt. Mein Gott, wenn Hans durd 
ihn von diejem Handel erfuhr! 

„Ja, ber bin ih. Darf id) fragen, gna: 
diges Fraulein, wie es Ihnen in diejer lan» 
gen Zeit ergangen ift? \Gie waren bas 
legte Jahr in England?” ~ 

„sn Brighton. Ja.” 

Ihre Ungeduld, ben Saber au verlajjen, 
wurde immer brángenber. 

„Ihren Herrn Bruder habe ich nod einige 
Male getroffen. Er ftudiert augenblidlid. 
Nicht wahr?“ 

Was fiel diejem Kommis eigentlich |ein? 
Wollte er etwa die Belanntichaft ernenern? 
Dow immerhin gab fie ibm turze, ver 
Antwort. 

„sch werde ja das Blüd, daß ich in Ihrem 
Haufe verfehren durfte, nie vergefjen,” fuhr 
er fort. „Es ift nicht nur eine ſchöne Er: 
innerung. Es ijt auch eine ſchmerzliche —“ 

Annie hatte ſchon ihren Muff ergriffen. 
Aber irgend etwas in feiner Stimme ließ fie 
aufhorden. Und er jprad) aufgeregt weiter: 
„Wenn man einmal dort — in dem Kreije, 
in dem Gie leben, jein durfte, bann wird 
man bie Sehnſucht banad) nicht wieder los. 
Dann bat man ein Ziel. — Und wenn’s 
einem auch jchlecht geht, wenn man auf alles 
verzichten muß, was im Leben lodt — man 
tft gewiß oft ungliidlid — aber man ift es 
mit dem Willen, das Glüd dennod eines 
Tages zu erzwingen. — —  QGlüngenbere 
Stunden werden folgen! Ift das nicht ein 
englijhes Sprihwort? Menigítens jab ich 
es mal auf englijd) in einen Ring eingeribt. 
IH babe es zu meinem Wahljpruch gemadt. 
3d) babe die fejte Überzeung, weil ich den 
feften Willen habe, dak id) mich in bie Höhe 
arbeite, Und Diejen Willen, den verdante 
id) dem Umgang in Ihrem Haus. Daran 
werde ich mich immer erinnern.“ 

Warum entfuhr ibm das nur alles? Mit 
folder Haft, mit folder Aufdringlichkeit ? 
alt wie eine auswendig gelernte Rede. 

Ihr fam der Herzenserguß biefes Kommis 
ein bißchen fomijd) vor. Doch immerhin lag 
aud) etwas Schmeidhelhaftes darin, fogar 
etwas Riihrendes. Gie wollte ihm antwor: 
ten, eine zugleich freundliche und jehr mon: 
Dane Antwort, eine Antwort ganz im Stil 
der großen Dame. Da ihr aber nicht gleich 
etwas einfiel, jab fie ihn nur einige Gefun: 
ten lang mit leicht geöffneten Lippen, groß 
und regungslos an, ganz ‚ein aus Dem 
Rahmen geitiegenes Porträt von (ains: 





EE 


borough’. Dann jagte fie: „Aber Sie fons 
nen bod) zufrieden fein. Sch dente mir 
Shren Beruf febr interejjant.“ 

„WBenigftens ijt man nit von häßlichen 
Dingen umgeben. — Und daß er aud) feine 
glüdlichen Augenblide hat, beweijt ja bieler," 
fuhr er, fic) ungejdidt verbeugend, fort. 
„Sch wäre ftolz, wenn id) Ihnen in Zufunft 
mit irgend etwas dienen lónnte.” 

„Wenn bas ber Fall ift, werde id) gern 
Gebraud davon madden.” 

„Darf id) fragen, wann Gie wiedertom: 
men? Mielleicht ziehen Sie es vor, den Ber: 
fanf der Stiche mit mir abzujchließen. Wenn 
Cie morgen nachmittag um dieje Zeit —" 

„Schön. Sch mill jehen, ob ich Zeit habe. 
Morgen oder übermorgen.“ 

‚Warum mußte ich auch gerade biejen Men 
[den treffen?‘ dachte Annie, als fie draußen 
war. ‚Wenn er nur nicht alles weiterer» 
zählt! Ladenjiinglinge find immer fo ents 
leblid) ſchwatzhaft. 

Sie ging eilig in die Konditorei und bes 
zahlte ihre Rechnung. Es blieb ihr Geld 
genug übrig, um ein Theaterbillett zu faufen. 
Aber die Luft war ihr vergangen. Was fie 
getan hatte, befam ein immer jchwereres 
Bewidht. Ihre aufgeregte Phantalie quälte 
fie mit abenteuerlichen Vorftelungen. Wenn 
ihr Bater ploblid) die Stiche ſuchte ... fie 
wurden nicht gefunden, der Verdacht fiel 
auf bie Dienftboten, Unjduldige mußten für 
fie leiden... Oder Ebenftod ſchwätzte alles 
berum, Gerüchte liefen über fie durch bie 
Stadt, Hans erfuhr davon, forderte einen 
ber Schwätzer, duellierte fid) für ihre Uns 
[djulb, und fie, bie Schuldige ... 

Wenn fie jebt einem Bettler begegnet 
wäre, hätte fie ihm den Reft bes Geldes ges 
ſchenlt. Im Schaufeniter eines Blumenladens 
gewahrte fie Rofen. Sie wollte [djon eins 
treten, um ihrem Bater einen Strauß zu 
taufen, bebadjte aber, daß dieſe „Verſchwen— 
dung“ nur eine neue Szene mit ihrer Mut» 
ter hervorrufen würde. 

Bu Haus fand [te ihren Bater matt und 
gequält auf feinem Sofa liegen. 

„SH Hatte vorhin — 5 Uhr 90 — wies 
ber einen Anfall. Ad), es ijt [fon infam. 
Entweder man bat Schmerzen oder man 
lauert darauf. — Rannft mir die Zeitung 
vorlejen.“ 

Annie begann mit monotoner Stimme zu 
lejen: „Aus bem Wetterwintel des Baltan.” 

B8 88 

Klaus nahm die Ctidje zu Biger þin: 
über und die beiden unterjuchten fie auf ihre 
Echtheit, forjd)ten mit der Lupe nad) vers 
büdjtigen Wajlerzeichen, befeuchteten das 
Papier, um gu jehen, ob es túnftlid gebräunt 


Zwei Freunde see) 333 


fet. Aber nichts, was auf eine Nachbildung 
Ichließen ließ, war zu entdeden. aus war 
ohnehin von ihrer Echtheit überzeugt. Die 
Ctide entftammten der Sammlung des 
SBrofejjors, und [eine Tochter hatte fie geftob» 
len. Es lag etwas beraujdjenb Aufregendes 
in diejer Borftelung, bie er durMtoften und 
immer wieder durchloften, beren Iebtes Bójes 
er ausjchlürfen mußte mit übertreibender 
Gier. Er badjte an das palaftartige Haus 
mit feinen weitläufigen Gejelljdaftsraumen, 
feinen Kunſtſchätzen und Wltertümern, mit 
all dem Luxus, der thm damals als das 
Höchfte erichienen war, was ein Menjch in 
phantaftijden Träumen fid) wünſchen tann, 
— und in diefem Haufe ging eine Diebin 
umber, und es war die eigene Tochter des 
Haufes ... Er — er hatte gebungert und 
hatte ber Berjuchung widerjtanden, jid) auch 
nur ein Stüd Brot anzueignen. Hundert: 
mal hätte er bei ben Berfäufen einen Profit 
für feine eigene Taſche machen Tonnen, 
Meufinger hätte nie etwas gemertt, Aber 
er batte lieber auf alle Bergniigungen ver: 
zichtet und wie ein Hund gelebt. Gie aber 
— ohne viel Bedenten wabhrideinlid, nur 
um eine Laune zu befriedigen, hatte fie dies 
Verbrechen begangen! 

Ihm war zumute, als wenn fid) plöglich eine 
Kluft geſchloſſen hatte, die ihn von bieler mit 
Ehrfurdht, Neid und Sehnjudt angeftaunten 
Ralte trennte, als wäre Annie zu ihm hinun: 
tergeftiegen und ihm irgendwie verbunden. 

Er ging mit fid) zurate, was mit den 
Stichen zu geldjeben hatte. Solte er fie fei- 
nem Brotherrn überlajfen ober für eigene 
Rechnung faufen, um fie bei günftiger Ge- 
legenheit mit Gewinn wieder zu verlaufen? 

Mit gequálter Miene jchritt er auf und 
ab, bald ftehen bleibend und finfter vor fid) 
binftarrend, bald höhniſch auflahend — im 
3wiejpalt mit fih jeibit. 

Er dadte an ben Schwur, den er getan 
hatte, fih niemals and) nur die fleinjte Uns 
reblidjfeit gujdulden fommen zu  laffen. 
Er wollte nidjt bas Schidjal feines Vaters 
teilen! ... Aber mit der Zeit war ihm aus 
feinem Miderftand gegen alle Berjuchungen 
etwas wie Stolz erwachſen, und ein Glaube 
an feine Sufunjt, eine Art von [tillem Patt 
mit dem Schidial: daß, wenn er bé Start 
und malellos hielt, bie Borjehung oder was 
immer es fein mochte, verpflichtet jei, fein 
gabes Ringen mit Erfolg zu trónen. 

Debt jedoch jagte er fih, daß es ein fiber: 
maß von moralijder Bewiljenhaftigfeit gäbe, 
welches einjad) Donquixoterie bedeutete, Er 
war ein Narr, wenn er diefe Gelegenheit 
nicht ergriff! Er verjcherzte vielleicht für 
immer feine Zufunft. 


384 PSSS: Wilhelm Hegeler: Bz22323332322333333 


Und dann — trog Meufingers Beifpiel 
und feinen eigenen Reden über die Verwor: 
fenbeit ber Gelelljdjajt war er bisher bod) 
immer bes Glaubens gewefen, dak zu einem 
Leben in Moblftand und WAnjchen auch die 
perjonlide Lauterteit gehörte, daß man fih 
mit einem irgendwie erfennbaren Matel bes 
baftete, wenn man fih Unredlidfeiten zu» 
Ihulden tommen ließ. Nun aber — hatte 
er nicht foeben die [Hónften, eleganteften, 
weißen Hände gejehen, und es waren Die 
einer Diebin und Fälfcherin! 

Borwärts! Vorwärts!‘ dadte er. ‚Was 
bin id) für ein jchwerfälliger und ftrupel: 
belafteter Menſch! Und für wen alle diefe 
Bedenken? Für ben Beldjad bieles Schwind- 
lers unb Blutjaugers Meufinger.' 

Aber trogdem fonnte er eine feindjelige, 


ihn quálende Gewalt in feinem Innern niht - 


unterdrüden. Dies dumpfe, aufgeregte Un: 
behagen war etwas durdaus Stummes, das 
über feinerlei Dialeftif verfügte, eine vernunft« 
widrige Angft vielmehr, etwas Rächerliches 
unb Rindijdes. Aber es ließ ibm teine Rube, 
Und auf feiner Lagerftátte, unter ber er die 
Stidye verborgen hatte, verbrachte er eine 
febr ſchlechte Naht. Erft als er zu dem 
Entihluß fam, einen Teil bes Erlöfes zur 
Unterjtüßung feines Baters zu verwenden, 
fand er ein wenig Schlaf. 

Um náditen Morgen begab er fid) zu 
Frau Botelmann und borgte von ihr, was 
er zur Bezahlung der Stiche nötig zu haben 
glaubte, mit der Begründung, daß er Dem: 
nádjit feinen Bater bejuchen wollte. 

Nachmittags wartete er auf Annie. Aber 
fie fam weder an diejem, nod) am nadjten 
Nachmittag, nod) bie ganze Mode übers 
haupt. Monate vergingen. Klaus verſchob 
jeine Reife von einer Woche zur anderen. 
Es war unfinnig, nod auf Annie zu wars 
ten. Entweder hatte fic den ganzen Handel 
vergejjen, oder es war ihr peinlich, ihren 
Bejud) zu wiederholen. Trokdem bángte 
lich bie Ginbilbung an ihn, fie würde gerade 
tommen, wenn er weg war. CEndlid) — es 
war mittlerweile Sommer geworden — führte 
er feinen Entſchluß aus. 

In Köln verfaufte er die Stiche an einen 
Runjthandler. Der Gewinn bedeutete für 
ibn ein fleines Kapital, Bon dort fuhr er 
nad dem Marftfleden, in deffen Nähe das 
Zudthaus lag. Der mehrere Innenhöfe ums 
ſchließende Gebdudefomplex ftach mit feis 
nem neuen roten Ziegeldach grell gegen den 
blauen Gommerbimmel ab, Bor feiner 
Front lag, von ber mit Objtbäumen bejtan» 
denen Chauſſee getrennt, ein weites Erbjen: 
feld, in deffen grünem Gtrauchwerk einige 
Gefangene unter Aufjiht eines Beamten 


mit Piliiden bejchäftigt waren. Rlaus, ber 
fid) vorher angemeldet hatte, wurde von 
dem Beamten in einen mit vergitterten 
yenftern verjehenen Raum geführt, an 
deffen weiß getiindten Wänden einige Bibel- 
jpriide und Abbildungen hingen, welde 
bie |djiblidjen Folgen bes Altoholgenujjes 
verfinnbildlidten. Mad einiger Zeit fam 
ber Beamte wieder und führte einen alten, 
gebiidten Mann herein, in braunen Gtráfs 
[ingstleibern, mit bartlojem, badjteinfarbe« 
nem Gefidt und furgem, ſchlohweißem Haar, 
ber langjam den Kopf hob und Iden gegen 
das Licht zu blinzeln jchien. 

Klaus warf einen fragenden Blid auf: 
den Beamten, fagte: „Guten Tag, Bater!” 
und legte feine Hand in bie grobe, [djmere 
diejes fremden Mannes. 

„Willſt bu bid) nicht leben ?" fragte er 
dann und zog einen Stuhl unter dem Tilh 
hervor. 

„Na, ich dente, id) tann euch allein lafe 
jen,“ fagte ber Beamte. „So nad) einer 
Stunde fomme ich wieder.“ 

Damit ging er, und Klaus hörte, wie er 
die Tür Hinter fid) abjdjlop. Als fie allein 
waren, ging er auf feinen Bater zu und 
Hopfte ihm zaghaft auf bie Schulter. 

„Mein lieber Bater. — Nun but du bald 
wieder ein freier Dann. Wie lange ijt 
das her, dak wir uns nicht gejehen haben!” 

„Ja. — Gebr lange.” 

Und Klaus empfand Jchwer und duntel 
den Vorwurf, der in diefen Worten lag. 
Ein einziges Mal batte er nad) feines Baters 
Verurteilung dieſen bejudt. Geitdem nicht 
wieder. Warum war er nicht [hon früher 
getommen? Er hätte es móglidj machen 
tónnen, wenn er nur gewollt hätte. 

Mit ungemijem Blid aus den eingejuns 
tenen Augen fah Ebenjtod feinen Sohn an. 

„Ih tann dich gar nicht erfennen. Meine 
Augen find recht jchledyt geworden, — Wie 
groß du geworden bift.” 

‚Und wie Hein du geworden bijt!‘ dachte 
Klaus. Das war das Befremdendfte unb 
Erſchütterndſte: er hatte feinen Vater als 
einen aujfredjten, majfigen Mann in Erin 
nerung, und vor ihm ftand diefe einge» 
idrumpfte, gebeugte und gleichjam in Die 
Erde gewadjene Geftalt. 

Er nótigte ihn wieder zum GCiben, und 
während Ebenftod mit feiner plumpen und 
dod jo nervöjen Hand über bie Tijchplatte 
wijdte und fingerte, als wenn er etwas aer» 
triimelte, begann Klaus von fih zu erzählen, 
von feiner erften Stellung und feiner jebiger, 
daß bie Lehrzeit bald vorüber jet unb er 
hoffe, Gehalt zu befommen. Und daß es 
ibm im ganzen gar nicht jchlecht gegangen 


EE TEE 


fei. Und bann jprad) er mit ftodenden 
Worten von ber ſchweren Zeit, bie ber Vater 
durchgemacht habe und daß jebt Hoffentlich 
bejjere Tage fümen. 

Der fremde alte Mann, in deffen Gefidts: 
zügen die Augen des Sohnes unruhig ford): 
ten, hörte, in fih verjunfen, zu, ohne etwas 
zu erwidern. Da feine Antwort fam, be: 
gann Klaus wiederum von fid) zu fpreden. 
Und wußte endlich nicht mehr, was er fagen 
folte. Es entftanden Moulen, Er blidte 
auf die runde Uhr an der Wand. Wie auf: 
regend das langiame Tiden Hang! Wie 
endlos fich eine Stunde debnte, wenn man 
fic nidts zu [agen Hatte! Und [djlieplItd) 
[dob er feinem Bater die Kifte Zigarren 
bin und holte aus feiner Brieftafche einige 
gujammengefaltete Scheine. 

„Da. Das habe id) bir mitgebracht.“ 

„Dante,“ fagte Ebenftod, deffen Hände 
mit fcheuer Haft von ber Tijchplatte ver: 
Ihwunden waren. 

„Zigarren, Water. 
wig noch gern." 

„Nein!“ — Er foiittelte erichroden den 
Kopf. Und fügte Iden Hinzu: „Seitdem 
nit mehr. — Nur manchmal ‘im Traum. 
Aber dann |pringe id) auf und jchreie Feuer. 
— 3h will bie Rijte dem Herrn Aufjeher 
ichenten. Er hat mir erlaubt, daß id) cine 
Topfroje in der Zelle habe.” 

„Dann nimm. die paar Mart, Bater. 
Sd) ... babe fie mir nebenbei verdient.“ 

„Sch brauch’s nicht. 3d) hab’ mir jelbit 
ein bißchen gefpart. Du brongt das Geld 
nötiger als id.“ Und Klaus fah plóslid;, 
wie auf den harten, rijligen Wangen Tränen 
hingen, gerade als wenn bie borfige Rinde 
eines Baumes Sarztropfen ausjchwibte, 
Und während der Alte die Hand des Sohnes 
driidte und ftreichelte, fagte er: „Daß du 
doch nod gefommen bift! Ich dadte, du 
wollteft nichts mehr wiſſen von deinem Vater 
im Zuchthaus.“ 

„Wie fonnte[t du das nur denten! Ich 
wollte doch immer tommen. Aber es ging 
immer nicht.“ 

„Und ich Bab's ja auch nicht um bid) vers 
dient. Sch hatte auch an dich denten miüjjen, 
nicht nur an die Mutter.“ Wieder fingerten 
die Hände nervös auf ber Tilchplatte. „Aber 
bas war bas Schwerite in ber erften Zeit. 
Rein Menſch, ber einem ein gutes Mort 
jagte. Wenn damals Hans Bofelmann mir 
nicht gejchrieben hätte —! Wie gebt's thm?” 

„But. Er ftudiert jebt.” 

„Seid ihr nod) immer fo gute Freunde?” 

„Immer nod.” 

„Das ift redjt Halt’ ihn nur feft und 
bleib aud) bu thm treu. — Ja — ein guter 


Du raucht dod ge: 


Zwei Freunde seess 335 


Freund ift beffer als ein Bruder. Damals, 
als Agnes frant war und ich [o in Not 
ftedte, habe ich an Ontel Frig gejchrieben. 
Er jollte fommen und mir helfen. Einen 
Brief, daß jid) ein Hund hatte erbarmen 
müfjen. Aber er [djrieb mir wieder: ‚Ich 
habe Dir ja immer gejagt, Du follteft Agnes 
nicht Heiraten, nun fiebft Ouer Und fam 
nicht. — Da dacht' ich, mit dem Brief [ted]t 
bi's Haus an, dann muß es bod) brennen." 
Geine Gtimme hatte ein wenig erregter 
gelungen, die müden Augen hatte ein zorni» 
ger Schein erleuchtet. Nun machte er eine 
unbejtimmte Bewegung. „Ach — wer tann 
den andern ins Herz guden! Mielleicht bat 
er’s in jeiner Art gut gemeint. Und id) bin 
der legte, der über andere urteilen darf.“ 
Er verfiel wieder in Schweigen; man hätte 
denten fónnen, er träume in halber Gedan: 
tenlofigteit vor fih hin, wenn nicht dies un: 
ruhige Rriimmen und Winden jeiner Finger 
gewejen wäre. Endlich erhob er den Kopf 
und fagte, die Worte jchwer vor fid) ber 
Ichiebend: „Erzähl! mir — was du nod) 
von der Mutter gehört haft.” 

„Sch [drieb ja, id) wollte fie bejuchen, 
aber es ging beim beiten Willen nit. Ich 
fonnte nicht fort.” 

„Wie ijt fie denn geftorben? Gie Dat 
wohl einen jebr ſchweren Tod gehabt?” 

„Nein, die Schwefter jchrieb, daß fte ganz 
janft eingejchlafen tjt." 

„Das |dreiben fie immer. — Einen leich: 
ten Tod! Und Hört, daß ihr Mann ein 
Brandftifter ift.” 

„Sie Dote ja gar nicht mehr erfahren.“ 

„zu ihrem Begräbnis warft du nicht?“ 

„Nein. Es ging wirklich nicht.“ 

„Und fpáter. Haft bu ihr Grab gejehn? 
SBeiBt bu, ob es auch gut gepflegt ift?” 

„3% konnte bie weite Reife noch nicht 
machen. Aber jet, wenn id) etwas freier 
bin, will ih ihr Grab bejuchen. — Wir 
fahren gujammen, Bater.” 

„Ich nicht. Ich bleibe hier. — Und wenn 
meine Zeit herum ift, dann bejorgt mir der 
Herr Oberinfpeftor eine Stellung als Lands 
arbeiter auf einem Gut bier in der Mabe. 
Da bin idj unter Auffiht unb habe Ruhe 
vor ben Leuten.“ 

„Kannft bu nicht was Belleres finden, 
Bater? Landarbeiter — bift du dafür nicht 
gu ſchade?“ 

„Nein, nein, die Herren meinen es jehr 
gut mit mir. ch hab’ niht gelernt, wie 
man das Leben richtig angreifen muß. Und 
lern’s aud) nicht mehr. Wils gar nicht 
lernen. — Du forgft am beiten allein für 
bid. Sch wäre bir nur eine Laft, Und 
deine arme Mutter ijf tot. — — Du glaubit, 


838 ESSSSesesesessessese] Wilhelm Hegeler: BS222222232223229 


fte bat nicht erfahren, was id Schlechtes 
getan habe?“ 

„Sicher nicht.“ 

„Sch babe ja meine [chwere Strafe dafür 
befommen. Die Herren [agen es alle, aud) 
der Herr Pfarrer, die Strafe wäre [febr 
Ihwer. Aber bas Schwerfte war, daß deine 
gute Mutter ftarb, und ich nicht bei ihr fein 
fonnte, — Ja, bejuche ibr Grab. Und laß 
es gut pflegen. Laß ein paar Federnelken 
drauf pflanzen. Die hatte fie fo gern. Gie 
find nicht teuer. — Ich hätte nod) eine Bitte,“ 

nya, Bater 2“ 

„Wer bier ftirbt, ber fommt in die Uni 
verjität. In bie medizinijchen Hörjäle. Die 
Herren Studenten maden ihre Experimente 
an feinem Körper. — Sd) möchte bei deiner 
Mutter begraben fein. Willſt bu dafür 
jorgen ?" 

„Ich veriprech’ dirs. Deber, Bater, fo 
weit find wir bod) nod nicht.“ 

nv wollte, es wäre erft [o weit. Segt, 
wo ich fiber bin, daß mir ber Wunſch ers 
füllt wird, will id) gern fterben. — Wer 
weiß — unmöglich ift es ja nicht, daß es 
wahr ijt, was der Pfarrer jagt. IH dente 
mandmal, es gibt jo viel Sterne, warum 
jollten bie alle leer fein? Warum Jollte es 
nicht einen geben, wo das Leben leichter 
it? — Und mens aud nidjt wahr ijt. 
Wenn id) nur ftill bei deiner Mutter liege, 
dann bin ich glüdlid) und zufrieden. Vers 
Iprichft du mirs?” 

„Ja, Bater, bu fann[t dich feft drauf vers 
laffen.” 

Des Alten Hand lag nun in bejänftigter 
Ruhe regungslos auf dem Tilh. Mad 
langem Schweigen fagte er: „Ich träume 
mandmal von deiner Mutter. Gie ijt bei 
meinem Bater in der Gärtnerei. Sd) tomme 
unb bringe ihr Blumen. Uber wenn i$ 
näher tomme, ijt fie verjhwunden, und ich 
febe nur noch die Blumen. Wud) auf dem 
gelb ift fie manchmal. Da draußen an ber 
Butsgrenze ftehen zwei Birken, die leuchten 
jo weiß. Und hinter der einen fehe id) fie. 
Immer will [ie mir was Jagen. Aber gerade, 
wenn ich dente, jebt wird fics fagen, ift fie 
meg. — Aber einmal werde id)s dod er: 
fahren, bier oder anderwärts.“ 

Er blidte auf, und aus dem harten Ges 
fidt mit ben wie verfteinerten Rungeln 
Ihimmerten die Augen gleich jehnjüchtigen 
Nidtern aus dunklen Tiefen, während er 
durch bas vergitterte Fenfter fah in die ab: 
grundtiefe Ferne bes Jommerlichen Himmels. 
Und es war ein feltjames Gefühl für Klaus, 
der ergriffen diefe [tille Sehnſucht feines 
Baters mitempfand und zugleich wie ein 
dumpfes Grollen unb Brodeln das duntle, 


irdijde Wünfchen in feiner eigenen gefpannten 
und unrubigen Bruft [pürte. 
B8 CH | e 

Hans fah im EBzimmer am offenen Fenfter, 
und fein Profil, unter bejjen gebräunter, 
junger Männlichkeit feine Mutter immer 
nod) die zarten Züge des Rnaben und dann 
aud) wieder die |o viel ernfteren feines per: 
ftorbenen Maters wiederertannte, bob fich 
von dem Blättergrün und der Bliitenbuntheit 
auf bem Fenjterbrett ab. Der fonnendurd: 
wärmte Wind hajdte dann unb wann ben 
Raud feiner Zigarette und trug ein Wölkchen 
zu feiner Diutter bin, bie am Eßtiſch ftand 
unb nad) alter Gewohnheit bas Frühſtücks- 
gefdirr in zwei chinefiihen Ladjdalen voll 
heißen und falten Wafjers abwujb$. Und 
obwohl der Rauh, fo ſchwach und verwebt 
er war, [ie ein wenig im Hals tigelte und 
ihr feineswegs wobltat, freute fie fic) bod) 
daran, da er von ihrem Sohn fam. Wie 
lange war es ber, daß fein Tabalsgerud 
oder jonjt ein Zeichen feines Dafeins dies 
Zimmer erfüllt hatte! Über ein Jahr hatte 
jie ihren Jungen nicht gejehen, zu bem bod) 
tagtäglich ihre Gebanten gingen, modte er 
jelbft jcheinbar fie auch manchmal vergeffen 
haben. Aus feinen Briefen, die nicht häufig, 
aber immer lebendig und aufridtig waren, 
bald voller ÜUberſchwang und mit ausführ: 
lihen Erzählungen gefüllt, bald von viels 
fagender Kürze, batte fie ein teilnehmendes 
Willen von feinem Leben gehabt. Manches 
batte er gejchrieben, was er vielleicht miind= 
lid) nicht ausgelprodjen hätte, und dennod 
batte eben bie ?Befrüjtigung feiner Gegen: 
wart gefehlt, bie ihre Gorge be[d)widjtigt, 
ihre Hoffnungen vergewijjert hätte, unb fie 
batte unter der langen Trennung mehr ges 
litten, als fie ihm eingejtanden. Nun mar 
er wieder da, fie war feiner teilbaftig und 
wußte, daß er berje[be geblieben war, als 
der er fortgegangen, trog mancher Torheiten 
und Jugendftreife und eines erichredenden 
Mangels an Ordnungsfinn in bezug auf 
jeine Geldwirtjchaft, dDerentwegen der Bors 
mund [Hon verjdiedene Male bie Bitte an 
fie gerichtet batte, ihn ernftlid) gu ermahnen. 
Cie hatte es getan, jedod) auf ihre gutmütig 
mütterliche Art, bie in gelegentlidjem Leicht« 
jinn nod) fein Verbrechen jah, und nun freute 
fie fih, daß fie thm ihr Vertrauen bewahrt 
hatte. Hans jab ben jchönen, faft männlich 
ausdrudsvollen Händen feiner Mutter zu, 
bie nun fon ein wenig zittrig, dennoch mit 
ſolcher Behutjamleit bas feine, durchſcheinende 
Porzellan berührten, und fagte: „Die lieben 
alten Tajjen! Die find bod) Her fo alt 
wie Du.” 

„Wenn nicht noch älter! Die waren {don 





Bildnis 
Gemälde von Alexander Makowsky 


Ee BZwei Freunde ses 337 


in meinem elterliden Haus im Gebraud. 
Meine Mutter hat fie auch immer felbft ges 
malden. Darum haben fie fih fo gut ge: 
halten.“ 

„Sch erinnere mid) nod): als Heiner Bengel 
wollte id) nur aus diejen Tafjen trinten. — 
Gott, ja, woran hat man fid) feitdem alles 
gewöhnen miijjen!“ 

„Ich dente, das ift in mancher Beziehung 
aud) ganz gut.“ ` 

„Sch weiß nicht recht,“ erwiderte er, fid) 
erhebend, „fih an bas Mindere gewöhnen, 
mit dem Schlechteren vorliebnehmen — ob 
das gut ijt.“ 

„Aber fid) abzubárten und ih seges. 
wenn’s nicht anders geht — 


„Wenn’s nicht anders geht! Uber wie 


oft fdraubt man feine 9In|prüd)e herunter ` 


und wird genügfam — aus Bequemlichkeit.“ 

„Sp mein’ ich’s freilich nicht. — Du wirft 
erftaunt fein," fuhr Frau Botelmann nad 
einer Weile fort, „wie Klaus fid) entwickelt 
bat. Er ift ja faft zu ernft für fein Alter, 
aber was ift er für ein energijcher und ziel« 
bewußter Menich.“ 

„Wenn ich ein Schidfal gehabt hatte wie 
er, dann hätte ich auch ein Ziel. Er mit 
feinem Unglüd hat’s in mander Beziehung 
leichter als id) und mancher andere, bie fih 
ihr Biel erft ſuchen müſſen.“ 

„Blaubft du nicht, daß jeder Menſch fein 
Biel in fid) felbft bat?" 

9Bielleidjt. Nur ift ber Befig und das 
Willen um Ddiejen Befitz fehr zweierlei. — 
Syd fonnte mir denten, daß ich mein ganzes 
Leben fo Bin|djlenberte, ohne überhaupt je 
ein Ziel zu finden.” 

Er war vor ihr [teben geblieben, die Arme 
ausbreitend und fallen laffend, und diefe eine 
Bewegung rief wie eine bibldnelle Viſion 
die Erinnerung an ihren ver[torbenen Mann 
in ihr wad. 

„Bott bewahre,“ erwiderte fie erjchroden 
und legte die Taffe aus der zitternden Hand. 
„Das wäre ja jchredlih, du, — ein Bum: 
melant wirft du doch nicht werden.“ 

„Ah, bab’ nur feine Angſt!“ verfegte er 
einlenfenb. „Ich werde mich jchon zurecht: 
finden — ¡Hon bir zuliebe. Und ein bißchen 
Familienftolg babe ich fchließlih aud. Es 
fommen mir nur manchmal joldje Zweifel. 
Sch werde [hon nod) werden — fo... was 
man einen ganz pflichttreuen und gewilfens 
baften SDten|djen nennt." 

„Ja, pflichttreu —" wiederholte feine Mut: 
ter, dem leijen Beitlang von Hohn in feinen 
legten Worten überbórenb. „Wie oft bat 
dein Bater bas gelagt, wenn er übermüdet 
aus bem Minijterium fam: man muß fih 
tróften, daß man feine Pflicht erfüllt.“ 


Uber es war nicht biefe, es war eine ganz 
andere Erinnerung, bie fie mit erjchütternder 
Gewalt ergriffen und die hohe, aber wie 
bald [fon von ber Wühlarbeit der Krant. 
beit gebeugte Geftalt ihres Mannes vor ihr 
hatte erftehn Iajjen. Sie fah die Bewegung 
feiner Arme, diefe Gejte eines 3ufjammens 
bredenden, fein Ladeln voll herzzerreißender 
Traurigfeit, bas bie Maste eines gujammens 
gefaBten Ernftes von feinem Gefidt gewilcht 
batte, und hörte die Morte: „Ich mag nicht 
mehr und ich tann nicht mehr. 3d gebe 
faputt in diefer Tretmiible.” 

Und er war darin kaputt gegangen. 

Uber fie wollte fic) nicht erjchreden laffen 
von bieler Erinnerung, jest nad) [o langen 
Jahren, mitten im Morgenjonnenglang, 
mitten im Gliid des endlich beimgetebrten 
Sohnes. Gie drängte fie zurüd als Schwarz» 
feherei und übertriebene Gorge gleich ber, 
bie fie um feine Gejundheit gehabt hatte. 

Hans hatte feinen alten Pla wieder 
eingenommen und, zum Fenfter Hinaus. 
blidenb, fagte er: „Mutter, die Birnen müjjen 
bod) nun reif fein.“ 

„Freilich. Beim legten Gewitter find fie 
Ihon majjenbaft in Jtadjbars Garten ges 
fallen.” 

„I, bas wäre bod) des Teufels! Da werde 
ich gleich mal binauftlettern und fie holen. 
Kommft du mit?“ 

„Beh nur, ich tomme gleich nad.“ 

„Nein, ich helfe dir... Erinnerft du dich 
nod, wie oft ich bas als Kind getan?“ 

Er nahm eine Taffe und das Handtud). 
Seine Mutter fagte lächelnd: „Nimm nur 
den Henkel in acht!“ 

„Ja, Mutter, ja! Ad, wie oft haft du 
auch damals das gejagt. Aber habe ich je 
eine Taffe gerbroden? Ich bin bod) immer 
bü bid fein und bebutjam damit umgegangen.“ 

„Ja, das muß id) an dir loben.“ 

‚Und hab’ bod) [djon Jo mandes zerbrochen, 
vergeudet, verloren,‘ badjte er. 

Pfeifend, den Korb und den Pflüder, die 
er nod) an ihrem alten Pla gefunden, in 
der Hand, feine Mutter am Arm, [Hlenderte 
er dann in den Garten und begrüßte mit 
MWiederjehenslächeln feinen alten Freund, den 
Birnbaum. Nun brauchte er nicht erft bie 
Mauer zu erfteigen — ein Sprung, und er 
hatte bie Gabelung umflammert und fid 
binaufgefehwungen, und leicht, wie man einen 
oftmals begangenen Weg zurüdlegt, fletterte 
er von Aft zu Aft bis in feinen Lieblingsfiß. 
Aber die Hand, bie fid) fchon zum Pflüden 
ausftredte, fant hinunter, während er fid, 
leicht gewiegt, zurüdlehnte. 

Mie [dn war es bier in dem grünen 
Haus mit feinen blauen und goldenen 


338 ESSSSSSSSSSCSI Wilhelm Hegeler: B33233332323232232324 


Himmelsfenftern. Wie ruhig und aud wie 
töftlich belebt von Fliegenfummen und fernem 
MBogelruf! Wie leicht bie Luft und wie 
düftejhwer — und [djmerer nod an Er: 
innerungen! Dort jenjeits der Mauer bie 
Gärtnerei. Fremde Menſchen gingen dort 
umber mit Spaten und Giebfannen. Ge: 
ftorben bie feine, fchöne Frau, verdorben 
fein alter Syugenb[reunb. Was war aus 
ihren Hoffnungen und Plänen geworden! 
Leben heißt vom Traum fid) jcheiden ... 
wie war thm das nur angewebt, geftern 
ſchon, als er fid) nad) dem reich erfüllten 
Abend ins Bett legte, mit dem bod) fo töft- 
liden Wohlgefühl, wieder daheim zu fein 
unter feiner Mutter Sad). Es tónte melan« 
djolijd) gag auch heute wieder unter allem 
Gonnenglang und allem Heimtehrglüd. 

Und wie an einen von ihm Abgelóften 
und Fremden badjte er an ben bod) nicht 
mehr fleinen, Jondern [fon redt lang auf: 
geihoffenen Jungen, der hier auf einem 
andern, nod) gar nicht gewadjenen Baum 
fi gewiegt und mit verjchwenderijchen 
Händen Neichtümer ausgeftreut hatte, als 
wären feine Wünjche Wirklidfeiten. Wenn 
er etwas vom Leben gelernt hatte, fo war 
es Ehrfurht vor jenen einft [o leicht auss 
ge[prodjenen Worten, Ehrfurdht und... faft 
etwas wie Furcht. 

Mar es das? Mar feine bejchwingte 
Rraft fo [hnel zu träger Schwere ermattet? 

Er lag mit gejhlofjenen Augen und, vom 
Mind umlpült, fühlte er wieder die leicht 
fiebernde Ungeduld und Hoffnung und 
Angft... dies Spiel der lodenden und ¿ers 
rinnenden Bilder... die Dunkelheit und 
Reere zuleßt... die Dod) nicht nur immer 
ganz Dunkelheit und Leere gewejen war, 
wenn auh nichts ibm blieb, fein Pfand, feine 
Bejtátigung ... als nur dies geftaltlos Bof» 
fende Wünjchen. 

Während er jo lag und manchmal einen 
tiefen Augentrunt aus ber blauen Lichtflut 
über ibm tat, und durch feine Geele bie 
Träume glitten gleid) den Durchfidtigen, 
unendlich fernen Wolfenfloren dort oben, 
jah und fühlte er, wie der Baum fih ver: 
wandelte, wie er fahl wurde, wie die Säfte 
ftiegen im Ddurftigen Holz, die Knofpen 
Ihwollen, die Blüten auflprangen ... ber 
ganze frühlingsjunge Baum eine einzige, 
weißjtrahlende Bliitentrone — wie der Mind 
fle bann verwebte, und nichts, fo gut wie 
nidis blieb ... von Blättern verftedt, 
runglige Refte nur, und bennod)... 

Er wiegte fid) und ftredte die Arme aus 
und fpielte mit den Früchten, bie prangend 
in ſchweren Büſcheln an den Zweigen hingen, 
lächelte in dankbar begliidtem Zuverfichts» 


gefühl. Sonn Leben nicht auch heißen: feinen 
Traum erfüllen ? 

Er fletterte nod) ein wenig höher, bis in 
die höchſten dite. und fein Auge entbedte 
über ben Wipfeln ber S9tadjbargárten bie 
beiden leuchtenden Edeltannen im Dewerth= 
jhen Garten. 

Wo mochte fie in diefem Augenblid fein? 
Ob fie feine Nähe abnte? Sie — die er 
nie ganz hatte vergefjen können, ber er treu 
geblieben war, auch wenn er eine andere 
gelüBt batte. Ja, am treueften gerade dann, 
ob er wollte oder nit... Nie war fie ihm 
jo [din erjchienen, nie hatte bie Sehnjucht 
jo an ihm gezerrt wie nad) diejen Stunden, 
wenn er fid) batte verlieren wollen unb nie 
ganz hatte verlieren Tonnen, 

Als ber Zug rollte, und die Räder ftampften, 
hurtig polternd unb bod) nicht hurtig genug, 
da war fie ihm nab gewejen im blauen 
Dämmerlicht des nächtlichen Abteils, auf ben 
Bahnhöfen, in der drángenden Menge hatte 
er fie gelucht und zu finden geglaubt... 
war von ihr belejjen gewejen mit folder 
Sehnſucht des Herzens und fold)em Fieber des 
Bluts, als tónnte es nur einen Gang geben — 

Und nun... Warum webte es aud) jest 
leije und fühl und verzagt über fein heißes 
Herz? Wares Furdt vor einer Gnttáujdjung ? 
Schuldgefühl? Kindiiher Trog, weil fie fo 
lange nicht gejchrieben? War es bie Abnuna, 
daß teine Erfüllung die fójtfidje Worfreude, 
bas unvergleichliche Bild in feinem Innern 
erreichen fonnte? 

War es nicht bas Natürlichite, daß er 
gleich, nod) in diejer Stunde, Annie auf: 
juhte? Und bod) bejchloß er, bis zum Nad: 
mittag warten, Warum? Warum? Was 
war er für ein fonderbarer Menſch! 

Als er vom Baum binunterftieg und Dé 
zu feiner Mutter auf die Gartenbant febte, 
betrachtete diefe erftaunt feinen leeren Korb. 
Er antwortete nur, die Birnen hätten da 
jo wunderjhön gehangen, daß er fie bem 
alten Baum nicht hätte fortnehmen wollen. 
Es hätte ja noch bis morgen Zeit. 

Rum Mittageſſen war Klaus eingeladen. 
Hans hatte mit dem alten Freund ſchon 
telephoniert und konnte ſein Kommen kaum 
erwarten. Es lag in ſeiner Natur, daß er 
mit den Menſchen noch tiefer verwuchs, wenn 
er von ihnen getrennt war. 

Das Wiederſehen war herzlich. Auch 
Klaus freute ſich und äußerte ſein Gefühl 
durch ein heiteres, aufgeräumtes Weſen. 
Die Gewohnheit, abzuwarten, zu zweifeln 
und zu prüfen, dazu der Zwang, ſein Leben 
nach einem vielſeitig überlegten Plan ein— 
zurichten, hatte ſeinem Gebaren verſchloſſene 
Zurückhaltung und auf dieſem Untergrund 


SES Zwei Freunde BS2223233323233334 339 


fonventionelle Höflichkeit aufgeprägt. Aber 
jest gab er fic) fret und heiter. 

Die beiden hatten einander viel zu er: 
zählen. Bejonders Hans berichtete mit uns 
geftümer Lebhaftigleit von München, wo er 
die beiden erften, und von Benf, wo er das 
legte Gemejter verbradt hatte, und Frau 
Bofelmann freúte fid), dağ die Anwejenbeit 
des SFreundes fo manches zutage förderte, 
was diejer Trennungszeit noch mehr Inhalt 
und Leben gab. 

Da meldete bas Dienftmädchen, daß eine 
Dame im Haus warte. Sie möge nur in 
ben Garten tommen, erwiderte Frau Botel» 
mann. Und ba tam Annie bie Heine Garten: 
treppe hinunter. Und nichts fonnte hübfcher 
fein als das erjchrodene Erftaunen auf ihrem 
Gejidjt zuerft, als das freudige Aufleuchten 
dann, und wie fie ſchließlich beſchämt iiber: 
glühte. Klaus war aufgejprungen. Aber Hans 
vergaß jelbft bas, fonnte es wohl auch nicht 
vor beftigem Serzflopfen und  nieberge: 
zwungen von den jchweren, ftoBweife ans 
drängenden Strömen feines Bluts. Er fah 
fie nur an, die ein weißes, ein wenig aus: 
geichnittenes Kleid trug, im Gürtel einige 
Rofen und auf dem Haar einen breitjchutigen 
Strohhut mit einem jchmalen, herunter: 
hängenden Geidenband. Er jab fie an und 
laujchte der Stimme, die ihm jagte, fie ftehe 
ba wie bas Blüd, das gefommen jet, um 
feine Furcht vor Enttäujchung zu enttäufchen 
unb ibn ob feines Unglaubens zu bejchämen. 

Gie ging auf ihn zu und er ihr entgegen. 
Co reichten fie jid) bie Hände, 

nod) hörte [djon, daß du erwartet wiirdeft. 
Aber dak du heute [Hon támit —“ 

„Bejtern abend bin id) angetommen.” 

Sie begrüßte nun Frau Bolelmann. Klaus 
wartete gejpannt, wie fie jich ihm gegenüber 
benehmen würde. Er verbeugte fid) förmlich, 
dod) fie reichte ihm unbefangen die Hand. 

Dann febten fih alle und ſchwiegen 
einen Augenblid. Annie blidte ein wenig 
verlegen vor fid) Hin, nad) junger Mädchen 
Art, und wartete, bis Frau Bofelmann das 
Wort an fie richtete und fih nad) dem Bes 
finden ihres Baters erfundigte. 

Es ging thm beffer, fogar überrajchend 
gut. Der Sommer hatte fein altes Leiden 
zum Stilljtand gebracht, unb jofort waren fein 
SLebensmut und feine Arbeitsluft guriidgefehrt. 
Er wollte in den nádjjten Tagen nad) Holland 
abreijen und erlebte durch feine Ungeduld 
[don das ganze Haus in Aufregung. Hans 
fagte, er würde ihm gern nod) vorher guten 
Tag jagen. Dann müßte er bald fommen. 
Sie [pradjen über dies und bas, lauter gleich: 
gültige Dinge, Aber jedes Wort und jeder 
Blid fagte ihm: was braucht man Briefe, 


wenn man einander gewiß it? Ich bid) 
vergejjen — wie fannjt du bas nur glauben? 

Da fam das Heine Dienftmädchen wieder 
und fagte, das Gjjen ftánde auf dem Tijd. 
Annie erhob fid) raih. Sie war ja nur auf 
einen Augenblid Hinübergeiprungen. Ad), 
und hier das Bud! Das hatte fie ja Frau 
BVofelmann zurüdbringen wollen. 

Hans begleitete fie ins Haus. Und da 
auf dem Flur, während er ihr folgte, blieb 
jie plößlich ftehn, und gegen die Wand fid 
lebnenb, bie eine Hand auf bem Rüden, 
indes die [djlanfen Finger der andern mit 
ihren rofigen Nägeln fid) um die Rofen in 
ihrem Gürtel legten, fragte fie: „Du, Hans — 
jaBeft du vorhin nidjt im Birnbaum?" 

„Sa. Haft bu mich gejehn?“ 

Gie antwortete nicht, nur ein Ladeln, uns 
jichtbar, aber |pürbar wie ein |üper, inniger 
Duft, überhauchte ihr Gejidt. 

„Und bift gefommen? O, Annie...“ 

Bon einer großen Welle feines Blutes 
emporgeboben, umjdlang unb füpte er fie. 
„Deine Annie!“ 

Gie bog den Kopf zurüd, fab ihn an und 
flüfterte: ,S9Birflid) — deine Annie?“ 

Der Schritt bes Dienjtmädchens ließ fie 
auseinanderfahren. Gie öffnete [d)nell bie 
Haustür. Er entrip ber Enteilenden nod) 
eine Rofe und ftedte fie in [eine Bruſttaſche. 

Dann ging er ins Chgimmer, wo feine 
Mutter und Klaus in angelegentlidem Ges 
iprád ftanden. Obwohl er gänzlich unbes 
fangen tat, wußten die beiden Doch jo genau, 
was fih eben zugetragen hatte, als wäre 
bie Wand durchlichtig gewejen. Das Kleine 
Mädchen hatte eben die Suppenteller abs 
genommen und Frau Bofelmann begann 
gerade den Braten zu trandieren, als Hans 
tat, wie wenn er fein Tajchentuch vermißte, 
hinausging unb auf bem Flur mit entglidtem 
Lächeln bie Rofe tüpte. 
& 8B 88 

Es war fpát nadjts. Frau Bofelmann 
hatte fih längſt Idioten gelegt. Die beiden 
Freunde faken in Hanjens Zimmer, Klaus 
in einem bequemen Gejjel am Tijd, auf dem 
geleerte Weinfladen ftanden, Hans auf der 
Bank des geöffneten Fenjters, wo ber Doppel» 
from des Raudjs vieler Zigaretten und ber 
feuchten Kühle von draußen fein heißes Gee 
fidt um[pülte. Am Himmel domm, von 
einem gelblichen Hof umründet, ber blajle 
Halbmond. Gleich einem vielgeftaltigen 
Delta mit Heinen, weißlich erhellten Geen 
unb Tümpeln flofjen die Wolfen aus ber 
am Horizont dunkel aufgeftauten Maſſe über 
bas Firmament. Als ſchwarze Gewölbe, 
aus denen Gilberfunten und Faſſetten aufs 
bligten, erhoben fi die Baume in den 


340 BSSLSSSSSSSSSS Wilhelm Hegeler: 


Garten. Weich, dunkel und lodend gähnte die 
Tiefe, und der kühle Luftitrom bajdte Han» 
jens Gedanfen und ließ fie vielgeftaltig und 
unbe[timmt zerfließen, bis er jid) losriß und 
feinen Pla in ber Sofaede wieder einnabm. 

Die beiden hatten getrunten und gejprochen, 
hatten ihr Inneres nad außen gefehrt und 
bervorgeholt, Hans, was ihm zu fragen auf» 
gab, und Klaus, was ihn zu [agen gut diintte. 
Und nun war es wie cine Antwort auf bejjen 
Morte, als Hans fagte: „Um bid) ift mir 
nicht bange. Du wirft dein Ziel erreichen, 
wenn bu aud) jagft, du batteft nod) gar tein 
beftimmtes. Ich glaube, wer in bie Tiefe 
fällt und daraus emporfteigt, tommt ſchließ⸗ 
lid) höher, als wer in mittleren Höhen feine 
Straße geht.“ 

„Vielleicht,“ erwiderte Klaus. „ch dente 
manchmal aud, ein gehöriger Fußtritt bes 
Schickſals ijt noch niht bie ſchlechteſte Pros 
teltion. Aber wenn ich nun mein Ziel er: 
reiche unb in die Höhe tomme — in welde 
Höhe übrigens, bas ift immer nod) die Frage 
— wann wird bas fein? Wenn die jchöniten 
Sahre meines Lebens vorbei find. Wer 
gibt mir die wieder? Mer ent|djábigt mid) 
für bie Zeit, bie ich in der Budite verbradt 
habe? Wenn mal die Zeit tommt, wo id) 
mich freier regen tann, dann werde id) mir 
jagen miiffen: vor zehn, fünfzehn Jahren, 
[amos — jet fommt’s post festum. Ja, 
du —“ fuhr er erregt, Hans ins Mort 
fallend, fort — „du haft gut reden, du mit 
deinen Reifen, deinen Abenteuern — gewiß, 
bie Zeit vergeht dir nicht weniger jchnell als 
mir — aber fpáter haft du deine Erinnes 
rungen — und ich, ich babe Hunger und 
teine Zähne mehr.“ 

Gana fo ijt es nidjt. GewiB, ich habe 
eine herrliche Zeit gehabt, ich wäre ja uns 
dankbar, wenn ich bas leugnen wollte. Aber 
Erlebnijfe, Erinnerungen? ... Ich babe bas 
Gefühl, die Zeit ift mir dahingeraufcht, id) 
weiß nicht wie. Sd) habe bas Gefühl, das 
Eigentliche muß bod) tommen. Und in dem, 
was mid) zu tiefft bejchäftigt: wer id) bin? 
Was meine Beftimmung ijt? — in dem bin 
ih um nichts flüger geworden.“ 

Klaus, noch immer erbittert über das, 
was er am Vormittag gelebt zu haben 
glaubte, dachte höhniſch: ‚Wer bu bijt? Ein 
mit bunten Träumereien fih aufpußender 
Gurdjjdjnittsmen|d). Deine 3Bejtimmung — 
bu lieber Gott, du wirft [Hon nod) alle bie 
bunten Lappen einpaden und wirft werden, 
was bein Bater war. Wirft Annie heiraten 
und glüdlid) werden ... oder aud) nicht.‘ 

Hans aber, erregt und bedrángt von diefer 
bangen Ungewißheit, bie das Glüd und die 
Dual der Jugend ijt, fuhr fort: „Ich möchte 


nur eins: mein Leben erfüllt haben. Uber 
was ift mein Leben? Was heißt überhaupt: 
leben? Wenn ich im Kolleg fike und höre 
bie Weisheit bes Profeſſors, diefje Semefters 
Juppenweisbeit, dann reißt bie Ungeduld mid) 
fort, und id) dente, id) verjdume was. Und 
bin id) draußen und babe, was id) will, jo 
ijt es auch nicht das Rehte. Was heißt 
leben? Gein Leben genieren? Über das 
beißt, das Leben um fein Beftes betrügen. 
Heißt es, das Leben fliehn und fid) in ein 
Merk verjenten? Aber wie tann ich ein Werk 
[affer wollen, wenn mid) das Wert nicht 
ruft? Hundert Pläne! Wher was id) ge» 
ichrieben babe, find ja alles nur Zufalls= 
tropfen, nidjts aus dem wirklichen Duell. 
Manchmal denfe ih, es wäre gut auch für 
mich, ich fame unter die Rader und würde 
gefuchtelt und müßte meine Kräfte ¿ujammens 
reißen. Manchmal bin id) alles deffen, wot: 
um bu mich beneideft, fo leid, fo leid... 
Manchmal :iün|dje ich mir alles Elend ber 
Welt, denn Hiob ijt ja dod taujendmal 
reicher als Salomo.” 

Gr |prang auf, erregt und erjchroden, 
febte fih wieder ans iyenjter und ftarrte 
hinaus und empfand es als eine Heraus: 
forderung an das Schidfal, daß er Das eben 
erlangte Glüd fortwarf, wie feiner Ober, 
brüllig. Konnte das Leben etwas Tieferes 
geben als Liebe? 

Uber war es der Niederichlag bieler allzu 
leicht verjhäumten Zeit, war es bie Gegen: 
wirkung ber ungebeuren Blüdsjpannung in 
ben lebten Stunden: er fühlte ein jchmerz« 


‚lihes Drängen, ein Sehnen, fid) zu verwun« 


den, zerriffen, gequält, bebend unter furdjt- 
barften Erjchütterungen in der Tiefe zu 
liegen, als müßte es in feinem Innern nod) 
unerlöfte Kräfte und perjdjlojjene Quellen 
geben, bie nad) Kampf und tiefftem Leid 
riefen als nad ihren Befteiern. 
& Bg 88 
Als Hans am nädjften Vormittag Bejud 
bei Dewerths machen wollte, öffnete ihm der 
alte Diener die Tür und antwortete auf 
feine Frage, ob der Herr Profejfor zu |predjen 
iei: „Och Gott, nein, Herr Bofelmann, der 
ift nicht mehr zu |predjen." Und während 
er in ber einen Hand bie [ange ſchwarze 
Florichleife, bie er foeben an der Haustür 
hatte befeftigen wollen, und mit der andern 
feinen gittrigen Untertiefer hielt, fügte er 
hinzu: „Der Herr Profejjor ijf heute früh 
in die Ewigkeit abgerufen worden. Oh 
Gott, Herr Botelmann, Tonnen Gie fid) das 
denten? Als ich ibm beim Anzichen Half, 
war er nod) fo vergnügt. ‚Auguft,‘ jagt er 
zu mir, ‚haft bu aud) die Koffer herunter- 
geldafft? Ich reife morgen, am liebften 


SSDP Dae >>> 


teifte id) heute [djon. 3% fann's vor Un: 
geduld taum aushalten. Das wird ’ne Reife, 
alter Kerl, ohne Weib und Rind, "ne Reife, 
richtig ins Blaue hinein. Ich will mir mal 
ganz neue Gegenden ausjuchen.‘ — Und gleich 
nah bem Frühltüd hat er angefangen zu 
paten und bot mid herumgehett, und id) 
habe gejagt: ‚Das ijt nichts für uns, Herr 
PBrofeffor. Wir alten Leute miiffen uns Zeit 
lajjen.' Wher er Bat gefdimpft und mid 
binausgejagt. Und wie ich wieder gelommen 
bin, lag er doch mit dem Kopf im Koffer, 
und fein Gejidjt war ganz blau. 3d) babe 
ihm gleid den Kragen aufgemadt, aber es 
war ¡hon zu jpát. Gehirnſchlag, jagt ber 
Dottor. Od Gott, och Gott, Herr Botel: 
mann, ich badjte mir gleich, bie Eile hat was 
Unnatürliches, die bedeutet nichts Gutes. 
Und dann bas viele Büden. — Uber nun 
muß id die Schleife fejtmadhen. Sd) muß 
ja alles allein machen. Die ganze Berant: 
wortung liegt auf mir. Auf die gnädige 
Frau ijt ja gar fein Verlag. Od Gott...” 

Er betreuzigte fith, denn foeben fam der 
Priefter mit zwei brennende Meibraudfájjer 
Ihwingenden Chortnaben. 

Die Zeitungen bradten lange Nachrufe 
über ben jo plößlich aus dem Leben Ges 
[diebenen, und die Begräbnisfeierlichkeit 
wurde mit dem ganzen, feiner Stellung ents 
jpredenden Pomp vollzogen. Dann reiften 
die Verwandten wieder ab, und das große 
Haus lag mit geichlojjenen Feniterläden 
tot im Licht ber langen Sommertage. 

Aber ehe der Tote noch unter die Erde 
gebracht worden war, hatte es in der Familie 
erregte Szenen und häßliche Worte gegeben. 
Dewerth batte feine Frau zur Univerjalerbin 
eingejebt, ohne nähere Angaben über fein 
Vermögen zu maden, und Frau Dewerth 
erflärte nad langem Drängen, daß ein 
nennenswertes Vermögen überhaupt nicht 
vorhanden fei. Alle Verſuche, Erfparnijie 
zu madjen, waren Dauptjád)lid) durch bie 
Anfpriibe der Schwiegerjüöhne vereitelt wor— 
den. Das war für dieje und ihre Frauen 
ein empfindlicher Schlag. Die Töchter waren 
es zuerit, bie bie Würde der Stunde auper 
acht ließen und jid) gegenjeitig beichuldigten, 
bie Güte ihres Baters mißbraucht zu haben. 

Es war das erftemal, daß Annie den Tod 
fennen gelernt hatte. Und biejer war ihr 
in Jo grauliger Geftalt begegnet, daß er den 
Schmerz, der die Geele zerreißt, aus ihren 
Tiefen aber auch erlöjende und lindernde 
Sräfte ans Bewubtjein trägt, auerjt taum 
auftommen ließ, vor ben Krämpfen der 
Furcht und Berjiörtheit. 

Tod überjchattete bie legte Rrantheits- 
zeit jene jchönere Vergangenbeit, als ihr 


Zwei Freunde Lessel 341 


Bater in feiner vergnügten Kindlichkeit 
weniger ihr ftrenger Erzieher als ihr Freund 
gewejen war, unb fie härmte jtd) ab, daß 
fie ihm feine Liebe mit Kälte und Undant 
vergolten hatte. Cin Heiner Vorfall ging 
ihr bejonders nahe. 

Einen Tag vor jeinem Tode hatte er einen 
hübſchen unb äußerſt prattijden Reijebecher 
bei ihr entbedt, den fie aus England mit: 
gebracht batte, und fie Darum gebeten. Aber 
jie batte ihn ihm verweigert, mit der Bes 
gründung, daß fie ein Gejd)en! bod) nicht 
weiterverjchenten Tonne, Nun fdien ihr 
ganzer Mangel an Liebe und Geduld in 
diejem einen Berjagen Jemen Ausdrud ge: 
finden zu haben, und ba fie es nicht anders 
wieder gutmadjen fonnte, überwand fie ihr 
Grauen und legte den Becher dem Toten 
heimlich in den Garg. 

Es war ‚nit Schmerz über verjäumte 
Liebe allein, mehr nod) war Furcht babet im 
Spiel. Denn nadjts gab es nicht mehr den 
freundlichen Bater bes Tageslichts, jondern 
die grauenvolle Geftalt, bie fie einen Augen» 
blid lang auf dem Boden bes Ateliers aus: 
geftredt gejehn Hatte: in dem bläulichroten 
Belicht bie aufetnandergewulfteten Lippen, 
denen ein wenig Blut entfidert war, das in 
dem langen, [chlohweißen Bart eine rote 
Spur binterlajjen hatte, und das eine gus 
gefniffene Auge, indes bas andere, ¿ntlopen: 
haft erweitert und jchielend, ihr nod) nad) 
dem Tode bösartige Blide gugumerfen fchien. 
Ziele Gejtalt quälte fie nachts gleich einem 
Alb und Radegelpenft, umpreßte wie mit 
Fäuften ihr Herz, daß in diefem zerquälten 
Spiegel alles ein furdtbares Gelicht befam. 
Cie war nicht mehr findgläubig genug, um 
von ber Beichte Erleichterung zu hoffen. Defto 
mehr bedurfte fie eines tróftenden Freundes. 

Als Hans fie zum erjtenmal jab, trug fie 
ein jchlichtes, in Eile fertig gefauftes Trauers 
Heid, und ihr Gelicht Hatte durchlichtige, 
fable Tine, deren Schatten niht auf ber 
Dberfläche zu liegen, fondern aus der Tiefe 
emporzudunteln [djtenen. 

Hans drüdte beiden Frauen die Hand, 
aber als er bie erjten Worte batte laut wers 
den laffen, ging eine Grjdjütterung durch 
Annies Geftalt; ohnmadtig, ihren Schmerz 
zu verbergen, erhob fie fid) und verließ mit 
einem flehentliden Blid auf ibn das Zimmer. 

„Sie Bat es nod) jchwerer getroffen als 
mid) und Rudi,“ fagte Frau Dewerth, „weil 
es fie mitten im Glüd überrajcht bat.“ 

„Darf id) mit ihr ſprechen?“ 

„Ja, geben Cie! Berjudhen Gie, fie zu 
tröſten.“ 

Er traf ſie im Flur, als ſie eben in den 
Garten hinaustreten wollte. Sih umwen: 


349 ESSSS>SesSescsticic:a Wilhelm Hegeler: B2323222332232323223232 


dend, ftredte fie die Arme nad) ihm aus. 
„Du mußt mir helfen,“ flüfterte fie. „Ich 
habe ja alles verloren.” 

Cie jdritten bie wenigen Gtufen ber 
Beranda hinunter, und er führte fie über 
den in abendlichem Sonnenglanz liegenden, 
gewundenen Weg zu der Steinbant vor dem 
Bosfett von Holunder und Jasmin. 

Nachdem fie fid) gejebt hatten, ließ er fie 
guerft ruhig ausweinen, indes er nur jacht 
über thr Haar jtridh. 

Bor ihnen platiderte ber Springbrunnen 
feinen dünnen Gtrabl auf bie moofigen 
Grottenfteine und das, von roten, goldenen 
und tief fupfrigen Blättern. wie durd)wirtte 
Waller des Heinen Weihers nieder. Ein 
füßer Duft von Levtojen wiirzte die Luft, 
aus dem Laub der Apfelbäume jchimmerten 
die reifen Früchte, und die hohen Malven 
mit ihren purpurnen Blüten verglübten wie 
ftille Fackeln einer feierlichen Freude. 

Und fo jehr Hans mit ihr litt, empfand 
er bod) etwas wie Blüd, bap Annie fid) zu 
ihm flüchtete wie einft als Kind. 

Als er fühlte, daß ihre [toBweilen Er: 
Ichütterungen fiirger und [anglamer wurden, 
begann er von ihrem Bater zu |prechen. Und 
ba fie ihn unterbrad, das Furchtbare fei, 
daß fie ihm gerade die legte Zeit durd) ¡bue 
Sieblofigteit noch jchwerer gemacht habe, er: 
widerte er: ,Glaubft du nicht, dak bas ein 
Vorwurf ijt, den jeder von uns angelichts 
des Todes gegen fih erheben muß? Als id) 
nad Haus fuhr, wurde id) von ber plóf- 
lihen Angft ergriffen, meine Mutter wäre 
geftorben. Denn gerade in der legten Zeit 
batte ich jo wenig an fie gejchrieben und fie 
beinah vergefjen. Können wir denen, Die 
uns lieb haben, überhaupt ihre Liebe ganz 
vergelten? Jest mußt du es tun, indem du 
fein Andenten hod báltft und ein guter 
Menſch wirft.” 

„Ein guter Menſch!“ fliifterte fie. „Der 
fann ich nicht werden. 3d habe zu viel 
Böſes getan.“ 

„Nein, Annie. (emp nicht. 
was du getan haft!“ 

„Sch will’s dir jagen. Aber id) weiß, daß 
es dann awijden uns aus ijt." 

„Glaubſt du wirklich, es tónnte uns irgend 
was trennen?“ 

„And wenn id) bir fagte — etwas jo 
Schlechtes und Niedriges...“ 

Während fie fih nachts umherwarf, hatte 
fie fid) gejchworen, thm alles zu beichten, 
damit er ihr half, bas Furchtbare zu tragen. 
Wher nun, wo fie davor ftand, ballte fid) 
alles Hinter einer Wand von Scham und 
Angft gujammen. Er füfte ihre Augen und 
brüdte die eistalte Hand in feiner. 


Sag’ mir, 


„Annie, was heißt denn überhaupt Liebe? 
Das heißt bod) mitwiſſen und mitfühlen mit 
dem andern. Was wäre das für eine findijche 
und langweilige Art von Liebe, die nur ein 
Idealbild liebt! Auch ohne daß du’s mir 
lagft, weiß ich, daß du Schledhtigkeiten und 
Sünden begangen haft, wie ich und jeder 
andere Menih. Bielleicht ſchmerzt mid das, 
was du mir jagjt. Denn auch mid) jchmerzt 
es, wenn id) an gewijje Dinge von mir dente. 
Aber meine Liebe zu dir wird dadurch nicht 
vermindert, ebenjo wie id) nicht aufhören 
fann, mich felbft zu lieben. Und ich traue 
mir bie Kraft zu, dies Schlechte zu über: 
winden. Auf diefe Kraft vertraue id) aud) 
bei bir. Vielleicht fann id) bir helfen. Aber 
dann mußt du mir auch vertrauen.” 

Da begann fie, ihm ihre Stimmung zu 
bejd)reiben, wie unjáglid fie fic) im ber 
Penjion auf ihre Riidfehr gefreut, wie fie 
zu Haufe aber alles verändert vorgefunden 
hätte, wie die Eltern ihr alle Bergniigungen, 
die die älteren Schweiter jo reidjfid) genoffen, 
vorenthalten batten. Wie aber ihr Bers 
langen, fid) zu amüjieren, Dadurch nur ge: 
fteigert fei. Wie fie geradezu behext gewejen 
jet und nichts gefannt hätte als nur den 
Muni, zu tanzen, zu flirten und fid) den 
Hof madjen zu Iajjen. Wie fie aber bie 
Möglichkeit, einen Ball ober eine Geſellſchaft 
mitzumachen, fid) |djlieBlid) nur burg Zügen 
hätte verjchaffen können, indem fie ihre 
Toilette heimlich zu Lila jdjidte und bei ber 
übernachtete. Und wie fie eines Tages, als 
jie auf ihren Bater bejonbers wütend ge: 
wejen, fid) vorgenommen hätte, ibm einen 
Tort anzutun und deshalb... und aud, 
weil fie fic) ein Theaterbillett taufen wollte 
— aus feiner Kupferſtichſammlung drei engs 
liche Stiche entwendet Hätte. 

Aufgewühlt und überreizt in ihrem Emps 
findungsleben wie fie war, hatte fie das 
Gefühl, daß fie fid) Stüd für Stiid die 
Kleider herunterrijje und vor ibm läge mit 
bejudeltem Körper, entledigt jeden Stolzes... 
tieffte Erniedrigung und Erlöjung verband 
fid mit Diejen übertriebenen Gelbftantla: 
gen... eine legte Überwindung nod), und er 
würde fie aus bem Schmuß emporreißen — 
aber gerade als [ie ihm gejtehen wollte, daß 
fie die Ctide an feinen Freund verkauft 
hatte, beobachtete fie fein Gelicht unb fab 
darin foviel ſchmerzliche Gejpanntbeit, daß 
jie, von Mitgefühl und Gitelfeit guriidge: 
idredt, fid) jagte, dies Schlimmite könnte fie 
ihm niemals antun, und nun erzählte, fie 
hatte bie Ctidje mit einem Bleiftift freuz 
unb quer bejchmiert, zerrijfen und darauf 
verbrannt. 

Er ftreichelte tróftend über ihre Wangen 


EEN Due Freunde Fees 343 


und ihre mit Schweiß benebte Stirn und 
fagte: „Wegen eines Nichts, Annie — wegen 
eines Nichts Haft du bid) fo gequält. Und 
ich babe [hon gebadjt — verzeih mir — du 
hätteft die Stiche geftohlen und verkauft.“ 

„Und wenn id das getan hätte?“ 

„Dann hätte ich das auch ertragen. Aber 
du baft es ja nidht getan und tonnteft es 
gar nicht tun, deinem ganzen Mejen nad. 
Sm legten Augenblid hätte dein Gtolz res 
voltiert. Denn — Stolz ijt bod) der Grund- 
Aug deines Mejens.” 

Sie lehnte fid) [till an feine Bruft, emp: 
fand wohl einen vagen Schmerz, daß fie fih 
ibm nicht ganz anvertraut hatte, aber viel 
ftárler war bas bejánftigte Gefühl der Bes 
freiung. Und es war faft nur wie eine Gr: 
innerung, derer Wiederkehr fie jest nicht 
mebr fürchtete, als jie ibm bann die Gejtalt 
des Toten bejchrieb, ber fie wie ein häßlicher 
Alb gequält hatte. 

„Kind, wie fonnt du benfen, bas wäre 
dein Bater! Was du gejehn halt, ift ja 
nichts als die Entftellung feines Todes, Für 
ihn war der Tod leicht unb [djmerglos. Euch 
Hinterbliebenen aber zeigte er ein graufiges 
Gefibt. — Sd) will dir jagen, wie dein Vater 
wirklich war...” 

Auch Rudi mußte bald wieder fort, aber 
ehe er abreijte, hatte er nod) eine Ausſprache 
unter vier Augen mit feiner Schweiter. Ins 
bem er fiġ mit ihr auf bas alte Rinderjofa, 
deffen Sprungfedern einft unter ihren Rinder: 
tänzen geftöhnt hatten, nieberlieB, machte er 
feinem Unmut über die Verwandten, feiner 
Sorge über bie miplidjen Bermögensverhälts» 
niffe und die Hilflofigteit feiner Mutter Luft. 
Und das Sdlimmite war: unter allen Freun« 
ben und Berebrern des Baters wußte er 
feinen, gu dem man Zutrauen haben fonnte. 

nom weiß einen,“ erwiderte Annie. 
„Hans.“ 

„D ja, Hans! Aber ber ift nicht Papas 
Freund, jondern deiner und meiner, Annie, 
daß bu den gefunden haft, darüber fannit 
bu gar nicht glüdlich genug fein. Ich finde 
ibn viel zu [Made für dich.“ 

„Na, höre mal, bei aller erlaubten briider: 
licen Grobbeit ift das bod) ein biben 
ftart” 

Ich mein’s nicht fo ſchlimm. Sch will 
bid) nicht mit ben Schweitern in einen Topf 
werfen, Aber unter uns gejagt, ein giem: 
lid) fofetter und leichtfinniger Rader bift du 
bod — was? Aber glaub’ mir, Annie, jo: 
lange Papa nod) verdiente und wir in Kling, 
Alang, Gloria lebten, tonnteft bu an jedem 
Finger einen Freier haben. Heut aber — 
ich tenne bod) meine Leute hier. Die [Hwaben 
viel von fiinjtlerijden Idealen, von Kultur 


unb geiftigen Intereffen, aber obenan ftebt 
das Portemonnaie. Wenn aus den Kreijen 
jemand behauptet, er heiratete aus purer 
Liebe, ift er entweder ein Trottel oder er 
lügt. Aber Hans ift von anderem Schlag. 
Darum fage id) dir: halt’ ihn feft unb bleib 
ihm treu!” 

Annie blidte ihren Bruder nachdenklich 
an und erwiderte: ,GewiB, ich bin leicht« 
finnig. Aber ich glaube, id) bin aud ein 
anftändiger Kerl. Und will ihm Treue mit 
Treue vergelten.“ 

Die bitteren Erfahrungen bieler lebten 
Tage hatten fie gründlich gereinigt. Das 
büplidje Berhalten der Schweitern und 
Schwäger, bie in dem verftorbenen Later 
nur den verloren gegangenen Beldverdiener 
betrauerten, war ihr jehr nabegegangen. 
Aber augleid) war ihr durch diefe Ausein» 
anberjebungen ihre eigene Lage entichleiert 
worden. Nun begriff fie, daß die peinliche 
Empfindung, die fie manchmal gequält hatte, 
fie nähme in ber Gelellidjajt eine Gonders 
itellung ein, nicht bloß Einbildung gewejen 
war. Die jungen Herren hatten ihr den 
Hof gemadt, ihr gejchmeichelt und fie bod) 
irgendwie anders behandelt als ihre Freuns 
dinnen. Gie war eben feine Partie, Cie 
gehörte zu den Mädchen, mit denen man 
(id amiifiert, bie man aber nicht heiratet. 
Und ihr Stolz zitterte in bem Nachgefühl 
ber Demütigungen, denen fie fid) unbewußt 
ausgejebt hatte. 

Der einzige, der, außer den paar befreun» 
deten Malern, ihren Bater wirklich lieb ge: 
habt batte, war Hans. Er war aud) der 
einzige, der es ehrlich mit ihr meinte. Der 
bas Befte an ihr erfannt hatte, ihren Stolz. 

Cie war glüdlich, daß bie Trauerzeit ihr 
Gelegenheit bot, mit ihrem ganzen früheren 
Verkehr zu brechen. Sie wollte nur ihn febn 
und lebte nur für ihn. 

Das leije Befühl einer Schuld ihm gegen» 
fiber, das Bewußtjein, daß fie ihm bas £ebte 
unb Schmerzlichite verheimlicht hatte, machte 
fie noch weicher, nod) bingebender und für 
feine Liebe noch bantbarer. Gleich in den 
erften Tagen hatte fie mit ibm von ihrer 
migliden MBermógenslage gelprodjem und 
ihm gejagt, daß fie faum eine Mitgift ers 
warten könnte. Zuerft war er jehr betroffen, 
als er aber hörte, daß fie ohne allzu große 
Einſchränkungen weiterleben und aud) ihr 
Ichönes Haus weiter bewohnen könnten, war 
feine Sorge verflogen. In diejen Tagen ber 
jungen Liebe fah er ihrer beider Zukunft 
nur wie ein fleines Haus im Grünen und 
darin das große Blüd. Im Grunde jedoch 
lag ibm alle Zukunft drei Meilen hinter 
Weihnadten, Die Gegenwart erfüllte ihn 


344 Wilhelm Hegeler: BSS3333333333334I 


ganz, war Wirklichkeit und Traum, ein über» 
wirklicher Traum, zu dem er jeden Tag neu 
ermadte, wenn er fpát abends, wie in 
leichtem Fieber bas erlebte Blüd noch eins 
mal burdjlebenb, eingeichlummert war. 

Er batte den Schlüjjel zur Gartenpforte 
befommen und fam immer [bon in aller 
Morgenfrühe. Gorglos mißbraucdhte er bie 
Güte feiner Mutter und geigte ihr die Stuns 
den ab, um fie mit Annie zu genießen. Ten 
ganzen Tag fajt waren die beiden gujammen. 
Allein und bod) nicht allein. Er bradte ihr 
feine Bücher mit. Und fie, deren Augen Jo 
für alle Töne und Werte der Farben ge: 
Ihärft waren, befam auch ein Ohr für den 
Rhythmus der Cpradje und den Klang der 
Morte. Doh wurde das artiftijdhe Hören 
ihr nie bas Wejentlide, und fie nahm Die 
Dichtungen mit dem Banzen ihrer Geele auf. 
Für Literaturgefchichte aber zeigte fie gar 
feinen Sinn. Für fie gab es nur zwei 
Dichter: Hans und Dingsda. Und nur einen, 
denn die Morte der Dichter wurden im 
Munde des Beliebten zu feinen eigenen. 

Eines Abends nad) einem febr heißen 
und beinah jchwülen Tage faken fie nod) 
auf ber alten Efeubant beijammen. Annie 
hatte Kopfichmerzen gehabt und fih über: 
haupt in reizbarer Stimmung befunden, in 
einer Stimmung, wo fie getröjtet, eigentlich 
aber nod) mehr verwundet werden wollte. 
Das Gejprád war auf Hanjens Aufenthalt 
in Genf gefommen, und Annie hatte Dë 
beflagt, daß er ihr nie während ber langen 
Zeit gejchrieben. Er hatte fich zu recht« 
fertigen verjudjt, aber dann in feiner Ehr: 
lichfeit bod) den legten Grund eingeftanden 
und ihr fein Berháltnis zu einer jungen 
Schweizerin gebeichtet und Hatte kurz nod) 
bunflere und bejchämendere Abenteuer er- 
wábnt, über die er nicht gefragt jein wollte. 

Cie litt. Jn bieler mutlojfen, mit fid) 
jelbft unzufriedenen Stimmung hatte der 
Schmerz ungehemmte Bewalt über fie. Die 
Ferne, die ihn ihr genommen, die ihn bald 
wieder nehmen würde, ängitigte fie. Cifers 
juht brannte in ihr, aber zugleich fühlte fie, 
wie dies Brennen aud etwas von ihrem 
Schuldgefühl verbrannte. Das Bewußtjein, 
dak aud) in ihm Dinge waren, bie er ver: 
ſchwieg, wirkte wie ein Losſpruch. 

Cie füpte ibn unb fagte, es hätte wehe 
getan, aber es wäre gut, daß er alles gejagt 
hatte. Dann jchwiegen fie, und ihre Ges 
danten zogen verworrene Bahnen, indes 
etwas wie Fremdheit und Trauer und duntle 
Scham zwijchen ihnen lag. 

Hinter den Bäumen in ihrem Rüden war 
aus der Nebelwand unwahrjcheinlich groß 
und orangefarben der Bollmond aufgeitiegen. 


Auf den erleubteten Balfons der fernen 
Hinterhäufer fJaBen nod) Mtenfden. Rachen, 
laute Stimmen, ein Grammophon, das abs 
wedjelnd Muſik- und Gelangftüde nájelte, 
tlangen beriiber. Auf alles bas mußte Annie 
mit gequálter Aufmerfjfamteit Iau|djen, und 
es bing irgendwie mit jener Ferne zulams 
men, bie drohend und erregend branbete. 

Cie hätten gern bas Geſpräch wieder ans 
gefnüpft und fich zueinander gefunden, aber 
immer glitten bie Bedantenbabnen, bie fid) 
judjten, von neuem auseinander. Schließlich 
jedoch bat fie: „Sag’ irgendein Gedicht!“ 

Nach kurzem Zögern |prad) er mit vers 
hängter Stimme, der feine Erregung bod) 
jeltjam burd)bringenbe Gewalt gab, ihr ein 
Goetheſches Gedicht vor. 

Der Mond ftand nun fdjon ziemlich how 
und ganz blant am Himmel und durchleuch⸗ 
tete bleid) bie Nacht, während die beiden im 
tiefiten Schatten jaBen. Die Schwüle hatte 
lich zerteilt, und es roch nad) füblem Tau. 

Als Annie nad) ber Berjuntenbeit des 
Aufhorchens wieder zum Bewußtfein fam, 
jah [ie mit einer Ergriffenheit, die ihr faft 
web tat vor Blüd, die von janften Gilbers 
ftrdmen übergojjenen Bäume und pernabm 
bas leije Niederträufeln bes Waffers auf 
ben Grottenjteinen, als wenn fie nod nie 
einen mondbejdienenen Baum gejehen und 
den Leinen Springbrunnen nicht [don feit 
ihrer friibeften Rindergeit gehört hätte. Gie 
batte fi an Hans angelchmiegt und [pürte 
den leijen Tabafsgerud an feiner Jade, 
Und wenn [ie fid) ein wenig hob und bas 
Gefid)t aurüdbog, fentte fih von oben aus 
ber Finfternis fein Mund zu ihr hinab. 
Manchmal traf er guerft ihre Augen und 
Wangen, bis ihre Lippen fih fanden und 
fte in einem Kuh verjchmolzen. Aber dann 
lag fie wieder HU an feiner Bruft, leije ge 
wiegt von feinen Atemzügen, in einem Ges 
fühl feliger Sicherheit und Erlöfung, wäh» 
rend nur wie etwas Wefenlojes, aus dem 
jie fih gerettet hatte, fern, ba noch ein Ruf 
tönte, dort nod) ein rötliches Licht glomm... 

Hans war ihr Freund geworden, ihr 
Tröfter, er wurde aud) nod ihr Lehrer. 
Für alles, was ihren fo lange brachen Beift 
jebt bewegte, wollte fie von ihm Gewißheit 
haben. Und er genoß in Deler Zeit bas 
ſchönſte Gliid, bas einem geijtigen Menjchen 
zuteil werden fann: daß er jeine eigenen 
Gedanken in neuer Strahlenbrechung, inniger 
aus bem Mund ber Geliebten wieder hörte. 

Aber zu anderen Stunden war er wieder 
ganz der große Junge, ber fid) tein bejjeres 
Vergnügen kannte, als in die höchſten Baum: 
wipfel zu tlettern. Es tigelte ihn fürmlich, 
den Objtjegen des Dewertbichen Gartens 


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Hunpozistvgzluny) ‘sundag smag uoa oq]! 

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FEH Zwei Freunde B3232323323323323323333323 345 


jelbft etngubeimjen. Und Auguft war froh, 
feine alten Knochen jchonen zu Tonnen, Go 
fag er denn an mandem jchönen Morgen 
bembürmelig, in feiner älteften Hoje, in den 
Bäumen und liep Apfel und Birnen herunter: 
prajjeln, indes Annie bas Einfammeln be: 
forgte, eine weiße Schürze über ber Bluje, 
mit bloBem Hals, im loder geitedten Haar 
ein paar dürre, gefrüujelte Blätter, rot von 
Sonne und Eifer, leuchtend wie die jchönfte 
Herbitblume, 

Eines Nachmittags madjten bie beiden 
eine Bootsfahrt über den Rhein. Der 
Bootsbeliger, ein alter Freund von Hans, 
von bem fie die ,Libelle” entliehn, wies auf 
die drohende Moltenwand und meinte, [ie 
follten nicht allzulange fortbleiben, damit 
ihnen das Gewitter nicht über den Hals 
time. Ab, bas Gewitter brobe [hon feit 
acht Tagen und würde auch diesmal wieder 
unverrichteter Gace abgiehn, fagte Hans. 

Sie famen aud) mühelos ans andere Ufer, 
als fie aber dort das Boot verantert hatten, 
um in einer nahen Wirtjchaft etwas zu ge: 
nießen, bob ein häßlicher, trodener Wind an, 
jo daß fie es für beffer hielten umzufehren. 
Und fie waren faum ein Ctüd vom Ufer 
entfernt, ba entlud fih mit Donner und Blig 
ein wolfenbrudjartiger Regen. Es war nod) 
Zeit, wieder zu landen und jid) in Gicher: 
beit zu bringen, aber Annie meinte, fie 
támen [don durch, und fo legte er fih tüchtig 
in bie Riemen. 

Undeutlich jah er durd die wájjerigen 
Sraffierungen, wie drüben am fablen Ufer 
die hohen Pappeln mit ihren windzerzaujiten 
ten fic in die Arme fielen. Annie wurde 
von ben Peitjchenenden bes Regens gerade 
ins Geficht getroffen. Bon dem Rand ihres 
Gtrobbutes träufelte es tinten]d)marg. Ihre 
gefreugten Füße ftanden [hon im Waller. 
Er rig die Ruder durd) bas trübbraune Ge: 
woge, daB er manchmal Angft Hatte, fie 
würden gerbred)en. Da hörte er hinter jid) 
bas Doble Tuten einer Dampfpfeife. Ein 
ra|djer Blid zurüd — diht vor ihnen Donn 
mit ſchwarzer Raudfahne ein Rohlenjchlep> 
per. „Mehr rechts!” jdrie er Annie zu. 
„Bir tommen jhon vorbei,“ erwiderte fie 
ruhig. Und richtig treuzten fie ben Schlepper 
in wenigen Metern Entfernung. Cinige 
Augenblide waren fie ganz eingewidelt in 
Dellen auf die Waſſerfläche gebrüdten ſchwar— 
zen Kohlenſchwaden und jahen einander nicht 
mehr. Als fie dann glüdlich heraus waren, 
merkte Hans, wie die vom Ufer gebrochenen 
SBellen fic) gegen die Bootsipige warfen 
unb fie überjprigten. Immer höher plantjchte 
das Waller mit jedem Ruderjchlage auf dem 
Boden auf und nieder. Und bie „Libelle“, 


Belbagen & Klafings Monatshefte. 35. Jahrg. 192021. 2. Bd, 


bie auf ber Hinfahrt fo leicht Hingefligt war, 
war [hwer wie ein Karren und taum nod) 
vorwärts zu ziehen. 

Er wollte Annie die Schöpffelte zuwerfen, 
wollte ihr zurufen, wenn fie abjadten, follte 
fie ftd) am Gig fefthalten, ganz untergehen 
tónnte das Boot nicht. Aber jedesmal hielt 
ihn ihr ruhiger, zuverfichtlider Ausdrud 
zurück. 

Rings um ſie ſchaukelte, ſchäumte, gurgelte 
es. Dunkle Trichter ſtrudelten. Immer häu⸗ 
figer ſchnappten die Wellen über den ſeit— 
lichen Bordrand. Dazu zickzackten aus dem 
Wolkenſchwarm fahle Blitze, und ber Don— 
ner erſchlug fie förmlich mit feinem fnatterns 
den und polternden Betöje. 

Bon Zeit zu Zeit fragte Hans: „Siehſt 
du das Ufer?“ 

Sedesmal antwortete fie: „Noch nicht.“ 

Schließlich war er nur nod) ein Dampfen: 
des, teuchendes Tier, das mit ftummem eins» 
zwei, eins-zwei die Riemen ins Waſſer bieb 
und an fid) rif. 

Da endlih rief Annie: „Das Ufer!“ 
Bleih darauf: ,Langfamer! ..." Mad 
wenigen Augenbliden ftieß das Boot gegen 
ben Bordrand eines anderen und glitt Durch 
die €üde auf bas vorgebaute Bretterfloß. 

Während fie mühſam mit ihrem triefen- 
den Rod über bas Nachbarboot auf die vor: 
ipringenden Planten des Bootshaujes flet: 
terte, machte er bie ,Libelle” feft und eilte 
Dann zu ihr. 

„Donnerwetter! — Das ging nod) mal 
gut. Sattejt du Angft?“ 

„Kein bißchen!” 

„Und bod) more nah’ daran! — Nah’ 
daran!“ 

Cie fonnte ihm das unausjprecdhliche Ges 
fühl nicht erklären. Nicht einen Augenblid 
hatte fie Angft gehabt inmitten bieles gierig 
aufgeregten Gewoges. Und dod) war fie 
feft überzeugt gewejen, als das Boot nur 
nur nod) eine Hand breit, nur nod) drei 
Finger, nur nod) einen Ginger breit fid) 
über ber |djludenben Tiefe erhob, daß es im 
nadften Augenblid verjinfen würde. Und 
bann? Wielleicht erreichten fie ſchwimmend 
das Ufer. Bielleicht ertranfen fie. Aber 
auch diefer Bedankte war unheimlich nur für 
ihren Verftand und beunrubigte fie nicht. 

„Du Arme! Ach, ich könnte mid) ja prii- 
geln! Du Arme! Du Tapfere! Wie du ges 
fteuert haft! Glánzend! Go faltbliitig und 
fiber! — Ad, but du blaB! Und nap! 
Schnell Herein! Schnell! Du mußt was 
Heißes trinten.” 

Aber fie breitete die Arme aus: „Küß 
mich!“ 

Und während er fie umjchlang und unter 
23 


346 PESSFFFFFFFIETT Wilhelm Hegeler: seess 


dem angeflatjchten dünnen Zeug ihr zartes 
Fleiſch fühlte, prekte fie fid) gegen feine nod) 
atemlos arbeitende Bruft unb brüdte thr 
faltes, najfes Gefiht an fein glührotes und 
atmete den Schweißdampf ein und [d)raubte 
mit nimmerjatter Gier ihre Lippen gegen 
feine und rib fid) nur Ios, um fih nod) fefter 
zu [chrauben, und fühlte, daß alle Blutwarme, 
alles Zebensgefühl nur von ibm fam, daß 
es fein anderes Glüd für fie gab, als mit 
ibm zu leben, und daß aud) mit ibm zu 
Herchen nichts Schredliches fei. 

Da nun bas Regenwetter einjeßte, begann 
Hans täglich einige Stunden zu arbeiten. 
Annie hatte fih ausbedungen, daß fie ber: 
weil feiner Mutter GejelI[djaft leiftete. Und 
hatte hinzugefügt, fie wiffe, daß feine Mutter 
nicht allzuviel von ihr bielte, fie aber deren 
Vorurteil überwinden wolle, wie bas zu 
machen fet? 

„Mach' nichts! Mad” gar nichts!“ er: 
widerte er lahend. „Gib bid) einfach, wie 
bu bijt.” 

Uber in der erften Zeit war es ein [db wie: 
riges Unternehmen. Denn Frau Botelmann 
gehörte zu den Frauen alten Schlages, bie 
nicht gerne untátig figen. Sie hatte immer 
eine Hafele oder 9tabelarbeit vor und flocht 
ſchweigſam in das aufs und niedergleitende 
Garn fo mandes Für und Wider hinfichtlich 
bieler zärtlichen Freundſchaft ihres Sohnes. 
Und bie fonft jo bewegliche Annie fühlte 
anfangs ihre Zunge gang gelähmt, faute 
nur untätig diejen rubelofen Händen zu und 
date manchmal zornig, man müßte bod) rein 
blödfinnig werden von diefer.ewigen Arbeit. 
CdjlieBlid) aber wurde ihre nimmermiide 
Geduld dod) belohnt. Frau Botelmann be: 
laß eine Schwäche: nad Art einfam leben: 
der Menjchen erzählte fie gern aus alten 
Zeiten. Hier nun warf Annie ihre Angel 
aus und fing Jchließlich zugleich mit ben 
Geſchichten aud das Herz ber gütigen Frau. 

Als Hans im GSpätherbft nad Berlin 
reilte, fam für Annie eine fchwere Zeit, 
lamen trübjelige, nicht endenwollende Tage, 
indes thr Blut wieder unruhig podte und 
ihre Wiünjche Bins und berflatterten. Aber 
ihon half ihr ein neues Erleben: feine Briefe. 
Er Hatte fih, wie er ſchrieb, gänzlich ent: 
poetijiert, war nüchtern geworden, nichts als 
Arbeitsmalchine. Nur abends, ober vielmehr 
nadts, veranftaltete er heimliche Fefte, in» 
dem er fie gu fic) beſchwor. Wie er früher 
lich lelbit gejucht hatte, wurde er jet nicht 
müde, fie zu juchen, die im Spiegel feines 
von ihr bejeffenen Herzens Bild und idt. 
quelle zugleich war. Alles, was fie beſchäf— 
Dote, ihre fliidtigften Negungen, ihre ges 
beimjten Träume, gerade das, wovon fie 


glaubte, fein Menjch dürfe es erfahren, mußte 
fie ibm mitteilen. Indem er mit feiner Ber: 
tlárungstraft alles bem [dónen, bereits fer» 
tigen, aber [djeinbag immer neu erftehenden 
Bild von ihr einfügte, gab er ibr Mut, aus 


ih Herausgugeben, erhöhte die Freude an 


ihrem Gelb[t und verfeinerte und vertiefte 
zugleich ihre Wnjpriide daran. Nod emp: 
fand er feine Erlebniffe aus Büchern reicher 
als die der Wirklichkeit, jo waren es immer 
wieder bie Beitalten der Dichtung, mit denen 
er [te verglich, auf bie er fie hinwies, mit 
denen fid) zu bejchäftigen er [ie lodte. 

Was diefen Briefen Schönheit und hohen 
Ginn gab, war feine poetilde Kraft, bie, 
gewaltjam gehemmt, nur um fo ungeftiimer 
hervorbrad; was aus ihnen [dymeidjelte wie 
ltebtofender Duft, war fein Liebesdurft, den 
er ftillte, indem er ihr zu trinfen gab; was 
fie aber befeelte und zu Zwielpradhen von 
Mund zu Mund belebte, war die unter allem 
Blüd bod) immer rege Furt, fie zu vers 
lieren. Jn diefer Furcht war fein Miftrauen, 
feine Giferjudt, fie war vielmehr das Ge: 
fühl, daß ihre Liebe noch nichts Berubigtes 
jet. Immer dachte er an Annie, wie er fie 
auf dem Eiſe gefüBt hatte: fte war ihm ent: 
Ihlüpft, und er hatte fie wieder gefangen, 
aber noch einmal war fie entfloben, unb er 
hatte fie von neuem erringen müjjen. Das 
Bogelleibte an ihr, thre Tanzjeele war feiner 
Schwere bas Berführerijchefte. Und wie er 
als Rind fie mit bunten Märchen von ihren 
Gejpielen weg in feine heimliche Welt gelodt 
hatte, fo bejchwor er nod) einmal feine Ver» 
führungstraft unb «funjt, um fie gang mit 
fid) zu Durddringen. Und was für ein Glüd, 
als er las, wie fie feine Sprache immer 
beffer verftand! Was für eine ergriffene 
Dantbarteit, als fie voll Niedergeſchlagen— 
heit und Angft ibm einmal |d)rieb, daß heute 
fein Brief gefommen fei und fie einen gers 
marterten, freudlofen Tag erlebt habe. 

In feinen Briefen bat Hans die Beliebte 
manchmal, diefe oder jene Beftelung an 
Klaus auszurichten. Cie unterließ bas jedes» 
mal und jchrieb ibm fchließlich, es fet ihr 
peinlich, den Antiquitätenladen aufzufuchen. 
Da fie aber feinen Grund für ihre Weige— 
rung angab, nahm er dieje nicht weiter ernft 
und jdjidte ihr eines Tages einen Auftrag, 
ben fie nicht gut unerledigt laffen konnte. 

Cie hatte ein unbebaglidjes Gefühl, ja, 
geradezu ein wenig Groll gegen Hans, als 
fid) bie Tür zum erjtenmal wieder mit bem 
fern gedämpften Trillern öffnete und Die 
Geftalt biejes unheimlidyen Menfden aufs 
tauchte, ber in feinem halbdunflen Wintel 
gejejfen batte, als wenn er bie ganze Zeit 
an nichts anderes als an die Dumme (De: 


e ES SEH Zwei Freunde seess 347 


Ihichte von damals gedadt Hätte. Wenig: 
[tens war er nicht fo gejcehmadlos, mil irgend» 
einem Wort darauf anzufpielen. 

Mad Erledigung ihres Auftrages wollte 


fie (id) gleich verabjchieden, aber Klaus ließ 


fie nicht fort, jondern Holte aus einem 
Schrank einige erlejene Roftbarteiten und 
bat um ihr Urteil. Gie atmete auf, als fte 
fid) endlich Iosmadjen fonnte. 

Aber Hans jchien in feiner Arglofigteit 
es geradezu darauf abgejehen zu haben, bie 
beiden zujammenzubringen. Die Aufträge 
wiederholten fid) und damit auch die Be: 
fuche, die Klaus jedesmal zu verlängern ver: 
Bonn, indem er ihr mit jehmeichelnder Be: 
fliffenheit feine neuen Erwerbungen zeigte. 
Manchmal waren darunter alte Spiken, 
Brofate, die fie befühlen mußte, oder Ringe, 
die er fie nötigte, über den Finger zu ftreifen. 

Einmal, als fie auf ihr Fortgeben beftand, 
bat er fie, noch ein wenig zu bleiben, er hätte 
die ganze Zeit an fie gedadt. 

„Sie haben an mid) gedadt?” 

„Mein Gott, Sie find die einzige Dame, 
mit der id mal ein menjdlides Wort 
wedjle, da ijt es bod) fein Wunder, wenn 
Sie meine Phantafie bejchäftigen.” 

„Ihre Phantafie! Halten Cie fih etwa 
für einen Dichter?“ entfuhr es thr höhniſch. 

„Beil id) mit Hans befreundet bin? 
Nein! Sch babe zuviel Wirklichkeitswillen.” 

„Dann jollten Sie aud Ihre Phantafie 
in Rube laffen.” 

„Darf ein Wirklichfeitsmenich feine Phan- 
tafie haben?” 

„Kein, denn ibm fehlt bte Unfchuld des 
Dichters.“ Briist verließ jie den Laden. Er 
30g fih mit bójen Augen in feine Ede zurüd. 
Diesmal war er zu weit gegangen. 

Geit dem Tage, da Annie ihn zum erften: 
mal in bem Antiquitátenladen getroffen 
hatte, waren fein Blut und feine Phantafie 
von ihr bejeljem. Es war nicht ihre Schön: 
heit allein, die ihn reizte. MWielmehr nod) 
bas Unerreichbare. Die trennende Kluft. 
Und bas bod) irgendwie VBerbundenfein ... 
Sn bielem Kellerhalbdunfel, umgeben von 
frivolen Rupferftichen, Emailmalereien, Por: 
zelanfigürdhen, von Lüſternheiten allerart, 
hatte fein Ginnenleben feltíam blutleere 
Triebe hervorgebracht, bis es fih heißhung— 
rig auf Annie ftürzte. Als fie ihren Hand: 
hub abjtreifte, hatte ibn ber Gedanfe er- 
‚regt, daß fie damit einen winzigen Teil 
ihres Körpers entblopte. Mit zärtlichem 
Schauer hatte er ihre Hand in der feinen 
gejpürt, dieje mit foviel Sorgfalt gepflegte 
Damenhand, die ihn an ein foftbares Juwel 
erinnerte, das vor jedem Stäubchen durd) 
eine Umbúllung gejdiikt wird. Aber das 


eigentlich Pridelnde und Wufregende war, 
daß diefe zarte Hand durch einen Diebftahl 
befudelt war. Geitbem träumte er Davon, 
wie dieje eistiiblen Finger ihn liebfojen und 
die perlmutterfarbenen, jpi&en Nägel fih in. 
fein Fleiſch einfrallen würden... Er quálte 
fid an diejen Vorftellungen, hapte Annie 
darum, bie ihn bei jedem Bejud) unabjicht- 
lid) durch ihren Hochmut verwundete, Und 
feine burd) die Ginjamfeit und bie Cnt; 
bebrungen überreizte Machtgier malte fid 
die Stunde aus, wo er ihren Hochmut zer: 
brechen würde, in der ritterlicjten und zars 
teften Meije natürlich), ganz als Kavalier, 
Wenn er 3. B. zu ihr jagte: , Gnadiges Frán: 
lein, was Cie getan haben, ift ein glatter 
Diebftahl. Und hätte ich Sie nicht gehindert, 
jo hätten Cie nod) eine Fälſchung Hinzu- 
gefügt. Ich finnte Cie vor aller Welt fom: 
promittieren. Aber die Zunge fol mir vers 
dorren, wenn id) es tue. Sch lege mein, 
Schickſal in Ihre Hand. Sie follen in voller 
Freiheit entjcheiden.“ 

Es war ein unfinniges und niederträch- 
tiges Spiel — er wußte es wohl. Dennoch 
fam er, nicht los davon. Immer wieder 
lodte es ibn [bon jest, mit irgendeiner 
HuBerung, die diejen Dod)fabrenben Ausdrud 
der Ablehnung hervorrief, fie zu reizen. 

Uber diesmal hatte er fih vergejjerm. 
Woden vergingen, ohne daß Annie ihren 
Bejud) wiederholte. Endlich jchrieb er an 
den Freund und bat ihn um ein Bud, von 
dem er wußte, daß fie es bejab. Aber auch 
diefe Lift half nichts. Cie ließ fih nicht wieder 
bliden. Und bann nad) Monaten erlebte er 
dennod) den Triumph, daß fie wiederfam. 
Frau Dewerth hatte verjudt, ihre Finans 
zen baburd) zu Halten, daß fie ihr Haus: 
melen einjchräntte, Aber die zurüdbleiben» 
den Dienftboten, an das Leben aus dem 
vollen und den Schlendrian von früher ges 
wohnt, verbrauchten immer nod) übermäßige 
Summen. Das Schlimmfte jedod war ber 
unaufhörlide Regen von alten Rechnungen. 
Alle Lieferanten, die früher fo fulant ge: 
wejen, hienen fih verjhworen zu haben, 
fte zu branglalieren. Gie ließ immer größere 
Summen von ber Bank tommen, bis diefe 
eines Tages jchrieb, ihr Solljaldo babe eine 
Höhe erreicht, baB von einer weiteren Bes 
leibung Abſtand genommen werden mülfe. 
Das war eine furdtbare Eröffnung. Un: 
glüklicherweije batte fid) gerade an biejem 
Tage ein fleiner Farbenhändler gemeldet, 
der wegen einer unbezahlten Rechnung mit 
dem Gericht drohte. 

Frau Dewerth meinte unaufhórlid. Sie 
hatte bereits von verjchiedenen Belannten 
in der Stadt Summen geborgt und verlangte 


348 Feel Wilhelm Hegeler: sees 


nun von Annie, daß diefe Frau Botelmann 


um Das erforderliche Geld angehen folte. 


Aber Annie erwiderte, lieber möge es zu 
einem Prozeß tommen. Schön, alfo bas war 
das Ende! Das bedeutete ben Geridhtsvoll- 
gieher, einen öffentlichen Standal, Schimpf 
und Schande. 

Endlid verfiel Frau Dewerth auf den 
Ausweg, fid) an Klaus zu wenden. Hans 
hatte ihr früher einmal geraten, falls irgend» 
welche Möbel oder Gegenjtande aus den 
Sammlungen verfauft werden Jollten, feinen 
Freund an Rate zu ziehn. Das fiel ihr jest 
wieder ein. Gie felbjt tonnte jid) nicht vom 
Sofa rühren. Und nebenan fak der Farben: 
händler. Jn biejer verzweifelten Lage ließ 
Annie fid) bewegen, den verhaßten Gang 
nod) einmal zu tun und Klaus mehrere 
Stiche zu bringen. 

Cie hatte gujammengerafft, was fie fand, 
_undes waren zufällig wenig wertvolle Gaden. 
Gr. bot einen viel zu niedrigen Preis. 
Raum fähig, ihre fühle und bhodmiitige 
Haltung zu bewahren, nannte fie die Summe, 
bie ire Mutter brauchte. Er erflärte fofort, 
ba es [id) um eine momentane Berlegenheit 
handelte, jo ftánde die Summe zur Ber: 
fügung. Die Stiche brauche er gar nicht. 
Uber fie wollte bas Darlehn nicht annehmen, 
jondern erklärte, fie würde morgen andere 
Stiche bringen, um ben Kaufpreis zu erzielen. 
Ohne Einwände zu maden, war er aud 
dazu bereit. Er merkte ihre Verlegenbeit 
unb war flug genug, ihr durch duBerjte 
Zurüdhaltung den Auftrag zu erleichtern. 

Annie hatte faum den Laden verlafjen, 
als Meufinger erjchien und fragte, ob Runden 
dagewejen jeien. Zufällig hatte es an biejem 
Nachmittag ziemlich viel zu tun gegeben, und 
Klaus jtattete umitándlid Rapport ab, wo: 
bei ibm bie merfwürdige Unruhe feines Brot: 
herrn auffiel. Meufingers Hände fingerten 
an den jpedigen Aufichlägen des [djwargen 
Gebrods, den er über den hellen Beinkleidern 
und Der gleichfarbigen Welte trug, oder 
bohrten fid) in ben Zwilchenraum zwijchen 
Hals und Kragen oder fuhren unter feine 
Achlelhöhle, als wenn es ihn überall judte. 

Plötzlich febte er ſich feinem Gebilfen 
gegenüber auf den Ladentijd und fragte, 
die Arme verjdranfend, mit hochgezogner 
Stirn: „Und das blonde Fräulein in Trauer?” 

Klaus überlegte, ob Meufinger ihn etwa 
beobachtet hätte. „Welches blonde Fraulein ?“ 

„Die — bie Jogenannte Dame in Schwarz.“ 

Ach, bie — aber woher wijjen Sie denn 
von der?“ 

„Ich frage Sie. Heraus mit der Sprache!“ 

„Selbjtverftändlih! Wher warum fo un: 
freundlich? Da war "ne Dame in Trauer.“ 


„Ich will wilfen, wer das war.“ 

Klaus zudte die Achjeln. „Irgend jemand. 
Sd) weiß jelbjt nicht.“ 

"Bas wollte fie?” 

„Aber bas wijjen Cie doch eben jo gut 
wie id. Gie waren ja nebenan.“ 

Menfinger rieb die Handflädyen aneinander, 
fuhr fih über bas Gefiht, auf dem es wie 
in einer Art Veitstanz zudte, bejonders ber 
unrajierte Unterkiefer machte jcheußliche Bes 
wegungen. O, feine wahnfinnige Aufregung! 
Nur Rube, damit er diejen Schuft Heintriegte!.. 
Er hatte Klaus [Hon feit Wochen belauert. 
Gin gegenftandslofer Argwohn, gezeugt aus 
Bosheit und Neid, liep ibm feine Ruhe. Es 
wurmte ihn, dak Klaus in die Höhe fam, 
gute Anzüge trug, Mitglied eines Shads 
Hubs und einer Gefelljdjajt für Altertums: 
tunde war, — ibn, Meufinger, hatte man 
nicht aufgenommen — und überhaupt ein 
jo felbftbewuftes Mejen zur Schau trug. 
Gedudt mußte er werden und die Furcht des 
Herrn fennen lernen. Das wollte er! Aber 
nur nicht zu weit gehn! Nur fid) nicht hin» 
reißen laffen! Einen be[feren Gebilfen, einen 
jo gejdidten jungen Dann, befam er ja nie 
wieder. Wm beiten wars vielleiht, man 
drüdte überhaupt ein Auge zu, dedte den 
Detel uidt ab von den Geheimniljen bes 
Haufes Meufinger... Aber es [d)jnürte ibm 
bie Bruft zu. Er erjtidte dran. Er zitterte 
vor Wut bei dem Gedanten an bie hoch» 
miitige Viſage bieles Burſchen. PBlóBlid 
griff er in bie Rodtajdhe. Wenn er jebt 
eine Zigarette rauhen könnte, um fid zu 
beruhigen! Aber er fand feine. 

„Sie — Gie — lajjen Sie die Witze! Die 
Dame bat Ihnen CStide verfauft. Wo 
find [ie ?^ 

"Ja, wo find fie nur?“ erwiderte Klaus 
unb begann auf dem Ladentifd au Indien, 

„Sie willen redt gut, daß fie nicht bier 
find. Sie haben fie ja jelbft fortgejchleppt. 
Gie Bauner!“ 

„Aber Herr Meufinger, wir wollen dod 
jolhe Ausdrüde lieber vermeiden. Ich bin 
wirklich nicht daran gewöhnt. Wenn Sie's 
denn willen wollen, die Dame ijt eine Bes 
fonnte von mir. Jd) habe ihr Geld geliehen, 
und fie bat mir die Ctidje zum Pfand Da: 
gelajjen.“ 

„Und den Schwindel fol td) Ihnen glauben? 
Sie grüner Bengel! Sie Cinfaltspinjel! Mich 
beihwindeln? Sie müßten bod) Lyonel Mens 
finger tennen.” 

„Leider Gottes, ja, den fenne ich.“ 

„Alſo geben (Cie die Stiche heraus!” — 
„Bedauere.“ — „Nicht?“ — Klaus [doiittelte 
lähelnd den Kopf. — „Bringen Sie mid) 
nicht zum Rajen. Ich mein’s gut mit Ihnen. 


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Sd) habe Mitleid. Aber wenn Gie nicht 
parieren —“ 

„Richt dod!” fagte Klaus kühl und ent: 
fernte Meufingers Hand von feinem Jadett, 
„Richt diefe Intimitáten! Ein bißchen mehr 
Diftanz, wenn id) bitten darf.” 

„Ein bißchen mehr Dijtanz!” affte Meus 
finger ibm nad). „Sie mit Ihren verfludten 
Redensarten! Ich werde Ihnen bie Dijtanz 
(don beibringen. Wenn ich Ihnen fagte: 
Koffer gepadt unb 'rausmarjchiert! — dann 
hätten Cie vielleicht genug Diftanz, was?“ 

„Soll das heißen, daß Sie mir fünbigen ?" 

„Nein, aber daß ich Sie hinausfchmeißen 
fann — wenn id) will. Diejer Handel mit 
den Gtidjn ijt eine Unterjchlagung. Ich 
tann bie Polizei Ihnen auf den Hals hegen 
-- wenn id) will.” 

„Sept find Cie aber wirklich grotesf. Gie 
[predjen von Polizei? Gie haben’s nötig. 
Wenn bier die Polizei Herfommt, dann in- 
terejjtert. [te fid) für gang andere Leute als 
für mid. Dann fiebt fie erft mal nad), wer 
da hinten wohnt — ohne Anmeldung.“ 

Meufinger fuhr zurüd und wand und bog 
fid. Gein Kopf ſchraubte fid) auf bem bürren 
Hals in die Höhe, feine Hände ſchwollen in 
den Hojentafchen zu diden Klumpen an, und 
aus dem Zwiſchenraum zwilchen Beintleid 
und Weite quol das faltige Hemd hervor. 

„Das — das find ja Drohungen!” faudte 
er. „Das — ijt ja — ein Romplott! Ihr 
Sdufte! Ihr Aufrührer! O, diejer Stráfling! 
Diejer Zubtháusler! — Der fol mir büßen !“ 

Klaus, der jofort feine Selbſtbeherrſchung 
wiedergewonnen hatte, vertrat ihm den Meg. 
,Sajjen Sie den alten Mann zufrieden! Der 
bat nicht bas geringfte getan.“ 

Uber Dieufinger rannte zur andern Tür 
hinaus. Nad einem Moment des Zögerns 
eilte Klaus thm nad. 

In bem von einer Petroleumbangelampe 
nur auf einen engen Umfreis erhellten Raum 
jah Klaus, wie Meufinger den jdwaden und 
zu Tode er|djrodenen Greis, ber an dem 
Heinen Gasherd ftand, wo auf einer bláu- 
lichen Gasflamme, zwiſchen Leimtópfen und 
Sadtiegeln fein 9Ibenbejjen jchmorte, an den 
Schultern gepadt hatte und unbarmberzig 
Ihüttelte, während er ihn zugleich mit den 
niedrigften Schimpfworten überhäufte, ihn 
mit der Polizei bedrohte unb ſchwor, er würde 
ihn an den Haaren aus bem Haufe jchleppen 
und in die nüd)te Goffe, werfen, damit er 
dort verredte. Dieje Robeit ließ Klaus jede 
Rückſicht vergefjen. Er ergriff ben exften beiten 
Gegenftand, einen Hobel, dann, als er bes 
Alten eichenen Krüdftod bemerkte, diefen und 
HB ihn mit folder Wucht auf Meufingers 
Rüden niederfaufen, daß der, wie ein Hund 


aufheulend, gujammenbrad. Darauf nahm 
er Bóger auf feine Arme und trug ihn fat 
auf das hinter einem Bretterverjchlag jtehende 
Bett. „Armer Kerl!“ tröftete er ben Röcheln— 
den. „Hat Ihnen einen jchönen Sdreden 
eingejagt. Aber nur feine Angſt. Der wird 
Ihnen fein Haar mehr frümmen. Gie auf 
die Straße werfen, nahdem Sie ihm hunderte 
und aber hunderte verdient haben, Das wäre 
ja nod) ſchöner! Kommen (Cie, ich made 
Ihnen die Weite auf, bann friegen Cie beier 
Luft. Einen Moment, erft wollen wir mal 
Licht machen.” — Gr zündete eine Kerze an. 
— „Sp... Coll id) Ihnen den Kopf nicht 
ein bißchen höher legen? — Geien Gie [till !^ 
wandte er fid) an Meufinger. „Lafjen Gie 
bas verfludte Flennen! — Go gebt's [Hon 
ein bißchen beffer, was?“ fragte er bem 
Alten, deffen freiliegende magere Brujt unter 
dem ‘Blies von grauen Haaren auf und 
nieder flog. Kopffchüttelnd wijchte er ihm 
den in Strömen hervorbrechenden [alten 
Schweiß aus bem Beficht, indes er ibm mit 


- linden Worten Zrojt gujprad. Als er dann, 


um Majjer zu Holen, an dem nod immer 
auf dem Boden liegenden Meufingers vor: 
beifam, verjtártte diejer fein Jammern wieder 
zu lautem Heulen. 

„Donnerwetter,” fagte Klaus, „wenn Gie 
nicht ftill find, dann gibt's nod "ne Tracht 
Prügel.“ 

„Ich geh’ auf die Polizei!” ſchrie Meufinger. 

„So? Dann werden fie aber jo bald nicht 
wieder zurüdfommen. Diesmal gibt's 
mindeftens jechs Jahre. — Go ein Monjtrum 
wie Gie nennt den armen Mann einen 
Ctrold) und Zudthausler. Was hat er denn 
getan? Ginmal hat er getan, was Gie fort: 
während getrieben haben. Ob ich die Leute 
mit faljden Banknoten oder mit faljchen 
Bildern betrüge, bas fommt auf eins heraus. 
Nur daß er fein ganzes Leben dafür gebüßt 
bat, und Cie haben gepraßt und gejchlemmt. 
Aber nehmen fie fih in acht.“ 

Als er dann wieder an das Bett trat, 
um Bóger bas Glas zu reichen, jah er, daß 
Diejem weder mit Wafjer, noch jonit mit 
einem irbijden Labjal gedient war. Er 
hatte nod) nie dem Sterben eines Menſchen 
beigewohnt, aber die Veränderung in dem 
Geſicht, ber Blid voll unjäglicher Angjt, das 
furdtbare Röcheln waren fo unvertennbar, 
daß Klaus begriff, was hier am Wert war. 
Gein Grauen überwindend, in Diejem ein» 
faden Bedürfnis, bie Todesangit ber Kreatur 
zu lindern, legte er feinen Arm um bie 
flatternden Schultern und wilchte ben Schweiß 
aus bem [hon verfallenden Geficht. Die 
plumpen Hände griffen in die Luft, fielen 
ihwer hinunter, hafteten wieder empor, als 


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„Berlangen Gie, was Cie wollen, aber 
lajjen Sie mid) nit im Stich!“ 

Meufinger flammerte fih an Klaus, ber 
fid) erhoben Hatte, feft und warf fih vor thm 
auf bie Knie nieder. „Laſſen Sie mid) nicht 
im Stih. Sch flehe Cie an. Um alles in 
der Welt, helfen Sie mir!” 

„Sind Gie ein Hundsfott! Stehen Gte 
wenigftens auf. — Was zahlen (ie, wenn 
ich bie Leiche wegichaffe? Sch made die 
Gabe ganz allein. Gie brauchen fid) um 
nichts zu kümmern.“ 

„Bravo!“ ſchrie Meufinger, wie neubelebt 
aufipringend. „Bravo! ©, id) habe Cie 
immer für einen jogenannten Pradtferl ae: 
halten. — Ajo was verlangen Cic? Aber, 
lieber Freund, meine Barmittel find fnapp. 
Was id) verdiene, fliegt auch wieder hinaus. 
Und — bedenken Sie, dies Malheur mit 
dem armen Boger, das bedeutet ja allein 
einen Berluft von vielen tanfend.” 

„Da tommt's alfo auf ein paar taujend 
mehr nicht an," erwiderte Klaus und nannte 
eine Summe. 

Ein erbittertes Feiljchen begann. Mehr: 
mals drohte Klaus fortzugehn, ehe Meu- 
finger einwilligte, die Hälfte der geforderten 
Summe zu zahlen. Klaus riet bem Antiqui- 
tátenbánbler, ruhig zum 9Ibenbejjen zu gehn, 
bis zum Morgen würde alles bejorgt fein. 
Er jelbft begab fid) in eine Heine Kneipe, in 
der er an guten Tagen manchmal zu Abend 
aB. Er traf dort den Baron von Schwärzell, 
einen Belannten vom Gdjadjflub, mit bem 
er bis nad) Mitternacht zufammenblieb. Auf 
dem Wege ins Café erflärte er, nod) ein 
Rendezvous zu haben, dod) würde er in einer 
Inappen Stunde nadfommen. 

Um diefe Zeit lag bie Gaffe ber Altitadt 
gänzlich menjchenverlaffen. Klaus überwand 
fein Grauen und lud fid) den Toten auf die 
Schulter, indem er grimmig badjte: sic itur 
ad astra... und begab fic) nad) getaner 
Arbeit in das Café, wo er fid) mit einem 
Rognat ftártte. Darauf begleitete er den 
Baron, der ihn wiederholt zur Belichtigung 
feiner Wappenjammlung aufgefordert Hatte, 
in deffen Wohnung und febrte erft, als 
bereits der Tag graute, nad) Haufe zurüd. 

Einig hundert Schritte von bem Antiqui- 
tátenladen entfernt gewahrte er vor einer 
Tür eine Heine Anjammlung von Martt: 
weibern unb Fabrifarbeitern. Cid) über bie 
Köpfe der Neugierigen beugend, jah er auf 
ber unterften Treppenjtufe eine fauernde 
Geftalt, deren Gefiht von dem verjtaubten 
Hut verdedt war. Stod und Ranzen lagen 
daneben. 

„Ein Mord?” fragte Alaus. 

„Ach wo,” ermiberte ein Kutſcher von ber 


Höhe feines Wagens. „Ift ein Yandftreicher. 
Sit ganz friedlich geftorben.” 

Klaus begab fih zur Tochter Bógers, 
handigte ihr ben Bruftbeutel aus und bes 
richtete, was gejdehn war. Er gab thr den 
Rat, fid) entweder gleich an den Fundort 
des Toten oder [pater zur Polizei zu begeben 
und dort ihren Vater zu refognofzieren. Gie 
war eine verjtändige Frau, und er brauchte 
nicht zu befürchten, daß fie etwas verriet, 

88 8e 

Wenige Woden fpäter fiindigte Klaus. 
Meufinger madjte ihm die verlodendften 
Angebote, um ihn zu halten. Aber er lehnte 
ab, da er fich inzwilchen eine gut bezahlte 
Stellung in ber erften Runft: und Antiqui: 
tätenhandlung der Stadt, bei einer alten 
und matellojen Firma, verjdjafft hatte. Aber 
ehe er den often antrat, madjte er von 
jeinen Gr[parnijjen eine längere Reife nad) 
Siiddeutidland und von dort über Kaffel 
und Dresden nad) Berlin. Er wollte feinem 
theoretiihen Wiſſen durch bie Anſchauung 
das Fundament [djajfer und ftudierte eins 
gehend bie großen Muſeen und Bildergalerien. 
Nah Berlin brachte er Empfehlungen an die 
Beliker einiger Privatfammlungen mit, und 
feine Tage waren fo ausgefüllt, daß er nicht 
gleich dazu fam, feinen Freund aufzujuchen. 
Menigftens redete er fid) bas ein und täufchte 
[id vor, es verlobne fih nicht recht, Sans 
von feiner fojtbaren Zeit viel zu opfern. 
Im Grunde aber war es fein jchlechtes Ges 
willen, bas ibn den Freund meiden hieß. 
Nachdem bieje Scheu aber einmal überwunden 
war, machte fid) die alte Anziehungskraft 
wieder geltend, und bie beiden verbrachten 
mehrere Abende zujammen in endlofen Ges 
Iprächen. Hans hatte, wie er Annie gejchrieben, 
allen blauen Träumen Balet gejagt und jein 
bisher von Launen gejchaufeltes Leben in 
geradem Kurs aufs Bhiliftergeftade gerichtet. 
An diejer Wandlung war nicht nur bie 
Liebe, die fein Verantwortungsgefühl ges 
wedt batte, ſchuld. Er wußte felbft nicht, 
was ihn eigentlich auf diefen Weg geftoBen 
hatte, von dem er fühlte, daß er nur ein Um- 
weg fein fönne, War’s ſchließlich auch nur eine 
neue Kaune? Cine neue Betäubung? ... 
Uber er gab fih einfach dem Triebe bin, 
der ibn nötigte, feine vielgeftaltigen Gebn: 
jüchte zu vergewaltigen, fih unter bie Fuchtel 
zu nehmen und in das langteiligite Stu— 
pium fid) zu verbeißen, als müßte er zeigen, 
daß er aud) bas bewältigen Tünnte, 

Uber das Erftaunliche war, daß gerade 
das, was nad) feiner Meinung ihn zum Phi- 
lifter berridjten folte, ihn zum Gegenteil 
davon madte. Indem er feinen Geift wie 
in einer Art Zwangsdreifur für den größten 


3 


359 LSS] Wilhelm Hegeler: seess 


Teil des Tages auf das Enge und Befons 
dere richtete, weitete er ihn nur, verftártte 
die Schwingen feiner Gehnjucht, verfeinerte 
feine Eindrudsfähigfeit. In der mindijden 
Haft wurde ber Nechtsftudent zum Lebens: 
ftudenten. Obwohl er nad) beendigtem Rol: 
leg felten feine Rlaufur verließ und von ben 
vielfachen Berliner Beziehungen nur geringen 
Gebrauch madte, jonbern lieber die Stätten 
aufjudte, wo das Bolt feine Nöte und Fors 
derungen laut werden ließ oder Gonntags 
„in Lärm und Luft der Woche Dual” zu 
vergefjen juchte, fühlte er fih dennoch von 
dem Chaos der ungeheuren Stadt umbrobelt 
und nahm mit gejhärftem Auge und nad 
benflidjem Ohr bie verworrenen Gtimmen, 
die ibm von überall her entgegenjchlugen, 
in fid) auf. 

Auf Rlaufens Wunjd Hatten die beiden 
yreunde fid) für den erften Abend in irgend- 
einem Rabaret verabredet, wo fie bei par: 
fümiertem Mojelwein in tiefen Klubjejjeln 
jagen, unbequem vor allzuviel Bequemlich- 
teit, geblendet durch bas wie fliijjiges Feuer 
von der Dede triefende Licht, und vergniigt 
den über die Bühne wirbelnden Tänzerinnen 
gujaben oder fid von einem Romifer zum 
Laden bringen ließen. Im Bewußtjein 
feines zieljicheren Ctrebens, das ibm and) 
¡hon einige Erfolge eingetragen hatte, ſchlug 
Klaus dem Freund gegenüber guer[t den 
Ton leichter Überlegenheit an. Er erzählte 
viel von feiner Mujeumsreife, ſchwärmte von 
bem Kulturzentrum Berlin, von den Reid» 
tümern und Runftjchäßen feiner PBrivatjamm» 
lungen, die freilich nicht dem erften beften 
guganglid) waren. Aber nad) und nad ge: 
riet feine Unterhaltung auf eine etwas flache 
unb hbandelsmäßige Bahn, indem er nichts 
zu berichten wußte, als welche Gegenftánde 
gerade Mode waren, wieviel fie früher ges 
foftet unb was jebt dafür geboten wurde. 
Schließlich war es Hans, der dem Beipräd) 
zu einem bejjeren Fortgang verhalf, indem 
er Die Frage aufwarf, warum denn diefe 
und jene Runftichöpfungen augenblidlid ges 
(übt und andere, nicht minder gute uns 
beachtet blieben, und dies enge Gebiet in 
den Julammenbang mit dem allgemeinen 
Zeitempfinden brachte. 

Als fie dann Deimgingen, [prad) er von 
bieler Zeit, wie er fie empfand und begriff, 
von bieler erlebnisgierigen und fo todes: 
fühtigen Zeit. Man war fránfer als trant: 
hyſteriſch. Vol Überdruß und Giel an den 
Leiftungen ber legten Vergangenbeit, an 
Technik und Wifjenfdaft, fonnte man fih 
bod) nicht davon Iosmadjen. Man er[tidte 
im Reidtum. Man frie nach Befreiung 
des Geijtes. Aber was war Ddiefer Geijt? 


Jeder verftand darunter etwas anderes. 
Seder hatte fein Spezialevangelium und 
feiner glaubte an das des anderen. 

Uber bas fei eben bie Größe und Eigen- 
art der Zeit, erwiderte Klaus, ihre Biel: 
feitigfeit und Borurteilslojigfeit, bie jedem 
freie Bahn Iajje. Go feien denn auch überall 
neue Kräfte am Wert. 

Alſo aud) Klaus gehörte zu den Lob: 
preilern der Gegenwart? Mber bei folden 
Worten müffe er immer am den Römer 
Symmadus denten, ber [d)rieb, das goldene 
Zeitalter fet angebrochen, und wenige Jahre 
ipáter gerbrad) 9flarid) bie Mauern Roms. 
Wenn das Neue, bas im Entjtehen fei, wirt» 
lid) neu fet, jo würde es als Katajtrophe 
tommet Oft wenn Hans in feinem Sims 
mer die Gleftrijche nachts vorüberdonnern 
höre, hätte er bas Angftgefühl eines Erd» 
bebens, Wo möge der Boden fid) fpalten, 
um bie 3ufun[t zu gebären? 

Kurze Zeit nad) feiner Riidfehr erhielt 
Klaus von Frau Dewerth einen Brief, 
worin fie um feinen Bejuch bat. Sie hatte 
beichlofjen, einen Teil ber Sammlungen ihres 
verftorbenen Mannes zu veräußern. Da es 
fid um einen größeren Xerfauf handelte, 
madjte Klaus den Borfchlag, bei diejer Ge: 
legenheit die ganze Cammlung zu ordnen 
unb abzufhägen. Er widmete diejem Ge» 
Ihäft mehrere feiner freien Tage. 

Eines Sonntags wurde er zum Mittag: 
ellen dabehalten. Frau Dewerth war von 
auffallender Siebenswiirdigteit zu thm und 
betonte mehrmals, wie febr fie ihm für feine 
Mühe Dant wijje. Annie war zwar recht 
fühl, alles in allem fonftatierte er jedoch mit 
Genugtuung, daß er wie ein zur Gejellichaft 
gehöriger Gaft und nidjt wie ein Menjch, 
der einen gejdjájtlid)en Auftrag erledigte, 
behandelt wurde. Nah Tilh 30g Frau 
Dewerth fich zurüd, und Klaus bat Annie, 
ibm etwas vorzujpielen. 

Er verftand nidts von Muſik und hörte 
taum zu. Aber defto hingegebener verjentte 
er fid) in Annies Züge, deren reine Muss 
prügung in bem refleftierenden Licht des 
Ihwarzpolierten Fliigeldedels etwas jtatuen« 
haft Sbealijiertes befam, während dod bas 
leichte Atmen ihrer Schultern unter dem 
dünnen Flor ber Halbtrauer ihr Leben pert» 
riet, mit allen feinen rätjelhaften Strömen, 
deren Ahnen wie in einer geheimnisvollen 
Wedhjelwirfung aud die verborgenen Ströme 
feines Innern ftárter raufchen ließ. 

Es war überhaupt eine Stimmung wie 
gemadt zum Träumen, wie gemadt, um 
Brüden zur Vergangenheit zu ſchlagen und 
Vergleiche zu ziehen. Er hatte bie Häufer 
viel reicherer Leute betreten, aber diefe Räume 





Entführung 
Gemälde von Prof. Julius Diez 


SSSSSSSOSSSSSSSSSTSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSTSHSSSHSDSSSSSSSSSOSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSESSSSSSSSSSSSSSSSSSSESSESCSSSS 














EES) Zwei Freunde B2323233233333335331 353 


mit ihrer von einem Riinftler und Sammler 
geldaffenen Pract erwedten nod) immer 
die ehrfiirdhtige Bewunderung feiner Kinder: 
zeit. Nun war er hier wieder als ebenbür- 
tiger Gaft eingetebrt, feitoem das Unglüd 
ibn daraus vertrieben, er, der Sohn bes 
armjeligen Zuchthäuslers! Bor einem Jahr 
nod) wäre ihm eine ſolche Stunde als ein 
Traum von ausjchweifender Kühnheit ers 
ſchienen. Hatte fid) damit ber zerbrochene 
Ring feines Lebens nicht wieder gejchlofjen? 
Und waren jet nicht nod) fühnere Träume 
erlaubt? Moblig zurücgelehnt, erhigt von 
ben Weinen und bem guten Mittageljen, malte 
er fid aus, daß er einmal als Herr hier 
waltete, BefiBer bes Haufes, Beliger Der 
Möbel, Beliter diejes jchönen Mädchens vor 
allem. 

Es war, als wenn Annie feinen Blid 
fühlte und feine Gedanken erriete. Plötzlich 
\hloß fie das Klavier. „Ich glaube, id) 
langweile Sie mit meinem Spiel.“ 

„Aber nicht im geringiten!” erwiderte er 
beftiirgt. 

Sie erhob [id unb nahm ihm gegenüber 
. SBla& an bem mit Zeichnungen bededten 
Tiſch. „Erzählen Cie mir lieber nod) etwas 
von Hans.“ 

Er hatte [eine Reife und das Zujammens 
treffen mit dem Freunde bereits umjtändlich 
beichrieben, aber geborjam willfahrte er. 
Mit keinem Mort ließ er burd)bliden, daß 
er das Verhältnis der beiden burdjjdjaute. 
Geine Stimme wurde warm und entglitt 
nur dann und wann in zögernde Hinter: 
haltigteit, während er von feiner Verehrung 
für Hans fprad. 

Was für ein felbftlofer, treuer Freund! 
Er, Klaus, hatte das ja am beiten erfahren. 
Auf der Schule Hatten manhe Kameraden 
ihn langweilig gefunden. Gie hatten feine 
reiche Begabung einfach nicht erfannt. Und 
bann war er fein Gejelichaftsmenih! Cin 
echter 9torbbeut|d)er, gang anders als diefe 
Rheinländer. Er würde es vielleicht ein 
bißchen ſchwer haben im Leben, da er an 
einer allzu großen Beſcheidenheit und einer 
gewiffen Bajfivitát litt. Aber war es ſchließ— 
lid) nötig, daß jeder fih eine glänzende Po: 
fition erfämpfte? Konnte man nicht aud) in 
beicheidenen Verhältniſſen gliidlid) fein? 
Und [o ftelle er fih feines Freundes Zulunft 
vor. Für bie Regierungstarriere pafte er 
nicht, aber als Richter in eine hübjche Mittel: 
ftadt. Tagsüber Pflicht, abends pflegte er 
feine Blumen — er war ja ein großer Garten: 
freund — und lebte feinen fiinftlerijden Inter: 
ellen. Ach, er beneibete den Freund, ber 
nicht ein bißchen von dem Materialismus der 
Zeit angeltedt war. 


Ohne ibn zu unterbrechen, hatte Annie’ 
zugehört. Rein Wort, das nicht der Wahr: 
heit entjpradj! Rein Wort, das nicht wie 
Anerkennung Hang! Und bod) jpürte fie unter 
allem Neid, Überhebung, peinliche Herabe 
ſetzung. Aber er ließ ihr feine Zeit gum Mad»: 
benfen. Während er, den Kopf aufjtügend, 
fid vorbeugte und fie mit bemütig [meis 
delndem Blid anjab, begann er von ihr zu 
Iprechen. Wie leid tat es ihm, daß fie ihn 
niemals wieder in feinem Geſchäft befudt 
hatte! Jedesmal, wenn eine bejonders [Hóne 
Roftbarteit durch feine Hände ging, mußte 
er an fie denten, unb es jchmerzte ihn, bas 
Gtiid nicht aufheben zu können bis gu dem 
Seitpuntt, wo fie fid) einmal einrichten wirde. 
Denn fie war ja bie geldjaffene Befiberin 
diejer erlefenen Dinge. 

„Ach Gott, diefer alte Rrimstrams!” fagte 
fie wegwerfend. „Ich babe nicht bie ges 
ringjten Sammlerneigungen. Ich werde mid) 
einmal ganz modern einrichten.“ 

Gr [dien zu ftugen. Gewiß, fie war ein 
moderner Menjd. Gie liebte den Sport. 
Sie liebte das tongentrierte Leben und die 
raſche Folge der Gegenfáge. Wenn ihre 
Eltern gemádlid in der Equipage gefahren 
waren, wollte fie im Auto fliegen. Aber 
wenn fie ihre gulünftige Villa nod) fo mos 
dern einrichtete, mit allem raffinierten Rome 
fort — für die Räume, denen [ie bas Gee 
präge gab, für die hatte Das moderne Runfts 
gewerbe nod) feinen ebenbürtigen Gtil ges 
Ichaffen. Für fie tam nur bas 18. Jahrhun- 
dert in Betrabt, das ewig vorbildliche 
Sahrhundert der großen Dame, 

Annie lahte ihm ins Gefibt. „Billa — 
Auto — raffinierter Komfort — woher wifjen 
Cie, daß ich bas alles will? Vielleicht ziehe 
id ganz einfache Verhältniffe vor.“ 

„Wirklich? Da müßten Gie aber ganz 
andere Eigenichaften haben, als Cie bes 
figen.“ 

„Woher glauben Cie eigentlich, mid) zu 
tennen ?” 

„Sch feb's Ihnen an. Man tann eine 
Orhidee nicht aufs Feld pflanzen und Cie 
nicht in einfache 9Berbáltnijje." 

„Warum niht? Mit einem Menfden, den 
man lieb hat —“ 

„Glauben Cie wirtlid, Cie fónnten von 
Gefühlen leben? Cie — tibl wie Glas, wenn 
aud nicht [o burdjfidjtig. Sie, in Luxus 
aufgewadjen!” 

„Sch babe mit meinem Bater monatelang 
in einer Heinen Filcherhütte gelebt und mid) 
volltommen glüdlich gefühlt.“ 

„Wie die Marquife bes 18. Jahrhunderts 
in ihrer Schäferhütte. Aber leben Gie dies 
Schäferſpiel nur über einen Winter fort. — 


354 Wilhelm Hegeler: Zwei Freunde BSSSsssssssss 


Nein! Mein! Heute ſchätzen Cie Luxus und 
große S9Berbáltnijje gering, weil Cie das 
Gegenteil davon nicht fennen. Ich wünſche 
Ihnen, daß Cie es niemals tennen ler: 
nen, Cie blieben dann bie nicht, die Cie 
find.” 

„Sch bewundere Ihre Pſychologie,“ erwis 
derte fie ruhig, gang ohne Spott. „Aber da 
Sie nun von Hans und mir eine fo treffende 
Charatterijtif gegeben haben — was [tnb 
Cie jelbft für ein Menih? Es würde mid) 
intereffieren, wenn Cie es mir fagten. Ich 
habe mid, offen geftanden, nod nicht mit 
Ihnen bejdjájtigt. Aber nad) Ihren Worten 
find Cie ja wohl einigermaßen angeltedt 
vom Materialismus der Zeit.“ 

„Barum fol ich bas leugnen?” 

„Sie wollen alfo reich werden?“ 

nod wils und werde es auch.“ 

„Und dann werden Gie fid) alles an: 
Ihaffen, was Ihr Herz begehrt. Cin groß: 
artiges Haus. Cin Auto. Cine jchöne 
grau.” 

„Nicht irgendeine [djóne Frau, jondern” — 
fein Blid glitt von Annie ab, aus dem 
yenfter, ins Bage, während er leicht errótete 
— „das Mädchen, das ich liebe.” 

Ein Saud ging über fie hin, eine ganz 
finnlofe Vermutung, er könnte fie meinen... 
eines Stäubchens Berührung nur, aber fie 
traf ein gum Zerreißen gejpanntes Herz. 

„Und dies Mädchen werden Gie natürlich 
befommen, dant Ihrem Reichtum? Denn 
nad) Ihrer Auffaffung ift ja für Geld alles 
¿u haben.“ 

„Das babe ich nicht gejagt.” 

„Aber es liegt in Ihren Worten. Wenn 
man einmal materiell denkt, muß man aud 
fonjequent fein.” 

„Sch will nicht Jagen, baB id) bas Mäd« 
den meines Reichtum wegen befomme. 
Aber Reihtum ift immerhin für fie uner- 
läßlich.“ 

„Und damit wäre dann der Fall erledigt,“ 
flog fie in offentundigem Hohn. „Nun 
weiß id) bod), was Gie in Ihrer Laden: 
ede jpintijieren. Sntereffant! Uber ge: 
fábrlid) !” 

„Wieſo?“ 

„Solche kühne Phantaſien können doch 
auf Abwege führen. Haben Sie ſich nie mit 
Verbrecherpſychologie beſchäftigt?“ 

Sein arglos fragender Ausdruck ver— 
finſterte ſich. Er dachte an ſeinen Vater 
und witterte eine Tiefe der Bosheit, die 
Annie gar nicht gewollt hatte. Blitzſchnell 
tauchte ihm eine Antwort auf, mit der er 
ihr heimzahlen konnte. Aber er ſagte nur: 
„Schwache Menſchen Tonnen allerdings bird) 
allzu kühne Ziele auf Abwege geraten, aber 


nicht jemand, ber Recht und Unredht zu unters 
ſcheiden weiß.“ 

Cie [djmiegen. Einige Augenblide fpáter 
wurde Bejud) gemeldet: eine Freundin An: 
nies und deren Mann. 

Während fie den beiden entgegenging und 
plaudernd mit ihnen in der Nähe der Tür 
ftehen blieb, [hien fie Klaus ganz vergeffen 
zu haben. Erft nad einer Weile ftellte fie 
ihn mit betonter Nadlájfigteit vot: „Herr 
Ebenjtod, ber meiner Mutter beim Ordner 
der Sammlungen hilft. — Lajjen Cie fih 
nicht ftóren! — Kommt, wir wollen in mein 
Zimmer gehn.“ 

Sie ließ ibn allein, ber in finfteres Brüten 
verjant und Später Frau Dewerths Gin: 
ladung zum Abendejjen ablehnte. 

Wieder hatte er fic wie ein Narr bes 
nommen. Und er würde fic) jedesmal wie 
ein Narr benehmen, fo oft er mit Annie zu» 
jammentraf. Er würde ihr von jet ab aus 
dem Wege gehen! Die bittere Erfahrung 
vermochte feine Leidenichaft nicht zu vers 
mindern, lófte fie aber noch mehr als früher 
von feinem Herzen. Er gewöhnte fid) daran, 
Annie als feine Feindin zu betrachten, bie . 
es zu befiegen galt, indem er zu Anjehen 
und Reichtum gelangte. 

Geld wurde immer mehr der Mittelpuntt 
feiner Gedanfen. Mandmal fuhr er nadts 
auf und murmelte irgendeine ungeheure Zahl 
vor fid) bin. Er [parte und raffte, Hatte 
feine Augen überall und entdedte auch da 
und dort verborgene Funde, durch bie er 
eintrdglide Nebengeihäfte madjte. Aber 
was bedeuteten dieje Summen im VBerbálts 
nis zu feinen Wünjchen? Wann würde ibm 
je ein wirklich großer Schlag gelingen? Er 
verwünfjchte die Zeit mit ihrem Überfluß an 
Kräften, mit ihrer Konkurrenz überall, die 
jedes Hochlommen hemmte. Er plante, nad) 
Mmerita auszuwandern. Er [prad) von einer 
fommenden Weltrevolution, vom drohenden 
Zujammenbrud, weil er fid) von einem Um: 
jhwung Wunder erhoffte. 

Derweil arbeitete Hans für jein Examen 
und juchte auf feine Weile dem Leben zu 
dienen und feine Zeit zu begreifen. Und 
wenn manchmal der Drud der ungeheuren 
Stadt übermädhtig in ihm wurde und dieje 
oder jene grel auffallende Erjcheinung ihn 
er|d)redte, hatte er wieder bas Gefühl eines 
drohenden Gewitters, eines lajtendDen Kon: 
flitts, der nad) Auflöfung und einer verbal» 
tenen Yngft, die nad) Erlöjung drängte. 
Sie fam rajcher, als er abnte, der Boden 
ipaltete fih, bem Abgrund ent[tieg ein Riele 
ohne Haupt, mit einem Schwert in den 
blutigen Händen. (Fortjegung folgt.) 
88 


Wie England feine 
Go Rolonien teqiett c 
H Bon Prof: Dr. Wilhelm ibelius ee 


vábrenb bes Weltkrieges haben viele 
eutidje gejpannt auf den Tag 
ewartet, an dem die englilchen 
olonien vom Mutterlande abs 
fallen, Indien und Ägypten, Süd» 
afrita, Kanada und Auftralien fid) unabs 
pangig ertláren würden. Gie haben verge: 

ens gehofft: ein furger Krieg in Cübajrita, 
einige gefährliche, aber bie Exiftenz des Welt: 
reiches nicht bireft bedrohende Verſchwörungen 
in Indien waren die einzigen Erjehütterungen 
bes Britijden Reiches, von denen Runde nad) 
Europa gedrungen ijt; während des Rrieges 
ftand es feit. Und jebt, nachdem England in 
bielem Kriege |o Unerhirtes gewonnen bat, 
[heint fih auf einmal bas Reidsgefiige zu 
lodern: Irland hat Homerule erhalten, um 
bas es feit 50 Jahren vergebens getámpjt 
bat, die Bewährung einer ähnlichen Gelbft- 
verwaltung in Indien [djeint im (Pange zu 
fein, und aus Ägypten beabfichtigt England 
E angeblich ganz — Das ver⸗ 

ehe wer da kann! Daß England Länder 
ER: bie es befigt, ift eine |o ungewöhn« 
liche, ber üblichen noeng von Englands 
Sándergier fo jdjnurjtrads widerjprechende 
Erſcheinung, daß wir [oldje Nachrichten un: 
möglich glauben fünnen, daß wir eine be: 
jonders — Heuchelei dahinter zu wite 
tern geneigt find. 

Tatjächhlich ltegen auch bie Dinge nicht jo, 
daß England ernftlid daran bádjte, Irland, 
Yignpten oder gar Indien aufzugeben — das 
genaue Gegenteil ijt ber Fall. Soweit bat 
ber deutſche Beobachter redjt. England 
wünjcht vielmehr, und jehr hervorragende 
Engländer halten es für möglich, dieje Teile 
feines Reiches im englijden Fa eo e zu 
leiten, aud) ohne daß es fie bireft zu beberrs 
[den braudte. Der gewöhnliche Politiker 
tann jid) nur eine Form der Herrichaft denten, 
die Annexion, die Ausübung einer direkten 
ftaatliden Gewalt in den beherrichten Ge: 
bieten. Für England ift dieje Art der Aert: 
Ihaft immer etwas Robes, Unerfreuliches, 
was nicht immer au umgehen war, aber bod) 
in feiner Meije ente soet ijt. Vielmehr 
hat England — und von allen Nationen 
der Welt England allein — die Methoden 
der inbireften Sjerrjdja[t über ein anderes 
Land oder Volt mit einer Meijterjdaft aus: 
Ren bie wohl eine turze Betrabtung vere 

tent. 

Als Spanien, Portugal, Frankreich jid) 
Kolonien ſchufen, da gejchah es unter ber 
Herrihaft von Geftichtspunften, bie nod an 
die Rreuzzugsftimmungen des Mittelalters 
erinnerten. Gewiß trieb in erfter finie bie 
Sucht nad Gold, Reidhtum und Abenteuern 





toen 
gropen, 


in die Ferne. Aber in diejer Ferne wollte 
man aud ein Staatengebilde aufridten, das 
der alten Heimat mógltdjjt gli. In Rana: 
da ki Frankreich einen Staat mit feudaler 
Organijation, mit einer Oberjchicht von ad: 
ligen Rittern über einer Maffe von Bauern. 
Diefer Staat mußte driftlid, b. b. fatbolijd) 
jein; Rekern darin ein Exiftenzrecht zu ges 
währen, wäre bem allerdjrijtlidjten König 
als eine beleibigenbe Zumutung er|djienen. 
Dak die Kolonie Miſſion trieb, pop der Bi- 
jchof eine ebenjo große Bedeutung darin 
hatte wie der Generalgouverneur, war felbjt- 
verjtändlihe Ehrenpflicht. So war es in 
der franzöſiſchen Kolonie Kanada, und im 
portugielijden und |panijchen Südamerika 
war es im wejentlichen ebenfo. Und diefe 
Übertragung europäilcher Begriffe und Dr: 

anijationsformen auf amerifanijches Neus 
and ift ein völliger Fehlſchlag gewejen. 

England dagegen hat — koloniſiert 

erade weil die engliſche Koloniſation 
völlig materialiſtiſch und ideenlos war. Tan 
kann zwei Typen der engliſchen Koloniſation 
unterſcheiden: 

1. Die Kolonie fol unerwünſchte Bevöl— 
kerungsmengen aufnehmen. Als der engliſche 
Staat mit feinen Puritanern nicht fertig 
wurde, geftattete er ihnen, nad) Mafjachujetts 
abzuwandern, um fid) dort nad eigenen Ge: 
danten einen Staat zu zimmern. Das 
Mutterland ift zunächſt froh, wenn es von 
den Roloniften, die als Demokraten und 
Reger zur Deimi|den Sitte nidt pajjen, 
möglichſt e überläßt ihnen die Ber: 
waltung der Kolonie nahezu ganz, [didt 
ihr nur einen Gouverneur, deffen Nechte 
nicht genau begrenzt find, ber mit ben ftets 
widerborjtigen Anfiedlern fertig werden muß, 
o gut er fann. Nur eins verlangt bas 

utterland: bie Roloniften miijjen fid) wirt» 
ſchaftlich in den Rahmen bes englijden 
Reiches fügen, müjjen mit dem Mutterland 
und nur mit ihm Handel treiben. (Als Die 
Umerifaner am Ende bes achtzehnten Jahr: 
hunderts fih diejer Einichräntung zu ent: 
ledigen fud)en, fommt es zum Konflikt, der 
mit ber Unabhängigfeitserflärung von 1783 
endet.) e e Sereen hat das Mutter: 
land niht. Der Gebante, etwa bas Chriften- 
tum unter den Indianern zu verbreiten, liegt 
ibm meilenfern — und ben Anjiedlern nit 
minder. Go un chriftlich fie find, das 
Chriftentum ijt ihr Erjtgeburtsrecht, es mit 
den verfludten Heiden, ben 9Ibtómmlingen 
Hams zu teilen, erjcheint ihnen geradezu 
als Berjündigung. ür eine allgemeine 
Schulpflicht zu jorgen, wäre ein völlig un: 
englijder Gedante gewejen, denn England 


356 Prof. Dr. Wilhelm Dibelius: 


felbft hat fie ja erft 1876 bei fih eingeführt. 
An den Roften der Landesverteidigung durch 
bas Viutterland fudte man die Kolonien 
wiederholt zu beteiligen; als dieje Schwierig» 
leitet machten, IteB man die Gade jchließlich 
wieder fallen. Eine intenfive Regierung bat 
man alio niemals —— verſucht, 
ſondern war zufrieden, wenn England durch 
Handel mit den Kolonien reich wurde. In 
ähnlicher Weiſe hat man am Ende bes adt: 
Monte Jahrhunderts Auftralien als Gtráfs 
ingsfolonie angelegt, fid) aber um bas (Gre 
gehen der Kolonie jo wenig wie möglich 
efiimmert, bat bie Gtráflinge felbft wirt» 
haften lajfen und ift froh gewejen, wenn 
man politild) nichts von ihnen hörte. Aber 
als Auftralien [djfieBlid) gum Wols und 
Goldlande wurde, hat man in England aud 
an biejer Kolonie Vermögen verdient. 

2. Noch deutlicher pem bei dem zweiten 
Giedlungstypus, der Handelsfolonie, die Mo- 
tive des bloßen Geldverdienens im Border- 

runde. Bejtes Beilpiel " Indien. Das 
land wird feit Anfang des liebaebnten Jabrs 
bunderts in die englilhe Einflußſphäre bin: 
eingezogen. Wher man bat gar nicht ben 
Ehrgeiz, es zu erobern. Man will Geld 
verdienen, und imer mit möglichjt geringen 
Gpejen. Alſo feine Flaggenhijjung, feme 
Eroberung, feine Kriege — aud) feine chrifts 
liche Dtijjton. Erft rajtfoje Agitation kirch— 
licher Kreije in England hat es zu Anfang 
bes neunzehnten Jahrhunderts durchgejegt, 
dah bas Chrijtentum in Indien mehr wurde 
als unorganifierte Tätigkeit einzelner bes 
geilterter Individuen. Vian jucht Indien ins 
bireft zu beherrjchen, indem man gute Be: 
iehungen zu den heimijden Herrichern, ihren 
ünftlingen und Minijtern unterhält, indem 
man bei allen Streitigkeiten zwijchen Thron: 
bewerbern und fid) befämpfenden Hofloterien 
dem englandireundliten Bewerber zum 
Giege verhilft, indem man reidlid Gold 
und Ehren fpendet und vor allem indem 
man die Franzojen aus dem Lande Derauss 
manöpriert. Das ijt nicht ganz ohne Kriege 
egangen — aber bieje waren ftets eine 
Paji unerwünjchte Belaftung ber Paſſivſeite, 
fie wurden zudem überwiegend mit indijchen 
Hilfstruppen geführt und ſchließlich in 
Europa entichieden, indem man Friedrid) ben 
Großen gegen Frankreich unterjtiigte. Der 
Spealzuftand, ber aud) in [febr vielen Fällen 
erreicht wurde, war der, daß ein indijder 

ürft ber indischen Sjanbelsgelelljdjajt bie 

úbrung feiner gejamten auswärtigen Ans 
elegenheiten übertrug, dab ein englijder 

efident an feinem sol ihn tiberwadte, dak 
ber Gejelljdaft es geitattet wurde, Handel 
zu treiben, daß man Wegebauten, Plan: 
zungen und Ee des Landes im Jn: 
terejje der Geſellſchaft beeinflußte. Weiter 
reichte das englilche Snterejje nicht; im 
Gegenteil. Hätte man das Land wirklich 
in eigene Verwaltung genommen, fo hätte 
man verantwortlich gemacht werden fünnen, 
wenn ber Fürſt nad) orientalijder Gitte 


feinen Miniftern bie Augen ausftechen ließ 
oder wenn die Gtenerbeamten das Land 
nad) allen Regeln ber Runft ausjaugten. Die 
indirefte Serrichaft genügte für Das was man 
wollte, b. b. zum Geldverdienen. 

Noch heute wird nahezu die Hälfte des 
Landes auf diefe für England hidjt vorteil» 
hajte Weile von einheimijden Fürſten vers 
waltet. Daß England nicht überall diefe 
Berwaltungsmethode eingeführt bat, bat 
mannigfaltige Gründe. o eine [tarte 
Dppolition gegen England beftand, wo 3. Y. 
ranaó[ijder Einfluß mädtig war — und 

as war in ſehr großen Teilen Indiens 
der Fall — mußte England es wohl ober 
übel in eigene Verwaltung übernehmen, 
ebenjo wo bie Su|tánbe im Bebe vers 
worren waren, daß nur eine von Euro: 
püern geleitete Regierung wirklich dauernd 
Ordnung fdjaffen fonnte. Auch wirtichaftlich 
war aus einem europätjch regierten Lande 
iblieglid bod) mehr herauszuholen als aus 
einem in orientaliiher Halbanardie veges 
tierenden. Jn der Berwaltung Indiens 
haben fich daher bie auf dirette Herridaft 
lege unb bie mit inbirefter Beeins 

uj|ung zufriedene Schule immer befampft. 
Daß die erftere unter dem Vizetónig Lord 
Dalboufie (1848—56) eine furze Zeit lang 
bie Oberherrſchaft nn war Ja: lich der 
legte Grund zu dem gefährlichen indijden Auf: 
ftand von 1857. Diefer hat zwar die Engländer 
Dazu gezwungen, das ganze Land zu einem 
Beitandteil bes englildjen Staats — bisher 
gehörte es ber S [tinbijd)en Handelsgejellichaft 
— gu maden, aber bat doch wieder die 
Methode ber indireften Sjerr]djaft zu Ana 
leben gebracht: das Land fol möglichft von 
Indern regiert werden, jo weit dies eben 
möglich ift, ohne die Sicherheit ber englijchen 
Sjerr|djajt zu bedrohen. In der Linie biejer 
Politik liegt es, daß jekt ber Verfud) gemat 
wird, ben Indern europäilche Gelbftverwale 
tung zu gewähren. Es gejchieht dies in 
jebr —— Weiſe, die niemanden in Ins 
dien befriedigt, und Die A liegt 
natürlid) nahe, daß bier ein jchnöder Betrug 
an den Indern verübt werden fol, aber fie 
ilt in Deler form unberedtigt. (England 
denkt natürlidy nicht im Traum daran, fih 
aus Indien zurüdzuziehen und etwa eine 
unabhängige indilche Republif oder ein 
neues Broßmogulreich wieder. aufzurichten. 
Uber dağ die Verwaltung des Landes mög» 
Dt von Indern geführt wird, liegt Durd)s 
aus im englijdjen Snterejje, und England 
ijt geneigt, vorfidtig nad) bieler Richtung 
hin es au verjudhen, obgleich ein jolches 
— immer ein kühnes Experi— 
ment iſt. 

In Indien hat England ſeine Methode 
der indirekten Herrſchaft gelernt und hat ſie 
im Laufe der Zeit an den verſchiedenſten 
Stellen des Erdballs zur Geltung gebradjt. 
Es herrſcht, indem es ſich auf die wichtigſten 
Perſönlichkeiten oder die wichtigſte Bevöl— 
kerungsſchicht eines Landes ſtützt. Der Konti— 


>>> 


nentale denkt babet zunächſt an Beftechung, 
und es fol nicht geleugnet werden, daß im 
Drient das Bold dabei eine hervorragende 
Rolle jpielt. In zivililterteren Staaten tennt 
man feinere Mittel. Die Entente wurde in 
dem Jahrzehnt vor dem Kriege zum großen 
Teil aufrechterhalten durd) die glänzende 
perfönliche Runjt, mit der engliiche Staats» 
männer und König Eduard die leitenden 
Staatsmänner Frankreichs und RuBlands zu 
behandeln wußten. England war während 
des größten Teils des neunzehnten Jahr: 
Bunberts die Nation bes Freihandels und 
des liberalen Fortichritts, ber Vorkämpfer 
für teine oder werdende Nationen wie 
Griechenland, Italien, Dänemark, Belgien. 
Gelbitverjtändlich im eigenen Interejfe; aber 
höchſt erwünjchte Folge war es gleichzeitig, 
daß England dadurd fih zum Bundes» 
genojjen fat aller vorwärtsitrebenden, Tratt, 
vollen Elemente in nahezu allen Staaten 
machte, daß es in allen £ünbern eine eng: 
SE E Partei gab. Und bie Diplo: 
matijden Heiraten — man dente an bie 
deutie Rronprinzejfin zu Bismards Zeit 
und in ber Gegenwart an die englijden 
Königinnen in Spanien und Norwegen — 
hat England immer mit bejonderer Kunſt 
gepflegt. : 

In Englands Intereſſe arbeitet in den 
meiften Ländern — met einfach infolge 
einer natürlichen Interejfengemeinihaft — 
ein wichtiger Teil der Prejje. Sn den Ententes 
ländern |tehen führende Zeitungen wie ber 
Corriere della Sera und ber Matin gwar niht 
im Golde der englijden Regierung, aber im 
Kartell ber Northcliffepreffe, wodurd) ihnen 
ber gejamte Nachrichtenapparat der Times, 
der erjten Zeitung der Welt, zur gung 
jteht und ihnen dadurch eine gewaltige Über: 
legenbeit über andere Zeitungen gegeben wird. 
Serner arbeiten für England überall frei: 
willige Helfer aus den führenden Schichten 
des fremden Landes. In ber Auswahl 
jolder Perjönlichkeiten und Schichten der Be- 
vólterung ijt England vollfommen vorurteils: 
los: jeder ijt willfommen, der felbft poems 
Macht befigt und England dieje Maht zur 
Berfügung ftellt. In England war 3. Y. 
im achtzehnten Jahrhundert der Ratholit 
vom politijden Leben ausgeſchloſſen, beſaß 
nicht einmal das Gtimmredt. Als aber 
bas franzófilbe Kanada im Jahre 1763 
englijd) wurde, jtüßte England fih auf bie 
fatbolildje Kirche biejes Landes. Ihr wurde 
nit nur volle Religionsfreibeit gewährt, 
[onbern der von ihr erhobene Zehnte wurde 
Staatsiteuer, bie Schule wurde völlig ber 
Geiftlibteit ausgeliefert, und noch heute ijt, 
obgleich der Zehnte nunmehr nicht der pros 
teftantijden Minderheit auferlegt wird, der 
franzöfiich - fanadijdhe GSiaat Quebec ein 
Heiner Rirchenjtaat. Die fatholijdhe Geift: 
lichfeit weiß, was fie an bem proteftantijden 
Staate für eine Stüße befigt und ift daher 
im eigenften Interefje allen Abfallsgelüjten 
der Kanadier energijch entgegengetreten, 


Mie England feine großen Kolonien regiert 357 


England berricht, indem es feinen unter: 
worfenen 3Bolfern Freiheit gibt, fie aber 
gleichzeitig daran hindert, diefe Freiheit in 
einem für England ungünftigen Sinne zu 
en Als nad) dem amerifanijden 

efreiungsfriege 40000 Engländer, die ihrem 
Könige treu geblieben waren, aus den Bers 
einigten Staaten ausgetrieben wurden, lie: 
delte England diefe ‚Zoyalifts‘ an den Gren: 
zen des urjprüngli” rein franzöfilchen 
Kanada an und begründete neben dem alten 
Quebec die neuen Kolonien Neujchottland 
im Often und Ontario im Mejten, jo daß 
das franzöfiiche Element nit ungehemmt 
nad) beiden Ogeanen binausfluten fonnte, 
jondern immer wieder el geichlofjene eng: 
life Diftrikte ftieh. Während des ganzen 
19. Jahrhunderts wurde dann eine. ftarfe 
englijde Auswanderung nad Kanada ges 
leitet, wurde 3. B. an der Riifte bes —— 
Ozeans die rein engliſche Kolonie Britiſch— 
Columbia geſchaffen, und bas ganze Neg: 
mert von Siedlungen nördlich der amerts 
tanijchen Grenze wurde |djlieBlid) (1867) zu 
einem gemeinjamen Gtaate, der Dominion 
of Canada, zujammengejchweißt, Das frans 
zöfiiche Element genießt innerhalb ber Dos 
minion in Quebec die abfolute Borherrichaft 
und völlige Freiheit in allen Kultus: und 
Spradenfragen; aud) in den gemijdtipra: 
igen Provinzen wie Manitoba werden bie 
franzöſiſchen Intereffen * gewahrt. Aber 
alle Angelegenheiten, an denen England 
intereſſiert iſt, die Fragen der auswärtigen 
Vertretung, ber Handels: und Sdiffahrts« 
politik, des Heeres, der Flotte find — 
kanadiſche Angelegenheiten, die vom kana— 
diſchen Geſamtparlament entſchieden werden, 
in dem Angelſachſen die Mehrheit haben. 
Das hat ſich im Weltkriege bewährt. Das 
franzöſiſche Element war zwar durchaus loyal, 
Honn aber dem Kriege febr fühl gegenüber; 
ber allgemeinen Wehrpfliht hat Quebec 
heftigen Widerjtand entgegengejegt. Er 
wurde gebrochen, denn im Tanadilchen Parlas 
ment batte die franzöſiſch-nationaliſtiſche 
Partei nicht viel zu fagen. Das Frangojens 
tum bat in Kanada zwar volle Freiheit, 
fann jie aber nicht gegen England verwen: 
ben; es ijt national eingefreift. Genau jo 
geht es den füdafrifaniihen Buren. Es 
war ein meilterhafter Er daß Eng: 
land den Buren nad) ihrer Niederwerfung 
einen Frieden zu beijpiellos giinftigen Bes 
dingungen bot: fie befamen fajt völlige 
Gelbftverwaltung — aber eingefapjelt in bie 
Südafrikaniſche Union, in Der ihnen das 
englijde Bevólterungselement zahlenmäßig 
jo die Wage hält und fie an Reichtum, 

ntelligeng und vor allem politijder (dus 
lung unendlich übertrifft. Auch in Irland 
macht England jet Miene, den Iren völlige 
Freiheit zu geben, nahdem fie einem Vers 
nidjtungsfampfe von mehr als zwei Jahr: 
underten mit bewundernswerter Bie dest 
tandgehalten haben. Aber Irland ijt jest 
nicht mehr allein von Iren bewohnt. Im 


358 Prof. Dr. Wilhelm Dibelius: 


Morden, in der Proving Uljter, bat England 
feit Anfang bes 17. Jahrhunderts eine jolche 
Menge von Englándern und Schotten an: 
geliedelt, daß es wohl hoffen tann, daß dies 
überaus tattráftige und politijd fábige Ele» 
ment imjtande jem wird, aud) in einem 
tiinftigen Parlament von Dublin den engs 
landfeindlichen Tendenzen des fatholijden, 
jüdlichen Landesteiles die Mage zu halten. 

Bor allem aber hält England feine Solo, 
nien mit einer wirtjchaftlichen Klammer von 
gewaltiger Stärke zujammen. Die Lebens: 
adern all feiner Kolonien find bie Eilen- 
bahnen, bie in unendlicher Lange einen gan: 
zen Kontinent oder erhebliche Teile davon 
DER hater ah wie bie fanabildje Pazifitbahn, 
bie Kap⸗Kairobahn, die a ie von Nor: 
den ber bis zum Oberlauf des Nils, vom 
Süden bis zur Rongoftaatgrenge fertig ge: 
ftellt iff, ferner die großen Randle, wie fie 
. B. verichiedenen Teilen Kanadas den An» 
Er an das Lorengftrombeden geben, bie 
tün[tlidjen Bewäfferungsanlagen fü gewijje 
Gegenden Giidafritas, die Feljlengebirgs: 
abhänge Kanadas und verjchiedene Teile 
Auftraliens., UM diefe Anlagen brauchen 
Kapital und dies Kapital finden die Kolo: 
nien in London. Nicht ganz ausjchließlich ; 
aus Ranada a. B. bat man bas ameritanijche 
Kapital nicht ganz fernhalten können, aber 
dod) in febr großem Umfange. Bleiben Die 
Kolonien im englifchen Reidsverband, Debt 
alfo in allen Notfällen bie politiihe Macht 
Englands ſchützend hinter ihnen, fo bieten 
fie eine febr viel ficherere Rapitalsanlage, als 
wenn 3. B. nur Kanada mit feinen auf eine 
Entfernung wie Lijjabon—Cenlon verteilten 
aht Millionen oder gar Auftralien mit feinen 
tiimmerliden fünf Millionen itt, tate 
Sicherheit und Ruhe gewährleiſten folte. 
Ein unabhängiges Kanada oder Auftralien 
würde den Londoner Banten für feine An- 
leihen einige Prozent 3injen mehr prom müſ⸗ 
ſen, das dämpft die Selbſtändigkeitsgelüſte. 
Gegen fremdes, namentlich deutſches Kapital 
in den Kolonien, wenn es mehr will, als 
hier und da ein Handelshaus finanzieren, 
it man immer ſehr a a gewejen, 
Man hat ber Hamburg—Amerifalinie nicht 
erlaubt, Irland — das in Diejem Ju: 
jammenhange wohl eine englijde Kolonie 
genannt werden fann — anzulaufen, man hat 
während des Krieges bas deutjche Kapital 
in Auftralien, bem 3. B. fajt die ganze Bint- 
erzeugung des Kontinents gehörte, rückſichts— 
los gerjdlagen, niht nur weil bie Belegen» 
heit zu einem wirtjchaftlichen Raubzug giinjtig 
eriten, jonbern weil man in der wirtichaft- 
lihen Durddringung der Kolonie bie ftártite 
SES erblidt, bte [ie an das Mlutterland 
ettet. 

Denn der wirtjchaftliche Faktor ijt nicht 
nur eine Maht der Pfunde und Sdillinge, 
jondern er löſt gleichzeitig aud) geiftige 
Kräfte aus. Am Wohlergehen Kanadas tjt 
jeder Engländer intereffiert, der fanadijde 
Bazifitaltien bejigt, und ihre Zahl ift Legion. 


Aber in gleichem Maße auch jeder Engländer, 
dejlen Bruder oder Sohn als Farmer, als 
Ingenieur oder Kaufmann nad) Kanada ges 
gangen ijt, und ihre Zahl ift vielleicht mod) 
größer. Dak umgefebrt faft jeder Kanadier 
und Auftralier in England irgendwelche 
Berwandte bejibt, [Hlingt ein ftartes ideelles 
Band von der Kolonie zum Wiutterlande, 
bas zwar die Kolonien nicht daran hindert, 
ihre wirtichaftlichen und politijden Intereffen 
aud) gegen das Mutterland recht tráftig zu 
vertreten, das aber den Gedanfen an einen 
Abfal nicht recht Bu onen läßt. Der 
nüchtern rechnende Koloniale weiß, daß er 
die finanzielle Unterftüßung bes Viutterlan- 
des — aud) wenn fie von Privaten gegeben 
wird — erheblich billiger hat im bat thet 
band als außerhalb besjelben und Dag ibm 
bie riejige Flottenmaht Englands nahezu 
umjonft zur Gro jtebt, jolange er bem 
Mutterland treu bleibt, ey ak onft Ra: 
nada und Auftralien auf ber Weltbühne etwa 
mit Holland und Belgien an gleicher Stelle 
ftehen würden. 
Und ſchließlich fol man aud nicht vers 
gelen, daß bie ideellen Faktoren aud) ohne 
erquidung mit wirtichaftlicden eine Macht 
find. Bet der Gründung der erften englijden 
Kolonien haben fie — vielleicht abgejehen 
von Raleighs Rolonijation von Virginia — 
fo gut wie gar feine Rolle gejpielt, aber in 
ber zweiten und dritten Generation von 
Maffachujetts, bei der dritten und vierten 
Generation der inbijdjen Kaufleute und Ber: 
waltungsbeamten beginnen [te deutlich ber: 
vorzutreten. Gie |pielen eine Rolle, feitbem 
aud) in bem englijden Kolonien Menſchen 
wohnen, die Bücher und jpäter Zeitungen 
lejen, feit aud) bie Roloniften in bewuktem 
3ujammenbange mit ber Jiationaltultur er» 
zogen werden. Geit etwa 1800 in Kanada, 
1850 in Auftralien — man fann nur ganz 
robe Ziffern geben — beginnt auh in den 
Kolonien bie gemeinjame Sprade ein Band 
mit dem Mutterlande zu jchlingen, beginnt 
He Ideen zu verbreiten von gemeinjamer 
angellächliicher Freiheit und angeljadjijden 
Rulturaufgaben. Seit 1840—1850 etwa pfle- 
gen aud) in der Heimat Schriftiteller, Dichter 
und Hiltorifer — Carlyle, Kingsley, Seeley, 
Kipling — das Bewußtjein, daß die Kolo- 
nien nicht nur ein nüchtern zu bewertendes 
inangobjeft find, fondern ein geiftiger Be: 
8 unb ein WMadtjattor, dejjen ganze Be: 
deutung erft jpäter hervortreten wird, wenn 
Kanada und vielleicht aud) Auftralien und 
Südafrita bem Miutterlande an Moblitand 
und Bevölkerungszahl nabefommen werden. 
Aus dem Heinen europätjchen Broßbritannien 
der Gegenwart und den außereuropäilchen 
Angelfachjenländern der Zukunft [fon jest 
eine geijtige Einheit zu ſchaffen, ift die Auf: 
abe gewejen, an ber etwa feit 1870, feit 
em Wirken des großen Rolonialminijters 
Chamberlain und bes großen Kolonial: 
napoleons Cecil Rhodes, das geiftige (ng: 
land der Gegenwart arbeitet. Die geijtige 


Wie England feine großen Rolonten regiert 359 


Elite der Kolonien zieht Rhodes mit feinen 
Stipendien noch Oxford und Cambridge, 
um fie bier in dreijährigem Aufenthalt mit 
den beten Idealen bes Engländertums zu 
bnurdjtránfen. Die Einführung des Inland: 
portos für allen Briefvertehr mit den Rolo: 
nien um 1900 hatte neben dem wirtimaft: 
lichen aud) den ausgejprochenen geiltigen 
wed, das englijhe Buch und die AC 
eitung Dort heimijd) zu machen und damit 
aud) die jungen Kanadier und Auftralier in 
britiichem Denten und Fühlen zu erziehen. 
Daß in jeder Kolonie ein hoher englijcher 
Artftofrat Hof halt, Orden und Titel vers 
letht und den rauhen Kolonialen mit der 
feinen Gitte ber englijden Oberjchicht in 
Berührung tommen läßt, das wirft in glei- 
cher. Richtung nod) weit ftárter, als der Ron: 
tinentale jid) träumen láft Nur bot 
felten legt der Gouverneur fein Beto gegen 
ein vom folonialen Parlament bejdjlojfertes 
Bejeß ein, nur höchſt felten erjcheint er mit 
Forderungen oder gar Drohungen. Aber 
er ift der Bringer aller guten Gaben, bie 
der — für alle Menjchlichkeiten nur gar zu 
empfünglide! — Angeljadfe febr wohl zu 
imagen weiß, und bas öffnet feinem Gin: 
fluffe auch die Tore einer fonft [tart demos 
fratild) fih gebärdenden Oppofition. 

Und in gleichem Sinne bat bis in bie 
Gegenwart gewirtt — die DeutiMenbebe. 
Sie ift bas dDunfelfte Kapitel in der Befchichte 
bes englifchen Imperialismus; denn bier hat 
die Y e Preſſe — im wejentlichen Times 
und Daily Mail — anderthalb Jahrzehnte 
TER aus ber bewußten Lüge vielleicht bie 
itárffte Klammer um das britijche Weltreich 
gejchmiedet. Deutjchland bejag an den Gren- 
gen der [jübajrifanildjen Union und von 

uftralten Kolonien: alfo ftrebte es Danad, 
dieje auf Rojten ber englijdjen Dominions 
zu erweitern. Und es fonnte nicht abſtoßend 
und bösartig, jeine Welteroberungspläne 
nieht pbantajti]ld) genug geld)ilbert werden, 
denn ‘jie follten jchließlih aud) in Kanada 
die wahnwigige Angititimmung erzeugen, 
daß es den deutſchen Kaifer aud) nad) tana: 
bildjem Lande geliifte; als Deutjchland um 
die Jahrhundertwende mit Kanada in einen 
Bollfrieg geriet, weil erjteres trog bes be: 
eben pen Meiftbegünftigungsvertrages Engs 
[anb einen Deutjchland nicht gewährten Bor: 
jugstarif einräumte, war der Anlaß dazu 

egeben. Es ijt fchließlich gelungen, bte 

olonien, von denen faum eine irgendeinen 
&onflift mit Deutjchland hatte, in eine der- 
artige Hypnoje hineinzuhegen, daß fie für 
den Weltkrieg erbeblidje Opfer brachten. 
Die in der ganzen Weltgeichichte einzig da: 
ftehende jchmachvolle  Greuelpropaganda 
während des Krieges war nicht nur fü Eng: 
länder, Franzoſen und europäilche Neutrale 
beftimmt, fondern hatte aud) den die 
lien Swed, aus der Angft der Kolonien 
um ihre eigene Exijtenz immer neue Opfer 
berauszubolen — das Liigenmárden von 
bem fanadilchen Soldaten, ben bie Deutjchen 


in Frankreich gefreuzigt hatten, folte offen» 
lichtlich nad) Kanada wirken, ebenjo wie die 
nod) gemeinere Geſchichte von ben Deutjchen, 
bie ihre eigenen Leiden gu Fett für Die 
Heimat verarbeiteten, für Indien bejtimmt 
war. 
Es find alfo nur nod wirtjchaftliche und 
eiftige Faktoren, bie bas angelſächſiſche 
eltreid) gujammenbalten; bie politilchen 
find völlig unwirkſam geworden. En feinem 
der engliſchen Dominions befindet jid) aud 
nur ein unse englilher Soldat. Die 
Rechte des Mutterlandes beichränten jid) 
darauf, bie beftehenden Reidsgefehe mit 
Rechtskraft für das ganze Weltreih vom 
englijden Geheimen Staatsrat und Obers 
Dons verwalten zu lajjen und einen General» 
gouverneur mit einem gewijjen WBetorecht 
gegenüber der Rolonialregierung zu entjen= 
den. Das ijt jehr wenig, unb aud) diefe 
geringen Rechte werden [Hon ftart befebbet. 
Keine Kolonie zahlt an das Mutterland 
mehr als bóditenfalls fürglidje freiwillige 
Beiträge s bie englijche Flotte; bie Domi» 
nions haben ferner gewilje Verpflichtungen 
übernommen, eine Art von primitiver Lan» 
desverteidigung zu Ichaffen. Wo die Kolo: 
nien (3. B. Kanada) eigene Flottenftreitiráfte 
haben, ift nicht einmal ihre Unterftelung 
unter englijdes Rommanbo eine Gelbftver: 
ftändlichkeit, fondern muß bejonders verfügt 
werden. Beim SFriedensichluß find die Kolo- 
nien als jelbjtändige Mächte aufgetreten, 
haben felbftándig ben sig a unter: 
zeichnet, unb bas ijt feine SC Formſache, 
denn Lord Robert Cecil als Vertreter Süd» 
afrikas hat der offiziellen Vertretung Eng: 
lands auf dem erften 9Rolferbunbstongrel 
bie ftärlften Schwierigkeiten gemadt. Und 
daß Kanada fih bas Redht errungen bat, 
in Walhington einen eigenen Gelanbten gu 
beglaubigen — Auftralien Debt im Begriff 
u folgen — zeigt, daß die ee politiſche 
lammer zu fallen beginnt. Nur geiſtige 
und al yattoren fónnen bas 
Weltreid) nod) gujammenbalten. Werden fie 
genügen 
Bei feinem anderen Staate wäre dies 
moglidh, bei England ijt es wenigjtens bent: 
bar. Seder Engländer, ber auf einer Public 
School gewejen ijt, ift etwas von einem 
Diplomaten, ber fid) Durchzujegen weiß, auch 
wenn es an äußeren Machtmitteln fehlt. 
Die englijden Staatsmänner werden auf 
dem Wege des giitliden BVerhandelns von 
ihren Kolonien mehr erreichen Tonnen als 
Gtaatsmánner irgendeines anderen Landes. 
Die wirtichaftlichen und die ibeellen Bande 
bleiben weiter wirfjam. Freilich ber gemein: 
jame Feind Deutjchland exiftiert nicht mehr, 
aber man wird die alten Lügen vom deutiden 
Scheuſal weiter pflegen, um wenigftens durch 
die Erinnerung an die gemeinjam überftan- 
bene Rulturgefahr einen gemeinjamen idealen 
Belig der Vergangenheit zu len Ob 
das alles für die Zukunft ausreichen wird, 
vermag niemand zu Jagen. Sicher nur dann, 


360 FESES Sigrid Gráfin v. b. Schulenburg: Deutides Lied BZZ 


wenn der große ebenfalls angelſächſiſche 
Wettbewerber um die Gunft der Kolonien, 
Wmerifa, entweder freiwillig Entjagung übt 
oder die Pläne ber am weiteften jchauen» 
den 3mperialiften Gejtalt gewinnen und 
Amerila in irgendeiner Form an der ges 
meinjamen angelſächſiſchen Welthegemonie 
beteiligt werden fónnte. Die unmittelbare 
Gegenwart ift für jolde Pläne jedenfalls 
nicht febr günftig. 

r unter Engländern aber, welde bie 
Künfte bes inbireften Beherrſchens fo vir: 
tuos iben; fann ber Gedante, freiwillig 
Yignpten zu räumen, — erwogen 
werden. Der Weltkrieg hat den Engländern 
Paläſtina gegeben, es beſitzt ſchon lange den 
Sudan, es bat aljo Agypten politijd eins 
getreift, Deutjchland und Frankreich hinaus: 
manópriert; es beherricht mit dem Sudan 
den Nil, die Lebensader des Landes, die 
eeh Beamten, ohne bie bas Land feine 

ode regiert werden tann, find englifd — 
aljo müßte Agypten aud als Jelbftándiges 
Land im engltjden Geleije laufen, ähnlich, 


wie bas heutige Portugal bet abjoluter polis. 


QUIM M iii Ce 
Deutfches Lied 


(für abwechfelnd tiefen und hohen Chor) 


€s hängt ein Sábnicin ferbensmatt 
Jn einer ſchwülen Sonnen, 

Ein Rriegsmann ganz verlaffen flabt, 
Seine Kraft ift ibm zerronnen ; 

Aus taufend Wunden das Leben bricht, 
Der Erde graues fingefid)t 

Hat Sieberrét’ gewonnen. 


Ein $rübling wird erblühen 
Aus rofenrotem Tod, 

Eine junge Rofe glühen 

Wie heiße Heldennot. 

Die von dem Glauben gelaffen, 
Die falfhen Freund’ erblaffen 
Dor diefer Blume rot. 


Sie glüht in eines Königs Hand, 
Der Hochzeit will halten, 

Der $reie mit dem edlen Land 

Und feines Erbes walten; 

Das deutfhe Land, die fiife Braut, 
Wird ihm als Ehfrau angetraut, 
Sein’ Treu’ wird nicht erfalten. 


XXXXVüXXXXCXXVVXXXXVXXVXVXXLXAXXXXXXVXXVX. 


Sí 


Sigrid Gräfin v. à. Shulenburg 


tilder Gelb[tünbigfeit dies willenlos tut, 
So benft ein Staatsmann wie Lord Milner. 
Freilich hat er bie be Hen Miderftánde 
gu befampfen, und es ijt jehr die Frage, ob 
er ihrer Herr wird. Auf feiner Seite ftebt 
eine ganze Schule von weitblidenden, nament: 
lid) jüngeren Engländern, bie mit allen Mes 
thoden direkter Herrjdaft außerhalb bes eige» 
nen Landes radikal bredjen möchte und im 
Vólterbund das große Snjtrument Debt, mit 
dem England bei peinlicher Schonung aller 
Einzelinterefjen anderer Völker bod) eine 
von englijdem Geifte erfüllte Welt bauen foll. 

Haben wir biejem hohen englijden Ge: 
dantenflug etwas anderes entgegenzufegen 
als entrüjtete Berneinung und es 
Mißtrauen? Oder bat Deutichland nod) die 
alt dem Blan einer jcheinbar freien, in 
Wahrheit aber englijden Welt ein eigenes 
Programm ge EC das auch Werbe: 
fraft in der Welt befigt? 

Dieje Frage foll heute hier nicht erörtert 
werden. Aber von Ls wird ein gut Teil 
von Deutitlands Meltgeltung in der fom: 
menden Generation abhängen. 





Jn diefer Frauen Garten 
Pflanzt er die Rofe ein; 

Wir wollen helfen fie warten, 
&ie mag uns wohl gedeihn, 
Die Biume reiner Ehren, 
Ihren Glanz wir wollen mehren 
Und dienen ihr allein. 


Und ftürzt der Teufel über die Welt 
Die Reiche zu ererben, 

Ad) fhöne Braut, du Herz der Welt, 
Den €djat laf nicht verderben ! 

Aus Gott, dem dunkel-tiefen Quell, 
Springt ein Brünnlein heiß und bell, 
Heift Kraft, läßt nimmer fterben. 


Aud) brennt ein Lichtchen reine, 
Demanten ift fein’ Macht, 

Das fihneidet mit weißem Scheine 
Entzwei die Mitternadt ; 

Die Sinflerniffe weichen, 

Die Liigenlidt’ erbleihen — 
Selobt fei Gottes Wadıt ! 





e 


E Sarbe und Mode B 


=) 
c Gin Nachwort zu ber Ausjtellung in ber Berliner Akademie ber Riinfte p 


E Von Max v. Boehn 


Orei Faktoren find es, durch welche bie 
Mode ihren Einfluß in der Be: 
fleidungstunft geltend madt: ber 
Schnitt, der Stoff und die ne 
Bon diejen drei Elementen hat fie 
in den legten drei Jahrhunderten vorzugs: 
weije den Schnitt herangezogen, um ihre 
Abjichten in die Tat umzujegen, während 






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Aus bem Raum „Garten der Moden“ in der Ausftellung ‚Farbe und Mode‘ 


Maler Georg 6. 
Velhagen & Klajings Monatshefte. 35. Jahrg. 1920/1921, 2, Bo. 


d 


jie Stoff und Farbe eine weit geringere 
man möchte fajt Jagen, nur zufällige Muf- 
merfjamfeit jd)enft. Das ift merfwiirdig 
und gibt über das Wejen der Mode zu 
denten. Unendlich ijt die Fülle des Ma- 
terials, bas ber Bekleidungskunſt zu Gebote 
jteht, fie findet in Tier: und Pflanzenreich 
faft feine Grenze, und bod) greift bie Mode 


A Er Ye T NN eae mtm nt omen 

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24 


309 | PFSeSesSesSsssess23 Max v. Boehn: see 





Bejellichaftslleid der Bildhauerin Renée Gintenis 


Modenbild von Prof. Emil Rud. Weih aus Der Aus: 


ftellung ‚Farbe und Mode‘ 


wie mit |piben Fingern nur dies ober jenes 
heraus, um alles andere beijeite liegen zu 


lajjen. Das gleiche ijt der Fall bei der 
Farbenwabhl. In der Ausjtellung ber Was 
demie hatte Profefjor €. R. Weiß im (Gut: 


ell in febr origineler Weije den 
ejucher mitten in einen freisförmig ge: 
Ichlofjenen Chor der Farben hineingerührt, 
um damit gewillermaßen den Wuftatt zu der 
Symphonie angujdlagen, in deren Klänge 
die 93eranjtaltung einweiben jollte. Welcher 
verführerijche Reichtum leuchtete da in den 
breiten Farben des Spektrums auf, und dod) 
gaben fie nur einen flüchtigen Hinweis auf 
Möglichkeiten der Abjtufung und Nuancie— 
rung, bie feine Phantafie bis zu ihrem dëi 
ten Ende verfolgen fann. Die djemijde 
Industrie hat die Skala ber Farbwerte zn 
einer ganz unerhörten Verfeinerung gebradt, 
gar nicht auszujchöpfen wären bte Kom: 


binationen, bie fid) durch Sulammntenjtellung 
von ap unb Somplementárfarben 
berjtellen ließen, und bod) wird jedem, ber 
die Mode auch nur eine turze Reihe von 
Jahren hindurch verfolgt hat, Tor jein, daß 
fie für Die — der Mode nicht vorhan— 
Dern zu ſein brauchten. Mie die Mode, wir 
haben jelbjtverftändlich nur normale Zeiten 
im Auge, entweder Ceibe oder Tuch oder 
Baumwolle bevorzugt, |o begünjtigt fie 
aud) nur eine Farbe, und wenn fie aud) 
alle exijtieren und in jeder benfbaren Nu: 
ance berzuftelen und zu haben find, fo 
werden fie bod) nicht getragen, denn bie 
Mode, bie eine Verſchwenderin fein könnte, 














Abendmantel. Modenbild von Freiberrn Leo v. König 
aus ber Ausjtellung ‚Farbe und Mode‘ 








ee EES Farbe und Mode Issel 363 





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E Bejubstleid. Modenbild von Ernft Oppler aus ber Ausftellung ‚Farbe und Mode‘ D 


ift ájtbetif eine Geizige. Dieſe Tatjache, 
die jeder aufmerfjame Beobachter zugeben 
muß, ift nicht zu erklären. Wir Tonnen fie 
nur fejtitellen und hinzufügen: Es war [Hon 
immer jo. 

Ceit ber Menſch banad) tradtete, fid) zu 
perjdjónern, zog er die Farbe in feinen 
Dienft und farbte den Körper [bon lange, 
ehe er ihn zu befleiben wußte. Urſprünglich 
bemalte man fic), wahrjcheinlic) mit dem 
Blute eines erjdlagenen $$einbes oder eines 
erlegten Tieres, und hat davon die Vorliebe 
für das Rot burd) die Jahrhunderte, wir 
dürfen fogar Jabrtaujende jagen, beibebal: 
ten. Grabbeigaben von Oder und Rötel, 
die bielem Swede dienten, führen den Ge: 
brauch bis in die jüngere Steinzeit zurüd, 


Aber er hielt fid) bis tief in hiſtoriſche Bei- 
ten. Die Könige und Triumpbatoren Roms 
hatten bas Recht, fih bei ihrem Zuge auf 
das Kapitol Geliht und Obertórper mit 
Viennige rot zu färben, und nod) 1443 vers 
langten bie Humanijten aus dem Hofitaat 
König Alphons’ I. von Neapel, der König 
fole fid) bei feinem Einzug in bie Haupt: 
jtadt das Geſicht mit Zinnober bemalen. 
Rot blieb bie Lieblingsfarbe fa|t aller Völ— 
fer, ber primitiven wie der fultivierten; im 
Ruſſiſchen find die 9[usbrüde für rot und 
\chön gleichbedeutend, und die Vorliebe für 
diejen Farbenton ficherte ihm feinen beherr: 
Ihenden Einfluß in der Uniform bis in 
unjere dr Dem Rot folgte bas Blau. 
Tach bem Bericht bes Plinius erjchienen die 


21* 


364 ees Max v. Boehn: seess el 


feltiihen Frauen und 
Sungfrauen bei oe: 
willen Feſten nadt, 
den ganzen Körper 
blausjhwarz bemalt. 
Als Cájar feine be: 
rühmte Landung in 
Britannien vollzog, 
fand er zu feinem Er: 
itaunen, Da jid) bie 
Urbevölferung blau 
farbte. 

Als die Bekleidung 
des Körpers dem Auge 
den Anblid der nad: 
ten Glieder entzog, 
übertrug jid) die Far— 
benfreude auf das Ge- 
wand. Gider ijt Die 
Steigung zum Betonen 
der Farbe in der Klei- 
dung das Natürliche, 
der Verzicht auf fie, 
trete er nun in einer 
Vorliebe zum reinen 
MeiB oder in einem 
Hinneigen zu unbe: 
itimmten Nuancen auf, 
immer ein Zeichen der 
Zivilijation und ihrer 
die urjpriinglichen 





Teelleid. Modenbild vor 

Prof. Hans Purrmann 

aus Der Musitellung 
Farbe und Mode 


Triebe abjdwaden- 
den Berfeinerung. Die 
Griechen bevorzugten 
zur Zeitder Hochblüte 
ihrer Kultur das reine 
Weiß ober vielmehr 
die Naturfarbe Der 
Leinenjtoffe. Dadurd) 
wollten fie jid) bewußt 
von den Barbaren 
unterjcheiden, die, wie 
die Völker Ajiens und 
Rleinajiens, die bunte 
Färbung liebten. 
Auch die Romer der 
Hlajtiden Zeit der 
Republik trugen farb: 
loje Gewänder. Gie 
unterjdjieben jid) da- 
durch ganz wejentlid 
von ihren nadjten 
Jtadjbarn, den Gal: 
liern, die Cájar in 
einen Kommentaren 
buntgefleibet ſchil— 
bert. Das Über: 
wiegen der byzantini: 





ay ~ 


von größerer Farben- 
freude in bie Beklei— 
dungstunft aud) des 
Wbendlandes. Auf 
dem Abbild Kaifer 
Karls des Großen, 
welhes das Moſaik 
im Tritlinium Bapit 
Leo III. im Lateran 
bewahrt hat, fiebt man 
Den Monardyen in 
einer Kleidung aus 
braunen, grünen und 
gelben Stoffen. 

Die algemeineMode 
des Mittelalters blieb 
bunt und wurde es nod) 
mehr, als bie Kreuz: 
¿lige dem Ofzident die 
Befanntjchaft der tójt- 
lichen jcehweren Seiden: 
itoffe und Brofate bes 
Drients vermittelten. 
Zieler Freude an der 
Farbe Dulbigte man 
bis zur Übertreibung, 
denn bie im 14. und 
15. Jahrhundert auf: 
fommende jogenannte 
geteilte Kleidung, bas 
mi-parti, zerriß Die 





f üc 
Iden Kultur am Aus Teelleid. Modenbild von Walter 


Straßenlleid. Modenbild von Georg 9 
Walter RóBner aus der Ausjtellung gang bes “ltertums Bondy aus der TUNER ERDE Ayarbe und 
ode‘ 


‚Farbe und Mode brachte dann eine Note 





Aus dem Raum „Blaue Tapete” von Charlotte Goefd)e in ber Ausftelung ‚Farbe und Mode! 


menjdlide Erjcheinung förmlich in lauter ein: 
zelne SFarbflede. Jedes Hojenbein hatte cine 
andere Farbe, oft genug nod) an Ober: und 
Unterjdenfel verjchieden oder wenigjtens an 


der Innen: und Wupenfeite wechjelnd. Ebenjo. 


variierten bie Ärmel, Vorderblatt und Rück— 
blatt bes Wamjes ujw. Damit war nicht nur 
bie Miöglichteit gegeben, individuelle Stim: 
mungen auszudrücden — und welches Mittel 
wäre geeigneter, Gefühle wieder: 

ugeben als die Farbe? —, 
fonbert aud) bem Zeitgeijt Bor- 


(dub geleijtet, ber die Gefell- E j^ 


haft in lauter Parteien jpal: úl 
Man legte in den Farben 
i 


tiiches ENS 


E. L 
i: RL ; 


tete. 
jeiner Kleidung ein po 
'Befenntnis ab, bas man ganz 
perjonlid) ausgejtaltem fonnte, 
wenn man betipielsweije über 
Die weißen, roten, gelben Lángs: 
ftreifen feines Anzugs grüne, 
blaue, ſchwarze Querjireifen 30g, 
und Damit Die Mappenfarben yz 

oder Figuren eines bejtimmten Ka 
Gejdledjtes zur Schau trug. Ce 

Auf italientjdhen Bildern Des 
Quattrocento tann man in die- [A 
ler Beziehung reihe Studien 
maden. Auch die Frauen haben 


teineswegs freigehalten. Wer: 
gegenwärtigen wir uns Dod, 
daß in jener Zeit bie ſymboliſche 
Bedeutung der Farben eine Rolle 


* 
7 


ET. 
e k - me r y 4 - 
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it von biejer buntjchedigen Art ("AM A 





Plaftit von Walter Reger 
aus dem Raum: Travejtie 
auf Diode und Zeit i« Der 
Ausjtellung ifarbeu. Mode‘ 


jpielte, bie uns ganz aus dem Gedächtnis 
geldjmunben ift. Weiß war jelbjtverjtänd= 
lid) die Farbe der Reinheit und Unſchuld, 
in den MDiniterienfpielen 3. B. waren bie 
armen Geelen der Geretteten weiß, die Der 
Verdammten ſchwarz angezogen, was ein 
jo typiicher Gebraud) wurde, daß der Aus: 
drud „fih als arme Geele anziehen”, im 
Franzöſiſchen |o viel heißen jollte, als fih 
von Kopf zu Fup weiß Heiden. 
Not bedeutete die Liebe, blau 
die Demut, daher trug Maria 
in den geiltlichen Schaujpielen 
einen blauen Mantel. Gelb 
war der Neid, grün die Hoff: 
nung uſw. Mit Hilfe bieler 
allegorijd) jgmbolijchen Neben— 
bedeutung der Farben, bie den 
Modedamen der Zeit natürlich 
ganz vertraut waren, bejaßen 
ie die Möglichkeit, ihrem Anzug 
tarte Noten von Eigenart bei: 
De zulegen. Mis vollends Die 
sc! Gpielerei der Minnebófe in 
Blüte ftand, da war die Wahl 
und Sujammenjtelung der Far: 
ben in ein Syitem gebracht, das 
der Eingeweibte fo gut zu lejen 
verftand, wie er Heute ein 
Gtenogramm auflöjen würde. 
Damit war bie Farbentoll: 
heit auf den Gipfel gelangt und 
der Rüdjchlag blieb nicht aus. 
Er erfolgte am burgundijchen 


E J 


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366 BESSERE Max v. Boehn: Be22222222272772274 


EE TE , Palette wie cin Frangoje in feinem Anzug.“ 1608 mat 
der englijdje 9teijenbe Themas Coryate feinen Lands: 
leuten den gleichen Vorwurf, aber jchon ijt der Seite 
punit. gefommen, wo ber Geſchmack umſchlägt und 
lid) von den reinen ausgejprodenen Tönen zu den ge- 
brochenen wendet. ,Blagblan, leichtrot, leichtgrün, halb- 
gelb, balbgriin, Baftardfarben, weil fie halbebrliche 
Gemüter haben,” jagt Moſcheroſch um 1640 grimmig. 
Vian durfte immer weniger Farben zu feinem Anzuge 
wählen, jo daß man in den Jahren Ludwigs XIV, von 
der Zeit, „als man fic) noch farbig fleibete", wie von 
einer Vergangenheit ſprach, auf die jid) jelbjt die álteften 
Leute nicht mehr recht befinnen tónnten. 

Und wieder wird aud) um dieje Zeit der Unterjchied 
zwijchen farbig und farb» 
los in Der Kleidung zu 
einem Belenntnis, das, 
dem Charakter der Epode 
entjprechend, einem religio: 
jen 3Seigeldjmad erhält. 
Unter Karl I. von Eng: 
land war bie Modetradht 
des Hofes |o farbenfroh, 
daß, als der Gouverneur 
von Virginia 1633 eine 
größere Beitellung von Zuch 
in London machte, jein 
Rorrejpondent ibm nur 
feuerrotes jchiden fonnte, 
weil anderes gar nicht 








Gejellichaftskleid. Modenbild von 
Bruno Krauslopf aus der Musftel- 
lung ‚Farbe und Mode‘ 


Hofe, ber bas Begenjpiel der 
Farbe, das Schwarz, zu Ehren 
brachte. Bon bier aus hielt 
es feinen Triumpb3ug durch 
die Welt, erit |o lange Bur- 
gund den feinen Ton angab, 
und dann feit Spanien mit 
dem Wntreten der burgun- 
bilden Erbichaft feinen tul: 
turellen Einfluß über Europa | 
ee — d Ee DEN CTT j 
als bas Schwarz bie ‘Bedeu: 
tung bes jyeierliden und Son od SONOS aus bee e 
Wiirdigen erhielt, die es bis jtellung ‚Farbe unb Mode‘ 
in unjere Tage beibebalten 
bat. Wie alle Moden allmählich aus den gehobenen Krei- 
jen, in denen fie urjprünglich entjtehen, binunterfidern in 
tiefere Gejellichaftsichichten, in denen fie fih Dann weit länger 
zu halten pflegen, um unter bejonders günjtigen Umitán: 
den Bolfstradten zu werden, fo wurde bas höfilche Gewand 
idjlieBlid) bas Ebrentleid des Bürgers. Wer einmal eine 
Reihe bejonders holländijcher Bildnijje des 17. Jahrhunderts. 
betrachtet, dem wird es auffallen, daß die Mehrzahl der 
Dargeftellten, Bürger und Bürgerfrauen, gleicherweije 
jchwarz gekleidet tjt. l 

arbe und Farbloſigkeit haben von nun an in der Mode 
um die Geltung — und einander in einem beinahe 
periodiſchen Wechſel abgelóft. Das 16. Jahrhundert war 
ungemein farbenfroh. „Die Frangojen lieben das Bunte,“ CS WE stleid. Eat MC 
äußert fid) Montaigne, und der Dichter Marini jhrieb aus Fro e o ogg 
Paris: „Ein Maler hat nicht |o viel Farben auf der de 

















LeseossscRscsscccocca Farbe und Mode Viel 367 


vorrätig war. Je bunter fid) nun die Hof: 
gejellichaft Heidete, um fo farblojer 30g lich 
bie Oppofition an. Gie bevorzugte aus Haß 
und Abneigung ge: 
gen die feindliche 
artei, bie Die bel: 
len Töne liebte, die 
ganz unauffälligen; 
Den WBuritaner er: 
tannte man [don 
vom weitem an den 
dunteln Nuancen fei- 
ner Kleidung, in ber 
grau und jchwarz 
vorberrjdten. Das 
iit in England fo ge: 
blieben, Adel und 
Bürgertum unter: 
ichieden fid) nod) bas 
ganze nádbite Jahr: 

ndert durch Die 
Farben, bte fietrugen, 
bel unb freudig 
die einen, Dduntel 
unb unanjebnlid) bie 
andern. Is Dann 
im legten Drittel des 
18. Jahrhunderts der 
englijdje bürgerliche 
Anzug als Mode- 
tleidung über ben 
Kanal fam, da 
brachte er aud) feine 
Ichlichten Farben mit. 
Duntelblau, flajchen: 
grün, braun, Pfeffer 
und Salz verdrängen 
umal im Männer: 
oftiim roja, himmel: 
blau und lichtgrün, 
die bis dahin aud) 
von Älteren Herren 
getragen worden 
waren. Dieje Erb: 
ibaft bat bie ar: 
benwahl ber mann: 
lihen Kleidung nod) 
das ganze 19. oe 
hundert bindurd) be: 
ftimmt und oft 
fort bis heute. 

Mis die Vorbherr: 
ichaft der Kultur un: 
ter Ludwigs XIV. 
Regierung von Spaz 
men an ag 
überging, gri ie 
Mode R der Klei- 





volle Farben, fo wunderbare Zujammenftel: 


lungen perjdjiebener Töne geftattet, als im 
Zeitalter Ludwigs XV. 1760 betlagte fid 
der berühmte Mel: 
dior Grimm dar: 
über: „Bor 15 Jah: 
ren," jd)reibt er aus 
Paris, „erfand man 
für den Männer- 
anzug Gtoffe von 
drei arben und 
glaubte, eine fo fri- 
vole Mode  fónne 
niht von Dauer fein. 
Ceitbem aber hat 
man das Geheimnis 
ergründet, für eine 
ange Palette von 
arben aller mög: 
lichen Schattierungen 
auf dem  Siüden 
eines Mannes Blas 
zu finden. Heute ijt 
man [fon foweit, die 
Gold: und Gilber: 
ſtickereien ebenjo ab: 
zutönen.” In ber 
Tat war bie Höhe 
des garbenjubels 
: erreicht. In ber leg: 
ten Jahren ber langen 
Regterung Kud- 
wigs XV. und Den 
erften ` nad) ber 
Thronbefteigung fet: 
nes Entels beginnt 
die Mode bereits, 
fi in der Farben: 
wahl ftarte Bejchrän- 
tungen aufzuerlegen. 
Cie geftattet nur 
mehr Tónungen, die 
auf der Cfala zwi- 
hen dunklem Rot- 
raun und Helem 
Gelbbraun liegen, 
eine Nuance, die man 
„flohfarben“ nannte 
und die man in den 
verjehiedeniten Shat: 
tierungen belap. Da 
unterjchied man: 
Junger und alter 
lob, Slobtopf, Floh: 
riden, Flohbaud), 
Slohichenfel, Floh 
im Diilchfieber ujw. 
Die jiegreiche Revo: 


dung zu ftarfen Fars Gejellihaftskleid. Modenbild von Baul Scheurih Tution bradte im Da: 
ben, die ben Glanz aus ber Ausjtellung Farbe und Mode‘ menanzug dann das 


eines pradhtliebenden 

Hofes zu erhöhen geeignet waren. . Die 
weiten Cdjoproóde der Herren, bie langen 
Edleppileiver oder Reifróde der Damen 
boten ja aud) Beranlaffung genug, [Hóne 
Stoffe zur Schau zu tragen, und vielleicht 
hat die Mode zu feiner Zeit jo gejchmad: 


reine Weiß zur Gel: 
amg und da fih aleichzeitig tn der männlichen 
Kleidung die unjcheinbaren Töne durhfegten, 
jo verlor das Gejamtbild der Mode Dadurd) 
merfwiirdig von ber charafteriltilchen Eigen: 
art, bie es eben nod) bejejjen hatte. Iffland 
äußert fih Darüber mit Bezug auf das Bühnen: 


308 Iesel Max v. Boehn: 


bild in jeinem Theater-Almanad) von 1807: 
„DieAlnzüge in den bürgerlichenSchauiptelen,“ 
\chreibt er, „iind jest jo einförmig, daß da- 
durch gar feine äußere Unterjcheidung mehr 
möglich ijt. Braun, blau oder [d)mars fleiden 
fid) alle Herren, Rammerdiener, Liebhaber 
und Ontel, jowie weiß die gleiche Kleidung 
für alle Frauenzimmer ift, fic mögen Damen 
von erjter Bedeutung ober Coubrettem fein. 


Es gibt Vorftellungen, wo alle Männer in’ 


Ichwarzer Farbe, alle Frauenzimmer in weißer 
Farbe untereinander verfehren, jo daß das 
Ganze ber Verjammlung in einem Leichen 
bauje ähnelt.“ Und diefe weißen Kleider 
von Leinen oder Baumwolle — Muſſelin war 





füibenbfleib. Modenbild von Eugen Spiro aus ber 
Ausjtellung ‚Farbe und Mode‘ 


 Gbriítiane im Mat 1800 aus wer — 
echſe 





1245343439434 35353534 3534383435 353] 





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ba. Sr — 
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Gejellidjaftstleib. Viodenbild von Prof. Lovis Go: 
fint) aus ber Ausftellung ‚Farbe und Mode‘ 


ati; beliebteften — hatten lange Schleppen, bei 
eleganten Damen von 7 bis 14 Ellen, man 
mu aljo annehmen, daß fie bauernb in ber 
Wafde waren. „Man Debt nichts anderes 
als weiße Kleider,“ jchrieb Goethe feiner 


Weiß überdauerte fogar den im 
Schnitt, die Röde verloren bie Sdleppen, 
wurden fußfrei und weit, aber fie blieben 
weiß, denn noch aus den zwanziger Jahren 
berichtet Frau von Rodow in ihren Erinne: 
zungen: „Brinzejlinnen und Hofdamen trugen 
Sommer und Winter nichts als Kleider von 
weißem Pertal”, und Graf Rudolph Apponyi 
eee 1830 in Paris in fein Tagebuch, dak 
Wei bie vorherrjchende Farbe fei. Dieje 
Mode fcheint auch auf die Herren anjtedenb 
ewtrtt Zi haben, denn Goethe 3. B. trug in 
ehem tudierzimmer, wie wir von Eder- 
mann wijjen, Schlafröde von weißem Flanel, 
ein Anzug, in dem er aud) Damen, 3. ©. 





es EST Farbe und Mode ll 369 


die Malerin Luife 
Seidler empfing. 
Dem jugendlichen 
Geibel trat der alte 
Chamijjo jo gegen: 
überineinem „wei: 
Ben faltenreichen 
Sdlajfrod, der bem 
Talar eines Bau: 
berers glich“, und 
Fri Reuter, ber 
ih als Student 
in einem weißen 
Flauj jo unge- 
mein [Món fand, 
bat dann jahre: 
lang Beit gefun- 
den, dieje harm: 
loje jungenhafte 
GEitelfeit zu bedau— 
erm. Das anffal- 
lende Rleidungss 
itid, Das Der Auf: 
merfjamfeit Der 
damaligen Dema- 
gogenrieder na: 
türlid) nicht ent: 
gangen war, half 
jeinen Berfolgern 
auf die Spur des 
lüchtigen und lie: 
erte ihn in Die 
Hände der Polizei. 

Dak eine Mode 
wie diefe Borherr: 
jchaft des Weißen 
in der Kleidung 
(id einer jo auf: 
fallend langen 
Dauer erfreute, 
würde wunderneh: 
men, wenn wir 
uns nicht entjinnen 
müßten, daß in 
der gleichen Zeit 
das Ideal der An- 
tite vor bem jeeli- 
iden Auge ftand, 
und ¿war einer 
Antife, die man 
ich in ihren Tem: 
peln und Gfulp: 
turen durchaus 
ſchlohweiß dadjte. 
Daher in den Mob: 
nungen Die weißen 
Wände und wei: 
Ben Radelófen, die 
bell  aejtrid)enen 
verpubten alla: 
ben, Die weiße iine 
che, mit der man 
die bunten Fres— 
fen der alten Zeit 
übergog, ſoweit 
man jie bequem 
erreichen fonnte. 


0e€09090000900900090009000204909€90000900900090090000000900000000000900000004000000000000000000000000090000009000€0000225 ""e949e0€9€9960600090006040000600208000000000000900000 





Gejellidjaftsfleib. Modenbild von Harald Bengen aus ber Ausitellung 
arbe und Mode‘ 


370 EEES Max v. Boehn: ES23333332332322323232234 


" Modenbild von Ludwig 
Rainer aus ber Ausjtellung ‚Farbe und Mode -— 


SReitfleib. (Ellen Peg 


Ungeheuer war die Entriijtung, als ein Vor: 
wißiger entbedte, daß bie Alten ihre weißen 
Tempel und weißen Statuen bunt bemalt bat: 
ten, und äußerjt lebhaft der Streit, ber jid) 
in den Kreijen der Gelehrten und Riinjtler 
über dieje Frage erhob. Solange bie weiß pore 
geftellte Antite den folorijtiihen Grundton 
des Zeititils abgab, ftimmte fic) aud) die 
Mode auf dieje Note und [ie bat aud) auf bas 
ae Meiß erft Verzicht geleiftet, als 
die romantijdje Runjt, in Deutidland bird) 
die Düjjeldorfer vertreten, das Mittelalter 
äfthetijc wieder in feine Nechte einlebte. 
Jun gab es aud) in der Kleidung wieder 

arbem, und vielleicht ijt es wirklich fein 
[oBer Zufall, daß die Periode einer bejon- 
ders farbig empfindenden Mode zufammen: 





fiel mit einer folchen folori[tijdjer Gffeftitüde 
in der Malerei. Als Piloty unb Matart im 
Bordergrunde ber fiinjtlerifden Interejjen 
ftanden, ba gejtattete die Mode den Damen 
die fed|tem unb gemagte|ten Zujammenitel: 
lungen, ja fie forderte in bem ganzen Jahr: 
m von 1870 bis 1880 geradezu, daß eine 

vilette aus verjchiedenen Stoffen von ver: 
Ichiedener Farbe komponiert fein müjje. Da 
war es wirklich nod) eine Runft, fid) zu Heiden 
und im 3ulammenjpiel der Sarben das Ge: 
\hmadvollfte und Rleidjamfte herauszufinden. 

Darf man die Parallele fortführen und 
lagen, daß, als ber Imprejfionismus mit 
jeiner Malerei Ton in Ton die eben nod) jo 
[aut gepriejenen Zauberer der Palette in 
bie Ede driidte, auch die Mode jid) diejer 


Schwenkung anſchloß? Bis dahin hatte fie 


bie Rontrajte begünjtigt unb bte Reize ber 
Mirtung im Abftechenden gejudyt. Nun ent- 
e jie fih ebenfalls dazu, mit feineren 

itteln zu arbeiten und wenn fie Ceibe, 
Samt und Molle zugleich) verwendet, jo 
WE bod) nur mehr von einer und der: 
jelben Nuance gewählt werden. Tiefidatten: 
der Samt, glänzende Geide und warm: 
tónige Wolle in der gleichen Note von 
braun, blau, grün oder lila gaben tóftlime 
Bilder! 

Dieje Äbereinftimmung gwijden ber gro: 
Ben Kunjt und der angewandten Befleidungs: 
tunft bat wirklich viel Beitechendes für den 
Beobachter, aber fie darf nicht zu voreiligen 
Gdlüjjen verführen. Die Mode ijt in Wahr: 


heit eine viel fompligiertere Erjcheinung 


innerhalb der Kultur, als es ben Anjchein 


hat, und es jprechen bei p jo zahlreiche Fat: 
toren mit, daß man in feinen Folgerungen 
nicht vorjidtig genug fein tann. Augen: 
blidlid) erleben wir ja wieder — und die Aus: 
ftellung in der Akademie bejtätigte es —, daß 
die Damenmode und die Hunt Hand in 
Hand gehen. Die eine wie die andere ge: 
fallen fih in der Verwendung möglidhit traf- 
jer und ungebrochener Farben. Folgt da 
die Mode der Malerei? Gehorchen beide 
dem 3eitgeift? Oder mëllen wir in diejer 
zufälligen Übereinftimmung nicht viel mehr 
bie Wirkung gewiljer wirtjchaftlicher Zuftände 
erfennen, unter denen Deutjchland und mit 
ibm die Welt leidet? Wir bejigen die vor: 
züglichen Farben (und aud) dafür legt die 





ESSSSE | Ss) Warbe und Mode 371 








— 0» 
| — 
d — 


Ausſtellung ein glänzendes Zeugnis ab), die 
Se aber verfügen über die beijeren Stoffe. 

ie Qualitäten der Gewebe, bie wir mit 
ungeniigendem oder mangelhaften Material 
nicht bejjer herjtellen tónnen, find jo bejdaffen, 
daß fie feine anderen als reine ftarte Farben 
annehmen. Da heißt es eben aus der Not 
eine Tugend maden und die an halbe und 
unbejtimmte Töne gewöhnten Mugen ums 
lernen laffen. Die Mode ftellt fid) auf bie 
moderne Runft ein, weil fie gar nicht anders 


ann. 

Die Ausftellung „Farbe und Mode“ unter: 
nahm nun zum erftenmal den Berjud, bie 
Ideen der modernen Garbengebung auf die 
Erzeugnijje der Mode anzuwenden, eine 
wißige Umjeßung der neuen Ajthetif in bie 
Praxis. Es galt den farbigen Horizont zu 
erweitern und Durdblide nad) neuen Mög- 
lichkeiten hin zu eröffnen, eine Aufgabe, der 
größere Schwierigkeiten in den neuen For: 
men als in den neuen Farben erwudjen. 
Bruno Paul, der diefe Austellung für den 
Verband der Deutſchen Modeninduftrie 
mate, ift indeffen ein viel zu genialer Künft- 
ler, als daß er aus dem Programm „Farbe 
und Mode” nicht alle Anregungen bátte 
herausholen follen, deren Wechjelbeziehung 
pifant genug it um immer aufs neue llis 
lade und Wirkung miteinander An ver: 
medjeln. Das größte Hindernis für eine 
Modenausftellung wird immer in der Tats 
fade liegen, daß bie Erzeugnijje der Be: 
tleidungstunft für den lebenden Körper ge: 
dait find. Ein Hut [oll zur Farbe von Haar 
und Teint, zum Schnitt der Züge paffen; 
ein Kleid, ein Mantel wollen getragen fein, 
um ihre Wirkung zu zeigen, und wenn felbjt 
ein Künjtler wie Haas-Heye fie mit nod) fo 

eihmadvoller Gefte Hinlegt und nod jo 
fein zum Ton eines „Garten der Moden”, 
eines „Blauen“ ober „Metamorfhojen“ Sas 
lons abftimmt, es wird ihnen immer Das 
Wejentlide fehlen: Leben und Bewegung, 
die erft bie Trägerin bem toten Stoff mit: 
E vermag. Da man nim eine Ms 
usjtellung nicht gut wochenlang auf leben- 
den Modellen zeigen fann, jo hatte die Lei: 
tung dicfem Mangel abzubelfen gefucht, ins 
dem fie in einem Fejtjaal moderne Schöne 
heiten in modernen Kleidern von modernen 
Malern porträtieren ließ. Die Künftler Has 





=== ~~ c 


rald Bengen, Walter Bondy, Lovis Corinth, 
Leo von König, Bruno Rrausfopf, Heinrich 
Linde: Walther, Ernjt Oppler, Max Ped): 
ftein, Hans Burrmann, Georg Walter "ob: 
ner, Paul Echeurich, Eugen Epiro, Emil 
Rudolf Weiß u. a. zeigten in dieſer Reihe 
lebensgroßer Damenbildniffe nicht nur Die 
farbige Note der Tagesmode, jondern aud) 
die Art bes heutigen Cdjid. Dieje Edin: 
heitsgalerie bewies zum Hundertitenmal, daß 
jede Mode ſchön ijt, jie fet im übrigen 
wie fie wolle, denn jede zeigt bas ewige 
Problem Weib unter einem neuen Ge: 
liehtswinfel, und wenn früher einmal das 
Junoniſche oder bas Süße unb Anmutige 
beliebt waren, jo bevorzugt unjere Zeit, 





Pelzmodenbild. Gemälde von Wolf Róbridt aus 
der Ausitellung Farbe und Mone 8 


372 Max v. 





E Ede aus dem Raum „Metamorphojen“. 


in ber ja fowiejo alles auf dem Ropfe ftebt, 


Gemalt von Georg 3 Boitier Nößner 


Boehn: Farbe und Mode BRZ RRR RRK] 


jdjrittlid) geraten, dab bie Ausftellungslei= 


zur Whwedjlung einmal das Ephebenhafte, | tung fih Kbtietid nicht anders au helfen 


Edige und mehr 
oder wenige Bi: 

zarre. Manchmal 
will es jo jet: 
nen, als fame Die 
cigentlidyeBetlet: 
dungstunft Da: 
bei zu kurz, denn 
es handelt fid) 
immer mehr um 
Draperien als 
um gejchneiderte 
Gewänder und 
der dernier cri 
der Mode ift ja 
auch in der Tat 
das „Stednadel- 
kleid“, das nicht 
aehr genäht, 
jondern nur ge: 
Hedt wird. Eine 
Erfindung ibri- 
gens, Die Ga: 
rab Bernhardt 
ihon vor Jahr: 
zehnten machte. 
Auf die farbig: 
moderne Mus- 
geitaltung Der 
Säle war großer 
Wert gelegt wor: 
den, ein Raum 
war fo fort: 





Theaterlleid. Mtodenbild von Jofeph Oppenheimer 


wußte, als dab fie 
ihn  ,Traveftie 
auf Mode und 
SC, bite. nicht 
s fehlte ni 
an Gfeptilern, 
bie diefe Begeiche 
nung weiter ausa 
e nten, als bes 
0 N — 
un pf⸗ 
ſchüttelnd frag⸗ 
ten, wo die Tras 
veitie aufbörte 
und ber Ernft 
— Aber ſie 
gaben ſich ſchnell 
zufrieden, denn 
ae —n und 
auch 
Een eitt 
modten, (ie fino 
ia ect 
Den Rahmen um 
ein Kunftwerf 
Darguftellen, das 
feine Traveftie 
entítelen und 
feine Beit an: 
tajten fann: das 
Sunftwert Weib, 
dem wir uns bul: 
digend beugen. 





*€9000000000000000000000000008000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000€090000000000000000000000000090000000000000000000002200000050000006 


De ze in ee al 
e N o av, > C MO ` * sr > - DW ` ` > 


: EN 
ER 


Arthur Kampf aus Der 


Modenbild von Prof. 
Ausftelung ‚Farbe und Mode‘ 





Geſellſchaftskleid. 


Sm UÜbntshause 


pra (Novelle von SREDaulSchum ann 








Reber den Rartoffelfeldern an der von 
4 Dobra nad) Bergen führenden 
LI Sanb[traBe war die Luft jo dünn, 
22% dak man fhon am Burgbolz bie 
Bergener Kirchturmuhr erfennen fonnte und 
fid) beinahe einbilden modjte, bie Schläge 
über die 9Iderbreiten heriibergittern zu hören. 

„Das gibt einen Metterumidlag,” jagte 
der Kantor von Dobra zu dem Stadtmufit: 
direftor Zimmermann und nahm den 
Beigenfaften unter den anderen Arm. 

Zimmermann nidte. 

„Wir können leicht alle beide naf werden,“ 
entgegnete er. Gie |d)ritten weiter aus denn 
zuvor, denn der Wegweiler von Bergen 
tauchte jet erft auf, und auf ben baumlojen, 
abgeernteten, abendlichen Feldern riefen fon 
bie Rebhühner. 

. Kiwisid ... jo ſehnſüchtig flang es. 

Der Rantor von Dobra war ein nod) junger 
Mann. Er freute fih auf bie Flajde Rot: 
wein, bie es nad) dem Spiel im Mufitzimmer 
des Bergener Wmthaujes bei Amtsrichter 
Gtrubelius geben würde. 

Der Mufitabend war feit ber Berheira: 
tung bes alten Amtsrichters mit ber jungen 
grau Renate ein allmonatlid) wiederfehrendes 
Ereignis. Zimmermann meinteetwasboshaft, 
grau Renate wolle damit ihren Ehemann an 
das Haus fejjeln und ihm alte Junggejellenge: 
wobnbeiten austreiben. Er wußte allerlei 
davon zu erzählen, wie es bei den Herren: 
abenden auf den umliegenden Gütern bei 
Gelegenheit der Serbitireibiagden bergebe. 
Es war eine jdjimme Junggefellengegend 
bier. Der junge Kantor hatte taum zuge: 
hört. Er badjte an bie braunen Augen der 
blonden Amtsrichtersfrau und bas braune 
Samtband um den Hals, das ihr gut zu 
den Augen Donn. 

„Warum fie den alten Mann bloß ge: 
nommen bat, Zimmermann?” fragte er 
trdumerijd. „Nicht einmal von Muſik oer, 
jteht ber etwas.“ 

Zimmermann nidte wieder. Er wußte, 
es würde auch heute abend fo jein. Während 
die Geigen zu dem Klavierjpiel der jungen 
Frau fangen, jak Strubelius in der Ede, 
raudjte ftumm und trant ein Glas Rotwein 
nad) dem anderen. Nein, der verftand gewiß 
nicht, wie die Geige bes jungen Lehrers 
id tudjate unb fid) um das Spiel der zarten 
Frau febnenb herumrantte. 

Der Lehrer zupfte die Manjchetten in Die 
Sirmel bes jchwarzen verwadjenen Modes. 

„Wenn ber das Amt und das viele Geld 


EE e 


nicht hätte, was wäre er dann?“ fagte er. 
Und badjte an jeine drmlide Wohnung, die 
vierhundert Taler Gehalt, bie freie Holz: 
jervitut im Gemeindewalde und dachte nod) 
an etwas anderes, was er an Ctrubeltus' 
Stelle tate. 

Zimmermann war weltfundig. 

„Zwölf Sabre ijt er Aſſeſſor gemefen," 
rejpondierte er. „Man weiß, wie es bei fold 
einem möblierten Herrn hergeht. Die jungen 
Frauen in diejen Ständen find zu bedauern. 
Wenn bie alles wiiften. Warum fit er 
immer fo ftumpf ba? Ic fpred)’s ja...” 

So war es ausgemadt, daß Strubelius 
ein alter Lebemann und gänzlih unmuſi— 
talij war. 

Bor dem Bergener Amtshauje lag der Licht» 
idein aus den drei Fenſtern bes jaalartigen 
Mufifzimmers bis |pát in den Abend. 

Die beiden €anb[treidjer, bie im Amts» 
gefängnis hinter den Bledtáften ſaßen, 
wunderten fih, was das für geheimnisvolle 
Tine waren, bie von fern trot Schloß und 
Riegel fein und undeutlid) in ihre finftere 
Selle jdjüpften. Gelbjt der Marftplaß 
laujdte. Als fie im Ratsfeller, ba ber lebte 
(Haft gegangen war, die Haustür zuwarfen, 
[hrat ber Mtarftplak ordentlich zujammen, 
und zwölf lang nadbhallende Schläge follerten 
vor verhaltener geheimer Gehnjudt zitternd 
von dem fich neugierig nad) den Fenſtern 
des Amtshaufes hinüberredenden ſpitzen 
Kirchturm die dunkle Badergajje hinunter. 


8 88 8 

Der Amtsribter Philalethes Strubelius 
hatte in feiner Ehe ben erften Verdruß ge» 
habt. Wir jagten, daß er jung verheiratet 
war, was man bei jo einem beamteten Juriften 
eben jung nennt. Aber fein jchon etwas 
grämliches Alter war es nicht gewejen, was 
die Augen feines jungen Ehegejponites [hon 
am frühen Morgen mit Tränen gefüllt hatte. 
Daran war vielmehr der Kalender jchuld. 
Es war der 25. Auguft. 

Der war in dem jchwarzen Terminss 
falenber bes Amtsrichters Ctrubelius rot 
und did zweimal unterjtrichen. 

Denn bas hatte zweifache Gründe. 

Zum erften hatte er fic) an biejem Tage 
vor Jabresfrift mit der jungen, blonden 
Frau verlobt. Zum andern aber bedeutete 
ber Tag ben Aufgang der Hühnerjagd. So 
hatte der Termin eine Doppelte fejtlid)e 
Bedeutung, denn Gtrubelius war Jagd» 
freund, 

Der Rihter von Bergen hat von jeher 


y. £. E. Paul Schumann: Im Amtshauje 375 


Dienjtwohnung in dem vermetterten grauen 
Amtshauje am Marktplak gehabt. 

Als Strubelius heute morgen erwadte, 
da hörte er es, wie der Regen von dem ge- 
brodjenen Renaijlancedache herunter gegen 
bie Soblafitubenfenfter trommelte. Da freute 
er fid), unb feine Hand taftete nad) dem Bett 
der blonden Renate hinüber. Denn es war 
nod) dámmerig, und der dichte Vorhang 
Ihattete vor der tiefen Fenſterniſche. 

Uber Frau Renate war [hon heimlich 
aufgeftanden. Da lächelte er immer nod). 
Er wußte warum. 

Auf dem Raffectifd) würden heute morgen 
zarte Rofen den Verlobungstag ſchmücken, 
und Renate wiirde trog bes Aufgangs ber 
Hühnerjagd am heutigen Fefttag ihren Ehe: 
‚mann ganz allein für fid) haben. Denn es 
tegnete draußen immer nod in Strömen. 
Aber Renate hatte faljd gerechnet. Wir 
merten, daß bie doppelte Liebe des Amts: 
ridjters ihre tragijden Verwidelungsteime 
ihon am frühen Morgen in fid) trägt. Was 
mag der Abend bringen, da niemand zwei 
Dinge gleichzeitig lieben fann? 

Das Amtsrichterehepaar jak vor ber 
Kaffeetafje. Da ftahl fidj ein jehüchterner 
Gonnenftrabl dur) bas graue Gewölk 
draußen über der feinen Stadt, und es gab 
in Renates jungen Augen einen leuchtenden 
Mideríbein, Strubelius merfte es nid)t. 
Anſcheinend gleichgültig [Mob er De fanft 
zurüd, als wäre er es von jeher gewohnt, 
daß fid) [hon am frühen Morgen ein junger 
Srauenbujen zutraulih und wärmend an 
ifn drängte, und als wüßte er nidt, was 
zwölf lange, dürre, unfruchtbare Aſſeſſoren— 
jahre bedeuteten. Denn joeben hatte die Magd 
die Zeitungen und Poſtſachen hereingebradt, 
welde ber Briefträger draußen abgegeben 
hatte. Wir wundern uns nicht, denn es war 
feine immerhin zwölf Jahre alte Junggejellen: 
gewohnheit, beim Morgenfaffee die Zeitung 
zu [ejen, und alle dieje Jabre hatten von 
feinem feftliden Verlobungstage gewußt. 

Ein Heiner Schatten war über Renates 
Augen gelaufen. Aber [Hon wieder lächelte 
fie. Denn fie fannte ihren guten, alten 
Gtrubelius. Abnungslos jpielte ihre Frauen: 
hand mit einem fleinen, grünen Kärtchen, 
das unter den Poftjaden lag. 

Gtrubelius wurde aufmertiam. Geine 
Hand griff banad). Scherzend judjte fie bie 
Rarte hinter ihrem Rüden zu veriteden. 
Wir beginnen Zweifel an dem Urteil des 
Rantors unb Stadtmujifdireftors zu hegen. 
Faft jchien es, als wäre Gtrubelius bod) 
nod ein Anfänger, als hätten feine Arme 
während der zwölf diirren Jahre nicht all: 
zuoft um einen zarten, weichen Frauenleib 


gelegen. Denn Renates Mund verzog fic, 
als er mit derbem Griff ihre Hand jamt dem 
grünen Kärtchen hinter bem ſchmalen Frauen. 
rüden hervorzog. 

„Siehe da,” fagte er [djmungelnb. „Eine 
Einladung zur Hühnerjagd nad Dobra.” 
Priifend fah er nach dem Wetter. „Das könnte 
wohl paffen. Termine ftehen heute nicht an...“ 
Er merfte gar nicht, wie die fleine Renate 
erſchrocken aujammengudte. Denn er war 
jebt längjt [djon wieder der alte Jäger. Das 
war aud) nicht ber junge Ehemann, der kopf: 
nidenb und wie innerlich tief befriedigt hin» 
gujebte: „Es ift bod) ein wahres Glüd, daß 
heute unjer Verlobungstag ijt. Sonft hatte 
id) wahrhaftig bie alte Mählern in ihrer 
Ze|tamentsjade aufs Amt geladen. Zum 
Sterben ijf immer nod) Zeit genug.“ 

Dann war Gtrubelius mit der Flinte auf 
Dem Riiden nad) Dobra davongeritten. 

Die fleine Renate jab [fill und wie vers 
Ihüchtert allein hinter ihrem Roſenſtrauß 
und war nicht einmal [chadenfroh genug, 
jid darüber zu freuen, daß [bon wieder 
graue Wolfen den Himmel umjchatteten. 
Tapfer gerbrüdte fie ein paar ganz Kleine 
Tränlein. I, da [oll doch, wer würde denn 
über jo etwas weinen? 


88 Bg B8 


Der Augufttag hatte ein langes, graues, 
najjes Gewand angezogen. 

Sn dem weiten, alten Wmtshauje war es 
merkwürdig ftil. Wie judend war Frau 
Renate durd) alle Zimmer gegangen. Am 
Edfenfter bes faalartigen und barum heute 
jo falt anmutenden Epzimmers blieb fie 
ftehen. Da hat man einen nahen Blid auf 
ven Bergener Mearftplag. — Ginjam und 
Ihwermütig wartend lag aud) der ba. Kein 
Menih Dep fih fehen. Nur bei Tijchler: . 
meilter Viartgraf [d)rie bie Haustiirglode 
rufend über den Martt. Dann verjtummte 
fie jab. Auch Frau Renate war ¿uriidge: 
treten. Cie wollte ben Leichenzug nicht jeben, 
ber eben aus der Badergaffe nad) bem Viartts 
plag bog. Wohl verhüllten bie jchweren 
Fenftervorhánge ben ſchwarzen, jhweigenden, 
idmanfenben Zug hinter dem nidenden 
Rruzifix. Aber die Stimmen ber Schul— 
jungen, welde vor bem Sarge fdritten, 
jhwangen fic) durd den riejelnden Nebel 
iiber die Gartenmauer bes Amtshaujes und 
achteten ber zugezogenen FJenfter nicht. Go 
hörte es Frau Renate gleihwohl, wie hinter 
den frilden, unverzagten Jungenftimmen 
etwas anderes, Weltfremdes zitterte, was 
nieht von biejer Welt war. 


Lab mid geben — laß mid geben — 
Daß id) Jefum möchte feben. 


9/0 Beretta Y. 8. C. Paul Schumann: [goo]; 


Die junge Frau hatte fic) erfdauernd in 
den weichen Klavierjejjel vor dem großen 
yliúgel gejchmiegt. So ſehnſüchtig tlang es. 
Die Schritte draußen traten langjam und 
ſchwer und tlapperten gleichmäßig im Tafte. 

Meine Seel’ ijt voll Berlangen 
Ihn auf ewig zu umfangen. 

Karl Zimmermanns Stimme fchmetterte 
jauchzend über den Chor der anderen hinaus 
und wußte nicht, was er tat. 

Langjam verebbte der Zug. Die Schritte 
fangen nur nod) ganz von fern ber, dort, 
wo bei Budbinder Lehmann der Meg nad) 
bem alten Friedhof um die Ede geht. 

Mie ein dunkles Geheimnis trug es ber 
Ihüchterne Wind wie in briinftigem Er: 
Ichreden nur nod) flüjternb beriiber... 

Und vor feinem Thron zu ftebn. 

Es war ein |dywermiitiger Berlobungstag. 
Ob er wohl ein bißchen Menjchenglüc [Hon 
auf diejer Welt gelten lief 2. 

Die junge Frau hatte den Fliigeldedel 
Dod)geldblagen. Immer nod) riejelte draußen 
der Regen. Er fiel jebt in ein offenes Grab, 
in das bie feuchten, ſchwarzen Erdfchollen 
follerten. Frau Renate hörte es nicht. 

Ihre mütterlidje Frauenfeele war fchon 
weit weg von bier. Gie war einem alten, 
grämlichen, durch lange Affejforenjahre ver: 
bitterten Manne nachgeflogen, welcher viel 
Liebe brauchte und bei dem die Gegenwart 
manches nachzuholen hatte. Darum ſchwangen 
die Töne |o mütterlich aus dem alten Flügel, 
welchen Ctrubelins aus dem Elternhauje 
mitgebrad)t batte, und es war eine Frauen: 
fttmme, eine liebe Stimme, weldje jest fang: 
„Wenn es falt wird und ihr alt feid, will 
id) Ihügend mein Erbarmen, meinen Mantel 
um euch iblagen.” 

Der Nachmittag wurde immer dunkler. 
Bei Bäder Gad wurde die Lampe Hinter 
dem Ladenfenfter angejtedt. Die warf ein 
rotes Licht auf bie Waſſerlachen draußen. 
grau Renate jchürte das Feuer auf bem 
Rúdenberde, etwas Wärmendes für den 
heimfehrenden, najjen Strubelius zu kochen. 
Langit [Hon Hatte fie feine Hausjchuhe in 
die Nähe bes anjtrahlenden Feuers geftellt, 
Schon fam der Abend. Ale Türen waren 
gegen ihn feft perjd)lojjen. Deshalb ftrich 
er migmutig an den niedrigen, Hauswänden 
bin und flapperte arámlid) mit den Fenfter- 
laden der Leichenfrau Rojenfrang. 


88 88 88 
Die Jagdgeſellſchaft auf bem Rittergut 
Dobra merkte nichts davon. 
Das Gdjijjeltreiben war vorüber. Man 


jak rauchend und trintend zulammen. Die 
Stunden eilten dahin. Gtrubelius merfte 


es taum. Bum erjten Male feit feiner Heirat 
war er wieder in bem alten Junggejellen- 
freis. Es war bod) ganz bebaglid. Es 
hatte fein Seibeffen gegeben. Gauerfraut 
unb Bratwurjt und dazu Spatenbier. Jest 
aber famen die jchweren Meine. Er wußte 
es von früher ber. 

Laden. BZigarrenraud. Schnarchende 
Hunde und Hatjchende Rartenblátter. In 
bas wiehernde Laden bes Baftgebers tlang 
das Medern des Regierungsreferendars. 

Auch Strubelius fpielte. Er verlor dauernd. 
Es gab viel Hallo. Da Hang ein helles 
Klingeln in den Lärm. Das war jadjlid) 
unb juhte fid) riidjidjtslos feinen Meg durch 
die lachende Menge und fam vom Telephon. 

„Hier UWmtsridter Strubelius.” 

„Hier Altuar Rübejam. 

„Der Auszügler Johann Petermann in 
Radigaft will nod heute abend fein Tefta- 
ment madden. Sd) fahre jest mit bem 
Petermannſchen Wagen bier ab, darf id) 
Herrn Amtsrichter in Radigaft erwarten?“ 

„Natürlich. In einer halben Stunde bin 
id) dort.“ Und wieder das helle, verjtändige, 
nüchterne Klingeln. 

Es [fwirrte Girubelius im Kopf als er 
bie Steintreppe nad) dem Hof hinunterjchritt, 
auf bem joeben fein Pferd vorgeführt wurde. 

Es regnete immer nod) Die Hoflaterne 
fonnte bie Luft faum durchdringen. Tie 
Pferdehufe flapperten auf dem Steinpflafter. 
Es war Dod jdade, daß er jebt fortmußte, 
wo es anfing gemütlich zu werden. 

Flüchtig dachte er beim Aufiteigen an zu 
Haufe. Das Lederwerf des (attels tnarrte 
und ächzte, als er fid) aufihwang. Er fing 
ion an bid zu werden. Nun hatte er fih 
im Sattel gurechtgejegt. Natürlich würde er 
nad) ber Teftamentsaufnahme wieder zurüd» 
tommen. Denn der lange Regierungs: 
referendar v. Rogen hatte beim Hinausgeben 
jo mofant und ladelnd gejagt: ,Unglid im 
Spiel, Glick in der Liebe.” Dem würde er 
bie Zechinen [Hon wieder abnehmen. 

Er jhlug den Manteltragen Bod). Denn 
der Regen jpriihte auf das blante Fell des 
Braunen. Im Klappern des Anreitens hörte 
er nicht mehr, wie fie oben den Rundgejang 
anftimmten: Ift das nicht ein Ref'rendar ? 
Ja, bas ijt ein Ref'rendar. Hat ber nod) 
ein einz’ges Haar? Mein, der bat fein 
einz’ges Haar. 

Bon dem jtumpfen Turm der Kirche, 
weldye Hinter dunflen Baumwipfeln lag, 
brummte es. Da gab Gtrubelius feinem 
Gaul die Sporen, daß er über die najje, 
iprigende Dorfitraße mad) der jchwarzen 
Aderflur hinausprejchte. 

8 & ES 



















































Die Kinder, welde in dem Bergener 
Bitrgbols hinter dem Amtshaus den ganzen 
Rachmittag gejpielt hatten, waren längft 
Hreiend und pantoffelflappernb nad) Haufe 
T geeilt. Sn bem vorjährigen Laub rafchelten 
= nod) die wilden Raninden, machten 
Ze inndjen und gloßten mit runden, ſchwarzen 
Sehern in die Naht. Die aber wandelte 
Ihweigend vorüber. Gittjam ſchritt fie, den 
* Hwarzen Dantel eng an den Leib gedrüdt, 
—Durd) Bergens Bäßchen. Jn ber freien Feld» 
E ort aber warf fie fid) dem Wind in bie 
Mime, dah die Ride und die Wolfenbetten 
mur |o flogen. Das Schulhaus von Dobra 
"budte fih ordentlich darunter. Gtrobgebedt 
Tebnte es fih Hil und unbeadtet an den 
G Butspart. Es war ganz finiter. 
Ka Happerte ber Nachtwind mit den 
smlichen Läden, pfiff Durch die Locher ber 
de erbrochenen Bodenfenſterſcheiben, und der 
Pmujitfundige Lehrer hörte bie Melodie ganz 
| T Deutlich heraus. ... Es ift bejtimmt in Got: 
5 Rat, dab man vom Liebjten, was man 
d hat, muß jcheiden ... Denn ber Braujewind 
MN wollte immer weiter fliegen und 30g an den 
——— Haaren, daß es aus dem 
erwühlten Wolkenlager wie unaufhaltſame 
frauentränen herunterkam. DerLehrer horchte 
ino bent Gutspart hinüber unb jpielte ba: 
wilchen bie Beige. Die |djmabte mit bem 
—— wie Frauenherzen red- 
ligem Regen. Der erzählte viel tolle Ge: 
chichten. Denn im Rittergutshauje ftießen 
le die hohen Fenfterflügel bes GBjaales auf, 
em blauen Sigarrenraud) freien Abzug zu 
Hen. Aber aud) ber Rundgejang von ber 
Lafel flatterte mit hinaus: 
3 Bee Betr Bruder zur Rechten, Herr Bruder zur Linten, 
H Pos Bir wollen einander ein — zu trinken 
Der Shönjten auf Erden . 
Se war der Qehrer in die naſſe Nacht 
) Radigaft zu hinausgewandert. 


u 7 t! 


uE 28 8 
— Das gute Eſſen, das dicke Bier, der ſchwere 
Mein und bie friſche Nadtluft — 


Hier unb da am Horizont zudten ein paar 
= Dorjlidter, das war alles fein Bezirt. Gr 
mar Gingelrid)ter. Hier in Ebersdorf hatte 
wr [don einmal ein Teftament gemadt, dort 
Sin Breitenbad) eine Übergabe und Ausgugs- 
3 ® ertrag geregelt, in Ginjtersleben ben reiden 
Bauer, ber fid) gehängt batte, vom Dach» 
Balten feines eigenen Oberbodens abjchneiden 
Majjen. Der Braune war jhon manchen 
Holperigen Feldweg bei finiterer Nacht ge: 


cu in ibn. Das — und Wehe mancher 
Familie und ihrer Nachkommenſchaft hing 


Belbagen A Rlafings Monatshefte. 


35. Jabrg. 1920/1921. 


Es EE EH Im Amtshauje BZSZSZZZZZZZZZI 377 


legten Endes von feiner Einfiht ab. Uns 
willtürlich trabte er |djneller. Denn von fern 
idümmerte [Hon das Licht bes Kranten: 
zimmers von Rabdigaft, wo ein Sterbender 
feinen Rat und feine Hilfe juchte. 

Daheim zu Hauje wartete wohl auch eine 
Lampe auf ihn in dem alten Haufe. Deren 
$idjt fiel aus dem Schlafzimmer nad) einem 
weiten, baumbejtandenen, naffen Garten. 
Der ftand fröftelnd bie ganze Nacht. Aber 
drinnen, da wartete etwas Warmes, Weiches, 
Schmiegjames auf ibn, ben alten Junggejellen 
nad) zwölf diirren Aſſeſſorenjahren. 

Und wieder fiel der Braune in Trab. Das 
lebte Ende nad Radigaft war gepflajtert. 
Das gab ein hallendes Klappern, und jebt 
lam aud) Melodie hinein. Aus den vier 
trabenden Pferdehufen flapperte es Strubelins 
Ihwermütig entgegen, und Hinter ibm Der 
lief es auf den buntlen Flügeln des Nacht: 
windes wie eine Ptannerjtimme: 

Wh, wie bald Ichwindet Schönheit und Geftalt. 
Prahlıt du gleich mit deinen Wangen, 
Die wie Mild und Purpur prangen ... 

Der Amtsrichter jah fid) um, als wären 
es die zwölf Afjefforenjabre, die Hinter ibm 
laBen wie bie atra cura und einen alten, 
verbitterten Mann aus feinem Leben gemadt 
batten. Er mußte bod) wohl ganz unmufi: 
falijd fein. Der Braune tat einen Geiten- 
jprung. Denn drohend redte jid) ein Arm 
aus der Wand vor ihm. 

Es mochte der Wegweijer fein. Das Tier 
wurde unruhig. Und weiter trabte es; aber 
bumpfer und polternder langen die Hufe auf 
den SHolzbohlen der über den CEberbad) 
führenden Briide: 


Ad, bie Röslein welten al... 
R6 8 B 


... „Herrgottjatrament. Wollen Sie denn 
Gelangftunde auf diefer alten Wieje geben, 
Herr Kantor? Angſt hatte ber Gaul nicht, 
aber jpringen fonnte er gut.” Das war das 
erite, was Strubelius jagte. Er fap mit der 
Neithofe mitten auf dem najjen Wege. Der 
Braune ftand jhon. Der Lehrer von Dobra 
hielt ihn am zerrifjenen Zügel. „Wenn Gie 
ion mit Ihrer Blendlampe Pferde jcheu 
machen, dann helfen Sie mir wenigftens, daß 
ich heute nod) zu meiner Frau zurüdtomme.” 
— „Schönen Dank für den Strid, Herr 
Kantor. Zum Aufhängen ift er dod zu 
ihade.” So jcherzte der Richter. 

Der junge, jangesluftige Rantor jah dem 
davonbraujenden Reiter nad). 

» - Gufgeblajene. Gejelljidjaft, diefe Ju: 
rijten . . .” murmelte er heimwärtsgehend 
und ließ den Spazierſtock durd) bie Luft 
pfeifen. Das tattmáBige Rlappern der Pferde- 
2. BD. 25 


378 ESSSSSSSHIIHT $. R. €. Paul Shuman: B3333333333339 


bufe verlor fid) in ein 9Bagenrollen. Der 


Attuar Riibejam nabte. 
& 


BB 88 

Am Dorfeingang wartete ber Wftuar |d)on 
mit dem Paftor Cpürlid) aus Ebersbad. 
Der Paftor erſchien lang und dürr gegen 
ben wohlgenährten Gtrubelius. Der Amts: 
richter wußte, baB der Pfarrer taum das 
liebe Brot für feine zahlreihen Kinder in 
der teuren ftadtijden Penfion Hatte. 

Riibejam war ein erfahrener Mann und 
ein alter Praftifus. Er hatte [hon monde 
nächtliche Teftamentsfahrt Hinter fih. Bor: 
lorgli Hatte er im MBorbeifabren den zu- 
jtandigen Pfarrer gleich mitgenommen. Er 
wußte, wie es ift, wenn bie Nafe weiß und 
jpi& wird unb die großen Arbeitshánde un: 
ruhig über die rot gemufterte Bettdede fahren. 
Der Dunjtfreis der rótlidjen Wagenlaterne 
vor dem Petermannſchen Torweg lag auf allen 
dreien und umbiillte fie in gleicher- Weije 
wie ein gemeinjamer Mantel. 

Riibejam jchlug die von der langen Wagen= 
fahrt froftigen Hände gegeneinander. 

"Es geht heute zu Ende da drinnen,“ fagte 
er mit der Erfahrung einer vierzigjährigen 
gedriidten Beamtenlaufbahn und beugte bod) 
wie um Verzeihung bittend den verwachjenen 
Rüden. Reiner antwortete. Die beiden Pferde 
des Wagens ließen müde die Köpfe Hängen. 

Es ging alles feinen Gang, wie es [don 
immer gegangen war. 

Stumm jab Strubelius den Vorbereitungen 
zu ben Gterbejatramenten zu, während ber 
alte Aktuar jachverftändig am wadeligen 
Tiſche neben ber fladernden Kerze ein paar 
Schreibfedern probierte, einen großen, weißen 
Attenbogen glättete und Siegellad und Amts: 
fiegel bereitlegte. Nur ber alte Petermann, 
den das alles in erfter Reihe anging, nahm 
wenig Anteil daran. Er war wohl don 
im Begriff, bas drmlide Land hier unten 
zu verlajjen. Nur die Pflicht hielt ihn nod) 
zurüd, für ein voreheliches Kind zu jorgen, 
dem das Gejeg fein Erbrecht gab. 

Es war das alles ſchnell bejproden. 

Gtrubelius jah den alten Mann mit der 
großen Nafe in bem bageren Gelicht unb 
dachte ein paar Jábrlein zurüd und fah ein 
blondhaariges, leichtfertiges Mädchen, und 
bas alte Bett wartete noch ein fleines und 
war nun ein Gterbebett geworden. 

Er |d)iraf aus feinen Gedanfen auf, denn 
Spärli batte einen Gejang angeftimmt. 
Seine tiefe, ruhige Stimme füllte die ärmliche 
9[usaugsitube. 

Mie wird’s fein, wenn ich zieh’ in Salem ein, 

In die Stadt ber goldnen Gajfjen ... 

So tlang es unter ber niedrigen Balten- 
dede, und der Amtsrichter jah jid) wie ver: 


wundert um. Debt jang aud ber alte Peter: 
mann mit, aber er fliifterte mehr: 

Herr, mein Gott, id fann's nicht Toten, 

Mas bas wird für Wonne fein... 

Gtrubelius hatte [ange nicht gejungen. 
Gelbft in Dobra hatte er heute abend bei 
dem berühmten Fuchjenritt nicht mit ein- 
geftimmt, als fie alle auf Stühlen um dert 
Tijd) geritten waren. Nun aber tam es ihm. 
Es dünfte thm gar nicht mehr abjonderlidh, 
daß der fleine budlige Aktuar, über deffen 
forrefte Beamtenfeele er fid) noch niemals 
Gedanten gemadt hatte, jet gar als dritter 
mit einftimmte ... „Hätt ich Flügel ...” 

Gtrubelius jah den Heinen, verwadjenen, 


gebüdten Mann von der Seite an; aber er 


ftimmte felbft als vierter mit ein, er wußte 
nicht, wie es Tam: 
Hatt id) Flügel, flög’ ich über Tal GE Zal und 
e 
Heute nod nad Zions Höhn! wc 

Der Amtsrichter fah jid) immer nod wie 
verwundert in der müchternen, niedrigen, 
tablen, blaugetiindten Stube um. Es war 
ganz [till geworden. Nur bas rotgeftrichene 
Fichtenholz ber Bettlade tnarrte . . . 9tad) 
Zions Höhn! ... Der Ton [bien nod) unter 
der ärmlichen Dede zu jchwingen. 

Cpürlid) hatte feines Amtes gewaltet. 
Nun war Gtrubelius an der Reihe. Aber 
er [bien heute nicht recht bet der Sabe zu 
jein. Der Aktuar Rübejam ráujperte fih ge- 
ziemend ein paarmal und jebte wie ermun: 
ternd die Feder am, Er dadte an das 
SHerrenejjen zu Dobra und bie [djweren Weine 
und ließ demütig wartend den Kopf linfen. 
Aber Gtrubelius jagte immer nod mts. 
Er war in Gedanken geraten. 

Was hat der Menſch in feiner Gterbe: 
itunbe von allem irdilchen Glid, von Reid): 
tum, Ehre und Würden ... Er war vor: 
bin auf feinem aert fo ftolz auf feine 
Stellung, feine Renntnijje und feine wohl- 
geordneten Verhältnijje gewejen. Nun aber 
war diejes alles auf einmal gar nichts. 

Zu Hauje wartete ein Paar weicher Arme 
auf ibn. Aber es nabte einft dic Sterbes 
ftunde. Da lag er bier wie der alte Aus: 
zügler. Die Cterbejtunbe, fie fam gewiß, er 
mode wollen oder nicht. Gein ganzes Vor: 
haben bier, es jdjiert ibm auf einmal fal 
undnichtig. Wie unwichtig war legten Endes 
bas alles für den alten Petermann. Es 
galt nur der Sorge um die geringen Dinge 
diejer Welt. Gein Beruf wäre ibm auf 
einmal beinahe leid geworden. 

Renates junges Gefiht wollte vor ihm 
auftauchen und fih in den Bannfreis drängen. 
Uber aud) fie jcheuchte der Sprud, mit dem 
Epárlid feine ganze Kunſt vorhin geld)lagen 


[e Á Im Amtshaule E 


hatte: Was ift bes Lebens Herrlidfeit? Mie 
bald ijt fie verjchwunden ... 

Wher das alles dachte ber Amtsrichter nur. 
Laut biftierte er jegt dem Aftuar in bie 
Feder und jdilderte den Borgang dahin: 
„Auf Ruf Hatten fid die obenbegeid)neten 
Geridtsperjonen in die Wohnung des Guts: 
auszüglers Johann Petermann in Radigaft 
begeben, welcher, wie die mit ihm geführte 
Unterredung ergab, im vollen Beli feiner 
Geijtestráfte war. 

Er erflárte, daß es fein freier, wobliiber- 
legter Wille fei, ein Teftament zu errichten, 
und erklärte darauf als feinen legten Willen, 
was folgt...‘ Draußen Flatjchte ber Regen. 
Der wußte nidis von Hypothefenregelung 
unb Ytoterbredt und Quarta Falcidia. 
28 8] B 

Frau Renate batte [hon lange wartend 
auf die Schläge ber Turmubr in dem Dad: 
reiterchen über ihr gehorcht. Aber fein Reiter 
nabte. Der Verlobungstag neigte fid) jeinem 
Ende zu. Da hob [ie ben müden Kopf. Die 
Sjaustíirglode unten ſchrillte anders als jonft. 
Sie ging den hohen, fühlen Treppengang 
hinunter. Denn die Hausmagd war zu 
ihren Eltern in ber Badergajje gejchlüpft. 

Dm gepflajterten Hof dicht vor der eijen- 
beichlagenen Eichenholztür ftand der Lehrer 
von Dobra. Frau Renate erjchrad. 

„Was führt Sie ber, Herr Kantor?” 

Gin leichtes Zittern war in ihrer Stimme. 

„Sch wollte nur etwas abgeben, was id) 
gefunden babe. Ihr Gatte muß es ver: 
Ioren haben. Ich traf ihn unterwegs und 
war einmal hierher zu Gange.“ 

Er verjchwieg bie näheren Umitánde der 
Begegnung, da er ihr erjchrodenes Belicht 
jah. Seine Hand zudte, als er beim fibers 
reichen der Brieftajche ihre zagen, warmen 
Finger beriibrte. 

mu. Wie... wo... itihm... meinem 
Mann ... etwas zugejtoßen? Ift er ge: 
ſtürzt?“ Die Worte überhajteten fic. 

Der Lehrer jchüttelte einen Gedanfen von 
Déi ab. „Er muß einen Schußengel gehabt 
haben...“ jagte er finnend und jab immer nod 
das liebe, erſchrockene Geſicht vor fih, als er 
ion bei Buchhbinder Lehmann um die Ede 
der Badergaffe bog, wo es nad) dem Preu: 
Bijben Hof geht. 

Immer nod) jhlug und rudte bie Uhr in 
dem Dachreiterchen. Frau Renate hörte es 
nicht mehr. Lets fnifternd fiel unb blátterte 
der Kalt in dem großen, einjamen Borjaal 
von der Dede. Frau Renate hatte die Brief: 
tajche, in ber [ie geframt, Tängjt finten laffen. 
Sie hörte den leijen Schritt der Gegenwart 
nist. Denn es war Vergangenheit, was 
fie gelejen. 


sa 379 


Das war ein Liebesbrief an Strubelius 
aus den zwölf diirren Fahren, der ihr aus 
ber Brieftajche entgegengefallen war. Er 
war an den verlotterten unb vergrämten, 
alten Junggefellen gerichtet, und bod) ftand 
s... Du lieber Pbhilalethes” mit etwas uns 
gelenfter, ſchüchterner Schrift Darüber. 

Ein verblaßtes Bild lag dazwijchen. Ein 
idmales Geſicht unter ſchlicht gejcheiteltem 
Haar. Es mußte ein gutes Mädchen ge: 
melen fein; denn ein gütiger Mund [dien 
jeu zu den Worten zu lächeln, bie von 
Strubelius’ Hand flüchtig Darunter gejchrieben 
waren: ... Und gab fic Jelbit, ba fie nicht 
mehr hatte ... 

Immer wieder griff Frau Renatens weiße 
grauenbanb danadı. 

... Ohne Krang und Ring... ohne Ring 
und Krang ... fo ging es ihr immer bird) 
den Kopf, unb finnend drehte fie an dem 
ichmalen Golbreifen an ihrem Finger. Auf 
einmal ba flang bie Tangmelodie, bie aus 
dem Preußilchen Hof heriiberwebte, fo traurig, 
und Frau Renatens Augen füllten fid) mit 
Tränen. Gie wußte nicht, ob es des Mäd— 
dens oder Gtrubelius” wegen war. 

Schwefterlih behutjam und mitleidig legte 
He Bild und Bud) wieder in die Tajche. 

Cie dadte an bas Rind unter ihrem 
Herzen. Sie hätte es auch lieb gebdbt ... 
jo fliifterte es in ihr. Sie war an bas jen- 
leitige Feniter getreten und ftarrte in bie 
Nacht hinüber. Ta lag bas Burgholz. Der 
Superintendent Habermalz nannte es einen 
Ort ber Unzudt. Denn es war nahe bei 
der Stadt und war didtverwadjen und war 
verjchwiegen. Wie Mädchenlachen tlang es 
heriiber. Dann verwudjen die Stimmen in: 
einander, und es wurde ſüße Wehmut daraus, 
und bas alte, regennafje Burgholz raujchte 
geheimnisvoll zu bem Liede von bem [djónen 
Garten, der nichts nüße ijt, wenn andere 
drin fpazieren gehn. 


88 & 

Am Megweijer hatte fih Strubelius von 
dem Wagen getrennt. Gein Brauner hatte 
heute flintere Beine als die alten Rutjdhpferde 
des Baders Sad aus Bergen, welche der Aktuar 
Riibejamzur Teftamentsfabrt gedungen hatte. 

Lángft war ber Amtsrichter auf der ge: 
pflafterten  £anb[trape, bie an ber fteifen 
Garde der Pappeln entlang unmittelbar 
nad) Bergen führt und Dobra weit linfs 
liegen läßt. 

Er Iden es vergejjen zu haben, was er 
jeinen Jagdireunden im Dobraer Herren: 
hauje vom Wiederlommen erzählt Hatte. 

Er würde mofant lachen, Der blafierte 
Regierungsreferendar, wenn er feinen hajtigen 
Heimritt erfuhr. Aber das fiimmerte Stru- 

95 * 


380 PSSSSS95) F. K. E. Paul Schumann: BS222222222224 


belius jest wenig, denn bie Pferdebufe 
Happerten [Hon feit einer ganzen Weile 
auf dem Pflafter eine andere Melodie ... 

Und bat bir Gott ein Lieb befdert, 

Und hältit bu fie recht innig wert, 

Die Deine ... 

Das flapperten bie vier Pferdehufe un: 
ermiidlid), und fie wurden immer eiliger, 
und jet jagte Gtrubelius förmlich dahin, 
daß ber Dred fprigte und der Landftreider 
ber des Weges fam, fih fopfichüttelnd um: 
jah. Er wußte nicht, dak hinter bem dahin: 
ftlirmenden Reiter im bochgeichlagenen 
Mantelfragen, vor bem er am Tage als 
jeinem Richter devot den Hut gezogen hätte, 
ein Heiner Vers gleich ſchnell nachklapperte. 
Den |djidte die Naht. Die war aus dem 
Dobraer Holze aufgeflogen, bewegte die hohen 
idmalen Lebensbiume am Friedhof vor ber 
itrobgededten Schule und raunte Strubelius 
im Borbeifliegen ins Ohr: 

Es werden wohl aht Brettlein fein, 
Da legt man fte gar bald hinein, 
Dann weine. 

Dann breitete fie ruhig und gleichmäßig 
ihre Fittiche über Stadt und Land und 
ichlief, bie Bleichmacdherin, denn der bublende 
Wind hatte (id) aud) lángft müde geflogen. 

Alles bajtete in Strubelius vorwärts. 

In den bujchigen Niederungen bes (ber: 
bahs wallten gerubig die Nebel. Dort 
würde nun bald der ftolge Rónigsfajan vor 
dem furghaarigen, braunen Jagdhund auf: 
iteben oder polternd mit jchredhaften Rufe 
von feinem Schlafbaum in den herbftlichen 
Nebel ftreichen, wenn der Ctabtmu[ifbireftor 
Zimmermann mit feinen Wtufifanten vom 
Kirmestanz aus den umliegenden Dörfern 
in dunkler Whendjtunde nad Haufe ftrebte. 
8 8 & 

Der Lehrer war in den Preußijchen Hof 
getreten. Da war Ballmujif bes Regelvereins. 
Geit einer ®ierteljtunde [Mon jah er nad) 
zierlichen Mädchenbeinen. Die drehten fih 
nad dem Takte ber Tanzweije, ſchwebten 
leicht über die groben Dielen, traten anmutig 
leitwärts, um jchon wieder nad) rüdwärts 
zu fliehen. Du — halt — nod) — nie — 
ein — Weib — gefüßt, fo nedte bie Klari- 
nette. Immer nod) jchwenften die Rice hin 
und jdwenften her. Manchmal jdimmerte 
es weiß darunter. Da fnadten die feinen, 
mattjdimmernben Knöchel in ben zarten 
Strumpfgeweben vieljagend, es verbarg jid) 
wie erjdjroden und die zierlichen, ſchlanken 
Beine drehten jid) unb ftredten fic taft- 
gemäß und ftrebten vorwärts und flohen riid: 
wärts. Der Lehrer trant ein Glas Bier nad) 
dem andern. Er wandte feine Augen ab. Es 
war ein törichter Traum. 


Ja, das ijt wahr, ja, das ift wahr... 
bejtätigte die große Trompete und lachte be- 
haglich mit blechern dröhnender Stimme wie 
ber Schneidemüller von Radigaft. 

Da verließ der Lehrer bas £ofal und ftand 
pnidlüjig auf dem weiten Marltplas. 

Die nod) vollbelaubten Saftanien harrten 
reglos wartend, wie von roter Blut übers 
gojjen, vor ben ſchimmernden Fenftern des 
Natskellers. Bei Kaufmann Sjafob ließen 
[ie Den metallenen Ladenvorhang eifentlirrend 
herunter. In der Sjerrengajje polterte noch 
ein verjpäteter Wagen. Die fleine Stadt 
rüjtete fih zur Rube. 
8B & ES 

Auch im EBzimmer bes Amtshaufes waren 
bie Fenſtervorhänge dicht gejchlofjen. 

„Strubelius, was fiebft du mid jo eigen 
an?” Frau Renatens Stimme Mang liebe» 
beilchend und vorwurfsvoll zugleich. 

Sie hielt ihm die Brieftajche hin, welche 
der Lehrer heute gebracht hatte und die mehr 
jprad als viele Worte und eine ganze Ges 
\hichte erzählen wollte. 

Gtrubelius fagte immer nod nidts. Er 
idjaltete bie Beleuchtung ein. 

„Warum haft du fo feftlid) bie polle Lam» 
penzahl angezündet?“ 

Statt zu antworten 30g ber Amtsrichter 
bie junge Frau an fic heran und fah ihr 
prüfend in die Augen. „Sag’ an, Frau 
Renate, jag’ an, was weinteft du fo febr? 
Ich will bir aud) eine Geſchichte erzählen.“ 

Er febte fi in ben Gejjel neben bem 
großen Ofen und ftemmte die Arme auf die 
Knie. Frau Renate Honn von fern; er Idien 
es nicht zu bemerfen. 

„Du haft bir unjern Lerlobungstag wohl 
anders gebadjt, meine Frau,“ fagte er. „Biel: 
leicht haben die Leute recht, daß bu bir jo 
einen alten Mann nicht nehmen Jollteft. 
Aber es fol doch fejtlid) fein. Denn id 
war heute abend in Dobra nicht umjonjt 
wieder einmal ber junge Referendar von 
ehedem. Denn [Hon damals habe id) mid) 
immer nad) bir gejehnt und fannte bid) bod) 
gar nicht.“ 

Frau Renate näherte jid). Sie ftrich ibm 
mit der Hand über das dünn gewordene 
Haar. „Wie jeltjam, Pbhilalethes.” 

Er nahm ihre Hand. „Es ijt ein Traum 
von heute nadjt, den ich bir erzähle. Die 
Referendarjahre dehnten fih, und nod) immer 
warjt du nicht da. Sch wartete nod) länger 
und wanderte zwölf dürre Alefforenjabre 
von Ort zu Ort und jab) in mandes Haus, 
und ich fonnte bid) nicht finden. 

„Da hätte ich es beinahe aufgegeben und 
ging abends rubelos durd) bie Straßen und 
jah das ruhige Licht der Familienlampe 


PSSSESESSSESGSSSCSSAA Im 9[mtspaule BeS2222222323233239 381 


hinter manchem Fenfter, hörte mand) liebe 


Frauenftimme, hörte die Kinder lachen und 


ging Dann in meine falte Syunggelellenjtube 
und dachte an bid), bie ich nie gelebn ...” 
Er ftrid über ihre Finger. „Was fiebjt 
du mid) fo mitleidig an, Frau Renate, du 
meine Geliebte, bas träumte mir bloß.” 

Es wurde eine lange Stille. Die junge 
grau riidte noch näher an Strubelius heran. 

„Der Traum ift noch nicht zu Ende, Frau 
Renate,“ warnte der. „Einmal da habe ich 
bod) ein blondes Mädchen gefunden.” Cr 
nahm die Brieftajche auf, bie zu Boden ge: 
glitten war und 309 bas verblaßte Bild her: 
vor. „Einmal, da war id) nicht einfam. Sag’ 
an, was weintelt du fo febr?“ Man modte 
es auf das Bild oder die Lebende beziehen. 
Reine Antwort. Nur die Uhr bes alten Amts: 
hauſes brummte bie tiefe, bunfle Mitternacht. 
„Die Gterbeftunde ift noch einjamer, Frau 
Renate. Aud bas habe ich heute erfahren.“ 

Smmer nod) ſchwieg bie junge Frau. 
Denn jekt, ba der Verlobungstag endete 
und ber neue Tag erwadte, wollte jid) ein 
Icheues Wunder begeben. Das madte aus 
Frau Renate etwas anderes und mehr als 
die Geliebte. Ein mütterliches, verzeihendes, 
ftolzes Ládeln lief weich über ihr Gelicht, 
da fie bas junge Leben jpürte. Gtrubelius 
merite es wohl. 

„Sie hätte es ebenfalls licb gehabt,” jagte 
aud er. 

Der Lebrer, welcher unten ftand und nad) 
ben felt zugezogenen Fenftervorhängen jchaute, 
jab, wie aus zwei Schatten ein einziger wurde 
und ineinander verwudhs. Da wendete er 
feine Schritte, heimwärts zu gehn. 

3 |. 8 

An der Herrenftraßenede ftehen ein paar 
verwetterte alte Scheunen. Ein brödeliges 
Stadtwappen mit bem Rautentranz ift dort 
über unlesbarer Jahreszahl in den Gtein 
gehauen. Der Mejtwind, welder nun fdon 
den Rauh der Kartoffelfeuer herüberweht, 
zermürbt ihn immer mehr, und Nachbar 
Randmanns Bänje weiden dort Dijteln am 
Sriebbofsanger neben der zerfallenen alten 
Lehmmauer und jdjnattern nachmittagelang. 
Dort war ber Stadtmufifdireftor Zimmer: 
mann mit feiner Frau am Bormittage zur 
Taufe feines Beichwifterlindes in Radigajt 
vorbeigegangen. Nun waren fie auf dem 
Heimwmege. 

„Dem 9(mtsridjter feins wäre nun aud) 
fo alt,” jagte Frau Therefe. 

Zimmermann antwortete nicht gleich, denn 
er jah nad) dem Gperberweibden. 

Das ftand rüttelnd in der Luft über den 
weiten, nun ¡Hon abgeernteten Feldflächen 
vor ber bleichen, halben Scheibe bes nod) am 


blauen Tageshimmel aufziehenden zunehmen» 
den Tiondes. Der Herbft war heuer fett ge: 
raten. Denn überall liefen die Mäufe aus 
den aufgepflügten, dunfelfeudjten Aderfur: 
hen. Da ftrid) der Vogel geraujdlos ab. Ein 
Reiter näherte fih auf bem [djmalen, fura: 
grafigen Feldweg. Es war Strubelius. 

„Da reitet er nun wieder zu feinen Sauf: 
fumpanen... auf bie Güter..." fagte Sims 
mermann enblid) „Wie lange ijt es ber, 
daß feine Frau im Rindbett geftorben ijt? 
Mber das Gemiit gebt bei den Gtudierten 
eben verloren. Der Verftand wird auf feine 
Koften ausgebildet. Ich Ipredh’s ja...” 

Frau Rele neftelte an ihrem Hutband. 

„Es ift nur gut, daß fie das arme Wurm 
gleich mitgenommen hat.“ 

Ein paar fchnelle Frauentránen ftanden 
in ihren Augen. Gie war weidmiitig und 
badjte an ihren Sohn Alfred, ber in Halle 
Theologie [tubierte und Dellen Bild mit bem 
Wingolfsband und der weiß: |dwarz = gold: 
bordierten Müge über bem grünen Ripsjofa 
in der blauen Stube bing. 

... „Er wird bod) nicht aud) jo werden? 
Es gibt fo leichtlinnige Mädchen in der großen 
Stadt...“ 

Des UAmtsridters Magd hatte es erft 
neulich erzählt, daß auf Strubelius’ Schreib: 
tijd ein Mädchenbild gelegen hatte. 

„Bewiß feine Studentenliebfte,“ Hatte 
Riibejams Lieschen gejagt und große, runde, 
neugierige Rinderaugen gemadt. 

"Ab, Meibertratió ...^ jchnitt Zimmer: 
mann den Faden ab. 

Da badte Frau Therefe nur nod) im 
tilen an bie jchöne Dobraer Pfarre, in 
die ihr Alfred vielleicht bald mit Riibejams 
Rieschen einziehen würde. Alfred war ihr 
mütterfidjer Stolz. Der würde fein alter 
SJunggejelle werden. Denn das allein war 
ber Berderb. 

Zimmermann [tórte fie [bon wieder in 
ihren Zutunftsgedanfen. Er trieb zur Eile. 
Denn in der Bader: und Ziegengajle tönten 
[don bie Haustiirflingeln, und der Stamm» 
tijd im Preußiſchen Hof verjammelte fid). 
Und dann jpradyen fie vom Dijtelftedhen auf 
der Hausleite und daß fie die rehbraunen 
Ziegen auf dem Friedhofsanger weiden 
lajjen wollten, wo bie verwetterten Scheunen 
mit dem brödeligen Gtadtwappen eben. 

Cie waren ¡don in die dunfle Amts» 
gaffe eingebogen, wo es nad) bem Burg: 
bölzchen geht. Ein Trupp junger Burjden 
und Mädchen fam fingend und taftgemáf 
jchreitend von dort herunter. Frau Therefe 
hörte es ganz genau heraus, wie Lieschen 
Riibejams Stimme jubelnd über dem Ge: 
[ang der anderen jdjmebte. Go jüB und jo 


389 ESSSSSSEHEIES F. &. C. Paul Schumann: BS222223222232 


jung und weih und jehnjüchtig formte fie 
die alte Meije, daß fid) Zimmermanns altes 
Mujifantenherz darüber freute, während er 
bie grámlid fnarrenbe Haustür aufichloß: 


... Sd) batt? einen Kameraden, einen bejjern find’ft 
du nicht. 


In bie Schule zu Dobra jchattete ber 
Nachmittag. Es war Lejeftunde. Die großen 
Jungen und Mädchen hatten die Bibel auf: 
geichlagen. Die eintónigen Kinderftimmen 
plätjcherten den Text leidenjchaftslos herunter. 

m... ES war ein Mann im Lande Uz, 
der hieß Hiob...“ 

Peter Mittenzweyg machte eine Pauſe. 
Er [mien ftotternd trot feiner dreizehn Jahre 
zu buchitabieren. Troßig jah er nad) bem 
jungen £ebrer. Der jap über bas Ratheder 
gebeugt; er merfte es gar nicht. Der Rohr: 
tod Tebnte friedlich Hinter ber Wandtafel. 

Und weiter plätjcherte bie eintónige, trobige 
Jungenftintme. 

„... Derjelbe war jchlecht und recht, gottes- 
fürdtig und mied bas Boje...” 

Wieder wollte Peter Mittenzwen aus dem 
Texte fommen. 

Ein Reiter nabte draußen. Neugierig 
hoben die am Feniter fiBenben Mädchen die 
Köpfe. Es war Amtsridter Strubelius. 

Auch Peter Diittenzwey jchielte über das 
Bud hinweg nad) ber Dorfitraße hinaus; 
aber jchläfrig las er immer weiter. 

ne - Und er war herrlicher denn alle, die 
gegen Morgen wohnten...“ 

Die Morte famen wie marjdierend und 
gleichmäßig wie bas Pferdetrappeln draußen 
aufder fid) nicht fentendenRinderftimme heran. 
Gtrubelius war vorbeigeritten. Es war ſchon 
wieder langweilig auf der Welt. 

„Weiter...“ fagte der Lehrer müde und 
interefjelos. Und mit noch bellerer Stimme 
begann jegt Lieschen Raterbaum. „Der Herr 
jprad) zum Catan: Haft du nicht acht ge: 
habt auf meinen Knecht Hiob?” 

Cie hatte eine ängftliche Art. Das zarte 
Kinn [mien zu zittern. Der Lehrer Hatte fie 
mit Abjicht zum Melen herangenommen. 

Denn fie tráumte viel und wußte feiner, 
wie ſchreckhaft ihre kindliche Phantafie ar- 
beitete. Denn fie jah den Leibhaftigen bos: 
haft lächeln und las bod) mit wollüjtig 
graufender Neugier: „Der Satan antwortete 
dem Herrn und jprad: Meinſt du, dak Hiob 
umjonjt Gott fürchtet? .. 3 

Der Lehrer griff |pielerijch nad) dem Stod. 

Und mit zitternder Stimme las das Rind 
weiter: „Aber rede deine Hand aus und tajte 
an alles, was er bat...” 

Es war ganz [till in der Schulftube. Ein 
paar Fliegen trommelten gemütlich an den 


genere sen. Cie daten wohl, ein zweiter 
ommer fame. Denn es war zum erften 
Male in biejem Winter geheizt worden. Der 
dide, faule Guftav Rurghals, bem Kommun- 
bäder feiner, dehnte jid) bebaglid). Er war 
die Badofenwárme von zu Haufe gewohnt 
und hatte feinen Pla vorjorglid) am Ofen 
genommen, wo ihn der Lebrer nicht jo unter 
den Augen hatte, 

Ein Schieferftift flapperte auf ber bin: 
terjten Bank zu Boden. In dem Kichern 
der großen Jungen und Mädchen war das 
Trappeln ber Pferdehufe lángft unterge- 
gangen. Aber aud) bas verftummte. Nur 
Lieschen Raterbaums belle, ängjtliche Stimme 
war zu hören: „Der Herr jprad) zum Satan: 
Siehe, alles, was er hat, fet in deiner Hand.” 

Die Rinderftimmen wurden immer leijer. 
gait Hülternd fam das Schredliche heraus: „Da 
ging ber Catan aus von dem Herrn...“ 
28 a] & 

Der Mond hatte fid) neugierig über dem 
Burgholze hodgejdoben. Aber es war fein 
Siebespaar, bas er heute abend belaujdjen 
fonnte. Die Leichenfrau Rojenfrank war 
es. Das war eine verjtändige Frau gelegten 
Alters. Über die törichten Jugendtráume 
war fie längjt hinaus. 

Mit hochgejhürztem Rode — die Land: 
wege waren jeßt ſchlecht — jtrebte fie nad) 
ihrem Haufe. In bem Handforb trug fie 
ein paar frijde Semmeln. Die Hatte ihr 
die gutherzige Bädersfrau Rurghals in 
Dobra mitgegeben. Sie fam von Radigaft, 
wo der alte Petermann geftorben war. 

„Wer hätte gedacht, Daß ber alte Mann 
es jo lange nod) machen würde, wo die junge 
Amtsrichtersfrau fo |djnell weg mußte...“ 
hatte die Kurzhalſen gemeint, während fie 
die Brötchen einpadte. Und Frau Rofen- 
trang hatte Jachverftändig mit der Erfahrung 
und Sicherheit des Berufs entgegnet: , Ja, 
der Winter, der nimmt die alten Leute mit.“ 

Cie war wohlgelitten. Denn fie galt als 
eine fromme Frau, der man es Hod ans 
redjnete, wenn fie die Verrichtungen ihres 
Handwertes im Gegenjak zu ihrer Kontur- 
rentin mit einem Baterunjer begann. 

Als der Mond [Hon bie Schieferplatten 
der Kirche wie bläuliches Silber erftrablen 
ließ, und der Turm wie ein alter jilber- 
baariger, frojtiger Mann feinen Schatten 
mantel anzog und aus den Gchallüchern 
der Uhr in den Abend jdnardte, da tang 
Kindergejchrei von bem Marftplaß herunter. 
Wie Heine Schattentobolde huſchten die 
ipielenben Kinder über bie gleißenden Gäß— 
den. Riibejams Lieschen, bie von Frau 
Gtabtmujifbireftor Zimmermann fam, wurde 
beinahe umgerannt, und jhon fam das 


bel Im Amtshauje BS 


Sjujdjen und Laufen aus der Gegend ber 
Badergafje. Das Haus der Leichenfrau 
Rofenfrang lag Mein und ‚niedrig. Die 
Schatten jchienen hier tiefer zu fein trog bes 
Lichtes ber Straßenlaterne, welches in das 
unverbiillte Fenjter fiel. Frau Rojenfrang 
war Jparjam und das Golaról bei Kaufmann 
Jakob teuer. Reiner hatte fih je Gedanfen 
darüber gemadjt, was die dunkle Einfamteit 
an [o einem ftillen Abend in ihrem Beruf 
zu bedeuten bat, wenn ber Nachtwind vom 
Friedhof auf leijen Sohlen herüberfchleicht 
unb mit dem lofe hängenden Ladenriegel 
Happert. Der weiß feine Iuftigen Gejchichten, 
wie fie fie oben am Marti im Preußiſchen 
Hof erzählen. 

Was aber jetzt geſchlichen kam, war nur 

eine fürwitzige Jungenhand. Die löſte den 
Ladenriegel. Die Witwe Roſenkrantz war 
eben dabei, die friſche Semmel in den heißen 
Kaffee zu tauchen. Da ſprang ſie aber auf 
und ſchlug mit noch kräftiger, knochiger Hand 
hart an die Fenſterſcheibe, dak ber Blumen» 
topf vom jyenjterbrett auf das Pflafter fols 
lerte. Als fie fid) draußen banad) biictte, 
tauchte eine Männergeftalt aus dem Hell: 
dunkel auf. Es war Gtrubelius. 
m... Der Amtsrichter ... der Amts: 
richter . . .“ [djrien die Jungen und auf 
eiligen, leicht trabenden Füßen ftoben fie 
davon. Sogar bie Gtraßenftille war ein 
Stüd mit fortgeflogen. 

Strubelius blieb ftehen. „Guten Abend, 
Frau Rojenfrank.” Er hatte eine tiefe 
Stimme. 

„Buten Abend, Herr Amtsrichter. linge: 
zogene Bálger. Die Welt wird immer 
ſchlechter. Go ihr nicht werdet wie diejer 
einer, fteht in der Bibel, fónnt ihr niht in 
den Himmel tommen. Was jid) die Men: 
Iden nicht alles einbilden. Die Welt ift ja 
viel zu ſchlecht ...“ 

Der offen gebliebene TFeniterflügel fnarrte. 

„Biel zu ſchlecht ...” wiederholte die 
Witwe Rojentrank wie in Gedanken. Es 
Hang wie die Begleitung dazu und die im 
Winde fchaufelnde Türglode |djlug Ieije und 
Ihüchtern an. 

„Sie haben einen erniten Beruf, Frau 
Rojentrans,” jagte ber Amtsrichter und ver: 
jchwieg feinen Gedanken, wie freudlos das 
Tagewert fo mandjer fih vollendet. 

Die Witwe Rojenfrank |djien es zu ers 
raten. Gie dachte an bie Friden Semmeln 
und den heißen Kaffee nad dem langen 
Wege von Radigaft heriiber, da drinnen in 
ihrer Stube. Und langjam und verjóbnlid; 





und ehrbar jebte fie hinzu: „Was " bas 
Leiden diejer Zeit, Herr Amtsrichter, wie 
bald ijt’s überwunden.” 

Beim Hineingehen redete fie immer nod). 

„Das bißchen Leben ... du lieber Bott...“ 

Cie hielt oft Gelbftgejprähhe nad) Art 
alter Frauen, bie viel allein find. 

Der Amtsrichter hörte fie nicht mehr. 
Denn die Türglode tönte wieder nad) und 
gitterte in ber Whendfalte. 

Da nun bie Straßen jo [till geworden 
waren, ging Strubelius in Gedanfen immer 
weiter. Und als er merkte, daß nur fein 
Schritt auf dem grafigen Pflafter halte, 
(lebe, ba fam bie Geele. ber kleinen Stadt 
hervor und redete mit ihm. 

Aus alle ben rotglühenden Laderaus: 
ibnitten und Daditubenfenftern der Klein: 
bürgerftuben in ber Bader-, der Schmiede: 
und Herrengajje [Haute fie heraus und war 
anfangs nod) jdjeu und [chredhaft. Da fie 
aber jab, daß er jo allein und einjam war, 
da wußte fie viel alte Geſchichten von Not 
und Gorgen und Arbeit zu erzählen. Bald 
hatte fie das Beficht bes bleichen, runden, 
guten, alten Dtondes, ber fo befinnlid hinter 
bem $jausgiebel des redjeligen Wpothefers 
am Viartt bervorjah. Mitunter fam aber 
aud ein rojiges, ftrablendes Wöltchen am 
tilen Nachthimmel über bem Amtshauje 
bergeihwommen. 

Dann hatte fie das ſüße, weiche Antliz 
der jungen Frau Renate. Man mochte bei: 
nahe denten, fie fábe lächelnd von oben auf 
bie fleine deutjche, närriſche Stadt herunter, 
die fih jo um Irdiſches quälte, da bod) bie 
Welt ber. Himmlijchen voller. Freuden war. 

Zu Haufe nahm Gtrubelius feine Aften 
hervor, über die er mandmal gejchimpft 
hatte. Heute jchienen ihn fogar bie ver: 
ftaubten, grämlichen, trodenen Gejellen an: 
guladen. Auch fie wollten erzählen, was er 
bisher gar nicht gewußt hatte. Es war das» 
jelbe, wovon die Kleinen, trummen Gäßchen 
draußen im Mondſchein tráumten. Gie 
jagten es nur auf eine gelehrtere, um[tánb- 
lide Art, und es war eine Geheimſchrift, 
in der fie gejchrieben waren, wie er es [hon 
bei der Tejtamentsaufnahme in 9tabigait ge: 
ahnt Hatte. Auch bie Petermannjden Akten 


waren darunter. Die legte der Amtsrichter 
aber [till beijeite und ganz zu unterjt und 
Ihrieb darauf mit fefter Hand: Decretum. 
Reponantur acta. ch weiß, was du benfjt, id) 
glaube es aud). 

Es wird bie Gebeimjpradje ber Juriften 
gewejen jein. 





und der Schweiz f 


— — Se EE, 0715 emu UM ats ; KM Jem ak BR BON: OX. 
SE CY TURAT E TE TE AIDA er 
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ya e TX ch a Su 


Ý m Sdyceibfild) und aus der Werſſtatt 


OT ADI SOOO OP ORO APO OP EE Ettel 


* 








Von meinen Vorträgen 










EIER ir jagen bei Adlon, bie Gán e 
SUR ‘iter | 


? leberpajtetejchmolz aufderZunge, 

A und ber Burgunder war med 

CY wie bunfelrote Seide. 

Mein bódft wiirdiger Tijd: 

goon eg? mich mit feinem boldjeligiten 
üdjeln: „Und was, liebfter Baron, geben: 

fen Gie diefen November zu tun? Riviera? 


Kä 


ON 
Së 


4 
« 
—— 


„Im November la 


Ägypten?“ be al id) fachlich antwortete: 


id) mid) in Öfterreich 

t Geld jehen!” 
„Das holdjelige 2üdjeln erjtarrte viertel- 
e und als es wieder aus den 
olfen berporbrad), — ad), da war es eifig, 
wie Die Sonne auf den Schneefeldern Des 
Hella... Meine liebe Frau fann die obige 
Redewendung aud) nicht leiden, und fo fol 
fie bier zum legten Viale pepe obgleich 
th feine kürzere und jchlagendere Bezeich- 
nung dafür weiß, daß alljährlich ein Dugend 
meift ungeſchult fprechende, unión ange: 
zogene, unglüdlih ausjehende Leute, Die 
Gedichte gemadjt haben, auf eine Bühne 
tlettern und vor Neugierigen — („Sch warne 
Neugierige!” aljo fprab Jagow) — diefe 
Verje aufjagen. Wobei den wimperlos 
ftarrenden O —— unſere Kragenhöhe, 
Frackſitz, Solenb gelfalte, mindeftens aber: 
unfere Augenfarbe, Zodenfall, SDtienenjpiel 
wichtiger (m als unjere Gedichte. 

Zu diejen unjeligen Schaugeltalten alfo 
gehöre auch ich, babe von früher Ys Cap an 
unzählige Male öffentlich meine Gedichte ge: 
Jproden und zwijchen Kopenhagen und dem 
aa a Theater in Taormina, zwijchen 

nitantinopel und Brüſſel Se lang: 
weilige und lächerliche Dinge in Menge er: 
lebt, wie natürlich jeder andere in gleichen 
Lagen aud. — 

. 3m Laufe ber Jahre wedjelt bie Be: 
tradtungsweije diejer Vorträge jehr erbeb: 
lid. Als ganz junger Menſch verjuchte mid) 
bisweilen der Teufel ber Berlegenbeit, aber 
id) hab’ ihn immer durch tapferes Auslachen 
verſcheucht. In Breslau hatten fie mir 
eines jener bleiftiftoiinnen auseinanderzieh: 
baren Notenpultchen auf die Bühne geitellt. 
Ic legte zaahaft bie damals noch meijt um: 

edrudten loſen Einzelblätter meiner Hands 
; riften darauf und 3og ben Fuß zu meiner 
Eingangsverbeugung heran ... ftieB an bas 
federleichte Dingel... und fiehe, es hüpfte 
vertrauensvoll einer diden Dame in ber 
erften Parkettreihe auf den Schoß, während 
meine Berje wie blauweiße Schwalben im 
Saal herumflatterten. Es war entjeglid — 
wenigftens für mich! Die anderen da unten 
hatten bod) wenigftens mit bem Auflammeln 


Bon Bórries, Freiherrn von Mündhaufen 





~D i Ca) we 72) do» — C 


etwas zu tun, während für mich nur d 
holde Spruch galt: 
e n e A 
EA 
Als daß er ládjelub jchweigen 
Und jchweigend lächeln tann! — 
Ah, dieje Stimmungsmorde im Bor: 
tragsjaal! Wir können alle ein Lied davon 
fingen! Einmal las id) in einem Gaal unter 
den ftrablenden Monden milcdyweißer Bogen: 
lampen mein Dreigejpräd, in bem eine 
Mutter mit ihren beiden erwadjenen Söhnen 
davon |pridjt, wo fie begraben fein möchten. 
Gerade war ich in dem [dwermiitigen Ge- 
dicht bei den Worten angelangt: 
Im Saale wird es buntler... 
als die Bogenlampen, offenbar in dem Bes 
ee mir zu ftárterer Wirkung zu verhel- 
en, erlofden. Zwar flammten fie gleich 
wieder auf und bejtrebten fid), durch lebe 
dë mißbilligendes Zijchen ihren faux -pas 
elber zu verurteilen, — aber mein liebes 
Gedicht Hatten fie bod) getötet, und feine 
Kunſt Devrients hatte jeine Wirkung wieder 
ins Leben rufen Tonnen, . 
Immer braudjt bas Berlöichen der Lam: 
en nicht jo ärgerlich zu fein. An der Weft- 
fron ſchoß mir einmal bie englijche Artillerie 
as Licht aus, als id) juft ben Gutsinfpettor 
Giedentopf die Worte us tl ließ: „Dich 
fneipen bod) nicht Alimente?“ 
Da das derbfröhliche Gedicht einen Zwi— 
ſchenruf verträgt, rief ich in die nachtſchwarze 
cheune hinein: „Kameraden, bas Licht [djámt 
fid) und TA weg, weil id) von Alimenten 
rede!“ Während ein erlöftes Gelächter er: 
braufte — in folden Lagen ijt Bublitus für 
den dümmſten Scherz dankbar — jtiegen „zwei 
eutnants, rofenrot und braun” zu mir herauf 
und leuchteten mir von nun an redjts und lints 
mit ihren Tajchenlampen aufs Blatt, — fel- 
ten hatte ich freundlicheren Beifall, als am 
le diejer glüdlich geretteten Bala- 
deste 
Sn Wien jollte id) in einem großen Felt: 
Bauje, in bem gleichzeitig auch andere Bor- 
träge ftattfanden, die Balladen meines 
Buches ,Juda” vorlejen. Da ich das Haus 
nicht fannte, fragte id) einen, anjcheinend 
desjelben Weges gehenden Herrn danaw. 
Er antwortete mit der Gegenfrage: „Sie 
wollen wohl aud) in Krotojchiners Vortrag 
fiber bas Wejen der Börje?” | 
„Kein, ich will in Münchhauſens Juda— 
Bortrag‘.“ 
Worauf er miBbilligenb den Kopf [düt- 
telte: „Nee, mir is der echte Jude lieber als 
der nadjemadjte!^ Er war aus Berlin, 


‘ 








a Gemälde von a 


Segeltuchnähen 


Emanuel Zairis 


a ber Fiſcher a 


Lesch Börries, Freiherr von Münchhauſen: Bon meinen Vortrágen RZA 385 


wollte mich gar zu gerne als Geſellſchaft 
zum Vortrag und dann zu einem Glaje Bier 
überreden, und verftand gar nicht, daß id) 
fagte: „Sch muß leider zu dem nadgem... 
— in den anderen Bortrag!“ — 

Man könnte denten, daß ich bod) ein ſchö— 
nes Stüd Welt auf diefen Bortragsreilen 
gersen haben müßte, aber für mid) ijt leider 

abet das Geſicht einer Stadt genau to 
wie das der anderen: Auf dem Babnbofe 
freunblide Herren zur — eine 
Droſchke, ein Gaſthauszimmer, in dem oft 
et ber Tijd voll liegt von den Büchern 
er Handjdhriftenjammler, dann Bejuche von 
allen mógliden — (und unmöglichen!) — 
Herrihaften, dann ziehe ich mich fröftelnd 
um, wieder eine Drojdfe, ein winziges, un: 
oe Riinftlergimmer, bann ein Gaal 
raujend voll enjden und Licht und 
Händeklatjchen, bann met ein Bantett, viel 
Blumen, mehr Wein und noch mehr freund: 
lihe Worte. Und anderntags früh werde 
ih in bie nächſte Stadt transportiert, in 
der es ebenjo eech, Tag für Ta 
Abteil und Drojdfe, zen: und Künft- 
lerzimmer und der große Saal und unzählige 
liebenswürdige Menjchen überall. Einmal 
in 11 Tagen 10 Städte, einmal in 39 Tagen 
36 Städte, einmal an der Front in 7 Tagen 
13 Vorträge. Man muß freilich Nerven 
Denen wie Bügelriemen, um das fo wochen» 
ang auszuhalten, vor allem, wenn dazu 
etwa ein heftiger — — im 
Balkan eine Juliwärme von 40 bis 50° und 
tägliche Ritte und Rarretenfubren von eben: 
jovielen Kilometern tommen. Aber ein 
unjtillbarer Lebensdurft und eine taum zu 
bändigende Lebensfreude ließen UM bie 


wodenlang tägliche Geieret bet Wein unb 
ichweren Zigarren ertragen, als wäre es 
ein Spiel. 


Sd) erwähnte oben die Gelbftichriften- 
jammler. Dieje und jede Art Bergötterung 
des Menſchlichen vorm Künftleriichen, vor 
allem aber bes reproduzierenden alfo zweit: 
queen Künftlers (Schaufpieler, Sanger, 

eflamator, Geiger, Klaviervirtuojen) vor 
dem produzierenden, aljo Vid rre (Dich: 
ter und Mertoner), Ch efanntlid) am 
loderndften in SÖfterreih. Einunddreißig 
Selbftichriftenbücher auf dem Tijd) meines 
Prager Gafthaujes waren da die Hödjit: 
leiftung, — aber es waren gewiß nod) 
nicht die Hälfte von denen, die mir im Ver: 
laufe des Tages vorgelegt wurden. 

ie ſchönſte Sammlung btejer Art jah ich 
bei einem — ODbertellner, der jo von Der 
Sammelleidenjchaft bejejfen war, daß er fih 
feine Stellungen überall da ausjuchte, wo 
er auf eine große europäilche Bejucherichaft 
rechnen konnte. m und London, Kairo 
und Nizza, Wight und Oftende wirbelten 
auf jeinen Blättern durcheinander, auf denen 
faft alle Herrjder der Welt und eine er: 
drüdende Fülle von Künjtlern allerart fih 
eingejchrieben batten. Ift die Szene nicht 
eines Luftjpieles würdig, wie der befradte 


nur. 


Stumme plóglid Sprache befommt und 
etwa bem weißbärtigen König Leopold von 
Belgien das Album vorlegt, in bas biejer, 
lachend ob der Geltjamfeit ber Lage, feinen 
Namen einträgt! Und wie fóftli war bie 
demofratijche Unbefangenbeit bieles Gomm: 
lers, die ihn unmittelbar vor dem König 


‚einen Abrichter gelehriger Schweine, unmits 


telbar hinter ihm eine weltberühmte Tänzerin 
einjchreiben ließ! 

[jo in diefem Buche ftehe auch id) und 
bin bloß neugierig, wer meine Nachbarn 
geworden fein mögen! — 

Einmal in einer Heinen Stadt verließ ich 
D Pauje die Bühne und ging durd ein 
des großes Nebenzimmer in das Riinftler: 
fübchen. Erſchrocken prallte id) zurüd in 
der blighaft empfundenen Annahme, aus 
erleben in bie Damenfleiderablage geraten 
zu fein. Wher nein, bie Damen famen lieb: 
reizend lächelnd auf mich zu, und was fie 
an weißen Tüchern und Deden in der Hand 
trugen, das waren abermals leinwandene 
Gelbitichriftenfammlungen: denn es herrjchte 
erade dort und damals die Mode, Unter: 
dritten auf Tijchdeden zu jammeln und 
dann auszuftiden. Für jemanden, ber ben 
Zauber einer Hand)drift empfindet, find 
dieje Deden an äjthetilher Wirkung ganz 
ähnlich ben gewillen Tafchentüchern mit 
"yii gr Side Hindenburg: die Beweglid): 
feit des Gewebes oe Serrbilber von ein: 
fad) ſchauderhafter Wirkung, und gwar bet 
ber Schrift niht weniger als beim Bildnis. 
Immerhin find aber bie Leutchen, die 
perjonlid) um eine Unterfchrift fommen, 
liebenswürdiger als die Briefe [d)reibenben. 
Da liegt eine Poftfarte neben mir, (juft in 
diefem Wugenblide angefommen), auf der 
nur fteht: „Erjuche Har um wt. Namenszug. 
Mit beitem Dant Arthur Hollander, Wien.” 
Oder der fabelhafte Mann, ber mir heute 
einen in Schreibmajchinendrud bergeftellten 
Zettel ſchickt: 


Weihnadhtsbitte! 


Meine Frau wünjcht Di zu Weihnachten 
einen Kalender, deffen Blätter Grüße von 
reunden und Belannten enthalten follen. 
ch bitte Cie daher, die beifolgenden Blát: 
ter mit irgendeinem Gedicht, Sinnſpruch, 
GK oder dergl. verjehen und inge: 
altet bis jpätejtens 15. Dez. b. J. zu fenden 
an Dr. 8... \ 
Bei bem Briefe liegt ein durchlochter 
AbreiBlalenderzettel für den 7. Juli. — Mfo 
an diefem Tage fol Frau Dr. ®., mitten 
zwilhen Tante Gulden und Ontel Adolar, 
von Börries Münchhauſen begrüßt werden. 
Wie rührend muß bie Liebe bieles Mannes 
zu feiner {frau fein, daß er an völlig fremde 
Dichter, Maler, Mufitanten hunderte folder 
unjchüchterner Zettelchen |djiden mag! 
Dod genug von diejen böjen Jágern auf 
Namenwild! 
Sehr peinlich ift es, feinen Namen in 
balbmeterboben Budbitaben an ben 9In]djlag: 


386 FSSSS3 Börries, Freiherr von SUtündjbaujen: seess et 


jaulen zu feben. Aber nod peinlicher war 
ein Meines Erlebnis, das ich in Gottingen 
mit meinem Bilde hatte. Dies prangte in 
einem Buchladen neben meinen unfterb: 
lihen Werten, um durd Wohlgeftalt die- 
jenigen in den Vortrag zu verloden, denen 
meine Berfe allein zu langweilig waren. 
Ich ftand beim Abjchiednehmen von dem mir 
befannten Buchhändler Horftmann in Der 
Ladentiir, als zwei Studenten des Megs 
herjdlenderten und vor meinem Konterfei 
jtehen blieben. 

Der eine jagte in etnem Tone, ber jeden 
Widerfprud aus|djlop: „Herrgott, bat der 
Kerl ein unjgmpatbijdjes Geficht!” 

Und der andere 30g ibn nadlajjig weiter: 
„Na, — er weiß es nicht!“ 

Erlaubt mir, meine er auf dieje 
Göttinger Wunde als after eine liebe 
Bortragserinnerung aus der Balladenftadt 
am Robns zu fleben: Ein altes Gejdhwilter- 
paar hatte mid als Studenten und viele 
andere Jugend in ihren großen, wunbderlid) 
im alten Stadtgraben gelegenen Garten zu 
einem Sommerteft eingeladen. Der ver: 
wilderte Part tráumte in der Sommerjonne, 
unb auf den verwadjenen Wegen, den mor: 
iden Holzbrüdchen, den [tillen Wieſen fern 
und nah drängte fich in hellen Kleidern die 
Jugend gener Tage. Der Tijd) unter der 
rieligen Linde, an der id) meine Berfe por: 
las, war mit Blumen gejdmiidt, Rrange 
hingen von oben auf die gewaltige Bowle 
hernieder, und mit Blütengewinden war mein 
Pla befränzt. Und dann wurde mir ein 
mit Reblaub umwundener Becher gereicht, 
freundliche Berje an mid erflangen, ein 
Lorbertranz voll goldener Rugelbeeren im 
ewigen Laube jenfte jid) plóflid) von hinten 
in meine Haare, unb die Mädchen fangen 
um mid) und jdenften mir Rofen. — Mian 
Bat in Göttingen jolde ein wenig über: 
Ichwengliche, ein wenig irifierend-ironilierende 

ejfe von den Tagen des ,Haines” her zu 

eiern verftanden! — 

Von dem Beifall bei meinen Vorträgen 
zu erzählen würde höchſt eitel und törıcht 
Dazu fein, Denn wer einen Abend opfert, 
um einen Dichter zu hören, ber ift ganz ges 
wif [Mon ein Freund feiner Runft und wird 
nicht gerade pfeifen. Ich babe alfo jelbit- 
ver[tánblid) immer „ungeheueren Beifall“ 
geerntet, wie jeder andere Worlejedichter, 
mag er ein Könner oder ein Nobody fein. 

Freilich fann man nicht allen gefallen, 
. wie [hon bas Sprihwort jagt. 

Einmal hatte id) mid) als Nummer in 
ein Wohltätigfeitsprogramm einfadeln laffen, 
das ein Regiment für die Armen der Stadt 
mit Mufit, Liebhabertheater, Rojtiimtangen 
und Gedichtvorlejen auffiibrte. Um mehr 
Geld zu triegen, lieferten wir den ganzen 
Gegen gleich zweimal, und nannten den 
Sonnabend „Generalprobe“, auf den dann 
am Sonntag das eigentliche Felt polgen jollte. 

Ich Hatte ein Halb Dutzend Balladen 
leidjtejter Prägung gelejen, Darunter bie vom 


nicht wieder betreten, ag 


Biſchof Megingand von Eichitädt, der im 
13. Jahrhundert lebte und fo erjchredlich 
flubte, bap ihn ber Papft zu einer ale 
predigt nad) Rom befahl. Zu biejer Reije 
ließ er fid) von feinem Beichtvater einen 
Ablah für Hundert Flüche mitgeben, ber fih 
aber leider [Hon in München als zu fnapp, 
nämlich aufgebraucht berausitellte. Megin: 
gand hatte feinen Borrat aufgeflucht, bevor 
er nad) Rom fam und mußte auf Nachſchub 
von Ablaß warten. In München. 
Sonntag früh zu E Zeit, 
um 9 Uhr, ließ mid) der Oberft jenes Regi- 
mentes ans Telephon bitten: „Herr von 
Mindbaujen, es ijt was Schredliches mit 
unjerem Programm pajfiert! Denten Sie, 
geftern abend nad) ber Worftellung, um 
11 Uhr, läßt fih auf einmal der Stittmeijter 
X. umgeldnallt bei mir melden und teilt 
mir mit, daß feine Frau heute nicht mit: 
ipielen würde, — und fie hat bod) eine 
auptrolle in unjerem Luftipiel! Aber fie 
ijt ja fo arg fatbolijd) und will die Bühne 
der fo gottes: 
läſterliche Kerle wie Ihr fluchender Bilchof 
herumwmettern. Was machen wir nur, was 
maden wir nur!“ 
Zum Mrgern oder Übelnehmen lag nicht 
der geringite Grund vor, ich trompetete 
lahend in den Trichter: „Aber jelbjtver: 
ftandlid) werde ich bas furdjtbare Gedicht 
durch ein anderes erjegen! Damit ich mich 
aber bei Frau X. ausgiebig ent|d)ulbigen 
tann, jo jorgen Gie dod bitte dafür, da 
id fie bann beim Abendefjen zu Tijd 
führe!“ Go endete alles in liebenswürdig ges 
wábrter ethan pur und einem febr Lë 
lichen Plauderabend. 1 
Dreimal babe id) Ratholifen zuliebe an 
meinen Balladen geändert und habe es jedes- 
mal gern getan. Wielleicht dürfen andere, 
vor allem die Aftheten und bie Bohémiens, 
anders handeln, und id) will fie beileibe 
nicht [Helten ob ihres Herausgelójtieins aus 
ihrem Wolfe und ihrer Gejelljichaft. Aber 
ich fühle mid) nur in gewiljen Grenzen und 
Bindungen wohl, behaglich und — 
Ich ſprach oben von dem Beifall und 
möchte wohl wiſſen, ob auch andere folgende 
Erfahrung gemacht haben: Große Städte 
ſind weit beifallsfroher als kleine, große 
Zeitungen viel freigebiger mit Lob als die 
kleinen. Der Kleinſtädter lebt dem Neuen 
und dem Fremden gegenüber bisweilen in 
der Gorge: „Daß id) nur nicht als der urteils— 
loje Kleinjtädter gelte!” Deshalb find hier 
die Leute jo oft darauf bedacht, etwas ab: 
iprechend und zurüdhaltend zu fein, wo: 
gegen dem Großjtädter jolde Gedanten gar 
nicht erft tommen. Und man findet aud 
nur in gewifjen Provinzblättchen jene fait 
hämilchen Kritiker, die dauernd zu murmeln 
\cheinen: ‚Der will uns wohl imponieren ?: 
‚Der benft wohl, hier in Schiloburg leben 
bloß urteilsloje Banaujen?‘ ‚Aber was Die 
in Berlin [Món finden, das braudt uns 
nod lange nicht zu gefallen!" — Dies ijt das 


E Bon meinen Vorträgen seess 387 


einzige, worin td) die Rleinjtadt ber GroBitabt 
nicht bimmelbod) überlegen finde! — 

Auf meinen Bortragsreijen jchreibe ich 
natürlich täglich an meine Frau, und diefe 
Briefe bilden dann eine Art Tagebuch, das 
id mit zahllojen Anfichtstarten, Briefen, 
Beluchstärthen und derlei aufflebbaren 
Reife » Erinnerungen ausjtatte und köſtlich 
eingebunden meiner Bücherei einverleibe. 
Ans Ende ftellte id) dann ein Verzeichnis 








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—— 
NINA 2 






der Leute, bie ich fennen gelernt habe, und 
diefe Verzeichnifje find für mein elendes 
Gedächtnis jehr wichtige Nachichlagewerte. 
Himmel, was für Menjdenmajjen bringt 
jede ſolche Reife! Sechzig, hundert, ja an 
zweihundert Befanntichaften find da höchſt 
alphabetijch aufgeſpießt, und es lohnt fon, 
einen Blid auf fie zu werfen. 

Zunächſt babe id) natürlich fajt alle großen 
Dichter meiner Zeit bei bieler Gelegenheit 


388 PSSS Börries, Freiherr von Münchhaufen: 


tennen gelernt. Sd) will aber für Spür: 
najen gleid) von vornherein vermerken, daß 
id) durchaus feine reizenden Aneldoten von 
ihnen gu erzählen gedente. Ich habe nam: 
lich entdedt, daß ſolche Beichichten faft immer 
den, natürli nur im Unbewubten flume 
mernben, Swed haben, jene Großen wie 
Bühnenlampen zu Füßen des Herrn Er: 
gablers zu ordnen, von deren Liht man un: 
mittelbar gar nichts, vielmehr mur den 
ftrablenden Widerjchein auf den geldmint: 
ten Zügen des Helden fieht. Ja, ich emp: 
finde fogar viele Anekdoten eines fo Itebens: 
würdigen Erzáblers, wie Fontane es war, 
als lieblos, als berlinerijch-|chnodderig. Was 
geht es ben überlegen lächelnden Lefer an, 
ob der feine, alte Theodor Storm einen 
„endlojen von Mutter geftridten Schal” um 
den Hals widelte, wenn es ihm in Berlin 
zu talt auf der Straße war! Ich hatte 
gontane gewiin|dt, bap auch über feine ver: 
meintliche überlegene SFeinheit des Anzugs 
ein joldyes Dóbndben (etwa aus dem Munde 
eines Diplomaten) ins ewige Leben der 
giteraturgeldjidjte eingegangen wäre! Sd) 
zweifele, ob man es dann aud) als „ihar: 
mante Ironie” gepriefen hätte! 

Alſo ohne Gejdjidjtd)en: IH habe von 
der alten Garde der Felix Dahn, Wilhelm 
Raabe, Paul Heyie an bis zu den Jungen 
und Jüngften liebe und weniger liebe Berufs» 
geno|jen tennen gelernt, wobei bie Liebenss 
würdigfeit nad) derjelben Geite hin abnahm 
wie die fünftlerijche Fähigkeit. 

„Nach welcher Seite, ber alten ober ber 
jungen, nahm das ab?" — 

an muß nicht zuviel fragen, meine 
Freunde! 

Aber neben den Berühmtheiten ftehen die 
Unberühmten — aud) hier, wie viele unver: 
lierbare Erfahrungen mit menjdjlidjer Her: 
zensgüte, prächtigiter Baftfreundjchaft, rei: 
zender Gejelligteit! 

Einmal fam id) in O. an. Der November: 
abend war dunkel, und Diifterer noch war 
die Nachricht, mit der mein Gaj[tfreunb mid) 
empfing: Gein Bater war den Tag gejtor: 
ben, und das Haus, in dem der Tote lag, 
fonnte mich nicht beherbergen. Da hatte 
ein anderer Freund meiner Gedichte gebeten, 
mich behaujen zu tónnen, id) verftand feinen 
Namen im Gewühl bes Bahnhofes nicht, 
aber zehn Minuten jpäter braufte ich in 
einem eleganten Auto bird) das jchlafende 
Land, neben mir ein fremder Diann. Wir 
hielten vor einem Gutshauje, eine liebens: 
würdige Hausfrau begrüßte mid) am lodern- 
den Ramin, wir oben ein vorzügliches Abend: 
brot, und id) genoB ben Maárdenzauber ber 
Lage fo jtart, daß id) mit Abficht vermied, 
den Namen der gütigen Menjchen zu er: 
fahren. Am náditen Tag zeigte mir ber 
Gutsherr feine Beligung, id) |taunte eine 
neuzeitliche Forellengudt an, wir plauderten 
über Dunberterfei, und als mid) der Kraft: 
wagen abends zum Vortrag nad) O. fuhr, 
da lebte ich immer noch wie im Märchen, 


wo ja aud) ber Gajtfreund wie der König 
unb ber Rieje feine Jtamen nötig haben. 

Uber ift das nicht nett, wie überall un: 
— meine Gedichte vor mir hergelaufen 
ind! Lautloſen Trittes wie der Geſtiefelte 
Kater ſind ſie mir ER auf fo 
vielen deutſchen Wegen, und wenn mein 
Wagen hinterher tommt, fo gehört jhon alles 
dem ,Viarquis von Carabas!“ 

Einmal freilich folte ich gar nicht er: 
fannt werden, und das ging fo zu. 

Sn 3. Hatte id) einen lieben Klaſſen— 
genoffen gehabt, aber meine, Thomas Mann 
würde jagen: bunfele und jchimpfliche” Vers 
gangenbett auf allerhand Schulen hatte uns 

etrennt, und jeit fünfundzwanzig Jahren 

Batten wit uns nicht wiedergejehen. Auch 
ein anfangs jprudelnder Briefwechjel war 
— yin hl ^ ally is Nun erfuhr 
i, daß er in Magdeburg YWmtsridter war, 
unb beichloß, ihn au überrajchen. 

Geine widerjtrebende Wirtin, bie in mir 
vielleicht einen Manichäer vermutete, [hob 
id) zur Geite und brong ohne anzullopfen 
in fein Zimmer. Ein verjtörter Mann er: 
bob Ki vom Jtadjmittagid)lárdjen, fajjungss 
los ftarrte er mid) an, während ber vorn 

elófte Hemdkragen ihm wie ein altwajchener 
Seiligenichein hinter ber (Globe giiterte. Ich 
begrüßte ihn in fröhlichſter Unbefangenbeit: 
"Tag, Frig! Wie gebt's, wie fteht’s ?“ 

Er würdig, betont und vorjtellenb: , Bon 
Schloſſer.“ 

„Ja, laß nur, alter Junge, wer du biſt, 
weiß ich ja, — haſt dich auch vortrefflich 
gehalten!“ 

Er, nach dem Heiligenſchein haſchend, um 
ihn wieder zum Kragen zu materialiſieren: 
„Bon Schloſſer!“ 

„Weiß ich, weiß ich, mein Lieber! Du 
möchteſt nun gar zu gerne wiſſen, wer ich 
bin, aber den Gefallen tu' ich dir nicht, du 
mußt raten! — Du erlaubſt dod!“ ` 

Dabei ſteckte ich mir eine Zigarre aus 
ſeiner Kiſte an. Als ich herantrat, ging er 
ſcheinbar zufällig hinter den Tiſch, aber ſein 
Blick verriet doch die Beſorgnis, einen Ver— 
rückten vor ſich zu haben. 

„Sie irren ſich! Ich bin der Amtsrichter 
von Schloſſer und fenne Gie nicht!“ 

„Freilich, rig, tennft du mid)! Du hört 
ja, du bilt fogar mein Duzbruder!” 

Sd) hielt diejen Beweis eigentlich für 
durchſchlagend. Aber er antwortete: „Daran 
eben fann ich erfennen, daß Cie fid) irren, 
ich habe feit meiner frühen Jugend nieman- 
dem mehr das Du angeboten!“ 

„Wie wertvoll ijt diefe Feftftelung für 
dein Raten! Alſo muß unjere Freundichaft 
jehr alt jein, — aber da du mir fo liebens: 
würdig ben Lehnſtuhl anbietejt, jo muß ich 
ihn wohl annehmen ...” 

Wobei ich mid) in feinen Grofvaterftubl 
warf und ihn fröhlich anladte. Ach, dies 
Lächeln fand in feinen jteinernen Zügen jo 
gar fein Spiegelbild! Ganz verzweifelt 
juchte er in meinem Gefidte unb feiner Er» 


ee Bon meinen Vorträgen Lee 389 


innerung herum: „Braune ...? Stein! ... 
Sevijobn .. .?“ 

„Jta, erlaube mal!“ 

Und pliglic) ging hinter den Wolfen 
feiner Stirne ein Wiorgendämmern auf, und 
dann brad) bie Gonne bes Berftändnijjes 
durch: „Börries SUtündjbaujen! Und ich 
date erft, Du wärelt ein Verriidter!” 

„3a, ihr Juriften! Da Haft du mir alfo 
Den Dichter wirklich angefehen ?“ 

„Ach, laß doch fein!“ — Arm in Arm 
gingen wir zu einem vorzüglichen und jehr 
ausgedehnten Freundibaftsmabl, — id) batte 
faum Zeit, mich zu meinem abendlichen Bor: 
QE - umzuziehen. — 

ud) während des Krieges bin ich wieder: 
bolt von der Erſatzſchwadron der Garde- 
Reiter in Dresden und vom Auswärtigen 
9Imte in Berlin fort an die Front zu Bors 
trägen angefordert worden. Nachdem id) 
wegen meiner loder gerittenen Niere nicht 
mehr bei meinem geliebten Regimente den 
Krieg als Soldat mitmachen tonnte, war mir 
diefe Verwendung eine angenehme Unter: 
bredjung des Dienftes auf ber Reitbabn in 
Dresden oder am Schreibtiſch meines Ber: 
liner Amtes — diejer Schreibtijh war ber 
einzige „Diplomat“ in meinem eleganten 
Bureau der Wilhelmftraße, auch wenn id) 
vor ihm fab! 

Sd) Habe es immer als ein bejonders 

ütiges Geſchick gepriejen, daß ich nicht 3. B. 

evolutions: oder Kirchenlied= ober Kolonial- 
dichter — bin, ſondern daß der freund— 
lichſte Beifall, ben meine Berfe finden, juft 
aus den Kreijen fommt, in denen ich lebe. 
Und fo bat mir aud) die Freude meiner 
Kameraden im Heer eigentlich immer jebr 
viel mehr Befriedigung gewährt, als bie 
ſchönſten Lobjpriide ber Literaturgeichichten, 
obgleich ich bod) aud) fie beileibe nicht mif- 
ien möchte! Aber wie freute ich Nach als 
nad) einer meiner erften Rajino-Borlejungen 
ein blutjunger Leutnant tief ergriffen und 
in leidenſchaftlichem Ernfte ausrief: „Bott: 
verdammid, Münchhaufen, dich bat be Mufe 
ja laufig getüßt!“ 

Was aus dem Cüádjlilden ins Deutjche 
. überfeßt ber reine Lorbeerfran3 ijt. 

Überhaupt das Sächſiſche, — ich laffe 
nichts aufs Sächſiſche fommen, feit id) meinem 
Paul — Iprih: Baul — als Burjchen durch 

alb Europa neben mir reiten gehabt habe. 
due batte er viel Heimweh nad) Dres: 
den, Dem Königlichen Regimente und feiner 

errlichen Vergangenheit als Friedensjoldat. 
enn es ibn allaujehr padte, wie in Maze— 
donien, fo holte er einen Stoß alter Schwa- 
bronsbefeble aus jeinem nad) — 
duftenden Gepäck und verſenkte ſich weh— 
mütig in die Herrlichkeiten ſeiner Gardiſten— 
jahre. Manchmal, wenn ich Zahnweh hatte, 
las er mir auch daraus vor, als Dank für 
die ungezählten Male, die er mich hatte vor— 
leſen hören. Und noch klingt mir ſeine ehr— 
liche Stimme in den Ohren beim eintönigen 
Vortrag jener alten Wachtmeiſterweisheiten: 


‚Die Schwadronen melden bis morgen 
mittag ihren Beitand an Pferden, ein: 
geteilt in: a) Untauglide, b) Stuten, 
c) Ungarn‘ , 

oder Der feltiame Befehl: 

‚Da die bisherige Stute Gulla jid) bei 
Herrn Stabsveterinär als Hengft heraus: 
geftellt bat, jo Debt berjelbe von heute 
ab Fenus. —' j 

„Baul“ war ein leidenjchaftlicher Verehrer 
meiner Runft und erfundigte jid) oft naw 
Einzelheiten in den Balladen. Nachdem er 
die ganze Champagne entlang allabendltd) 
im Totjpieler bas Gejprád bes Pajtors mit 
feinem Rirchenpatron angehört hatte, fragte 
er eines Abends beim Ausziehen der langen 
Stiefel: „Herr Rittmeefter, was nur das 
dst muß, da in dän Dotenjpieler bie 

adrone ?“— 

Höchſt eiferjiidtig wadte er über meinem 
Ruhme und verfehlte nicht, mir allmorgend» 
lich zu berichten, was fie in der Kantine 
über mid) erzählt hatten: „Nu, da war eener, 
der jagte: Heere, jon hochginitlerifcher Ge: 
nuß wie von dein Rittmeejter, dän babd) 
bald nod nicht gebatt. Neilih war en 
Rezidador ba, aber nadierlid, ben Auswurf 
wie jo e eichener Dichter, bán hadde er nid). 
Tu, id) fagte: ‚Heer nur erjcht mal unjer 
anderes Brogramm uf be Middewodhe, — 
Heere, da fecits eenen erjdjt feicht ibern ... 
U... therm Riden runter!” 

Wirkungen deutjcher Wortkunſt! 

Lieber alter Baul, — wie viele herrliche 
Gejdhidten dante id) dir! Jd habe wohl 
hundert Geiten damit gefüllt. — 

In was für Räumen babe ich nicht auf 
diejen egw gelproden! 

Ih |tanb in einem Schafſtall auf einer 
Krippe, id) ftand vor ben Mtarmorfaminen 
es a Schlöſſer, ich jtand vor der gold: 
tarrenden S'fono[taje griechiſcher Kirchen, id) 
jtand in Lazarettzelten, und auf bie Zem: 
wand fchlugen trommelnd die Tropfen des 
rujjijden Gewitterregens. Wundervoll war - 
ein Abend vor der Säulenhalle einer Mofchee. 
Offiziere und Mannſchaften lagen auf der 
umbujdten Waldwieje vor mir, die Gras 
naten blübten blutigrot in den Bäumen 
rings, unb die Nadtigallen fangen in meine 
Strophen hinein, var Eë fern drüben überm 
Vardar bie bulgarilhden Odjenfolonnen in 
endlojem Zuge binwóltten, 

Freilich allzu Lyrijdes ijt für bas Bors 
lejen im Felde nicht geeignet, unb nur Ge: 
dichte mit Rnoden und Muskeln vertragen 
es, daß neben ihnen eine Scheune facite 
niederbrennt und über sgen die braujenden 
Bahnen der großen Geſchütze wie die ge: 
waltigen Rippen eines unjidjtbaren Domes 
gegeneinander aufjteigen. 

$ieber aber als alle öffentlichen Vorträge 
waren mir die ftillen Abende in Rußland, 
da ich noch felber Soldat war und Den 
Kameraden in Schwadron und Regiment 
Berfe periagen durfte. Wie war ich glüd: 
lich, den lieben Freunden ein wenig Freude 


390 FEA Bórries, Freiherr von Mündhhaufen: Bon meinen Vorträgen B===X3 


maden zu fónnen! Aber natürlich mag ich 
von diejen Abenden nicht erzählen. 

Darf id) zum Schluß nod) ein paar Bemer: 
fungen über meine und anderer Vortrags» 
art anfügen, obgleich ich glaube, damit in ein 
Welpenneit empörteften Widerjpruches zu 
jtofeln: Dir find faft alle Deflamatoren, Rezi- 
tatoren und Schaujpieler, jobald fie „jeriöje“ 
Gedichte vortragen, eine wahre Qual, und 
ich entfliehe diejer Hille von Verlegenbeit 
und Mervenpein, joweit ich irgend tann. Gie 
Ko mir alle zu ergriffen, um ergreifend zu 
ein, fie überjegen die edeln Fresken eines 
Gedichtes in die grele Plaftit der Bühne, 
jie wijjen alle niht, dak ein Gedicht Die 
áuBere Form von Rhythmus und Reim wie 
eine Art SE in und an fih trägt, 
deren Melos und Rhythmus man nicht be: 
Ser" ändern Tann. 

e mir befannten Dichter |prechen Berfe 
jo: Ohne jene unnatiirlidhe Sprad», Runjt”, 
die dem Schaufpieler von heute anerzogen 
wird, fobald er ,|predjen^ lernt (unb über 
deren phonographijdes Bild [pátere Ge- 
— ebenſo lächeln werden, wie wir 
über den Reifrock der Medea zu Goethes 
Dichter ſprechen leiſe wiegend auf den 

ogen des Rhythmus. Mit deutlich hörbaren 
Reimen — (fürs Ohr nämlich ſchreiben wir 
jie ja!) — und deshalb einer winzigen Pauſe 
hinter jeden Vers. 

Unbedentlich gebe id) Dier dem Dichter 
recht vor dem Gchaujpieler. Und id tu 
das, obgleich aud) die übliche Vortragshörer: 
ſchaft durchaus nicht genügende Obrerziebung 
befiBt, um das Ctilloje ber Gedichtverleben: 
digung durch den Schaufpieler zu empfinden, 
oder die bejcheiden Hinter dem RSunftwert 
zurücktretende Art fajt aller Dichter als richtig 
zu erfiiblen. 

Wie oft haben mir nicht jelbit luge Shau- 
\pieler gejagt: „Laſſen Sie mid) Ihnen dod) 
wenigitens einige WochenSprechſtunden geben, 
lernen Ste doch mindeftens bas Zungen-R, Ihr 
Organ wird es Ihnen zehnfad) lohnen, Ihre 
war mundartfreie unb jehr deutliche Aus: 
forade enügt den Anforderungen nicht!” 

Der Regierungsajjefjor Graf Y. jagte zu 
dem Dichter Georg Bufje-Palma: „Ich würde 
mir an Ihrer Stelle bod) bie Haare ſchnei— 
den, den Bart abnehmen und die Nägel 
polieren laffen!” 

Worauf Palma mit allen Anzeichen des 
Entjegens die Hände aufhob: „Um Gottes 
willen, ba fábe id) ja aus wie ein — Re: 
gierungsajjefjor oder womöglich wien... 
wien ... Graf!” 

Gein Gegenüber verjtand nicht... Auch 
mein Schaulpieler hat damals, dant feiner 
widerftandsjábigen Ronjtitution, nid)t ver: 
jtanden, was id) antwortete. Was aber nod) 
fein Beweis gegen oder für ihn oder mid) ijt. 

Wicdhtig ijt mir vor allem dies: Es ift für 
den Wert bes Gedichtes, des Dichters und 
bes Bortrages völlig belanglos, ob der Dich: 
ter „ſchön“ vorträgt. on nur, daß 
nicht allait derbe mundartliche Färbung und 


Undeutlidfeit bes Sprecdhens das Gedicht be- 
einträchtigen. Innerhalb bieler Grenzen ift 
jeder Dichter der befte und mir wie anderen 
Dichtern liebjte Vermittler feiner Berfe. Ach, 
ein Gedicht ift Jo leicht totzumachen durch 
allzuviel Belebung! Nie darf im Gedicht jo 
ejproden werden, wie die angeführten 
orte — etwa des fterbenden Königs — 
von einem Sterbenden oder einem König in 
der Wirklichkeit geiprochen werden — das ijt 
die Aufgabe der dreidimenlionalen Bühne, 
die Mirtlidteit vortdujden will und darf. 

Wir merfen bei unjeren Borträgen, — 
ich |prad) oben von dem geringen Wert des 
Beifalls bei Dichtervorträgen — wir merten 
nicht, ob den Zuhörern unfer Vortrag als 
jolcher gefällt. Wher mid) will bediinfen, un- 
lere überfüllten Gale [prehen bod) eine Dent: 
lide Sprabe. Und ich Dachte, es wäre be: 
rechtigt, wenn hier einmal einer von uns der 
Hörerichaft jagte, daß fie Dabei richtig fühlt. 

Mag immerhin vom Schönipredheritand- 
puntt aus ber eine allzu erhaben, der andere 
allzu láffig, der dritte allzu ſchnell, ber vierte 
allzu laut jprechen, — das gehört ebenjo zum 
berechtigten Weſen feines Bortrages, wie 
etwa der trodene „Bortrag“ Hans Thomas, 
der faftige „Vortrag“ Lovis Corinths oder 
der üppige „Vortrag“ von Leo Pug zum 
Mejen der Gemälde diejer Vietfter. 

Eine ganz andere Frage ift bie nad) bem 
Wert folder Vorträge für ben Dichter felber. 
Ich fehe die Gefahr bier in der ftarten Ver: 
äußerlichung, dem Birtuojentum, das un: 
zweifelhaft auf ſolchen Reijen gewedt wird. 
Es wird eine rage des Charalters fein, 
wie weit ein Dichter ben Verführungen der 
Eitelkeit zugänglid) iff, — vielleicht muß man 
aud) fagen: zugänglidy fein darf. Denn 
(itelfeit braudt beim Riinjtler nicht not: 
wendig ein Fehler zu fein, fie ijt für viele 
ra ein Gegengift gegen die rajtloje 

elbjtzerfleiihung bes Schaffenden. 

Vielleicht hat der reine Lyrifer öffentliche 
Vorträge feiner Werke gar nicht nötig. Schon 
der große Saal, die Menge der Zuhörer und 
die notwendige Dauer einer Borlejung moder 
ja die Wirkung vieler Gedichte faft zunichte. 
Dagegen glaube id, dak ber Balladendichter 
jo wenig wie der Schaufpieldichter die Offent= 
lichkeit auf bie Dauer entbehren fann. Bei 
ihnen ift ein großer Teil des Wertes in Die 
Wirkung geftellt, und diefe Wirkung läßt fid _ 
nur erproben vor der großen Hörerjchaft. 
Ich geitebe, daß ich in meinen Vorträgen 
viel gelernt habe für meine Runft, wie oft 
habe ich niht nad) diejen Abenden nochmal 
nachdenklich bie Handjdrift hergenommen, 
um bier zu mildern, da zu —— — 
häufig zu verdeutlichen. Offentlichkeit iſt ein 
heißes Feuer. Sie verbrennt Schwächliches, 
ſie ſcheidet Schlacken aus, ſie glüht Eiſen 
wieder ſchmiedbar, ſie ſchmilzt in Formen, 
was vordem ſich nicht biegen wollte. Und 
ſo laſſe man auch den Dichtern ihre Vorträge 
und ihre Vortragsart, ſelbſt wenn ſie anders 
iſt, als die der berufsmäßigen Sprecher! 








RARA RNE 


enn Altes verfintt unb Neues em: 
, porjteigt, fo liegt für, bem Ge- 
| Ichichtstundigen bie Erinnerung 

Ls nahe, wie oft dies im Laufe der 
Jahrhunderte [bon gejchehen ijt in der 
unabänderlich nad) einer Richtung geben: 
den Entwidlung der menjdliden Kul- 
turverhältnifje, die unerbittli jo mandes 
zeritört, was an fih eine hohe Leiftung, 
eine feine Aulturblüte war. Und wenn 
jo etwas den richtigen zeitgemäßen Berherr: 
lider und fiinftlerijden Vertiinder gefunden 
hat, dann bejchleicht eine gewijje Mebmut 
um das Vergangene und unwiederbringlich 
Verlorene auch den, der fonft allem Fort: 
ichritt gewiß nicht abbold ijt. So geht 
mirs, wenn id) einen alten ,Ridinger” an: 
ſchaue. Es fommt dazu, daß id) miitter- 
licherjeits von der grünen Jágergilde eines 
jüddeutjchen Bundesftaates herftamme, und 





Bon alter Jagd: und Reiterherrlidteit 


y 
: Bon Geh.-Rat Prof. Dr. Ludwig Hed o 
Mit neun Abbildungen von Stiden Johann Elias Ridingers 





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Abb. 1. „Wan der Edle Hirfch verendet, wird er aufgebroden, bas 
Gejdeide heraus genomen, der rehte Vorderlauff abgelójet, bem 
Piquer übergeben, und von demijelben ber Herrichafft prajentirt.” 









gwar gerade besjenigen, wo im 18. Jahr: 
hundert am Hofe die Jagd zeitweije alles 
andere überwucherte. Ich werde nie das 
Mienenfpiel meines Ältejten vergeffen, als 
er, zu furzem Rriegsurlaub von den Bo: 
gejen herunter mit mir zujammengetroffen, 
im Mildpart meiner Heimat, die ganz im 
Ridinger-Stile gehaltenen Gedenttafeln aus 
jener Zeit an ben Bäumen las, in demjelben 
Mildpart, den fpáter mein Großvater ein 
Menjchenalter hindurch verwaltet hat. Ich 
bin alfo erblid) etwas belajtet; bas darf id) 
mir aber anderfeits vielleicht als einen ge: 
willen Ausweis dafür dienen laffen, daß id) 
über Ridinger zu jchreiben wage, obwohl id) 
weder Jáger oder SJagdwillenjchaftler noch 
Reiter ober Reitwillenjchaftler bin. 

Die vielen größeren,. Heineren und ganz 
feinen „Serenijjimi” waren es, im erniten 
Sinne unjeres Baterlandes Jammer und 


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26 


2. BD, 


Sfelbagen & Rlafings Monatshefte. 35. Jahrg. 1920/1921. 


3 


394 Geb.: Rat Prof. Dr. Ludwig Hed: BS3232222 33333 


Obnmadjt, die bie höfiiche Gagdherrlidfeit 
im 18. Jahrhundert auf die Höhe führten. 
Mábrend Friedrich ber Große und fein Vater 
in ernftem, zeitweije das eigene Dajein ge: 
fübrbenbem Ringen den Grund zu einem 
bejjeren und größeren Deutjchland legten, 
ftrebten jene eifrigft, nad) bem jelbftherrlichen 
Grundja bes franzöliihen Sonnentónigs 
„Der Staat bin ich“, biejem alle feine äuße— 
ren Lebensgewobnbeiten abzuguden, und 
pflegten fo u.a. andy den höfiichen Jagd» 
luxus als üppige Gewádsbauspflanze auf 
Koften ihrer met jehr armen Lander und 
Ländchen. Das war gewiß nicht ſchön. Aber 
biibjd wars dod! Hübſch und feljelnb 
diintt es mich wenigftens für jeden, der nicht 
gang und gar vergroßjtädtert ijt, zu verfolgen, 
zu welder Ausbildung bis ins einzelne, zu 
welder Runfthöhe, muß man wirtlid jagen, 
damals bas Jagdwejen, bie Zucht und Abs 
richtung der Hunde und der ganze Jagd— 
betrieb gediehen waren. Es war zwar alles 
bis gu einem gewiffen Grade zu höfiſcher 
Spielerei und fürftlihem Schaugepränge aus: 
geartet. Gewiß! Aber zu bewundern ift in 
vieler Beziehung bod), was geleijtet wurde, 
In Hundeführung, Fährtene und Epuren: 
funde und allem, was fonft zur gerechten 
Jágerei gehört, gab es damals wohl Meiſter, 
ja: waren wohl alle fürjtlihen Berufsjäger 
foldje Meifter und Künftler, daß fie uns 
heute ausládjeln würden, wenn fie aus dem 
Grabe aufitinden. War bod) ber ganze 
Sagdbetrieb nit nur in ein Jacdhliches 
Spyitem, fondern geradezu in ein fürmliches 
Seremoniell gebradt, das aufs peinlidjte 
gewahrt werden mußte! Allein daran hatte 
ein Menih jahrelang zu lernen. 

Mit ber „Vorſuche mit den Leithunden 
zur Parforce Jagt” fing es an. Was bie 
ihon zu bedeuten hatte, möge man fid) aus 
der ausführlichen Unterjchrift unter unjerer 
zweiten Ridinger-Abbildung flarmaden! . 

Wenn bas, was darin bejchrieben und 
verlangt wird, heute einer fann, ijt er mit 
Recht jehr ftolz; damals mußte es aber jeder 
„Beluchtnedht“ Tonnen, fonft holte ihn ber 
Teufel. Aus ber Fährte ein Ctüd Wild 
nad) Gejdledt, Alter und Ctürle zu be: 
fimmen unb den beftimmten ausgewählten 
$irjd bann mit dem Leithunde zu „beitä= 
tigen“, d. b. unmertlid zu verfolgen unb im 
Bogen zu umgehen, jo daß er in einem ge: 
wijjen möglichſt bejdranften Waldteil für 
die Jagd bereitftand, ihn für den fürftlichen 
Sjagbberrn jozujagen „anzubinden“, bas ges 
hörte damals zu den jelbjtverftändlichen Leis 
ftungen jedes Berufsjägers. Welche Übung 
unb Borjdule jebte bas aber voraus! 

Der Leithund ift babet ein ganzes Kapitel 


für fid). Heute gibt es ihn gar nicht mehr. 
Als der jebt auch lángft verftorbene Düjjel- 
dorfer Jagdmaler Ludwig Bedmann im 
Sabre 1894 fein in Diejen Dingen map. 
gebendes Hundewerk herausbrachte, unter» 
[hied er vom hannöverſchen Echweikhund, 
dem durch den fonigliden ,Jágerbof” dort, 
allerdings niht ganz rein, ins 19. Sabre 
hundert biniibergeretteten Nachkommen des 
alten Leithundes, nod bie Leithund- und 
bie Schweißhundform, erftere von ber alten 
gerechten Jágerei nur auf gelunbes, legtere 
nur auf trantgejmoffenes Wild gebraudht. 
Heute find wir froh, daß wir überhaupt nod) 
einen Schweißhund haben: er hat, wenig: 
tens annähernd, die Leithundjorm, und ber 
Berein ,Hirjdmann” IáBt fid) feine Zucht 
und Pflege angelegen fein. Er wird nur 
nod) auf trantes Wild verwendet, unb, ba» 
burd) überflüjfig geworden, ift bie eigent» 
lide Schweißhundform im alten Sinne, bie 
leichter, flüchtiger und ſchärfer war, ganz 
verjchwunden. Mein Großvater muß aber 
in den fünfziger Jahren vorigen Sjabrbum 
berts nod) joldye hikige unb unftete Hunde 
gehalten haben; mein Bater erzählte mir 
gelegentlich von ihnen und fügte hinzu, wie 
jie, rubelos um die Dberförfterei herum- 
revierend, gar manchmal ihm als Bräutigam 
den Verkehr im Haufe feines künftigen 
Schwiegervaters erjchwert hätten. 

„Der Anjagts Hirjd wird mit dem Lancier 
Hunde gejprengt.“ Das ift der zweite Att 
bes fürjtlihen Jagdſchauſpiels, unb and 
dabei gilt es für Die beruflich Beteiligten 
wieder, eine ganze Menge jagdliden Wiſ—⸗ 
jens und Rónnens zu zeigen. 

„Dijes gejdibet mit einem Leith oder 
alten guten par force Hund bende werden 
an dem bengjeil auf bie bruede und von 
denen weiters auf bie Faehrte gebradhi, 
bat der Hund Diejelbe richtig aufgenomen 
jpridt er dem Hund au liebet ibn ab und 
laejjet joldjen wider anfallen hengſt auf der 
Faehrte nad) bijg an den Hirjchen und lan» 
ciret bas ijt |prenget ibne, dan heilt. es 
laissa courre; an einigen orten bat man 
3. bijg 4. bejonbere Lancier Hunde, welche 
man bey den brüdjen frey auf bie Faehrte 
anbringet, bie man aber jobald ber hirió 
[ancirt ijt ftopffet; Bedient man [id) ber 
erften Art fo lófet man die erfte harde wel- 
des die Favorit hunde jenn als bie Die 
Saebrte am ridtigiten aufnehmen ber Go: 
mandeur und die Piquers follen denfelben 
zur feite folgen und vorjagen damit fie den 
Anjagts Sjirjdjen en vue bas ift zu gefichte 
betomen um Denfelben an dem Gebórne 
ber Garbe und dem Gewedfe aus andern 
zu ertenen fals er Change madte fih ver: 


A ks EA 
^ NEE AN 


8 H A pr 
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(T E : vn 





X 9[5b.4. Ein [paniidjes Pferd & 


fohren oder nidergethan ober unter andere 
$jirjdje gefomen waere, ber erfte der ihne 
zu gelichte befomt folle ihn mit voller 
halje und mit ben worten Taye! Taye an: 
ſchreyen und eine fanvara blajen, es follen 
aber mehr niht als ein oder ¿wen fo bie 
naedjiten am Hirjden feyn blajen damit alle 
andere jo viel bejjer vernehmen wohin er 
fid) wende, ijt der hirjch geiprengt und gehet 
flüchtig il va fuyant bie Piquers haben ihne 
aud) aufgenomen fo ziehet der Lancier 
Knecht feinen hund an dem bengfeil ab und 
nad) Haufe, hierauf attagiren die Piquers 
und wird die gange Meute auf die Faebrte 
angebradt da faengt fih bie Jagd redt an 
und wird unter behörigem blajen der er: 
forderliden thone und zuruffen der hunde 
und ihrem laut continuiret, die Morte, wo: 
mit die Hunde encouragiert werden, find 
folgende: Dod! Doch! ca vaut, ca vaut 
mes’ beaux. S' eu va Chiens il va la Chiens 
outre vous mes Chiens.“ 

Ale Achtung, wenn man es wirflich fertig: 
brachte, einen gefunden Hirſch in Diejer 
Weije zu „Iprengen“, ohne den Leithund von 
der langen Lancierleine zu löjen! Das er: 


ſcheint uns heute beinahe wie ein Zauber: 


. funftftüd, und „Lancierfnecht“ für ben, ber 


es vollbradte, ein ungebührlich niedriger 
Titel. Bit er bod) bie Hauptperfon auf ur: 
lerem zweiten Ridinger:Stihe! Gr und fein 
braver Hund, ber befehlsgemäß erft im legs. 
ten Augenblid mit [autem Hals, daß bie 
faltigen Behänge und Lefzen um den ſchwe— 
ren Kopf fliegen, vorpreichen darf, aber nur 
jo weit, wie bie lange Leine reicht. Dann 
muß er nad) Sauje, und feine leichteren 
Benofjen, die eigentlichen Meutehunde, treten 
in Tätigfeit. Die eigentliche Hirjdhak be: 
ginnt, und nun macht fid) aud) Gerenijfimus 
mit Gefolge bereit, hintersdem Wild fid) in 
Bewegung zu fegen, jobalb ber Piqueur bas 
entiprechende Signal gibt. Der muB aber 
ganz verteufelt aufpajjen, daß er fid) nicht 
irri; denn aud) jeßt find wieder aller: 
lei Wendungen und Zwijchenfälle móglid), 
oft ganz überrajchender Art. Der regelrechte 
Berlauf ijt indes: „Der Hirſch wird von dem 
Piquer aufgenomen, die gange Meute bei 
denen brüchen auf bie Faehrte gebradt u: 
nad ihren Harden gelójet.^ Und den wei- 
teren Fortgang erzählt dann die erfldrende 
Unterjchrift unter unjerer dritten Abbildung. 

„Harden“ find wohl, was man jest ,Rop- 
peln“ nennt: Gruppen zujammengetoppelter 
Hunde, bie man nad Alter und Leiftung 

26° 





396 PESSSSSSSA Gel.» Rat Prof. Dr. Ludwig $ed: BS33333823334 


zufammenzuftellen pflegte. Zuerſt wurden 
die álteften und guverlajfigiten auf die Fährte 
gebracht, damit fie den jüngeren, minder er- 
fahrenen als Führer dienen fonntem. Dieje 
Hirihhunde gab es damals in Deutichland 
überall; heute hat man fie nur nod) in Frant: 
reich, ihrem Gtammlande. In Deutjchland 
find fie, wie jo viele andere fürftlid,e Luxus: 
einrichtungen, mit der ernüchternden Mo: 
dernifierung ber Hofhaltungen verjdywunden. 
England hat fie fic) für feinen modernen 
Jagdſport — und umgewandelt, für 
die Haſenhatz zu 
Fuße und für 
die Fuchshatz zu 
Pferde. Von dort 
haben wir ſie uns 
als „Fuchshunde“ 
für die Reitjag— 
den ber militds 
tijden Reitſchu⸗ 
len und zivilen 

Reitervereine 
wieder holen müſ⸗ 
jen. Für - die 
Schießjagd mit 
lauten Hunden, 
die dem auf dem 








ein Feuer entzündet und bereiten darauf in 
einem großen Topfe nad) dem anftrengen- 
den Jagdtage wohl eine Mahlzeit. Born 
lints läßt ein „Bejuchtnecht” feinen ſchweren 
Leithund nod einmal Witterung an dem 
erlegten Sirjde nehmen. Born rechts ftehen 
unb liegen aud) nod) einige Meutehunde, 
unb fo find auf biejem Gtidje bie beiden 
Bauptládjlidjjten Jagdhundrafien ber Damas 
ligen Zeit inibrerunter[djieblid)en äußeren Er: 
jcheinung jebr jchön nebeneinander zu feben, 
Mit ber Darftellung der hohen Jagd im 
höfiſchen Sinne 
` feiner Zeit war 
Ridingers Schaf: 
fen aber längſt 
nidt erichöpft; 
er hat eine Le: 
bensarbeit von 
mebr als 1100 
Ctidjen Hinter: 
laffen und nahm 
Do alle“ Jagd: 
und Wildarten, 
ja bie gejamte 
Großtierwelt zum 
Borwurf. 
Manieriert war 


Mechjel ftehenden a ja ber alte Ri: 
Sager das Wild dinger ficher; Das 
zutreiben, bat fih Debt man auh 
Wejtfalen ` feine an feinen Dar: 
Braden, die ftelungen von 
Schweizihrelauf: ` Pferd und Rei: 
hunde bis jet ter, Denen er 
erhalten; ihre Zu: ebenfalls einen 
funft freilich ftebt febr wejentliden 
heute vielleicht Teil feines flei- 
ion niht mehr Bigen &unitidaf: 
ganz außer Frage. fens gewidmet 
Halali! Sirid hat. Wenn man 
! i t D 
Géi = Abb. 5. Ein Pferd mit der Springhalfter zwijchen ben Vi: * — ig 
: ^  lieren, um felbiges zu leviren und auf bem Hinterteil halten "" 
liden Jagdak— zu lehren be verjchiedener 
tion, ber aber erit. Länder“ durd- 
recht zeremoniell ausgeführt wurde. Die fiebt, Jo findet man fie fo ziemlich alle 


Unterjehrift unter diefem Stiche ijt zwar nur 
fura, aber das Bild erzählt uns mehr (Abb. 1). 
Da ijt zum Schluß die ganze Meute unter der 
Fuchtel eines Piqueurs, alle Köpfe artig nad) 
ibm gerichtet, vor bem SJagdzelt verjam: 
melt, Aus biejem ift der Hohe Jagdbherr 
hervorgetreten mit feiner Gemahlin oder 
vielleicht auch einer anderen Dame jeines 
dem 3eitgeift ent|predjenb gewiß febr ga: 
lanten Herzens, umgeben von ben Hof: 
djarger und einigen bejonderen Lieblings: 
bunden. Hinter dem Zelt ftebt jhon die 
vierjpännige Gtaatsfarojje zur Heimfahrt 
bereit. Born rechts haben die Jagdleute 


über einen Leijten gejchlagen. Nur bie 
Engländer erjcheinen bereits durch geftubte 
Schweife „anglijiert“, und „Ein ordent: 
lihes  €anbrop. Un cheval ordinaire, 
Equus communis” unterjdjeibet jid) burd) 
langbebaarte Feſſeln und natürlichere Hal: 
tung. Den ,Leiften” für alle anderen bil: 
det das ,Cpanijde Pferd“, der bezeid: 
nende Ausdrud der NRidinger- Zeit für 
ihren Pferdebedarf und Pferdegeſchmack, 
die natürlich in innerem Zujammenhang 
ftehen (Abb. 4). Und wieder find, wie bei 
der Jagd, die Höfe die Pflanz- und Pflege: 
jtätte diejer hochgetriebenen Pferdeabrichtung 










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| vollfommene Sereidajt: bes Reiters 0 
! " über bas Pferd bis ins Heinfte und. 
feinſte hinein daten wie De Sa 
mir mod ganz wenige. Ste E 
eben bie zünftigen Schulteiter, bes ` 
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E Abb. 8. Carriera 


Schule gehört: das Gewicht auf die Hinter: 
hand gelegt, den Kopf erhoben, aber vie 
Nafe gejenft und den Hals gekrümmt. 
Sn Ddiejer ebenjo bezeichnenden wie un: 
natürlichen Haltung, den langen Schweif 
zwijchen die Sinterimentel gefniffen, jehen 
wir in ber Regel aud) diefe alten Ghul- 
pferde abgebildet. "Sie wurde ihnen bei: 
gebradt, indem man fie zwijchen zwei 
Pfoſten feftband und dann mit ber Peit}de 
fortwährend zum Treten auf ber Giele 
antrieb. Das zeigt ein Stich in Ridingers 
Wert ,9Borjtellung und Belchreibung derer 
Shul- unb Campagne: Pferden nad) ihren 
Lectionen, in was vor Gelegenheiten jolche 
lónnen gebraucht werden”, und bie Ertlá: 
rung dazu lautet: „Ein Pferd. mit der 
Spring: Halffter gwijden ben Pilieren, um 
lelbiges zu leviren und auf dem Hinterteil 
" halten zu lehren“ (Abb. 5). 

Mud) den an fih unnatürlichen, für den 
Reiter und namentlid) bie Reiterin aber jehr 
bequemen Paßgang (gleichzeitiges Heben 
beider Beine derjelben Geite) bradjte man 
den Pferden bei, wie ein anderer Stich des: 
jelben Wertes zeigt; bod) eigneten fih dazu 
nur gewijje Pferde, und die Unterjchrift unter 
dem Ctidj lautet dementjprechend: „Der 
ihulgerehte Pag ijt ein jehr commobder 
Gang; es muß aber ein Pferd [Hon von 
Natur bargu incliniren, dann feine Bewe- 
gung gejdiehet rechts oder linds auf einer 
Seiten mit dem Forder: oder Hinter: Fuß 
zu gleicher Zeit, dergleichen Pferde werden 


Las 3535 35 3$ 521 





vor hohe Dames zu einem Spaßierritte oe: 
widmet” (Abb. 7). 

Aus „Neue Reittunft in Rupferftiden, 
inventiert und gezeichnet von J. E. Ridinger. 
Cum gratia et privilegio Sac. Caes, Maj.”, 
deren prächtige Stiche mit jechszeiligen Un= 
ter|d)riften in gereimten Berjen verjehen find, 
möchte ich als ganz bejonders [Hóne Blätter 
und bezeichnende Zeiturfunden „Carriera“ 
und ,Gbangieren". herausheben, die uns 
ganz in das Dofijde Leben des 18. Jahre 
bunderts perjeben (Abb. 8 u. 9). Ich tann 
nur wieder jagen, wie bei der Jagd: Schön 
war's nicht, daß man fo viele Menjchen: und 
Pferdefräfte, jo viel Zeit und Geld für ſolchen 
hofijdhen Prunf und Tand aufwendete; aber 
hübſch war's dod, hübſch fieht’s wenigjtens 
aus. Die pompöjen Innen» und Außen 
reitbabnen mit ihrem Figurenjchmud, mit 
mádtigen Majjertiinften im Hintergrunde 
tónnten einem jehr imponieren, wenn man 
nieht den Verdacht hatte, fie feien wohl bis 
zu einem gewijjen Grade der Bhantafie bes 
Künftlers entiprungen. Uber bie Menjchen, 
unter denen ein Ungar oder Kroat (wohl 
ein Hofheidud?) mit Pelzmantel und Sábel 
und ſchwarzem Hangejdnurrbart am meijten 
herausjpringt, find bod) jedenfalls genaue 
Abbilder Ridingerjder Zeitgenofjen, und 
ebenjo die Hunde, die vom leichten, lang: 
jdnaugigen Windhund über mitteljchwere 
Hagriiden bis zum jchweriten, duntelgeftrom: 
ten Golofanger ober Rammerhund, dem hof: 
fähig gewordenen Bullenbeißer, auf beiden 


PSSFTFITIIIZIZTI Von alter Jagd: und Neiterherrlichkeit 399 





. 9155.9. Changieren D 


Stichen als Beiwert zu leben find. Überall na- 
türlich auch bie Stallmeifter in hohen, überm 
Knie weit und faltig enbigenben Reitftiefeln, 
mit jd)meren Peitſchen und langen Leinen 
(Longen), an denen die Pferde, aud) unter 
dem Reiter nod), geübt wurden. Die Ses: 
zeiler-Unterjchriften lauten unter „Carriera“: 
In diejer Lection, fo man Carriera nennt, 


Läßt die geidjidte Hand bem Gaul bte Zügel [djieBen, . 


Worauf er wunderjchnell aus allen Kräften rennt. 
Es läſſet ſolche Schul ber Pferde Tugend wiffen. 
Gewiß ift, daß fie uns bie Probe geben fan, 

Wie weit ein Pferd ber Hand und Schenteln unterthan, 


und unter „Changieren”: 

Man jchreitet im Galop zur Linden mit den Pferden, 
Wann fie auf rechter Hand vorhero galopiert; 
Damit fie redhts und linds gelend und biegig werden. 
Wann ihre pofitur auf folche weiß changiert, 
Pflegt deren innre Fuß, auf welchen fie jid) fteifen, 
So vor als hinten ber im geben vorzugreifen. 

Die bódbite bofijde Paradeleijtung der 
Ravaliere zu Pferde, der die hohe Schule 
als Borübung dienen mußte, war aber das 
Rarujjellreiten, von bem Ridinger in den 
Anmerfungen zu einem weiteren Rupferjtich- 
werte, der „Reitjchule (Caroujel) mit Lange, 
Pijtole, Degen, Dard (kurze Murflanze) nad) 
dem Tiirtentopf” jagt: „Da ich in meiner 
jüngft herausgegebenen Reutjchule die Lec: 
tiones derer Schul: und Gampagne: Pferde 
vorgejtellet, |o folgen nun als eine Con: 
tinuation aud) bie VBorftellungen von denen 
Lectionen des Caroujel-Reutens, welche jo: 
wol zu Ritterlichen Uebungen als zum Ernft 
im Kriege bejtimmt find, und welche bejon: 
ders bei hohen Feltivitäten großer Herren 
mit vieler Pracht gehalten werden, dabey 


fid) ein Cavalier wie gejchidt er in denen 
Waffen und fein Pferd zu führen feye, aus: 
nehmend diltinguiren fann.” Ridinger gibt 
auch den Plan eines ſolchen Rarufjells mit ben 
eingezeichneten Linien der Touren, die bie 
Kavaliere in den perjdjiebenen Gangarten 
mit den verjchiedenen Waffen zu reiten hatten 
gegen vier an entjpredjenben Stelen an: 
gebrachte „Türkenköpfe“ mit Turban, bie von 
den Tiirtentriegen her fozujagen die jelbjt- 
verjtändliche Feindesfigur ber Zeit waren. 
Die dabei geführte Lange ift ganz und gar 
das — nur wohl etwas leichter gemadte — 
Abbild der alten Ritterturnierlanze, und 
auch bei ihrem fpielenden Gebrauch fam es, 
wie beim ganzen Reiten, wohl hauptjächlich 
auf fidjere Eleganz an. Das zeigt [hon einer 
ber erjten Stiche des Wertes, die „Kleine 


. Galopabe an der Wand mit ber Lange zum 


Kopf oder Ring” (der „geitochen“ werden 
mußte) (Abb. 6). Bon hohem Balkone an 
ber einen Cdjmaljeite der Karufjellanlage 
jaben die Hhochfürjtlichen Herrichaften und 
die Damen in jchönem Kranz dem Shau: 
jpiel zu. Mud) bier beim Reiten, wie bei 
der Jagd, höfiſcher Glanz und Prunf über 
alles. Heute faum mehr zu begreifen. Ver: 
gangene Zeit und Herrlichkeit ! 

Sm Jagdidlojje Rranidftein bei Darm: 
ftadt hat jest Broßherzog Ernft Ludwig von 
ellen ein Jagdtunftmujeum eingerichtet, in 
bem er alle die alten Syagbbilber, Waffen, 
Geweibe ber Öffentlichkeit zugänglich gemadjt 
Dat. n biejer Art eine ganz einzige 
Gebenswiirdigteit! 


fei! ema || een mmm (mees en || ee || een BSES | | ees | emeng | | es | | | j saccum | | 


Don Ernft Ziffauer 


Demiitig bleiben im flolzeften Olüd 


I 


ag / | | | | |] | | || ml || | | || || || || || | || || || |S | / || RN | | pum 


Liebesgedichte. 


Jd will dir fagen ein Siegelwort 
Von uns beiden: Zehrt langes Leiden. 


+ 


Mande Menfhen find getrennt über Meilen, Sie find getrennt vielleiht ein Leben 
Sie find aneinander gebunden mit Seilen, 


Sie find getrennt über Jahr und Jahr 
Und find verwadfen mit Haut und Haar, 


tind wie $lüffe, vom Quellort hergezogen, 
Werden fie ineinander gefogen. 


+ 


Und plöglih hör’ ich alle Menſchen reden, 
Eingefponnen bin id) dicht in taufend Fäden 


Wie gekhient’s, daß alle Rede jáblings greift in mich? 
€s redet wie die Quellen, weldye táglid), nádytlid) wandern, 
Und jede Rede fiteift vorbei dem Obr des andern, 


Fede, jede 
Hört nur feine eigene Kede, 
Allen Hörens jegliches flid)tbóren höre id). 


Wie Fam mir diefes jähe Wiffen? 
Es ifl, als würde dichtumbaute Mauer 
Wie dünngefpanntes Pergament zerriffen, 


Und id) erfenn’ es ohne Gram und Trauer? 


Gliif nad) langgelebtem Leid, 

Liebe nad) durdlittner Einfamkeit 
Macht mich hören, 

Die weit Über die Erde dróbnt, 

Aller Menfchen Einfamteit in Chóren, 
Drin id) lange Fahre mitgeiónt. 


Dod) drüberhin mit weitgefpannten Schwingen, 
Jn dem weitgedehnten Licht, 

Wiegt mit Gewalt fid) ein zwicfimmig Singen, 
Das fid) in einem Schall gen Himmel flidyt. 


+ 


Du liebteft mid. Da ffywieg der bittere Wind, 
Und heiße, füfie Süde webten. 


Die Luft glomm bunt. Du warft mir holdgefinnt. 


Da find Geft.rne, die mir gúnfig find, 
Über mein Haupt getreten. 


+ 


Du Ziebfle, du mir Sonne, du mir Süd, 
So felig Fod)t mir Jubel im Gebliit, 


Jd) Fann dies Olüd nicht in umfchränfter Stille, 
Siedelnd an meines Dafeins Grund geheim genießen, 


Jd) berfle auf vor unbergbarer $ülle, 
Geöffnet, fonder Haut und Hülle, 


Jd) fühl’ mein Wefen ringsum niederfließen, 


Jd) modyt’ das Land, das ganze, weite Land, 


Mit einem w itgedehnten Griff in meine Arme ſchließen, 
In einem 7aud)sfdyrei, der den Gorizont umfpannt, 


Den Drang der Liebe über die Erde gießen. 


Und find ver wachſen mit Saft und Geweben, 


Und ob fie fid) meiden nad) allen Winden, 
Es find Segen gefprochen, welde fie binden, 


(au "(eegen | | meses | | Ss | | sy | | mm | {ocean | | ec | | mn: | | pes | | ves | | ACERO | | omen || mee | | emmmer | hastae | | rra | | meme | | Ws | | pm | | ee | | ees | | i 


J| omens | | cae | | kamen | | ed || see? |; ees | | A || ee || vegan | | ees | | BEEN | | teca | | seen | | pass 








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FANG) 


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san fannte fie auf vielen Coiffen. 
Überall war fie gewejen, hatte 
die längften Babnlinien befahren, 
da bie bódjiten Berge bejtiegen, die 
ferniten Lander und Deere bird): 
freuzt. Nirgends — — lange, obgleich 
ſie die Müdigkeit vieler Wanderjahre wie 
eine ſchwere — nad ſich ſchleifte. 
Sie gehörte zu denen, die geheime Macht 
immer von neuem el Ek und hinaus» 
treibt in die Welt, zu ben Raft- und Rube- 
Iojen, bie da ewig etwas zu judjen unb mr: 
gends ihr Ziel zu finden feinen. 

So fam fie aud) einft im Frühherbſt nad) 
Peting. Und bald ritt fie Dann aus ber 
rauen, unter ſchwülem Dunft erftidenden 

tadt hinaus zu den nahen Bergen. Dort 
liegen buddhiftiiche Klöfter und Tempel, wo 
viele europäijche Bewohner Pekings die heiße 
Jahreszeit verbringen. Bon einer Freundin 
geladen, bie aud) in einem der Tempel lebte, 
wollte fie diefe ein paar Tage dort bejuchen. 

Durch bie brütend heiße Ebene, über der 
die Ausdünftungen der großen Sommer: 
regen drüdend lagen, führte der Weg zu 
einem Dorf, bas feftungsartig von hohen 
Mauern umgeben war. Alles war da Ber: 
fall, bod) aus bem Berfommenden erwud)s 
Neues in uralter, gleichtöniger Wieder: 
bolung. Aus bem morjchen, berftenden Be: 
máuer drängten fid) Buſchwerk und blühende 
Gräjer zum Leben hervor ans Lidt, in dem 
Unrat am Boden wiiblten fleine jchwarze 
De pidten und |charrten Enten und 

libner, Nahrung fudenb. Die Reifende 
tritt durd) bie moraltige Dorfitraße, ce 





nete buddbijtijden Mönchen mit glattralier- 
ten Schädeln und alten Männern, die ihre 
Lieblingsvógel in tleinen Ráfigen mit fid) 
ipazieren trugen. Drollige Rindergeftalten, 
auf deren Köpfen die nod) furzen daer zu 
mehreren jtarr abjtehenden Zöpfchen ge: 
flodjten waren, umjtanden einen alten, blin: 
den fahrenden Gänger; mit mageren, gelben 
ingern griff er in die Gaiten einer Gitarre; 
drill zirpende Töne begleiteten fein eins 
örmig flagenbes Lied. 
iud) ein Wanderer auf der weiten Welt‘, 
Dachte wehmütig die Vielgereifte, die ihr 
Pferd angehalten und bem feltjamen San 
ein ZBeildjen gelaujcht batte. Dann wart 
fie dem Alten eine Münze zu, ritt weiter 
gum Tore hinaus und jchluy den Pfad ein, 
auf bem der Mafu, der djinejildje Rettinedt, 
\hon voraustrabte.  (Ceitmürts von ber 
Zandftraße abbiegend, führte er fie zwijchen 
[bern hohen Rauliangs den Bergen zu. 
ie Töne ber Gitarre waren verhallt in ber 
gerne. Es ward [till um die Reiterin ber. 


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Unter hohen, alten Bäumen ftanden graue 
Gteinftelen am Megesrand; Reihen Kleiner 
verwitterter Pagoden, von Unfraut über: 
wuchert, bezeichneten bie Graber früherer 
Mönche. Heiliger Boden war es. Bon den 
Bergen herab fam ein Kleiner Quell der 
Wanderin bewilltommnend entgegengeriefelt, 
und wo er in Die Erde gelidert, war fie grün 
geworden von zarten Garren und bunt von 
¿abllojen wilden Blumen. 
un erblidte bie Reijende die unteren 
roten Umfriedungsmauern des weiten Tem: 
elgebietes. Dahinter, zwiſchen dunflen 
aumfronen, funfelten goldgelb, fapbirblau 
und maladitgriin die RacheldDacher der Türme 
und Hallen, der Tore und Klófter. Höher 
und höher anjteigend, erhoben fie fih längs 
des Dicht bewaldeten Whhangs, leiteten den 
Blid hinauf zu des Berges Spike. Dort 
thronte, einer Perlenkrone gleich, eine ſchnee— 
weiße Pagode, jchimmernd gegen den türkis» 
farbenen 5 
Eines Zauberers Gaukelſpiel dünkte dies 
Bild die fremde Frau nach der langen Reiſe, 
dem Lärm der Stadt, der Hitze der Ebene. 
Wonniglich ſtill war es. 
Der Mafu war abgeſtiegen, hatte die 
Zügel ſeines Pferdes um den Hals einer der 
rieſigen Steinſchildkröten geſchlungen, Die 


unter knorrigen Bäumen zu beiden Seiten 


des Eingangstores ſeit Jahrhunderten Wache 
ſtehen. Nun half er der Reiſenden, die ſich 
aus dem Sattel herabgleiten ließ. 

Da fam ihr auch [bon bie Freundin aus 
dem Tempelgelánde entgegen. „Sei mir 
willfommen im Tempel zu ben fputen Gliids 
jeligteiten!” Jprach fie mit leifer, jüßer Stimme. 
Und bann jdjauten bie beiden fih einen 
Augenblid fragend an, wie es Menjchen tun, 
die fih lang nicht geleben unb nun unficher 
pm wie jie fid) wiederfinden unb ob fie 

iejelben geblieben. Doc) als ganz bie gleiche, 

bie fie vor Jahren gefannt, erjchien ber 
Tempelbewohnerin die Vielgereifte mit den 
düfter umfchatteten Augen, den ftarren tras 
gilden Zügen, aus denen ihr Alter ſchwer 
zu bejtimmen gewejen wäre. Berdndert Das 
gegen war bie Tempelbewobnerin jelbit: 
Witwenjchleier umbiillte fie, wehe Trauer 
jprad) aus ihrem janften, jtillen Antlitz. 

Die hohe Treppe zu den oberen Tempel: 
bauten jchritten bie beiden Frauen nun 
hinan. Auf ber oberiten Stufe blieb die 
Weltenwanderin ftehen, lehnte an Der be: 
moojten Cteinbrüjtung und jchaute hinein in 
das fie umgebende Gewirr von Zweigen. 
Auf tiefgrünem Grunde leuchteten die exjten 
berbitlich gefärbten Blätter gleich Bernitein 
und Kupfer. Am weitausgejchweiften Rachel: 


402 Eltjabeth von Heyting: 


badje eines verwitterten Turmes tönten leis 
im Winde die Meinen Pagodenglódden: 
„Zingting, tingting.” 

» ürdentuft weht hier,” jagte bie Fremde, 
und von dem Dade Der, wo fie zwiſchen den 
zerbrödelnden Kacheln unter allerhand Ge: 
rant ihre Neſter erbaut hatten, antworteten 
CG girrend bie wilden Tauben: , Rufuru, rus 

uru.” 

An einer dunklen Feljengrotte vorbei let: 
tete fie nun die Gaftgeberin. Aus ber ge: 
beimnisvollen Tiefe tauchten bie ungeheuer: 
lichen Umriſſe eines Bößenbildes ante einen 
feilten, grinjenben Alten ftellte es dar, ber 
mit quellenbem Bauch auf berftenden Gaden 
thronte. „Der Gott bes Reichtums,“ erklärte 
die Führende. 

Herb ládelnd meinte die MWielgereifte: 
„Wer den gleich zu Anfang als erte Gott: 
beit flirt, eler lich wohl mandjen Umweg.” 

„Bielleicht,“ antwortete drauf die Witwe, 
„ift er bier nur deshalb gleich als Eriter 
aufgeitellt, weil erft durch ihn Die nötige 
Muße a jo mandes Höhere zu erlangen 
tft, — feine |djón|te Gabe, dünkt mich, ge: 
nügendes $yreileit von materieller Gorge, 
um gang im Erinnern leben zu dürfen.“ 

„der um vor ihm fliehen zu Tonnen. 
jagte die andere. 

Zwilhen raujchenden Baumeswipfeln 
itiegen fie aufwärts zu den Tempelballen. 
Die einen enthielten in taujendfacher Wieder: 
holung ein und diejelbe Heine Buddhafigur; 
in anderen waren die Qualen der Hölle mit 
chineſiſcher Erfindungsgabe frabenbaft dar: 
gejtellt. Dagwijden lagen ftille Rlofterbófe. 
JBeiBitámmige Baumriejen erhoben fih da 


geipenftilch, redten ihre fte weit aus, wie 


lieder bleidjer Knochengerippe; die mäch- 
tigen Wurzeln wanden fih durch die Pflajte- 
rung, hatten die Flieſen gehoben, traten Do: 
etlech hervor wie geblábte Leiber von 

ythonen. Und bemoojte Gteinftelen ftanden 
im Schatten der Bäume, uralte Opfergeráte, 
deren duntle Bronze Patina mit fahlgrünen 
gleden bezog. Umpgeben waren die Höfe 
von niederen, einftódigen Häuferreihen, bie 
ih unter ihren hohen grauen EH zu 
duden jchienen. Gie enthielten bie SUtóndjs: 
flaujen. 

„Und wo wobnit du?“ fragte die Fremde. 

„Immer in demjelben ober|ten Klofterhof, 
den er bei unjerer Heirat von bem Abte ges 
mietet Hatte,“ antwortete die Freundin. 
„arog der Statue námlidj, die bem Gott 
des Reibtums hier errichtet worden, hat er 
das Klofter verarmen lajjen, unb fo fhiden 
fid) bie Mönche darein auch weiter bas Geld 
einer Fremden anzunehmen und haben mir 
geftattet zu bleiben. Hier tommen wir in 
mein Wohnzimmer,“ fagte fie dann, indem 
eae hohen Türen einer großen Halle öff: 
nete. 

Gs war ein weiter, Dámmeriger Raum. 
Die Dede, mit Drachen verziert und von 
Querbalten durchzogen, auf mächtigen roten 
Säulen rubend. Die Wände bemalt mit 


phantaftiichen Gebilden, fputbaft im wie: 
licht, altersgebleicht, die Umriſſe verjdwim: 
mend. Davor, und auf erhöhter Ejtrade 
weit in den Gaal jpringend, alles über: 
ragenb und allein jet, Durch bie geöffnete 
Tür, von Sonnenlicht überflutet: — eine un: 
geheuerliche Geftalt. Cin meergrün bemalter 
chineſiſcher Krieger in Helm und Riijtung. 
Rollend die Augen, breitanfgerijjen Dos 
Maul. Tiefe Furchen im verzerrten Antlig. 
Dn der einen Hand ein langes Schwert; 
weit ausbolenb züdte er es gegen eine ries 
fige Fledermaus, die, von der Wand in 
hohem Relief abjtehend, auf ihn zuzufliegen 
ihien. Lang verhaltener Schmerz und Grimm, 
die fid) endlich gegen einen tief Behaßten 
austoben dürfen — das ber Ausdrud ber 
dk Geftalt! Y 
«Vian glaubt ihn vor böfer Freude über 
fein Bernichtungswert brüllen zu hören,“ 
jagte die Fremde und jebte dann hinzu: 
„Auf meinen Reifen habe id) mand jeítjame 
Behaufung gejehen, in ber es weißen Men— 
ka pemaen le Dem d einzurichten, 
aber ein abjonberlidjeres Gemad als diefes 
befigt wohl feine europäijche SN 
Sie hatten fid) in niedere EIER ge 
lebt, unb während ein chinejifcher Diener 
ben Tee brachte, lautlos auf diden Filz. 
Joblen jchreitend, erzählte bie Wirtin: „Es 
war febr [hwer in diefe Halle zu dringen, 
denn fie gehört zu den eigentlichen Tempel: 
räumen, und bei unjerer Abmachung mit 
den Mönchen waren nur einge ihrer Zellen 
erwähnt worden. Wher nahdem wir dann 
zufällig bier einmal eingetreten waren, lodte 
grade dieje Halle ibn |o febr, daß ich mir 
vornabm, fie irgendwie für ihn zu erobern. 
Zuerſt ftabl id) mid) ganz ſchüchtern herein, 
brachte ben Götzen Blumen, ftellte Bajen 
vor ihnen auf; und die Mönche ließen mich 
ewähren, jahen vielleicht eine angehende 
onvertitin in mir. Täglich ſchmuggelte ich 
dann neue Dinge, deren man zum Leben 
bedarf, bier ein. Und fo erwarb id. uns 
allmáblid) das ftilljchweigend anertannte 
Recht in diejer Halle die Tage zu verbringen.“ 
Es [jab wirflid wobnlih aus in dem 
mertwiirdigen Gaale: Wandfchirme, auf 
deren Goldgrund Draden und Phönixe jpiel: 
ten, teilten ihn ab in EC H den; Lieges 
ftühle mit bunten weichen Kiffen Iuden zu 
rubigem Berweilen, und bequem zur Hand 
lagen auf Tijcehen viele Bücher und die neu- 
ften, freilich recht alten Zeitungen weftlider 
Welt. Alles aber beherrjchte, dráuend und 
RT der unheimliche fahlgrüne Krieger! 
ie Weihgaben, ihn zu bejänftigen, ftanden 
vor ibm in Bronzebeden bizarr verſchnör— 
telte Pinienáfte, Zweige feurigroter Herbit- 
blátter; und auf verblaßtem Teppich au fei» 
nen Füßen faken zwei jeidenhaarige Petinger 
Hunde, fett und furzatmig, mit plattgedrüd» 
ten jchwarzen Najen und runden vorquellen- 
den Augen, — felbjt feierlich fetijd)baft, jelbit 
wa leid). | 
ie Blide ber Reijenden glitten über all 


FSS3SSSSSN Im Tempel zu ben ſpäten Glüdjeligfeitn B3333384 403 


bas feltjam Fremde hin, aber dann blieben 
jie plögli wie gebannt an einem Buntfte 
haften: auf dem Gdreibtijd) der Freundin 
ein Viánnerbildnis. Die Witwe bemertte 
den Blid und als ob jene gefragt, die doch 
nicht zu fragen braudjte, aniwortete fie si 
mütig nidenb: „Ja — —“er.” Und fie 
fühlte, daß Perfönlichites, alles wovon bie 
andere nur aus AEN flüchtigen Briefen 
wußte, bod) einmal berührt werden mußte 
— jo bitter weh es aud) immer nod) tat. 
Viel war ja gejchehen, jeitdem fie fic) vor 
Jahren zulegt gejehen! — Auh in China 
war bas gemejen, in einer feinen Riijten- 
ftadt, wo jie jelbit damals bei Landsleuten 
eine Stellung bekleidete. Da war bie yeon 
din, auf einer. ihrer Weltreijen, damals auf: 
getaucht — aber nur um nad) kurzem Ber: 
weilen ganz plóblid), beinah fludtartig, 
wieder zu veridjwinden. Jetzt erinnerte fte 
He daran, unb bie Wanderin nidte wie im 
Traume, ben Blid immer nod auf das 
Bildnis gewandt. Des Tages, an dem die 
yreundin damals abgerei[t war, entjann fi 

bie Tempelbewohnerin, trog der Jahre, no 

gang genau, denn es war ja zugleich der 
eine unvergebliche Tag des Lebens, an dem 
jener, um den fie heut Trauer trug, in ihr 
Dajein getreten war! Bon einer Forſchungs— 
fahrt ins Innere guriidfehrend, traf er da: 
mals in ber fleinen chinefiichen Cl Ke 
ein, und bei ihren Landsleuten, mit denen 
er befreundet gewejen, batte fie ihn damals 
gleich tennen gelernt. Und jobald fie ibn 
erblidt, batte jie gewußt: für diejen Augen: 
blid ward ich ein|t geboren, auf ihn bab’ ich 
unbewußt mein ganzes bisheriges Leben lan 

gewartet. „Anfänglich tat es mir leid, dab 
er bid) damals nicht mehr gejeben,” jagte 
fie jet zur Freundin, „aber,“ und ihre Stimme 
ward leifer, „nachher ... weißt bu ... da 
war es mir fogar lieb: denn wie hätte er, 
oder irgend jemand, mid) wohl neben dir 
beadjten folen? Und das erleben zu müffen 
... Und grade durch bid) ... ich Hatt’ es 
nicht ertragen.“ 

Bleich, wie aus Stein gemeißelt, hatte die 
Fremde gelaujdt und nun jagte fie mit jelts 
jam gezwungenem Lächeln: „Das, Liebjte, 
war wohl ein recht überflülfig Sorgen. Nach 
allem, was id) von ibm ... erfahren, war 
er bod) jemand, der rajch und genau er: 
fannte, weljen Art zu ihm taugte. Hat es 
ja auch bewiejen, da er bid) Motori gewählt. 
— Uber nun,” bat [ie begierig, „erzähl’ mir 
weiter.“ 

Und mit leilen Worten berichtete bie 
Trauernde, wie er und fie, beide einfam, 
beide nicht mehr jung, fic) dann in bem 
fremden Lande jchnell näher getreten waren 
und wie fie vereint ein fpátes Gliid gefunden 
Leite Aber nur wenige Jahre des Zus 
ammenjeins wurden ihnen bejchteden. Dann 
war er gejtorben. Doh fie batte fih nicht 
von bem Orte trennen tónnen, der bie hohe 
Zeit ihres Lebens geliehen, Kei bier feit- 
dem ein ftilles, weltvergejjendes Dajein. 


„sn diefem Tempel,“ fagte fie, „wo ich bas 
Blüd gefannt, babe ich, nachdem ich es vers 
loren, tvenigltens feine bejcheidene Schweiter, 
die Rube, gefunden.“ Dod) dann, als habe 
fie zu viel von [id felbft geredet, frug fie 
nun ibrerfetts voll warmer Anteilnahme: 
„Aber du jelbjt? Mie ift es dir ergangen, 
jeit du damals gar jo plóglih weiterfubrit? 
Sch weiß eigentlich jo wenig nur von oir." 

Der anderen Antlig verdüjterte fic. Tras 
e nod bie Züge. Finfter ftarrend bie 

ugen. Und ausweichend antwortete fie: 
„Bon mir? Was foll ba viel, zu wijjen fein? 
Immer dasjelbe: Reifen, Reifen.” - 

Es war tiibler geworden. Abendwind 
webte. Die beiden Frauen traten hinaus 
auf bie Galerie vor der Halle. Bon da fah 
man über die Baumeswipfel und die bunten 
Dächer der niedriger gelegenen Tempelbauten 
hinweg und hinab auf bie weite Ebene tief 
unten. Am fernen Horizonte ftanden grau 
und verihwommen die lImrijje der Pefinger 
Mauern und Türme Man fah fie nicht 
deutlich; es war mehr ein Ahnen, daß dort 
eine große Gtadt mit ihren vielen Leiden 
liegen mijje. 

Ein feltiam weltentrüdtes Empfinden 
überfam Die Fremde, und in der Stille hörte 
fie wieder der wilden Tauben Birren: „Rus 
furu, rufuru.” Gie lehnte fih über bie 
Brültung und faujdjte ihnen; dann jagte fie 
leije: ,SUtir ift, als riefen fie mir zu: Ruhe 
bu, ruh, ruhe aud du!‘ Ach, wenn id) es 
bod) könnte!” — — 

Es war dann aber, als folle die Raftlofe 
bod) in bem Tempel etwas Rube finden. 
Cie blieb länger als fie anert gedacht und 
teilte der Trauernden trüumerijd) einjames 
Leben. Stundenlang jaßen fie an dem fleinen 
Teiche, den der Gebirgsquell bildete; i eol. 
Bambuszweige Dingen darüber; große Golds 
fiie mit jeltiam gezadten Floſſen lagen 
träge im Waſſer, ftarrten zu ihnen aus 

laligen Glogaugen auf. Sujammen ftiegen 
Be empor zur weißen Pagode, erblidten von 
dort oben Reihen auf Reihen langgejtredter 
Bebirgszüge, die, Wellenlinien gleich, in die 
Unendlichkeit zu fluten fdienen. Zujammen 
aud) [tanben de in der beiligiten ber Hallen, 
wo bie drei Buddhas der Vergangenheit, 
Gegenwart und Zukunft thronen, ganz gleich, 
ein und dasjelbe alle drei. Und zu ihnen 
aufichwellend das Murmeln der Mönche, 
uralte Gebetsworte in eintöniger Wieder. 
holung, wie bas einichläfernde VBorbeiraufchen 
eines Stromes. — Ein Ahnen der Bedeus 
Si oli do aller Erjcheinungsformen — 
weil nie endgültig — Itieg von dem allen 
auf, lag über dem ganzen Tempelgelánde 
wie geiltige Atmojphäre gebreitet. Bilhnzen, 
Tiere, Berge, ober auch Menſchen mit ihren 
Leiden und Freuden, was waren fie denn 
mehr als folh ein Wort, bas der Priefter 
jpridt, bas eine Gefunde tönt unb aljobalb 
perballt. Scheinbar als jet es nie gewejen. 
Und bod) — vielleiht — wie alles übrige, 
wie Kleinftes und Größtes, wie jede Schuld 


404 Ez] Clijabeth von Heyting: Im Tempel zu den fpáten Gliidfeligteiten BZZ 


unb alle Giihne, auch Teil eines ungebeuren, 
noch unbegriffenen Planes, aud Ergebnis 
eines unabänderlichen Gejegeswaltens, vor 
dem es fein Entrinnnen, nur ftilles Sid: 
fügen, Sidhwandelnlajjen gibt. — Wer ver: 
mode es zu jagen! — 

Eine Wirkung aber hatte old) $Oftgebadjtes, 
bas in ber Luft bes Ortes zu jchweben Idien: 
Unraft jacht einwiegend, Auflehnung fanft 
betäubend, Schmerz unmerflid) mildernd — 
jo umwob bie Fremde leije bes Ditens ge- 
heimnisvoller Zauber. Und es freute {id 
Pellen bie Tempelbewohnerin, hielt bie Ges 
peste ihon für erlóft von langem, ſchwerem 

anne, 

Dod dann plößlich ward jene von neuer 
Rubelofigteit erfaßt. Es war als wolle fie 
bleiben und würde bod) von unverjöhn- 
liher Macht weiter gejagt. Die Bitten der 
Freundin nügten nicht, jchienen fie nur zu 
ſchmerzen. 

So war der letzte Tag, den die Reiſende 
verweilen wollte, gekommen. Noch einmal 
hatten die beiden Frauen zuſammen die 
heiligen Haine durchſtreift. Nun waren ſie 
ee mit Herbjtblumen und roten 

anten beladen. Jn der Halle ordnete die 
Tempelbewohnerin die großen Sträuße. Die 
Meitgewanderte lehnte müde in einem Geffel 
und jchaute zu, wie die Freundin die ſchönſten 
der Blumen in einer hohen Baje vor den grim: 
migen Krieger mit der Fledermaus ftellte. 

„Unter all bem Gpuf jdjeinjt du biejen zu 
bevorzugen,“ jagte die Reijende, „und er 
ſchaut bod) fo graujam bcein und vergeudet 
jo viel Kraft gegen eine arme Fledermaus.“ 

„Er tut mir immer fo leid,“ fagte Die 
Freundin. 

„So leid?“ wiederholte ftaunend bie 
Fremde, „ja, hat denn das Jeftjame Bild- 
werf einen verborgenen Ginn? Sch wollte 
did) lángft Ihon danach fragen. Heut an 
meinem legten Abend bei dir mußt du mir 
davon erzählen.“ 

Die Tempelbewohnerin antwortete: „Der 
Krieger ift der Held einer chineſiſchen Cage, 
die mir immer recht traurig und eigentlich 
unbegreiflid) erjdienen ijt. Yad ihr foll 
diejer Tempel wahrjcheinlich feinen Namen 
‚zu den jräten Blüdijeligfeiten‘ erhalten haben. 
Der Krieger, e ward mir erzählt, zog aus 
und kämpfte fein ganzes Leben lang, um 
das Glüd zu gewinnen, aber er fonnte es 
nie finden. Da endlich, nad) langer, langer 
Beit, fam es zu ihm geflogen in Gejtalt 
einer Fledermaus, Die ja das dinefifde 
Glidsjgmbol ijt. ber allzu graujame 
Wunden trug er vom Leben — zu ſpät war 
das Glück gekommen! — Darob geriet der 
Krieger in ſo große Wut, daß er ein letztes 
Mal ſein Schwert zog und die Fledermaus 
tötete. — Nicht wahr, das klingt doch recht 
unverſtändlich?“ 

„Das finde ich nicht,“ antwortete die 
Fremde mit ſeltſam gequältem Ausdruck, 
„denn es kann doch geſchehen, daß das Glück 
wirklich zu ſpät kommt.“ 


„Aber auch kurzes Glück ijf bod) nicht zu 
ipátes,” entgegnete bie Berwitwete. , Vir 
will jdjeinen, wann immer es zu uns fame, 
ob wir es am Morgen des Lebens in ber 
oema fánden, vb es uns abends in der 

remde begegnete, und wenn wir es aud) 
nur eine einzige kurze Stunde beligen tönn 
ten — immer doch würden wir ihm in Dant: 
barkeit bie Hände entgegenftreden und es 
willtommen beißen.“ 

Die Trauernde jhwieg. Aus einer fernen 
Tempelbale eridjollen dumpf bie erften gleich: 
mäßigen Schläge der großen Tempelglode, 
die Stunde bes Wbendfultes fünbenb. 

Aber die Frau mit den tragijhen Zügen 
ftarrte aus büjter umjchatteten Augen in die 
gerne und leije wiederholte fie: „Dem Glüd 
in Dantbarteit die Hände entgegenitreden 
und es willfommen heißen? ... Ach, wie 
hab’ ich mich einft gejehnt das auch einmal 
zutun!... Aber dann... dann... ja, wie 
fonnte es nur geldjeben, daß ich es nicht 
mehr durfte? Wie war es denn moglid) ?" 

Laut binballend dróbnte jest bie Tempel: 
glode, und es Hang wie Klage und Antlage 
vereint. Einer Geberin gleich, vor ber eine 
Nifion aufiteigt, beugte bie fremde Frau 
e vor, ins Keere blidend, Und langjam 

egann fie. zu [predjen, [udjenb, als bejänne 
fie fih erft allmählich auf eine alte Mär, 
als fei bie ganze Welt um fie ber verjunten, 
unb fie rede allein zu fih jelbit: „Geſchmückt 
hatt’ ich mein kleines Haus mit vielen Früh. 
lingszweigen, gejymüct mid) jelbjt mit Blu- 
men im Haar. as Herz voll Hoffnung 
unb Zuverjicht, jo harrte ich froh auf ben 
Gajt, ber mir der ficherite bünfte: bas Blüd. 
Und niemand follte drum Leides gejchehen, 
jo fróblid) wie ich wollt’ ich gern jeden jeben. 
Denn id) wábnte, die Welt glide bem Blu: 
menfeld, drauf Blüten fiir alle jprießen. 
Dod während id) jo nad) dem Blüd aus: 
[aute und ibm im Herzen mande Ehren: 
pforte erbaute, da fam in das Haus ein 
gan anderer Gaſt geichlichen. Es war ber 

eid, der fid) an mid) ftabl, nicht weil ich 
Glück [don errungen, nur weil td) fo froh 
ibm entgegengejungen. Dann jab id) jtaus 
nend, wie Gajt auf Baft in grauer Reihe 
ies Mit bittrem Lächeln um den herben 

tund eröffnete ben Zug eine Alte: die Ent: 
täufhung wurde fie genannt, und wo ihr 
Blid eine Blume traf, erblichen alle Farben. 
Dann fam der nagende Kummer mit langem 
Zahn, das Warten und ber vergeblide 
Wahn. Daneben eine jchlotternd magere 
Frau, umgeben von weinenden Rindern: 
bie Sorge war es mit ihrer Brut, den zahl: 
lofen, fd)laflofen Nächten. Ob, wie mid) die 
gepeinigt haben! Wie mich alle mit Grauen 
erfüllten! — Aber im Herzen wohnte ja nod) 
bie Eehnjucht, bie große, und fie Jang vom 
Blüd, das Häer bald zu mir fame. — Dod 
jtatt des Glüds troh eine Schlange heran, 
die giftgiingige Berleumdung. Cine Schar 
ſcheußlicher Zwerge, die Lügen, führte fie 
an; die [hoffen auf mich mit |pibigen Pfeilen. 


pl» Otto Wohlgemuth: Deutide Auswanderer 1921 B222XX43 405 


Wie id) da verwundet zulammenjant und 
ſchluchzend aum Glide flebte: ‚Eil’ dich, et? 
did) und laß mich nicht elend verjhmadhten!‘ 
— da nabte fid) mir der Ungeheuer ſchlimm— 
ftes: es war die Schuld, der Menjchheit ur: 
áltefter Schatten. 

"Bas feinem gelungen, bas vermochte 
die Schuld: fie warf mich gelnechtet zu Bos 
den. Und unter ihrem eijernen Griff erftarb 
die Sehnjudt, bie große, die bis dahin auf 
—— mich getragen. Als erft bie 
Schuld im Haus gewohnt, folgten ihr que 
emfig webende Spinnen; bie jpannen 9tebe 
fo dicht und fo grau, daß fie mein ganges 
Leben bebedten. Die Epinnen waren beide 
Töchter der Schuld: Bereinfamung hießen 
fie und Berurteiltjein. 

„Wie lang die Zeit wábrte, bie alfo ver: 
firi, — id) = es nicht mehr, denn das 
tagezählende Hoffen war in mir erlojchen. — 
Da ploglic& eines Morgens pochte es laut bet 
mir an; bas Tor jprang auf an rojtigen 
Angeln; die büjtern Gajte entfloben. Das 
ganze Haus von Glanz durdftrablt und in: 
mitten bes Cdjeins eine lichte Gejtalt! Gie 
hielt bie Hand mir entgegen und |prad) mit 
jaudgender Stimme: ‚Ich bin bas Gliid, bas 
deine Cehnjucht rief, id) tomme dich mit mir 
zu führen.‘ | 

„Ih aber jdjaute bas Glüd mit leeren 
Augen an. (eine Worte hatten feinen Sinn 
mehr für mid. Gie flangen wie Don in 
meinem Jammer. ach bid) hinweg!‘ Jchrie 
id) auf, ‚du fommit zu ſpät — nicht rein 
mehr find meine Hände.‘ — Wie der jagen: 
bafte Krieger dort wollt’ ich den jäumigen 
Gaſt verjdeuden, als ob id) ibn BaBte, — 
unb im tieflten Herzen hoffte id) bod) — 
adj! wie Ai, — daß er trog allem nicht 
von mir lajjen wiirde. 

„Und wirflid — einen Augenblid blieb er 
zaudernd [ieben: folte jid) Sehnſucht nod) 
erfüllen? Dod als id) weinenb ibm [bon 
u Süßen ftiirgen wollte — da wandt’ er 


ih ab. — 

„Das Blüd floh mid) für immer.” 

Die Fremde fdwieg. Lautlos [till war 
es in ber bümmerigen Halle. Die ferne 
Tempelglode war verftummt. Draußen rübrte 


Sterne fallen vom Simmel nieder, 
fahrende kichter und fremde Lieder, 
Dumpfdunkel iit die Zeit und ſchoer. 
Stimmen irren im heimlidien Grauen, 
Drückende [lebelídiwaden brauen, 

Es welken die Herzen, die Blumen. 
Das Unheil iteht wie eine Wolkenwand, 
Heimat, Heimat, armieliges Land, 
Still, Weib, nicht Rouen, nicht zittern. 
Gefühllos, wohin die Augen fehn, 

Hn die Perzen greift ein traurig Geichehn, 
Ach, einmal muß fich alles erfüllen. 


Deufifie Auswanderer 1921. Don Otto Wohlgemuth 


(td) fein Blatt an der Bäume Mipfel; bie, 
Pagodenglödchen Dingen unbeweglich; bie 
wilden Tauben gurrten nicht mehr. ' 

Dod) durd) das tiefe Schweigen Hong nun 
die Stimme der anderen Frau: „Wie ijt bas 
nur mógli? Ich tann es nicht fallen, daß 
je einer von dir zu gehen vermochte, der 
gefühlt, daß du fein Bleiben erjehntejt. Wer 
war es? Willſt bu's mir nicht anvertrauen?“ 

Der Fragenden im Zwielicht verborgen, 
ging da plóglid ein Buden über bie Züge 
der Fremden, und in ihren Augen lobte es 
unbeunlid) auf. Doch wie rajh erftidtes 
Büngein drohenden Brandes verjant aljos 

ald die gefährliche Flamme. Mit erloſche— 
nem Blid binjtarrenb, wo das Bildnis auf 
dem Schreibtitch der Freundin im zunehmen: 
ben Duntel jebt wer und mehr verjdjwamm, 
jagte jie tonlos: „Wozu Schatten ber Ver: 
gangenbeit mit Namen nennen ? Es war einer, 
der fid) felbft tannte und wohl wußte, daß 
ibm bie Märtyrerfrone zu |djmer geworden 
wäre, bie zu tragen bereit fein muß, wer, 
fih erbarmend, andere von ihrer Schuld er: 
Idjen will. Nach eigenem Gliid, ftill, tampf: 
los und Har, ftrebte er, — und hat es dann 
auch gefunden bei einer, die ihm gerade das 
zu jchenten vermochte.“ 

Wieder bas tiefe Schweigen, beflemmend 
Ihier in ber nun völligen Duntelbeit. Dann 
nod) einmal, aus der tiefen Finjternis tom: 
mend, die müde Gtimme der Unjeligen. 
Wie ein Taften auf qualvollem Wege: „Da: 
mals bat mid) die große Raftlofigteit erfaßt. 
In meinem Haufe duldete es mich nicht mebr. 

Sc ſchloß es ab. Wandere Jeither unjtet 
über die Erde, einjame Wege. Seh’ überall 
Leere. Nur manchmal auf langen Meeres» 
fabrten, wenn nadjts die Wogen gegen das 
Schiff iblagen, und id mid) über bie 
Brüftun jene: glaub’ id) aus ber fhau 
rigen Tiefe ein Antlig mit ewig geöffneten, 
liderlofen Augen zu mir aujfdauen zu leben : 
es ift die Berzmeitfung. Tod) aud) fie fürchte 
id) nicht mehr. 3d) barre ja nur nod) bes 
legten aller Gáfte, des Gajtes, für den wir 
niht zu Haus zu bleiben brauchen, ber uns, 
wo immer wir auch feien auf der weiten 
Welt, finden wird zu feiner Stunde,“ 


Wir fühlen, wie das kand, das unler war, itirbt, 
Was Geichlechter gebaut und gegraben, verdirbt, 
Wir múfien von dannen, von dannen. 

Die Toten, die Toten im Helmatgrunde, 

Die Bäume, die wir pflanzten, o [were Stunde, 
Und unire hungernden Kinder weinen. 

Was wir geliebt, idıwebt her und Idiwebt hin, 
Was wir gewollt, iit hin, iit dahin, 

Es wird keiner nadı uns fragen. 

Den Himmel überzieht eine dunkle Macht, 
Wir willen wohl, was uns fo unglücklich macht, — 
O Scheiden, du bitteres Scheiden. 


Goethe in Heidelberg 


on Ludw ig Sternaux 





Qenit man an Goethe und Heidel: 
7 berg, jo flingen aus ber Erinne: 
SL rung x oy zwei Frauennamen 

Geet ili und Marianne. Die 
dieje Namen trugen, fie haben 
beide, nun von Legende längjt in Sphären 
ber Verklärung entriidt, bas Herz des Dich» 
ters bejejjen . . . bie eine, felbft im vollen 
Glanz der Jugend prunfend, das bes Jüng— 
lings, der wild ins Leben [türmte, „der 
Wunder bang, von Sehnjudt ſüß bedrángt”; 
die andere, eine „Frau von dreißig Jahren“, 
bas des Mannes, bem [hon ber Lebensabend 
nabte. Und — war beidemal die 
Stätte, da die Entſcheidung fiel: ſie hieß im 





Y, 
ED) 


einen wie im andern Fall Entjagung. 
edar nad) 


Dod) laufen Fäden aud) vom 
ber Ilm, und Unrecht wäre es, 
nidt aud Cbarlottens und 
Chrijtianens zu gedenfen, um die 
jo viele Sebnjud)t Goethes flog. 
w 88 CH 


Das war ein bunter Tag aus 
andern bunten Tagen, als 
Goethe zum eritenmal nad 
Heidelberg fam. Denn er tam 
nicht allem. Drei wilde Ge: 
jelen begleiteten den Dichter bes ‚Wer: 
ther‘: bie beiden Gtolbergs, bie Brüder 
jener Augufte, der Goethe die Jchöniten 
Briefe feiner heißen und verworrenen Ju: 
gend gejchrieben bat, und ein Graf Haug: 
wif. In Sturm und Drang fegten fie 
durch das veritörte Land, bas ihnen, Ort 
für Ort, entgeiftert nadftarrte, und riffen 
Goethe mit. Den lodte mehr als ihre un: 
gebárdige Art das Ziel der wilden Reife: 
bie Schweiz. Aber immerhin — wie jdjón 
more bod), ber Feſſeln ledig, bie bie zwie- 
jpaltige Leidenſcha u Lili Schönemann 
ihm auferlegt, durdys Land zu fdweijen, im 
blauen Werther: Frad und in Etulpenitiefeln, 
unb wenn bie Kameraden, aller Gitte jpote 
tend, ben Philiftern in Mannheim und Darm: 
ftadt lange Naſen drehten, jo machte er nicht 
gerade ungern mit. „Wir pier," heißt es in 
einem Briefe des älteren Stolberg an feine 
Schweiter Katharina im fernen Dänematf, 
„lind bei Gott eine Bejellichaft, wie man fie 
von Peru bis Se umjonjt Juchen fonnte", 

Ziele Bejelljchaft, bie in Frau Ujas Haus 
in Frankfurt — man dente: bielem wohl: 
fundierten Patrizierhaus — lärmend ,nad) 
<Tyrannenblut geledjat", hatte bie Mainftadt 
am 14. Mai 1775 verlafjfen. Merd in Darm: 
ftadt, ein bejonnener Freund, hatte bie vier 
Genies argwöhnijch betrachtet: „Daß du mit 
diejen Burjchen zieht,“ batte er zu Goethe, 
dem einzigen, Der wirklich ein Genie war, 
gelagt, „ilt ein Dummer Ctreid), du wirft 





Auf ber Terraffe bod) gewólbtem Bogen 
Mar eine Beit fein Kommen und fein Gebn... 


Marianne von Willemer. 
nicht ande bei ihnen bleiben. Deine unabs 
lenfbare Richtung ift, bem SBirtliden poe 
tiſche Gejtalt zu geben; die andern fuen 
bas fogenannte Poetijde, das Imaginative 
zu verwirklichen, und bas gibt nidts als 
dummes Zeug.“ 

Bittere Morte! Deren Wahrheit und 
tiefen Ginn Goethe Balb erfonnte, halb ver: 
neinte und die er damals, jelbjtverjtändlich, 
in den Wind jchlug. Aber als er, ein Men: 
ichenalter ſpäter, pis is] unb Wahrheit 
nieberjd)rieb, batte er ihre Sdidfalstraft an 
Leib und Geele erfahren, dort bat er [ie denn 
e: verewigt. 

a, es war ein bewegter Tag, der 16. Mai 
1775, als bie vier ungleich » gleichen Fahrt⸗ 
gelellen in bas abenblidje Heidelberg ein» 
sogen; bie guten Heidelberger 
mögen niht jchlecht geftaunt 
haben, als dies Quartett fins 
peut und biitejdjwenfend durd 

ie ftillen Straßen marjdierte, 
Geftalten faft aus einer anderen 
Welt. „Nun gehen wir hin,“ ers 
zählte ber immer jchreibluftige 
Chrijtian Stolberg ber Schweiter 
andern Tages, „das weltbe» 
riibmte Heidelberger Faß zu feben...” Ta: 
türlid)! Da 's nidt Tyrannenblut fein 
fonnte, nahm man mit Ntedarwein vorlieb, 
und wie in Mannheim trant man in lautem 
Rundgelang auf das Wohl der Geliebten 
unb zerihlug nachher bie Glajer... 

„Liebe Lili, wenn ich bid) nicht liebte!” 
tónte es wohl damals ¡Hon in Goethes Her: 
zen. Sehnſucht quálte den guten Jungen, 
trieb ihn nur zu oft aus dem lauten Lárm 
ber Zechgenojjen. Und ba winfte denn am 
Markt ein ftilles Haus, ármlid anzujehen 
nur mit feinen zwei Senjtern Front und 
dem niedrigen Dad): das Haus Der guten 
Temoijelle Delph winfte Troft und bradte 
Troft, jo verjtört der Kopf aud) war, in dem 
Wein und Liebeszweifel gleich ftart rumor: 
ten. War fie, eine Gejchäftsfreundin bes 
Cdónemannjdjen Haujes, es bod) gewe'en, 
bie feinerzeit bie Hände Lilis und Goethes 
ineinander gelegt batte! Go modte fie aud 
jeben, was fie angerichtet, modte Gluten 
dämpfen, die fie Lg entfadt ... und 
Ausklang bieles erften flüchtigen Aufent: 

alts in Heidelberg waren Morte Der 
lage und Anklage, von der altlidjen Junge 
Gi topfichüttelnd angehört, derweilen Die 
Freunde des Beichtenden oben im Burgfeller 
lármten. 

Aber der andere Tag jchentte [nel Vers 
AS und über Karlsruhe, wo Rlopjtod 
eſucht wurde und Goethe, [terngebunben, 
zum zweitenmal dem jungen Tbronerben 


FEEEEEEEEA Ludwig Sternaux: Goethe in Heidelberg B=33333353 407 


von Sadhjjen: Weimar begegnete, ging’s nad) 
der Schweiz zu Lavater. 
88 


8 

,Siebmürts" blidte Goethe nod, als er, 
Adal tdi aus der Schweiz, Frankfurt 
iegen fab: wartete feiner dort doch Lili, die 
d erfebnte. Dod wenige Wochen jpáter 
oh er, von feinem Dämon getrieben, bie, 
um die er nod) vor furzem fo gebangt. „Ber: 
ebens," batte er am 3. Auguft bieles fhid- 
alsvollen Jahres an Augulte von Stolberg 
eld)rieben, „Daß ich drei Monate in freier 
uft herumfubr, taujenb neue Begenftände 
in alle Sinnen fo . id) fie wieder in 
Offenbad, jo vereinfadt wie ein Kind, fo 
beichräntt als ein Papagei 
auf der Stange... alles wirrt — 


Da blieb nidjts übrig als 
Bruh und Flucht. 

Dazu jagten fid) andere 
Greignijje. Am 21. Septem- 
ber, einen Tag nad) der Ent: 
lobung, hatte ibn Carl Auguft, 
jest Herzog geworden, durch 
Handihlag an fig gebun- 
den: Weimar, fremd und un: 
befannt, wartete. Der 12. Ot- 
tober erneuerte bie Einla: 
bung. Goethe, bes Herzog: 
lihen Wagens barrend, der || 2E 
ibn nad Weimar bringen * zi 
eid. machte fid) reijefertig. ~% 

ber der Wagen tam nicht. SPA 
Spott bes Baters, eigene «> 
Scham, dazu das qual: 
volle Gefühl, Lili, die immer noch im 
ftillen Geliebte, fih verjcherzt zu haben, 
trieben ihn, bei Nacht und Rebel, aus 
ber Baterjtadt. Italien folte Vergeifen und 
Linderung bringen: „Lili, adien Lili, zum 
¿weitenmal!” 

Und erjte Zuflucht war wieder das jtille 
pous oer guten Demoijelle Delph in Heidel» 

erg. 


w WW 8] 
Im Mat war Heidelberg an Goethe vor: 
beigeglitten wie ein Traum. Debt erlebte 
er es wirflid. Erlebte Herbittage, die Gold 
unb Truntenheit über Stadt und Schloß 
Ihütteten. Die Berge ringsum brannten. 
Schon das Tagebud), bas er von nun an 
führte, war unterwegs, an der — e 
bet ,omindjer Überfüllung bes Glajes” be: 
onnen worden; im Gajthaus in Weinheim 
Bate er, wie dasjelbe Tagebuch berichtet, 
vor „Herbjtbutten und Zuber” nicht den Weg 
gum Wirtszimmer finden fonnen; nun geriet 
er in Heidelberg mitten in Die Weinlefe bin: 
ein. „Elſaſſiſche — lebten in ihm auf. 
Die Handelsjungfer Delph tat alles, den 
Bekümmerten zu zerſtreuen. Tat's mit Er— 
folg. Sogar ein neuer Heiratsplan erwachte, 
neue Mädchenſchönheit bedrängte das noch 
wunde Herz, das Lili nicht vergeſſen konnte. 
Das Leben lächelte wieder. 
Aber dann kam eine Nacht, der erſte rauhe 


> . c 
fi in einen Schlangenfnoten.“ IER ZELUS 





Wind rüttelte an ben Fenfterláden, unb in 
den Garten rajdelte bas welfe Laub, da 


88 war der alte Mißmut wieder rege geworden. 


Unfrudtbares Geſchwätz mit ber Delph hatte 
die [hon halb begrabenen Zweifel aufge: 
Hört: nun quälte das Bild Lilis, quálte 
die eigentümliche Weimarer Gej[djid)te, eine 
tolle Gejdjid)te, wenn man fie recht betrat: 
tete, den einjamen Cdjláfer. Leije ächzte er 
im Traum. | 
.. Da Hang ein Pofthorn in bie Stille, ein 
jábes Klopfen brad) das ſchlafende Haus auf. 
Türen flappten, Licht fuhr eilig bin un 
e Und dann trat die Delph, notdürftig 
ergerichtet, in des Gajtes Rammer, in der 
Hand einen verfiegelten Brief: 
Gtafette aus Frankfurt. Weis 
mar rief! 

Und bas Sdidjal erfüllte 
fid): der nad) Italien Hatte 
wandern wollen, eine franfe 
Liebe im Herzen, er 30g nad) 
ber bejdjeibenen Ilm, einer 
neuen Liebe entgegen, neuer 
Dual und neuem Raufch, weil 
es die Sterne jo wollten. Die 
Gonnenpferdeworte aus dem 
‚Egmont‘, ficherlid) nicht ge» 
proden, als Goethe damals 
n der gleichen Naht nod) 
Heidelberg verließ, aber Rer, 
lid) dem Ginne nach emp: 
ée gaben das Geleit. 

nd der Goethe, der fpäter 
aus der Erinnerung dieje ers 
eignis|djwere, geheimniser⸗ 


CH e füllte Nacht in ‚Dichtung und Wahr: 


heit‘ jchilderte, ber formte gleichzeitig 
jene ‚orphilhen Urworte‘: 

Wie an bem Tag, der bid) der Welt verliehen, 

Die Sonne ftand zum Grube ber Planeten, 

Bift aljobald und fort und fort gediehen 

Nach bem Geſetz, wonad bu angetreten... 

An bem jdjmalen, unjdeinbaren Haufe 
der Demoijelle Delph aber e der, der 
Augen pe derartige Dinge hat, heute eine 
Tafel, ie da meldet: „Aus diejem Haufe 
feiner mütterlichen Freundin Dorothea Delph 
reijte Goethe, der Einladung Carl Augults 
folgend, den 4. November 1775 nad Weimar.” 
Die Heine Tafel gibt Runde von dem wich» 
apt Borgang in Goethes ganzem Leben. 
Aber der Alltag treibt daran vorbei, und 
taum einer ftebt einmal [till und verjucht, 
bie ungeheuere Bedeutung diejer wortfargen 
Inſchrift aud) nur zu begreifen. 


88 8 

Und die Jahre ſtürzten. Die Ufer der 
Ilm wurden dem Fremdling Heimat. „Gott 
im Himmel, was iſt Weimar für ein Para— 
dies!” jubelte Goethe aus Mannheim Char» 
lotte von Stein zu, als er im Dezember 1779 
von der zweiten Schweizer Reife zuriidtebrte, 
die er mit dem herzoglichen Freund zujam: 
men unternommen. Gie hatte ihn auch nad) 
Heidelberg geführt, und nachdenklich war der 
nun Dreißigjährige durch die Gaſſen gejchlen» 


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408 Ludwig Sternaux: BSSSSSSS3333333I 


dert, Die er vor vier pedes verlajjen hatte, 
um ins Ungewilje zu pilgern. 

Wie hatte fid) feitvem die Welt verändert! 
Nicht die Welt Heidelbergs; die war, mit 
— und abendlich beglänztem Fluß, 
mit ihrer alten Giebel Flucht und Herbſtes— 
Baud), bielelbe geblieben; aber feine Welt 
war eine andere geworden. Lilis Bild, einft 
füße Qual, hatte das neue Charlottens ver: 
drängt: ruhig hatte er die frühere Geliebte, 
jest Frau von Türfheim und gliidlide Mutter, 
D unb [predjen Tonnen, Auch Friederike 
batte er in Sejenheim bejucht, und fein Herz 
war unbewegt geblieben: „Da ich iezt jo 
rein und [till bin wie bie Luft, fo ift mir ber 
Athem guter und ftiler Menjchen febr 
willtommen,” hatte er Frau von Gtein ge: 
Der Jiingling war eben zum 
Mann geworden. 

Noch einmal hatte Heidelberg ihm nun 
die Erinnerung dumpfer Jugendtage ge: 
idjenft, bas bródelnde Schloß ihm von ben 
Gejellen erzählt, mit denen er bier einft in 
feliger Torheit fraftgenialijd gelármt, bas 
Heine Haus der Demoijelle Delph ihn an 
die Nacht gemahnt, da ibn bas Pofthorn 
aus Schlaf und wirrem Traum gejagt. Es 
war einmal! Das Honn in unfihtbaren 
Lettern auch unter jener Zeichnung Des ges 
iprengten Turms vom 23. September. 1779, 
die ihn nun nad Weimar begleitete — ein: 
giges Zeichen biejes Aufenthalts in Heidel- 

von 1779, das wir beſitzen. 

nd ber es in verjonnener Stunde ange: 
fertigt, der war nicht mehr der wilde Dichter 
bes ‚Böß‘ und des ‚Werther‘, jondern der 
Geheimrat Goethe, WE Ne Hand und Ein und 
Alles Carl Augujts. Denn am 6. September 
. bieles Jahres hatte der Herzog wider allen 
Braud und Gitte dem bag Verwunderten 
den ,Gebeimdenraths Titel‘ gegeben. 


Goethe an Chrijtiane aus Heilbronn am 
28. Auguft 1797: „Den 26., an einem außer: 
ordentlich Haren und jchönen Tag, blieb id) 
in Heidelberg und erfreute mich an der jchö- 
nen Lage der Stadt, bie am Nedar zwijchen 
elfen, aber gerade an dem Puncte liegt, 
wo das Thal aufhört und die großen Frucht: 
baren Ebenen von der Pfalz angehen.“ 

Goethe an Gbrijtiane ... ja, in ben adt: 
gehn Jahren, bie jeit der zweiten Schweizer 

eije ins Land gegangen waren, hatte jid) 
das Leben des Dichters wunderlich genug 
geftaltet. Vieles war längjt wieder zu Traum 
und Vergangenheit geworden, was einft bes 
glüdende und quälende Wirklichkeit, jonnen: 
reidjes Heute gewejen. Wo war Charlotte 
von Stein, Die gütige, die liebevolle Befähr: 
tin in fo manden Wirrnijjen? Wergejjen? 
Mein. Aber fie hatte es nicht ertragen tön- 





nen, daß eine Gbrijtiane Bulpius an ihre 
Stelle trat, als Goethe 1788 verjüngt, ein 
neuer Menjd) mit neuen Anfichten und Sebn: 
jiidten, aus Italien nad Weimar heimfehrte, 
unb batte fih grollend qp — Dann 
war gwar wieder aus ber Mißgunſt, die 
neidijd) das friedliche Gliid am ¿¿rauenplan ` 
bejchielte und behechelte, eine blajje Freund» 
idjaft geworden ... der Heine Auguft, Chrijtias 
nens Sohn, hatte ben E zum Herzen der 
Verbitterten gefunden. Aber die alte Liebe 
blieb geftorben: Chriftiane, jo wenig fie, ein 
bejcheidenes Naturfind aus fleinbiirgerlicen 
Verhältniffen, auch geiftig mit Charlotte 
wetteifern tonnte, war in menjchlicher Hin- 
fidt bie Nachfolgerin Lidas. Und Diele 
lebte eigentlich nur nod) als —— und 
Eleonore in Goethes ewigen Dichtungen. 
Sonſt war ſie eine Tote, das Haus an der 
Ackerwand eine Gruft. = 

Un wen alfo folte Goethe jchreiben, wenn 
er auf Reifen war? An Gbrijtiane, die Frau. 
Denn wenn Chriltiane dies vor ber lt 
aud) nicht war, erft 1806 wurde, für Goethe 
jelbjt war fie eg lángft nicht mehr das 
„arme Geſchöpf“, dem er Empfindungen 

ónnte, fondern bie Frau, die Mutter feines 
obnes, bie er mit voller Inbrunft liebte, 

Aus bielem ruhigen Familienleben heraus 
hatte er, alter Sehnſucht folgend, eine neue 
Schweizer Reife vorbereitet, eine dritte, und 
vielleicht follte fie gar, zum großen Summer 
Gbrijtianens, nad) Italien führen, Am?7. Juli 
1797 meldete er dem Freunde Heinrich Meyer 
nad) Stäfa am Züricher Gee, er würde bald 
„io los und ledig als jemals“ fein. „Ich 
gebe jobann nad) Frankfurt mit den Meini: 
gen, um fie meiner Mutter vorzuftellen, und 
nad) einem furgen Aufenthalt ips id) jene 

urüd unb fomme, Cie am fchönen Gee zu 
nden...” Und fo gejdah’s. 

Frau und Kind wurden der ftolgen und 

erührten Großmutter gezeigt, zwei Tage 
ba wieder nad) Haufe gejchickt, nad) kurzen 
Wochen verließ aud) Goethe Frankfurt, um 
über Stuttgart und Tübingen nad Zürich 
zu reifen. Und auf diejer Reife tam er dann 
auch, zum viertenmal, nad) Heidelberg. 

Nod wohnte die „mütterliche Freundin“, 
die Beraterin feiner Jugend, in dem Kleinen 
Haus am Markt, alt geworden, aber nicht 
weniger unterbaltjam. Und mod) einmal 
ftand wohl tote Zeit auf, da er fie bejuchte. 
Aber im übrigen hatte er vergejjen und 
wollte auch nicht erinnert fein. Sein Auge, 
das in den verfloffenen Jahren fo vieles ge: 
leben, jah je$t das Leben anders an, ruhig, 
leidenichaftslos, von der hohen Warte des 
in Stürmen und Rampfen gereiften Mannes, 
des Dichters, den eine Welt bewunderte und 
beneibete, bes Sammlers vor allem, der feine 
Akten: und Schränfe bereichern wollte. Was 
jollte ihm ba das Geftern ? 

"30 ging in die Stadt zurüd, eine Freun— 
din zu bejuchen, und jodann zum 
Dbertor hinaus,“ heißt es über 
Heidelberg in ber Reije in die 





410 BS: —::] Ludwig Cternaux: seess 


Gejelligteit erlebte. Und wieder liebgewann. 
Bis dann enblid) ein Brief aus Heidelberg 


vom 28. September Chrijtiane meldete: „Bei 8 


Boifferées fand ich bas lieblidjte Quartier, 
ein großes Zimmer neben der Gemálde: 
beer . Auguft (— denn Auguft Hatte 
a von 1808 bis 1810 in Heidelberg ftudiert —) 
wird fid) bes Cidingildjen Haujes erinnern 
auf dem großen Plate, dem Schloß gegen: 
über. Hinter welchem der Mond bald herauf: 
fam unb au einem freundlichen Abenbeffen 
leuchtete.“ 

Und jo weiter, Tag für Tag, Bilder bes 
Ichauend, jpazierengehend und aud Grinne: 
FARBEN nicht ausweichend. Denn wenn er 
ba ber fernen Hausfrau erzählt, wie ihn an 
einem Oftobermorgen der hönfte Sonnen: 
Ichein früh aufs Schloß gelodt, wo er fid) „in 
dem Labyrinth von Ruinen, Terraffen und 
Bartenanlagen ergößte und bie Deiter[te (De: 

end abermals zu bewundern Site 
Bate", jo muß bem alten Herrn bie Bers 
— genaht ſein, Vergangenheit „mit 
allen Rauſch- und Tránengaben”, und aus 
ben zerfließenden Herbftnebeln muß ihn, wäh: 
rend rings bie Raftanien fielen und herber 
Odem die alten Mauern umftrid, das Bild 
Rilis an aben... 

Das Bild Kilis? Oder lächelte nicht viel- 

leicht bem Verjiingten ein neues Frauenbild? 
ieder gibt ein Brief an Chriftiane Aus: 
tunft, am 8. Auguft aus Wiesbaden abge: 
fanbt. Da heißt es, wenn auch wortfarg, 
u. a.: „Schon vor einigen Tagen bejuchte 
mid) Willemer mit feiner Heinen Gefábrtin.” 
Diele „Kleine Gefübrtin" nennt das Tagebud) 
vom 4. Auguft. Cs war „Dle Jung“, 
Marianne mit Bornamen, ein Pflegetöchter: 
den des Geheimrats von Willemer aus 
ranffurt, das jener bald darauf, der zweiten 
itwerjchaft müde, zu feiner Frau machte, 
und diejer Bejud) in Wiesbaden war bie erfte 
Begegnung Boethes mit ihr. Hatem E in 
Brentanos Biondetta feine Guleifa gefunden. 
& 


Denn Goethe war Hatem geworden. Und 
blieb es treu, wenn auch nicht ganz fo leiden: 
I&haftlich wie in jenen Tagen neu erwachender 
Liebe, Jondern entlagungsvoll, bis zu feinem 
Lebensende. Mis er von Weimar am 
25. Juli 1814 in jenem „Fahrhäuschen“, das 
er in feinem Gedicht „Der neue Koperni: 
tus” fo anjchaulich beichreibt, nad) Mies: 
baben teilte, war das erfte Wort, das er in 
Gilenad) in das Tagebud) eintrug, „Hafis“. 
Zieler Hafis bat ihn nicht mehr verlajjen, 
bis er Jelbjt ihn verließ, als námlid) der 
Meftöftlihe Diwan vollendet war und in 
einem köſtlich illuminierten Sonderdrud an 
Marianne:Suleifa abgina. 

Diefer Tag der Bollendung aber lag 
damals noch fern; ihn herbeizuführen, hatte 
ibm bas Gdjidjal eben jene Marianne von 
Willemer über den Meg geldjidt, führte es 
ben ganz in jugendliche Bewegung und Iyrijche 
(Efftaje Zurücverjeßten erft ak: einmal an 
die Gtátte jo oft erprobten Heils: nad) 


Heidelberg. Das war ein Jahr darauf zu 
genau der gleichen Zeit. 
88 


8 

Als Goethe fid) im Herbft 1814 von 
Willemers, die jommers tn der Frankfurt 
nahen Gerbermiible wohnten, verabjchiedete, 
d er ber anmutigen Frau des Freundes 
ein Stammbud Ddagelaffen. Sie jdidte es 
ihm nad Weimar mit einer Eintragung, 
die in bie Berfe austlang: 

„Als ben Größten nennt man did, 

Als den Betten ehrt man did 

Sieht man Did, muß man dich lieben ...” 

Ziele Berfe, im Tone nod) halb ſchalkhaft, 

as bas erfte jehüchterne Befenntnis ihrer 

eigung. Daß diefe bald zu Liebe und mit 
Liebe beantwortet wurde, das Hingt und 
fingt der ganze Diwan, ber nun in rajdjem 
Fluß entftand: bie breiBigidDrige Frau, bie 
ich den pollen Liebreiz ber Jugend bewahrt 
atte, hatte bas Herz bes Dichters gewonnen. 

So gab, als Goethe ein Jahr fpáter — 
Chriftiane, die trántlid geworden war, weilte 
ur Sur in Karlsbad — fid) zu einer neuen 

beinreije anjdjidte, Gebnjubt nad) Mari- 
anne wunderjam Geleit... nicht zehrende 
Gebnfubt, wie fie in früheren Jahren ihn 
gequält, nein, eine frohe, die gleicher Gefühle 

ei der Geliebten gewiß war. 

Am 24. Mai [Hon verließ Goethe diesmal 
Meimar. Wiesbaden war wieder notge: 
drungen Zwilchenitation. KE und 
Gerbermiible, wo er „freundlichit emp Tange. 
wurde, ſchloſſen jid) Mitte Auguft an. Und 
dann fam Heidelberg. 

Wieder wohnte Goethe bei den Boifferées, 
— die Delph war [Hon 1800 aus Heidelberg 
fortgezogen. Wieder blaute ein Herbit über 
Berg und Tal, wie ihn jo [Hón nur Träume 
leben: Raujdhgold bejtreute alle Wege, in 
den Garten dufteten bie |páten Blumen, 
an den Cpalieren reiften die Trauben, und 
die Mauern des alten —— brannten 
in den Sonneſtunden in verhaltener Glut. 
Köſtlich war es, auf Altan und Terraſſe zu 
wandeln, mittags auf ſchattenfreier Bank zu 
ruhen oder nachts, wenn der Mond die 
nahen Zinnen, die Giebel der ſchlafenden 
Stadt, die Neckarniederung mit blaſſem 
Silber beträufelte, ins Land zu feben ... 
toftlid) vor allem, weil Marianne, ad Aen 
und Geliebte, diefe Stunden teilte, diefe 
Stunden adelte, ihnen Duft und finnlichen 
Zauber gab. 

Schon Frankfurt hatte den Zwiegejang 
von Hatem und Guleita begonnen, — bas 
Bud ‚Suleifa‘ im Diwan tönt ihn wieder, 
anbebend mit den Worten: „Nicht Gelegen: 
heit maht Diebe...“ Heidelberg, wo Mari: 
anne mit Mann und Stieftodter am 23. Sep» 
tember eintraf, ſehnſüchtig erwartet, wie fie 
jelbft jehnjühtig nad) Goethe verlangte, 
teigert nun Frage und Antwort ber Lie: 
benden zu betörender Siikigfeit. Das Tage: 
bud) des Dichters, fonft fo einfilbig und 
ſachlich, Ihwärmt, wiederholt immer wieder: 
»Herrlider Morgen... Herrlidjter Morgen... 






KK ` Ze —— — — $$ — — 
7 
T, V— 





poeeexe—:—x:83::3232] Goethe in Heidelberg 411 


Bolllommenfter Tag.” Noch mehr verraten 
die Gedichte, die Tag für Tag entitehen, wie 
Tag für Tag — es waren JA nur wenige, 
denn der 26. September ron brachte die 
„Abreije ber Freunde” — die Kleinigkeiten, 
die nur Liebenden gemein und offenbar, 
dazu Anlaß geben ... ob fie im Vollmond 
nun zujammen an ber Altanbriiftung bes 
Schloſſes lehnten und fih gelobten, in ber 
nádften Bollmondnadt einander im Geijte 
nah au fein; ob Goethe» Hatem „an bes 
[uft'gen Brunnens Rand” die Chiffre Suleis 
fas in morgenländilchen Lettern in den Sand 
eichnete; ob fie im Schloßgarten den ges 
— Gingo⸗Biloba⸗Baum wieder: 
anden, denſelben Baum, von dem Goethe 
ein Blatt als Sinnbild der Freundſchaft 
nad ber Gerbermüble gejchidt hatte; ober 
ob fie traumverfunten laujchten, wie von dens 
ig: Bäumen ringsum die reifen Früchte auf 
en Boden Hopften: alles wurde zum Lied. 
„Du beihämft wie Diorgenrótbe,” preift 
der Dichter die geliebte Frau, „jener Gipfel 
ernfte Wand, und nod einmal fühlet Goethe 
yrúblingshaud und Gonnenbrand.“ 
Und jie antwortet, felig hingegeben: 
„Rimmer will id bid) verlieren! 
Liebe gibt ber Liebe Kraft. 
Magft bu meine Jugend zieren 
Mit gewalt’ger Leidenichaft. 
Ad! wie ſchmeichelt's meinem Triebe, 
Wenn man meinen Dichter preift: 


Denn bas Leben ift die Liebe, 
Und des Lebens Leben Gem." 


Aber jedem Traum folgt ein Erwachen. 
Wind lief über die Chiffre Guleitas im 
Sande und verwilchte fie; Wind nahm dem 
Gingo- Biloba die Blatter; Wind trieb Wolfen 
über Den Mond, ber bem Liebesfliiftern von 
Hatem und Guleitas geleubtet. Wind ver: 
pare aud den Sub, den Goethe bei der 
legten Zuſammenkunft ber jungen Frau auf 


—— 


— C 


Hecdelle tg. Cex Schlofsa Clan. 


— — 
— = EE 
er SE 


Stirn und Mund gehaudt. Beide haben 
fid) nie wieder gejehen. Der Traum war 
aus. Nur Briefe u nod) in unjduldiger 
Beheimjchrift verdedte Schmeicdhellaute bin 
und ber zwilhen Weimar und Frankfurt; 
fie heiligen u Liebe, die entjagte, ohne 
je genofjen zu haben, in alle Ewigfeit. 

88 


8 & 
„Blieb zu Haufe,“ Heißt es in Goethes 
e eade am 26. September. Und dahinter 
fteht: „von Eyt”. Die Bilder der Freunde 
boten aljo erjten Troft. Hielt er vor? Nicht 
recht. Andere 3erftreuung brachten die An: 
funft Carl Augufts, ein Ausflug mit diejem 
nad Mannheim, eine furze teile mit Sulpiz 
Boiſſerée nad) Karlsruhe. Wher [hon am 6. Ot: 
tober erzählt biejer bejorgt von Goethe: „Er ijt 
Vay angegriffen, hat nicht gut gejdlafen, muß 
üchten.“ were Trauer umjchattet die 
ganzen Aufzeichnungen des Freundes aus 
diejen Tagen: der „Alte“, wie Boijferee jagt, 
war völlig aus dem Bleichgewicht gebracht, 
quälte H und andere mit Todesahnungen, 
wollte jein Teftament machen. Auch litt er 
unter Erinnerungen, die ihn bedrängten: Die 
Bilder Lilis und Minhen Herzliebs traten 
antlagend aus ber Bergejjenheit hervor. 
Als erfte Stürme Kälte brad)ten, verließ 
er, von Gulpiz jorgjam begleitet, Heidelberg. 
Am 7. Oftober. Auch Heidelberg s er nie 
wieder gejehen. Aber es lebte in ibm. Die 
vielfachen Aufzeichnungen des Greijes bes 
zeugen es. Und die Strophen, die der Ein» 
ane 1828 in Dornburg, wohin er fid) nad) 
es fürjtlichen GA Tod geflüchtet hatte, 
„dem aufgehenden Bollmond“ gewidmet bat, 
I bauen zwar GaalesLandjdaft auf, aber 
ie muten ganz an wie ein janfter Nachklang 
der Heidelberger Bett ba eine „überjelige“ 
Naht ibn niht alleine jah, bas „Liebchen“ 
Marianne nod nicht fern war. 


MIL — — — 


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——— 


DESCH | | ees | | ¡ae | | Kammer | | coy | | ey | | ¡ER | | mecs | | pcne | | amy | | esas | | eee | | mees | | gemeet | | 


Don Fritz $leifchhauer 


geng || |] | ausm | | || || || || |] || || || || |] | |) || | {|| || ee | | ) 


Dom alten $rißen. 


Sein $lotenfolo 


Man Ponzertiert, Wie zephirweich 
Schmilzt 6-Moll aus des Königs $löte! 
So bláfl in feinem bunten Reid 

Raum Pan, verblafit die Abendróte. 
So zart fdjludjst aud) in Sansfouci 
Nur erfte Liebe. Slide fdjwimmen 

Dell Fähren. Trillert ein Genie, 
Derklingen des Ordefters Stimmen. 


Da hat aud) Sad) am Clavecin 

Paufiert in adjtungsvollem Schweigen ; 
fur Quant nidt zum Soliften bin, 
Indem gedámpfter wird das Seigen. 
Wie klingt der $löten-Anfat rein! 

Rein Zungenftoß braudt fid zu ſcheuen; 
Viel leichter Pann man König fein 

Als fimplen Vortrags fid) erfreuen. 


Empfindung adelt Luft und Qual. 
Mufit verfnüpft wie Deildyenbänder, 
Und firablt aud) Rerzenduft der Saal, 
Der Hof vergifit den hohen Spender 
tind ahnt galant ein Schäfernüd. 
Paffagen fdmeideln Obr und Sinne, 
FJedwedes Herz wiegt Jugenóglüd, 


Fim Gold-Plafond träumt felbft die Spinne. 


Den Taft marfierend mit dem Fuf, 
Befhwört der Fiirft die ſchönſte Stunde, 
„® Doris, himmliſch war dein Ruf! 
Nur fhwer vernarbte unfre Wunde, 
Denn Amor bleibt der lofe Schelm 

Und taucht den Pfeil in bittre Lange; 
Dor Herzleid fhüst fein Ritterhelm.” 
Jn Wehmut blinkt das Rönigsauge. 


Weld) edler Wohllaut der Radenz! 

Und niemand denkt an Applaudieren, 
Dis Friedrid) lächelt: „Die Sentenz 
Freund Quantens war zu refpeftieren.” 
„Sire! Demnad) bat Coriolan, 

Wie ihn erweidt der Mutter Flehen, 
Dem Spiel es wieder angetan? 

Und ließ in Wonne uns vergehen.” 


„Kein! Eb” die Soirée begann, 

Da fprad) mid) bei der Dittfdrifislinàe 
floh einmal meine Jugend an 

Jn jener Toten áltfiem Rinde, 

Und mein Adagio wußte fadt 

Der Schönen Anmut zu verweben: 
Ah, könnte man der Venus fladjt 
flit nur flautando fúf beleben!” 


Und der alte Frits diktieret 


Jn blauer Morpheusfiunde 

Die €djilàómadt hofft auf Kunde. 
Es liegt die Feld-Armee 
Alarmbereit im Schnee. 

Dumpf rauffen rings die Wälder. 
€s Flappern all die Zelter, 

Jm Wind der Mintersnadt, 

tind dennod) mand) wer wacht. 


Der denkt daheim der Lieben, 
Der, ob fie treu geblieben, 

Der ftóbnt im Halbfhlaf hwer. 
Die Schlacht liegt en im Heer; 
Und finden aud) nod) Träume 
Die dunfeln Mannfhaftsräume, 
Ein Marker, fálant und jung, 
Derlaft fein Bett im Sprung. 


Sei dünner Unfchlittkerze 

Da fáyreibt er: ,Ziebftes Gerze, 
Bald batailliren wir. 

Ad), ruhte id) bey Dir!” 

Und fDonnefnofpen fpriefien, 
Aus feinem Riele fließen 
Gefühle, wunderzart, 

Mit Gattentroft gepaart. 


fiunmebro femmt das Siegel, 

Da reift wer barſch am Riegel: 
„Sum Benker, brennt bier Licht? 
Kennt den Befehl Er nicht?” 
Streng währt ein hagrer Schatten 
Empor an Zeltbahnlatten, 

Ein Windfpiel fpringt vorauf. 

Da fdnellt der Hauptmann auf. 


Und ohne erft zu grüßen, 
Wirft er fid) ibm zu Süßen: 
„Sire! Jd) fand feine Rub, 
Mein Herz trieb mid) dazu.” 
Der König lieft: „Indeffen 
Er hat etwas vergeffen 

Jn Jbro Ziebesbrief." 

Der Sünder feufate tief. 


„Seht €ud) und fihreibt: Jd) werde 
Schon bald in Fühler Erde 
Austuben mid). Sey Gott, 

Jd) wandre zum Schafott. 

Punkt! Ordre brav pariren 
Geziemt zuerft Offizieren. 

Jh opfre Ihn der Pflidt.” 


tind alfo es gefhicht. 


| [ mezcal | | summer | | eme | | ae | | Cee | | eec | | as (Gene || gees | | mea | | emm | | ms | {ese | | escht 


| mg | ng gg Umgang | mn | mu mt — — e || | msn (eng ung | m | m cs et | | pmi 





Oor zwei Fahren ward er uns ent: 
tilen. Mitten in den Frühltürmen 
diefer Umſturzzeit. Tiefer als viele 
MC andere hat er darunter gelitten, 
77 denn er war ein jehr deutjcher 
Dann. Deutjch- Böhme von Geburt, deutjcher 
Reichshauptitädter durd Wahl. Wenig über 
Zwanzig alt, war er im Beginn der 
neunziger Jahre nad) Berlin gefommen und 
blieb dort, zwei Wiener Jabre (1903—04) 
«Cie Ma bis zu jeinem Tode, ber ibn 
mit achtundvierzig Jahren dahinraffte. Bu- 
legt bewohnte er, glüdlichiter Familienvater, 
ein herrliches Bartenanwejen in Zehlendorf 
bei Berlin. Start, blübenb, wetterfeft jab 
er aus und war bod, von jugendlichen Ent: 
behrungen ber, bereits frühzeitig gezeichnet. 
Er hüftelte manchmal, verlor aud hier und da 
Blut und mußte wochenlang das Bett hüten. 
Die Ärzte wollten ihn nad) dem Süden |djit: 
fen, rieten zu jahrelanger Arbeitsenthaltung. 
Er Bee: dazu den Kopf, lahte ſpöttiſch 
in jetnen breiten roten Bart hinein, ver: 
mochte von der Arbeit fih nicht loszureißen. 
Raum bier und da jpannte er mal ein paar 
turze Wochen aus. Er bodte wie Achill: 
Sch ein kurzes Leben jtarfen und ruhm— 
vollen Schaffens, als ein langes faules Gieh: 
tum unter ängſtlichem Sichſchonen. Sd) glaube, 
er wußte um feinen frühen Tod, Wenn er 
auch ftets jid) fo ftellte, 
als jet er bie Sorglofig: 
teit jelbjt. 

So hinterließ er ein 
reiches, ein erjtaunlich 
reiches Werf. Als im 
Mat vorigen Jabres, 
durch opfervollen Eifer 
der Witwe ermöglicht, in 
den ehemaligen Atelier: 
räumen des Riinjtlers 
fowie im anjtoßenden 
Bartengelände eine Ge: 
famt - Ausjtelung — ber 
Werte veranitaltet wer: 
den fonnte, gingen wir 
alle, die wir den Meijter 
dod gut zu fennen glaub: 
ten, voll Staunen umber. 
Kurz vorher war, bei 
Cajjirer, eine Nachlaß— 
Ausjtellung von Lehm: 
brud, dem gleichfalls 
vorzeitig Abgerufenen, 
gezeigt worden. Sie hatte 
a eitig tiefen Ginbrud 
gemadjt — aber um wie- 
piel mehr hatte Megner 
aufzuweilen! Wäre die 
Welt nicht blind und 
von modijden Borein- 

enommenbeiten be: 
errjdt, damals hätte Y 








Attſtudie > 


als allgemeines Urteil es fid) durchjegen mii: 
jen, bob an univerjal gerichteter, dennod) eins 
heitlich geichlojlener Schöpferfraft fein zwei: 
ter Ddeutjcher Bildhauer Ddiejer Generation 
mit Mebner fic) melen fann. Nicht bie 
großen Monumente allein, nad) denen er all: 
gu einjeitig — — worden iſt, ganz 
eſonders auch die faſt unüberſehbare (ée 
Heiner und Heinfter Arbeiten — rajde Noti— 
en einer unermüdlich plaftijd-formenden 
Bgantafie — Daneben bie imponterenben Grups 
pen intuitiv erfaßter, meijterhaft geftalteter 
Menſchenköpfe und Mienjchenleiber, nicht ait: 
lebt bie aus ber Verborgenheit ber Dlappen 
bervorgejtiegenen Zeichnungen — jamtlid 
ganz plajtijd) dE — ſchütteten vor uns 
einen follen Reichtum aus, daß uns beinah 
ſchwindelte. Wir blidten in ein Leben, Delen 
einziger Inhalt Arbeit gewejen war. Der 
Knabe hatte in der Heimat in Cteinmef: 
werfitätten (don als Ernábrer einer vater: 
los gewordenen Familie) begonnen; der 
Süngling hatte in der Berliner Porzellan: 
manufaltur an einem für diefe jchwere Hand 
faum geeigneten Material fih rajtlos weiter: 
ebildet; und der Mann hatte, jnem an der 
Wiener Runjtgewerbejchule als Lehrer, dann 
als bildbauerijter Mitjchöpferr an den 
Werfen der großen Berliner Baumeifter 
Bruno Schmig und Ostar Kaufmann eine 
weitgreifende Tätigkeit 
entwidelt, bie Durch 
viele private Aufträge 
unb eigene Verſuche nod) 
SE wurde. Signa: 
turgebend war bier: 
bei zweierlei: ei dis 
die ſtreng-handwerkliche 
Ausbildung, die Diener 
in alle technilchen Ge: 
heimnijje und Gepflogen: 
heiten feines Fades aufs 
jolidefte und tntim[te ein: 
geweibt hatte; und ferner 
die ftete Berührung mit 
Urdhitetten, Die einem 
innerjten eg N und 
Bedürfnis jeiner Natur 
entgegenfam und feiner 
tiefiten Auffaſſung von 
Wejen und Funktion der 
plaftijden Runft frudt: 
Ge li ent|prad). 
an nennt Adolf 
Hildebrand als dens 
jenigen, der als eriter, 
im Begenjaß zu ber male: 
rild): exzedierenden Ba: 
rodfunft eines Reinhold 
Begas und ele 
die prinzipielle er: 
fnüpftheit gwijden pla: 
ftijcher und architefto- 











414 [P3539 :,::3 35] Dr. Franz Gervaes 


— Oe des e Obne Zweifel, alles dies 
— ORI e A fes würde zu unjerem Künftler nicht fo vers. 

2c AS VE au nebmlid) gejprochen haben, wenn es nicht 

als innerjte Sehnjucht bereits in ihm ge: 
\hlummert und geflungen hätte. Gs wäre 
ibm gegenüber gerade |o ftumm geblieben, 
wie es ganzen Generationen von Riinftlern 
gegenüber vorher ftumm geblieben war. Dod 
hier war. endlich einer, ber diefe Cpradje 
verftand, nicht als bohrender Gelehrter ober ` 
nadempfindender Aſthet, |onbern als f 
as us Künftler, der mit den Snftinften 
innenfreudig aufgriff, was andere fid) auf 

Umwegen ergrübelten. Mebners tiefwurzeln- 
der Überzeugung nad) war in der Kunft. der 
Ägypter eine retnere, urjprünglichere, monus 
mentalere Plaftit erreicht worden, als fie ` 


jpäter in ber Haffiihen Kunft ber P mo: 





trog aller finnliden Verführung unb menſch⸗ 
lichen Durhwärmung, erjtanben war. 









Lj 
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Reliefs am Weinhaus Rheingold, Berlin E 


nijdjer Runft wiederum erfannt und in feinen 
Schöpfungen eigenftart durchgeführt Hat. 
Kein Zweifel, daß biejer Ruhm unjerem 
fürglid) heimgegangenen Altmeijter gebührt. 
Aber Megner gebührt der andere, auf Diejem 
Wege vollbewußt weiterge/dritten zu fein und 
die Verbindung der beiden Künjte noch enger 
gezogen zu haben. —— wurzelt mit 
ſeinen künſtleriſchen Anſchauungen überzeu— 
gungsvoll im klaſſiſchen Altertum. Metzners 
Wurzeln ſenken fic) nod tiefer in ben Zeiten: 
ſchoß zurüd, bis zu den Tempeljchöpfungen der 
alten —— und Inder. Hier fand er 
die Erfuͤllung ſeiner innerſten Sehnſucht 
leichſam vorgebildet, fand in grandioſer 
Wucht und Klarheit bereits erfüllt und aus— 
geſprochen, was ihm den eigenen Schaffens- 
drang bewegte. Es war nicht bloß das 
völlig organische, wie nad) bem Gejeß uns 
— Notwendigkeit erfolgte Zujams 
menwadjen der beiden Riinfte, was ihn hier 
überrajchte, ihr machtvolles Aufeinanderges 
ftimmtjein und gegenjeitiges Sichſtützen und | 
Ergänzen — es war nicht minder, was feine 
eigen|te &unjt, bie Blaftit angeht, der große | 
monumentale Zug, der fie bejeelte, das Aus: | 
löſchen alles Nebenjächlichen, das unerjchüts | 
terlich-bejtimmte, babet. ganz aus der Sprade — 
des Materials herausentwidelte Hervortreten 









EEN 





Zeilbild eines Reliefs: Einfamteit a 


EECH Franz Viegner 


vielem Punkt [deb er fid) von Hildebrand, 
gleich wie beide von Rodin dadurch geſchie— 
den waren, daß fie bas Bildwerf [treng ins 
Arditettonijeye einordneten und aud) bie 
holdejten Reize einer mehr malerijd) empfuns 
denen Oberflächenbehandlung verſchmähten. 
Sedenfalls, fein Weg war Megner far und un: 
¿weideutig 
porge|d)rie: 
ben. ons 
der Zaudern 
und Bangen 
bat er thn 
beichritten 
und ijt ibn, 
mit ftets fid) 
[teigernber 
ſchöpferi— 
ſcher Beharr⸗ 
lichkeit bis 
ans Ende ge⸗ 


P 
ſtik erwächſt 
aus Der en: 
gen Verbin: 
dung mit ber 
Architektur 
ein eigenes 
Leben. Aus 
[deinbarer 
Unterord: 





Bildnisbüjte 
des Generaldirettors 3. 
er: 


nung 
ſchließt fih ihr os Musdrudstraft. Je 
gewaltiger das Bauwert ijt, defto eher tann 
es bean|prudjen, daß der im Gefamtrhythmus 
mitwirfende Plaftiter en einordne. Dem 
Grundgefüge erhöhende Afzente zu leben und 
ben Gejamtausdrud 
an den enticheidenden 
Stellen burd) Verleben: 
digung ber Schmuck—⸗ 
teile zu fteigern, ift 
feine Aufgabe. So ge: 
ſchah es, in grandioje= 
ftem Maßſtabe, etwa 
an dem einen ganzen 
Hügel bebedenben 
Tempelfonglomerat 
von Boro Budur auf 
Alt-Java. Die Schöp: 
fung bes Bildhauers 
ift Dier im wejentlichen 
Funktion ber Arditet: 
tur. Troßdem ijt fie 
auch in fih felber groß: 
artig und ausdruds: 
vol. Ob etwas hn- 
liches Meßner bei Hers 
itellung des plaftilchen 
Schmudes für bas Böl- 
terichlachtdentmal bei 
Leipzig vorgejchwebt 
hat? Schwer zu ent: 
jcheiden, um fo mebr,als 


es äußerjt zweifelhaft 





[242«2424242«4232«242«42«2«33] 415 





Relief mit bem Bildnis ber Mutter bes Künftlers 


ericheint, ob der Künftler jene Denfmáler in- 
bilder Tempelfunft überhaupt gefannt Dat. 
Dak aber bie ftiliftiiche Lójung bei ibm auf 
verwandte Ergebniffe hindrängte, jedenfalls 
aus gleiden Sunftermágungen bervorge: 
gangen ift, dürfte taum zurüdzuweijen les 

Jn Megner ſelbſt jchlummerte jedenfalls 
ein Architett. Es gibt Entwürfe von Grab: 
denfmalern und ähnlichen Monumenten von 
ibm, bie rein ardjteftonijdjer Natur find 
und, wieetwa im Zujammenwirfen mit Baum- 
gruppen, ein erhebliches Gefühl für den Yu: 





Entwurf für ein Grabmal 


416 FESSS£Secccccca Dr. Franz Servaes: see) 


Ka (A é 


E 


A p», — mg 





Dentmalsentwurf für gefallene Helden 





| 


fammenflang baulicher Gedanfen mit der anderjpreizen eine breitere Standbafis her= 


Naturumgebung verraten. Wie hier fowobl beiführen. 
Maffengruppierung ins 
rope gerichtet find und 
Wn A aa 


Umrißlinten als au 
Ungebrodene und 


voritehen, jo Jucht 
aud) der Bildhauer, 
woer mitfremden Ar: 
djiteften zujammen: 
arbeitet, bas Grok- 
zügige und Sarmo: 
nijche, gelegentlich bis 
zur Grenze einer vol: 
ligen, ja betonten Un: 
terordnung unter den 
Rhythmus des Gan: 
zen. Oft erjcheinen 
plaitiicheBewegungs: 
motive, die an jtd) 
etwas Gezwungenes, 
fibertriebenes, ja Un: 
natürliches haben 
würden, eben baburd) 
erklärt, Daß an jener 
Stelle dieje Art von 
Linienfiibrung aus 
ardjiteftoni|d) - orna: 
mentalen Gründen 
erforderlich war, 
Dann werden etwa 
Kopf, Hals und 
Jtaden von einer ftraf: 
fen SHorizontallinie 
begrenzt, während 
die Bewegung Des 
Leibes in eine ſcharfe 
Diagonale hinein: 
wächſt und bie unteren 
Gliedmagen durch 
ſchroffes Ausein⸗ 





Entwurf für ein Wiener Leſſingdenkmal 


Man täte dem Bildhauer un— 
recht, wollte man ein Relief dieſer Art, wie 
man [ie etwa am Berliner „Rheingold“-Bau 
als Frontſchmuck verwendet findet, vom Baus 


gedanken ——— 
rein für ſich als Kunſt— 
wert beurteilen. Trotz⸗ 
dem iſt die hiermit 
durchgemachte Schule 
pe Den Bildhauer 
egner ebenjo frucht= 
bringend geworden, 
wie dies für ben mo: 
dernen Dialer ein zeit: 
weiliger Durchgang 
burd) den Kubismus 
¿gu werden vermag. 
Endziele werden hier 
mit gewiß nicht er: 
reicht, aber eine vere 
ia e Klar: 
eit über Möglich: 
teiten Des Ausdrudes 
und des rhythmijden 
— 

geſchaffen. Je weniger 
man geneigt ſein 
wird, derartige Ar— 
beiten Metzners rein 
künſtleriſch zu über— 
ſchätzen, um ſo be— 
reitwilliger wird man 
fie entwicklungsge— 
ſchichtlich bewerten. 
Der Bildhauer lernte, 
in großen und ener— 
giſchenLinienzügen zu 
denten und zu fompo= 
nieren, dies jteigerte 


Fees EES Franz Mehner  BS2233333333339 417 


jein Gefühl für bas Rhythmiſche überhaupt 
und befähigte ihn fo zum Wnordnen ins 
Große, aud) wo fein von außen gegebener 
. architeftonijcher Zwang ihn dazu anbielt. 
Sedenfalls fpúrt man den Vorteil jener 
Arbeitsweije deutlich bet Betrachtung Mes: 
nerjder Denkmäler. Dieje gehen jtets von 
einem architeftonijchen Rerngedanfen aus 
und verlieren jid) darum niemals ins Klein- 
liche, Ob wie beim Kaiſer Jojeph» Dentmal in 
Teplig ein ganzer 
breitgezogener,von 
Treppen und Re: 
liefblöden durch— 
brochener Terraj: 
jenaufbau zu be: 
wältigen war oder 
ob es fid), wie in 
den meijten Fallen, 
um die organijche 
Verbindung Der 
Stand- oder Gih- 
Hour mit einem 
mehr oder weniger 
bod) gegliederten 
oder breitausla= 
denden Godel hans 
delte, jtets wurde 
das ganze Dent: 
mal burd) Metzner 
von vornherein als 
Einheit erfaßt und 
dementiprechend 
von der unterjten 
Bodenflieje bis zur 
äußerjten Scheitel: 
höhe in [trengen 
Rhythmen Tom po: 
niert. Sein Bruns 
nenentwurf für 
Reichenberg, fein 
Stelahamer- Sent: 
mal in Linz, jein 
irgendwo tn Prog 
verborgen gehal- 
tener Ylibelungen- 
brunnen, ganz be: 
jonders aber fein 
für Wien beftimm: 
tes Lejjing = Dent: 
mal geben Broben 
für diefe Art bes 
architektonijchen 
Aufbaus. Wie fih bie Gejamtjilhouette, 
in reizvoll gegenjäßlihem, pifant ab: 
wedjlungsvollem Lintenjpiel nad) oben zu 
immer mehr verjüngt, zeigt zumal der Wiener 
Leſſing, ber jo leicht und gragids und bennod) 
fo unentrinnbar feft und fider auf feinem 
Standort fteht, dak er im eigentlichiten Sinne 
vom Poftament in bie Höhe getragen zu 
fein jcheint. Wie auch bei einer Gibfigur 
der Bildhauer eine ähnliche Löſung herbei: 
tigen! vermochte, zeigt bas einmal für 


q 


eichenberg i. B. beftimmt gewejene Liebig: 
Denkmal. Schade genug, daß ungiinitige Beit, 
Politik, Lofal: und Zinanzverhältnijje die 





Entwurf zu einem Brunnen für Reidhenberg t. B. 


Aufítelung jo mandes Viegner: Denkmals 
verhindert oder bet aufgeftellten, wie in Tep- 
lig, nachträgliche feindjelige Störungen für 
jie herbeigeführt haben. Wud) das für Forit 
i. 2. bejtimmte Hindenburg-Denfmal, eine 
prachtvollscharafterijtiiche Schöpfung, wird 
wohl den veränderten Zeitumftänden zum 
Opfer fallen. 

So war aljo im wejentlichen Megner jein 
eigener 9(rdjiteft. Wenigjtens in bent Sinne, 


daß bei größeren Denfmalern der Gefamts 
aufbau durd) ihn beitimmt wurde und Der 
plaftiich=figürlihe Teil, einjchließlic) der 
Hauptfigur, bewußt im Nahmen einer nad) 
arditeftonijdhen Grundjágen entworfenen 
Kompoſition feine Stelle fand. Dod) es gibt 
Grenzen und Abjtufungen ber Anpaſſung. 
Night immer tann der Bildhauer bem Archi— 
tetten fid) einfach unterordnen. Je mehr feine 
Arbeit Kern und Gipfelpuntt eines Ganzen 
bildet, defto mehr hat er Wniprud) darauf, 
beberridjenb hervorzutreten. Darum ijt aud) 
bei Mehner auf die Figur deffen, dem das 
Dentmal gilt, ftets alles zugefpigt. Auf ihn 





418 PSSS] Dr. Franz Servaes: Franz Mebner Iesel 





Reiter nad Walhall. Im Ruppelfries der Krypta des Völkerſchlachtdenkmals zu Leipzig 


brauft der ganze Rhythmus zu, als den bes | ler der alten Ägypter, Auch an der Plajtif 


berridjenben Viittelpuntt, 


handwerflid) wurde 
auf jolche Figur Die 
äußerjte Sorgfalt ver: 
wandt. Raum je jchuf 
jie ber Rünitler, ohne 
vorher eine Aktfigur 
gemacht zu haben, in 
derer Broportion und 
Bewegungsmotiv fo- 
wie Das gejamte 
rhythmijde  Linien: 
jpiel genaneftens feft- 
legte. Zeitfojtüm und 
Borträtähnlichkeit 
wurden fpáter hinzu: 
gefügt. 
Hauptſache blieb 
ſtets bei Metzner, ſich 
durch keinerlei Detail 
verwirren oder be— 
irren zu laſſen. Alles 
mußte aus dem Gans 
zen  beraustlingen. 
Wenn irgendwo jo 
war er in der groß— 
zügigen rt feiner 
bildhauerijden Rom: 
polition, aus inner: 
Her Natur und fiber: 
zeugung heraus, cdi: 








Hindenburgbüfte. Nad dem Leben für das Hinden: 
burgdenfmal in Forſt i. L. modelliert 


Und aud) reins | afrilanijcher Negerjtämme wußte er Derlei 


Eigenjchaften zu 
ſchätzen, wenngleich er 
nicht wie andere, by: 
perexprejjionijtijde 
Bildhauer joweit 
ging, Deren grotesfe 
Srabenbajtigteit 
nadguabmen. Ihm 
tam es lediglich auf 
Bereinfahung der 
Sormgebung und be: 
wußte Betonung des 
plaitilchen Gedanfens 
an. Sein höchſtes und 
oberjtes Ziel war ftets 
und überall: „Reine 
Plaſtik.“ Für deren 
Anforderungen hatte 
er ein untrügliches 
Gefühl. Und aud die- 
jes wuds ibm, im 
Grunde, aus ardi- 
tettonijdjem Empfin- 
den. Es jchärfte feine 
Sinne für Reinheit 
per Berhältnijje, für 
Rhythmik im Auf: 
bau. Am nádjiten 
itebt ibm  bierdurd) 
unter den modernen 


— 





Schickſalswächter in der Krypta des Völkerſchlachtdenkmals zu Leipzig 


490 BSSS=S=SSccscco= Dr. Franz 


Po ee 





E 


Hauptfigur vom Nibelungenbrunnen: Marlgraf 
Rüdiger 


Bildhauern der Franzoje Maillol. Nur dak 


Viegners Formenſprache ebenjounverfennbar ' 


germanijd) wie die Des anderen romanijd) 
und gallijd) ijt. Zweifellos wirft Metzner 
jtrenger und berber als Maillol. Ich möchte 
jagen: er ijt minder erotijd) und barum ge: 
wif aud) minder bejchwingt. Lapidarer ift 
er, unfomplizierter, majjiver und Direfter, 
Aber wenn auch aus verjchiedenen SE 
hervorbuiibend, jo find fie Dod) Brüder. Gie 
eben benjelben Weg. Blicfen zum gleichen 
iel. Wie Maillol zu Rodin, jo Debt Meg: 
ner zu Klinger. Nejpeftvoll, aber mit dem 
Bewußtjein bes liberwinders. Womit bloß 
das evolutionijtijhe Werhältnis, nicht eine 
abfolute Wertichägung ausgedrückt fein fol. 
Mande finden Mekners breite Behand: 
lung der Flächen zu jummarijd, zu un: 
differenziert. Cie vermiljen Intimitát, Zärt— 
lichkeit, €ieblid)feit, Es ijt wahr, Metzner 
ilt in hohem Grade männlich, ijt vielleicht 
Der männlichjte unter allen moderenen Plafti- 
fern. Rojendes Detail zu geben, war ihm nie 
ein Bedürfnis. Jedenfalls: es wegzulajjen 





erſprießlich erjcheint. 


Servaes: III IE I ZZ A Ze I I Ze I 


foftete ihn feine fiberwindung. Er „baute“ 
jeine Bildfiguren. Und was nidjt zum Bau 

ehörte, — ihn nicht. Charakteriſtiſch 
i in der Hinſicht feine Kojtümbehandlung. 

ie bejchränft jid) auf wenige Andeutungen. 
Macht weder Nähte noch Knöpfe. Nimmt 
auch gerade foviel von ¿falten mit, als dem 
Künftler i bie Rontrajtwirfung innerhalb 
jeiner großen rhythmilchen Linienverbáltnijje 
Die Hojenfalten beim 
Stelzhamer, die Weltenfalten beim Kaifer 
Jofeph oder beim Lejfing hat er in biejem 
Sinne verwendet, gleichjam mit Keilichrift- 
zigen. Sehr geldjidt fpielt er beim Leffing 





Die Hauptfigur bes Stelghamerdentmals in 
Ming a. b. D. 











PFSSSSSSSSSSSSTLTA Franz Mebner 421 


— AER E — Pathetik, rein bird) bie Ausdruds: 

: pn ue YES fübigfeit ber Linien an. Go bier 
durch bie faft unmerflide Neigung 
des Hauptes, in dem eine jtumme 
Refignation liegt. Das ijt für Mep- 
ner jehr charakterijtijch. 

Scheinbar ftebt bei ihm das Gee: 
Dide an zweiter Stelle. In ber Tat 
fann er gelegentfid), zumal in 
Sugendwerfen, des Seeliſchen [ait 
entraten. Das Körperlich: Ronjtrut: 
tive, bas Nhythmilch- Bewegte ber 
Erjcheinung vermodten ihn jo [tart 
hinzunehmen, daß er falt ganz darin 
aufging. Sn der Hinficht ijt von 
Spätwerfen fein wundervoller Mar: 
mor eines männlichen Torjos, mit 
dem weichen fontrajtierenden Spiel 
ber Miusktelfchwellungen unter Der 
Haut, eine Gipfelleijtung. An fih 
genügt es ja aud) völlig, wenn ein 
Stück Plaftit in diejer Meije aufs 
“=| volltommenfte  burdgearbeitet ift. 
| Man fühlt dann gleidhjam mit den 
-| Fingerjpigen das eingefangene ins 
nere Leben, gleitet wie mit tajtenden 
"a Cterbenber Krieger Augen entzücdt über bas Oberflächen: 

y ipiel der bewegten Körperjormen 
dann ferner den offenen Rodjaum dazu aus, | dahin. Aber felbftredend würde uns 
um die fid) verjüngende Vertital: 
richtung des Ganzen unauffällig, 
aber einbringlid) zu betonen. 
Umgekehrt werden bet ber Rieſen— 
figur bes „Leidtragenden“ Die 
wenigen Querfalten bes eng» 
gezogenen Gewandes dazu be: 
nugt, um der fompojitionellen 
Höhentendenz des Ganzen ein 
gemijjes Gegengewicht beigu- 
fügen und hierdurch ben Ein: 
Hang in der vorniibergebeugten 
Haltung der Figur in langjamen 
fibergängen herbeizuführen. In 
anderen Fällen verzichtet Meg- 
ner auf Faltengebung fajt ganz, 
wodurd eine Figur wie Die 
„Werdende Mutter“ in ihrem 
unteren Teil beinahe etwas 
Säulenartiges befommt. ber 
gerade dieje jehr bewufte Ein: 
tönigfeit ijt von ergreifender 
Mirtung. Eine einzige breite 
Ginjenfung des Hängegewandes 
bringt bie Körperveränderung 
der Schwangeren zum Ausdrud 
— ein Motiv, bas durch Die 
Duerlage des rubenden Unter- 
armes noch aufs wirjamite ver: 
ſtärkt wird. Die Sparjamteit 
der Formgebung ijt hier äußerjt 
eindrudsvoll und ein Zeichen 
hoher künftlerijcher Meifterjchaft. 











A 

Die gleiche Figur möge uns 
zeigen, wie Wiener das Gee 
[iie behandelt. Er bringt es 
nur ganz bejcheiden und ohne e Erbe 





499 Dr. Franz Servaes: B33333332322232224 
Ue ID E PAINE A — TT PME Menjhen ein 
únftler, der hierbei prin: 

zipiell jtehen geblieben 
wäre, fein volles Geniige 
tun. Wir würden jozu: 
jagen bie Myjtit bei ihm 
vermijjen.  llnjer Aller: 
innerjtes fónnte er nicht 
bewegen. 

Nein, wir wollen aud) 
beim Blajtifer, mag er 
aud) eher als andere 
Künftler im Körperlichen 
jozujagen ausruhen dür- 
fen, Der feelijbhen Rei: 
jungen feineswegs ent: 
ehren. Wud) bei ihm 
wollen wir etwas vom 
innerften Menjchen jpüren, 
der dabinterfteht. Etwas 
von dem, das wir Geele 
nennen. Meßner ijt in 
diejem Punkte im ganzen 
Iden und jpröde. Ge 
heit und 3artbeit Des 
Gefiibles hielten thn, den 
mandynalbart jcheinenden, 
davon ab, von jeinem 
Inneren viel zu verraten. 
galt unwilltürlich ſchließt 
das Geelijde (id) bei ibm 
zu unb jebr Iangjam und 
audernd nur jdjieBt es 
a bei ibm auf. Fait 
widerjtrebend und unbe: 
wußt. Und dann ijt es 
ein Ton tiefer bebender 
\chmerzlicherTrauer, gleich: 
jam das Ahnen eines Ber: 
—— — ſei es eines 
rühen Sterbens oder eines 
Zuſammenbruches idealer 
und vaterländiſcher Be— 
ziehungen, was auf uns 
zuzuſtreben ſcheint. Ganz 
deutlich iſt es niemals. 
Mehr ein Stammeln, ein 
wehes Sichlosreißen. Oder 
auch vielleicht ein dump: 
|. fes Dämmern, ein trauern: 





s 












des Briten. Schweift man 

über die Reihe Metzner— 

Iher figuraferGrfinbungen, 

jo find es Stimmungen 

Diejer Art, die uns am 

häufigſten begegnen. Wohl 

niemals die einer ausgela): 

jenen und losgebundenen 

| ` | — ée üdten 
und rückhaltloſen Hinaus: 

| * Mas ,  jaudjens. Gelbft diez 
5» jenigen Megnerfden Fi- 

ke i, | guren, Die den jtürmijchiten 


E 





H 
| 


Bewegungsrhythmus zei: 
— a eii ........ ............:..0ses Meet gen, flinf bewegte Tänze: 


Siegfried : rinnen, Plafondreliefs in 
AAA A EEI SEPE PE PA TA e.s... einem Breslauer Privat- 





ee El Franz Megner Issel 423 


hauje, atmen nicht eigent: 
lid) den Geijt ladender 
Freude. Es ijf mehr ein 
jtummes orgtajtijdes Ra: 
jen, das fie erfüllt, ein 
dunkles Hingegebenjein an 
heiligen, [te durchſchütteln— 
den Raujch. Je tiefer und 
iduerer Hingegen die 
Trauer, dejto echter alat: 
ben wir bie eigenfte Stim= 
mung des Rünjtlers nad): 
fühlend zu erfennen. Go 
wirft es denn wahrlich 
nicht als Zufall, daß jein 
lebtes Wert, entitanden 
unter dem (inbrud ber 
deutjchen Niederlage, einen 
vollen 3ujammenbrud) dar: 
Hellt. Ein Jahr lang hatte 
er vorher mit bojfender 
— an der bewegten 
ktfigur eines Siegers 
(auch „Siegfried“ genannt) 
gearbeitet; einer Figur, in 
der er mit eigentümlicher 
neuer Wendung gewiſſen 
reifſten Schöpfungen der 
italieniſchen Hochrenaiſ— 
ſance, beſonders Benvenuto 
Cellinis, zu huldigen ſchien. 
Sehr ernſt, ein ſchlanker, 
biegſamer Schickſalsträger, 
war dieſe Figur. Aber 
anz in zuſammenge— 
roben, völlig vom Schick— 
jal überwältigt, ſchran— 
kenlos durchwühlendem 
Schmerze hingegeben iſt 
die kleine, zuſammenge— 
kauerte Geſtalt, die Metz— 
ners künſtleriſches Schluß— 
wort iſt. Rein äußerlich 
nimmt der Künſtler hier 
ein Motiv wieder auf, das 
er vorher öfters, zum Teil 
in koloſſalem Maßſtabe 
behandelt hat, bald als 
„Erde“, bald als „Weib“ 
oder ſonſtwie: den zu 
einem geſchloſſenen Haufen 
geballten und in ſich ge— 
krümmten menſchlichen 
Leib, als Ausdruck höchſter 
plaſtiſcher Geſchloſſenheit. 
Aber jetzt iſt es plößlich 
aufs Dette durchſeelt, ijt 
ganz von Empfindung 
dDurchzudt, und das berührt 
um fo tiefer, als auch bier 
jener ftarte athletijche Kör- 
per wiedergegeben tjt, den 
Mebner jo liebte: hilflos 
zulammengebrochen, was 
vorher fraftvolle und un: 
beug ame Gejundheit war. 

Gejund wollte er fein. In 





Tänzerin c -2 


424 Tesosscctcctl Dr. Franz Servaes: Franz Megner äs 


unferer franfen Zeit war er geradezu ein 
Anbeter ber Bejundheit. Wie auch der Kraft, 
ber Geldloffenheit und ber inneren jchweig: 
famen Gtárte, Bieles davon bejaß erfelbit. Nur 
leider bie Gejundheit nicht, fo febr er fie aud) 
äußerlich vorzutäujchen vermodte. Wohl 
bie Gejundheit der Seele und der Befinnung. 
Und erft recht die der Sdhaffensfrajt. Aber 
nicht bie bes Leibes. Dod) was galt ihm 
der eigene Leib? Go febr er in feiner Runft 
den Leib liebte, Juchte und verherrlichte, ben 
eigenen bielt er nur wert, geopfert zu wer: 
den. Wufgugehen, zu verbrennen in unjag- 
liher Arbeit. In einer Anjpannung aller 
Kräfte zur Erreichung immer höherer Boll: 
tommenbeit, zur Deroilden Konzentration 
legter Ausdrucdsmöglichkeit. Darum war er 
aud) ein ganz außerordentlicher Porträtift. 
Freilich fajt ausschließlich Durch gereifter mánn: 
liher Perjönlih teiten. Die etwa zwei Dugend 
Biiften, die von ibm ftammen, zeigen ihn 
in ftetem tiinftlerijben Fortichreiten.‘ Und 
ftets war es der Ausdrud tiefen, oft brüten: 
den Ernftes, der ihn feffelte, der ihn bez 
herrſchte. Er war das, was feinem eigenen 





Franz Metner 


A AR A EL Aufnahme von Ranft 
| S 
— E | Inneren entiprad. 
— | 
P: 


— RE E 
er Danad trad): 
tete, den Köpfen, 
die er modellierte, 
ës Bedeutung. 
ormal und fee: 
Did rafite er bas 
Innerſte zuſam— 
men. Eine wunder: 
volle Gangheit ent: 
ftand, in jedem 
einzelnen gall. 
Denn ganz war 
er jelber, fern 
aller Halbheit, 
ein prachtvoller 
Menſch, ein in die 
esch ragender 
túnjtler: ein ſchöp⸗ 
ferijd) Begnabdeter, 
Dellen Auge „ganz 
inwendig voller 
Sigur” war und 
Dellen Finger, 
wenn fie nur ein 
Slümpden Ton: 
zwilchen fid) be: 
famen, wie aus 
unbezwingbarem 
Drang und jeltjam 
infpiriert, unwill: 
fürlih zu fneten 
anfingen, um im: 
mer neue Formge— 
burten ſchöpferiſch 
- nus fic) heraus: 
e zuſtellen. 





D Bufammenbrud 








Neues bom Büchertiſch⸗ 


Bon Karl Ofrocfor 


Oceetteeecececececccecccecccceccececeeccececceccec cccccceces5333339333333339332323233332332393232(3333323333333233233223523322220 


Waldemar Bonfels: Eros unb bie Evangelien. Aus den Notizen eines Bagas 
bunden (Frankfurt a. M., Riitten € Loening) — Heinri Mann: Die Tote (Mün: 
den, O. ©. Recht) — Julius Berftl: Überall Molly und Liebe (Berlin, Wilhelm 
Borngráber) — Alfred Döblin: Der [Hwarze Vorhang (Berlin, S. Silder) — 
Wilhelm Geb. Schmerl: Rafpar Lederer ber Schulz (Münhen, C. H. Bed) — 
Rudolf Haas: Die wilden Boldjhweine (Leipzig, L. Staadmann) — Friedel 

Merzenich: Der fremde Vogel (Leipzig, Bibliographijdes Inftitut) 


{Uf | HHHH HHGH HVV 






=~, genau vor drei Jahren, im Juni 
KU 1918, ftellten wir Bier als eine der 

| beften Mk ert deutjcher Er: 
ählungstunft Waldemar Bon: 

els bin, ingwijden bat der Did): 
ter nichts getan, bel offnung zu ents 
täuſchen; er ift fid) und feiner freien, ftillen, 
tief indigen rt nicht nur treu geblieben, 
er hat fid aud) in ihr entwidelt. Nachdem 
er uns als Zwijchen]piel unb als ein Zeichen 
ungewöhnlicher Dicdterfraft feinen Don 
Juan gejdenft Hat, ein Epos in zwölf 
Gejángen, bas von einer tiefen Grundidee 
ausgeht unb, wenn aud) als Ganges nicht 
völlig gelungen, dod in einzelnen Teilen 
von hoher dichterijcher Schönheit blüht, legt 
er jebt einen zweiten Band jener Baga: 
bundennotizen: Eros und die Evan: 
elien vor. Aber wer Bier etwa luftige Land» 
fireitbevabesdener erwartet, ber wird eine 
arge Enttäufchung erleben. Man muß das 
Mort Bagabund [Hon etwa mit rubelofer 
Erdenfremdling überjeben, wenn man dem 
Sinn des Bonjelsihen Landftreichers nabes 
tommen will. Wie der Stromer überall fremd 
ift und bod) in ber Landitraße feine etgents 
liche Heimat fiebt, zu der ihn ein unertlár: 
liches Heimweh immer wieder hinaustreibt, 
fo por fid) aud) der Bonfelsiche Seelenfucher 
un eltwanderer als VE und bod) 
Debt er bie Erde als jeine ſchöne Heimat. 
Nur bie Herzensgewalt eines Dichters vers 
mag beides in ein einheitliches Verhältnis zu 
bringen, und diefe Herzensgewalt jpürt man 
beim Lejen faft out eder Seite. Eine jchwere, 
tiefe Natur, die lid) von allen Vorurteilen 
bes Surdjjd)nittsmen|djen befreit hat, ſucht 
bier nad). bem einen, was nottut, nad) ber 
ewigen Güte und Vernunft bes Meltwejens. 
Als a er einer Druderei frijtet 
ber Bagabund fürglid) fein Leben, als er 
eines Tages durch Zufall in eine — 
een gerät, wo er nun fein Wunder 
erlebt. Ein franfes, dem Tode geweibtes 
Mädchen, das allein mit ihrer Mutter wohnt, 
ift diejes Wunder. Cie liegt ruhig auf ihrem 
weißen Rranfenlager, von dem ad ihr blafjes 
Geſicht taum abhebt, aber er merft fogleich, 
daß es fein gewöhnliches Mejen ift, bas ben 
Ginbringling mit ihren großen, ruhigen 
on anblidt. Der Bagabund erklärt ihr: 
„Als ich dies Zimmer betrat unb Umſchau 
in ihm gehalten hatte, als id) Ihre Mutter 





VBelbagen A Rlafings Monatshefte. 35. Jahrg. 1920/1921. 2. Bd. 


und Cie gewahr geworden war, hatte id 
das quälende Schuldbewußtfein, in bas uns 
Mitleid zu ftiirzen — aber ſeit ich nun 
in der ruhigen Helligkeit Ihrer Augen ſtehe, 
bin ich nichts mehr ſchuldig, Ihre Augen 
machen das Herz frei.“ Das Mädchen richtet 
ſich auf, ſtützt ſich auf ihre Ellenbogen und 
ſieht ihn mit ſo groBem Erftaunen an, daß, 
er, wie vor fich felbft, erjdhridt. „So bunt dunun 
Dod) nen jagt das Mädchen [Hiibtern 
und langjam, aber mit großer Deutlichkeit 
und ganz blak geworden. Cie tann es nit 
fallen, daß fie, die völlig Vereinfamte, die 
an der Grenze des Lebens fteht, nun plöß- 
lid) nod) den einen Menſchen primer bat, 
zu bem man Du jagt. Vol ergreifender 

artheit und Tiefe ift nun das Werden und 

adjen ber Ceelenfreundfhaft zwilchen 
beiden. Wir werden in eine reinere, lichtere, 
höhere Welt verfebt, wie fie nur ein Dich: 
ter, vielleiht nur ein deutſcher Dichter er: 
tsäumen und erjdaffen fann. Und es find 
bod) nur bie armen vier Wände eines Heinen 
Raumes, in denen zwei Menjchen dieje Ge- 
meinjdaft fommt und fo jelbitverftändlich 
beranwädjlt, wie das Tageslicht anbricht, 
„von großer Herbheit und jo ernft, wie nur 
bie Jugend zu fein vermag“. 

Gleid) vollem Harfenton durdtlingt eine 
wunderbare Tiefe und Snnigfeit Diele Be: 
ſpräche gmiiden den beiden feltiamen Men- 
den. n alle erniten und hohen Fragen 
er Menjchheit rühren fie. Eines Tages 
fragt er pe was Liebe fei. „3ft fie ein Ele: 
ment, außerhalb unjerer, eine Kraft, die in 
uns eingieht, eine Gnade, ber wir teilbaftig 
werden? Wo ift ihr Urjprung, wo ihr Ende, 
wo ihr Ginn?” „Da bob Asja ihr Kinder: 
aupt aus dem weißen Riffenlager, neigte 
td zu mir und fah mid) an. Mir war, als 
edrobte ihr Auge mid) in einem unirdijchen 
Schein, id) erbebte und tauchte in ihren Blick, 
der far und ftill war. Ein unbefdreib- 
lides Lächeln voll jüßer Traurigkeit trug 
biele Stille zu mir. Da fühlte ich mein Her 
wie Feuer brennen, ſchwieg und wußte, dab 
id) nie mehr im Leben biefe Frage ftellen 
wiirde.” 

Go mödte man fortfahren, von dem 
Schönen mitzuteilen, bas in diefem Bud 
bejchlojfen liegt. Möchte ——— von der 
Seelengemeinſchaft, wie fie Asja meint, oder 
von ihrem Chriftus und ihrem Glauben, ben 
28 


496 ESSSSSSS3 Karl Streder: see 


fie felbft gefunden bat. Aufwiiblend und 
erjdjlitternd wie weniges, was Mtenjdenhand 
geſchrieben bat, ift a TOD ei 
Der diftatorijdhe Wunſch bes Durchſchnitts— 
lejers: am Leitfeil der Begebenheiten, der 
„Handlung“ geführt zu werden, ift d 
chlechterdings nicht zu erfüllen, denn es find 
o gut wie überhaupt feine äußeren Ge: 
Ke niffe, alles ift innerliches Erleben. Mehr. 
ion bietet der zweite Teil an fichtbaren 
Vorgängen. Der Held bejinnt fid) auf fein 
Bagabundentum, er wandert nordwärts und 
fommt ans Meer. Sehr jdjón ift bie nächt— 
lihe Ankunft an dem großen Waller und 
jein Eindrud auf den Wanderer gejchildert, 
wie überhaupt Bonjels’ Verhältnis zur Ta: 
tur zu den reizvolliten Zügen feiner Künſtler⸗ 
ihat gehört. Auf eine jener merkwürdigen 
Arten, bie meiftens feine *Befannt[djaften 
mit jungen Mädchen einleiten, lernt er bier 
eine junge Ariftofratin fennen, die bei einer 
alten — dE Tante wohnt. Das Vers 
hältnis mit diejer Raja ijt ebenjo eindeutig 
wie furz, aber meijterbaft ius unb bet 
m 


Schilderung der alten Tante ey jogar 
von echtem Humor durdwiirgt. Hier ftebt 
die bunte Welt ber Bergdnglidfeit jener 


Welt bes Unwandelbaren, bie bes Scheins 
unb Benujjes je der Liebe und des Geiftes 
peace. ie bei 33onjels, dem Baga: 
unden mit der adligen Geele, nicht anders 
zu erwarten, endet das Buch mit einem Auf: 
blid gu jener Welt ber toten Asja, deren 
Andenfen bas der Lebenden überdauert. 
Ein tiefes, feines Bud); nicht für jeder: 
mann, denn aud) bier iiberwiegt, wie [hon 
in jenem erften Band, die Betrachtung und 
der Gedanke; nur bejinnliche, ernfte Men- 
(den werden biejem ebenjo empfindjamen 
wie pbilofopbijben Landſtreicher folgen. 
Mitunter geht der Dichter hierin fogar einen 
Cd)ritt zu weit: nachdem er bas Wejentliche 
ihon gejagt bat, verweilt er nod) nabfinnend 
in der Reflexion, auch ift ein hohes Gelbft- 
bewußtjein bei ihm offenbar pay verwandt 
mit einer gewiſſen Gelbjtjudt, die jid) ans 
deren, geringeren Menjchen gegenüber nicht 
immer rüdjichtspoll hervortut, Aber was 
will bas jagen bei einem Dichter, ber feine 
dem Tode nahe Asja auf des Bagabunden 
Frage: was Auferftehung fet? fo antworten 
läßt: „Wie mag ein Menih fragen, was 
Auferitehung ift, deffen Seele nicht in der 
Schmerzensfinjternis ihres Grabes liegt? 
ragt derjenige, der niht gefallen ift, die 
orlibergehenden, wie er fid) erheben fónnte? 
Wer aber nur deshalb fragt, weil er fürch— 
tet, er möchte einmal fallen, der wird teine 
Antwort erhalten, denn er fragt aus Furcht, 
und Furcht ijt nicht in der Liebe. Aber die 
Liebe, bie in der Welt allein zu antworten 
—— kann nur der Liebe antworten. 
Sieh, das iſt der Irrtum der Jahrhunderte, 
in denen unſere Geſchlechter um Verger 
ringen, daß fte hoffen, die Liebe möchte der 
Lieblofiqtett Antwort geben. Nur wer aus 
der Wahrheit ijt, hört die Stimme der Wahr: 


heit, und wer aus ber Liebe ijt, Hört bie 
Stimme der Liebe...” 

Durch einen Zufall fommt mir nad) Bone 
jels’ Erzählung von der Welt der fterbenden 
unb toten Asja ein neues Jovellenbud von 
ua RS in die Hand: Die Tote. 

ie bedeutendfte und lángfte Erzählung 
darin, nad) der das Buch feinen Titel bat, 
behandelt gleichfalls bie ſeeliſche Einwir: 
fung einer joeben gejtorbenen Geliebten auf 
den zuriidgebliebenen Mann, Da bietet fid) 
Gelegenheit zu einem höchſt feffelnden Vers 
gleich zwiichen den beiden Didbtern. Ein 

enfblei lodt zur Tiefenmeffung. Tod und 
Liebe find zwei vortrefflide Prüffteine für 
Dichter, zumal wenn fie fic nahe berühren. 
$aBt uns feben: j^ ibn Mann jchildert 
einen offenbar in feinem Beruf febr (Gd, 
tigen und gejdeiten Gejchäftsmann namens 
Cromer, wie er aus ber Großſtadt nad) des 
Tages Arbeit in fein Landhaus am Gee 
urlidfehrt. Geine Geliebte, eine Shau: 
Eer ift, weil fie ihn betrogen bat, 
einige Tage vorher in den Tod gegangen, 
und in Gedanken an fie jd)reitet er Durch 
monberbellten Garten dem Haufe zu. Allers 
oe merfwiirdige Cindriide bejchäftigen 
eine Gebanfen, und [chließlih, als er im 
Bett liegt, erblidt er plöglich bie Tote, vom 
Mondlidt erhellt in der Tür. Es ijt, wie 
fih bald berausftellt, ihr lebensgroßes Bild, 
das fein Diener an der Tür befeitigt hat. 
Als er am andern Abend wieder nad) Haufe 
tommt, fpiirt er eine unerflärliche Unruhe. 
Und wirklich: bie Spulerfcheinungen häufen 
fih. Er findet ihre Briefe unb lieft darin 
von einem Jeltjamen Mann, der in ihr Leben 
getreten fet. Im felben Augenblid -ra]djelt 
der Brief in feiner Hand von einem Quft- 
zug, und er bemerkt einen Dtenjchen im Sim» 
mer, eben den, ber an jener Briefitelle bes 
ichrieben ift, ein höchſt wunderlides, |pinnen: 
artiges Männchen, bas dann erzählt, es habe 
bie Tote gefannt, und nad) und nad) aller: 
hand 9Bunberlidjes von ihr berichtet, wäh» 
rend aus dem Bild der Toten zwei leben: 
dige Augen auf Cromer herabjehen. Wie 
ein unbeimliches Gejpenft macht jid) dann 
das Männchen davon. Der Diener will 
nichts siegen haben, offenbar handelt er im 
Einveritándnis mit dem jjremben. Das 
Mertwiirdigfte aber ift: in ben pe od Tagen 
indet er immer feine 3ujábe in ihren Bries 
en von ihrer eigenen Hand, mitunter aud 
feine Bettel, Die Ddagwijdhengelegt gnb: 
Schließlich enthält einer der Briefe bte Auf: 
forderung, mit ihr zu fliehen: „nimm alles 
mit, was wir brauchen.“ Cromer verftebt. 
Er bleibt einige Tage in der Stadt und 
fehrt dann zurüd mit einem ganzen Patet 
von Wertpapieren. Er fegt jid vor bas 
Bild mit den lebendigen Augen und breitet 
die Papiere auf einem Tijd aus. Zuſtim— 
mend jchließen fih bie beiden Augen im 
Bilde für eine Weile, und Cromer geht in 
jein Zimmer, Wie er erwartet bat, fo ge: 
Ihieht’s. Bald hört er im Garten eilige 


m 





[:032323:203:23$3232320232323 Neues vom Büchertiſh BSSSSesessssssd 497 


Cdrite und darauf ein Auto davon: 
fahren. Auch fein Diener ift verjchwunden. 
Er unterjuht das Bild: die Mugen find aus: 
gejchnitten, Cromer legt fih ruhig [Mlafen 
— er bat Betrug mit Betrug vergolten, 
jene Papiere waren gefällt ... 

So Heinrid) Dann. Die Gejbibte ijt 
meijterhaft erzählt, fein Zuviel, fein Zuwenig, 
jede Spannung flug berechnet und das De- 
tail gejdjidt verteilt. Und dod: was ift 
bas Ganze? eine EE Dar: 
in liegt an Do fein Tadel. Nur daß Mann 
jede der vielen fo nabeliegenden Gelegen: 
heiten, die Spannungsreize der Erzählung 
durch tiefere Empfindungen und Gedanfen 
gu adeln, durch piychologijche und ethijde 

eweggründe höher zu riiden, hat vorüber: 

eben lafjen, ift ibm zum Vorwurf zu machen. 
Selnrid) Mann hat, im Gegenjak zu feinem 
Bruder Thomas, immer nur nad) bem Effekt 
gehalt, jofern er nicht andere als fünft- 
erilche 3wede verfolgte, er ift ein gejchickter 
Erzähler und Catirifer, aber im Grunde 
flah und talt. Von einem Bonjels trennt 
ibn eine Welt. 

DaB an guten Stoffen, bie nur einer ihrer 
en Behandlung hatren, We immer 
fein ange! tit, begeugt Julius Beritls 
Roman berall olly und Liebe, 
Der Name Molly verrät dem literatur: 
tundigen Lefer jhon den Inhalt: Gottfried 
Auguft Bürgers unfelige ‚Dreiedehe‘. Der 
Roman beginnt mit des Dichters Werbung um 
die Hand von Dorette bei threm Vater, dem 
Suftizamtmann Leonhart zu Nieded, und wir 
werden mit fedem epijchem Griff jogleich in 
medias res geführt, wenn der fnorrtge Alte 
den Werber anfährt: „Welche ift's, jagt Ihr? 
He, Shr Sadermenter ? Dorette, das braune 
Reh, Herr Poetafter 2” Freilich ijt es die 
Dorette, Denn bie andere, Buftchen, ijt ja 
erft fünfzehn Sabre alt. Überdies eilt es 
bet Dorette aus Gründen, von denen Der 
geftrenge Bater nichts weiß ... Und bod) 
wird Guftel, die Molly der Bürgerjchen 
— Ge das eigentliche Verhängnis 

e. Cs ift befannt, wie Bürger die 
hübſche Schwägerin bald feiner Frau vor: 
iebt, und wie fid), unter an der 
* duldenden Gattin, jenes unſelige Doppel: 
verhältnis entwickelt, in dem beide ihm 
Kinder gebären, aber Auguſte eigentlich die 
pe ijt, für bie Dorette öffentlich gilt. Be: 
annt auch ber erlójende Tod der armen 
Frau, die Heirat der beiden anderen, bis 
aud) Moly für immer von dem Geliebten 
unb von Der Welt jcheidet. Berftl bat fid) 
nicht verleiten laffen, einen lebensgejchicht- 
lihen Roman in der breitausladenden BoM- 
ftändigfeit, wie fie feit einigen Jahren Mode 
find, aus biejem Dichterleben zu jchöpfen. 
Die biograpbild)en Einzelheiten treten zurück, 
es fommt ihm darauf an, bas tragijde Vio: 
ment bes dreiedigen Berhältniljes und die 
ringende Perjinlidjfeit des Dichters [tart 
d unb das ijt ibm in der Haupt- 
ade gelungen. Die exprejjionijtilche Form, 


die übrigens bald eine Mode von geltern 
jein wird und die fid) für einen Roman im 
allgemeinen nicht eignet, weil feine Runjtart 
eines gewijjen epijden Fließens nicht ent: 
raten tann, ift bier ausnahmsweije nicht uns 
¿wedmábBig, weil bas Gange von Leidenidajt, 
von — Ld Begebenheiten und von 
der wilden Unraft eines ungebändigten 
Dichtergenies erfüllt wird. Go ift der Ro- 
man jpannend und mit ficherem Blid für 
dramatifche Wirkungen gejchrieben. Freilich 
A es ber Verfalfer nicht erreicht, bie menjch» 
ide und mulilche Fülle Bürgers ganz aus: 
zujchöpfen, eines Dichters, ber — entgegen 
verjdiedencn Literaturgejdidten und ent: 
gegen felbft dem ungerechten Urteil Schillers 
— banf feiner herrliden Urwüchligfeit und 
Naturtraft zu den erften gehört, [hon weil 
er das Meitteritiic aller deutjchen Balladen, 
‚Die Lenore‘, ſchaffen fonnte. Aber das 
war aud) wohl gar nicht die Abſicht Berftls. 
Ihn reigte die Aufgabe, das merkwürdige 
Siebesperbültnis — btejer EC aer rcs 
Riinftlerfeele zu durdleubten, und das ijt ibm 
nicht übel gelungen. Schließlich war das ja 
auch Bürgers Verhängnis, und darin wenig: 
tens muß man bem künſtleriſch anders ein: 
geftellten Schiller recht geben, daß die aj: 
fbetijden Unzulänglichkeiten Bürgers auf 
feine fittliden zurüdzuführen find, und daß 
Daher die Sicherheit, die thm im Leben nicht 
gegeben war, notwendig auch oftjeinen Runjt: 
werfen fehlt. — 

Arg enttäufcht wird man von dem , neuen” 
Roman Alfred Döblins. Diejer vielleicht 
begabtefte Erzähler im jungen Nachwuchs 
bietet unter bem Jeltfamen Titel Der 
ſchwarze wa? Roman von den 
Worten und Zufällen, ein bódbft ver: 
worrenes Wert, unreif, bid aufgetragen, auf: 
gepeitjcht, abftoBend und, was nicht an lester 
Stelle |teben folte: auf die Dauer lang: 
weilig. In einem „Vermerk“ lieft man zur 
Erklärung diejer Eindrüde, dak ber Roman, 
1902/3 gejchrieben, bisher feinen Verleger 
pejunsen bat. Das fteigert meine Ae A in 
allen Fällen hohe) Achtung vor den Ver: 
legern. Zwar ijt es nicht übel gejagt, wenn 
Döblin mit humoriftijdhem Swinfern befennt: 
„Durchſchnittlich e y ih, um ein Bud) 
Sates E vier Jahre, bas heißt vier 

abre Ringfampf mit ben Verlegern”, aber 
man möchte bod), auch um feinetwillen, wün— 
iden, daß diesmal der Verleger Sieger in 
dem Ringtampf geblieben wäre, denn den 
nad) feinem ‚Wallenjtein‘ [Hon gefejtigten 
literarijchen Ruf des Erzählers Döblin wird 
dies Frühwerk jd)merlid) erhöhen. Schrift— 
Heller follten von f[ugen Hundezüchtern ler: 
nen, daß man dem Ruf der Rajje jchadet, 
wenn man immer den ganzen Wurf auf: 
zieht, für einige verfümmerte Exemplare 
i's bejjer, man erjäuft [ie rechtzeitig, nod) 
bevor jie „Augen betommen”, Dies Miß— 
gewads hat nod) heute, in einem Alter von 
neunzebn Jahren, feine Augen, es tappt 
blindlings ohne Ziel und Zwed dahin und 


428 Karl Streder: Neues vom Biidertijh E2323333333 


purzelt über bie eigenen ſchwachen men 
Der Untertitel bat ganz redjt: ‚Won den 
Morten und Zufällen‘ — felbft der bei der 
Moderne |o verpönte bejtimmte Artikel ift 
bier am Plaß, denn niht nur aus Worten 
und Zufällen allgemein wird diejer Roman 
ebildet, fondern aus den Worten und Zus 
fen, die nur bei einem unreifen Kopf ent- 
diulbbar find. Das Buh berichtet in ab: 
gerijjener {Form (Spinner, Weber und Geiler 
vom Fad) halten bas Abgerijjene nicht ge: 
rade für ein Zeichen bejonderer Meijterjchaft) 
von den Nöten und Kämpfen, man fann 
aud) jagen Krämpfen eines Jünglings: fees 
lichen, geiltigen und vor allem gejchlecht: 
liden. Mit Haß und Liebe, oder, wie 
Strindberg es nennt, mit Liebeshaß verfolgt 
ihn, verfolgt er die ftolze Irene, die fühle 
Rothaarige, die ihn immer wieder anzieht, 
immer wieder abitößt, bis er fie endlich wie 
Ka erledigt: „Wie er fie umjchlang, hatten 
eine Zähne tief in den weißen Hals und 
die Kehle gejdlagen, das Geſicht in den 
Blutitrom gedrüdt, jchlürfte er an ihrem 
Halje, die mit leifem Reuben gegen feine 
Umflammerung anrang. Er jeufzte mit ge: 
preßten Kiefern und zitterte: wie warm, wic 
warm.” Sch denfe, dieje Probe genügt. 
Weshalb lápt ein Mann wie Döblin, ber 
weiß Gott ein Könner von Rang und Rei 

ift, ſolche [o id heute bruden 

Hält er es für traftgenialifd) Sch halte es 
nur für gejdjmadlos, denn dazu: einen fols 
den Vorgang fid) auszudenten, gehört nichts 
weiter als die plumpe Einbildungstraft 
eines Gabdiften. Und bas ift Döblin dod 
fidjerfid) niht. Obwohl Spuren feiner Be: 
gabung aud) in biejem Wert zu finden find 
— wir hätten bod), um jeinetwillen, gern 
darauf verzichtet. 

Nicht „gefragt“ an der literarifchen Börfe, 
wo bie Yusrufer fid) überjchreien und bie 
Bettermichelei ihre Geſchäfte maht, ift 
Wilhelm Geb. Gd merl. Und dod ge: 
hört er zu ben Epilern, bie noch wirklich 
„Geſchichten“ zu erzählen willen und die am 
Erzählen nod) Freude haben. Gein foeben 
erjhienener Roman Rajpar Lederer ber 
Schulz bezeugt bas aufs neue. Es bom: 
belt fid) um einen Juftizmoro Ende bes 
16. Ve melt bi Der neue Pfarrherr von 
Gollhojen will die protejtantijche Lehre, die 
[don denter Anhänger im Dorf hat, mit 
aller Strenge Durchführen und die goldenen 
unb filbernen Gefäße, den Kirchenjchaß ber 
Gemeinde, verfaufen. Der Schulz Rajpar 
Lederer, dem diejer Verkauf übertragen wird, 
zögert damit, weil er feine Bauern fennt 
und weiß, daß es böjes Blut geben wird, 
denn viele find nod) fatholijdh, und zu bem 
Shag haben ihre MWoreltern beigetragen. 
Da wird das Kirchengut bem Schulzen, der 
es in Berwabr bat, von einem ihm feind: 
lihen Bauern geftohlen, und verjchiedene 






Umftände laffen den Schulzen jelber als vers 
büdjtig erjcheinen, den Shak unterjchlagen 
und au (Gelb gemadt au haben. Wie er 
nun trog feiner Unjchuld, nachdem er auf 
der Folter ein falſches Geſtändnis abgelegt, 
hingerichtet wird, wie bie Gegenjeite trium: 

Hiert, aber entlarvt wird und der Anftifter 
jenes Diebjtahls jdjlteBlid) fein erbärmliches 
Ende — das wird mit vielen Neben— 
umſtänden auf 317 Seiten ſpannend, wenn 
auch ohne literariſche Anſprüche erzählt. 
Ein lesbarer Unterhaltungsroman. 

Höher ſteht Rudolf Haas, unſer alter 
Bekannter und hier ein wenig Verwöhnter, 
denn ſchon Carl Buſſe hat ihn an dieſer 
Stelle gern verhätſchelt. Er verdient es aber 
auch. Sein neuer Roman Die wilden 
Goldſchweine weiſt ſeine alten Vorzüge 
auf: ſonnenhelle Weltfreude und Lebens» 
bejabung ferngejundes, tief im Bolfstum 
wurzelndes Empfinden, geraden Ginn und 
lachenden Humor,  fiberrajdjembe Offen: 
barungen bringt er nicht, es ijt die Bor: 

eihichte bes hier feinerzeit veröffentlichten 
omans ‚Michel Blant und feine Kiefer. 
Die wilden Boldichweine find eine luftige 
a TE dieim Bafthaus „Zum 
oldenen ildſchwein“ ihre regelmäßigen 
ibungen abbált, aber nicht nur luftig ijt, 
jondern aud) gemeinjdaftlid) Gutes wirft. 
Die Fler ¿rage [pielt diesmal tief hinein, 
aas | P ihr mit ber verftehenden Menſchen—⸗ 
tebe, aber auch der ruhigen Bejonnenbeit 
egenüber, bie feine Schriften wie eine frijche 
táblende Luft burdjmeben. Das Buch iit 
vor der Revolution gefdrieben, der Vers 
affer bat es aber unverändert gelajjen; mit 
echt ar er Der Meinung, daß bte Vorkriegs= 
zeit, bte er bier jdjilbert und die jebt ende 
gültig vorbei ift, troß aller Mängel doch 
me viel Gutes, Tüchtiges und Wertvolles 
in fid) gehabt bat, das fejtzubalten und, [oz 
weit es gerettet zu werden verdient, in uns 
lere Gegenwart hinüberzuretten ibm eine 
banfbare Aufgabe jcheint. Die Rleinftadt: 
originale, bie Triebl- Haas zeichnet, find 
wieder jcharf und — geſchaut, der guts 
herzige Idealiſt Hans Trux hat bie pig 
eines Jean Paulſchen Helden, und all dte 
Stammtijdgafte mit ihren brolligen Spig: 
namen (Gtadtitord, Blanetentópfer, Opopoi, 
— ft, Kitt ujw.) find prachtvolle 
ypen behagticen und bod) tattráftigen 
deutjchen Bürgertums. Gie halten den Un: 
wettern des Ge)dids und der fozialen Rampfe, 
bie über [ie Hinwegbraujen, tapfer ftand und 
finden zulegt ihren weltfreudigen Humor 
wieder, wie wir bas vom echten Triebliblage 
nicht anders erwarten. 

Der im vorigen Jahr in unjeren Monats: 
eften abgebrudte Roman von Friedel 

ergenid): Der np Vogel ijt jest 
im Berlage bes Bibliographijchen Inftituts 
Leipzig als Bud er|djienen. 


e Slluftrierte Rundichau e 


OtCeeeccccecceceeccccecececccecececcecececccecceecccecccecee E EE EE EE EE EE, 


Münchner Malerei um 1800 — Der Maximilianharnij/h —Anhdngeetifetten — 
Handarbeiten — Zu unjern Bildern ` 





Y] miere Gehnjucht beginnt, (id) aud) fiinft- 
lerijd) rüdwärts zu wenden, und zwar 
aus tieferen Gründen als einer romantilch 
Ipielenden Kaune. Wir ftehen ratlos und 
unjider vor Gegenwart und Zufunft, und 
wer nod) an Rettung glaubt, fann fie nur 
in dem finden, was tüchtig und ei entümlich 
beut|d) ijt. Manches, was uns Troft oder 
Muſter fein könnte, ijt verjchollen ober KI 
ber Gelamtbeit unbefannt, und jo regt fi 

an vielen Orten das Beitreben, den Zeiten: 
ſchutt, der fid) über toftbare ne gelagert 
Hat, wegzuräumen, fo daß fie jid) wieder 
allen Augen in urjprünglicher Schönheit dar: 
bieten. Unjere Lejer willen, wie ftattlid) die 
Heidelberger Maler der Romantik aus dem 
Duntel bes Vergefjens hervorgetreten find. 
Eine im vorigen Jahr veranftaltete Bildnis: 
ausjtellung der Berliner Wfademie bejcherte 
dem Betrachter mancherlei Entdederfreuden. 
Eine reihe Ernte breitete bie Ausitellung 
aus, die die Münchner Galerie Heinemann 


Ce RE d Ce) G4) G8) G8 58 38 58) G8 a 





ber Zeit nicht für voll genommen hat und an 
deren natürlicher Trike wir unfere belle 
Freude haben: ber bürgerliche Colinger, ber 
Geh Dillis, ber feelijd empfindfame Wil- 
helm Kobell, der frijch finnlide Wagenbaum, 
der berb zupadende Dorner. „Es ijt,” wie 
Adolf Feulner in der Einleitung des orgjam 
ausgearbeiteten Sataloges jagt, „nicht nur 
die ungetünjtelte, pedantijche Schlichtheit, die 
Ehrlichkeit und Natürlichkeit ber Anſchauung, 
die uns rührt, jondetn mehr nod) ber Ge: 
halt, der tiefere Inhalt, bas Gtimmungs» 
volle, die Gefühlsinni teit, Empfindun Bas 
jeligteit, bie uns Géck rühromantijche 
leret wertvoll machen 


B 

Der auf ©. 431 abgebilbete Sarnijd) it 
aus mehreren Gründen eine bemertenswerte 
Geltenheit. Wohl erfreut fid) das Zeughaus 
in Berlin, bas ihn vor kurzem erworben bat, 
einer großen Anzahl von NRüftungen, aber 
jehr viele find durch moderne Ergänzungen 


unter Dem in den Yu: 
Namen gen des 
n DM ün A- Sammlers 
ner Mas entjtellt und 
lerei um nur vers 
1800“ ver: ſchwindend 
anſtaltete wenige vom 
und von der Kopf bis zu 
wir hier ein den Füßen 
paar Proz und bis in 
ben zeigen. bie- lebten 
Sieumfaßte Singers 
im wejents glieder Der 
Iden die Handſchuhe 
Jahre 1775 gut erhal: 
bis1825, d.h. tem. Dieje 
die Zeit des Tadellofig: 
aus SEN feit ijt ber 
den Rototos Neuerwer: 
bis zum Auf⸗ bung nach— 
treten Pe: zurühmen, 
ters von und [ie ift 
Gornelius um fo wert: 
und 30g eine voller, als 
Menge neus es fid) nicht 
er RKiinjtler um ein 
und Bilder Prunkſtück 
ans Tages: |onbern um 
lit. Uns einen Ges 
fefjeln vor: brauchshar: 
nebmlid) bie nijd) fürs 
Bildnis: geld han: 
und Land: delt. Er 
Ihaftsma:= ftammt aus 
ler, Die Ke Den pegs 
atabemi nenden 16, 
IH. 
[oi Salem Gemälde von Job. Satob Dorner d. filteren (Hus der Austellung —, JADEDuN> 
Geſchmack »Vtiindner Malerei um 1800” in ber Galerie Heinemann, München) dert. Das 


480 I y INuftrierte Rundihau [aaaoooocooooood 


linnfälligiteStil- 
merfmal fiir eine 
enauere geit- 
ide Begren= 
zung liefert(nach 
Baul Poft in ben 
„Berliner Mus 
feen”) die Be- 
lebung der Har- 
nijchoberfläche 
mit langen Rie- 
felungen, Die für 
eine Erfindung 
Kaifer Mari- 
milians galten. 
Der Meifter bes 
Werts ijt gewiß 
in Nürnberg 
oder Augsburg 
S — 


88 
"on Mbrtetten: 
fabrit Kollmar 
& Jourdan in 
Pforzheim hatte 
ein Preisaus— 
idreiben für 
Anhängeeti— 
ketten erlaſſen 
und damit eine 
außerordentlich 
große Zahl von 
Künſtlern in 
einen anregen— 


den Wettbewerb gelockt. Denn ſo klein und 
unweſentlich die Aufgabe ſchien: es ſtellte 
ſich bald heraus, daß ſie, ernſthaft ange— 


F — 
*h LX A 


des ae e ee. — 





Selbſtbildnis. Gemälde von Maria Elektrine Freifrau von 
Freyberg (München, Galerie Heinemann) 


arbeiten. 


E ^ * A A . Léi 
T a c ced ^ DR < 
GA. uni BR . ` D - 
— an ei è l * aoe Ke 


p * dx 
i $ y 





padt, betrüdt- 
liche Schwierig⸗ 
keiten bot, ſollten 
doch Form und 
Farbe verfdjies 
den fein, um fo- 
ort die he 
es ausgezeich 
neten — 
ſtandes — 
zu laſſen, und 
die Schrift jollte 
veria iedenarti 
verteilt fein, un 
fonftigen prat- 
tijden Anforde: 
rungen hieß es 
zu genügen. Wir 
eigen aus Der 
E e der X: 
jungen einige der 
preisgekrönten, 
bie trog ber Ein: 
farbigteit — ber 

Wiedergabe 
jhon die Vian: 
nigfaltigteit ber 

künſtleriſchen 
Ginfalle ver: 
raten. 


28 8 8 

Zum Schluß 
des Heftes brin: 
gen wir Sands 


Aus der Gtaatlihen Kunſt— 
gewerbeichule in Stuttgart ftammt der gee 
batitte Lampenfdirm von Helene E 


Die Tannerjdladt des Bayr. 1. Chevaurxleger- Regiments bei Abensberg 1809. Gemälde von Wilhelm 
von Kobel, (Aus ber Ausjtelung „Münchner Malerei um 1500" in der Galerie Heinemann, Winger) 








SSES SS BWujtrierte Rundihau seess 431 


f 






—-— 





Eech, Zi 
—— Fer 





LAE 
Preisgetrinte Entwürfe aus einem Wettbewerb ber Firma Kolmar & Jourdan, Pforzheim, 
zur Erlangung von neuzeitliden Anhängeeititetten | 


menretd, einer Schülerin Bernhard Pan: | her. Eine große Anzahl fchöner Arbeiten 
tofs und Laura Eberhardts. Die Batil- | wurde eingereid)t. Die Einflüffe ber mo: 
technik, bie fih man: dernen Malerei mad): 
cher jchon ein wenig ten fid) ftart bemert: 
iibergejehen lie" weil bar und nicht zum 
fie wabllos für alles Schaden; zeichnet fich 
verwandt wurde, eig: Dod) unjre jüngite 
net jid) für Lampen: Runft, oft unfreiwil: 
Ichirme vortrefflich. Im lig, burd) funftgewerb: 
Schein bes Lichts wer: lid) betrachtet reizvolle 
den die bunten Töne Leijtungen aus. ln: 
lebendig. Die Glut ter den bier abgebil: 
der roten Farben wird deten &ijjBen machen 
gefteigert, die Härte wir auf das von Berta 
er blauen wird ge: Fritſch bejonders auf: 
dämpit, Grün und merljam; bier find 
Gelb geben leife ins EE E 30pfe, 
einander über. Der gehäfelte Yuftmafchen, 
GlImenreidjjde Lam: edrebte Schnüre in 
penihirm paßt mit Spiralen wabllos auf: 
feinen ungefünjtelten enábt. Das von $e: 
Tierbildern in das ene Ohnimus in Ham: 
Kinderzimmer, und burg unter dem Gtid): 
aud uns Großen wird wort „Gebirge“ aus: 
er, erleuchtet, eine geitellte Kiffen ift eine 
liebenswiirdige Qa- eihmadvolle Kreuz: 
terna magica fein, Hicharbeitin Molle auf 
die uns an Zeiten er- Stramin. Aud) bier 
innert, wo Die Melt glaubt man eine der 
nod) febr bunt und u lebter Einfachheit 
febr einfach war. Die Hilifierten Landidaf: 
ima Minjen in ten zu leben, wie fie 
Itona-Ottenjen hatte unjre revolutionäre 
fid) mit bem Runftge: Jugend malt, nur daB 
werbemujeum in MI- Dier bas Wusdruds: 
tona in Verbindung mittel natürlich und 
SS, um fünitle= leineswegs übertrie= 
rildje Handarbei: ben abjonderlich wirft. 
ten zu erlangen, ein & 8 
nachahmenswertes 
Beiſpiel. Das Haus 
trug die Koſten der 
Beranftaltung und 
pole bie Preile, Die 


& 

Unter unfern Bil: 
bern befindet fidh dies: 
mal faum eines, an 
bas unjre fejer erit 
durch ein permittel[ns 

jeumsleitung half des oder einladendes 
mit künſtleriſch gebil: Wort herangeführt 
— Rat ST gab Dr SSR 

áume für bie us: erbung des Berliner Beughaufes: adiolen von H. Mit: 
ftellung der Arbeiten — a a tag fteben fauber und 





432 IREEE ST Mlujtrierte Rundidau Issel 


geihmadvoll gemalt in der hinefilhen Bale 
auf dem rotbraun en Tijd. Go ein 
Gtilleben ijt für ben Bejchauer ein beruhigen= 
der Genuß. Vian könnte jid) denten, daß 
ein Mann in Arbeitshoje, eine Frau in Der 








Kiffen aus Wollreften von Berta Fritih, Ham— 
burg. Aus einem Wettbewerb für Handarbeiten 
vom Kunftgewerbemujeum zu Altona 


gemaltes deutjchesBild (3w.S.344 u. 345). — An 
ber reizenden „Entführung“, die fid) in einem ` 
Gozziſchen Märchenjpielereignen tónnte, wird 
jeder Lefer feine helle haben (zwijchen 
‚©. 352 u. 353). Hier bat Meiſter Diez ein 
mal wieder feine fröhliche und frohmadende 
— WEE DEE fae eee: Erfindungsgabe und feine ſchmiegſame Runft 
arbeiten vom Kunftgewerbemufeum zu Altona der Darftellung erwiejen. Bei biejer Belegen: 
eit leien die Verehrer von Diez auf das große, 

Vielgejchäftigfeit des Haushalts immer aufs bei D. & R. Bilhoff erjdienene Werf von 
neue durd) ein fo friedevolles Kleines Gud Rihard Braungart hingewiefen, das nicht 
in Farben aufgefangener Schönheit er: e ein Buch über, fondern auch ein Bud) 





erquidt werden. — von Diez genannt 
Das Bildnis von r- J zu werden verdient. 
Alexander Ma: — Hermann. 

towsty(3w.S.336 Gtruds Berliner 


u. 337) gebt in der 
Darftelung einer 
augenblidlichen 
Gebarde falt zu 
weit. Es hat etwas 
Beunrubigendes, 
und man finnte jid) 
imGegenjaf au dem 
Gtilleben vorjtellen, 
daß jemand bei al: 
ler Achtung vor der 
Mieifterjdhaft Des 
Malers einen jo 


CtraBenbilb zeich— 
net fid) durch far: 
bige Fri} dhe aus (zw. 
©. 376 u. 377). — 
Der jegeltuchnähen: 
e Filder von 
Emanuel 3airis, 
einem aus Sta: 
lien — ftantmenben 
Dialer Münchens, 
hat in der Wucht 
der Erſcheinung und 
der Größe der Ge— 


„aufſäſſigen“ Herrn bärde einiges mit 
nicht dauernd in jet: Hodler gemein (zw. 
nem Zimmerbhaben . ©. 384 u. 385). — 


möchte, — Louis 
Lejeune, der E 
gern bie Miart für 
eine Diotive wählt, 
führt uns mit feiner 
Baumblüte in den 
Golling, das Berg: 
land zwijchen Wee 


In bem Idyll von 
ungbanns end: 
lid) (zw. ©. 408 u. 
409), das fih ganz 
einfad) realiſtiſch 
gibt, flingt ein 
wenig Humor wie 
ein Glödlein, das 
Ier und oberer der Wind von Ter: 
Leine: ein mit viel 


| ; er über den Ader 
Freude und Andacht SCHERER EE pro d P. Y, 


“ 








. Herausgeber und verantwortliher Schriftleiter: Paul Osfar Hörer in Berlin 
Künftlerijche Leitung: Rudolf Hofmann in Berlin — Verlag: Velbagen & Mafing in Berlin, Viele: 
feld, Leipzig, Wien — Drud: Filer & Wittig in Leipzig — Für Sfterreid Herausgabe: Frieje & 
Lang in Wien I. Verantwortlih: Grid) Friese in Wien. Bráunergafie 3 — Nad)jdrud des Inhalts 
verboten. Alle Rechte vorbehalten. Zuichriften an die Sdriftleitung von Belbagen A Klafings 
Monatsheften in Berlin W 50 

















Auslandspreis für Holland 1 Gulden, für Italien 8 Lire, 

für die Schweiz 2 Franfen, für die Standinavijden 

Lander 2 Kronen, tür die Vereinigten Staaten von 
Nordamerıta und Viexito */, Dollar, ujw. 

ye beziehen durd) alle Buchhandlungen und Poft: 

titalten. In der Zeitungspreislifte Der deutſchen 

Reihspoft unter ,,Velbagen & Klafings Monatshefte“ 


durd) bie Poſt-Anſtalten bezogen werden. 








helm Hegeler (iortjegung) . 433 
Die ffeinen Hände. Gedicht von 


BE: ova 452 


Giulio Beda. Bon Georg Hir| dh: 
feld. Mit fünf farbigen Wieder: 
gaben nad) Gemälden bes Künſt— 
lers e ng eae 

Schwingungen. Berfe von Karla 
NONI 6 

Ritter Biffi. Ein ſüdliches Por: 
trát von Theodor Bohner . 461 

DieDame am Ruder. Bon Marie 
von Bunjen. Mit dreizehn eins 
und zweifarbigen Abbildungen . 469 

Die Prüfung des Eduard Arbes: 
mann. Novelle von Emil Gradl 477 

Die große Glode. Gedicht von 
Helen Fidelis Butih . . . 489 

Die Feme. Von Dr. Grid) Friede: 
rici, Mit vier Zeichnungen . . 450 

Bildnisminiaturen aus nieder: 
ſächſiſchem Privatbeſitz. Von 
Prof. Dr. Georg Biermann. 
Mit fünfzehn ein- und mehrfar— 
bigen Abbildungen ea 

Sn der Sdhenfe am Meßberg. 


Seite 
Zwei Freunde. Roman von Wil: 
453 


497 


Novelle von Kurt Kühler . . £05 — 


Nerpös Mon Dr. med. Carl 
TOUR WASTE. 2.» DW 


333332332222222222232232222322332233€6€C€CCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCCC XX 


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eingetragen. Das erite e tann einzeln. 





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einem langwierigen, aus dem Winter in 
den Gommer verjchleppten Halsleiden ers 





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35.Jabrg. / Juli 1921 / 11.eft 














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25 cr Krieg brad) aus, ber Menſchen— 
Jí RNY vertilger, ber Menjchenerprober. 
MOY Sans befand fid) au biejer Beit 


in einem bayriſchen Gebirgsdorf, 


Holen wollte, begleitet Hatte, 

Eine einzige Zeitung trug die Nachrichten 
ber Welthändel in diefe Bergeinjamteit. Go 
dürftig das Echo war, es genügte, um eine 
mit ber Umwelt in feltjamem Gegenfas 
ftehende Spannung zu erzeugen. Dann [djien 
fid alles zu beruhigen, und einige Tage 
blieb die Zeitung fogar ganz aus. Sans 
gab nicht groß acht darauf, denn ein neuer 


+, Fteberanfall feiner Mutter bereitete ibm 


nähere Sorgen. 

Am erjten Morgen, als fie fieberfrei war, 
machte er nach geraumer Rranfenftubenhaft 
wieder einen größeren Spaziergang und bot 


A der Welt ein jo heiter unbefiimmertes Ge: 


béit. wie bas von Fiditenwáldern, Almen 
und Bergihroffen umrahmte Stiidden Welt 
ihm zeigte. Da hörte er [Mon von weitem 
bas ftiirzende Gepolter ſchwerer Schritte, bas 
Rnaden von dien. bas Rutiden von Ge: 
ro, und wie ein gebebter Hirjd brad) es 
aus dem Jungtann heraus: die mächtige 
Gejtalt eines Gebirglers mit ber Genie auf 
bem Rüden, das braungebrannte Geficht 
von Schweiß bebedt. Der Stürmende über: 
querte den FuBweg und [tampfte, den Guten- 


> Morgen: Gruß taum erwidernd, auf dem 


geraden Nichtiteig zu Tal. 
Und Hans war noch faum eine Viertels 
ftunde weiter gegangen, als wieder ein jun: 


Belbagen & Klajingd Monatshefte. 35. Jahrg. 1920/1921. 2. Bd. Nad)drud verboten. Copyright 1921 by Belhagen & Klafing 


voriiberbajtete. Als dann aber ein dritter 
ebenjo gewitterhaft vorbeibraufte, fonnte er 
es nicht unterlajjen, ihn verwundert, an: 
gurufen, was denn eigentlich los fet? 

„Krieg ift!“ lautete ber furze Antwort: 
donner. 

Da Jebte ber Spaziergánger fih auf den 
nüdjten Stein, und obwohl die Wolfen nod) 
ebenjo [till und weiß und felig am blauen 
Himmel jehwebten, ftand es wie bligdurd)s 
lobte Gewitternadht über dem Betroffenen. 
Hallte es nicht wieder von polternden Cdrit- 
ten? Halte es nicht überall her, vertaujend: 
fadt? Gtiirzten nicht ba und dort von ben 
Höhen gleich tojenben GieBbaden die Män- 
ner zu Tal? Von allen Höhen ftrömten fie 
in alle Täler bes deutſchen BWaterlandes. 
Aus allen Häufern drängten fie und fam: 
melten [id) zu Hauf. Die Männer der Berge 
begegneten denen der Ebene, die Bauern 
vereinigten fich mit den Ctübtern, ein eins 
giger ungeheurer Strom ſchwoll an, und 
bieler Strom hatte einen einzigen Willen, 
ein einziges Ziel. | 

Er aber wie ein Ausgejtoßener war von 
diefer großen Gemeinjchaft unberührt ges 
blieben. Nun begriff er alles. Die mürrijche 
Miene des Wirtes, wenn er gelegentlich nad) 
der Zeitung fragte. „Krieg ijt!” Nun war 
bie flammende Gorge um feine Mutter wies 
ber ba, aber in neuer Geftalt. Was war 
geihehn in bieten abnungslojen Tagen? 
Sjanbelte es fid) nod) um legte Vorbereituns 
gen oder war der Krieg wirklich [Hon auss 
gebroden? Waren etwa [don Entſchei— 
dungen gefallen? Er fprang auf, und aud 
29 


434 ee SS) Wilhelm Hegeler: sees 


fein Schlendern wurde jekt zum ftürmenden 
Cdritt der Not unb der Pflicht. 

Seine Mutter nahm die Nachricht gefaßt 
auf, ebenjo wie feinen Entſchluß, fid) fofort 
zum Militär au Wellen, Er fragte fic, ob 
lie fid) auch wohl genug für die lange Reije 
fühle, und fie erwiderte, unter diejen Um- 
ftánden bránge es fie felbft nad) Haus. 

Bleich nach feiner Ankunft begab er fih 
zu Dewerths. Rudi war bereits zurüd: 
gefehrt. Er und die beiden Frauen waren 
gerade damit bejchäftigt, eingemottete Unis 
formftüce auszupaden, denn Rudi folte jhon 
am nádjten Tag ausriiden. Unbefiimmert 
um Mutter und Bruder fiel Annie ihrem 
Geliebten um den Hals, und niemals in 
feinem Leben batte Hans in eines Menſchen 
Mund jeinen Namen ausrufen hören mit 
einem jolchen Klang des Jubels und Der 
Erlöjung. 

Wher als fie dann allein waren und er 
Annie fagte, daß auch er fort wollte, [mien 
fie ihn anfangs nicht zu verftehen. Als er 
aber feine Worte wiederholte, wurde fie 
Jdattenbleid), und ihre Stimme flang wie 
ein Ternes Flüſtern. Er dürfe nicht fort, 
jagte jie. Denn fie würde es nicht über: 
jtehen, ihn zu verlieren. 

Vergeblich |prad) er alle jene Morte, die 
in Diejen Tagen Taujende von jungen Män- 
nern zu ihren Müttern ober Bräuten |pras 
den. Alle bie hohen Begriffe, bie damals 
bie Menjchen über fih hHinaushoben, [bienen 
für fie feine Geltung zu haben. Warum 
mußte er freiwillig ihrer beider Glüd opfern? 
Warum wartete er nicht, bis man ihn rief? 
Cie wollte nicht glauben, daß jeine Mutter 
been Cd)ritt billigte. Noh am |päten Abend 
juhte fie Frau Bofelmann auf, und aud 
dieje verjd)wendete vergeblid) ihre gütigen 
und ſchlichten Worte. Annie widerjprad) ihr 
nicht, aber ihre ftumme Berzweiflung vers 
riet, Dak nichts jie überzeugen fonnte. 

" Und während all der Tage, die verftridjen, 
ehe Hans ein Regiment fand, das ihn zur 
Ausbildung annehmen wollte, wurde es nicht 
anders. Meder die Berufung auf ihren 
Stolz, nod bie jchmeichelnde Hoffnung 
auf ein Wiederjehen zu Weihnachten ver: 
mochte fie aufzurichten. Zum erjtenmal fühlte 
Hans in ihr die Kraft eines Willens, Die 
Dem feinigen überlegen war. Gie verjuchte 
nidt mehr, ibn umzuftimmen. Aber wenn 
(ie blak und apathijch dajak und er fie fragte, 
was fie habe, erwiderte fie nur: „Du weißt 
ja — Angſt.“ Und das einzige, woran fie 
lich Hammerte, war der blinde Glaube, daß 
irgend etwas eintreten müjje, was die Aus: 
führung feines Vorhabens unmóglid madte. 
Als es bann aber bod) zum Abjchied fam, 


ftanden in der Menge, die auf dem Bahn: 
hof zujammengejtrómt war, feine Mutter 
und Annie. Und Frau Bolelmann, bie von 
der Krankheit fehr mitgenommen war, fo 
zart und gebredlid) in ihrer Magerteit, 
ſchien bas Ichlanfe, zitternde Mädchen ftügen 
zu mújjen, das ihre dunfel umjchatteten 
Augen weniger auf Hans zu richten fdien, 
als auf den ganzen Zug, als fönnte fie Durd 
die Kraft ihres Blids bie jchweren Eijen- 
wagen hindern, fid) in Bewegung zu jegen. 

Süngit war der Zug davongerollt und 
nichts mehr zu erfennen als einzelne weiße 
Fleckchen wehender Tajchentücdher, da [pürte 
Hans immer nod) die jchwere Verzweiflungs: 
wucht biejer Mugen. Und das Gefühl über: 
fam ibn, daß er an Annie ein Unrecht bes 
gangen habe. 

Kurze Zeit |päter meldete Klaus fid) beim 
Noten Kreuz. Gein väterlicher Freund, ber 
Baron von Schwärzell, der als Etappen= 
delegterter bet diejer humanitären Inititution 
wirkte, batte ihm das Anerbieten gemadht, 
ihn nad) erfolgter Ausbildung als Adjutanten 
unter feine Fittiche zu nehmen. Im Winter 
des eriten Kriegsjahres folgte er ihm nad) 
Flandern. Zu den zahlreichen Obliegen- 
heiten, die Klaus in jeiner neuen Stellung 
zu erfüllen hatte, gehörte auch, feinem Bors 
gejebten bei der Verteilung von Liebesgaben 
behilflich zu fein. Der Baron von Schwärzell 
war ein jehüchterner, bejabrter Junggelelle, 
ein Sammler von Gegenftánden, die alte 
Wappen trugen, feien es Stegelringe, Pet: 
Ihaften, Porzellantajjen oder Pfeifentöpfe, 
dem Leben gegenüber ein Herr von auf: 
regender Hiljlofigteit, der nicht drei Straßen 
weit gehen fonnte, ohne [id) zu verirren, Der 
nidi einen einzigen Namen zu behalten, 
nicht ein Rangzeichen zu unterjcheiden ver: 
mochte, ber es fertigbradte, an einem General 
vorbeizugehen und fih zu wundern, daB 
diejer ihn nicht zuerjt grüßte, furg und gut, 
ein Mann, jo recht von Gott geichaffen, um 
die Stellung, bie ihm fein alter Name und 
jein gutes Herz auferlegt hatten, auszufüllen. 
Klaus mußte von morgens bis abends um 
ihn fein und ihm bie nötigen Anweijungen 
zuflüjtern, um láderlide Mißverſtändniſſe 
und beleidigende Irrtümer zu vermeiden. 

Eines Tages begleitete er den Baron in 
das zu einem Bermundetenlazarett umge: 
jtaltete Klofter der 3Ba]fionijten. Cie hatten 
den mit Refonvalejzenten belegten unteren 
Gaal bereits burdj|d)ritten und begaben fid) 
nun zu den Schwerverwundeten im oberen 
Gtod, wenn fie auch wupten, daß denen mit 
Zigarren, Pfefferfudjen und Pulswärmern 
wenig gedient war. Während fie mit mit: 
leidigen und unbehaglichen Bliden die Betts 


pn 


reihen abjdjritten, las Klaus auf einer der 
Ihwarzen Tafeln über dem Kopfende: Mius- 
Fetter Bolelmann. Und es war wirklich feim 
Freund, ber ba in ber armjeligen, aus rohen 
Brettern gezimmerten Bettftatt unter einer 
rauhen Pferdedede lag. Aber wenn er unter 
Geide und Eiderdaunen gelegen hätte, es 
wäre ihm aud nicht wohler gewejen. Denn 
er hatte vierzig Grad Fieber und war ohne 
Bewußtjein. 

In den nächſten Tagen fam Klaus mor: 
gens und nachmittags, um [idj nad) dem 
Befinden des Patienten, deffen jchwere, von 
einem Granatiplitter herrührende Stirn— 
wunde dem Arzt jehr wenig Hoffnung auf 
feine Erhaltung gab, zu erkundigen. Ms 
dann nad) einer verhältnismäßig leichten 
Operation die Fieberkurve plößlich hinunter: 
ging und Hans wieder zu fid) fam, war diefe 
riihrende Fürſorge das erfte, was er von 
der mitleidigen Schweiter erfuhr, und bei 
bem Wiederjehen fonnte er nur immer wieder 
feiner fbwaden Hand die bes Freundes 
dankbar drüden. 

Es war eine jonderbare Empfindung, die 
in Klaus dabei rege wurde, daß er in diejen 
Tagen den bofíinungslofen Zuftand feines 
Freundes für einen wunderbaren Eingriff 
bes Schickſals zu feinen Gunjten gehalten 
hatte. Aber angelichts dtejer neuen Wendung 
jagte er jid), Dag es auch fo gut jet. Um fo 
mehr, als er ein Anliegen an Hans hatte. 
Eine etwas peinliche Bitte, Doppelt peinlich 
gerade in Diejer Situation. Aber wenn man 
nicht riidjidjtslos vorging, dachte Klaus, fam 
man nie gum Biel. 

Geitdem er jid) in Belgien befand und 
die jlandrijden Städte fennen gelernt hatte, 
war ibm Tor geworden, daß auf biejem 
Boden fein Glüd gedeihen müjje. Das ganze 
Land war ein Riejenmujeum, eine ungebenere 
Schatzkammer wertvoller Altertümer, bie 
infolge der Geldfnappheit und wadjenden 
Fliegergefahr ebenjo im Preije fielen, wie 
fie in der Heimat jtiegen. Er hatte fih [Hon 
feine ganzen Erjparnijje Zommen lajjen und 
einige Rijten mit föftlichen alten Bildern 
nah Haufe geihidt. Aber angelichts der 
ausliegenden Neichtümer war das ein lächer— 
lich bejcheidener Anfang. Wenn ihm jest 
jemand ein Heines Kapital vorjtreckte, fonnte 
er binnen furzer Zeit ein gemadjter Mann 
werden. (Er hatte unter anderen Roftbar: 
feiten einen alten Gobelin entbedt, ein 
wundervoll erhaltenes Stüd, für das er in 
der Heimat das acht: und zehnfache des ge: 
forderten Preijes erzielen konnte. 

Er wartete, bis Hans wieder einigermaßen 
zu Kräften gefommen war, dann bradte er 
fein Anliegen vor. Kaum Hatte er etwas 


Zwei Freunde BE32323232323732 3232323231] 435 


von feinen brüdenben Schulden erwähnt, 
als der Freund ihn unterbrad: „Aber, 
Mann, ich habe bir bod) jo oft gefagt, bu 
joljt ganz über mid) verfügen. Wieviel 
brongt bu? Ift bas aud) nicht zu wenig? 
Brauchſt du nicht mehr?“ 

Klaus, der wußte, daß feines Freundes 
Bermögen keineswegs bedeutend war, jd)ümte 
(id) im erften Augenblid, erhöhte dann aber 
bod) bie gewiinjdte Summe um die Hälfte, 
indem er fid) für das großmütige Anerbieten 
überjcehwenglich bedantte. 

„Broßmütig? Ach, eher fleinmiitig. — 
Wenn man jo in einem Granatlod liegt 
und um fein bißchen Leben attert, dann 
wird einem der Gedante an Geld fo ver: 
dammt gleichgültig... Wher, was id) fagen 
wollte... jo ein gewilles Dtiblrad geht 
einem ja immer nod) im Kopf herum...” 

Er nahm von feinem Nachttiſch eine 
3igarrentifte und framte einige darin bes 
findliche Briefe hervor. 

rAd, ja... aus Annies Briefen habe id) 
den Eindrud, daß fie und ihre Mutter jid) 
auch in Verlegenbeit befinden... alle Welt 
ijt Durch den Krieg ja in Not geraten. — 
Ich will bem Brief. an die Bank gleich beis 
fügen, daß fie an Annie auf ihr Anjuchen 
Geld jdjiden fol. Coviel fie braucht.“ 

„Offen geftanden, das finde id) leidte 
finnig. Das ijt ja eine unbejdrantte Boll 
madt.” 

„Kann id) mein Vertrauen einjchränten 
Wenn id) einem Menjchen vertraue, dann 
vertraue ich ihm unbegrenzt.“ 

nod) als dein Freund rate dir ab." 

„Mach' mid) nicht nervös! — Dieje vers 
Fluchten Beldgejhichten. — Entſchuldige, aber 
id bin immer nod) ein bißchen döſig. — 
Eine Vollmacht! Verftebft du?“ 

Klaus [djüttelte nur [till den Kopf. 

Hans gähnte und fagte dann: „Du — 
wenn ich heut abend fieberfrei bin, dann 
befomme id) die zweite Portion ... Fleijd! 
Du abnjt ja nicht, was in dem Wort jtedt." 
Er gähnte wieder und legte ftd) bann, Die 
Augen jehließend, auf die Ceite. 

Nach einigem Jtad)benfen fegte Klaus jid) 
an den für die wachhhabende Schweiter bes 
ftimmten Tijd, auf bem fic) Tinte und Papier 
befanden, und jd)rieb den Brief. Er mußte 
den Freund aufweden, der nur fragte, ob 
er aud) eine Vollmacht gejchrieben hätte, 
dann das Wort mit großer Befriedigung 
íi anjab und darauf den Brief unter: 
zeichnete. 

„Das übrige lieft du niht?” 

„Barum? Das wird [hon ftimmen.” 

„Du gebor| aud) zu den Dtenjchen, die 
unbejehn ihr Todesurteil unterfchreiben.“ 

99 * 


436 ee Wilhelm Hegeler: Wee 


Hans nidte. „Das hat [Hon unjer Klaſſen— 
lehrer immer behauptet.” 

Um nidt an fich irrezuwerden, gab 
Klaus den Brief jogleid) der Schweiter zur 
Meiterbefórderung. Ihm war nicht recht 
wohl zumute. Bet Licht bejehen, hatte er 
bod) einen Schlafenden überfallen. Er be: 
ibloB, die geliehene Summe fo |djnell wie 
möglich zurüdazueritatten. Durch ibm folte 
der Freund feinen Pfennig verlieren. Biel 
fataler war bie Gejdjid)jte mit Annie. Aber 
batte Klaus den Freund nicht gewarnt, jebr 
energiſch fogar, bis diejer ungemütlich wurde? 
Und wenn er den Brief nicht gejchrieben 
hätte, jo hätte ber erjte befte ſtumpfſinnige 
Pfleger es getan. 

Klaus bejudie Hans, ber fic nad) Ent: 
fernung der Splitter überrajchend jchnell er: 
holte, auch weiter jeden Tag. Hans hatte 
einen längeren Urlaub bewilligt befommen, 
aber plöglich einjegende Großkämpfe machten 
diefe Hoffnung zunichte. Raum wieder: 
bergejtellt mußte er von neuem an die Front. 
Sn ben nächiten Monaten wurde jeine Divi: 
[ion an ber Weltfront Bins und hergeworfen 
und überall dort eingejebt, wo es am heißejten 
guging. Dann fam bie Nachricht, daß er 
nad dem Often gefommen und ingwijden 
zum Offizier befördert worden fei. Nun 
ihien er ein wenig Rube zu haben. Im 
Frühjahr aber traf ein Schreiben ein, er fei 
bei den Kämpfen am Naroczjee gefallen. 
Eine jpätere Nachricht lautete, nad) Aus» 
jagen einiger Kameraden fet er nur [djmer 
verwundet worden. Möglicherweije alfo 
lebte er nod) und befand fic) in rufjijder 
Gefangenjdaft. Trog allen Bemühungen 
von feiten der Mutter und von Klaus waren 
genauere Nachrichten nicht zu erlangen. Er 
blieb vermißt. Und die Wahrjcheinlichkeit, 
daß er gefallen fet, wurde immer größer. 

Derweil betrieb Klaus feine Gejchäfte. 
Während Millionen den brifeften Wunjch 
hatten, daß der Krieg ein Ende haben möge, 
ging feine Hoffnung dahin, daß er noch recht 
lange dauerte. Denn mit jedem Monat 
mudlen feine Gewinne. Was an der Front 
geihah, ob bie Qeut|den Giege erfochten 
oder Niederlagen erlitten, war für ihn etwas 
Mejenlojes, folange die Etappe nicht in 
Mitleidenjchaft gezogen wurde, Nur mand): 
mal, wenn er die Truppenzüge vorüberrollen 
oder die Bataillone mit ihrem jrijdjen und 
Dod [o ſchwermütig tlingenden Gejang vor: 
beimarjdieren jab, fam ihn ein Grauen an, 
und er dachte, es miipte ihm wobler fein, 
wenn er mit ihnen in Reith’ und Glied mars 
ichierte. Bezwungene waren fie ja alle, fie 
vom Viuf bezwungene, wie er von feiner 
Leidenjdajt begwungen war. Immer mehr 


empfand er diefe als eine Haft und Bejefjen- 
heit, die jede freie Regung in ihm getötet, 
die ihn dem Freunde gegenüber zum gemeinen 
Kerl gemadt hatte, die ihn in ewiger Nerven: 
überreizung hielt und feine Bejundheit unter: 
wiiblte. 

Er war dem Baron unentbebrlid und 
durfte Dellen Bunft nicht verfcherzen. Immer 
gewagtere Rügen waren nötig, damit er für 
feine ¿abllofen Reijen die Erlaubnis befam. 
Geplagt von Angſt, daß feine lebten 
Schwindeleien heraustämen, erfann er [hon 
neue Slide und bradjte es auf dieje Weile 
fertig, auf allen großen Runftauftionen in 
Brüjjel zugegen zu fein. Mit ber Zeit gr: 
wann er hier unb in den flandrijden Städten 
eine Anzahl Agenten, die für ihn boten und 
ihm Nachrichten gufommen liepen, wenn 
bejonders foftbare Funde auftauchten. Die 
geriffenften Händler vermodten ihn nicht zu 
betrügen, und ganz felten nur ließ er fid) 
von einer Faljdung blenden. Er hatte eine 
zu gute Shule durdgemadt und einen 
fiheren Blid. 

Die Heimjchaffung der Begenftände machte 
ibm wenig Kopfjchmerzen. Zwar waren 
daran von feiten der deutſchen Behörden 
[dimer zu erfüllende Formalitäten getmiipjt. 
Aber er hatte feine Freunde in ben Lazarett- 
zügen, bie ihm RKijten und Kaften heimlich 
über bie Grenze jchmuggelten. Und es war 
jein Gíüd, dak alle diefe Rojtbarfeiten, 
Bilder, Stiche, Miniaturen, Gobelins, Berjer: 
teppidje, altchinefifches Porzellan, ;Delfter 
Fayencen, Spigen, Limoger Emails, Bronzen 
und Elfenbeinarbeiten verhältnismäßig wenig 
Raum einnahmen. 

Binnen einem Jahr raffte er ein Bers 
mögen gujammen. Aber je mehr dadurch 
bie Ausfiht wuchs, Annie zu gewinnen, 
dejto ungemejjener [teigerte fid) feine Hab» 
gier. Er war fanatifiert und verlor alle 
Vorliht. Und wenig fehlte, fo wäre er 
mitten in feinem glänzenden Aufitieg ge: 
Icheitert. Bon einigen Intendanturbeamten 
hatte er fich verleiten laffen, gewijje Arznei: 
mittel, deren Ausfuhr verboten war, in das 
bejegte Gebiet zu [Hmuggeln. Der Handel 
wurde ruchbar, eine Unterjuchung eingeleitet, 
die Betroffenen |djmer beftraft. Nur bem 
Eintreten feines Borgefegten, der fid) für 
feine Unjchuld verbürgte, hatte er es zu vers 
danten, daß er ber Berurteilung entging. 

Ziele Wochen des Bangens, als er feinen 
Ruin und feine Entehrung vor Augen fab, 
turierten ihn beinah. Es gab Stunden, wo 
er feinen Mabnfinn verfludte und fih jchwor, 
auf Annie zu verzichten. Aber dann genügte 
ein einziges Wiederjehen, um alle feine Bors 
füge zu zerjtäuben. In Deler Leidenjchaft 


see 030393039: SS Zwei Freunde Lee sl 437 


lag etwas von der Wut des Sammlers, der 
fein Herz an einen bejtimmten Gegenjtand 
gehängt hat und dafür zu jedem Opfer be: 
reit ijt, zugleich auch von der Narrheit eines 
Phantajten, ber nur feinen Traum liebt 
und halb [hon im voraus überzeugt ijt, dab 
ber wirtlide Belig ihn enttäujchen wird. 
Gene Stellung bradjte es mit jid), daß er 
mit der Heimat in regelmäßiger Verbindung 
blieb. Bald hatte er für den Gtappenbele: 
gierten Aufträge in Berlin zu bejorgen, 
bald einen Trupp Schweitern aus der Hei- 
mat abzuholen oder dorthin zurüdzuführen., 
Bei diefen Gelegenheiten verjäumte er es 
nie, bas Dewertbibe Haus aufzuluchen. 

Eine Zeitlang hatte Frau Dewerth von 
Hanjens Vermögen gelebt, bis Annie das 
gegen Einjprud erhob. Als dann Klaus 
im Belig größerer Mittel war, ftredte er 
ihr die nötigen Summen vor, damit fie die 
Hypothetenzinjen bezahlen und ihren Lebens: 
unterbalt bejtretten fonnte. Er wurde ber 
uneigennüßige Helfer im großen wie im 
Heinen, Bon biejen Dingen durfte Annie 
nichts wijjen. 

Als Annie bie Nachricht von Hanjens 
zweiter Verwundung befommen hatte, war 
De allen Einwendungen ihrer Mutter und 
den Bedenten des Hausarztes zum Troß 
Hilfsihweiter geworden. Und fie, deren 
Gejundheit und Lebensiibermut fih gegen 
jede Art von Krankheit und Leiden aufge: 
bäumt hatte, unterzog fid nidjf nur den 
niedrigften Hantierungen ohne Etel, jondern 
ertrug aud) beim Berbandwed)jel den Ans 
blid der Wunden mit einer GefaBtbeit, als 
wenn fie feit langem daran gewöhnt wäre. 
Als der Chefarzt über dieje Miderftandss 
traft fein Erftaunen äußerte, erwiderte fie: 
„Was man Debt, ijt ja nicht ein Hundertitel 
jo jhlimm wie das, was man fih in ber 
Phantaſie ausmalt.” 

Und dies war in der Tat bas Geheimnis: 
der Tag und Naht auf ihr laftende Drud 
der Angſt linderte fidh durch die gleichmäßig 
anftrengende Tätigkeit und die Nähe bes 
Leidens. Gie lebte ganz mit ihren Soldaten, 
wurde nicht müde, deren Erzählungen zu 
lauſchen, die weniger als von ben Cdjreden 
des Krieges von fleinen, harmlojen Begeben: 
beiten zu berichten wußten, und gab fid) 
ihrer Pflege mit einer Aufopferung bin, die 
ein wenig auch der abergläubijchen Hoffnung 
entíprang, daß das, was fie Diejen armen 
Berwundeten erwies, irgendwie dem fernen 
Geliebten zugute tommen müßte. 

Wenn Klaus und fie je zujammentamen, 
jo berrjdjte zwilchen ihnen eine Fremdheit, 
die nicht einmal die Miöglichkeit eines Streites 
auftommen liep. Und er gab ihr nie 


Gelegenheit zu irgendwelden Angriffen. 
Wenn er früher fi durch feine Ungeduld 
manchmal hatte hinreißen lajjen, jo zwang er 
lich jebt, da feine Hoffnungen nicht mehr uns 
möglich) waren, zur Borfid)t, ba er fih fagte, 
daß bie Zeit feine befte Verbündete fet. 

Im SFrühlomner fam Rudi für einige 
Tage auf Urlaub, und man gab ihm zu 
Ehren ein Meines Felt im Dewerthichen 
Haus, an bem aud) Annie teilnahm. Gie 
hatte ihre Schweſterntracht abgelegt und trug 
zum erftenmal feit ihres Waters Tode ein 
Delles Commertleib. Anfangs hatte man 
auf der Beranda geplaudert und die frohen 
Zutunftsausfidten be|prod)en, denn es ging 
wieder einmal das Geriidt von einem nabe 
bevorftehenden Frieden mit Rupland. Die 
Verhandlungen jollten jo weit vorge|d)ritten 
fein, daß man mit einem 3Baffenjtillitanb zu 
Pfingſten rechnete. 

Sobald dann aber die Mufitanten ers 
[dienen waren, wurden alle von einem 
wahren Tanzraujd) ergriffen. Und der fonft 
jo nüdhterne Rudi war der Ausgelafjenfte. 
Der Übergang war jo fdroff, dak Annie 
guerjt ein Gefühl ber Befremdung und bes 
Unredhts überwinden mußte. Tod) Hatte 
das, was fie vorhin gehört, ihre Stimmung 
wunderbar aufgebelt, Waffenjtilftand — 
das bedeutete ja die Auslieferung ber (Ge: 
fangenen! Das bedeutete, daß Hans bald 
wieder guriidfehren würde! 

Und während fie durch die geöffneten 
Sliigeltiiren des Gaales in den Garten 
hinausblidte, wo Rhododendren und Gold: 
regen aufleuchteten gleich frohen Gieges: 
zeichen und am blauen Himmel bie Wöltchen 
wie auf weißen Taubenflügeln binjegeltert, 
hatte fie das Gefühl, daß alle Freude in 
ihrer Bruft fid) binid)wingen könnte über 
Berge und Flüſſe und unendlide Ebenen bis 
zu dem fernfernen, unbefannten Ort, wo der 
Geliebte weilte. In diejer Stimmung ent» 
faltete fie Siebenswiirdigteit, fibermut und 
Mit wie nur je in ihren beften Tagen. Und 
wenn aus den vom Tanz und Wein er: 
bigten Gelichtern der Offiziere allzu unver: 
biillt das Bergniigen an ihrer Schönheit 
aufleuchtete, wenn fie ihr ein wenig zu ge- 
wagte Schmeicheleien fagten und fie fefter, 
als ber Wnjtand erlaubte, in den Arm 
nahmen, dachte fie nur: Es find ja Rames - 
raden von Haus. Morgen haben fie vielleicht 
ein ähnliches Schidjal wie er.‘ 

Der einzige, der nicht Uniform trug, war 
Klaus. Rudi hatte ihn auf bejonderen 
Munjch feiner Mutter eingeladen. Er war 
etwas fpáter als die andern gelonmen, und 
da er nicht tanzte, hielt er fic) met in ber 
Nähe von Frau Dewerth. 


438 FSE£SESESESSESCSEA Wilhelm Hegeler: IIIcH ZH HZ HH ZZ ZA] 


Geit einiger Zeit war er Teilhaber der 
Firma Broßmeyer & Quandt geworden. Dian 
jprad) viel von ibm in der Stadt, nicht 
immes Gutes. Er galt als einer derjenigen, 
die Durd) ben Krieg Hodgefommen waren, 
bod) im allgemeinen behandelte man ihn mit 
dem Reſpekt, den bie Welt dem Glüd zollt. 

Mit einem widerjpruchspollen Gefühl von 
Eiferſucht, Furcht, Hoffnung und höhniſchem 
Triumph fab er Annie zu, die feinen Gruß 
laum erwidert hatte und deren Augen mit 
einer unbewegten Gleidjgültigfeit über ibm 
wegglitten, als wenn der Stuhl, auf dem er 
jab, leer wäre. Sollte er jid) heute erklären, 
jollte er nod) warten? Bald wurde es ein 
Jahr, daß Hans vermißt wurde. Klaus 
war überzeugt, daß er gefallen fei. Jeden 
Mugenblid konnte irgendeiner diejer unifor: 
mierten Laffen Annie einen Antrag maden. 
Cie waren ja alle vom Berlobungsteufel 
bejefjen! Und Annie jah aus, als wäre fie 
jeder Tollheit fähig. 

Er wollte mit ihr [predjen. Gleichviel 
was immer! Cine PBauje trat ein. Er— 
frildungen wurden gereicht. Aber der Pla 
an ihrer Seite wurde nicht leer. Ta endlid 
ftand fie auf, um Auguft Weijungen zu 
geben. Is fie guriidfam, trat er an ihre 
Ceite. 

"34 babe Ihnen noch gar nicht guten 
Tag jagen Tonnen, gnábiges Fraulein.” 

„Sind Cie [hon wieder auf Urlaub?“ 

„Nur auf ber Durchreije. Aber wie id) 
fehe, haben Cie Urlaub genommen. Soffent: 
lid) bat man jet öfter das Vergnügen, Cie 
in biejer jo viel jchöneren Toilette zu febn.” 

„Das Vergnügen werden Cie fo bald 
nicht wieder haben. Sd) habe fie nur meinem 
Bruder zuliebe angelegt. Und den guten 
Nachrichten zu Ehren. Denn es gibt dod 
grieden !” 

„Glauben Gie?” 

„Sie tun faft, als wünjchten Cie ihn gar 
nit.” 

„IBiejo 2” 

„Sa dachte, der Frieden ftórte Sie piel: 
leicht in Ihren Gejchäften.“ 

„Da wäre id) ein jchlehter Kaufmann, 
wenn id) nicht lieber heute als morgen den 
Frieden Herbeiwiinjdte. Was willen Cie 
‚ übrigens von meinen Geſchäften?“ 

„Ale Welt jpridt ja davon — von Ihren 
Riejenverdienjten.” 

„sh fann dabei nichts Schlimmes fin: 
den.” 

„Geſchmackſache. 
Geſchäfte machen.“ 

„Ich erfülle zuerſt mal meinen Beruf. 
Und daß ich darin meine Pflicht tue, iſt 
Sache meiner Vorgeſetzten.“ 


Wenn andere kämpfen, 


„Natürlich. Mich kümmert's auch wirk— 
lich nicht.“ 

„Und wenn id) bie Konjunktur ausgenußt 
habe und ein vermögender Mann geworden 
bin — Gite wijjen ja, für wen id) bas tat.“ 

„Wie [oll ich das wijfen?” 

„Ich date, Cie erinnerten fid) an bas 
Gejprád, bas wir einmal hatten. Ich fagte 
Ihnen, id) wollte reid) werden. Nicht für 
mid) — für jemanden, ber mir höher [tebt 
als mein Leben.” 

„An bie denten Cie immer nod)?" 

„An bie werde id) immer denten.“ 

„Und was fagt fie?“ 

„Sie weiß nichts.“ 

„So [til blüht Ihre Liebe 2” 

„Sch jagte Ihnen damals, id) würde mid) 
nicht eher erklären, als bis ich reich wäre.“ 

„Und jeßt find Sies?” 

„Wenigſtens tann id) ben Anfprüchen aud 
eines giemlid) verwöhnten Mädchens ges 
nügen.“ | 

„Alſo Dann würde ich mid) doch er: 
fären.“ 

"3d weiß nicht, wie bie junge Dame 
meine Werbung aufnehmen wird.“ 

„Das hält bod) ben Mutigen nicht ab.” 

„Ich glaube, wirkliche Liebe mat furdht« 
fam.” 

Annie zudte die Achſeln. 

„Ih würde gern mit Ihnen Jpreden —“ 

„Mit mir? Was gehn mid) Ihre Herzens: 
geheimnifje an?“ 

Ihm oeren Schweißtropfen auf der 
Stirn. Cie ſchien völlig harmlos, und bod) 
abnte er Falljtride. Er ſchwankte gwifden 
Furcht und dem Wunſch, feiner Ungewißheit 
ein Ende zu machen. 

Da begann bie Mufit von neuem. Zwei 
Dffiziere eilten auf Annie zu. 

Der blutjunge Leutnant [toppte ehr: 
erbietig zwei Schritte vor ihr ab. 

Obne Klaus aud) nur anzujeben, Tieß fie 
fid) von dem Hauptmann fortholen. 

Die Stimmung wurde immer ausgelaf: 
fener. Wlöglih waren Rudi und einige 
jeiner Kameraden verjhwunden und febr 
ten als Damen verkleidet zurúd. Nun moll: 
ten fid) auch bie jungen Mädchen mastieren, 
Im Nu waren aus Truben und Rajten aller: 
hand Rojtiime gerijjen, und Frau Dewerths 
Schlafzimmer glid) bem 9Infleiberaum einer 
zigeunernden Schaufpielergejelihaft. Auf 
dem Rand der beiden Ehebetten faken bie 
jungen Mädchen in Untertaille und Höschen 
und freijdten, wenn die Tür aus Berjehn 
aufgerijjen wurde. 

Annie fam als holländilcher Filcher, die 
Ichwarzäugige Lila als Neapolitaner, in 
weißen, prall um die Hüfte fikenden Bein» 


> e poo ND Im 


SSES Zwei Freunde BRRR AAZ 439 


fleidern, rotem, tief ausgefchnittenem Wams, 
bas hochgeftedte Haar unter der feidenen 
Zipfelmüßge verborgen. 

„Sieht fie nicht aum Anbeißen aus?“ 
jagte Rudi zu feiner Schwefter. „Ich bin 
einfach weg! Sch made heute die größte 
Dummheit meines Lebens.” 

"Bas ift bir nur?” erwiderte feine Schwe— 
fter. „Du bunt ja ganz außer Rand und 
Band.“ 

"Ud, lag midj! In vierzehn Tagen bin 
id) vielleicht [hon tot. Muſik! Muſik! 
Oder id) ſchieße.“ 

Und wieder wirbelten bie Paare im Tanz. 
Draußen jdiimmerten [Hon die erjten Sterne. 
Kaum nod) fichtbar verglommen Rhododen- 
dren und Goldregen in der Dämmerung. 
Rudi und Lifa waren im Garten verſchwun—⸗ 
den. Als [te guriidfamen, 309g Lifa Annie 
in ein leeres Zimmer, fagte nur: „Rudi und 
id —" und fiel ihrer Freundin um den 
Hals. „Mein Gott, ich hab’ ihn ja jo wabn: 
finnig lieb. Ich babe ihn geliebt, als id) 
nod ein fleines Rind war... Nun muB 
ja Frieden werden!” 

nasa, es muß Frieden werden.” 

Rudi blidte Durch bie Tür. „Annie, gud 
mal!“ Und er erftidte Lija faft unter Küſ— 
fen. „Das ijt nämlich meine füße, fleine 
Braut.” : 

„Weiß Mama jdjon ?" 

„Der jagen wir bas Malheur erft morgen. 
Heut’ find wir reftlos glüdlich.“ 

„Rudi, wenn du uns nadjber nad Haus 
begleiteft, bleib ein bißchen in meiner Nähe, 
Sd möchte nicht mit Herrn Gbenjtod allein 


gehn.“ 
„Was will denn der?” 
„Nichts. Nur fo —“ 


Als dann endlich der Aufbruch fam, war 
es eine ganze Gejelljdhaft, die lachend und 
fingend durd den Bart zug, um Annie ins 
Rrantenhaus zu begleiten. Als man aber 
dort jchellte, öffnete niemand, und [djlteplid) 
erffárte Rudi, das einzig Verniinftige fei, 
daß Annie nad) Haufe aurüdfebrte. Cin 
Paar nad) dem andern verabjdjiebete fih. 
Schließlich waren Rija und Rudi, Annie und 
Klaus allein. Annie folgte dem Paar auf 
dem Fuß, als fie aber ben Dunklen Hof- 
garten Durchjchritten, waren die beiden plöß: 
lid) verjchwunden. 

„Es bat [Hon jo fein follen,” jagte Glous, 

„Es hat durchaus nicht jo fein follen. Sie 
haben mich einfach irregeführt. — Rudi! 
Rudi! — Go Helfen Sie mir dod rufen! 
Sch muB meinen Bruder finden.“ 

In dieſem Augenblid ftieß fie gegen einen 
Baum. Leuchtfäfer glommen aus dem Bufch: 
werf. Auf den fleinen Spiegel des Flip: 


hens ftreuten die Sterne zerrinnende Fünk— 
chen. : 

„Sehen Sie, alles Stufen hat feinen 3wed. 
Es gibt |djon fo etwas wie Fiigungen. Und 
id) wußte, heute ijt mein Cdjidjalstag. Cie 
erinnern fid) an unfer Ge[prád) vorhin?” 

„Und Sie hoffentlich aud, daß ich Ihnen 
jagte, Ihre Herzensangelegenheiten inter 
gieren mich nicht.“ i 

„Berzeihen Sie, aber in Dingen, bie ba 
Gdidjal eines Menjen entjcheiden, darf 
man wohl unhöflich fein. Ich [prad) Ihnen 
von einem jungen Vtädchen, das ich liebe. — 
Aber geben Gie adj, da find Bäume! 
Beben Cie mir lieber Ihren Arm.“ 

„Laſſen Sie! Sd) finde allein den Weg.” 

„Es war Mabnfinn, dak id) dies Miads 
den liebte. Cie gehört zu ben angejeheniten 
gamiliet der Stadt. Und wer war id? 
Cie willen, was für cin Unglüd mein Vater 
gehabt hat?“ 

„Unglück? Sch denfe, er hat Brand: 
itiftung begangen." 

"Jun gut. Jawohl. Er bat gejeffen. 
Und id) in bieler Lage ... ich liebte dies 
Mädchen. Wahnfinn! Wahnfinn! Ich wollte 
reid) werden. Ich Hätte ebenjogut König 
von Preußen werden wollen. Aber der 
MWahnlinn wurde Wirklichkeit. Sd) bin reich 
geworden! Meine Leidenjchaft gab mir die 
Kraft. Denn nidt um meinetwillen habe 
id) gearbeitet und große Einfáge gewagt, 
jondern ihr wollte id) alles zu Füßen legen. 
Sagen Cie mir, dak id) wahnlinnig bin. 
Sd) antworte Ihnen, wie id) bas eine er: 
reicht Habe, werde ich aud) das andere ers 
reichen, oder ich gehe zugrunde Denn es 
gibt für mid) fein anderes Lebensgztel.” 

„Aber warum foll ich bas alles anhören ? 
Warum foll ich herhalten, damit Sie an mir 
Ihre Liebeserflärung einüben ?“ 

„Ad, Sie willen bod) jehr gut, wer diejes 
Mädchen ift!” 

Cie blieb ftebn, [hwer atmend, als müßte 
jie zu einer Antwort die Kraft jammeln, 
Ihwieg einen Wugenbli und fagte dann 
ruhig: „Und ich frage Cie, willen Sie nicht, 
daß ich mit Hans verjproden bin? Mit 
Ihrem beiten Freund! Gie werden Jagen: 
nein, Sie wüßten es niht. Aber es ijt ges 
loger. Gie haben es gewußt.“ 

„Bewußt nicht, wohl aber geahnt. Ich 
tónnte Ihnen erwidern, daß ich ein volles 
Jahr gewartet habe, feitdem er vermißt ift. 
Sd) könnte Ihnen erwidern, daß id) in diefer 
Zeit alle menjchenmöglichen Schritte getan 
habe, um zu erfahren, ob er nod) am Leben 
ift. Überall Bat man mir erwidert: es ift 
jo gut wie ausgeſchloſſen, daß er nod) lebt. 
Gonft würde er Nachricht gegeben haben. 


lichen Intereſſen. 


440 Wilhelm Hegeler: BSSS33333333333I 


Cie werden jagen, daß ja ba und dort aud 


andere Vermißte wieder aufgetaucht find. 
Aber in ben meilten Fallen find das Beis 
tungsenten, von betriebjamen Reportern crs 
funden, um ihren Lejern rührende Gejchich: 
ten vorzufegen. GewiB ift es vorgefommen, 
daß Totgeglaubte zuriidgetebrt find. Aber 
dann handelte es fid) um gewöhnliche Col: 
daten, bie aus Indolenz nicht [d)rieben. Wher 
ein Mann wie Hans! Ein Offizier! Mit 
Geldmitteln verjehn! Sd) ſchwöre Ihnen, 
wenn er am Leben wäre, hätte er Ihnen 
Nachrichten zutommen laffen. Aber das 
alles will id) ja gar nicht fagen. Hundert: 
mal lieber wäre mir, Hans wäre nie ver: 
mißt. Hans wäre hier, und hier in feiner 
Gegenwart fónnte id) Ihnen jagen, was id) 
Shnen gejagt habe. Und id) würde auf feine 
Einwände erwidern: Ich habe ein Redt, 
meine Liebe zu geitehn, denn meine Liebe 
ift größer, zehntaujendmal größer als bie 
deine. GewiB haft du Annie geliebt. Aber 
neben ihr haft du andere geliebt, und es 
hat Zeiten gegeben, wo du fie vergeijen halt. 
Du wirft nicht zugrunde gehn, wenn du fie 
nicht befommft. 3d) aber gehe dran taput. 
Und barum ijt es fein Verrat, den id) be: 
gehe. Nein, nein, nein! Gie nennen es jo. Ich 
weiß, was Cie fagen. Ich tenne alle Ihre 
Einwände. Denn was id) Ihnen fage, habe 
ih Ihnen ja [hon hundertmal gejagt und 
Babe hundertmal alle Ihre Einwände wider: 
legt. Gite werden erwidern: Wenn Hans 
felbft Cie bäte, Cie follten bie meine wer- 
den, Sie würden nein jagen. Denn wer den 
Freund verrät, verrät auch die Frau. Aber 
das ift nicht wahr! Sch verrate ihn nicht. 
Denn ich weiß, es wäre fein Unglüd und 
das Ihre, wenn Sie gujammenfamen. Gie 
fönnen nicht glüdlid) miteinander werden, 
weil Sie grundverjchieden voneinander find. 
In Ihnen leben Inftinfte, denen er niemals 
genügen tann. Jawohl! Gie fragten mid) 
mal: Woher fennen Sie mid) eigentlid fo 
genau? Sd) tenne Cie fraft meiner Leiden: 
Ihaft. Weil id) Tag und Nacht über Cie 
nadgedadt babe. Ich tenne Cie beffer, als 
Cie fid) jelbjt tennen. Eine Weile mag das 
Leben, das er Ihnen bietet, Ihnen gefallen. 
Das jelbjtgenügjame Leben mit feinen inner: 
Aber eines Tages wird 
Shre wahre Natur fid) melden, die nad) 
Berjtreuungen, nach der großen Welt vers 
langt. Und dann wird er Gie an feinen 
Bücherſchrank führen und fagen: Dort ijt 
meine Welt. Gie werden vielleicht refigs 
nieren, aber glüdlich werden Cie nicht. Ich 
aber fónnte Ihre tiefiten Inftintte und Ihre 
legten Wünjche befriedigen. Es gibt fein 
Biel, das id) an Ihrer Seite nicht erreichen 


fonnte, Das mag ruhmredig flingen. Aber 
ein Menjch, ber vom Habenidts zu was gc: 
tommen ijt, bat wohl das Redht zu großen 
Morten. — Das ift mein Wahnfinn, meine 
Leidenjdaft, meine Liebe! Sch babe bas 
gegen angefampft und bin unterlegen, id) 
habe unjaglid) darunter gelitten und habe 
mid) unláglid) glüdlich gefühlt. Ale Bors 
würfe, bie Cie gegen mich erheben tónnen, 
babe id) mir jelbft gemadt. Und habe mich 
Ichließlich freigeiprochen, denn was die hid: 
ften und reinften Empfindungen in einem 
erwedt, tann unmöglich ein Verbrechen fein. 
Irgendwo ift es in den Sternen beftimmt, 
daß wir zujammengehören. Und alle Hinz 
dernijje, bie unferer Liebe entgegenftehn, find 
nur gejdaffen, um ihre Größe zu beweijen.“ 

Überlaut hatten feine Worte burd) bie 
tile Nacht geflungen, in ber nur bas Ieije 
Murmeln des Flujffes vernehmbar war. 
Mie ein unaufhörlich braufender Strom war 
feine Rede bingeraujht, und Annie hätte 
bis zum Schreien ihre Stimme erheben 
müjjen, wenn fie etwas hätte erwidern wols 
len. Aber fie war nicht fähig dazu. Ihr 
Atem war wie erjtidt, fie zitterte vor (Er: 
regung und war gleichzeitig betäubt unter 
diejen Worten, bie wie das glühende Fan: 
den eines Gauerftoffgebläjes auf fie ein: 
drangen. 

Und ploglid), als hätte er alles ausge» 
Iprodjen, als wäre er am Ende feiner Kraft 
und gänzlich leer, brad) er ab. Und erit 


nad) einigen Augenbliden fagte er mit ganz: 


lid) veränderter Stimme: „Nun ift es her: 
aus! Und was aud fommen mag, ich fühle 
mid erlöft. Cie haben mein Schidjal in ber 
Hand. Meinen Aufitieg oder meinen Unter: 
gang.“ 

Schweigend gingen fie nebeneinander her, 
bis ans Ende der Allee, wo fie im Schein 
einer Laterne Lija und Rudi gewabrten. 

„Wo habt ihr nur gejtedt?” fragte Lifa. 
„Wir haben euch überall gejucht.“ 

„Herr Gben[tod wird fid) verabidieden,” 
antwortete Annie, „Herr Ebenftod wird uns 
nicht länger begleiten." 

Klaus madte eine unbeftimmte Bewegung, 
als wollte er einem von den dreien Die Hand 
reichen, liiftete Dann aber nur den Hut und 
tebrte fid) um. 

Sobald Annie zu Haus angefommen war, 
entfleidete fie fid) in der Dunkelheit und ver: 
Irod) fid) im Bett, indem fie die Deden Bod) 
über ihr Geficht 30g, als könnte fie damit 
alle feine Worte erftiden. Aber nod) einmal 
fuhr fie hod) und frie, während fie auf die 
Bettdede ſchlug: ,Rommis! Du frecher Rom: 
mis! Du und die Gterne ...” 

88 88 & 


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Am alten Leuchtturm 
Gemälde von Otto D. Franz 


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— —— — 


PSSSSPESPLSLSLLSLSTSA Zwei Freunde BESSTSSSSTETSSTN 441 


Es war ein feuchtkühler Nachmittag, ohne 
Glanz und beinab aud) ohne Farbe. Selbjt 
die Zweige des blühenden Rotdorns hatten 
in ihrer VBerwajchenheit etwas Diifteres und 
erinnerten Annie, bie eilig Durch ben Hof: 
garten zur Feldftraße ging, an große Laden 
geronnenen Blutes. Als fie Das nad) der 
Straße binausblidende Zimmer der Frau 
Bolelmann betrat, das ihr, feitdbem Hans 
fort war, zu einer zweiten Sjeim[tátte ge: 
worden war, erhob fih die alte Dame und 
fagte: „Rind, fo früh? Hoffentlid) bedeutet 
das etwas Gutes.” 

„Wie gebt's dir, Mama?“ 


„Wie immer. Und bir?" 
„Nicht bejonbers. Nein. Gar nicht gut 
eigentlich.“ 


Und Annies Stimme, bie erft fo tapfer 
gcflungen, wurde immer leijer. 


„Erihrid nicht, Mama, id) muß bir etwas 


Trauriges mitteilen. Rudi ift gefallen. Heute 
morgen fam der Brief.“ 

Aller Millensanftrengung zum Trog brad) 
fie in Weinen aus. Mit einer rajden, ner: 
vójen Bewegung, als müßte fie eine momen: 
tane Verwirrung, eine Art Blutleere ver: 
Iheuchen, war Frau Bolelmann fih über 
die Stirn gefahren und geleitete dann Annie 
zum Sofa, wo [ie fih an ihrer Geite nieder: 
ließ. Nach und nad) erfuhr fie Einzel: 
beiten ... 

Wie immer um diefe Zeit bradte bas 
Mädchen den Tee herein und fragte, ob fie Licht 
maden folte. Aber Frau Bolelmann, Die 
die Dämmerung liebte, Jagte, es wäre nod) 
nit nötig. Nur das Fenſter ſollte ge— 
ſchloſſen werden. 

„Er war der einzige, der mir noch half. 
Nun habe ich nur noch dich.“ 

„Und deine Mutter.“ 

„Ja — Mama. Aber Mama und ich 
ſind in vielen Dingen ſo verſchieden. — Und 
ſie hat gar keinen Mut mehr. Ich muß ſie 
immer tröſten. Und das iſt jo ſchwer! Go 

Ihwer! Man möchte mandmal alle Hoff: 
nung aufgeben. Auch meine Soldaten find 
[o verändert. Wenn id) jebt einem Hoff: 
nung mache, er würde bald wieder gejund, 
fagt er nur: id) möchte gar nicht wieder ge- 
fund werden, id) muB bann ja bod) nur an 
die Front. — Ad), und wenn ich dente, wie 
froh waren wir nod) vor drei Wochen, als 
Rudi auf Urlaub da war! — Aber du gibjt 
die Hoffnung nicht auf? Nicht wahr, du glaubjt 
. nod) immer, dak Hans zurüdtommt ?“ 

„Kind, wenn ich das nicht glaubte, dann 
hätte id) ja gar feine Kraft gum Leben 
mehr.“ 

Eine Weile hörte man nur das Summen 
bes Majjers, und nahdem Frau Botelmann 


die Heine Flamme unter dem Teekeſſel auss 
gelojd)jt Hatte, war es ganz [till und fein 
Iichter Fled mehr in dem fühlen Zimmer. 
Nur das breite Fenfter mit feinen zerfließen« 
den Regentropfen fdimmerte wie ein Blod 
ſchmilzenden Eijes. 

„Du fagit, daß du dann feine Kraft mehr 
zum Leben hätteft. Aber das fann bod) der 
Grund deines Glaubens nicht fein. Gone 
bern du hältjt es an fid) für wahrjcheinlich ? 
Du bt ganz feft davon überzeugt, daß er 
guriidfommt ?“ | 

„Ich glaube es gang feft. Eines Tages, 
in einem Augenblid, wo id) es am wenig» 
ten vermute, wird er die Tür aufmachen 
unb ganz [till hereintommen. Co ijt mein 
Mann aud) einmal zurüdgelommen, als er 
von einer Dienjtreife folange ausblieb.” 

„Erzähl mir wieder von damals!“ 

rau Bolelmann begann zu erzählen, mit 
ihrer eintönig fließenden Stimme, alte Ge: 
Ihichten, die Annie oftmals gehört hatte, 
bie aber immer nod) diejelbe jänftigende und 
tröftende Wirkung auf fie ausübten. Oft 
war gar nicht Hans der Mittelpuntt, fon: 
dern aus einer noch früheren Zeit ftiegen 
Erinnerungen in der alten Frau auf. 

Es war nun ganz bunfel geworden, fo 
dak Annie nicht einmal mehr die Umriffe 
einzelner Dinge erfennen tonnte. Und wieder 
[pürte fie den leifen, ſüßlichen Geruch, diefen 
taum merfbaren Modergerudh, ber von bem 
welfenden Körper neben ihr ausftrómte. Er 
war fo ſchwach, daß ibm nichts Peinliches 
anbaftete. Cher war er wie eine zarte Pa: 
tina, bie über biejen Bejchichten aus alter 
Vergangenheit fdwebte, bie Dod zugleich 
wieder jo frijch Hangen, als wäre bas alles 
erft geftern gewejen, und dabei auch wieder 
verflärt von einer Reinheit und einem ries 
den, der einer ganz anders gearteten Zeit 
anzugehören fien. 

Und während Annie wie das ferne Ab» 
grollen eines verraujchten Gewitters in 
ihrem Herzen bie Yngfte, die troßigen 
Wiinjdhe und aufbäumenden Gehnjüchte, 
diefen ganzen trüb wogenden Kampf jo 
mancher fchlaflofen Stunde nachfühlte, Dachte 
fie, daß es gut fein miijje, lind und tröftlich, 
alt zu fein, das Leben vollendet zu haben 
und Erinnerungen hegen zu Tonnen wie 
ftille, [chine Flammen, die aus einem reinen 
Herzen leuchten. Sich dichter an bie alte 
Frau anjchmiegend, fragte fie: „Haft du nicht 
manchmal Sehnſucht gehabt? Denn eure 
Verhältniffe waren dod) anfangs febr eng. 
Immer diefelben paar Menjchen, bas muß 
bod) manchmal langweilig gewejen fein.” 

"Ja, Kind, das war es wohl. Und mand): 
mal haben wir uns fortgejehnt und haben 


449 FSSSSSSS5S35533 Wilhelm Hegeler: B=322232232222322223 


Pläne gejchmiedet von Reifen. Dann Holte 
mein Mann den Atlas, und ich Hatte die 
Wahl, ob es nad) Süden oder Norden gehen 
folte. Aber es fam damals nie dazu. Und 
eigentlich, jo rechte Sehniudt, bie Babe id) 
aud) nie gehabt. Cher mein Mann, Für 
mic) mar es mehr eine 3erftreuung.” 

„Ich glaube, id) werde and feine Sehn: 
judjt Haben. Und Reifen? Hans ift genug 
herumgefommen in ber Welt. Und id) auch. 
3d) habe fo chine Reifen gemadjt. Nein, 
wir werden ganz zufrieden fein, wenn wir 
fil zu Haus bleiben fónnen. Nur darf er 
mich nicht allein lafjen. Sonſt fiirdte id) 
mid, und Angjt habe ich genug ausgejtanden. 
Blaubjt du bas, was id) neulich im Lazarett 
hörte, daß jedem Menſchen nur ein gewiljes 
ViaB von Leid und Angft aufgebürdet wird, 
und Daß überall ein Ausgleich vorhanden 
it? Wenn dem jo wäre, dann müßte ich 
einmal nichts wie Glüd und Frieden im 
Leben erfahren.“ 

„Blüd und Frieden — nein, das gibt's 
wohl nicht immer. Wher ich dente, alles 
Reid, bas wir erdulden, ftártt uns, fo daß 
wir |páter einmal das Schwere leichter er: 
tragen.” 

„Blaubjt du? 3d) finde eher, daß Leid 
zermürbt. Ich bin manchmal jo des ganzen 
Mebens müde! Ich möchte mid) am liebjten 
hinlegen zu einem recht tiefen Schlaf, bis 
Hans vor mir Debt und ruft: Mad)” auf! 
Aber jo ein Dornröschenglüd ift wohl nichts 
für uns Menjchen.“ 

„Du liebe, arme Kleine!“ 

Und Frau Bofelmann, die jo zurüdhal: 
tend in ihren Zartlidfeiten war, zog Annie 
an jich und ftreichelte fanft ihre Wange. 

„Wir müſſen tragen, was der liebe Gott 
uns auferlegt, und wenn es noch fo jd)mer 
ijt. Uber wir haben bod) aud) die Hoffnung. 
Und in diefem Fall bin id) überzeugt, daß 
fie uns nicht betrügt. Gerade daß wir feine 
Nahriht von ihm haben, [djeint mir eher 
ein gutes Zeichen. Denn fie) mal —" 

Und wie wohl hundertmal [bon fnüpfte 
fie wieder den Faden, an dem fie beide, 
Mutter und Beliebte, jedes Fáferden [Hon 
fannten und den immer von neuem ¿zu pers 
fnüpfen [ie doch niemals müde wurden. 

Darauf nahm Annie Abjchied, wenn aud 
zu ſchwach, um fih an diejer Hoffnung auf: 
zurichten, fo dod) ein wenig getröjtet und 
beruhigt. 

88 


88 & 

Wis bann aber bas große Sterben über 
bie entiráftete Heimat fam, verlor fie aud 
diejen Halt. Annie pflegte die Krante und 
hielt bis zur legten Todesftunde bet ihr aus. 
Wenige Tage jpäter aber erfrantte fie jelbft 


ſchwer, und der Winter verging, ehe fie jo: 
weit wieder Bergejtellt war, daß fie auf der 
Veranda liegen fonnte. 

Eines Nachmittags jah fie einem Staren: 
paar zu, das in einem nahen Apfelbaum 
niftete, mit jo viel Anteilnahme und inner: 
Iidem Blüd, als wenn es nidts auf ber 
Welt gäbe als diejen jonnigen Fled vor 
ihr, den blühenden Baum und den mit jüpent 
Geplauder feinem Weibchen den Hof machen 
den Gtaren. 

An ihrer Seite jak Frau Dewerth, falopp 
angezogen, vergrámt, dide, graue Gtrábnen 
in dem fuchligen Haar. (Cie hatte ein Glas 
zwilhen ihren Knien und quirlte ein Ei. 
„So, Herzchen, nun ip!” 

Annie drehte jid) um, und nachdem fie 
verjonnen einen Augenblic lang bie Leder: 
bijjen auf dem weißgededten Tijd) betrachtet 
hatte, bie mit zartem Gdinfen und Lads 
belegten Weißbrötchen, die NRotweinflajche 
und die Schofoladetafeln, begann fie das Ei 
zu löffeln und Heine Biffen von einem Der 
Brótben zu nalchen. 

Md weiß febr gut, von wem bas alles 
fommt, und dennoch elle idj's. Mie ift das 
möglich?‘ dachte fie. 

Us Frau Dewerth jab, dak es ihrer 
Tochter jchmedte, fagte fie vorjidtig: „Kind: 
den, heute abend hat Klaus fid) angejagt. 
Ich möchte nur fragen, ob bu aufbleiben 
willjt 2" 

Annie ließ den erhobenen Arm finfen und 
jab ihre Mutter böje an. 

„Warum fagit du mir das? Du weißt 
bod), Daß mid) das aufregt.“ 

„Sch did) aufregen! Ich Habe nur ben 
einen Wunjch, daß du wieder gejund wirft.” 

„Dann [bid ihn fort. Er fol nët in 
unjer Haus.“ 

„Das tann id) nicht. Gr war |o aujmerts 
jam gegen uns, da fann ich nicht jo fchroff 
jein.” 

„Meinetwegen. Aber mid) laß in Ruhe!“ 

„Bewiß, Herzchen, du joljt tun, was du 
willit ... Komm, nimm nod) ein 3BiBdyen." 

Und bie Mutter begann ber mit gejdjloj- 
jenen Augen auf den Kiffen Liegenden den 
Rejt bes Gies einzulöffeln. Als Annie dies 
genommen batte, erhob fie fid) wieder und 
begann mit aujfgejtiigtem Arm langſam und 
dennoch heißhungrig ein neues Brötchen zu 
verzehren. 

„Das ilt recht. Nun wirft du auch wieder 
zu Kräften fommen.  Steidjfidje Nahrung, 
das ijt bie Hauptjade, jagt der Doktor.” 

„Und feine Gemütserregungen! Das ift 
ebenjo wichtig. Aber ihr müßt mich immer 
quälen.“ 

„Wer tut das denn?“ 


— — 











Fee EES Zwei 
„Ihr alle! Lija mit ihrem Merlobten. 


Soll fie ihn bod) heiraten und glüdlich fein, 
wenn fie Rudi jo [dell vergejjen fann. 
Aber id) mag ibn nicht jebn." 

„Und bod) ift er ein netter Menjd. Man 
tann nidts an ibm ausjeßen.“ 

„Natürlich! Alle find nette Menjchen. 
Wud Klaus. Aber wenn du mit Engels: 
zungen auf mich einredeteft, id) nähme ihn 
doch nicht.“ 

„Ah, Kind! Kind! Du weißt ja nicht, 
was du jpridjit. Du abnft ja gar nicht, wie 
ernjt alles ijt." 

„Sh weiß mehr, als du glaub[t. Sd) 
weiß ganz genau, daß die Lebensmittel von 
ibm ftammen. Wielleiht bat er bir aud 
ion Geld geborgt." 

„Ja, Rind, und die Wahrheit ift, daß 
wir einfach in feiner Hand find. Wenn er 
nicht ein fo großmütiger Menſch wäre, tónnte 
er uns morgen auf die Straße leben." 

„Bas?“ 

„So ift es! Die Hypothefen auf unjerm 
Haus hat er übernommen. Und er hat mir 
nod) eine neue gegeben. Und weil id) die 
3infen nicht aufbringen fonnte, babe id) ihm 
die Möbel verpfändet. Es gehört einfa% 
alles ihm.“ 

Erihroden war Annie aufgefahren. 
„Dama, um Gottes willen, wie haft du bas 
tun Tonnen Wir Hatten bod) Geld von 
Hans.“ 

„Du wollicit bod) nicht mehr, daß id) 
davon nahm. Und bu abnft ja nicht, was 
deine Krankheit gefoftet hat.“ 

„Ach, bas ift nicht gut! Das ift nicht gut! 
Mein argfter Feind hatte ja nicht jdlimmer 
handeln können.“ 

„Wenn Klaus nicht geholfen hätte, dann 
hätten wir [hon zu Beginn des Krieges 
herausgemupt.” | 

„And nun leben wir von feiner Gnade!” 

„Sa, Rind, aber mir mußt du feine Schuld 
geben. Ich habe bie Verhältnijje nicht ge: 
jchaffen.. Du weißt felbft, wie id) gejpart 
und gejpart habe.“ 

„Ach, du but ſchlecht!“ ſchrie Annie außer 
fid). „Ach, ich wollte, ich wäre did) los und 
allein!“ 

Frau Dewerth erhob fih, und während 
die Falten um ihren Ichlaffen Mund jid) nod) 
ein wenig länger Dinuntergogem, erwiderte 
fie: „Das fannft du vielleicht eher haben, 
als bu denkſt.“ Damit erhob fie fid) und 
ging ins Haus. 

Annie lag da, mit jagendem Atem, in 
unjáglidjer Angjt, als wenn ihre Bruft ein 
einziges Hammerwerf wäre, das bis in ihren 
Hals, bis hinauf zu den Schläfen dróbnte. 
Allmählich wurde fie ruhiger, aber die Angjt 


Freunde B3233323333333339 448 


gitterte immer noch nad und gebot ihr, an 
nichts zu denten, fic) nur nicht zu rühren. 
Und wieder blidte fie mit jtiller Hingegeben= 
heit dem verliebten Spiel des Starenpaares 
zu. — Als dann fpáter ihre Mutter zurüd: 
febrte, ftredte fie ihr die Hand Hin umb bat 
Jie wegen der harten Morte um Berzeibung. 

„Ja, Kind, id) meine es wirklich gut. 
Nie — nie werde ich did) zu etwas zwingen, 
was gegen deine Natur geht. Und glaub’ 
mir, bas will aud er nidjt. Mir [prachen 
noch geftern davon. Da fagte er mir, wie 
gut er verjtebt, daß du Hans nicht vergejjen 
fannft. Er verlangt ja auch wirklich nichts. 
Es jcehmerzt ibn nur, daß du ihn nicht ein: 
mal jehn willit.“ 

„Schön. Ich will aufbleiben.“ 

Der Abend verlief weniger jdjfimm, als 
Annie gefürchtet hatte. Sie tranf ein wenig 
Bromwaffer und vermochte mit Ruhe, ohne 
eine Spur jenes alten Haſſes, bie (Gegen: 
wart bes Gajtes zu ertragen. 

In ber nüdjten Zeit tam Klaus beinah 
täglich, und als fein Urlaub abgelaufen war, 
ließ er ihn verlängern. Annie empfing ihn 
jtets auf ihrem Liegeftubl im Garten, und 
immer hatte fie ein großes Bild des Ge: 
liebten auf dem fleinen Tijd neben fic ftebn. 
Oft, wenn fie allein war, blidte fie es ver: 
jonnen an und wunderte fih, dab Hans ihr 
nicht mehr mit ber Sebendigleit wie früher 
vorihwebte und daß bei bem Gedanken an 
ihn die Empfindungen von einft fid) faum 
noch regten. ’ 

Wher alles in ihr war nad) ber Krant: 
heit matter geworden, ihre Phantafie wie 
ihr Empfindungsleben. Und fie wollte fid 
nidt quälen und abmühn, fondern nu 
Schmerzlos hindämmern im CGonnenlidt. 
Auch ihr Sujammenjein mit Klaus war 
faum etwas anderes. Er verftand niht die 
Kunſt, gefällig zu plaudern. Nach einem 
furzen Anlauf, bei dem er dies und jenes 
erzählte, was er fid) vorher zurechtgelegt zu 
haben ſchien, geriet er gewöhnlich darauf, 
von feinen gejchäftlichen Plänen zu jprechen, 
um Dann, als wenn er felbft empfánde, daß 
dies nicht bas Richtige fei, in immer längeres 
Schweigen zu verfinfen, Go famen bie bei: 
den ſchließlich darauf, fid) die Zeit mit einem 
harmlofen Spiel zu vertreiben. Und mand): 
mal fühlte Annie ganz verjtohlen fid) etwas 
regen, was über diejen Liebhaber jpottete, 
ber nad) feiner Berjicherung jo von Leiden: 
Ichaft fod)te und nun nichts Belleres wußte, 
als mit ihr Domino oder Mühle zu fpielen, 
wie wenn fie beide Kinder oder alte Leute 
wären. 

Klaus hatte einige Tage verreijen miijjen, 
Als er guriidfehrte, war er in Trauer. Er 


444 [SSSS Wilhelm Hegeler: Zwei Freunde B2232332323232321 


fam von feines Baters Beerdigung. Als 
Annie fich nad deffen legten Lebensjahren 
erfundigte, erzählte er ihr zum erftenmal 
etwas Näheres von jeiner Tat und fagte: 
„Bewiß, von Rechts wegen mußte er beftraft 
werden. Aber vom Standpuntt einer höheren 
Berechtigfeit trifft ihn feine Schuld. Das 
Motiv feiner Tat war übermäßige Liebe. 
Und ich meine, das müßte man adıten.“ 

Annie wartete einen Wugenblid in ge: 
Ipannter Angft und atmete befreit auf, als 
er mit feinem Mort auf feine Leidenichaft 
zu ihr anjptelte, fondern von anderen Dingen 
Iprad). 

Eines Tages erfuhr fie zufällig, dab Frau 
Bofelmanns Haus wieder vermietet fei und 
jagte zu ihrer Mutter: „Ach, wir werden 
unfer Haus ja auch bald verlafjen miijjen. 
Unjer |djónes Haus! Das wird ein trauriges 
Leben fein in einer Mietswohnung!” 

„Darf id) bir mal was jagen?“ fragte 
ihre Mutter. „Aber du mußt nicht gleich 
wieder böje werden, Klaus hat einen großen 
Herzenswunjdh: er möchte dir das Haus 
ſchenken.“ 

„Unſer Haus? Er iſt wohl verrückt!“ 

„Er will die Hypotheken auf deinen 
Namen ſchreiben laſſen. Dann wärſt du die 
Beſitzerin des Hauſes.“ 

„Aber daran iſt ja nicht zu denken,“ er— 
widerte Annie, Cie fagte es lächelnd, ohne 
jede Erregung. 

Zu ihrem Geburtstag |djenfte Klaus ihr 
einen Ebenbolztaften mit einer alten Elfen: 
beinjdnigeret, Als er dann nachmittags 
jelbft fam, um ihr zu gratulieren, bebantte 
fie fih für bas ſchöne Geſchenk. 

„Sch muß Ihnen danten, daß id) es Ihnen 
habe jchenfen dürfen,“ erwiderte er und tüpte 
ihr die Hand. 

„Es ijt wirklich jehr nett,“ fagte fie kühl. 

„Haben Sie es [Hon genauer betradjtet ?“ 

„I dente bod." 

„Gang genau?” Dabei drüdte er auf eine 
Geheimfeder, worauf der Boden auf[prang 
und darunter ein Attenftúd fichtbar wurde. 

„Was ift denn das?” 

” Selen Cie nur!“ 

Cie überflog den Inhalt und begriff in 
ihrer Verwirrung ſoviel, daß es ſich um einen 
Kaufvertrag handelte. Er hatte das elter— 
liche Haus ihrer Mutter abgekauft. In einer 
zweiten angehefteten Urkunde aber machte 
er es, frei von den darauf laſtenden Hypo— 
theken, Annie zum Geſchenk. 

Ein Lächeln, das affektiert war, leicht— 
fertig ausſehn ſollte und, wie es ſeine ganze 
verzweifelte Leidenſchaft verriet, doch er— 
greifender wirkte, als die Gabe ſelbſt, zitterte 
auf ſeinen Lippen. 


„It's all I have,“ fagte er obenhin. 

Cie lehnte fid) zurüd und preBte, um eine 
ungejtüme Wallung zu unterdrüden, ihre 
Hand gegen bas Gelicht. 

„Sie madden mid) ja fo glüdlih! Ih 
dante Ihnen! Ich dante Ihnen!” flüfterte 
er und bajdte in einem Hub den hellen 
Tropfen von ihrer Wange. 

Als nad einer Weile ihre Mutter wieders 
fam, verjdjlop er ben Kaften und bat fie, 
nicht davon zu Jpreden. 

Am náditen Tag aber zeigte er ihr zwei 
mit Saphiren geijhmüdte Ringe, indem er 
nur fagte: „Sieh — feben Cie, Annie, das 
habe id) mitgebracht“, und nad furgem 
Zögern, ohne weitere Erklärung, bleich, mit 
einem Ausdrud niht wie ein glüdlicher 
Bräutigam, jondern — fo empfand fie es — 
wie ein Operateur, ber einen legten ents 
ſcheidenden Meſſerſchnitt wagt, [hob er den 
Ring auf ihren Finger. Und fie liek es fid) 
gefallen, in einer ihr felbjt rätjelhaften Willen» 
lofigteit und Schwäche. 

Dann mußte er abreifen, aber er fdrieb 
jeden Tag und nannte [ie in [einen Briefen 
Beliebte Annie und Du, Gie ließ durd ihre 
Mutter antworten, indem fie vorgab, nod) 
zu matt zum Gchreiben zu fein, obwohl es 
ihr jeden Tag beller ging, und nur auf be: 
jonderes Drängen fügte fie diejen Briefen 
turze Grüße unb Nadidbrijten Hinzu. 

Als Klaus dann aber wiederfam, Hatte 
jie (id) mit ihrem Schidjal abgefunden. Gte 
hatte nur nod) ben Wunjch, wenn nicht glüd» 
lid), jo bod) [till und in Frieden mit fid) 
jelbjt zu leben. Die ganze Zeit jeit dem 
Ausbruch bes Krieges lag hinter ihr wie 
ein langer Kampf, der ihre Kräfte völlig 
aufgezehrt batte, Alles, was fie daran er» 
innerte, verurjadte thr Pein, als wäre fie 
damals eine andere, über ihre Kraft hinaus» 
gefteigerte gewejen, und als tónnte irgend: 
eine geheime, feindjelige Macht fie wieder 
zwingen, Diejer Menſch nod einmal zu 
werden. Gie wollte nichts mehr vom Krieg, 
nidis mehr von Giegen hören, und wenn 
jie Bermundete jab, ging fie ihnen ängitlich 
aus dem Wege. 

Am liebften hätte Annie es aud) als Braut 
bei Domino und Brettjpiel belajjen und bei 
der Hochzeit in unbeftimmter ferne. Aber 
Klaus veritand auf geldjidte Art, indem er 
jie überrumpelte, feinem Ziel immer näher 
zu rüden. Nur als er ben 3Boridjlag machte, 
baB die Hochzeit [bon in vier Wochen ftatt: 
finden folte, fuhr fie auf und erflärte, vor 
Weihnadten jet nicht daran zu denten. 

Er bat und flehte und wurde auf einmal 
beredt, lenfte bann aber, als er ihre Auf» 
regung bemerkte, jchnell wieder ein und er: 


— — — — 





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446 ESSE Wilhelm Hegeler: 


Härte fic) mit dem Termin zwijchen Weihe 
nadjten und Neujahr einverftanden. 

Auf gut Glúd hatte fie Weihnachten ge: 
nannt, denn jebt war Mittjommer und der 
Winter nod |o fern. Aber in ber ftillen 
Ereignislojigfcit gerrannen Wochen wie 
Tage. 

Klaus fam nun wieder jeden Abend, und 
es wur vorbei mit Domino und Mühleſpiel. 
Er fühlte (id) als Bräutigam und verjudte 
(id in Zärtlichkeiten. Aber diefer fo robufte 
und rüdjichtslofe Menjd Hatte eine mert, 
würdig unmännliche, zugleich-demütige und 
qualerijde Art, Liebfojungen zu erweijen. 
Oft, wenn fie (id) unterhielten ober fid) an: 
ſchwiegen, merkte fie, wie die Begebrlichteit 
in feinen Augen aufglomm. Und langjam, 
mit aufregender Langjamfeit näherte er [id) 
ihr bann, zögerte nod) auf ihrem Mund, 
ehe feine Sippen ihn berührten, und ¿udte 
dann gleich zurüd, als wenn er bádjte: ‚Es 
ift geglüdt!! Dann tüpte er fie, in furzen 
SBaujen mehrere Tiale, wie ein Raucher die 
eriten Züge aus einer Zigarre tut und nad) 
jedem Zug fid) lagt: ‚Wirklich eine ausgezeid- 
nete, eine ganz hervorragende Zigarre ...' 
Manchmal wurde er aud) feurig, bejtürmte 
De mit feinen Liebfojungen und jchien [id) 
ganz zu vergejfen, aber jie fühlte das tiinfts 
lid) Gemadjte, und wie er fih Gewalt antat 
und ganz falt dabei blieb. Und in der Tat 
tniipfte er nad) ſolchen Wugenbliden die 
Unterhaltung plößlich, ohne jeden Übergang, 
ganz nüchtern mit irgendeinem gleichgül« 
tigem Thema wieder an. 

Jn ihr aber bewirkte dieje Art bes Ge: 
niepens eine unbeilvolle Teilung und 3er: 
reißung ihres Wejens. Während ihre Sinn: 
lichkeit manchmal erregt wurde, flumpte fih 
unter ihrem Herzen zugleich) eine jchwere, 
fteinerne Traurigkeit und Angjt gujammen, 
als wenn iht ganzes menjchliche Gefühl fih 
in den ffeiniten Raum verfroden hatte und 
in diejer GepreBtbeit wahnjinnige Schmerzen 
ausjtände. 

Und bas eigentlid) Fürchterliche Diejer 
Stunden war niht, bap Klaus ihr fremd 
blieb, ihr immer fremder wurde, ihr faum 
nod) wie ein Menſch vorfam, jondern fie 
felbjt wurde fid) entfremdet, fühlte jid) wie 
eine Majchine, in der irgendeine Feder ſelbſt— 
tätig wirkte, während alles übrige leblos 
unb nur ein Befäß der Angjt und Traurig: 
feit war. 

Ziele fteinerne Schwermut Ioderte fid) 
auch nicht mehr, wenn fie allein war, fondern 
die Rrujte, die ihr Leben erftidte, wurde 
immer ¿úber und fejter. Mit Grauen dadte 
fie an ihre Ehe, wenn bieje Fron fid tag: 
aus, tagein wiederholte und jie ganz in feiner 


Hand war. Oft hätte fie ihn anjchreien 
mögen: Get bod) ein Mann! Rig mid) bod) 
ordentlich! Bad zu, dak id) mich vergelje! ... 
Wher wie konnte fie das Ddiejem fremden 
Menfden jagen? Zwiſchen ihnen beiden 
beftand ja nicht bas: id) bin dein und du 
bift mein! Sondern fie gehörte ihm, weil 
jie von feiner Gnade lebte! Cie hatte jid) 
jelbft erniedrigt und fih ihres Perſönlichſten 
entäußert und zu nichts mehr ein Redt. 

In diejen dunklen Novembertagen begann 
das über die Schwelle ihres Bewußtjeins 
zu treten, was fich [fon lángft in ihrem 
Unterbewußten gebildet hatte. Eines Mors 
gens, als ihre Mutter ihr wie gewöhnlich 
bas Frühſtück ans Bett brachte, fragte fie 
die Tochter bejorgt, wie fie gejdlafen hätte? 
„But. Wenigitens nicht jchlechter als jonit. 
Warum ?“ 

„Sn der Macht Halt du ein paarmal ge» 
ftóbnt. Wud) mal aufgeldrien. Haft on 
vielleicht jdjledjt geträumt?” ` 

„Nicht daB ich wüßte.“ 

Nachdem Annie in ber nadften Nacht 
Jhon ängſtlich und lauernd eingejchlafen 
war, wacdte fie plóglid von einem ganz 
furdtbaren Traum auf, mit einem joldjen 
Angitgefühl, daß fie, bie Arme um die hod= 
gezogenen Sie gefchlungen, aufrecht fiken 
blieb, um nur nicht wieder einzujchlafen. 

Cie war über die Gtraßen gejchleppt 
worden, von wem wußte fie nicht, aber ihre 
Mutter ermunterte fie: „Geh doh! Geh 
dod)!“ Gie aber widerjtrebte, ftemmte mit 
legter Kraft ihre Füße gegen das Pflafter, 
denn fie war im Nadbtgewand... und dens 
nod) mußte fie vorwärts, angegafft von 
höhniſchen Mienjden... nein, es war nicht 
auf der Straße, jondern in einer Kirche, die 
Orgel dröhnte, fie hatte ein weißes Braut: 
Heid an, und ihre bloßen Füße glitten auf 
den eijigen SFliefen aus, und alle Bánte 
ftanden voller Bekannten, und vor ihr, mitten 
auf den Fliejen, lag ihr Vater, mit bläulich 
Ihwarzem Gejidt, und fein zyflopenhaft 
erweitertes Auge quoll vor höhniſcher Freude 
heraus, während es auf fie und zugleich auf 
Klaus |djielte, ber ernit, forrett am Altar 
auf fie wartete. 

Ahnliche Träume verfolgten fie aud) die 
nadjten Nächte. Wermöge ihrer Angjt ge: 
lang es ihr manchmal, fie zu unterbrechen. 
Dafür lag fie dann ftundenlang jchlaflos, 
und tagsüber lajtete die monotone Traurig: 
feit auf ihr. 

Eines Tages bat fie Klaus, die Hochzeit 
bis zum Frühjahr zu verjchieben. Aber er 
berief jid) auf ihr Verjprechen, auf den Arzt, 
der gejagt hatte, nad) der Hochzeit würde 
ihr Zuftand fic beffern. Zum erjtenmal gab 


SSES SES) Zwei Freunde BZZZZZZZZZZZZ 447 


es ¿wijben ihnen Gtreit und entjchlüpften 
ibm bittere Morte, Gie fügte fid), erklärte 
nur mit verftodtem Ausdrud, er würde es 
noch bereuen, ihr 3uftand würde fid) nad) 
der Hochzeit durchaus nicht beffern. 

Cie war davon überzeugt. In unbejchäf- 
tigten Augenbliden drehten fih ihre Ge: 
banfen immer um die Frage, ob der Traum 
dieje Nacht wieder tommen würde oder nicht, 
und [ie fiirchtete verriidt zu werden. Wenige 
Tage nad) btejer Auseinanderjegung erjchien 
Kifa plóblid) bei ihr und erzählte, daß fie 
Klaus getroffen hätte. Cie wäre beinah 
eine Stunde mit ibm fpazieren gegangen, 
und jchließlich hätte er ihr fogar Blumen 
gelauft. Annie wäre bod) nicht eiferjüchtig? 
Er wäre ja ein ganz hervorragender Menſch! 
Schon als Junge jo aufgewedt und unter» 
nehmend. Aber dieje Entwidlung hätte ihm 
Dod niemand zugetraut. Die Freundinnen 
beneideten fie alle um die glänzende Partie, 
freuten fid) aber aud) [bon auf die jpätere 
Zeit. Gie würden dod ficher ein großes 
Haus machen. 

Annie hörte fie an, mit diejem vergrübelten, 
binterbáltigen Ausdrud, den fie jebt oft 
hatte, gab nur dann und wann ein furges: 
„So?“ ,Glaubft du!” zur Antwort und 
dachte immer, das alles fage Lija nur, weil 
fie von Klaus beftoden fei. Es gab ja 
feinen Menſchen mehr, der es ehrlich mit 
ihr meinte, fundern alle nahmen für Klaus 
Partei und juchten fie dorthin zu zerren, 
wohin er fie haben wollte. 

Eines Nachmittags fap fie ganz wunb: 
geldenuert von bem overgebliden Auf: 
begehren in ihrem Zimmer, und damit fie 
nur irgend etwas tat, ging fie an ihren Ge: 
tretár, um aufzuräumen. Durch die feuchten 
SFenftericheiben fiel nebliges Novemberlicht 
mit fein ſprühendem Regen und finfenden, 
vergilbten Blättern, die hoffnungslos müde, 
bereit jdjienen, in Schmuß und Schlamm zu 
zergehen. Das befte war ſchon, alles, was 
an frühere Zeiten erinnerte, zu vernichten, 
dachte. Annie. 

In einen Cdjubfad) lagen, mit Bändern 
per|djnürt, die Briefe von Hans. Darauf, 
in einem gugeflebten Umjchlag, feine Bilder. 
Cie hörte aus der Ede die Flammen im 
Ofen blaffen, und dachte, biejer Umſchlag 
jet au groß, fie miijje thn erft zerreißen, und 
wunbderte fih, daß fie es nicht tat, denn was 
er verjchloß, bedeute ihr eigentlich nichts 
mehr, feine Erinnerungen, feine Empfins 
dungen, hóditens Unbehagen, als wenn bod) 
irgend etwas Lebendiges nod) daran Jet, das 
man nicht gerreipen dürfe, 

Und ftumpf, olme Gedanfen fajt, blidte 
fie auf diejen gelben Umjdlag, unter dem 


He die hartfantigen Ränder der Bilder fühlte. 
Mad und nad aber wurde aus ber zer: 
Ihlagenen Mattigfeit eine bejänftigende 
Ruhe, ihre Hand lag ganz [till wie in einer 
andern Hand, während ihre Züge fic zu- 
gleich von innerem Aufhorchen leije belebten. 
Nah einer Weile aber — jebt Hatte ihr 
Belicht einen liftigen Ausdrud wie als Kind, 
wenn [ie etwas Berbotenes tat — verſchloß 
He ihre Türe, drehte Licht an, zog die Bor- 
hänge zu und löfte von einem Stapel Briefe 
das Band. 

Die erjten las fie wie eine jchöne fremde 
Gejdidte. Mehr und mehr aber fam ihr 
¿um Bewußtjein, daß fie es war, bie alles 
dies betraf, und daß Hans es gejd)rieben 
hatte. Manchmal lächelte fie gag, wie unter 
Ichmeichelnder Liebfojung, neigte fic) ab: 
webrend, wehrlos in  DeiBem Schauer, 
Ichüttelte den Kopf, murmelte mit bod) ent: 
glidtem Widerjpruch: „Nein, nein...” Dann 
wieder richtete fie fid) auf, ganz Flamme 
und feierliches Strahlen. Wenn fie einen 
Brief beendet hatte, nahm fie fic nicht Zeit, 
ihn zulammenzufalten, jondern ergriff [hon 
ben nädjiten, deffen Blätter fie bebutjam 
Ichnell glatt [tridj. Einen nad) dem andern 
las fie mit fliegenden, gezügelten Augen, 
jog durftig das warme Blut diefer Seiten 
in fid) ein, und ihr gefnebeltes Herz weitete 
fid, ſchlug wieder feinen freien, freudigen 
Bang. 

Nun lehnt fie fih zurüd, gang durchglüht 
und ganz belänftigt von dem Gefühl, daß 
jie in Diejer toten, feindlichen Welt Die 
Stimme eines Menſchen gehört bat, reißt 
den großen Umſchlag auf, fiebt feine Bilder... 
und erinnert fid), daß fie aud) von ihm ge: 
träumt bat: hinter einem Muſſelinvorhang 
oder hinter Gitterftáben Honn er, tot, nur 
in den Augen war nod) Leben und eine fo 
anflägerijche Traurigfett, daß [te fid) davor’ 
nod) mehr fürdjtete als vor dem Haßblid 
ihres Baters. Aber jet fteht der Lebendige 
vor ihr und jpridt zu ihr mit der Stimme 
eines Freundes und Tröjters, wie er jchon 
einmal im Garten gejproden hatte. „Blaub’ 
doh an did)!“ mahnt er. „Blaub’ an deinen 
Gtolz, an bie reine Kraft deiner Liebe! Du 
Bait aus Wahn und Traum dir Schuld er: 
grübelt, die gar nicht exijtiert. Du dentit, 
hätte id) meinen Bater nicht. bejtoblen, jo 
wäre ich nie mit Klaus zufammengefommen 
unb er wäre nie in diefe Meibenjd)aft ver: 
fallen. Aber bas ift ja 9Babnjinnsgejpinit! 
Ebenjogut fónnteft du Dich befchuldigen, 
weil ich in den Krieg gezogen und gefallen 
und du frant geworden bijt. Deiner Schwäche 
unb $Silflofigteit but du erlegen, haft dich 
fangen laffen unb tobft nun in ratlojer 


448 ees Wilhelm Hegeler: see 


Qual. Aber das but ja gar nicht bu, 
Du — wahrhaft du — lebft bier in Delen 
Briefen...“ 

Und fie fiebt fich felbft wieder, wie er fie 
geträumt, gedeutet, geformt hatte, mit folder 
Berfiibrungstraft und -funft, daß fie wirt: 
lid) fein Geſchöpf geworden war. Aber in 
diefem Wiedererfennen liegt nichts von dem 
Schmerz eines Kranten, der fein Bild aus 
gejunden Tagen fieht, fondern nur das (Glod 
zurüdgejchentten Lebens, denn fo ftart wirkt 
aud) jegt nod) bie Magie feines Willens, 
baB bie Vergangenheit fic wie helljter Tag 
umgibt, daß ihr ift, als hielte er feinen Arm 
um fie gejchlungen, und während fie aus: 
tubt in Geborgenjein, glaubt fie an feiner 
Bruft zu liegen, riecht den leijen Tabats: 
gerud) und wird von feinem warmen Atem 
umfächelt. 

Weit bu nod, Annie?... Grinnerjt du 
bid) nod, Annie? ... Viele Sake in den 
Briefen beginnen fo. 

Ja, fie weiß es nod! Sa, fie erinnert 
fid! Mit einemmal ift alles wieder ba. 

Der Mond glänzt. Gilbern Debt der ge: 
wölbte Baum, und in gebändigter Erregung 
fließen feine Worte in ihr Ohr, und aus 
dem Dunte, fenit fein Mund jid) zu ihrem 
hinab. Im linden Feuer der Herbitjonne 
glühen die Blumen, inmitten prangender 
Apfel figen fie beide auf dem 9tajen, und 
indes er ihr einen Zweig aus dem Haar 
Itreicht, find [ie von ihrer Liebe Wohlgefühl 
umjtrömt. Und fie figen, von einem abend» 
lien Gang beimtebrend, auf einer Bant 
im Hofgarten, jehen im Zwielicht Menfden 
vorübergehen, ahnen ihre neugierigen Blide 
und feben fie nicht, hören ihre Schritte und 
vernahmen fie nicht — von biejer Menſchen— 
nähe noch mehr entrüdt in ihre Einjamfeit 
und Cingigfeit. 

Alles ift wieder da, reißt [ie empor, daß 
Jie glaubt, fie müjje wie eine Wolfe zergehn, 
und liegt bod) zu ihren Füßen als eine ſchöne, 
wirkliche Welt. 

Als enblid) das Mädchen podjte und fie 
gum Abendeſſen rief, waren vier lange 
Stunden vergangen. Gie antwortete, [ie 
time jofort. Gie jprang auf und verjchloß 
die Briefe. Sie madjte ein wenig Toilette. 
Cie fühlte ftd) fo leicht, jo ftart! Mie um: 
gúrtet mit einer munberjamen Riiftung... 
Cie freute fid) auf bie Nacht! Auf die lange, 
ftille Nacht! Sie würde an ihn denten. Und 
lejen würde fie. Sie jehnte jid) nad) Büchern. 
Wie betäubt und verdiftert war fie gewejen, 
daß fie nicht früher an fie gedacht hatte! Und 
wenn fie müde vom Lefen war, würde fie von 
ihm träumen. Bon ihm, dem Lebendigen! 
8j ES 8 


An dieſem Abend ſchien Annie offener 
und teilnehmender als je in der letzten Zeit, 
und Klaus, höchſt erfreut über dieſe Wand— 
lung, benutzte die Gelegenheit, das Geſpräch 
auf die Vorbereitungen für die Hochzeit zu 
bringen. Auf ſeinen Wunſch nannte ſie eine 
Reihe ihrer Bekannten, die ihre Mutter noch 
ergänzte, und der Klaus einige Herren ſeines 
Bekanntenkreiſes beifügte. Beim Abſchied 
dankte er ihr, daß ſie ſo reizend geweſen ſei 
und meinte mit überlegenem Lächeln, ſie 
würde ſehn, daß er doch noch recht behielte. 

Aber ſie hatte nun das Mittel gefunden, 
durch das ſie ihrer verhaßten Umgebung 
entfloh. Sie brauchte ſich zur beſtimmten 
Stunde nur in ihrem Zimmer einzuſchließen, 
ſo war ein geheimnisvoller Zuſammenhang 
hergeſtellt, und ihr Inneres wurde vom Strom 
der Erinnerungen durchflutet aus jener 
glücklichen Zeit, da ſie dieſen wunderbar 
reichen Frühling eines neuen, ganz von Liebe 
erfüllten Daſeins genoſſen hatte. 

Aber in demſelben Maß wie dieſer Strom 
ſie mit grenzenloſem Glück durchrauſchte, ver— 
zehrte er auch ihre Kräfte und riß ſie fort 
vom Boden des nüchternen Lebens in dunkle, 
gefährliche Weiten. Immerhin vermochte 
ſie ihre Reizbarkeit beſſer als früher zu ver— 
bergen. Klaus ſelbſt merkte am wenigſten 
davon. Ihre überſchlanke Gejtalt, ihre Züge 
waren in dieſer Zeit von einer ſo vornehmen 
und zugleich rührenden Schönheit, daß er 
einmal zu ihr ſagte, er hoffe ja, daß ſie nach 
der Hochzeit rundere Backen bekäme, aber 
faſt möchte er wünſchen, daß ſie ſo bliebe, 
wie ſie ſei. Seine Leidenſchaft war heiß— 
hungriger und feinſchmeckeriſcher als je, und 
ſeit einiger Zeit trieb er einen wahren Kult 
mit ihren Händen. Er brachte immer neue 
Ringe und kannte ſich kein größeres Glück, 
als die eiskühle Innenfläche ihrer Hand an 
ſeine Lippen zu preſſen. Sie wehrte ihm 
nicht. Mochte er ihre Hände nehmen, ihre 
Lippen, mochte er ſich aller ihrer Glieder 
bemächtigen, da, was ihn thr lebte, bod) nur 
dem Geliebten gehörte. 

Uber bei anderen Gelegenheiten fonnte 
fie von einer erjchredenden Reizbarkeit fein. 
Als fie ihre Brauttoilette anprobieren follte, 
jagte fie, die Schneiderin babe ja ihr Geitell, 
danad) möge fie [ie zupaß machen. Und 
auf alle Vorjtellungen ihrer Mutter erwiderte 
fte mit böjem und gehäjligem Blid, fie wolle 
nicht länger gequält fein, das Kleid folle 
jofort binausgebrad)t werden. 

grau Dewerth war manchmal in ſchweren 
Sorgen, aber jdjlieblid) ftimmte auch fie mit 
dem Arzt überein, daß diefe Zuftände mit 
der Brautzeit gujammenbhingen und fih nad) 
der Hochzeit verlieren wiirden. 


-— ml = 





a Seutajdjer a a Gemälde von a 
Bauernmaodden Prof. Walter Thor 


ees EE EE Zwei Freunde B=2223222222323329 449 


In der legten Zeit jcehwelgte Klaus darin, 
ein großartiges Menu für die Hochzeitstafel 
zu entwerfen, und halb im Scherz äußerte 
er, bas SRidjtigite würde wohl fein, wenn 
er jelbjt nad) Brüfjel führe und alles Nötige 
bejorgte. 

Annie fand diejen Vorjchlag apart, teilte 
plóbíid) fein Intereffe und [tadjelte feinen 
Ehrgeiz nod) an. Da er in die Falle ging, 
wurde die Reije für den übernächſten Tag 
beichlojjen. ^ 

In befter Lanne begleitete fie ihn auf ben 
Bahnhof unb nedte ihn fogar, daß er vielleicht 
nod) einen andern Grund babe, um als 
Sunggefelle ein legtes Mal die gefährliche 
Stadt zu bejudjen. Als Klaus dann aber 
eingeftiegen war, ftand fie die ganze Zeit 
völlig geiftesabwejend und merkte auch nicht, 
wie ihre Mutter fie anjtieß, fie folle bem 
Abfahrenden winten — fo hatte bie Erinne- 
rung fie überwältigt an den Augenblid, als 
fie mit Frau Bofelmann den Geliebten an 
die Bahn gebradht unb ihn im Zug zum 
lebtenmal gejehen hatte. 

Auf dem Heimweg jagte fie ihrer Mutter, 
fie wolle nod) einen Augenblid in dem 
Krankenhaus, in bem fie als Hilfsichweiter 
gearbeitet, bei ber Oberſchweſter vorjprechen. 
Sobald Annie den Parillon betreten Hatte, 
der immer nod) mit verwundeten Goldaten 
belegt war, atmete fie wie etwas Vertrautes 
die mit Lyfol gejhwängerte Luft ein. Da 
gerade der Kaffee verteilt wurde, jebte fie 
fid) zu biejem und jenem Berwundeten ans 
Bett und plauderte wie in früheren Zeiten, 
um [id dann von ben Schweltern bie lebten 
Greigniffe erzählen zu laffen. Ein Vorfall 
beidjáftigte deren Gemüter bejonders. Cine 
Schweiter von einer andern Station hatte 
jid) aus unglüdlicher Liebe zu bem Hilfsarzt 
mit Veronal zu vergiften verjudt. Ste war 
aber gerettet worden, und jebt waren Die 
beiden verlobt. 

Die beiden Sdhweftern waren fic) darin 
einig, daß diejer Selbftmord nicht viel mehr 
als die Komödie einer Hyiterijchen gewejen 
jet. Während aber die eine das Benehmen 
des Arztes jehr [Món und edel fand, ver: 
irat bie andere die Anfiht, daß er aus 
übertriebenem Anftandsgefiibl in fein Un: 
glüd renne. 

Annie Hatte zuerjt nad) verjchiedenen 
Details gefragt, [bien aber auf einmal gar 
nicht mehr zuzubóren, fondern fann blag 
vor fid) bin, während die beiden Schweitern 
lid) ziemlich ereiferten. Schließlich fiel der 
einen ihre Teilnahmlojigfeit auf, unb fie 
dabte, Annie ftánde ja felbft fura vor ber 
Hochzeit, und wabrideinlid wäre ihr bas 
ganze Gejprád nicht fonderlih angenehm. 


felbagen & Klafings Vionatsbefte. 35. Jahrg. 1920/1921. 2. Bo. 


Darum brad) fie ab, und gleich Darauf ging 
Annie zum Inftrumentenzimmer. 

Auf dem Bang begegneten ihr zwei 
Krantenträger mit einer Bahre, unter deren 
Pierdededen fih bie Umrijje eines menſch— 
lihen Körpers abhoben. Der eine. ber 
Träger erkannte fie. 

„Auch mal wieder hier, Schweiter Anna? 
Mie gebt's ?" 

„Dante. Und Ihnen ?" 

„Man darf nicht Hagen.“ 

— 
„Exitus. — Na, auf Wiederſehn, Schweſter. 
Hopp, Kamerad!“ 

Im Inſtrumentenzimmer traf ſie eine 
jüngere Schweſter. Wieder gab es eine Bes 
grüßung und viele Fragen zu beantworten, 
indes auf Annie bod) nur bie Begenftánde 
in dem weißen Raum mit fonderbarer Ge: 
walt einbrangen, vor allem der Medizin: 
Ihrant an der Wand, wo die Blasröhrchen 
mit Beronal und Sublimatpajtillen und die 
Flaſchen voller Lyjol unb Morphium aufs 
bewahrt wurden. Gewöhnlich ftand ber 
Schrank trog dem ftrengen Verbot offen. 
Heute war er gerade geſchloſſen. Annie ver⸗ 
abſchiedete ſich und ging zur Oberſchweſter 
Hedwig. 

In dem winzigen, bis zur letzten Ecke 
hell erleuchteten Zimmer ſtanden eine Un— 
menge Photographien, Nippesſachen, künſtliche 
Blumen und zärtlicher Krimskrams umher, 
aber ein gut Teil des Raumes nahm ein 
höchſt nüchterner Schreibtiſch am Fenſter 
ein, mit Zeißordnern und Skripturen darauf. 
Überrajht ſprang das hagere, ſpitznaſige 
Fräulein hinter dem Teetiſch auf. Während 
fie ihrer Freude über den unerwarteten Bes 
jud) Ausdrud gab, fagte fie, daß fie oft an 
Annie gedabht unb jhon gefürchtet hätte, 
diefe hätte fie ganz vergeffen. 

„Bergefien? Nein. Das heißt, ja. Ein 
bißchen. Aber bie Hauptjahe war bod) 
meine Rrantbeit.” 

„Und dann das andere große Ereignis!“ 

„Sa, es fam foviel Schweres zujammen.“ 

„Kein, ich meine bas Blüd. Nochmals 
meine herzlichiten Slüdwünjche! Ach, Kind: 
den,” und das alte Fräulein küßte Annie 
auf beide Baden, „ich hab’s Ihnen ja jo von 
Herzen gegönnt. Aber nun legen Cie ab. 
Der wundervolle Nerz! Gewiß von Ihrem 
Verlobten. Wann fol denn die Hochzeit 
fein?“ 

„Die Hochzeit? Bald. Am Donnerstag.“ 

„Schon! Aber bas ijt wirklich doppelt 
lieb, daß Sie Dann nod) mal tommen.” 

„Ich muB bod) Adieu jagen." 

Die Oberjchweiter plauberte noch fort, 
während fie Annie aus dem Pelz half, und 
30 





450 Iesse ST Wilhelm Hegeler: Kessel 


fragte nad) diejem und jenem, was auf Ber: 
lobung und Hochzeit Bezug hatte, mit zárt: 
licher und zugleich etwas Iti[terner Betulich- 
feit. Da aber Annie nur zerftreute Ant: 
worten gab, wechjelte fie das Thema und 
fragte, nahdem fie Tee eingegoffen, wie 
Annie ihre alte Umgebung denn wieder 
fände, 

„Ich finde — ich fühle jebt erft, wie glüd- 
lid) ich Hier gewejen bin. So glüdlich, wie 
fonft nur einmal in meinem Leben.“ 

„Kein wirtih? Mar es nicht bod) ein 
bihen ſchwer?“ 

„Das fagen alle. Aber es war nicht 
(der. SBielleid)t in den erften Tagen. Da 
brannten einem die Füße, aber fonft — fonft 
fühlte man fid) wunderbar leicht.“ 

„Aber bas ift hübſch, daß Sie bas jagen! 
Das freut mich wirklich zu hören. Das jollte 
fid) ein gewiljes junges Ding nur mal mers 
fen. Wir haben hier nämlich Sachen erlebt, 
Kleinen —! Aber beffer fpricht man gar 
nicht davon.” 

„Die andern Schweitern haben’s mir 
ion erzählt.“ Ä 

"Tun — alles was recht i[t!^ begann bie 
Dberichweiter plöglich höchſt energiſch, „da 
mache id) ent|djieben nicht mit. Wenn man 
ion jolde Mittel anwendet —“ 

nasa,“ unterbrad Annie fie erregt, „wenn 
man wirflid) "rous will aus dem Leben, 
dann darf mam auch vor dem Sterben feine 
Angſt haben. Dann muß man reelle Mittel 
anwenden. Gie hätte ja Gift nehmen 
fönnen.“ 

„Um Gottes willen! Danten wir Gott, 
daß ihr bie Günde erjpart geblieben ijt." 

„Ach, Sünde — da ift bod) fo ne Phraje.“ 

Die Oberjdwefter wollte ſchon etwas Hef- 
tiges erwidern, aber Annie hatte diefe legten 
Morte jo wenig herausfordernd, fonbern 
eher leichthin und für fid) geäußert, daß fie, 
ein bißchen ]onberbar berührt, eine harm: 
Iojere Unterhaltung für angemeffener hielt 
und ihren Gaft auf ben Königstuchen auf: 
merfjam madte, den ein früherer Patient 
gejpendet hatte, 

Annie ak ein Brödkchen, legte. dann aber 
bas abgebrodene Stüd Hin und trant gierig 
den Tee. Geitdem fie den Pelz abgelegt 
hatte, fror fie, obgleich es im Zimmer recht 
warm mar. ber fie fror nicht von außen, 
Jondern innerlich. 

‚Die Falle hat ein Zoch!‘ dachte fie. ‚Gleich 
muß ihs tun. Warum Habe ich joldje 
Angft? IH batte damals bod) feine Angjt! 
Hochzeit? Die werden Augen madjen! Das 
Lamento! Lila möchte id) jehn. Und Mama. 
Und Klaus. Dem wird das iiberlegene 
Lächeln [Hon vergehn.‘ 


„Bas?“ fragte fie aufichredend. „Bei 

den Berwundeten? — Mein, da babe id) 
feinen von meinen alten Patienten wieder 
getroffen. Es gehn wohl noch immer viele 
ein? Wher bas tut nichts. Das war aud 
etwas Gutes, daß man fid ans Sterben 
gewöhnte. Denn einmal muß man’s ja 
dod.” , 
‚Und babet Babe ich Jo wahnfinnige Angft!‘ 
Dachte fie. ‚Sch muß mir einen Stein um: 
binden, damit ich jojort untergehe. Ad, 
gäbe mir bod) einer Gift! Wher bie Menſchen 
find ja fo graujam. Reine Menjchen! Mama 
nid Und er...‘ Wher nun jab fie Klaus 
auf einmal ganz deutlich, nicht in bem Augen- 
blid, wo er die Nachricht befam, fondern in 
einem viel fpáteren, wo er in einem Zimmer 
des großen Haufes jap, in einer bunflen Ede, 
und grübelte, und feine Augen funfelten, 
und fein Geficht war fo böje, jo böſe! ... 
Nein, er fam nicht leicht drüber weg. Er 
würde fid lange quälen. Denn eine Leiden: 
ſchaft hatte er wirklich für fie. Eine ſchreck— 
liche, unmenjchliche €eibenjdjajt. Die Leiden» 
Ichaft eines Antiquitätenfammlers, der am 
liebjten fein Weib in einen Blasjchrantperren 
und nur dann und wann herausnehmen 
möchte, um fie lüjtern zu betaften. Er jollte 
(id) quälen und leiden und fid) frümmen und 
begreifen, daß nicht alle Menſchen zu taufen 
waren. Daß fie lieber ins Wajjer ging! 

Die Oberjdwefter beftritt jehr lebhaft 
Annies Behauptung und jagte, troß der 
ungenügenden Ernährung fei bie Sterblicd: 
feitsziffer heruntergegangen. Aud feien bie 
Soldaten wieder viel bejjeren Mutes. Ob 
Annie nicht diejen Eindrud gewonnen hätte? 

„Ach, bie jehwindeln, weil ich ihnen fremd 
bin. Sd) glaube nicht an Frieden.” 

„Alber, Kindchen, den haben wir bod) 
jhon. Wenigftens mit Rußland.“ ; 

„Bewiß, ja. ch, übrigens, Oberſchweſter“ 
— Annies Augen wurden mit einemmal 
ganz dunfel und groß — „jollten Sie meinen 
Berlobten” mal jehn, jo... beftellen Sie ihm 
einjad) einen Gruß. Cinfad einen Gruß! 
Er weiß dann jchon.“ 

„Aber, Herzchen, Shr Verlobter, der fommt 
bod) übermorgen wieder.“ 

„Ach, ich meine bod) Hans.” Cie laite 
und |prang auf, und ehe die Dberjchweiter 
etwas erwidern fonnte, hatte [te jid) neben 
jie auf das fleine Sofa gefauert und ihren 
Kopf an bie mageren Schultern gelehnt. 
Cie fühlte, wie bie Angft fie jchüttelte und 
wie in ihren Oberjchenfeln Muskeln guctten, 
die fie früher nie gejpürt hatte, Aber gleich» 
zeitig fuhr fie fort aufgeregt zu jchwagen: 
„Natürlic Hans! Ten andern fennen Cie 
ja gar nicht. Der ift nad) 3Brüjjel gefahren, 


Fees) Zwei Freunde451 


Auftern taufen. Hundert Dugend. Denn 
wir ellen Auftern, während fie im Schüßen- 
graben jrieren. Wir fünnen’s ja. Kriegs: 
gewinnler! — Was maden Cie, Schweiter? 
Puls fühlen? Unfinn! Ich hab’ feine... ich 
bab’ ein bißchen Tibertemperatur. Das habe 
id) oft. Der Dottor weiß das.“ 

‚Stil figen, tranf werden, ins Bett ge[tedt 
werden, und alles müßte vorbei fein,’ dachte 
fte. ‚Aber die Soldaten miüjjen ja aud) in 
bie Schladht.‘ 

Und während ihre Vorftellungen wie trübe 
Blige einander jagten: die hohe Rheinbrücke 
und ber im dunklen Majjer ¿erbródelnde 
Lichtſchein ... ein Bintreibenbes Boot, und 
fte fih über ben Bordrand beugend, mit ber 
Hand zu greifen die Tiefe, und Dod) durd) 
das furd)tbar|te Hindernis entfernt ... und 
nun war fie nicht mehr im Boot, jondern 
lag in ihrem Bett, ftrecfte bie nadten Füße 
hinaus und dachte grufelnd, jebt im Kalten 
mid) wajden, nod fünf Minuten — und 
Ihlüpfte zurüd ... die Hochzeitsgeſellſchaft 
im Gaal bei der Tafel, Teller mit leeren 
Wufternjdalen vor fi), und ihre eigene 
Leiche wird bereingetragen ... während 
folche Vorſtellungen jid) jagten, verjuchte fie 
mit äußerjter Millensanftrengung in bie 
Stimmung unterzugehn, wo alle Welt ver: 
jant und fie mit Hans allein war, erlöft, 
im Reinen jdjmebenb — fühlte aber, wie fie 
gerade nur an den Rand bieles Lichtreichs 
gelangen fonnte. 

Und nachdem fie eben nod) gebeten hatte, 
bier ein bißchen jtill figen zu Dürfen, ſprang 
fie jef auf und erflarte, fie müßte rajd) 
nad) Haus, es wäre hidjte Zeit zum Abend» 
ellen, 

„uber es ijt ja erft jes.” 

needs! Ja — ja, höchſte Zeit! Ich babe 
nod einen Gang. Ih muB... ad, Un: 
finn!” Die Morte entglitten ihr, und fie 
batte ein Gefühl von Betrunfenheit. Da 
war bie Tür, jie brauchte nur die Klinte zu 
ergreifen, und Dod) eridten der Meg ihr 
endlos weit. „Sa, dante — ub!” ftöhnte fie 
in tiefem Grauen. Der Pelz, den ihr die 
Dberjchweiter anziehen half, brüdte fie wie 
eine Zentnerlajt. Noch einmal raffte fie jid) 
gujammen, ftredte ber Oberjchweiter bie 
Hand bin, bedankte fic) für Tee und Ruben 
und wollte jdon fort, während die Ober: 
ſchweſter fie feltbielt: „Erft bod) zufnöpfen, 
Rindden!“ Auch das ließ fie fih gefallen, 
ließ die Hand, bie bie alte Dame noch zögernd 
hielt, los und ging hinaus, ohne die Tür 
hinter fid) zu jchließen. 

Mit vorgebeugtem Kopf und verbijjenem 
Ausdrud eilte fie bie Straßen hinunter. 
- Wher in der Allee, die ben Hofgarten durd): 


ſchnitt, begann fie faft zu laufen, gebebt und 
auf der Flucht vor ihrer eigenen Angſt. Da 
gewabrte fie auf dem Schnee einen Haufen 
Pflajterfteine, bie dort noch vom Sommer 
Der liegen modten. Ihr fiel ein, daß fie 
ja Stride faufen wollte. Wher fie fürchtete 
fid) umaufehren. Und während fie die Steine 
anglogte, verwandelten [id) einige davon in 
Köpfe und begannen jid) zu regen. In finns 
lofer Angſt ftiirzte fie weiter. Bor jedem 
Menſchen, der ihr begegnete, jchraf fie zu- 
jammen. Manchmal glänzte ein helles Licht 
durch bie Baume, wurde aber von den 
nadjten Zweigen abgeriljen. Fußitapfen und 
größere jchwarze Flede dunfelten zwilchen 
bem grauen Schnee, und bie vereinzelten 
Gebüjche brobten wie fauernde Menſchen. 
Nun gelangte fie ins Freie, auf eine ein 
jame Pappelallee. Weites Dämmerlidht. 
Bom Rhein her webte braujend ein feuchter ` 
Wind. Cie ftemmte fid) thm entgegen und 
lief weiter mit legter Kraft. 

Da tauchte vor ihr eine Geftalt auf, fie 
brad) fajt in die Knie, fam aber bod) vorüber. 
Doh ber Mann drehte jid) um und rief ihr 
nad: „Sie — Fräulein!“ und Annie rannte 
und ` glaubte, feine Schritte Hinter fih zu 
hören ... und jet verfolgte er fie nicht 
mehr, jondern war auf den Fußweg abge: 
bogen unb juchte fie zu überholen. Gie lief 
um die Wette mit ihm, er aber überholte 
fte, unb plößlich ſchrie fie: „Hilfe! Hilfe!“ 
und drehte fid) um und frie immer von 
neuem bird) bie weite Einfamteit. 

Da hörte fie von einem Geitenweg furdht: 
bares Schreien, nicht von einer, jondern von 
mehreren Männerjtimmen: „Polizei! Polis 
zei! Revolver! Was ijt los? Wer tut Ihnen 
was?” Und während Annie wie von dem 
Rud einer zugezogenen Schlinge ftehen blieb, 
lam eine Heine Geftalt angefeucht und mies 
derholte, puftend und einen diden Spagiers 
tod jchwingend: „Was ijt denn los? Wer 
tut Shnen was? Ein Kerl? Er fol nur mal 
tommen! rif, zieh deinen Revolver ’raus! 
Die Rerls follen nur tommen! — Wo wollen 
Sie denn hin, gnädige Frau? Gejtatten Cie, 
daß ich Cie begleite? — Wenn bie Rerls 
benfen, man ijt zu mehreren, friegen fie 
allemal 9[ngit. — — Ab, gnábige Frau, 
rennen Gie nicht jo! Ich fomme ja nicht 
mit. Bin ja ganz außer Atem.“ 

Und Annie, plößlich ganz ernüchtert, ganz 
leergebrannt und ausgetrodnet von Scham, 
mäßigte ihre Schritte und erwiderte, fie wolle 
nad) Haus. 

Und während der Heine dide Herr ge: 
waltig auf den Boden ftampfte und feinen 
Spazierftod hart aufitieß, fuhr er fort zu 
reden, dab er im Nachbardorf geſchäftlich 

308 


459 ESSSSSS5%% ©. Grade: Die Heinen Hände BS==2223233233233232341 


zu tun gehabt und fih bann überlegt hätte, 
ob er nicht lieber den Umweg den eleftrijdjen 
Schienen nad) machen follte. Denn bie Ge: 
gend hier fet ja auch für einen Mann nicht 
geheuer. Wher nun fets ja ein Glüd, dak 
er bielen Weg gewählt babe. Einen Re: 
volver bejäße er übrigens gar nicht. Und 
daß er mit Frig geiprodhen, fet aud) nur 
ein Trid. Und da Annie ihre Schritte 
wieder bejchleunigte, blieb er puftend [tebn 
unb fagte: „Ja, Sie baben’s gut mit Ihren 
langen Beinen! Wh, wenn id) Ihre Figur 
hätte, gnábige Frau, bann könnte id) Großes 
leiften in meinem Beruf. Da ift eine res 
präjentable Erjcheinung eine große Haupt: 
[ade. Ich bin nämlich Gejdjáftsreijenber. 
Gejtatten Sie übrigens: Laurent ijt mein 
Name.“ 

Da er aber mit feiner Unterhaltung feinen 
` Unflang fand, tappte er |djlieBlid) ftumm 
und beleidigt neben Wnnie her, bis fie wieder 
an eine bebaute Straße gelangten. Dort 
bedantte fie jid) für feine Begleitung und 
verabjchiedete fid). 

Zu Haus angelommen, ging fie gleich in 
ihr Zimmer und verjchloß es. Ihrer Mutter, 
die fragte, wo fie fo lange geftedt, und fagte, 
dab bie Oberjchweiter [hon nad) ihr tele: 
phoniert hätte, erwiderte fie Durch die Tür, 
fie hätte einen Bejud) gemadht, wäre ganz 
wohl, nur jehr naß und müßte jid) umziehn. 

Dann holte fie Hanjens Briefe und alle 
fonftigen Erinnerungszeichen hervor und 
warf eine Handvoll nad) der andern in bie 


Dfenglut. Und während fie mit bem Schür— 
eijen umrührte, damit bas Papier bejjer 
Feuer fing, badjte fie hart und höhniſch: 
‚Einer von uns mußte fterben. Nun but 
bius! : 

Und obwohl fie bei jeder Zeile, auf die 
ihr Blid fiel, und felbft bei ben Schriftzügen 
ber Wdrefjen laut hätte aufjchreien mögen, 
date fie Dod: Hyſteriſch bin ich! Weiter 
nichts. Ich wollte ja gar nicht fterben. 3d) 
war ja viel zu feige. Ja, brenne nur! 
Brenne!' 

Nachdem fie ihre furdjtbare Arbeit bis 
zu Ende verrichtet hatte, fete fie fih zu 
Tod erichöpft auf einen Stuhl, Hingelte nad) 
einer Meile dem Mädchen und befahl, eine 
Märmflafche zu bringen. Sie wollte ins Bett. 

Als fie fid) ausgefleidet hatte, fam ihre 
Mutter noch einmal und peinigte fie mit 
Fragen. Gie gab aber feine Antwort. 
Schließlich jedoch lief fie fid) ein Glas Glüh— 
wein aufnötigen und trant nad) und nad) 
den ganzen Topf leer. 

Dann ſchlief fie ein. 

Nachts wadhte [ie einige Miale auf, blidte 
ängitlich um fic) und befühlte ihre warmen 
Glieder, als wenn fie fih überzeugen müßte, 
daß fie nod) lebte. Und jedesmal, während 
bleierne Traurigfeit fic) auf fie warf, durch: 
firdmte fie zugleich ein Itebfojenbes, weiches 
Mohlgefühl bei dem Gedanten, daß fie nod) 
am Leben war. 

Und dann jchlief fie gleich wieder ein. 

(Schluß folgt) 





a à 


Du mufiteft Schmeichelnamen, ganze Bände, 

Siir meine weichen, Pleinen, warmen Hände, 

Wenn fie fo zärtlih dir das Haar gefireidelt, 

Wenn wortlos fie gebeten und gefchmeichelt ; 

Denn was dir Mund und Augen fen verfhwiegen — 
Die Fleinen Hände Fonnten niemals lügen. 

Verräter waren fie und find’s aud jest — 

Du fagteft Worte, die mid) tief verliebt, 

Die mir den Glauben an das Glück zerriffen, 

Dod) id) war ftolz, du follteft es nicht wiffen. 

tind ich befahl den Zippen, Fed zu fiherzen, 

Sarg meine Tränen ungeweint im Herzen. 

fur meine Hände troften dem Gebot — 

Sie wurden Falt und ftare und fleinern wie der Tod, 
Der monde junge Stirn mit Eifenreif umgibt — 

Sie wußten wohl, wie febr du fie geliebt, 

Und blieben wahr drum bis zum bittren Ende — 
Die armen, Fleinen, glüfgewöhnten Hände. 



















Giulio Beda 
Don Georg ee yfeló O 








Ne Is id) es unternahm, über Delen 
2 abjoluten Maler zu jchreiben, fam 
ANY ich von der abjoluten Mufit. Das 
> war gut. Schließlich find Die 
Riinftler, die unjer Gein und Wer: 
ben beeinflujjen, Meijter der Sinne. Wir 
nehmen die faBbare Welt mit bem Geſicht 
unb bem Behör A Dra cd Schubert, deffen 
Streichquartett in ur ich hörte, lebte fein 
furzes Rätjelleben als Uu arcs Menid). 
Alles wirkte nur durch das Medium Der 
Töne auf ihn, der flein|te Eindrud des AU: 
tags formte fid) liedhaft ober [infonild) in 
feiner jchwebenden Geele. Diejer Wiener 
von einft fannte nur bie Notenjchrift.e. Er 
hatte die graujam herrliche Welt als Mufit, 
und wir ?Beglüdten Tonnen fie durd ibn 
nad) Ja shunberten nod) als Mufit haben. 

Wie Schubert fomponierte, gibt es ma: 
lende Maler. Ich nenne fie bie abjoluten, 
denn ihre Hunt ift nicht nur Ausdruds: 
mittel der Begabung, fondern aud) des Geins. 





Ei Der Staffeljee bei Murnau. 


Cie find ganz Auge im Beilte ihres Sonnen: 
lebens. Möge ihr Menjchentum dadurd) 
bejdjwert werden (aud) Schubert zwijchen 
\hwärmenden Wienerinnen war gehemmt, 
und Beethoven rang in einer namenlojen Ver: 
einjamung) — empfangende Mit- und Had): 
welt wird an bem Abjolutismus ihres Gin: 
nes immer die ftártite Garantie fünftlerijchen 
Wertes haben. Mögen bie abjoluten Künftler 
tragild) fein — was ift denn die Runft an: 
deres, als das tragijche Opfer bes Meniden- 
tums an ben Metttampf mit der Gottheit? 

Giulio Beda, der Dalmatiner, fand in 
Deutichland die Heimat jeiner Malerjeele. 
Er mußte fie bei uns finden — es war fo 
Se, Gs gibt in Bayern, nordweitlich 

ündjens, * Landſchaft, die von jeher 
dem abſoluten Maler gehört. Vian weiß 
feit einem Jahrhundert von diejer bejonberen 
Eignung Qadaus, Ge zu einem felien, 
deutjchen Geifteswert i ijt fie nicht geworden — 
das zeigt der unflare Mißbrauch, der immer 





Gemälde EJ 


454 Georg Hirſchfeld: Giulio Beda 


wieder mit bem Namen Dahau getrieben 
worden ijt. Es ging jo weit, jeden male: 
rijden Dilettantismus im Umtreije Mün- 
dens mit Dahau in Zulammenhang zu 
bringen, daß man dem abnungslojen Phi- 
lijter faft banfbar werden mußte, wenn er 
bet Nennung des alten Bayernortes mit 
wijjendem Lächeln fagte: „Dahau? Da war 
bod) die Adele Spikeder!” (Eine berühmt ge: 
wordene Betrügerin aus einem Genjations: 
prozeß von einjt.) Dachau als Schlagwort 
tötete Dahau als Heimat malerijden Son: 
nens. Ganz tot ijt es freilich nicht — es 
hat wohl einen ¡junten ewigen Lebens in 
(id. Aber bie „Schulen“, bie ja immer in 
ber Runft zum leeren Begriff ausarten, ba: 
ben es fertiggebradt, Eigengánger nod) 


troßiger tn ihr Gelbft zuriidzutreiben, als es. 


ihrer fünftlerifchen Entfaltung gut war. Die 
Erwartung, daß man von der Dachauer 
Überlieferung etwas lerne, fozujagen durd 
Rorporation Talent befomme, it Dilettanten: 
wabn. Die Natur „hält till“, ob ein Via: 
ler jie betrachtet ober ein Fuhrknecht. Nur 
ber Geijt bes Auges, ben man mitbringt, 
erobert fie. Die Schule macht nicht den 
Meijter, Jondern muß von ihm durdgemadt 
und abgejtoBen werden. liberlieferung ift 
der Gieg ber Perjönlichkeit. 

Aber wer mit dem großen Hunger Des 
Auges, nicht der Strebjamteit, tommt, findet 
nod) heute in Dahau fün[tlerijde Heimat. 
Gerade jest, ba ber wadhjende Indufltrialis: 
mus Münchens aud die Stille Sadjaus im: 
mer mehr in laute Gejdjájtigfeit wandeln 
möchte, fann ber Troß bes ar Malers 
in einem unbefieglichen Reid) herrjden. Auch 
in ber Nachbarjchaft der ehemaligen Pulver- 
fabrit unjeligen Sriegsangedentens liegen 
die dunklen, trádjtigen der, und das Moos 
ijt zu weit, um von den Heinen Unterneh: 
mern ernitlic; gerftiidelt zu werden. Einfam 
und fremd rubt jein Zauber, er ift bald zu 
erreichen. 

Bröße Hat diefe Landſchaft. Damit ijt 
viel und wenig, bas Banalfte und bas 
Eigenite gclagt Vielleicht verjtebt man die 
Dachauer Landjdaft, ohne fie gejehen zu 
haben, wenn man erfährt, daß ihr die Liebe 
des Auges gehört, daß jie ben Riinftler durch 
das Auge fáttigt. Ja, er fann des Alltags 
Nöte über en tudium vergejjen, der 
unjterbliche Märtyrer aus 3olas „L'œuvre“. 
Studium aber — wir werden es aus dem 
Salle Giulio Bedas erjehen — ijt mehr als 
lernende Aufnahme, tuge Betrabtung. Der 
ganze Menih, ber Hier zufällig ein Maler 
it, fommt in Schwingung. Er tann nicht 
fingen, nicht |predjen, nicht denten — er 
tann nur malen. Gein Gottesdienft hebt 
an, er jegnet fein Auge. Berjtummen vor 
ber Schöpfungsgewalt müßte er ſonſt. Was 
aber gibt der Dachauer Landidaft, bie ein 
Eigener, feine „Schule“ fieht, dieje Gewalt? 
Gegenjtändlich betrachtet — eine weite Hod: 
ebene, Torfmoor, Odland, ſchmale Majjer: 
bänder, dünne Baumgruppen in der ringen: 


ben, jungmenjdjfidjen Bewegung, Die ein 
Sumpfboden gibt. Deutjche Urwildnis mit 
ihren unberührten Tieren und Blumen. Die 
Farben eine niemals zu fixierende Cfala 
von Grau, Grün, Gelb, Braun, Schwarz. 
Wher man blidt von ber Einfalt biejes alten 
Bayernbodens auf und weiß, was bier jtei- 
gert, weht und waltet: die Elemente in ihrer 
reinen Grunderjcheinung. Gie find mit der 
Dadauer Landſchaft im Bunde. Hier ver: 
Ichwendet nod) die Sonne ungejtórt ihr er: 
habenes Spiel. Unerſchöpflich trifft ihre 
penge Zufälligfeit menldjlidje „Stimmung“. 
ie Nebel aber, die aus dem Moor auf: 
ftetgen, liebt der Mond. Er füllt ihre Schleier 
mit jchwebenden Geiftergeftalten. Der graue 
Dachauer Tag gehört den Winden. Nir- 
gends wohl ertönt Wanderers Sturmlied jo 
Itarf wie auf der Dachauer Hochebene. Bis 
zu den Alpen frei, fauft es hinüber und her: 
über. Cin unendlides üblen, Buten, 
Tanzen und $jajden am Firmament und 
auf ber Erde, bie Den Kampf von Liht und 
Scyatten auf fid) austoben läßt. Hier feiert 
der Beilt des Auges feine Felte. 

Mit wenigen Strichen wurde die Charat: 
teriftit des Dachauer Landſchaftszaubers ver: 
jucht. Gemeint ift jedenfalls nicht bie , tiinft: 
leriſche Gommerfrijde bei München“, der 
Pla für Giedlungen malerijden Durd- 
ſchnitts, bie in Gejtalt von Schulen unter 
praktiſcher Meiftermeifung eine Rub fonter: 
feien oder einen Bauernhof (Motiv Nr. 739) 
zum x=mal auf bie Leinwand zaubern. Ges 
meint ift das [trenge Heiligtum des Einzel» 
gängers, die Atmojphäre, bie Eigenjchule 
des abjoluten Malers, bie feine Lebenstraft 
nicht entbehren Tonn, Noch gibt es in Das 
hau foldhe Perfönlichkeiten. Da fie ver: 
Ichiedenen Generationen angehören, darf 
man hoffen, daß fie immer wiedertebren. 
Den Uhde und Langhammer, der Jugend 
Dils und Hölzels find Müller: Dachau, 
Peterjen, Wirſching, Olaf Lange, Emmi 
Walther gefolgt. Eigen unter biejen Eigenen, 
abjeitiger als die Ybjeitigen, Dod) endlich 
von wadjendem Erfolge gefrönt, jchafft in 
Dahau Giulio Beda. 

Unter einer anderen Gonnenwirfung, von 
anderen Winden umjpielt, wurde diejer Künftə 
ler geboren. Als A eines Malers tam 
er im Jabre 1879 in Trieft zur Welt. Das 
bunte Leben ber alten Hafenftadt, Orient 
und Ofzident verfnüpjenb, begleitete feine 
Kindheit. Beda, ber Vater, war ein Maler, 
ben Beda, der Sohn, bald nicht mehr an: 
erfennen fonnte, (in etwas glatter, aber 
liebenswürdiger Könner aus ber feinen Hür: 
gerlid)feit ber Pilotyjchule, mag er bod) bie 
bejcheiden ftrenge Kraft gehabt haben, bie 
dem merfwiirdigen Sohn fegensreide Wege 
wies. Giulio Beda, ber fünftlerifche Revo: 
lutionár, denft jedenfalls mit rejpettvoller 
Dantbarfeit jeines gar nicht revolutionären 
Waters. In bem ſchlichten Wohnzimmer 
feines Dachauer Yandhaujes hängt ein Gelbjt: 
porträt des Alten, ein gutes Bild feiner Zeit, 


—— ` cnt — — 











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Wintertag bei Dahau. Gemälde. (Galerie Heinemann, München) 





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456 [pe Georg Hirihfeld: Ve 





Herbittag im Dachauer Moos. 


bas die Züge bes vulfanijchen Sohnes in einer 
Harmonie verlorenen Paradiejes zeigt. Mit 
rührender Nachdentlichkeit blidt Giulio Beda 
auf feinen Vater. „Du damals — jest ich.“ 
Wir geben in fein Atelier zurüd, und er 
erzählt mir die Stationen feiner Entwidlung 
weiter. Zum erftenmal finde id) einen Riinit: 
ler, der ohne jede Ironie von den „Schulen“ 
ipridjt, die er durchgemacht hat. Beda ijt 
wohl einer ber jyreiejten vom Hellbetriebe, 
aber er wurde jo frei, weil er jid) tlar blieb, 
was er bem Zwange zu danten hat. Der 
Water fdidte den —5 in die Trieſter 
Kunſtgewerbeſchule, gut öſterreichiſch „In— 
duſtrialſchule“ genannt. Dann aber fam 
Giulio auf den Boden der Abenteuer und 
Gefahren — er wurde Schüler der Akademie 
von Venedig. Ein abjoluter, anjpruchslojer 
Schüler, wie er |páter zum abjoluten Meifter 
beranreifen folte. Bedas Triefter und Bene: 
zianer Schuljahre gleichen bem vertieften 
Spiel eines Kindes am Sodel eines Götter: 
bildes. Über ihm waltete unerreicht und 
alle Gebeimnifie nod) bergenb die Runft — 
zu ihren Füßen aber, um das Gewerbe be: 
miibt, das ihren Namen tragen durfte, lebte 
ber Giingling. Es gab feine tote Stunde 
für ibn. Nod) heute riihmt er die ſpar— 
taniſche Zuchtanftalt, bie von Etürmern und 
Drängern jo gern verworfen wird. Daß in 
Beda echter Sturm und Drang war, beweilt 
erjt vollends das Werf des Mtannes. Jebt 
leuchtet fein Feuer — es verfladert nicht. 


Gemälde. (Galerie Heinemann, München) 


Er glaubt die dauernde Flamme feiner 
Schöpferkraft bem unablájfigen Fleiß feiner 
Jugend zu danten. Arbeit hat ihn Arbeit ge- 
lehrt. Schaffen meijtert die Not des jchöpfer: 
feindlichen Lebens. Weihe bejiegt den AL: 
tag. Golde Erkenntnis fam Beda in ber 
herben Jugendzeit von Trieft und Venedig. 
Hier wurde er im Technijchen für immer 
jattelfeft. Hier gewann der fünftige Kand: 
\chafter ein anatomildjes Wilfen, bas nur 
ber Fachſtümper nicht zu „brauchen“ glaubt. 
Bei den GStilübungen feiner pedantijden 
Lehrer mag der Werdende oft bem Ausder: 
hautfahren nahe gewejen fein — troßdem 
ertrug er bie tüftelnde Tyrannei mit dem 
Blid der wahren Begabung, die nur annimmt, 
was fie annehmen fann und „Stilübungen“ 
einzig als Dünger des eigenen Stils emp: 
findet. 

Etwas aber, was ibm von oben und von 
innen fam, gewiß nicht von außen, aus den 
Dumpfen Schulräumen, fennzeichnete Giulio 
Bedas Perjönlichteit [Hon früh: er blieb auf 
bem tlajfijten Boden Benedigs gegen dic 
mádtigen Schatten der Vergangenheit un- 
empfindlid. Er nabte fid) nicht in jcheuer 
Ehrfurht dem Madonnenbilde, er fuchte 
feinen Anſchluß an die göttlichen Meiſter 
des Porträts — ohne Tizian, ohne Tinto: 
retto jd)ritt er, aus nadtwandlerijdem Selbft: 
verjtändnis gelenft, in jeineGegenwart hinaus. 
Schon die Landjdhaft, bie nicht bie feine 
werden follte, nahm von ibm Befig. Er war 





MESSEN Giulio Beda see sel 457 


der Natur geboren und Juchte die Natur. 
Vielleicht hat die drangvolle Lage feiner 
Heimat, zwijchen ben Ausläufern der Alpen 
unb dem Meere, Beda davor bewahrt, ein 
Italiener von heute zu werden. Uns Deut: 
Iden fällt es jchwer, die fünftlerijche Ber- 
fandung Italiens zu verjtehen, aber eine Er: 
Iheinung wie Beda zeigt uns die Rlárun 
bes dunflen Problems. Schon Segantini, 
ber trog aller Ausdrudsverjchiedenheit Bedas 
Wejensverwandter war, löfte das Problem 
des italienijden Erben, indem er die unge: 
heure Überlieferung von den Schultern warf 
unb jein Eigentum burd)jebte. Auch in Beda 
mögen Tropfen ber Säfte wirfen, die einft 
ber Renaiffance ihre Leudhten gaben, bod) 
was ein Rind wiljen müßte, und ber weijefte 
Dann nicht einjehen will, er fand es aus 
feiner —— Natur: nicht Erbe und Über— 
lieferung führen der Kunſt neue Meiſter zu, 
ſondern — neue Menſchen. Ehrlich ſehen, 
ſehen müſſen — darauf kommt es an. 

So blieb Giulio Beda in ſeiner Gegen— 
wart und ließ die größte Vergangenheit auf 
id) beruhen. Seine Gegenwart aber zeigte 
bm nicht ben Menſchen, jondern das Bejjere, 
was bem Menjchen gehört: die fichtbare 
Welt der Natur. Trokdem brauchte Beda 





tae 





vi Der Riegfee. 


bie Schiefalsfrage — feine Heimat war ftarf, 
bod) fie tonnte ihn nicht zum Riinftler machen. 
Der Tod löfte ihn von Trieft — fein Bater 
ftarb. Wanderjahre hoben an. Er fonnte 
nun zwijchen den beiden Reihen ber Land: 
\haft wählen. Bu den Franzoſen zog es 
diejen aufrecht fiiblenden Menſchen niht — 
er wandte e nad) Deutjchland. Am An- 
fang unjeres Jahrhunderts fam er mit fei- 
nem jungen Reichtum nad) München. Noch) 
fühlte er fid) als Schüler — Meifter in ihm 
war nur ber Gott feiner Beftimmung. Willig 
ging er in bie Schule Rnirrs und führte mit 
einer Gelajjenheit, die bei diejem Tempera: 
ment jeltjam anmutet, die Übungen Venedigs 
fort. Der geborene Landſchafter lernte Mtt- 
et weil bieles eben ein wejentlicher 
eil des Zeichnens ift, und zeichnen fünnen — 
ger nähern wir uns dem Grundproblem des 
alers Beda — wurde fein Unumganglides. 
Er war, wie jeder dw ae: der beite 
Lenker feines fünjtleri]djen Wejens. Er er: 
fannte inftinttiv bie Gefahr bes Schweifens, 
die einer abjolut malerijchen Natur mitge: 
eben ijt. Dem [Hónen Drange zur farbigen 
itteilung ijt bie zerfließende Formlofigteit 
benadybart. Reifen heißt, den Inhalt als 
jelbjtverftandlid), bas MBerdienft in einer 





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Gemälde E 


458 | 


perjönlichen Form erfennen. Go [eben wir 
bei Beda das eigentliche Mtalerproblem in 
einer jeltenen Klarheit — er erzog fid) zum 
Zeichner, um wahrhaft Maler werden zu 
tónnen, er brauchte den Halt der Linie, um 
bie ganze SFreiheit der Farbe zu finden. 

Dies ift die „höhere Schule“ des bilden: 
ben &ün|tlers. Sie tann ihm bei dem freie: 
Hen Lehrer nicht werden, er muß fie fid 
jelber gründen. Gntjdjeibungstrijen des Le: 
bens unb ber Runft löften Giulio Beda all: 
mablid) von München. Die Broßjtadt ent: 
ließ den Landibafter in die Heimat, die ihm 
bejtimmt war. Immer häufiger juchte er bie 

roBe Stille des Dachauer Bodens auf. Im 
Sabre 1907 fiedelte er gang über unb ijt bis 
heute ein Dachauer geblieben. 

Er wird es wohl bleiben, denn wenn 
Giulio Beda aud) in die Borberge hinaus: 
zieht, an die Geen bei Murnau, oder ins 
Sotjadjtal, ins Rheintal unter den Abfturz 
der Bergriejen — die Erfenntnis von Dachau 
leitet ihn, und die Elemente, die dort zu ihm 
gejproden, jprechen hier wieder. Der tiefite 
yattor feiner Entwidlung aber ijt auch für 
den Drtswechlel der Motive entjcheidend: 
Beda ijt nicht mehr ber Wandermaler von 
einft, ber auf Dem Rade ins Freie hinaus: 
308g, um bie Natur nad) feiner 9Iuffajjung 
zu ——— — er iſt ein reifer, ſtiller 
Atelierarbeiter geworden, der mit dem Auge 
ſammeln gelernt hat und daheim aus Vor— 
ratsſchätzen Geſtaltungen entwickelt. Das 
Gedächtnis iſt der Reiter der maleriſchen 
ege und hält in fejter, milder Hand 
bes Roſſes goldene Zügel. 

In Dachau [tebt Bedas Haus — dort ent: 
faltet er, was jeine Wanderungen ihm ges 
zeigt haben. Wir find mit diefem Willen auf 
dem Wege zu Bedas fünjtlerijdjent Problem. 
„Entfalten“ — aus bem Schöpfungsfern, ben 
die Betrachtung der Natur gab, den paper 
des Bildes herauswachſen laffen — barum 
handelt es fih. Beda ftand in feinem Atelier 
vor mir und verjuhte mid) vor bie Löſung 
jeines Schaffensrätjels zu führen. Er ſpürte 
meinen Wunſch und wollte mir „erklären“. 
Bald lächelten wir beide refigniert, denn 
Hörer und Horder waren nicht „Hug“ genug, 
Unnennbarem Jiamen zu finden. Dennod) 
gab mir bas ungeftiime Suchen bieles ftar: 
ten, Hodgewadjenen und bod) — — 
wirkenden Mannes viel. Die italieniſche Le— 
bendigkeit ſeiner ſcharfen Züge, ſein ſchöner 
Tiermenſchenblick fingen gleichſam Laute, Be— 
griffe auf, die in der Wüſte unſerer ſprach— 
lichen Armut Oajen glichen. Licht, Farbe, 
Deutung ſchnellten vor mir auf. en 
war es nicht, aber zu fühlen. ir verftan- 
den uns oft in ber Andeutung. 

In einer theoretiihen Schrift will Beda 
jeine Grfenntnis niederlegen. Ich wußte, 
wie interejjant ſolche SDtalerjd)riften find, und 
daß bie Grogten fih in ihnen geäußert haben 
— dennoch war ich in Bedas Atelier nicht 
darauf begierig, jondern jah nur auf fein 
großes, ent|tebenbes Wert. Dem Künitler 





— 


J Georg Sjridjelb: RS323333232332323221 


mögen jene „Sektoren ber Luft”, bie er ges 
funden, viel bedeuten — mir erjtarrte Die 
Lebensfraft eines Bildes unter der tbeore: 
tijch-mathematijden Bezeichnung. Ich wußte 
zu gut, daß der Genius Formeln braucht, 
um [id) nicht ins Unendlidhe zu verlieren. 
Mas id) rüd[djauenb als Bedas „Theorie“ 
am flarften jah, waren die großen Etappen 
jeiner Entwidlung: aus der fremden Schule 
trat er in bie eigene Schule ber Form, feines 
Inhalts gewiß. Er wurde körperlich jehend 
Dn Vieifter — da malte er draußen das 

ntli ber unendlichen Natur. Dann fam 
das größere, geiltige Sehen über ihn, das 
ibn jebt beberrjd)t. Diejes Sehen halt ibn 
im Atelier und entfaltet bie Schäße feines 
Gedadtnijjes. Alles ,ftimmt”, weil es ftims 
mend heimgebradht wurde. In der Werk: 
ftatt aber formt der Wille des Auges aus 
bem Material das Bild. 

Der Wille des Auges, ber Subjeftivismus, 
der aus dem ftártiten Objettivismus erwädhlt 
— hier liegt Bedas Kennzeihhen. Es war 
Haratteriftikh, daß ber Riinjtler, jolange 
id) bei ihm weilte, fein einziges Dial das 
jebt unentbebrlidje Schlagwort Exprejfionis- 
mus brauchte ober fih felbft gar als Ex» 
prelfioniften bezeichnete. Er ift einer, wie 
jeder Gtarte und Eigene — Der lädherliche 
Stolz auf ein Gein ijt ihm fern. Smprel[ton 
in Exprejfion umguformen, der Weg aus ber 
Natur ins Atelier — das ift fein Weg. Bei- 
leibe läßt fic) aus ber Bejtimmung jedes 
echten Talents feine EUR maden. Es 
ijt die Richtung, von der endlich zu |preden 
ijt, aber nicht im alleinjeligmadjenben Sinne, 
jondern mur mit dem dankbar ernjten Hin- 
weile, daß ein Seglicher fic) auf feinem 
Wege zu ihr binfinden muß. 

Diejer Betradtung ift eine Reihe von 
Reproduttionen Bedaſcher Landidaften bei: 
gegeben. Gie find mit ber beiten Technit 
hergeftellt, und ber Lefer wird durch ihre 
Betrabtung mehr von Beda erfahren, als 
Morte ibm jagen Tonnen, Tenno% fei es 
vergönnt, nur turz bei unferen Reproduftionen 
zu verweilen und mehr von einem Bilde zu 
lagen, das ich im Atelier bes Künſtlers ent- 
teben jab. Wir finden gewiß in diejer Heinen 
Auswahl Bedas Entwidlungsitadien verdent: 
liht. Der „Herbittag im Dachauer Moos“ und 
„Der Wintertag bei Dachau“ zeigen die große 
und freie — — des einſtigen 
Wandermalers. Die beiden Seen und die 
„Spätnachmittagsſtimmung“ bei Murnau 
führen dann in Bedas Gegenwart hinüber, in 
die geiſtige Umformung des Geſehenen, wie 
ſie ſeine raſtloſe Atelierarbeit ſchafft. Der Be— 
trachter wird — und das iſt wohl die feinſte 
Wirkung Bedaſcher Reproduktionen — keinen 
Sprung, keine Kluft von der erſten zur zweiten 
Periode empfinden, ſondern nur eine große, 
vorbereitete Selbſtverſtändlichkeit. 

Wir haben geſehen, daß es ſich ſo verhält. 
Mir aber wurde alles von dem Werke, an 
dem Giulio Beda gegenwärtig arbeitet, be— 
ſtätigt. Für die Landſchaft aus dem Loiſach— 


| 


ee EES Giulio Beda E2L22333333333321 459 





— — — nn — — —— —— 
A —— — — — 


tal hat er wohl ſein größtes Maß bisher 
gewählt. Es wallt und brauſt, es leuchtet 
und ſchattet auf dieſer Leinwand und iſt doch 
feine Eruption aus gewaltiger, glüdbajter 
Stunde, jondern — ftaunend vernahm id) 
es — Die Arbeit, die vier volle Jahre in 
Anſpruch nahm! Diejer Künftler trennt fih 
nicht von feinem Werte, weil dem Werte 
feine Liebe gehört. Ich mußte an Michael 
Kramer und feinen Getreuzigten denten. 
Beda ift glüdlicher als Kramer, denn er 
haftet nicht am Menſchen, fondern fegt [Hon 
in der Mertitatt bie Andacht vor der Natur 
fort. Jeden Morgen fiebt er bas entitebende 
Werf in neuer Geligfeit wieder. Ech 
Morgen bringt er ihm neue Schäße jeines 
Gebádjtnijjes. Weil er das Werk als Ganzes 
in der Geele trägt, zerfällt es ihm nicht in 
Einzelheiten, und jede Eingelbeit dient bem 
Ganzen. 

Co fam es, daß wl vor bielem Bilde 
den finfonijdhen Eindrud eines Naturereig: 
nilles gewann. 3d) ließ es vor mir leuchten 
und weben, id) jab den Wurf aus Schöpfer: 
ne. unb bod) — ber Wille meines Auges 
onnte, dem Dialer folgend, zu jeder Einzel: 


Spatnadmittagsftimmung bei Murnau. Gemälde. (Galerie Heinemann, München) 





SCH get 





beit jid) lenten. Bald war es ein Berg, 
bald ein Baum, bald ein Menſch, ber mein 
Belichtsfeld beherrichte. Sch glaubte, daß 
es Ifid) dort aus wallendem Nebel flarte, 
wohin mein Auge ging. Das wollte der 
beberridjenbe (Get des Malers. Und ich 
jah allmählich, was mich führte, wie es ihn, 
den Schöpfer, pe nicht FJarbenwerte, 
jondern zarte, zeichnerijche Linien, aus denen 
bie Farben fid) löften, ohne innere Führung 
zu verlieren. Der Maler jah mein ES 
ergriffen über fein Wert jchweifen. it 
wunderlider Ruhe, denfend und Doch tráu: 
mend, fagte er: , Ja, ber Bleiftift. Der Blei: 
ftift mad)t die Malerei.” — 

Giulio Beda fteht im ftártiten Mannes» 
alter. Jahre ber Entbebrung und Not hat 
er in feinem Dachau trobig überdauert. Nun 

enießt er wachjenden Ruhm. Die Welt hat 
bo zu ihm bingefunden, wie bas malerijche 

lotto au feinem Auge — er hat es nie oe: 
juht. Nun bat er die Welt. Schon lange 
befigt die Münchener Pinatothet ein Wert 
bes Meilters. Er aber bleibt ber ftille, 
eck Mann, ber feiner Arbeit und feiner 

amilie gehört — ein „abjoluter Maler”. 


Schwingungen. Verfe von Karla Hocker 
Laß es erf Nacht fein, fill und ferne Vielleicht begreiffi du meine Klage, 
Von allem, was uns fonff umgibt. Wir werden fanft einander nah, 
Kur wiffendum das Beten fremder Sterne, Und find fo rein wie an dem Tage, 
And irgendwie darin geliebt. Da uns sum erflenmal ein Schmerz gefchah. 


kä 


Die Wälder fchrumpfen braun und dürr 

Jn Fernen, die fich traumhaft blauend neigen. 
Die vielen leeren Wege laufen wirr 

Ins Schweigen. 

Und find doch off fo wunderbar um/pielt 
Von leifem Licht und nebelhaflen Klagen, 
Daß man in ihnen alle Sonne fühlt. 

Und jeden Duft und jeden Traum, 

Den fie getragen. 


a 


Weich iff der Wind —- 
Gr weckt die fummen Weiten, 
Gr fingt von Wäldern, die fich um ihn breiten, 


Die Stimmen fremaer Berge find ihm eigen 
Und die der großen Vogel: 

Die raufchend vor thm fliehn, 

Ind irgendwie iff auch dein tiefftes Schweigen 
In feinen dunklen Melodien — 


En 


Bäume warten.auf den Regen, 

Tore dämmern dir entgegen, 

Und die Brunnen an den Wegen 

Atmen leife Traum und Duft. 

Lieder find, die fernher klagen; 

Schmerzen, die du bang getragen, 

Haben Sinn in diefen Tagen. 

And du brauchfi nicht mehr su fragen, 
E 


Und Waffern, die ihm nahe find. | 
Welche Stimme nach dir ruft. f 
Die große Eb'ne liegt in weichem Schweigen, 
Die Wolken finken fchattenhaft und fleigen 
- Und wiffen viel von Ginfamkeit und Winden. 
Kur einmal kommt von fern ein Pfeifen her, 
Verloren, fanft erfferbend, und fo fewer 
And voller Trauer, 
Als fehnte dort fich irgendwer, 
Dem Schweigen eine Melodie su finden. 


kä 


Aus Abendwolken ferne Vogelfchreie 
Rühr'n Janft die weiche Seele auf. 

Jind gans in Schwermut, gans in Weihe, 
Nimmt ein Gedanke feinen Luuf. 

Was weiß ich, ob ihn Winde wiegen, 
Wohin es innerlichfl thn sieht, 

Ob er in jenen Wolkenzúgen, 

Ob er im Abendrof verglüht, 

Ob ihn die fernen Sterne führen 

Dahin — 

Qu bijt; und irgendwie mußt du es [püren, 
Wie fehr ich bei dir bin. 


Bitter B Ant ~ 


Sin ſüdliches Porträt von Theodor Bohner 








1. Der Freund unjrer Schule 
CoNM Seit drei Monaten leitete ich diefe 
ICH. Schule, die der Stolz unfrer Ro: 
lonie war. Jn einem elenden 
Mietshaus, vier Treppen hod. Im 
- erjten und zweiten Ctod waren bie 
Treppen aud bei Tag in der Dunkelheit 
faum zu finden. Im Sommer, zur Zeit der 
SBabenjtrümpfe, verlangten wir unjrer ffei: 
nen Diädchen dE Treppenbeleuchtung vom 
Hauswirt. „Freilich,“ jagte er, „aber was 
wollen Cie, es ift doch nur im erften und 
zweiten Stod finjter — oben fieht man.” 

Wenn der Ritter Töchter gehabt hätte, 
wer weiß, ob er den Weg zu uns fand? Er 
hatte aber nur Jungen. 

Co fam er, vielmehr zunächſt feine Karte. 

Matteo, ber Schuldiener, hatte zum erften: 
mal jeit Beginn des Gchuljahrs meinen 
Cdreibtijd) aufgeräumt, um Plat für die 
Karte zu Ichaffen. 


Ritter Emilio Diss! | 





| 

Polizeikommissar 
| 
i 











Ritter! — Nämlich Ritter des Kronen: 
ordens. Bierter Rlajje. 

„Bas will er?” 

„Er will morgen wiedertommen,” hauchte 
Matteo, ber in ber Verfaffung eines Mör— 
ders vor ber Entdedung jdien. „Morgen 
nachmittag. Der Herr VLA arar 

Am andern Tag ftand Dtatteo [Hon un: 
ten in ber Haustiire, naB und aufgelöit. 

„Er ijt oben, der Herr Rommijjar. Ich 
babe ihn glei in Ihr Zimmer geführt.“ 

Oben jaB er, die Biederfeit in Perjon, 
mit langem jchwarzem Bart, goldener Brille, 
— der ein Paar zutraulich liſtiger Aug— 
ein funkelte, unverfennbar ein Abkömmling 
pa jüdlichen Proving, die dem Lande die 
angen Bárte und die großen Hüte, Die 

bilojophen unb bie Räuberhauptleute Ite: 
ert. Augenblidlid) war er dabei, mit einem 

aummollenen Tajchentuch ungeheuren us: 
mapes weitere Brillen zu pugen, von denen 
er ein fleines Lager auf dem Leibe zu tra: 
gen fien. Vorher hatte er fic) die Zeit 
mit Fliegenfangen vertrieben. Wenigitens 
bildeten ihre Leichen ganze Ornamente um 
ihn Der auf dem Fußboden. 

Mein Kommen war ihm nicht entgangen. 
Er jtedte fein optiidjes Lager weg, während 
fein Gelicht vor Freude glángzte. 

„Buten Tag, Herr Direktor!“ 

„Buten Tag, Ritter! Womit fann 1d) 
dienen?“ 


„Ich — mit einem Mort — ich will mei: 
nen Sohn auf Ihre Schule bringen.“ 

„Ritter, unjer Sebrerfollegium, die Rolo: 
nie, unjre Regierung find ftolz auf das Ver: 
trauen, das ihnen Die made Be: 
wobner bieles fleiBigen Landes entgegen: 
bringen. Indes...” 

Der Ritter brauchte für feinen Sohn nod) 
einen einheimijhen Hauslehrer. Wo folte 
er dazu bas Geld nehmen, wenn er auf fei- 
ner Karte den Rronenorden vierter Klaſſe 
als einzigen Reichtum ausjchrie? Sch er: 
Ihöpfte meinen Borrat an Kenntnijjen der 
anbesjpradje, um ihm abzuraten, ohne den 
wahren Grund ragen zu miijjen. Rergebens. 

„Willen Sie, Shre Zucht ift ernft, unjre 
ſchmeichelt. Sie müjjen meinen Sohn neh: 
men.“ Er war bidjt Derangerüdt, ein 
Knopf an feiner etwas weiten Hoje war auf: 
gejprungen, feine ganze Gejtalt |djien ein 
verzüdtes Lächeln werden zu wollen, als 
habe man ihm Butterbirnen over eine En 
pajtete angeboten. „Beiläufig! Kennen Gie 
ben Minifter des ÁuBern, Baron Aurelian ? 
Er ftammt aus meinem —— Die 
pron ändern fidj Sedenfalls fónnte mein 

obn im Außenminijtertum hodfommen, 
wenn er fremde Sprachen fennt, Ihre.“ 

Sd) verjant in Bewunderung eines fo 
weitjehenden Baters und nidte ergeben. 

„Sch wußte, wir würden uns einig wer: 
den. ie bod) ijt Ihr Schulgeld ?^ 

„Zehn Franken monatlich.“ 

Ritter Bun fuhr etwas zurüd. Leider 
ijt feftzuftelen, daß ihm hierbei ein zweiter 

nopf feiner Hofe aufiprang. Er mertte es, 
fnöpfte mit der Würde eines Provinzial: 
philojophen beide zu und hatte jid) do 
melt. „Zehn Franten? Ich werde allo fünf 
bezahlen.” 

„Ste verftehn mid faljd, Ritter. Seon 

Er tätjchelte mid) auf bte Schenkel. „Sie 
mißveritehn mich. Ihre Schule liegt in mets 
nem ®Biertel. Sd) werde fünf Franfen bes 
zahlen.“ 

Nun beugte ich mid) vor. „Ritter, in 
meinem Baterlande gebe ich jebt zu Ihrem 
Vorgeſetzten.“ 

Er age, bejdjmürenb die Hände und gab 
itd) Mühe, wie ein Engel des Beato Anges 
lico von $yielole ausgujehn. „Drein lieber 
junger Freund! Reden wir doch als Männer 
miteinander!“ 

Die Aufforderung erhielt Nachdrud durch 
bas Herunterzerren des rechten Yugenlides 
mit drohend erhobenem Finger, Zeichen, 
deren volle Bedeutung zu verjtehen mid) Die 
Schule des trefflichen Ritters gründlich bes 
räbigt hat. 

„Sehen Gie dod, in ber ganzen Welt 
find die Gelege fürs Geben eingerichtet, die 
Menjchen aber für das Nehmen. Wenn wir 


462 PFESSSSSSSSSSSSA Theodor Bohner: seess ZZ ZT 


vor Bericht gehn, Sie und id), ber Polizei- 
fommi||ar, dem die Obhut des Koni liden 
PBalaftes anvertraut ift, es lebe der König! 
und ich lage: „Diefer Herr ijt noch nicht 
[ange unfer Gajt, er verjteht unjre Cpradje 
nod) nicht,“ wer, meinen Gie, bezahlt? Mein 
lieber junger Freund, id) bin ein Freund 
Sbrer Schule, ich brauche es nicht zu fein. 
Rann id) dafür, dak der Staat bie Arbeit 
feiner Beamten nicht genügend einjchägt? 
Sind Gie Beamter? Ee Sie haben mid) 
bod) gleich |o jympatbild) berührt. Werden 
Cie denn bejjer bezahlt? Können wir es 
nicht als Beamte, unter uns, fozufagen tol: 
legtalifd) regeln? 

Ich ließ beicheiden einfließen, baB über die 
Freundſchaften unfrer Schule ein Schulvor- 
Ronn entjcheide, dem ich ibn aber empfehlen 
wolle. Er jchwanfte einen Augenblid, ob 
ein Mann von feiner PARA jid) mit einem 
jolhen halben 3ugeftándnis begnügen dürfe. 
Endlich entſchloß er jid), Dep fih mit an: 
geborener Sicherheit bes Geiftes die Namen 
Jämtlicher Boritandsmitglieder geben und 
ging. An der Türe drehte er fid noch ein- 
mal um und bob lächelnd den Singer: 
„Denken Sie an die Gejebe, die vidis ute 

Die Treppe Hallte nod lange von feinem 
fröhlichen Gelächter wider. 


2. Reine Einridtung für Unredt 


In unjerm Sculvorftand waren drei 
Vertreter der Preffe und zwei Anhänger 
einer befannten geijtliden Partei. Die 
Freundſchaft Ritter Bijfis fand aljo volles 
Berjtändnis beim Vorſtand. Gegen ein jähr: 
lid) wiederholtes Gejuch zahlte er laufend 
die Hälfte bes auf ihn fallenden Schulgeldes. 
Außerdem wurde er zum erften außerordent: 
lidjen Mitglied unjres Vereins ernannt. 

Wir erhielten ein Dantjchreiben, in dem 
der Geebrte Ki zu jedem Dienjt auf feinem 
Gebiet erbot. aöjforichungen ergaben, daß 
Ritter Tok außer dem Künigspalaft die 
Männerflöfter unterftanden. ls wir er: 
fuhren, daß er dazu noch famtlide Tingel: 
tangel beanie Hellien wir unjre Ere 
fundigungen etn. Wir fürchteten, uns in 
Abgründe zu verlieren. 

as erftemal baten wir Ritter Biffi, als 
Matteo unjre großen Mädchen in die Ma: 
den kniff. 

Die Mädchen vertrauten es unjrem Meus 
philologen auf Franzöſiſch. Er teilte es mir 
auf Lateinijd) mit. Sd) beftellte Matteo in 
der Landesiprabe zum Schulvorfigenden. 

„Heute nachmittag drei Uhr bei Herrn 
Braun.“ 

Um halb vier fam Matteo zuriid, bleich, 
mit der Entrüftung eines Edelmanns aus 
altem Hauje. „So Jeid ihr Fremden. Ronn: 
ten Sie mir nicht Jagen, daß es eine ernite 
Gade ijf? Dann hätte ich meinen Md- 
volaten mitgenommen, und Herr Braun 
wäre jekt wegen Berleumdung verflagt. 
Go babe id) meine Entlafjung zu Michaelis 
unterjchreiben miijjen. Ah, dieje Kinder! Ich 


bin aht Jahre an der Schule, Sie, Direftor, 
pier Monate. 3d könnte ja beinahe der 
Pater von diejen Mädchen fein.” 

Sd) wies auf die Nähe der Ferien, Die 
für den Gchuldiener drei Monate Gehalt 
ohne Arbeit bedeuteten. Wir tranten einen 
Berjóbnungsliter. Nach dem zweiten Liter 
erflärte fid) Matteo bereit, Turchzuhalten, 
„aber nur aus NRüdlicht auf den Direltor, 
denn es bleibt bod) eine ſchwere Beleidigung 
unb eine Täufchung des Vertrauens.“ 

Um ben 24. Mai erjchien bet mir ein alter, 
vergrämter Mann. 

„St She Diener zuverläjlig ?^ 

„Er bat bie — Nd angenommen, 
junge Mädchen in bie Waden zu fneifen, in 
Geldjaden haben wir feine Klage.“ 

„Dann ift er mein Dann. Ich bin Bantier.“ 

Am 31. Mai fehlte Matteo. Ich láutete 
jelber bie Glode, 3og bie Uhren auf, blies 
über den Staub auf ben Bánten hinweg, 
fura, erjebte Matteo, fo gut es ging, bis uns 
ein Hotelier für den Heft bes Schuljahrs 
feinen Nachtportier lieh. Sofort meldete jid) 
unjre erfte einheimijche Lehrerin. 

„Kommt Matteo nicht mehr?“ 

„Ih bin in feine Abjichten nicht einge: 
weibt. Aber ich glaube nicht.“ 


' „Um Himmels willen, wer bezahlt mir 


bann meinen Junigebalt? Er bat ibn dod 
auf der Bant geholt.“ 

„Und das melden Gie mir Jo jpät?“ 

„Ach, er hat ja lo geweint. Gein Neffe, 
der Student, habe in einer Nacht alles durch: 
gebracht.“ 

"Bo ift der Student? Ein Student, der 
bier gwethundert Franten in einer Nacht 
durdbringt, wird verhaftet. Dafür fennen 
Sie unjre Polizei. Ihren Gehalt hat Matteo 
nod), aber er bat ibn als Bürgichaft für 
feine Redlichfeit bei einer Bank hinterlegt.“ 

Sd) bemerkte, daß faltes Waffer für Ohn- 
machten ftets von Wert bleibt. 

Matteo hatte aber auch Fämtliche Schlüflel 
mitgenommen. Da wir ausziehen wollten, 
bedeutete dies große Schwierigkeiten mit dem 
Hausherrn. d ging zum Ritter in Die 
Wohnung. Er empfing mich gerührt. „Sieb, 
der Direktor! Das trifft fih pradtvoll. 3d) 
Ge gerade eine Loge für heute abend. 
Wollen Sie mit Ihren Lehrern hin?” 

Sd) wurde in das Familienzimmer genötigt. 

„Konrad!“ 

Konrad, unfer Schüler, war dabei, ber 
ganzen Familie, Papa, Mama, feinen Brii- 
dern, dem Dienſtmädchen aus feiner Fibel 
die tägliche Deutjchftunde zu Qeon Unter 
einem Stuhl froh bas Nejthätchen, der un: 
glaublich dide, zweijährige Arrigo, hervor. 

„Bubtenn Tagg!“ 

Ja, Ritter SL war ein peu unjrer 
Schule. Ich beſchwöre unire Regierung, zu 
jeben, wie man fih Freunde im Ausland 

t 


afft. 

Mud Matteo wollte Ritter Biffi vorführen 
lafjen. „Sie werden Nachricht betommen. 
Zweifeln Sie nicht!“ 


=- — — -a — "m 


ee Ritter Biji Kësse eh 408 


Nad acht Tagen hatte ich genügend Mein 
mit dem Portier unfres Haujes getrunken, 
um Matteos neuen Unterjchlupf zu tennen. 
Sd) ging wieder zu Ritter Biffi. 

e een ter ift eine Dauerkarte für 
unjer beftes £idjt|pielbaus. Kommen Gie!” 

Wieder ging es in die Familienftube, wo 
‚Ronrad' eben feine Deutjchftunde hielt. 
Wieder frod) Arrigo unter einem Stuhl hervor, 
um ,Gubtenn Tagg‘ zu brüllen, und wieder 
re mid) Ritter Biffi an die Türe, 

„Datteo, mit bem lajjen Sie mid) in Rube! 
Cie hätten thm doch für vier Donate Gehalt 
zahlen MEN. Lajjen Sie Schlüfjel machen, 
giehen Sie die Kleinigkeit für Ihre Lehrerin 
ab! Sch glaube, Sie müllen ihm immer 
nod) etwas berauszablen. arten Gie ab, 
ob er nicht Hagt! Aber id) mijche mich nicht 
barein. Oder jeben Gie in der Polizei eine 
Einrihtung zur Unterftüßung bes Unredts ? 
Nie!“ Er [trid) feinen langen, ſchwarzen Bart, 

Matteo vertlagte uns niht. Ich be: 
gegnete ihm im Sommer im Rorjo. Er jab 
nod) |djiledjter aus als früher und trug in 
ber Hauptjache feinen abgejchabten Winter: 
und Gommermantel, andere Rleidingsftiide 
idienen ibm nicht zur Verfügung zu ftebn. 
Als er mid) erfannte, glitt ein Lacheln über 
jein Gelicht. 

,Sireftor, wie gebt's? Haben Gie jest 
nicht Ferien? Ich or ba unten am Meer 
einen fleinen Weinberg. Wollen Gie nicht 
mitfommen? Wir könnten zujammen auf 
die Jagd gehn. Ich Habe dod gerade 
Ferien. Willen Cie, das Bantleben jagte 
mir nicht zu, wenn man das Leben einer 
Schule gewöhnt ijt. Gebn wir alfo jagen!“ 


3. Ein Wort über die Tugend 


Durd) die Güte eines Borftandsmitgliedes 
erbten wir Die deutſche Witwe eines ein: 
heimijden TFeldwebels für unfre Schule. 
Wir bejchäftigten fie mit Billigung unjrer 
Regierung in allen Klaſſen langjam nad) 
unten, bis fie im Kindergarten landete. Hier 
leitete d ein Regiment Kinder aller Alter 
und aller Zungen, bie aus unbegreiflichen 
Minfden ihrer Eltern in bie Anfangsgründe 
unjerer Gprade eingeführt werden Jollten. 
Konrad hatte drei Monate hier auszuhalten. 
Als ibm ein vierter Monat angekündigt 


wurde, ging er mit einem Schlädhtermejjer 
auf die felbmebeti los. 
Das *Borfommnis fonnte einen jo liebe: 


vollen Vater wie Ritter Biffi aufs äußerte 
betriiben. Dennod war eine Mitteilung an 
ihn faum zu umgebn. Wir nubten die 
Randesgewohnheit, die Beltrafung Hervor- 
ragenber Schüler der Weisheit ihrer Vater 
gu überlajjen, und beauftragten Antonio, 

atteos Nachfolger, Konrad feinem Bater 
zuzuführen. 

Sd) mußte den Auftrag dreimal wieder: 
holen, bevor fid) Antonio entſchloß. Dabei 
war er Unteroffizier bei den Finanzern ge: 
wejen, deren Kühnheit befannt ijt. 

„Könnten Cie nicht einen andern fenden ? 


Der Herr Kommiljar! Sd) weiß nicht, wie 
er es aufnehmen wird.  Ctumpfe Mejjer 
dürfen nur vier Zentimeter lang fein, diejes 
ilt |piß, und fieben Zentimeter. Es ift ernit.“ 

Nach einer Stunde kehrte er zurüd, er: 
Ihöpft. „Der Ritter erwartet Sie punft acht 
Uhr am Eingang des neuen Ronzertbaujes. 
Er hat mir nicht gejagt, wozu. ber gehen 
Cie, oder geben Sie mir bitte meine Ente 
lajjung zum Eriten.“ 

„Sie lieben Muſik?“ begrüßte mich Ritter 
Billi, und eine Handbewegung zeigte an, dah 
er vom übrigen nicht zu reden wünjche, 
„warum haben Gie es mir nicht früher zum 
Ausdrud gebracht ?^ 

Mir gingen an die Kaffe. 

„Keine Pláge mehr. Wir werden feben.” 

Sch glaube, es wäre nur unangenehm ges 
wejen, wenn es an der Rajje nod) Plage 

egeben hätte. Denn an der Kaffe wollen 

he Geld dafür, mit der freundlich erhobenen 
Nr des Ritters aber fojteten die Plage 
nichts. 

Da Konrad häufiger von unjern Bräuchen 
in feinem Benehmen abwich, mußte ich mid) 
daran gewöhnen, meine Abende dergeftalt 
mit Ritter Biffi zu verbringen. Gein Beruf 
zwang uns babet, unjre Aufmerkjamteit im 
wejentlichen der „leichten Bühne“ zu widmen, 
Sd weiß nicht, ob wir die Trifots ber rei: 
zenditen Sängerin Pepita bas breiBig|te ober 
erit das zwanzigfte Mal bewunderten, als 
ich bejdjeiben auf die Gefahren des mühe- 
vollen Amtes anjpielte, bas feine Obern auf 
bie unvergleichlichen Schultern Ritter Billis ` 
gelegt hatten. 

Er richtete fih auf bem Seſſel ber erjten 
Bantreibe auf und fuhr zwei:, dreimal mit 
der Hand über den langen Jchwarzen Bart. 

„Sie wollen ein Wort von mir über bie 
Tugend? Hier ift es. Die Tugend ift bie 
Grundlage bes Staates. Der Ausdrud ber 
Tugend im Ctaate ift der Beamte. Es gibt 
feinen Beamten ohne Tugend, aljo auch feine 
Tugend ohne Beamte und” — dies fagte er 
mit unbejchreiblihem Lächeln — „vielleicht 
wären die Menjden vollfommen, wenn alle 
Menjdhen Beamte wären. Jedoch müßte 
man dazu erft willen, ob die Tugend Die 
Menſchen vollfommen maht. Die alten 
Paphlagonier taten unredht.. .“ 

„Deh, Paphlagonier,” treijbte hier eine 
dide, muntere Frau an unjerer Geite mit 
einem unverfennbaren Süden: und Saus: 
haltungsgelicht. 

Ritter "Dun begann von neuem. „Die 
alten Baphlagonier.” Dann fah er unwill- 
kürlich nad) unjerer Nachbarin, verbejjerte fid) 
„die Babylonier,“ begann noch einmal, um, 
ganglia) unficher geworden, zu verftummen. 

egen des Leidtfinns einer Heinen Haus: 
oder Küchenfrau ijt unfer Gelpräch über bie 
Tugend nie zu Ende gefommen. 


4. Ein Brief aus Odejja 


Ritter Biffi hatte verfproden, unfer Freund 
zu fein. ` „Sie miiffen 500 Schüler haben. 


464 1 I Theodor Bohner: BZZZZZZ ZEZ AZERA] 


Meine Freunde werden Ihre Gremie wers 
den. Das Bündnis marjdhiert.“ 

Schon nad einem Monat hatten wir tros 
unjeres Sträubens in jeder Rlajje einen An: 
hang rübrenb Beflijjener, bie jeden Cintre- 
tenden mit einem taftjeften ,Guhtenn Tagg” 
begrüßten, ohne je ein weiteres Wort zu 
lernen: Ritter Bijlis Schüßlinge. 

Mud) unter ihnen fiel Tullta Tefta out, 
Sm Stammbud war aufgenommen, daß fie 
eine Großmutter und Ehen Bater hatte; 
alles übrige bing in der Luft: Bücher, Hefte, 
Jagelpflege, Gtrafzettel, zaonen, jede 
Mitteilung über ihr Zuhauſe ber ſie ent— 
waffnete alle Lehrerinnen durch ihre Liebens— 
würdigkeit. Ihr ſtändiges Schwaßen nur 
machte zuleßt jede Schulftunde unmöglich. 

Wir Forteen dreimal an den Bater, das 

weite- und drittemal eingejchrieben, ohne 
ntwort. Als das [hon faft vergeffen war, 
erihien una Kier mittags kurz vor bem 
Schluß ber Spredftunde eim dider Mann, 
der in feinen Tajden offenbar nad) einem 
Goriftftid von uns juchte, 
Ich bin der Ontel.” 

Es ift ein Geheimnis des Südens, daß 
er unire Gedanken bejchleunigt. Auch zeig: 
ten die Fingernägel unverfennbare Verwandte 
ek mit den jchwarzen Nägeln unjerer 
Muſterſchülerin. „Tulia Teftas Ontel?” 

Er SC vor (lid wie eine Butter: 
blume. a, ja, wie haben Gie das er: 
taten? ie lange find Gie [don bier? 
Haben Sie guten Erfolg bier?“ 

e d lenfte bas Gejpriith unhöflich auf feine 
i 
„Zullia ftört uns nümlid) burd) Schwagen.“ 

Er lehnte jid) breit auf. „Das tft fo 
menichlich.“ 

„Aber wir Lehrer find * u da, Die 
ee Oh be 30 d zu betámpfen. à 

(te, ber Sharakter Tullias wird 
gie Sa "Sch fenne die Eigentümlichkeiten 
er weiblichen Mitglieder unjrer — 
Aber wenn Sie es wünſchen, will ich es 
meinem Bruder ſagen. Indes, tónnten Cie 
mir nicht einen Gefallen tun? Gehen Gie, 
da hat mir hier eine Firma aus Odeſſa ge: 
een: deutih. Es geht um einen Kauf 
eigen. Es ijt bas erftemal. Miirden Gie 
mir nicht den Brief überjeben ?^ 

Sch überſetzte den Brief, und Herr Tefta 
drückte mir gerührt die Hand. 

„Wahrlich, Ritter Biſſi hat recht. ean 
Cie bod) bin, hat er mir geraten, gehen Sie 
hin! Gie werden brave und tuge Leute an 
ihnen finden, wenn aud) vielleicht ein wenig 
umjtdndlid). Aber bas gilt von Ihnen nicht, 
Herr Direktor.“ 

Er mußte nod über eine Stunde in 
ber Mittaghie im Sonnenbrand auf ber 
Straße warten; denn wir hatten feiner 
Nichte fofort eine Stunde aubiftiert. Er be: 
nubte bie Zeit, den Brief aus Odejja nod) 
einmal zu ftudieren. Danah begann er, 
ne Mittagsblatt langſam auswendig zu 
ernen. 


5. Herr Kölberle 


Sünglinge find aud Jungfrauen, 
Die mit Weibern jid) DA trauen 
Und nicht in ber (tbe fein, 

Wenn fie fid) ganz Gott ergeben 
And ganz feujd) und züchtig leben, 
Alſo heilig, red)t und rein. 

Ziele Berfe find von Michel Hahn unb 
bereits 160 Jahre alt. Dennod) kannte id) 
fie e nicht, bis uns unjre Regierung in 
bës eisheit ben Reallehrer Rolberle ¿us 
Ihidte. Herr Kölberle war Michel Habner, 
Michel Hahnicher Fiingling oder Jungfrau. 

In Rußland hätte im die egen Leg als 
Dudoborgen durd) bie Regierung totjchlagen 
lajjen, bet uns empfahl fie ihn ſämtlichen 
Staatsbehörden in den rührenditen Tönen, 
bis ihn diefe als Berbreiter ihrer Bildung 
ins Ausland jdjidten. Vielleicht hätte fie 
ibm auf Antrag fogar bas Bruderjbafts: 
band bezahlt, bie dverbgenähte, jhwarze Hals» 
binde von ber Corte ber „unverbrauchbaren“, 
die man in feiner Bruderfdaft aud) in der 
Nacht nicht abzulegen [dien. 

Bon ber Regierung war Herr Kölberle 
für das Franzöſiſche beftimmt. Als die ganze 
Tertia die Marſeillaiſe ſchwäbiſch ausjpres 
chen fonnte, entdedten wir Herrn Kölberles 
Begabung für Religion. Er befam Jämt: 
liche Klalfen, Buben und Mädel, zwiichen 
10 und 14 Jahren. 

Etwa im vierten Monat feines fiidliden 
Aufenthalts betam Herr Kölberle Augen. 
Er empfand jofort die Pflicht gegen die thm 
Anvertrauten. „Ihr verjdtehts zum Glid 
no net, aber wenn i in bem Gindebabel nur 
bis an mei Wohnung in ber Frattina geb, 
jo Ei i alles.” 

ags darauf entdedte Ritter Biſſi auf 
einem Dienftwege feinen Konrad in der 
grattina, wie er bie Klingeln dreier ver: 
ichiedener und ganz verfehrter Häufer zog. 
Sch ehre es als einen Beweis der Freund: 
haft, dak Ritter Biffi mid) in meinem 
Amtszimmer aufjudte, bevor er uns fein 
Bertrauen fiindigte und feine Söhne ab: 
meldete. 

„Wenn Konrad [Hon jebt... 
Kindern davon nicht.” 

„Gewiß, Ritter, td) verurteile den Vorfall. 
Uber ijt es von Herrn Kölberle nicht blog 
ein Mikverjtändnis jener neueren Beftre: 
bungen, Die nicht früh genug die Jugend 
warnen können?‘ 

„Bapperlapapp!“ Ritter Bilft pfiff eine 
Arie der Sängerin Pepita. 

„Bei uns im Norden, Ritter . 

„Ic verehre Die Wiffenſchaft von nct 
der Alpen, aber ihr Fiſchblüter e 

„uch Roujfeau . 

„Sit ein großer Gpibbube gewejen, Der 
jeine Kinder im Findelhaus abgab. Den 
lajjen Sie in Ruhe! Die Tugend tft Die 
Grundlage des Staates, der Ausdrud ber 
Tugend im Ctaate ift der Beamte. Sit Herr 
Z0olberle Beamter ?" 

„Ale. Herr Kölberle ift dazu Michel 


Man redet 





ne u DDR. Å- ——— ui... AAA CL — — 





In der Kirche 
Gemälde von Prof. Carl Albrecht 


Bee E Ritter Biffi see sel 465 


Hahner. Michel Hahner find die freiwilligen 
Blüten einer Gittlid)feit . . 3 

„Wie lagen Cie, id) bitte, nod) einmal 
ben Namen!“ Gr lernte ihn auswendig, nad): 
Dem er ibn in einem abgegriffenen Notizbuch 
zweimal mühſam aufgejchrieben hatte. „Was 
ijt Michel Ahner?“ 

Die Erklärung ging nicht ohne Mißver— 
ftändnijje. Schon bie beiden erjten Berje der 
Bruderjehaftsweile waren faum zu über: 
winden. 

„SJünglinge find aud) Gungfrauen.” 

„Sehr bedenflidh! Man müßte fie ein: 
jperren. Oder es find Krante. Konrad wird 
mie ius 

Ich überzeugte den Ritter, daß er auf 
einer faliben Fährte war, und fuhr fort, 
um ibm die entjdjloijene Gungfraujdaft ios 
wohl des großen Gángers als Herrn Rólber: 
les verftándlid) zu maden. 

„Eh!“ Er öffnete endlich die Augen, joweit 
er fonnte. „Das ijt es? Riefig unfittlich, 
ungeheuer unjittlih. Sm Mittelalter ift ein 
Kardinal daran gejtorben. Schade, ein fo 
braver Lehrer! Wher ich will es auf mich 
nehmen. Direktor, ich dente daran. eine 
Hodhadhtung für Ste ift nur gejtiegen. Ver: 
geffen Sie den Zwiſchenfall!“ 


6. Die Jdhinen &ünite 


Wir feierten einen Heinen Abjchied in 
einem der vielen Ateliers der Villa Fera. 
Jeder beutjde Künftler hat in einem diefer 
jede Bequemlichkeit entbehrenden, im Win: 
ter falten, im Sommer heißen, in einem 
paradiefiihen Part wie eine Reihe abgela: 
dener und vergejjener Riften nebeneinander: 
itebenben Weißblehhäuschen angefangen; 
er war unendlich ftolz, wenn er fie nad) ben 
erjten Erfolgen gegen ein Atelier mit Mob: 
nung in der Stadt jelbjt vertaujd)en fonnte; 
und bod) verließ er nur mit Mebmut die 
Anfangsitätte feiner Riinjtlertráume, den 
herrlichen Parf, in den er jid), taum gejtórt 
von dem quertópfigen Beliger, mit gleich: 
jtrebenden Giinglingen und Sungfrauen aus 
der ganzen Welt, bejonders aus dem Nor: 
den, eintt teilen durfte. 

Als wir mit unjerem freiwilligen Freund 
antamen, war unter der berühmten Piniens 
gruppe nahe dem Abhang nad) bem Fluſſe 
eine Malerin noch an der Arbeit. Mit der 
natürlichen Anteilnahme des Laien an der 
Hunt gingen wir näher. Ich entdedte zu 
ipát, daß es die „biblijche Geſchichtsmalerin“ 
war, die ihren Aufenthalt im Güden aus: 
ſchließlich biblijden Darjtellungen widmete 
und für fie den Grundjak ber genauen Jia: 
turwiedergabe neu entdedt hatte. Bis jebt 
war fie mit ihren Studien noch nicht über 
das Paradies vorgedrungen. Ritter Bijfi 
war bereits dicht an fie herangetreten und 
hielt jene Kennermiene bereit, mit ber wir 
die Schildereien umberjtreifender Maler in 
ber Gommerjrijde zu mujtern pflegen. Debt 
entoedte er mit Befriedigung, bab mon es 
bier nod) mit wahrer Kunft zu tun hatte, 


Belbagen & Klajings Monatshefte. 


35. Gabrg. 1920/1921. 


indem bie Begenjtände des Bildes deutlich 
zu erfennen waren. Go hatte er auch feine 
Einwendung, daß bie Riinftlerin einen nad: 
ten Mann, etwa Adam, der im Paradicfe 
Giefta auf einem Baum hält, dargeftellt 
hatte. Golde Darjtellungen gibt es in der 
Kunft, und man weiß, daß jeder Künitler 
dazu Vorlagen findet. Er nidte andadtig 
und wintte mir zu. Da raujchte es oben in 
einer Pinie, und wir faben hinauf, wohin 
die fromme Malerin, ungejtórt von uns, die 
ganze Zeit gejehn hatte. 

Es war Oftavianus, das frájtiglte Män- 
nermodell, das es zurzeit in der Stadt gab; 
er lag nadt anf einem Aſte. 

Sin biejem Wugenblicde bedauerte ich, nicht 
dem Rat meiner Tante gefolgt zu jein, die jagt, 
daß man in fremde Lander nie ohne einen 
Rognat ACL Er wäre unjerem Freunde von 
hohem Wert gewejen und hätte thn jchneller 
bie angeborne Feltigkeit feines Charafters 
wiedergewinnen laffen. So fürchtete id) bei: 
nabe, ein unfreiwilliger Mörder geworden 
zu fein. Er drehte hilflos bie Augen bald 
nad) Adam, bald nad) mir, dann wieder nad) 
der Malerin. Erft furz vor ben Altelters 
gewann er die alte Gelbjtbeherrichung. 

„Sonderbar,“ jchloß er das Erlebnis ab, 
»jonderbar! ber wenn es bei euch Lan: 
besbraud) ijt, daß man, mit Erlaubnis, nadt 
auf Bäumen lebt.“ 

Mit freudiger Erwartung traten wir nun 
in bas Atelier. Alles, was er hier Jah, er: 
regte das Entzüden des eben nod) jo ſchwer 
Gepriiften: die einfachen Blechdächer, Die 
Möbel, die fid) ber augenblidlid)e Inhaber 
wie feine Vorgänger aus Kiſten zurecht ge- 
madt batte, bie bunten Behänge, bie Der 
junge Riinjtler ftatt Bilder an feine Wände 
hängt, nachdem fie auf dem Tródelmartt 
jeinen Farbenfinn entzüdt haben. Er bes 
Hopfte gerührt die vielen angefangenen und 
ion wieder halbeingetrodneten Tonmodelle. 
Schließlich blieb fein Blid auf einem Tajchen: 
feuerzeug haften, wie fie Damals neu auf: 
famen; der Gaftgeber hatte es als einzigen 
Luxus aus der Heimat mitgebradt. 

Er erflärte bereitwillig jeinem Bejuch die 
innere Einrichtung. Als das erfte blaue 
Flämmchen empor|djlug, fiirdteten wir fait 
ür den Berjtand bes Ritters. Vian mußte 
thm das Büchschen zum eigenen Verſuch in 
die Hände poen, wobei er naturhafte Laute 
bes Entzückens ausjtieß, wie man fie nur 
von Giidjeeinjulanern nod) au hören be: 
fommt. Er berubigte fic) nid)t, bis jeder 
Bejucher eine Zigarre genommen und bei 
ibm angejtedt batte. Wud) nachdem er jid) 
gelegt hatte, trieb es ihn alle paar Viinuten, 
das Flämmchen wieder anzuzünden, immer 
mit dem gleichen Urlaut des Entzüdens. 

„Dah, wie wird die Welt noch jchön 
werden. Wenn id) meinem Baterlande etwas 
wiinjdje, jo ift es die Einbürgerung von Er: 
findungen, wie 3. B. die Finiminutenterzen 
oder bie Brünebohnen:Abzichmajchine. Habe 
id) recht ?" 


2. Bd. 31 


466 Iesse ee Theodor Bobner: 


Mir beeilten uns, bie Verdienfte feines 
Landes in den jchönen Riinften bervorzus 
beben. Man tranf auf die Runft. 

„Die Kunjt,” Ichloß er fid) an, „ift ewig. 
Es liegt dies in ihrer Aufgabe. Wie wollen 
Cie fonft bie Majjen für den Staat, für bas 
Allgemeine erwärmen, wenn nicht durch das 
bean am Berfajjungsfeft oder ben 

bnigsmar|d? Hier ijt bie wahre Kunſt. 
Kennen Gie etwas, das beffer feinen Zwed 
erfüllt und höhere Swede bat als unfer 
Rónigsmari? Tabummdadadadah, ta: 
bummdadadadah!” 

„Der Königsmarſch,“ Tagte Herr Kölberle, 
Udt eine großartige, muſikaliſche Schep— 
Tung, Mir tn Wirteberg ...” 
| an ließ bie beiden in ihrem patriotifden 
Gejprad. Die Künjtler verhandelten mitts 
lerweile über den Unteribied männlicher 
und weiblicher Schönheit. Während Die 
einen bie jchwellenden Linien bes ei 
baljes, den ſehnſüchtigen Aufitieg des 9tadens, 
ihre runden ultern priejen, feierten andre 


bas geiltreiche Spiel ber Riidenmusteln beim 
Singing. 
Ein begeifterter Schwede madjte den An: 


fang, indem er Rod und Hemd 

„Seht, worüber wir ftreiten!“ 

In wenigen Minuten hatten alle die Ober: 
förper entblößt, man gab Rennerurteile über 
Scdyulterblätter, Armmusteln ab, lobte einen 
guten Turner, lachte über einen zu Dagern. 
(fin Kraftmenjc ließ feinen Oberarmmustel 
befiihlen. Auch Ritter Bilft trat heran. 

„Sn Wahrheit, prädtig! Direktor, id) 
bin Ihnen dankbar. Y, id) möchte ewig nur 
mit Deutjchen leben.” In bielem Augenblic 
bat ein junger Siinftler um die Erlaubnis, 
Ritter Biſſis Oberleib betrachten zu dürfen. 
Andere, Die der Mein angejtedt hatte, 
jauchzten Beifall. 

,&un Sie uns ben Gefallen! Legen Gie 
ou Machen Sie es fih bequem! Bitte, 

itte.” 

Ale Augen ſahen auf ihn, der allein 
jeinen Rod anbebalten hatte. 

Er trat aus dem Kreije. Auf feinem Ge: 
fiht lag ber feierliche Ausdrud jener Mi- 
nuten, Da er vor demonjtrierenden Mafjen 
am Sóntgspalajt die tritolore Schärpe auf- 
inópfte, die die Bolizeitommiljare unterm 
Rod tragen, um den Truppen wie der Menge 
das Zeichen zu geben. 

,S) nein, ich bin ein Ehrenmann.“ 

Und wandte fih zum Gehen. Unmittel: 
bar dahinter, nachdem er faum die Tür ge: 
ſchloſſen, vermißten wir bas Tajchenfeuerzeug. 
Nad drei Monaten fam es — 
durch einen Schutzmann zurück. 

Ritter Biſſi hatte es auf einem Dienſt— 
gang „bedauerlich zugerichtet“ gefunden. 


herunterriß. 


7. Kronprinzenempfang 


Das Land feierte Jubiläum. In Der 
Hauptſtadt wurde daraus eine Art belehren— 
der Kinovorführung ausländiſcher Fürſtlich— 
keiten. Sie kamen, fuhren im Staatswagen 





u Hofe, zeigten ſich mit dem König dem 
Bolt und fuhren wieder ab. Nachdem unjere 
Regierung dreimal ihre Abfichten geändert 
hatte und bereits im ganzen Lande fein 
PBrejlemann mehr gefunden werden fonnte, 
ber an ihre Ehrlichkeit glaubte, entjchied fie 
fid bod) nod), ben Rronpringen zu [djiden. 

Sämtliche Vereine in der Kolonie zeigten 
auf die Nachricht Leben wie Gartenland nad) 
einem Frübjahrsgewitter. Die Mitglieder: 
zahl des Flottenvereins, bie jahrelang nur 
eine Eins gewejen war, jdjnellte auf 868. 
Mas bedeuteten jegt Warnungen Seiner Ex: 
zellenz des Botjchafters vor England? Im 
vornebmijten Klub, im Künftlerverein, wählte 
man vierzehn Tage lang ununterbrochen 
Borftände, 

Act Tage vor der Ankunft des Gaftes 
Hr durch, dak auf der Botichaft nur zwei 
tatt drei *Borjtanbsmitglieber jedes Ber: 
eines zugelaffen werden follten. Eine Abs 
ordnung jämtlicher WBereine der Kolonie 
wurde darauf bei Geiner Exzellenz dem 
*Botidjafter vorftellig, ob und wieviel Neu: 
gründungen von Vereinen er in diejer Woche 
nod) anertenne. Der legte Berein, der ge: 
gründet und anerfannt wurde, umfaßte Die 
dritten Vorfigenden jämtlicher alten und 
neuen Bereine. 

Wm drittlegten Tage Dep mid) Ritter Biffi 
„in einer jehr erniten Angelegenheit“ zu fic 
bitten. Ich hatte ihn nod) am Tage zuvor 
vor ber Königsburg getroffen, wie er in ber 
Zerjtreutheit unter der von ibm iiberwadten 
Menge ftand und begeiftert den König von 
Schweden hervorklatjchte. Ich vermutete ein 
Geheimnis der hohen *Bolitit. 

„Outen Tag, Ritter Biffi. Was zum 
Teufel haben Gie mit dem König von Schwe: 
den? Ihr Volt raft por Begeijterung ?“ 

„O, Direltor, das ijt der König von Shwe 
den? Das war mirganz GN E Wher bie. 
fer prächtige grüngelbe Helmbujdh, den muk 
td) nod) einmal fehen. Bravo, bravo, evviva!” 

Und jchon legten Diener wieder die Zen, 
pide über die Baltonbriftung, die Maje: 
täten famen, Dm Hineingehen bob bei 
ſchwediſche Galt ben bisher verborgenen Helm: 
mit dem prachtvollen Schweif, und in lauten 
Bravos madte jid) bie endlich behobene bange 
lingemiBBeit bes belohnten Bolfes Luft. 

Ich möchte ein ganzes Regiment folder 
ſchwediſchen Könige jehn, alle mit diejem 
Sjelmbujd) Direktor, wie denten Cie? Was 
bat man fonjt von den Königen? Tabum: 
dadadab, tabumdadadah!” 

Er jummte den Königsmarſch. Plötzlich 
brad er ab. Die Einihäßung der Könige 
nad Helmbüjchen fonnte er nicht aufrecht: 
halten, wenn der Kronprinz eines Landes 
tam, Dellen „Freund“ er war. 

„Direktor, td) muß mitempfangen werden. 
Cie wijfen, man tennt in den Büros meine 
Mitgliedichaft bei Ihnen. Cin Nichtempfang 
würde meine gejamte öffentliche und private 
Laufbahn aufs Spiel jegen. Bedenken Cic, 
id) bin Familienvater!“ 


Kee EE H Ritter Bi Wees 467 


Wir beriefen eine eilige Vorjtandsfigung, 
b. h., ber Vorjtand war ohnedies beijammen, 
ba er nod) dreizehn VBorjchläge zur Empfangs: 
frage zu beraten hatte. Ritter Billis An- 
trag fand die begeijterte Unterjtüßung ſämt— 
liher vom Empfang zur Wahl bereits end- 
gültig ausgejchlojjener Mitglieder. Es ent: 
tand nur nod) ein Streit, wer bei Geiner 
Exzellenzg dem Botihafter den Empfang 
Ritter Billis als „Wertreters der uns be: 
freundeten, bem Berein angeichlojjenen ein- 
beimifden Bevölferung“ vorjchlagen dürfe. 
{Fs wurde guleht den drei Preffevertretern 
gemeinjam iiberfajjen. Niemand wird zwei: 
feln, daß fie eine Zujage erhielten. 

Der Empfang folte um 5 Uhr ftattfin: 
den. Alſo wurden wir auf 4 Uhr bejtellt. 
Als wir um */,4 anfamen, tobte [Hon bie 
Schlacht zwijchen begeijterten weiblichen Mit: 
gliedern der Kolonie und einem ftarten Auf: 
gebot von Schußleuten, das ihnen den Gin- 
tritt in den weiten Botjchaftsgarten weh: 
ren follte. - Die Gartenbeete ringsum waren 
weithin mit abgerijjenen Hutbandern, ger. 
drüdten Blumen und gefnidten Regenſchir— 
men belát. — 

„Sie wijfen,” ertlárte Ritter Biffi, „ich 
habe meinen Leuten diesmal Nahdrud zur 
Pflicht gemadt. Ich für meine Perjon hatte 
ja Dteje Frauen durchgelajjen. Dod) es ijt 
eure Gade. Übrigens, brava, ba ift eine 
vurdj, da nod) eine. Brave Perſonen!“ 

Blutüberjtrömt, erhikt, mit gänzlich ver: 
wirrtem Haar hatten die erjten Frauen fieg: 
reid) Das trennende Bitter überflettert und 
weigerten fid) nun, von bem Grund und 
Boden ihrer Botjchaft von Polizijten eines 
anderen Landes fih verjagen zu lajjen. Wir 
retteten uns vor diplomatischen Erörterungen, 
die Ritter Biffi in feinem Amte nicht erjpart 
geblieben wären, in die Botjchaft jelbjt. 

Wir trafen bie zwanzig hervorragendjten 
Mitglieder unjerer Kolonie, wie fie vor 
Zangeweile jchon in hellem Zant begriffen 
waren. Ritter Biffi ließ nicht ab, bis er 
jedem einzelnen vorgeitellt war und ihm jo 
die Borjreude bes Empfangs bereitet hatte. 

Jedermann tennt die majejtátijdje Rube 
in Fürſtenſchlöſſern und Minifterbotels. Rein 
Laut, nur ab und gu das Zujchlagen einer 


Tür. 

Halb fünf erjdjien der ältejte Rangleirat 
und ordnete die Bälte die Wand entlang nad) 
ihrem Range. Uns ftellte man unten bin. 

„Es tut nichts,“ tagte Ritter Biffi, „hohe 
Herrn werden erft am Abend gejprád)ig, und 
wir find bier das Ende.“ 

Am dreiviertel fam Seine Exzellenz ber 
Botſchafter jelbjt, ftellte Wd in bie Mitte und 
gerubte eine Kleine Anſprache, deren Schluß: 
ja war, dak er feine Zeit gehabt habe, unjere 
Jtantem zu lernen. Wir hatten jo viel Güte 
aud) nicht erwartet, ba er faft alle feit zehn 
Jahren fannte. Jedenfalls bat er, nicht übel: 
zunehmen, wenn er Seiner Hoheit aus biejem 
Grunde unjere Namen bet der Vorftellung 
nicht angebe. 


Ritter Biffi hatte begeiltert an ben Lippen 
des Redners gehangen. 

„Welcher Diplomat!“ unterbrach er mid, 
als ic) ihm die Worte Seiner Exzellenz über: 
jebte, „ift es nicht ihre größte Gabe, das 
Bergeljentónnen? Wie jollten fie jonjt Bünd— 
nijfe ſchließen? Der große Römer Alcibiades 
bot eine Summe Goldes, wer ibn das Ber: 
geilen lebre.” 

„Alcibiades ijt ein Grieche,” ftórte uns 
ber Vorligende des Flottenvereins, „die 
Grieben ..." 

„Es ijt einerlei,” fagte Ritter Biſſi, „die 
Kultur verlangt...“ 

Cdíag 5 Uhr erfhien der hohe Galt, 
und unter der Hilfe Seiner Exzellenz des 
Botibafters begann nun das herfdimmlide 
Frage: und Antwortjpiel gwijden dem Be: 
Inder und ben erjten Mitgliedern unjerer 
Kolonie. Die Feinheiten fonnte ich aller: 
dings wegen der Anwejenheit Ritter Billis 
nicht ganz genießen. Jd) verzeichne nur, Daß 
der hohe Herr den Konjul mit den üblichen 


_ Fragen nad) der Geelenzahl der Kolonie und 


ihrem Leben beehrte und die üblichen unun: 
terridteten Antworten befam, die man für 
diejen Swed auf allen Ronjulaten ber Erde 
bereit hält. Den Vertreter ber Wiſſenſchaft 
zeichnete er Durch die teilnehmende Erkun— 
digung aus, ob er aud) viel zu tun babe, 
während er den untergeichobenen Borfiken- 
den des Riinftlervereins drh die Frage nad; 
feiner Runft bedrángte. Wie jollte der Dann 
berichten, daß man am Abend zuvor den 
legten Künftler aus dem Vorftand geworfen 
hatte, weil ihm feiner die Reklame eines 
tronprinzliden Empfangs gónnte, und dak 
dafür die Maulwürfe bes Lejevereins ein: 
gezogen waren? 

Nach tagelangem Suchen war es der Bot: 
Ihaft gelungen, drei [Hon ertaubte Ehren: 
reije aufzutreiben. Die £eutjeligfett Geiner 
xzellenz trat in bas jchönfte Licht, indem 
ihr gerade bei Diejen die Namen einfielen 
und Geine Hoheit |o Gelegenheit zu Zwie— 
gejprächen wie diefen befam. 

„PBrofejlor Aude, Siftoriter.” 

Er war eingeladen, weil jein Vetter einen 
Tag ben Sciffsarzt auf dem pringliden 

vertreten hatte. 


ee 
„Kailerlide Hoheit, id) höre nicht gut.” 

„Da geht es Ihnen wie meinem hohen 
Ontel Otto.” 

„Jawohl, id) bin aus Bremen.” 

„Das glaube id) Ihnen gern, es ijt aud 
eine wunderjchöne Stadt.” 

„Er ift Sciffsarat.” 

Trog Ddiejes verzweifelten Hinweijes fiel 
Geiner Exzellenz der Grund zur Einladung 
gerade Diejes Tauben nicht mehr ein, und 
Seine Hoheit hat nie erfahren, daß ihr eigener 
Vizeichiffsarzt einen Vetter in unjerer Rolo: 
nie hatte. 

Sm Flottenverein hatte man einen jchon 
Halbabgejchiedenen aus bem Dámmertraum 
erwedt und als Borligenden mitgejchleppt. 
Ceine Exzellenz der Botjchafter durfte diefe 


31* 


468 Theodor Bohner: Ritter Bilfi 


Jtaturerjdjetmung nicht übergehen. „Unjer 
últeftes Viitglied, [hon ganz ertaubt.“ 
po Hoheit, ich höre überhaupt nichts 
mehr.“ 
nd,“ fagte der Galt ritterlich, „das bin id) 
jest [fon gewohnt.“ 

„Und jeßt gehe ich nad) bem Teltaccio,“ 
briilite bas Naturwunder. Mie follte der 
Gaft nicht willen, wo fid) unjere Kolonie 
beerdigen läßt? 

Er bewies es durch die Antwort, Die er 
bem Gejpenft ins Hörrohr jchrie, 

„Sehen Sie, es fol dort ganz nett fein.“ 

Mit wadjenber Aufregung hatte ber frei: 
willige Freund unjeres Landes die Teutjelige 
Anfprad)e verfolgt. Nun, mit dem Näher: 
tommen des Gajtes an uns felbjt, traten 
ibm Schweißtropfen auf bie Stirne. Gr trat 
von einem Fuß auf den anderen und hatte 
am liebiten ee Ja den Bart aus: 
zureißen. ,Direttor,” flülterie er mir zu, 
„wie heißt es?” 

Aber Ion war der hohe Herr an uns 
herangetreten,» hatte mir ftumm und in tiefem 
Nachdenken über feine Gelprade mit dem 
Tauben die Hand gegeben. Er driidte Ritter 
Biffi die Hand, ahnungslos, dak er die Hand 
eines ganzen Landes hielt, und zum Glüd 
für den Ritter, ohne jeine Aufregung zu 
merten. Er verbeugte fih ebenjo ſchnell ber 
Reihe nad) vor den Handwerkern und Kang: 
leibeamten, denen man den Plag nad) uns 

egeben hatte und ftand an der Tür, Die 
ände an dem Gabel, das Haupt aufgeredt, 
zu der Rede bereit. Da Seine Exzellenz 
leider aid) diejes vergejjen hatte, war aller: 
dings fein Entwurf einer Rede vorhanden, 
was dem hohen Gajt erit jebt zum Bewußt:- 
fein fam. 3d) weiß nicht, ob wir ohne den 
Ritter nicht noch heute uns ohne das er: 
lölende Wort gegenüberjtünden. 

Aber Ritter Biffi hatte es gefunden. Es 
toftete ihn nod) Mühe. Er jchludte und 
wiirgte, wie wenn er mit ber landesiiblidjen 
Fiſchſuppe einen Bolypen- lebend verichluct 
hätte, aber jchließlich tam es tlar heraus, 
das Sinnbild feiner Freundſchaft, der Be: 
weis jeiner Zugehörigfeit zu uns: ,Rubdenn 

a u 


Der hohe Herr atmete auf wie ein vom 
Ertrinten Geretteter: ,Aljo guten Tag!” 

Und jdn ſchloß fid) bie Tür. 

Die Augen bes Nitters ftrablten in feud): 
tem Glanze, 

„Slauben Sie mir, das Bündnis wird 
unzerjtörbar fein. Dieje Freundlichkeit eines 
jo hohen Herrn! Und feine prächtigen Küra]- 
jierftiefel. OD, welde Wonne gibt es auf 
Erden!“ 

Nah adht Tagen wurde Ritter Biffi auf 
Die Botjichaft geladen. Geine Exzellenz der 
Botihafter überreichte ihm perſönlich den 
Kronenorden dritter Klafje. Wir wurde der 
Rote Adler vierter verjprodjen; es ift einer 
der Fehler diejer neuen Republif, wenn er 
nod) auf der Poft liegt. Aber man weiß 
jegt meine Adreſſe. 


Seine Exzellenz ber Botjchafter felbft wurde 
wegen der dazu bewiejenen Begabung wenige 
Woden jpäter gebeten, die Regie unjeres 
englijden Biindniffes zu übernehmen. Vian 
weiß, weldhe fonderbaren Dinge ihm dabei 
aus Berjehen entitanden. 


8. Abjchied 


Sd) fam erft nad) Ausbruch des Krieges 
wieder ins Land. Wein erjter Gang war 
zu Nitter Biffi. Als er im dDammrigen Zim- 
mer mich erfannte, fprang er vom GStuble 
und begann einen wilden Kreislauf um den 
Vftentiid in der Mitte. (eine Haft dabei 
itanb in gewaltigem Widerjprud zu feiner 
lonftigen Würde. Ich gab mir Mühe, die 
Worte zu verftehen, die er im Laufen wie 
ein Derwijd) vor fic) bhinmurmelte. lus 
Broden jegte ich fie gujammen. 

„oh, mein Freund! Wir find in einer 
furdjtbaren Lage. Wir find in einem ent: 
jeglichen 3wiejpalt, Mir werden die Opfer 
des Krieges jein. Wir find bemitleidens- 
wert.“ 

„Ritter,“ wagte ich zu erwidern, „wenn 
Cie fid) an das Bündnis hielten.“ 

Er verdoppelte feine Bejchwindigfeit. Seine 
Rlagelaute erinnerten jet an die GSeufzer 
der Verdammten in der tiefiten Hölle. 

„Die großen Augenblide der Geſchichte,“ 
faBte er jid) endlich, „verlangen, daß man 
lie nad) ihrem ganzen Ernft würdigt. Und 
da fage id: wir find in einer furdtbaren 
Lage. Mir find in einem entjeglichen 3wie= 


jpalt... 
Er jeßte den Kreislauf fort. Zum Glüd 


mg in der Nähe eine Uhr. Er modte 
glon en, genügenden Cindrud gemadt zu 
haben. 


„Achtung!“ fagte er in dem alten, vertraue 
lien Ton. „Sie hätten nicht anfangen 
dürfen. Konnten wir ahnen, daß Sie Ernft 
machen würden, als wir das Bündnis ſchloſ— 
jen? Ich frage Sie, war das Bündnis für 
den Frieden ober für den Krieg gemacht? 
Nein, Direttor, Sie irren fi. Inbefjen, 
wie geht es?“ 

Sd) beginge ein Unrecht, wenn id) ver: 
Ichwiege, daß er nad wie vor unfer freis 
williger Freund blieb und trog bes drohen: 
den Bruches feine Söhne weiter zum halben 
Schulgeldſatz Ichidte. Er übernahm in ber 
Mot die Verteidigung unjerer Habe, cr be: 
gleitete mich an den legten Zug. Braver 
Ritter Biſſi! 

„Sie wijjen,” er beugte fid) nod) einmal 
ins Zugfenjter, „im Grunde führen wir nur 
gegen Ihren Verbündeten Krieg, Da wir 
ſeine Falſchheit fennen, ijt es fiir Sie, wenn 
wir jest gegen Gie fámpfen. Sie werden 
in uns noch Ihren beiten Freund erfennen. 
Ich möchte jagen, wir find bie Geopferten. 
Leben Sie wohl!“ 

Lange jab id) ihn nod unter der niedrigen 
Halle ftehen und winten. Sm Gedanten ar: 
beitete er jdjon an der Begriipungsrede für 
meine Rückkehr. 

















Die Dame 
Bon Marie 


O gejund wie ber Ruderjport ift 
mew vielleicht fein anderer. Die frijchefte, 
(C reinjte Luft ift [teter Begleiter, 

WAS) Baden und Schwimmen find will: 
fommene, nabeliegenbe Zugaben, wie viel- 
leicht bet feiner anderen Bewegung werden 
alle Glieder und alle Mtusfeln angejpannt, 
entwidelt, gefräftigt. 

Go ſchön wie bas Rudern in feiner poeti[d): 
ften, feinften Entwidlung, in dem Ruder: 
wandern, ijt |d)merlid) ein zweiter Sport. 
Reine andere deutjche Frau bat, jo wie ich, 
die meilten deutjchen Ströme auf ihrem Boot 
Durdwandert; dak jo wenige meinem Bei: 
[piel folgten, wundert mid) immer von neuem. 
Miiften die vielen von ber Beglüdung fol: 
cher Tage, es wäre ber 9Inblid von Rube: 
rinnen in abgelegenen Gegenden, im ftill: 
beiteren Verkehr mit Sonne und Wind, mit 
Wafferrojen und Sdhilf, mit dem rhythmijch 
einjchmeichelnden Geplätjcher, mit dem feud): 





am Ruder 


von Bunjen 


ten Glanz ber Wafferfläche nicht länger ein 
befremdlicher Anblid. 

Das Boot ijt die Heimat, ift der Home: 
rad. Was man auf ein bis zwei Woden 
braucht, ift jorgjam untergebradt, man bat 
feine Karten, feinen Kompak, um Geen bei 
Nebel durchqueren zu können, man hat Bü- 
der für Regentage wie für Ausrubftunden, 
In den vorhergehenden Monaten hat man 
fid) mit der Gegend bejchäftigt, weiß, was 
jene Kirche diejer alten Bijchofitadt in der 
Architektur bedeutet, wird unter der Tünche 
entbedte frühe Wandmalereien aufjuchen; 
man fennt die £ebensgeldjidjte jenes be: 
rühmten Mannes, betrachtet anteilnehmend 
die zum Teil noch unberührte Echtheit 
feiner Geburtsitraße, fieht vor Der in ver: 
gangenen Seiten von ihm bejuchten Latein: 
ihule, wie damals die aur Mittagsitunde 
losgelajjene fröhliche Jugend. Aufitieg und 
Niedergang jenes Schloßgejchlechtes ift einem 


El. E TER a Zu Zu 
‘ 8 d : , 





Die junge ‚Mannichaft‘ am Troden: Ruderapparat 


470 FES=S=S=33+] Marie von Bunfen: Die Dame am Ruder 


ES NA (TS 


uo i 





vertraut, von diejen Ereignifien jpricht das 
¡were Portal, durch welches jene Männer 
und Frauen eins und auszogen; die Tra: 
gödie jenes  uner|djütterlid) ftandbaften 
Bürgermeilters vertlárt jenes malerijche 
Rathaus auf dem unregelmäßig an[predjen: 
ben Mtarftplak der alten Stadt. 

Zu ben Bereicherungen folder Wander: 
zeit zähle ich auch die Vereinfachung; in 
ber Engigteit der erblidten Verhaltnijje liegt 
eine wertvolle Erweiterung der Lebens» 
erfahrung. Da erzählen einem mut lang: 
jam jchwerfälligen Worten FlóBer über ihr 
Dajein, id) fehe, wie dort auf den roben, 
Zgujammengebundenen Stämmen, unter bem 
Notverjchlag, der 
Keſſel mit ihrer 
Mahlzeit brodelt. 
Bei den Fahr: 
leuten warte ich, 
plaudere mit Der 
Frau. Überaus 
ftimmungsvoll ijt 
die abgejchiedene 
Lage, eine fleine, 
am Cteinufer ans 
gebaute Drtjchaft, 
oben darüber das 
altersgraueSchloß 
mit jteinernem 
Dad, der Blid 





...»„......®@ 60... .n......e...n.e..os ........,..... Ein Steg : 9Idter 0000690090909 9000000009099 090 8 ...us„.„.„.u„„...„...u— 










auf langgezogene, tiefblau in 3Bolfen|djatten 
liegende Waldbergfetten. Die Frau erzählt 
von dem Fluß, vom Hodwaijfer, von Slip 
pen und Cprubeln, von eijernen Fábrieilen 
und Mebren, die vermieden werden müßten. 
Mie Hilfreich erweijen fid) bie Schleujen- 
meijter; in der Regel umblühen Rapuginer- 
frejien, blaue Winden, Baljaminen und 
3innien ihr nettes Haus. Mielleicht die 
poetijchite Schleufe, durch bie id) gefommen, 
lag inmitten von medlenburgijden Wal: 
dern, von Objtbdumen umgeben, Ziegen 
weideten im üppigen Gras. 

Gern bändelte ich mit den Zillenbejigern 
an, merfwiirdig wirkte die ungejdjladjte 
Wucht diejer gros 
Ben Kähne, ihrer 
Balten, ihrer roit: 
braunen Setten 
und Anker. Dann 
lletterte id) wohl 
mal auf Weiler Let: 
ter binauf, um 
vom hohen Verded 
aus auf einer 
Planfe bas fonft 
[hwer zugängliche 
Ufer zu erreichen. 
Da ſchälte die Frau 
in ihrer weißen 

Sonnenhaube 


gëegéeegeggegegeegegggegegegggegeegegeggggeggegggggggegegeggggeggggegggregegeegeggtegegggegggggggtggegegeegegggggeeeeeeeeeeeeegeeee 


090090000000099000000000000000000000900090002000009000000000000090000002000€9090000000990009000000090000000000000000900009000000000000000000000000090000000 
Eine jugendfrobe Bootsriege (09000000090000000000000000000900000000000000000000000000000000900000€0 





~ 
900000000000000090900900990900900090000090000000000000000000000000000000000000500000090000000000000000000009000000000 


LI 


472 PSSSssesossssy 





Marie von Bunjen: (333333332 32323333s5 


Dé Die Boote werden Au Wafler gelaffer z 


Kartoffeln, Kinder fpielten forglos auf dem 
ungelhüßten Planfended umber, in grünen 
Käjten vor den weißangejtrichenen Feniter: 
chen ber Kajüte wurden bunte Blumen ge: 
zogen. Gie ftaunten über diefe Bootwan- 
derung, beneibeten mid) keineswegs, waren 
anteilnehmend und freundlid. Flößern, 
Nuderfnechten, Schleufenmeiltern und Fähr: 
leuten habe id) dankbar die Schilderungen 
meiner Flußfahrten gewidmet (Im Ruder: 
boot durch Deutjchland. ©. Filcher, Berlin. 
Die dritte Auflage erjdien im Jahre 1914.) 
Allerdings tritt man den 
Heinen Leuten in ben jehr 
häufig und jehr gern von mir 
ausgeführten NRudjadwande: 
rungen ebenfalls nahe, aud 
bei diejen bringen Klöjter und 
Ruinen, Städtchen und Dörfer, 
tägliche wertvolle, überrajchende 
Freuden. ber wer beide 
Wanderformen vergleichen 
fann, weiß, daß eine Bootfahrt 
nod) Unvermuteteres, | 
nod) WUbenteuerliche: | 
tes, barum Beitehen ==.) 





deres bringt. In den meiften Gegenden ift 
ber Manderruderer, gejchweige bie Rudererin, 
nod) eine feltene Ausnahme, man muß fih 
feinen Meg [Mon jelber bahnen. Wo und 
wie wird man landen? Hier geht bie Strö— 
mung zu ftarf, bier ijt das Ufer zu fteil; ba 
findet man eine *Babeanjtalt; ja, hier könne 
man ruhig fein Boot über Macht anbinden, 
hier fame nichts fort. Oder eine fleine 
Bootswerft ijt in Siht. Man freundet jid) 
mit dem hemdärmeligen 3Bejiber an, |pricht 
weije über Bootbau und Kalfatern und über 
bie Ereignijje des Tages. Gebr 
oft nehmen die Fährleute das 
Boot gajtireundlid auf, fommt 
man morgens aus der Ort: 
ichaft ber, haben fie es aus: 
geihöpft, alles auf bas befte 


v 
< De gerichtet. Manchmal DeiBt es 
d YN unheimlichen Wehren entgehen, 
: manchmal gerät man 
f \\ in recht bewegtes 
A Kielwaljer, mand: 






mal verjperrt bid): 
| tes, angejdwemmtes 
dt den Meg. 











FESXESESESESESECECSEAN Die Dame am Ruder Ise 473 





& 


Manchmal 
heißt es, nod) 
lange über 
die Felder 
landeinwárts 
geben, ehe 
man - das 
nadjte Dorf 
oder vielleicht 
eine Mühle 
erreicht. Nicht 
immer findet 
man Unter: 
funft,  gele: 
gentlich ift fie 
bedenklich 
minderwer: 
tig, oft über: 
rajdend nett. 

Wenn bie 
Gegend es qu: 
läßt, will man 
jedod aud 
etwas vonden 

SluBnádbten 
und ihrer 
Schönheit ha: 
ben. Der 

Schlafſack 
wird auf die 
allerdings ſich 









Zurückgebliebener Vierer 


Y, 
e) 


bald als un: 
gewöhnlich 
hart erwei- 
jenden Plan: 
ten ausgebrei: 
tet, als wobl: 
tuenbe Grfri- 
Ihung 
Ihwimmt 
man nod) vor: 
ber in der 
grauen 
Nachtdäm— 
merung, um: 
freijt die weis 
Ben Majjer: 
lilien, die fo 
bleid) auf der 
glájern glat: 
ten Fläche 
ſchwimmen. 
Während 
man ein⸗ 
ſchläft, glänzt 
über einem 
die nördliche 
Krone, das 
Giebenge: 
tien, es find 
die uralt ge: 
beiligten 


474 FSSS==334 Marie von Bunfen: Die Dame am Ruder BZZZZZZZZJ 


Gternbilder, und waht man nad) einigen 
Stunden auf, find fie weitergezogen, und 
feierlich jegnend leuchtet bas Kreuz im 
Schwan herunter. Weich zerfließend um: 
gibt das Boot Nebeldunft, aus ihm tauchen 
bie Schilfhalme in vollendetem Umrigadel 
hervor, eindrudsvoll find bie Majfervogel: 
rufe in ber Totenitille, 


einer der Banke vor fih feinen Proviant auf: 
gebaut, es umtanzen einen Schmetterlinge 
unb Libellen, es umgeben einen die Waller: 
blumen. 

Vielleiht find es jedod nur perjönliche 
Vorurteile, wenn ich in joldjen ftillen Man: 
derfahrten bie höchfte und feinfte Genuß: 
fteigerung bes 9tuberns erjehe. flberaus be: 


» 
7 





E Aus Rudern und Perjenningen hergeridtetes Belt 


Coldje Nächte zählen, jolde vergiBt man 
nicht. 

Mie anmutig geftaltet fid) aud) die Mit: 
tagmablzeit: ba Jucht und findet man eine 
bejonders reizvolle Uferftelle, Weidenbaum: 
jchatten, flüjterndes Rohr, von rücdwärts 
zieht ber Duft friſch gemábter Heufel¥er 
Derüber. Wor einem erjtredt jid) weiter 
Wald, tief blidt man in das Geheimnis der 
Stämme, der Wipfeljdatten hinein. An die 
NReijetajchen bebaglid) gelehnt, hat man auf 


liebt, freudejpendend und zuträglich bat jid) 
allerorts das gemeinjame Rudern erwiejen. 
Die Mitglieder der in den Bildern darge: 
ftellten Bootriegen würden gewiß nicht tau: 
Iden, Weshalb follten fie es aud? In 
reidjem Maß finden fie Erholung, tórper: 
liche Förderung, Naturanregung, gejellige, 
fröhliche Unterhaltung. 

Muß man allein fingen? Bietet der Chor: 
gefang nicht Gigenartiges, Befonderes? Hier 
liegt die Sache aud) noch günftiger, denn 








.0000090000900000900000900008060909000000000000000009000090 9009566600080 0000000000000 gvusBoyıyg una 0€09090900000090099000000000000000000000000000000009000000000000000000000000000000€0 





— 


AAA AAA AAA AAA AAA AAA AAA AAA III III II Td LA LLL AAA AAA AAA ATT 
90909000000000229020900000000000909000000000009000000009000000000000000009000009000000020009»009000000090200020000000 
?99099000090909009990909090909909999099€999990099090999099009909909090909099999999990900090009900090009990009997999999000990909000 

A — 


476 Fes=e=sss=ssp Marie von Bunfen: Die Dame am Ruder EIIIZ3IS3IZIZA 


während der Golift in hervorragendem Map 
leine Runft beherrſchen muß, hat der Man: 
derruderer vielleicht nur tráftige, ausdauernde 
Arme, primitive Kenntnijje aufzuweijen. Biel- 
leicht bat er nur eine Dämmerhafte Ahnung 
von einer gründlichen, ſachgemäßen, auf der 
Höhe der Zeit [tebenben Ausbildung, dem 
prüfenden Auge jenes, bie Jungmádd)en- 
jar in [tren 
ger Zucht Der: 
anbildenden 
Lehrers würde 
id) 3. B. nim: 
mermebr ges 
nügen. Nie 
babe id „im 
Kaften” gerus 
bert, aber zwei» 
fellos beruht 
auf diejer Ves 
hanit das 
Höhere aller 
wirklich ernft zu nehmenden Ruderfunft. 
Mande aus diejer jugendfrohen Schar ift 
vielleicht Sonntagsiportlerin, figt bie Woche 
über an ber Rlappermajdine oder vor Red): 
nungsbüchern. Nun jehwebt fie im gejonn: 
ten Wind über ber glatten Fläche, unter 
ihr bewegt fih der Rolli, ficher gehorcht 
der Riemen bem weitausholenden Arm. Es 
plätjchert das Waffer am Riel, langjam 
gleiten die Ufer vorbei — es ift eine Luft 
zu leben. Auf 
prall anjigen- 
de Höschen 
find viele der 
Dargeitellten 
ftolz, balten 
fie nicht nur 
für prattijd, 
jondern aud) 
für überaus 
tleidjam. 
Nicht von al: 
len, vielleicht 
nicht von den 
in Gejdmad: 
faden Maß— 
gebenden 
wird dieje An⸗ 
ſchauung ge: 
teilt. Gerade 
die Deutjche 
Hat leider eine 
in anderen 
ſportlich hoch: 
eben pen 
Rändern nur 
vereinzelt an: 
zutreffende, 


ipse q- *. 








nidt ganz glüdlidje Vorliebe für Sport: 
beinffeiber entwidelt. Klettert man ange: 
elt jabe Dolomitenwände empor, ijt 
diefe Bekleidung jelbftverjtändlich bie ein: 
zig und allein richtige; weit jeltener, als 
bei uns angenommen wird, ilt dies bei 
anderen Gportgelegenheiten ſowohl ber 
Winter: wie der ost der Fall. 
Beiſpiel und 
Gegenbeijpiel 
werden einige 
in diejen Bil- 
dern erleben. 
Unbefiimmert 
flingt aus je: 
dem Bild das 
heitere Laden, 
der Frohſinn; 
Sport ift aber 
nicht nur Spiel, . 
in ber [trame 
men 3ubt, in 
dem Zufammenwirfen, in ber Unterordnung 
liegen ethijde, bildende Werte. Ausdauer, 
Gelb[tbeberridjung, Geiftesgegenwart, tame- 
radichaftliches Gefühl werden gefordert. Die 
Ichlechtefte Erziehung ift das Rudern nicht, 
aud) nicht die am wenigften bietende Form 
ber Gejelligteit. Die wechjelnden Hinter- 
gründe der treibenden Wolfen, ber fried- 
lichen Schilfverftede, ber Miejen: und Wald- 
gründe befreien und begliiden. Die gemein: 






ER PRA 
VU 


fame Anjtren: 
= gung, die 
lachend — ge: 


teilten Erleb: 
nijje, die Aus 
jammen voll: 
bradten 
Leijtungen 
bilden einen 
Ritt. 

Glüd und 
Bejundheit 
find Schutzpa— 
trone bes Hu: 
derjports, ber 
in Deutjch: 
lands wirt 
Ihaftlicher 
Not vielen Er- 
bolungjuchen= 
den eine bil: 
lige Möglich: 
feit darbietet, 
Sommerfreu- 
den zu genie- 
Ben, die das 
teure Reifen 
lonjtverwehrt. 





m — — 
VON DR-ERICH FRIEDERICI 
LA EE A ES OES — 


Und fait ebenjo zahlreich find die (Er: 
tlárungen, die von neueren Gelehrten für 
das ziemlich rätjelhafte Wort Feme aufges 


u S ift auffallend, daß bie gemat, 
tige Mafjfenbewegung des heu- 
tigen Proletariats, deren Lo: 
en neun NC 
mit ihren orderungen febr 

— häufig, vielleicht ſich ſelbſt kaum 
bewußt, der Wiederkehr längſt überwunden 
geglaubter mittelalterlicher Zuſtände zu— 
drängt. Es würde durchaus nicht ſchwer 
ſein, ein dickleibiges Buch unter dem nur 
ſcheinbar widerſinnigen Titel „Die So— 
zialdemokratie als reaktionäre Erſcheinung“ 
zu ſchreiben. Man denke nur daran, wie 
der vollkommene Sieg über den Kapi— 
talismus zur Naturalwirtſchaft des Mittel— 
alters führen müßte. Dieſer Zug nad) rück— 
wärts begegnet uns nun aud) auf dem Ge: 
biete der Redtspflege. Das Mittelalter 
fannte fajt nur Laienrichter ohne irgend- 
welche juriltiiche Vorbildung; es war Red)ts: 
grundjaß, Dak jedermann von jeinesgleichen 
gerichtet werden folle, und danad) wurde 
gehandelt. Je mehr fid) indejjen bie wirt: 
Ihaftlichen und gejellichaftlichen Zuftände 
verwidelten, um jo unzulänglicher erwiejen 
fih bie alten Volfsgerichte, und um fo mehr 
wurde der ungelehrte Schöffe durch den 
juriftijd gebildeten Berufsrichter verdrängt. 
Das wurde damals aud von den breiteren 
Schichten des Volkes ſchließlich als ein großer 
SR erfannt, feit einer Reihe von 

abrzebnten aber ertönt fortwährend wie: 
ber der Ruf nad) Volfsgeridjten, und ber 
Zug geht entjchieden dahin, die Tátigteit 
der Juriften von Fach noch mehr zuguniten 
der Laienridter eingujdranten, als es jest 
ihon in den Schöffen: und Gejdworenen- 
und Jo manden anderen Gerichten der Fall 
it. Gs ift Hier nicht der Ort, darüber zu 
ftreiten, ob die in ihrem Urjprung roman: 
tijhe Sebnlubt nad) voller Durchführung 
ber SBolfsgerid)tbarfeit berechtigt ijt ober 
nicht, es wird aber immerhin nicht ungzeit: 
gemäß ericheinen, wenn bier das mittelalter: 
Geh peutide Redtswejen einmal in einem 
bejonders feffelnden Abjchnitt etwas belend)- 
tet werden foll. 

Die Bedeutung des Wortes Fene ift eben- 
jo umitritten wie feine Rechtjchreibung. 
Man findet in den mittelalterlichen Quellen 
Fehme, Bimme, Veme, Faime, Feyme und 
nod) andere Schreibungen, ohne dak eine 
von ihnen [id) Früher oder heute allgemein 
hätte durchjegen können; es finden fih außer: 
dem aud) noch Bezeichnungen wie Femge— 
richt, Freigericht, Stillgericht, heimliches Ge- 
richt, verbotenes Bericht, des heiligen Neiches 
Dbergericht übers Blut u. a.; jedenfalls ein 
Beweis dafür, wie jehr fih die Phantalie 
des Boltes mit diejem Gegenjtand bejchäftigt 


hat. 


Hellt worden find, dod) bat aud) von ihnen 
feine durchweg Annahme gefunden. Dagegen 
find Bedeutung und Wejen der Cade, die 
lange Zeit fait ebenjo rätjelhaft oder Dod) 
unflar waren, in neuerer Zeit wenigitens 
joweit aufgeflárt worden, daß wir uns jebt 
ein ziemlich deutliches Bild von der Be: 
deutung und Einrichtung ber TFemgerichte 
und von dem bei ihnen üblichen Verfahren 
madjen Tonnen, 

Die Mitglieder diejer Gerichte, die Frei= 
grafen und SFreilchöffen, haben ftets behauptet 
und naddriidlid) betont, daß Karl der Große 
die Feme eingelegt habe und daß deren 
Bräuche auf ben Gakungen diejes &ailers 
berubten. Daran ijt nun wenigjtens foviel 
richtig, Daß Karl der Große das alte ur: 
germanijde Geridjtswejen bedeutend ums 
gewandelt hat und daß fid) das fo entitän» 
dene farolingijdje Gerichtswejen in Weltfalen 
weit länger als im übrigen Deutjchland er: 
halten bat und dort zur Feme geworden 
ilt, bie tatjächlich wenigitens von den Außer: 
lichfeiten der Gerichte Karls des Großen 
fid) noch bis ins 19. Jahrhundert hinein jebr 
viel bewahrt hat. Urſprünglich waren Die 
Femgerichte nur für bie Snjajjen ihres Det: 
mijdjen Sprengels zuftändig und hatten dem: 
nad) aud nur für Wejtfalen Bedeutung, das 
jtets faft ausidjlieBlid) ihr Sig gewejen ilt 
und in bem fie die ordentlichen Gerichte 
waren, vor welden aud) 3ipilladen ans 
büngig gemadt wurden. Später aber er: 
weiterte Jich wenigitens für die Strafgerichts» 
barkeit ihr Geltungsbereich bedeutend, und 
die Freiſtühle auf der roten Erde wurden 
eine Macht im ganzen deutjchen Reiche und 
griffen überall neben ben ordentlichen Ge: 
richten in die Rechtspflege ein. 

Grffdrlid) ijt bas nur durd) bie Zultände, 
wie fie fid) feit bem lintergang der Staufer 
in Deutjchland entwidelt hatten. Die ,taijer: 
lofe, die jchredliche Zeit“ bes Interregnums 
wurde Durd) bie Wahl Rudolfs von Habs: 
burg faum mehr als dem Jtamen nad) be: 
endigt, denn Das neu erftandene deutſche 
Königtum bejaß nicht annähernd Macht 
genug, um in die gänzlich zerfahrenen und 
zerrütteten Zujtände Ordnung bineinzu: 
bringen; es vermochte bejonders aud) Die 
bejtehende Nechtsunficherheit nicht zu befei: 
tigen. Ebenjowenig war dazu einjtweilen bas 
Landesfiirjtentum tmftande, bas zwar mád): 
tig genug war, um eine ftarte Raijermadt 
nicht auflommen zu laffen, dafür aber ohn- 
madtig gegenüber den noch tleineren Mäch- 
ten, Dem Nittertum und den Städten. Da 


478 PESSSSSSSSSESS Dr. Grid) Friederici: BS=S223233333323334 


nun aber bieje auch wieder gegeneinander 
in [tánbigem Streit und blutiger Fehde 
lagen, jo gab es jdjlieBlid) niemand mehr 
im Lande, der etwas zu jagen hatte. Es 
ijt unter diejen Umjtänden fein Wunder, 
daß aud) bas Berichtswejen völlig im Argen 
lag unb es für den Kleinen Mann, der zur 
Gelbfthilfe zu ſchwach war, jehr jchwer hielt, 
zu feinem Recht zu fommen. Hier jebten 
nun bie Femgeridte ein, die fih [tola als 
uralte faijerlid)e Gerichte fühlten, in ibreia 
bisherigen Geltungsbereid) hochangejehen 
waren und daher mit ziemlicher Gering- 
\hägung auf bte ftändigen Gerichte in an: 
deren Gegenden Deutjchlands herabiahen, 
die ihren Swed nur jo fehr unvolltom: 
men erfüllen modten. Mie die Entwid: 
lung fic) im einzelnen voll: 
zogen bat, wijjen wir nicht, 
wir [eben jedenfalls, daß zu 
Beginn des 14. Jahrhunderts 
jhon febr häufig auch außer: 
halb Mejtfalens von einem 
Eingreifen ber Feme in Die 
Gerichtsbarkeit bte Rede ift, 
und zwar hauptjädhlich in fol: 
chen Fällen, wo das eigentlid) 
gujtandige Gericht verjagt 
hatte. Und fie erwies fic) im 
kaufe der Zeit als madtig 
genug, um aud) ben über: 
mütigen Adel und felbft Für: 
Hen erzittern zu Iajjen. | 

Cadjid) und örtlich guftine 2} (^7 
big war bie Feme nach ihrer ` 
eigenen Meinung überall da, 
wo ein nad) damaliger Rechts: 
anjdauung tobesmirbiges Verbrechen be: 
gangen worden war, ohne daß ein anderes 
Gericht ben Schuldigen deshalb zur Rechen 
haft gezogen hätte. Ausgeloloflen von der 
Gerichtsbarkeit der Feme jollten eigentlich fein 
Beijtliche, Frauen und Kinder unter pier: 
zehn Jahren, und ebenjo der Kaifer mit 
einen Dienftleuten, die Rurfiirften, Dart: 
grafen und Landgrafen, bod) beitanden diefe 
Beldrantungen der Zuftändigfeit mehr. dem 
Namen nad) als in der Wirklichkeit. Ein 
ordentlicher Urteilsipruch war nur vor einem 
Freiftuhl in Weitfalen móglid). Die Voll 
jtredung fonnte aber überall gejchehen, wo 
drei Freilhöffen beijammen waren. Die 
Strafe war ftets der Tod bird) den Strang. 

Die Feme ijt feit dem 13. Jahrhundert, 
wo fie zuerft größere Bedeutung erlangte, 
ftets mit dem Schauer des Gebeimnisvollen 
umgeben gewejen. Man fprad und jpricht 
wohl aud) heute nod) von vermummten Ge- 
falten, Die zu nádtlider Stunde in ver: 
borgen gelegenen Räumen ihre Gerichts» 
jigungen abbielten, von ausgefudt gran: 
jamen Todesjtrafen, die vollzogen wurden, 
von olterungen und [djauerlidjen Gefäng: 
nijjen: Nichts davon ijt wahr! „Bym lichten 
Sunnenjdin” vielmehr tagte die Feme, und 
geheimnisvoll waren an ihr nur die Ge: 
bräuche bei Aufnahme der ‚Wiſſenden“, ihre 





Erfennungszeichen und der ftrenge Ausſchluß 
„Nichtwillender” von vielen ihrer Gerichts: 
jibungen — aber freilid) aud) die Plöß- 
lichkeit, mit der häufig einen Berurteilten 
die Todesftrafe ereilte. Und gerade diefes 
legte und in Verbindung damit die |djauer- 
lihen Einzelheiten, die über das Gerichts: 
verfahren verbreitet waren, gaben der Feme 
ihre große Macht und befähigten fie zu ıhrer 
im ganzen doch vielleicht mehr jegensreichen 
als verberblidjen Wirtjamteit. Den ordent: 
lihen Gerichten mit ihren Bütteln und 
Sdergen mochte mander Mächtige auf feiner 
Burg übermütig trogen; der geheimnisvollen 
Macht ber Feme gegenüber fühlte er fih 
bod) unjtdjer, deren Urteil ihn plóslid, raid 
unb ficher treffen konnte, wenn er es am 
wenigjten vermutete. 

Dod) betradyten wir uns nun 
einmal die Organijatton und 
das Geridtsverfahren der feme. 
Als ober|ter Stublberr, b. b. als 
hichfter Rihter und Leiter 
des ganzen Femgerichtsweſens 
wurde jtets ber Kaifer onge: 
leben als Nachfolger Karls bes 
Großen, des angeblichen Be- 
gründers. Ihm allein oder bem 
von ihm dazu Beauftragten — 
feit dem Ende bes 12. Jahr: 
bunderts war es immer Der 
— von Köln — ſtand es 
zu, die Freigrafen zu beſtäti— 
gen, die Vorſitzenden der ein— 
zelnen Gerichtshöfe. Zwiſchen 
dieſe beiden Inſtanzen hatten 
ſich dann aber im Laufe der 

Landesherren Weſtfalens als 


Zeit die T 
„Stublherren“ eingejdjoben und für jid) 


das Redht zu erlangen gewußt, bie Frei— 
rafen bem Kaifer und dem Erzbiſchof zur 
Bes zu empfehlen. Sie griffen indes ebenjo 
wie diefe felbft nur felten einmal in bie Ge: 
richtspflege ber Feme ein, fondern begnüg: 
ten fid) mit den anjcheinend zeitweile 
recht reichlichen e die Dos Amt des 
Gtublberrn abwarf Die hauptſächlichſten 
Träger bes Femgerichtsweſens waren da- 
gegen Die genannten TFreigrafen, Die frei 
und unbejholten und geborene WWeftfalen 
jein mußten, aber nicht von Adel oder jonft 
von vornehmem Herfommen zu fein braud): 
ten, vielmehr häufig einfache jhlichte Bauern 
waren; der Name Freigraf taucht zuerit am 
(Ende des 12. Sana auf. Ihnen lag 
die Leitung der Gerichtsjigungen, die Ver: 
tiindigung des Urteils und die Gorge für 
Dellen Bollftredung ob. Gie zogen aus 
ihrem Amt manchmal nicht unbedeutende 
Einkünfte. 

Des Freigrafen Redht und Pylidt war 
es aud), die Freiſchöffen aus der Zahl ber 
Bewerber auszuwählen und in ihr Amt ein: 
zuführen. Urjprünglich waren aud) Dieje 
ausidlieBli im Bezirk des Gerichts ans 
jajjige Leute. Später aber, als die Feme 
aud) außerhalb ber roten Erde Weitfalens 


SSES Die Feme see sf 479 


Bedeutung gewonnen hatte, drängten [id) 
aud) Männer anderer deutjcher Stämme zu 
dem angejebenen und machtverleihenden Amt 
eines Freijchöffen und wurden angenommen, 
jofern fie nur freigeboren waren und jonit 
geeignet jdjienen. Auch Geijtlid)e waren nicht 
ausgeichlojjen, durften aber nad) dem Grunb- 


jag „Ecclesia non sitit sanguinem“ fid) weder 


an der Fällung nod) an der Rollftredung 
eines Todesurteils beteiligen, waren aljo 
eigentlich mehr Ehrenmitglieder. Zeitweife 
jol es über das ganze deutjche Reid ver: 
jtreut gegen 100000 Freilchöffen gegeben 
haben, während die Anzahl der Freijtiihle 
etwa 100 betrug, unter denen die zu Dort: 
mund und Arnsberg bie angejebenften waren. 
Es gab mächtige Leute unter ben Freis 
\höffen: Die Städte hielten vielfash darauf, 
daß in ihrem Rat ein oder mehrere Frei— 
Ihöffen jaBen. Die Fürften faben es gern, 
wenn ihre Rate fid) „wiſſend“ machen lieben, 
und fie felbft wie fogar Kaifer, a. B. Wenzel 
und Sigismund, verjchmähten es nicht, fid) 
bei einem Beſuch Weitfalens in den Bund 
der Feme aufnehmen zu laffen; denn nur 
auf der roten Erde, bem Boden Mejtfalens, 
tonnte man wiljend werden; nur bier gab 
es ja Freiltühle, und nur an einem folchen 
tonnte die Aufnahme erfolgen. 

Der pus re übernahm die Berpflich- 
tung, jede thm befannt werdende Sache, Die 
„femwrogig“ war, d. Db. für welche das Fem: 
gericht Zultändigfeit beanjpruchte, zur An: 
eige zu bringen oder unter Umitánden and 
in Gemeinichaft mit zwei anderen Willenden 
jofort zu abnden, mußte außerdem ohne alle 
Rúdiidt auf fid) * und auf Verwandt— 
ſchaft oder Freundſchaft mit dem Schuldigen 
nad) Kräften behilflich ſein, wenn es galt, 
ein rechtskräftiges Urteil ber Feme zu 
volijtreden. Höchſt nachdrücklich wurde 
ibm aber bei der Aufnahme ein: 
geichärft, die Geheimnijje des 
(Berichts nicht zu verraten, zu 
denen insbejondere auch) 
die Zeichen gehör- 
ten, woranein 
Schöffe den 
andern als 
jolden er: 
fonnte, Die 
Lojungsworte 
ber Freiſchöf— 
fen waren: 
„Strid,Stein, E Y 
Gras, Grein,” _. 
unddas „Not: E: 
wort” hieß 
„Reinir Dor 
Feweri“; Die 
Bedeutung 
diejer Worte hatte 
der Freigraf dem Muf- 
zunehmenden zu erf[á- ? 
ren; für uns find fie heute 
leider nicht mehr veritänd: 
lid. Kam ein Freiſchöffe mit 










einem anderen Manne zujammen, in dem er 
ebenfalls einen Wiljenden vermutete, jo legte 
er feine rechte Hand auf die linfe Schulter 
und Jagte: 7 
„Ed grüt ju, lewe Man. 
Wat fange ji bi an?” 
Darauf legten beide jeder feine rehte Hand 
auf die linfe Schulter des anderen und 
Ipradjen: 
„Allet Glide febre in, 
Wo de Fryicheppen fyn.” 
Wud dadurch machte fih wohl ein Frei- 
ſchöffe bem andern als folchen kenntlich, daß 
er bet Tijeh bas GBmeller mit der Spige 
der eigenen Bruft zufehrte. Golde geheimen 
Erfennungszeichen waren übrigens im Mits 
telalter auch bet jeder anderen Genofjen: 
Ihaft üblih; fie erlebten die in sen Fäl⸗ 
len heute gebräuchlichen ſchriftlichen Aus— 
weispapiere. Dieſe Dinge nun wie auch 
alles, was er in heimlicher Gerichtsverhand— 
lung hören oder jeben würde, geheim zu 
halten vor „Weib unb Kind, Sand und 
Wind" wie aud die Erfüllung der jonftigen 
übernommenen PBilibten mußte der Frei— 
ihöffe bei der Aufnahme mit einem heiligen 
Gide geloben, und namentlich für Verlegung 
des Schweigegelöbniljes Gel ihn unnad): 
ſichtlich loere Strafe: Es ſollten ihn „die 
reigrafen und Freiſchöffen greifen unver: 
lagt und binden ihm fetne Hände vorn zu- 
fammen und ein Tuch vor feine Augen wer: 
fen und ihn auf feinen — und winden 
ihm ſeine Zunge hinten aus ſeinem Nacken 
und thun ihm einen dreiſträngigen Strick 
um ſeinen Hals und hängen ihn ſieben Fuß 
höher als einen verfemten miſſethätigen Dieb.“ 
Außer Freigrafen und Freiſchöffen waren 
wiſſend auch nod) bie Fron: oder Freiboten, 
deren Aufgabe beſonders darin beſtand, bei 
den Gerichtsverhandlungen für Ruhe und 
Ordnung zu ſorgen, den Freigrafen 
zu unterſtützen und Nichtwif: 
jende vorzuladen. Leute, die 
ih zu Unrebt als Wil: 
jende oder „Femeno— 
ten“ aufípiel: 
ten, wie das 
öfters vor: 
fam, verfielen 
ebenfalls un= 
barmberziger 
Gtrafe. 

Bei Den 
Gißungen ber 
Femgerichte 
hat man zu 
unterſcheiden 
zwiſchen ech— 
ten oder un— 
gebotenen 
Dingen, b. b. Ver: 
Jammlungen, und ge: 
V- botenen. Die ungebo: 

tenen follten nad) den all: 
qemeinen Bejtimmungen 
Karls des Großen am jeder 





Maljtätte dreimal jährlich gehalten wers 
den, anftatt wie früher alle vierzehn Tage, 
und fo jcheint es aud) bei den "rem: 
gerichten ftets gehalten worden zu fein. 
Zu ihnen hatten alle „Dingpflichtigen“ zu 
erjheinen, d. h. alle Bewohner der Freis 
grafichaft, die einen eigenen Haushalt führ: 
ten. Bon den gebotenen oder heimlichen 
Dingen dagegen waren alle Nichtwillfenden 
ftreng ausgejdhloffen mit Ausnahme der 
Parteien und Zeugen, bie etwa nicht Freis 
Ihöffen waren. Beide Arten von Sigungen 
wurden ebenjo wie auch jonit alle Gerichts 
verhandlungen im Mittelalter mit einer 
Reihe von Fragen des Vorfigenden an ben 
Sronboten Gaffel, durch deren Beantwor: 
tung feftgeftellt wurde, daß Ort und Zeit 
und jonjtige Umftände richtig wären, um 
ein Ding zu halten. Der Ort war meijt 
nad) altgermani|der Gitte ein Pla im 
SS unter einer Linde oder einem anderen 
aume, auf ihm ein fejter [teinerner oder 
bólgerner Tijd, um den die Schöffenbänfe 
dl ml En aufgeftellt waren. Auf dem 
che lagen ein Schwert oder auch zwei 
gefreugte, die zur Eidabnahme dienten, und 
der aus Meideruten geflobtene Strid, bas 
Injtrument zum Hängen, der einzigen Strafe, 
auf bie ein Femgeridjt erfannte. Der Be: 
ginn ber Gigung war met morgens um 
7 Uhr; es wurde aljo am * Tage, nicht 
bei Nacht verhandelt. Waffen mitzubringen 
war verboten, und es durfte niemand ohne 
bejondere Erlaubnis des Freigrafen die Ge- 
richtsftätte verlajjen. Die Anwejenheit von 
lieben Freilhöffen genügte, um „die Bank 
zu |pannen", oft aber waren bedeutend mehr 
zugegen, und jeder von ihnen hatte das 
Recht, jid) an der Urteilsfindung zu betei: 
ligen. Die Scheidung zwilchen gebotenen 
und ungebotenen Dingen war — keine 
ganz ſcharfe, als jedes ungebotene Ding 
durch den Freigrafen ohne weiteres in ein 
heimliches umgewandelt werden konnte; es 
hatten ſich dann alle Nichtwiſſenden bei 
Todesſtrafe ſofort zu entfernen. 

Nach altgermaniſchem Rechtsbrauch galt 
für bie Feme ber Gag: „Wo fein Kläger 
ijt, ba ut aud) fein Richter”, und zwar 
fonnte nur ein Freilhöffe Kläger fein, 
indem er entweder auf Beranlajjung des 
Gejdhadigten oder aus jtd) heraus als Ber: 
treter Des Nechtsbegriffes dem Gericht 
Kenntnis von einer Straftat gab und deren 
Gühnung beantragte. Jn manchen Fallen 
fam es allerdings gar nicht erjt zu einer 
Anklage, namlid) dann, wenn der fibeltäter 
„auf handhafter Tat” ergriffen wurde, D. b. 
wenn entweder ,blidender Schein“ ber 
Mordwaffe oder „habende Hand“, d. h. 
Beliß bes Diebesguts, den Täter als jolchen 
offenkundig machte, oder wenn Diejer lid) 
mit „gihtigem Mund“ der Tat jelbit 
rübmte. Dann war er nämlich ohne Prozep- 
verfahren bem jtrafenden Arme der Feme 
verfallen, und jeder Freiſchöffe fonnte in 
Gemeinſchaft mit zwei anderen ohne weiteres 


Dr. Grid) Friederici: E 


bie Todesitrafe an ibm vollziehen. Sonſt 
aber mußte vor einem Freiltuhl Anklage er: 
hoben werden, und es waren dann zwei 
walle móglid): War der Beichuldigte an: 
wejend, |o wurde Jofort gegen ihn verhan= 
delt, war er nicht zur Gtelle, dann mußte 


‚er zu einer jpäteren Gerimtsfigung vor: 


geladen werden. 

Dies geldjab nun in verjchiedener Weile, 
je nachdem der Angeklagte jelbjt Mijfender 
war oder nicht. In erjfterem Falle über: 
brachten zunächlt zwei SFreilchöffen bem Be- 
Ichuldigten bie Borladung zu einem Termin, 
der ur|prünglid) meijt fünfzehn, jpater in 
der Regel fünfundvierzig Tage nad) dem 
Zeitpunft der Ladung angejekt wurde, (Er: 
Sieh er nicht, fo wurden vier Freiſchöffen 
abgejandts die ihn mit einer weiteren ¿prijt 
von fünfundvierzig Tagen nochmals vors 
luden. Blieb aud) das fruchtlos, jo brad- 
ten jechs FFreifchöffen bie VBorladung zu dem 
legten Termin, der ebenfalls wieder „les 
Woden und drei Tage“ jpäter angelegt 
wurde. Erſt wenn der Bejduldigte aud) 
diejer Borladung nicht Folge leiftete, fonnte 
das Kontumazialverfahren gegen ihn er: 
öffnet werden, Das Dann gewöhnlich zur 
Berfemung führte. Bei einem eignen 
waren das Verfahren und die Friltfegungen 
die gleichen; nur waren erft lieben ¿reis 
\höffen und zwei Freigrafen, dann vierzehn 
Freiſchöffen und vier Freigrafen und jchließ- 
lid) ie FOR Freiſchöffen unb pes 
SFreigrafen die Uberbringer der Ladung. 
War ber Vorzuladende indejjen nicht 3Bijjen: 
der oder Femenote, |o wurde gleich beim 
erjten nicht entichuldigten Ausbleiben das 
Rontumaztalverfabren eröffnet. Wenn Der 
Aufenthaltsort des Abzuurteilenden | nicht 
befannt war, jo wurde die Ladung vielfach 
Ichriftlich ausgefertigt und je ein Exemplar 
an vier Kreuzwegen im Norden, Often, 
Süden und Weiten des Landes, wo er zu 
vermuten war, ausgelegt und je eine Königs: 
münze beigefügt. Die Ladung galt damit 
als richtig 3ugejtellt, obwohl es natürlich 
jehr von den Umftänden und vom Zufall 
abbing, ob fie dem Vorzuladenden wirklich 
in die Hände gelangte. War der Anges 
Hagte ein mächtiger Dann, dem man zus 
trauen fonnte, daß er dem fiberbringer der 
Ladung gewalttätig begegnen werde, fo pflegte 
diejer jeinen Ladebrief nächtlicherweile in 
ber Meije zu bejtellen, dak er ibn am 
Tor der Burg oder der Stadt, worin der 
Borzuladende fih aufbielt, befeftigte, Dret 
Späne aus dem ,Rennbaum oder Riegel” 
des Tores herausjchnitt, bie er dann. „zum 
Gezeugnis” mitnabm, und durd lauten 
Zuruf die Torwache darauf aufmertiam 
machte. Der Femenote, ber bie Ladung über: 
bradte, galt als unverleglich, und an ihm 
begangene Gewalttat wurde von Der ¡eme 
mit dem Tode bedroht, fic tam aber (rop: 
dem oft genug vor. 

Mar nun Der Gerichtstag erjdienen, fo 
trug zunächſt der Kläger feine Anklage vor, 








GE — * ru ante fi zu 
ob er hg Ke D “Sater das, fo N 
ése lofort bas de, ge prodjen und am 


DN? am en, 


DR dte 
| E | Zeg Se Welt 


P pena mme, den A sche pes Bert i ten 






EN dent er ben zwei Gibesbeljerw Bes Klägers ` 
beten feds eittgegenftelte, due Quin oa ae 
 Gtimüune für i 













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| adi | * 3 t fibeebieten, ba eut net reife f 
die bem. Elec tines Mehneibes 





"Darauf batte. 


| Det 
Zeit. fid nochmals mis reinigen, 


ijr abga oben. 


` fonnte ihn bant nod) einmal mit dreizehn 


‚Sreikchöffen als Eihesheflern. Aherbieten, 
Benen der Beldhuldigte among entaegenitels Se 

- den mußte, um damit. räich ae den. Beto 
Anklage gereinigt q ae 
OO. Sehr mie weniger aüuiiq war Pu tage | 
Wl für einen Sidtpifienden. Er fonnte fid nii 
ird) einen ee allein von bor 


getter. 


. Shitloge befteren, * — — 
vornherein ber Hilfe ven poe 


ee 


Die Feme 


Snmejenden gral oig unbetannt wor. KA 
riu — naher bas. Srideiten BO 


: i i m der — DS? arid ob der Tee: 
— metten Fallen ben ` 


Se, Ee von ne - dr 
bas ner fal; "e em 
x: * Feeigraf einen ‘The: 
a mib 
bem Hingeflogten eber dei px NE 
S fares wis aemübnhd gwedios war Haufig ` 0 
¿meant Daher in folbin Galle von den. So: E 
pridien bon Bornherein eme Sabung gar o 
Mer etit ertaffem und fiet. miiia Mam c E 
bamit, Ridiwi ende, ENDEN joldje in NEE NE 
x ett in bas. Kontumagialoer EE 
orem eingetreten zu fein, Bes Damm agent: 000 
dub mar, Sie In bem Ber o o o 
jemungss ‚alle "robesnrteil . gegen den "Une; ©. 


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dadurch die großen MVorteile zu erlangen, 
die ein folcher bei einer Rlagejabhe vor 
der Feme genoB; man nannte jolde Leute 
Notichöffen, bejtritt ihnen aber vielfach für 
den vorliegenden Fall bie Rehte eines orb. 
nungsmäßig und ohne äußere Nötigung auf: 
genommenen Freilchöffen, beftrafte fie wohl 
aud) unter Umftánden jdjon allein wegen 
— der Schöffenwürde mit dem 
ode 


Weitaus die meiſten Urteile des heim— 
lichen Gerichts aber waren doch wohl ſicher 
Verfemungsurteile gegen Abweſende. Der 
Vorgang dabei ſpielte ſich folgendermaßen 
ab: Zunächſt brachte der Kläger feine Ans 
Ihuldigung vor, und der SFreigraf rief dann 
den Angeklagten viermal auf, und zwar er» 
folgte der vierte Aufruf, wenn die Sonne 
am höchften Honn, Blieb auch diejer legte 
Aufruf erfolglos, Dann wies der Kläger au: 
nächſt nad, dak die Ladung vorſchriftsmäßig 
ergangen fei, und verlangte dann „Boll: 
gericht“, falls er nicht bem Angetlagten nod) 
einen ,Raijer Karlstag“ gewähren wollte, 
b. D. einen ausnahmsweilen weiteren Termin 
nach nochmals dreimal 14 Tagen. Dann er: 
bob fih ber Freigraf und erklärte mit einer 
längeren, faft überall ungefähr gleichlauten: 
den Formel den Berurteilten für „rechtlos, 
eerie ebrlos, fempflichtig, leiblos”, weibte 
einen Leib ben Kráben, Naben und anderen 
Tieren, verbot bei Strafe, ihn zu een 
und zu hüten ujw., und forderte jchließlich 
jedermann und insbejondere alle Freiſchöffen 
auf, ihn zu richten, wo fie ihn fánden, Darauf 
warf er „die Wyd”, ben vor ihm auf dem 
Ridtertijd) liegenden Strid, Hinter fid) aus 
dem Gehege, und die anwejenden Freiſchöffen 
jpudten aus, damit andeutend, daß ber Ver: 
urteilte für fie nicht mehr zu den Lebenden 
zähle. Der Kläger erhielt eine Urkunde über 
das Berfemungsurteil, ber bas met grüne 
Giegel bes SFreigrafen und manchmal and 
nod) bie Siegel einiger ber Freilhöffen an: 
geheftet waren. Dieje Urkunde enthielt außer 
dem Urteil auch nod) die Aufforderung an 
jeden Freilchöffen Deutjchlands, bei der Vol: 
ftreddung behilflich zu jer, und diente dem 
Kläger als Ausweis, wenn er folder Hilfe 
und insbejonbere ber vorgejchriebenen Zen: 

te der Hinrichtung des Berurteilten 
edurfte. 

Eine Berufung gegen Urteile der Feme 
gab es anfangs überhaupt nicht; fpáter fam 
es öfter vor, daß bem Verurteilten auf fei- 
nen Antrag unter gewiljen Bedingungen und 
Förmlichkeiten nod einmal ein Redtstag 
gejebt und über die [Hon entichiedene Sabe 
erneut verhandelt wurde, Dod galt das den 
meiften reigrafen und Schöffen ftets als 
eine eigentlich ungulajfige Abweichung von 
ben alten Bräuchen. Bejonders gejdah es 
in folden Fallen, wenn der Berurteilte nach: 
wies, daß ihn die Ladung nicht hatte erreichen 
tónnen, weil er auf einem Kriegszuge oder 
in faufmännijchen oder anderen Belchäften 
außer Landes gewejen war. In ben meijten 


Fällen aber war und blieb ber einmalige 
Cprud) bes Femgerihts rechtskräftig, und 
in ber Regel wurde er aud) wohl volljtredt, 
wenn natürlich ber Verurteilte auch oft ge: 
nug fid der Ausführung des Urteils zu ent» 
ziehen wußte. Erſchwert wurde Iebteres aller: 
dings Dadurd febr, dak bei Rontumagzial: 
verurteilungen der Todesjprud) ftreng geheim 
ebalten wurde, jo daß in vielen Fällen ber 
serurteilte von ber ihm drohenden Gefahr 
nichts abnte, bejonders dann, wenn ihn aud 
die Ladung nicht erreicht hatte oder eine 
joldje überhaupt nicht ergangen war und er 
daher aud) von einer jyemgeridjtsverbanb- 
lung gegen lid gar nichts wußte. Bei der 
Vollftredung der Urteile jollten ftets wenig: 
ftens drei Freiſchöffen mitwirken oder bod) 
anwejend fein. Ste wurde immer derart 
ausgeführt, daß man den Berurteilten an 
irgendeinem Baume aujbing; in den Baum 
jtedte man dann ein Mejjer oder einen Dolch, 
für jeden JBijjenben, aber aud wohl für bie 
meijten Nichtwijjenden bas Zeichen, daß hier 
die eme ihres Amtes gewaltet habe. Da 
in ber Blütezeit ber Feme die Freilhöffen 
in großer Zahl über gang Deutſchland pere 
breitet und durch eine gute Organijation 
miteinander verbunden waren, fo famen die 
Urteile wohl met zur Vollftredung, jelbft 
wenn ber Berurteilte die Gefahr ahnte und 
ihr zu entgehen tradtete. Gem Aufenthalts= 
ort wurde gewöhnlich bald aufgejpiirt, und 
es hielt bann aud) wohl met nicht ſchwer, 
die nötigen drei FFreilchöffen zujammenzus 
bringen und eine Gelegenheit zu finden, das 
Urteil zu vollziehen. jedenfalls ijt es wahr» 
Iheinlich, dak des Reiches und des Raijers 
Wht und WAberadjt ihre Opfer gewöhnlich 
nieht jo [dell und ficher trafen wie die 
Feme die ihrigen. ` 
Trog der großen Unvolltommenbeit, die 
bie Feme in jeder Beziehung an fih trug 
und trog ber jchreienden und graujamen 
Ungeremtigteiten, die fie fo häufig beging, 
hatte fie doch, wie [Hon eingangs bemerkt, 
eine gewilje Berechtigung, folange bie or 
dentlichen Berichte D. nod) unvolls 
fommener waren als jie und viele Redts- 
verlegungen ungeahndet ließen. Das änderte 
fih aber mit bem Ende des 15. Jahrhunderts, 
als mit der Verfiindigung des ewigen Land: 
friedens und ber Cinjebung des Reihs: 
fammergeridts, fowie mit der Erftartung bes 
Randesfürltentums eine Beljerung der deut: 
Iden NRechtszuftände angebahnt wurde, die 
nad und nad) folde Einrichtungen wie Die 
Feme als Aushilfsgerichtsbarteit überflüffig 
mabten. Es fam Zu daß bie Feme als 
ſolche und die ihr als Wiljende zugehörigen 
im Laufe der Zeit immer übermütiger ge- 
worden waren und an fittlidem Wert ein- 
gend hatten, Jo daß es jebt nötig wurde, 
hug gegen die Feme zu jchaffen, deren 
Dajeinsberechtigung bod) nur darin beſtanden 
hatte, daß fie jelbit Schuß gegen Unredt 
hatte gewähren wollen und wirklich in ihrer 
Art aud) oft gewährt Hatte. Shon bald 





nad) Beginn des 15. Jahrhunderts mehrten 
fich Die Klagen über migbräuchliche Benugung 
ber Gewalt der Feme zu unlauteren perjón: 
liden Zweden wie auch über die fittliche 
Minderwertigfeit vieler Freiſchöffen (Die 
3- B. der Hat von Erfurt einmal als 
»Hanges mäßige Buben“ bezeichnete und 
denen man wohl nachjagte, daß fie fid) 
„auf ben Guff legten und öfters trunten 
waren“). Verſuche der Kaifer und Reichs» 
tage, darin Wandel zu jchaffen und Die 
Feme zu reformieren, wurden verjchiedent- 
lid) gemadjt, blieben aber erfolglos. Dazu 
fam nod, daß burd) bas mehr und e 
Geltung. gewinnende rimijde Recht jchließ» 
lid) aud) bie Rechtsanſchauungen des Bol: 
tes fid) láuterten, fo daß bald aud) Nicht» 
Kerken einzujehen anfingen, ein fo robes 
Berfahren, wie es bie Skeme übte, fei nicht 
mehr zeitgemäß, und es wurde allmählich 
als — empfunden, bap eigents 
lich jeder Nichtwiſſende durch die Feme 
jedem Wiſſenden mit Leib und Ehre preis— 
gegeben war, wenn er ihm im Wege ſtand 
und dieſer gewiſſenlos genug war, durch 
einen Meineid einen völlig Unſchuldigen 
dem Tode durch den Strang zu übers 
liefern. 

Indeſſen der einzelne Mann aus dem 
Bolte hatte gegen die unheimliche Macht 
nichts ausrichten finnen und durfte es aud) 
nicht wagen, gegen fie aufzutreten, und es 
war daher in gewiller Beziehung ganz gut, 
daß bie Feme aud) gegen die Mächtigen 
diejer Welt, gegen Fürſten und Städte und 
aud) gegen die Kirche [o übermütig aufs 
zutreten begann, bap fie Fräftige Abwehr 
Dadurd berausforderte. Es fam immer 
häufiger vor, daß einzelne Freiltühle nicht 
Davor zurüdichredten, den Rat und Die 
Biirger|daft ganzer Städte, mächtige Für: 
Hen und fogar den Kaifer felbft, den d'So 
berrn und die Quelle ihrer Macht, vor ihren 
Stuhl zu laden. Bejonderes Aufjehen erregte 
8 B. die Verfemung Herzog Heinrihs des 

eihen von Bayern: Landshut, ferner die 
Handel, welche die vg mit bem Deutjch» 
rittersOrden und Dellen Hochmeifter Hatten, 
und namentlich aud) bie Vorladung Kaifer 
yriedrids II. jamt jeinem Kanzler und dem 

angen Reidjsfammergeridt, bte nod) dazu 
in. jehr verächtlicher Form gehalten war: 
„Ir tommet oder nicht, [o muß bas gericht 
jetnen gang haben, 
wie es jid) nad) fry: 
ftulsrecht geburet. bie- 
nad) willen Ew. faijer: 
[iden Gnaden fid zu 
rigten, und raten wir 
Ew. faijerliden Gnaden, 
es dazu nicht fommen 
zu laffen“, jo endete ber 
dem Kaifer zugeitellte La: 
Debrief, der auh die 
SBenbung pet er folle 
zu bem angejegten Rechts- 
tage erjcheinen „bei Gtraje, 






Die Feme BBSSSSssssssssd 483 


fonft für einen ungeborjamen Kaifer ges 
halten zu werden.” Jn ábnlid abtungss 
widriger Weile wurde öfter auch Faijerlicher 
Einſpruch gegen ein ergangenes Femurteil 
zurüdgewiejen, und wenn man Jo jelbit 
dem „oberiten Stublherrn” ber Feme bes 
gegnete, A ift es gewiß nicht überrajchend, 
daß bie Ser fid) aud) um päpftliche 
Bullen wenig tiimmerten, die gegen fie 
erlajjen wurden. Gelegentlich fam es aller» 
dings auch SO? wieder einmal vor, daß 
die eme felbit gegen [olde Ungebühr: 
lichkeiten einzelner ihrer Mitglieder Ein: 
Ipruch erhob, aber es fonnte bod) nicht aus. 
bleiben, daß Kaifer, Kirche, Fiúrften und 
Städte jchließlidy bie Geduld mit der immer 
übermütiger werdenden Feme verloren. Ofter 
und öfter fam es Daher vor, daß Städte zur 
Gelb[tbilfe gegen Dee Bericht |djrit: 
ten, daß Fürften fih faijerliche Privilegien 
erwirften, die ihre Untertanen gegen Redjts- 
verfolgung durch die eme ficherftellten, und 
daß Fürften und Städte fih gegen die Über: 
griffe des heimlichen Berichts verbündeten. 
atjer, Neichstage und bas Reidsfammers 
ericht erließen Verordnungen, welche bie 
acht ber eme einjd)ránften, und dieje 
fonnte dagegen um fo. weniger etwas aus: 
richten, als D infolge vieler Mißbräuche 
und häufiger Übergriffe einzelner Freigrafen 
und Freiichöffen den Boden im Wolfe vers 
loren batte. 
Go fam es denn, daß bie Mirtjamteit 
ber Feme immer mehr wieder auf thr urs 
jpriingliches Gebiet, die rote Erde Wefts 
falens, eingejdrantt wurde und dab auch 
bier viele SFreiftühle eingingen oder in landes» 
eerie Berihte umgewandelt wurden. 
odesurteile zu verhängen wurde den ems 
erihten [Hon um bie Mitte bes 16. Fahr 
hunderts unterjagt und im Jahre 1582 das 
ehte derartige durch Freilchöffen vollzogen. 
Als bäuerlides NRügegericht hat die Feme 
aber nod) bis ins 19. Jahrhundert weiter: 
beftanden. Am 1. März 1811 wurde [ie 
zwar durd ein Dekret der Regierung bes 
damaligen Königreiches — aufge⸗ 
hoben, aber auch damit war ſie noch nicht 
anz zu Grabe getragen, ſondern heimlich 
bat jie nod) einige Zeit weitergewirtt. Der 
ete Freigraf ftarb im Jahre 1835, und 
pios hat es nod länger gegeben, ' 
is Schließlich aud) von ihnen einer nad) 
dem andern ftarb und 
bie Gebeimnijje ber 
Feme treu feinem 
Schweigegelöbnis mit 
ins Grab nahm. Die 
TForjcherarbeit des 19. 
Jahrhunderts bat fie 
dann aber aus den 
Archiven wenigitens teils 
weile wieder ans Licht 
gezogen, fo daß wir über 
Diele —— mittel⸗ 
alterlichen Lebens jetzt ganz 
ausreichend unterrichtet ſind. 


32* 


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| — lloselle pon Emil Brad ~~ 





Aus dem Baltonfenfter des Heinen 
A Saujes in ber Sienmanergajfe 
ftaden drei Köpfe und jpähten 
angeltrengt die Eet entlang, 
als Eduard Arbesmann von wet: 
tem auftaudte. Das junge Mädchen im 
yenfter ließ die Hand binausflattern, baf 
die Boldreifen am Gelent Elirrten. „Eduard!“ 
rief fie, fie zeigte fih voll Ungeduld und Gr: 
wartung, aber Arbesmann fonnte fie nicht 
hören, er war wéi nicht genügend nahe. 
Der Bater fagte: „Da ijt er ja," als müſſe 
er einen Zweifel zerftreuen. 

Arbesmann ging auf ber Kante bes (Deb: 
fteiges, ein Dienfimann 30g bas Gepäd auf 
einem Handwagen und legte fid) mächtig in 
die Gurten. Auh Arbesmann ging jo, als 
jet er in ein Gejdirr gejpannt, er ftemmte 
die rechte Schulter nad) vorn und zog eine 
unlichtbare Kaft hinter fid) her. Wielleicht 
war es auh nur der Wind, dem er fid) ent: 

egenjtemmte, obwohl im ganzen jtilles 
etter war, ein ruhiger, heiterer Tag. 

Bor der Haustüre blieb er ftehen und 
[agte, daß man hier halten miüjje, er fet am 
Ziel angelangt. Der Dienftmann nahm die 
Rappe ab unde wijdte mit einem großen, 
blauen Zajdjentid) über die trodene Stirn. 
Er wollte fid) wohl recht ermüdet und ab: 
geplagt zeigen, damit feine Arbeitsleiftung 
nicht zu gering eingejchäßt werde. Go 
ſchnaufte er und mußte eine Kleine Erholung 


g Kol 


Wee? 
| 





ob ehe er ben Reijetorb vom Wagen ` 


ob, den auch ein |djwádjlidjer Mann gut 
und bequem auf die Schultern hätte nehmen 
Tonnen. da er fein übertriebenes Gewicht 
‘hatte. Der Dienftmann aber war ein Bär 
von Gejtalt, ein wahrer Rraftmenjd war 
er, Dellen Arme üppig quollen. „Ho—ruck!“ 
machte er, fant in den Knien ein wenig ein 
und balancierte die Laft genauejtens aus, 
ehe er fih in Bewegung febte. 

Oben ftellte er den Korb nieder und wollte 
atemlos nod) einmal nag dem großen, 
blauen Tuch greifen, da aber Arbesmann 
ohnehin ein reichliches Trinkgeld gab, war 
es wohl nicht mehr notwendig, und er fonnte 
bas Tud) getroft in ber Tajche laffen. Gest 
ging auch fein Mtem wieder leicht und regel- 
mäßig, Denn er brachte feine Abjchiedsworte 
ohne Anfirengung vor. 

„Run wollen wir gleich auspaden,” fagte 
Mella, „wo halt bu denn die Schlüflel?“ 
Cie hatte jid) in ben letzten Tagen redjt: 
Kal bemüht, Eduards — auszu⸗ 
ſchmücken, und wollte keine Zeit verſäumen, 
ihr Werk zu vollenden. Die Vorhänge rieſel— 
ten duftig und blütenweiß von den Fenſtern, 


und auf allen nadten Flächen waren Hand: 
arbeiten aufgelegt, eine ganze Unzahl von 
Handarbeiten, die fie im Lauf der langen 
Brautzeit angefertigt hatte. Wud einige 
Blumen ftanden auf dem Tijd. 

Frau Kreuzinger forderte Arbesmann 
auf, jih ang zu Haufe zu fühlen. „Eigent: 
lid) bift du ja als zufünftiger Schwieger- 
john bier aud) zu Haufe,“ fagte fie und klam— 
merte die Finger ineinander, während ihre 
Unterarme eine Stüße an ben Hüftknochen 
fanden. Gie neigte bei allen Anlájien, bie 
einen Wendepunkt im Leben eines Menſchen 
bedeuten fonnten, ftets zum Weinen hin und 
Gs auch jest Mühe, ihre Augen troden zu 

alten, Arbesmann machte eine Heine, mib- 
lungene Berbeugung und jagte, daß es daran 
nicht fehlen werde. „Hoffentlich falle ich 
euch nicht zur Laft,“ fagte er und madte 
lich Jo bejcheiden als móglid. 

Die Sache war bie, dak Arbesmann von 
den Eltern feiner Braut eingeladen worden 
war, bei ihnen zu wohnen, damit er der 
fleinen Gorgen des Alltags enthoben jet und 
fid) ganz feinem Studium widmen tónnc. 
Er bereitete fih zur Advotatenpriifung vor, 
nad deren 9[blegung er Viella Heiraten 
wollte. Sie fannten jid) [hon eine ganze 
Anzahl von Jahren, wenn man alles zu: 
jammenrechnete, jo fam eine hübſche Beit- 
[panne heraus, viel zu viel, um nicht unge: 
duldig zu werden. 

Cigentlid war es Melas Berdienft' ge- 
melen, daß fie fih fennen gelernt hatten, fie 
half ein wenig nad) und hielt mit ihrer Be: 
reitwilligfeit, Cduards Belanntichaft zu 
madden, burdjaus nicht aurüd. Sie gin 
ihres Weges, wie ftets mit gejenftem Kopf 
und eilendem Schritt, im ganzen ein [cheues 
reines Mädchen, voll Angjt und Gorge, dak 
ein unvorfidjtiger Blid oder eine fletne Be- 
wegung von einem anne mifdentet wer: 
den und er ihr nabetreten tónnte. „Die 
Männer find ja fo fred),” fagte fie jedem, ber 
es hören wollte, unb war voller Borjidt. 

Als Arbesmann fie zum erjtenmal jab, 
ftand er verblüfft und angedonnert. ‚Teufel,‘ 
Dadte er und fog fo viel Luft burd) bie 
Jaje ein, als er nur erhaſchen fonnte, denn 
Mella war durch diefe Luft hindurdgejegelt, 
mit um Die ſchmalen Knie [Máumenden 
Róden war fie Hindurchgejegelt, und es 
fonnte fein, daß er Diejelbe Luft in den 
Mund befam, bie fic) in ihrer Brult erwärmt 
hatte. Er war plóslid mit tolen Entſchlüſſen 
vollgepfropft, abenteuerliche Gedanfen jagten 
durd) jein entflammtes Gehirn. Er tonnte 
auf d zueilen und jagen: „Hören Sie? Es 


Emil Gradl: Die Prüfung des Eduard Arbesmann 485 


ijt mein Blut, bas fo toft. Früher floB es 
gemádlid) Durch die Adern, aber nun, da 
ih Sie gejeben babe, toft es. Ich beife 
Eduard Arbesmann, verzeihen Ste mir.” 
Wher er bradjte es nicht to weit, nein, er 
führte feinen feiner Entjchlüffe aus, fondern 
ftand [tI und ſchüchtern da und ſchloß nur 
ein wenig die Mugen, die hinter funtelnden 
Brillengläjern ftanden — das war alles. 

Ein Zufall fügte es, daß Mella nod) eins 
mal feinen Weg freuste, fie fien RE 
meile öfter in ber Gegend der Univerjität 
Bejorgungen zu haben, wo Arbesmann Das 
mals im erften Semefter jtudierte. Diesmal 
aber traf es fich gerade jo, daß Mella von 
einem Herrn verfolgt wurde: ein zudringliches 
Herrlein folgte ihrer Spur, fo daß jie jid) 
peranfapt jab, Arbesmann um Schuß zu 
bitten. „Ach bitte, bejdiiken Sie mid) vor 
jenem zudringlichen Herrn,” jagte fie und 
wandte. fih geradezu an Arbesmann, „Sie 
Ge mir gewiß nicht böje, dab ich Sie um 

iejen Ravaliersdienft erjuche.“ 

Arbesmann war nicht bóje, er forjchte bie 
Gtraße hinauf und hinunter,- fonnte aber 
feinen Herrn entdeden, vielleicht hatte er fih 
hinter einer Mauerecke verjtedt. (Es war 
ein Blüd, daß er Hinter einer Diauerede ein 
Berfted gefunden hatte, denn Arbesmann 
machte eine Bewegung, die nichts Gutes er: 
warten ließ. „Mit taujend Freuden,“ jagte 
er und war erftaunt, von wo ihm diefe 

alante Redensart zugeflogen fam, Die er 
Früher nie benüßt hatte. Cr wollte feinen 
Worten nod) etwas binzujegen, fie jchienen 
ihm geringfügig und nicht geeignet, Viella 
einen vollen Einblid in feinen Ceelengujtano 
zu gewähren, deshalb wollte er fie ergänzen. 
Nun wäre ja der richtige Augenblid - ges 
wejen, ihre Aufmertjamteit auf bas Tojen 
feines Blutes hingulenfen und deffen Urjache 
zu erfldren, aber Arbesmann vergaß wohl 
darauf. Er vergaß aud feinen Namen zu 
nennen, fid) in aller Form vorzuftellen, jo 
daß Mella fragen mukte: „Wie heißen Cie 
eigentlid) ?" O, fie war nicht neugierig, fie 
hatte nur ein Interejje daran, den Namen 
ihres Bejbhiúbers zu willen, fid) ibn aus 
Dantbarteit einzuprägen, deshalb fragte fie, 
mie er heiße. „Arbesmann?“ fragte [te und 
badjte. Sie [prah den Namen prüfend vor 
fid bin, als müffe fie |páter nod) davon Ges 
brauch machen, und dann wollte [ie aud) den 
Vornamen willen. „Ein jchöner Name,” 
[aate fie, „er gefällt mir.” Cie gab in jeder 
Meije kleine Hilfen, jtreute Bemerkungen 
ein, aus denen fid) mit Leichtigkeit ein an: 
geregtes Geipräd hätte entwideln tónnen, 
aber Arbesmann jchritt neben. ihr einher 
wie ein Dauergänger. Gein Herz [türmte 
und [feine Füße ftürmten, fein ganzes Leben 
Idien aufgewühlt zu fein, nun hatte er 
ühe, bie Durcheinanderftürzenden Gefühle 
wieder in Ordnung zu bringen, und dazu 
bedurfte es einiger Zeit. Leider war er das 
mit noch immer nicht fertig, als Mella [Hon 
bei ihrer Wohnung [tanb. jie reichte ibm bie 


fahr, „ich 


SE an der goldene Reifen flirrten, und 
agte: „Ich dante Ihnen nochmals, — wie 
id) Ihnen dante!” 

„Leben Cie wohl,” fagte Arbesmann. 

„Leben Sie wohl.“ 

Arbesmann erwog wohl niht alle Mög: 
lichfeiten, er befand fih an einer Grenze, 
über bie hinaus feine Gedanfen nicht flogen, 
jonft hätte er ein Wort darüber verlauten 
lajjen miijien, wie es denn mit einem Wie: 
derjehen bejtellt fet. „Auf Wiederjehen,” 
hätte er fagen müljen, bas wäre das wenigite 
gewejen, was er für feine Zutunft tun fonnte, 
und Mella ließ ihm reichlich dazu Zeit, fie 
rannte nicht |djnurfirads in die Haustüre 
hinein, jondern zeichnete mit ber Spike bes 
Sonnenjdirmes figuren in den Sand, aller: 
let Figuren. Das ijt nun ein Dreied, Viella 
betrachtet es verfunten und will wohl bie 
Hypothenuje berechnen, aber es gelingt ihr 
niht. Go aerjtórt fie es und macht einen 
Kreis, den fie in Segmente abteilt; er hat 
an einer Stelle einen Kleinen Fehler, dort 
ijt er nicht ganz rund, und es foftet Mella 
viel Mühe und Zeit, ihn jorgjam abzurun: 
den, lange Minuten. Aber jchließlich mußte 
aud) Das ein Ende finden, fie tonnte nicht 
in alle Ewigfeit Figuren zeichnen, ihr Talent 
war er|djópit. „Wie bitte?" fragte fie und 
wollte fein Mort verjäumen, das Wrbess 
mann etwa gejagt haben tónnte. Aber er 
hatte nichts gejagt, er ftand nur da und blidte 
bewundernd auf Melas Hände, ‘auf ihren 
Sjalsaus|djnitt, ihr Geftd)t, und fein Atem 
ging |djmer. Da jtanb ein lebendes Bejchöpf 
vor ibm, ein Runftwert fozujagen, eine 
pradtvolle Cade, und er miibte fih vergeblich 
ab, eine Bezeichnung dafür zu finden, nein, 
feine Sprade reichte nicht bin, Jo jchwieg er. 

Mela gab es auf, eine Wnjprade zu ers 
warten, und bemerkte fo obenbin, fie hoffe, 
daß Arbesmann fich nadjtens wieder in ber 
Nähe befinde, wenn fie in einer jo peinlichen 
Lage fei wie heute. „Haha,“ laite fie leicht» 
ertig im Bewußtjein der überftandenen Ge: 
id) meine nur, daß es nicht ausge: 
ſchloſſen ijt, die Männer find ja fo jchlecht.“ 

Damit ging fie. 

Und ri tig traf es fid) [hon wenige Tage 
ipáter, daß Mella abermals in der Gegend 
der Univerfitát von einem Herrn beláftigt 
wurde. Es war zwar ein älterer Herr, der 
aber feineswegs ungefährlich ausfab, er gin 
neben Mella einher und |prad) lebhaft a 
jie ein, Gott weiß, was für Abſichten er 
batte. Arbesmann war nicht ber Menjd, 
der ein gegebenes Berjprechen in die Winde 
Ihlägt und fid um feine Berpflichtungen 
herumdrüdt, er |tellte auch feine tomplizierten 
— an, ſondern eilte geradeswegs 
auf den Verführer zu und ſagte mit vor 
Wut heiſerer Stimme: „Mein Herr?“ Aber 
es ſtellte ſich heraus, daß es Mellas Vater 
war, der ſie begleitete. Hoh o, nun konnte 
man lahen, aud) Arbesmann lachte tüchtig 
mit, obwohl es ihm nicht recht gelingen 
wollte. „Ein Juſtizmord!“ brüllte Mellas 





Water vor Vergnügen, als fid) Arbesmann 
als Jurift zu erfennen gab, er fonnte gar 
nicht beruhigt werden und fagte zum Schluß: 
„Kommen Cie Dod einmal zu uns.” 

Nun war das vielleicht ein wenig vor: 
eilig von Kreuzinger, es hätte wohl damit 
nod) gute Zeit gehabt, bis Eduards Ab: 
ER deutlicher zutage traten, und fo fagte 

ella, nahdem fi Arbesmann verab: 
Ihiedet hatte: „Uber Vater, wir tennen ihn 
pod) gar nicht näher.“ Gie für ihren Teil 
vertrat jedenfalls bie Anficht, dak man mit 
den Einladungen niht jo um fic werfen 
müjje, wenn man eine heiratsfähige Tochter 
im Haufe babe, und wollte fih nod ab: 
wartend verhalten! Gie ging, als Arbes: 
mann feinen Bejud) machte, nirgends über 
das Mak fonventioneller Höflichkeit hinaus. 
„Ah, Herr Arbesmann,” jagte fie und er: 
wedte den Anſchein, als fei er ihr [don 

anz aus dem Gedächtnis gefommen, als 
alle es ihr jchwer, fid) feiner zu erinnern. 
„Ich habe nod) in der Küche zu tun,” fagte 
jie, „bitte, gehen Cie nur zu Papa hinein.“ 

Kreuginger war ein febr unterhaltender 
Menih, ein ausgezeichneter Gejellichafter, 
das konnte Arbesmann jdjon bei feinem 
erften Bejuh wahrnehmen. Er war pen: 
fionierter Boftoberoffiztal und hatte mandes 
Sdarmiigel beim Schalter beftanden. „Beben 
Cie mir eine 3ebnbellermarte,” jagt jemand. 
Kreuzinger [ibt und faut in die Luft. 
„Eine Mtarfe zu zehn Car? Kreuzinger 
rührt fid) nicht. „Ich brauche eine Marke 
für meinen Brief, hter find zehn Seller.” 
Rreuzinger bat das Gehör verloren, er ijt 
völlig taub, ein verjtocter Beamter. „Bitte 
mir Dod) endlich eine Diarte zu geben, eine 
Marfe zu zehn Heller.“ lötzlich hört 
Kreuzinger, er bat jedes Mort verftanden, 
jein Gebórleiden war wohl nur vorüber: 
gehend. Er winkt einen Amtsdiener heran, 
reicht ibm den ganzen Bogen aus Marken 
mit lauter Saijertópfen darauf und fact: 
» Geben Gie biejem da eine Marte.” „Diejem 
da,” jagt er und nimmt einen Amtsdiener 
zu Hilfe, das ift feine Race. Während er 
erzählt, bewegt er immerfort feinen Schaufel: 
ftubl und fieht aus wie ein Schiffstapitän 
auf derer Gee. Er ftóBt eine Rauchwolte 
in die Luft und jagt als Ergebnis einer 
jabrzebntelangen Erfahrung: „Das Bublitum 
ijt eine Bejtie.” 

Geine Frau [ibt ba und hält die Hände 
über dem Bauch gefaltet, während die Unters 
arme an den Hiijttnoden eine Stige finden. 
Cie möchte gern etwas vorbringen, was 
Mella betrifft, N ahnt dunfel, daß 
Arbesmann jid) für Viella interejfiert, daß 
(ie auf alle Galle fein Gefallen erregt bat 
und er nun gefommen fet, um darüber 
Näheres zu erfahren. Es verwirrt fie, daß 
Kreuzinger feine Poſtgeſchichten vorbringt, 
die [te alle jdjon fennt und die ihr deshalb 
ihal und inbaltslos erjdeinen. Go lauert 
He auf den Augenblid, wo fie an Rreuzingers 
Reden anfniipfen fann, fie prüft jedes eins 


Emil Grabl: CHI HH Zn 


¿elne Wort, ob fih von da etwa ein Übers 
gang zu Dela finden fónnte und macht 
einjtweilen ein freundliches Gefidt. 

In legter Minute erjchien aud) Mella, fie 
hatte ihre Küchenarbeiten beendet. Es jab 
aus, als babe fie Pfannen gerieben oder 
jonft eine [djmere häusliche Aria hinter 
lid), bei ber fie fid) büden mußte, denn ihr 
Halsausihnitt war bedeutend verjchoben, 
ein ganzes Gtiid heruntergerutjcht, wenn fie 
einen Gpiegel gehabt hätte, jo hätte fie es 
jeben müjjen. Um überhaupt etwas zu lagen 
und fid) in angenehmer Weile bemerkbar zu 
maden, ver|prad) jie, Arbesmann das nächite 
Mal den Garten zu zeigen, der ja allerdings 
nicht groß fei, er habe beftimmt [bon viel 
größere und jchönere Garten gejehen, aber 
es gebe aud) bier laujchige Winkel. 

ewiB bat Arbesmann [Hon größere und 
Ihönere Garten gejehen, diejer da war nicht 
groß, man fonnte feine Raummeter in 
einer geringen Zahl ausdrüden. In jeder 
ber vier (den Wonn ein Zwetichenbaum, 
Dellen magerer, verfriimmter Leib zu Un: 
ee verdammt war, längs der Wege 
wudbjen Gtadelbeerftauden, deren behaarte 
Früchte wie ftart bewimperte grüne Augen 
ausjaben. Viella mochte fie nicht leiden, fie 
fonnte fein Wort über Die ege 
hören, ohne daß fid) eine Menge Feuchtig— 
teit in ihrem Mund anjammelte. enn 
Eduard davon ſprach, bann rief fie: „Schwei- 
gen Cie dod!” und hielt ihm die Hand vor 
den Mund, bab er den Duft Gë Hand: 
tellers trinten fonnte. So |prad) er oft von 
ben Ctadjelbeeren, öfter als notwendig war, 
und hatte immer fein Vergnügen dabei. Es 
war alfo bod) ein jdjoner Garten, man fonnte 
tundenlang darin verweilen, und oft jentte 
id) [bon die Dunkelheit herein, ehe Viella 
und Eduard alle Pflanzen bejichtigt batten. 

„Wo hajt du denn die Schlüjjel?" fragt 
Mella jegt und macht fih eifrig daran, ben 
Korb auszupaden, fie übernimmt den Bräus 
tigam in Diejer Stunde jogujagen in Baujd) 
und Bogen. Arbesmann äußerte feine bes 
jonderen Wünjche, während fie jeden ein= 

elnen Gegenftand an feinen Pla bradjte. 
Er hätte gang gut jagen fónnen: „Die 
Aſchenſchale müſſen wir dorthin ftellen” oder 
„dieje Bücher fommen auf den Tiih,“ um 
damit fundzutun, daß er fid) hier gwar als 
(ait fühle, in ben eigenen Angelegenheiten 
jedod) feinen Willen durchzuſetzen gejonnen 
jet. Aber er fagte nichts dergleichen, fon: 
dern ftand ziemlich unbeteiligt Dabei, im 
ganzen ein wenig bedriidt und gleichgültig. 
„Bott, was in deinen armen Kopf alles 
hinein fol,“ fagte Viella bejtürat, als fie ber 
vielen diden Bücher gewahr wurde, und 
mußte fid) tüchtig mit den folianten jchlep: 
pen, jie fonnte mit den Armen faum das 
bewältigen, was Eduard mit dem Kopf ers 
fallen mußte. „Zum Glück wird bei den 
denim nicht alles gejragt, was in den 
Büchern ftebt,” fagte fie, „nein, es wäre zu 
viel.“ SKreuzinger fand die Gelegenheit 


Die Prüfung des Eduard Arbesmann 487 


günftig, ein Wort über feinen eigenen Gig: 
diengang einzufledhten, er wollte feine Be: 
rufswillenihaft in das rechte Licht riiden 
und |prad) von ber Verfehrsprüfung, die er 
in jungen Jabren abgelegt hatte. „Sollte 
man glauben, wie weit die Neugierde der 
Prüfungstommiffion gegangen ift?” fagte er 
und traf alle Anjtalten, fid) über diefe Neu- 
ierde näher atusau|predjen. Aber Frau 
reuzinger wollte das nicht gelten Toilen, 
ba fet Dod) wohl ein gewaltiger Unterfchied, 
meinte fie, und wie er fo etwas mit der 
Advokatenprüfung vergleichen Tonne, Arbes- 
mann wollte niht, daß er in einem allzu 
grellen Liht daftehe, es war ibm darum zu 
tun, jedermann im ungejchmälerten Befig 
[einer Verdienfte zu laffen, deshalb fagte cr: 
„Nun, es ift niemand zu beneiden, ber vor 
einer Prüfung ftebt.” 
ein, Arbesmann war nicht zu beneiden. 
Wenn man feine Erjcheinung ins Auge faBte, 
jo fonnte man wohl wahrnehmen, daß er 
den — gegenüber keinen leichten Stand 
hatte. Er befand ſich nicht auf gutem Fuß 
mit ihnen, ſie waren nicht ſeine Freunde, 
Gott bewahre. Wäre es ein einzelnes Buch 
eweſen, ein in p abgejchlojjener Band, jo 
atte er fid) mit ihm verjöhnen können, es 
hätte jelbjt bei hoher Geitenzahl eine Mög: 
a gegeben. (td) mit ihm auseinander: 
zujegen. So aber war es eine ganze Un: 
zahl von Büchern, ein Wuft von Büchern, 
man fonnte in dem einen blättern und dar: 
über den Inhalt des anderen vergefjen. Es 
wimmelte darin von Paragraphen und Fue 
noten, von jchuldbarer Krida, Rindesweg: 
legung, Hausfriedensbrud) und Zuchthaus, 
fes, fieben, zwanzig Jahre, Gott weiß, 
von wieviel Jahren udjthaus. Mar es 
móglid), daß die Menſchen fo vielerlei ftraf: 
bare Dinge begehen fonnten, um mit ihrer 
SBeldjreibung ganze Bände anzufüllen? Es 
war nidjt zu leugnen, daß ein Zug von 
Sclechtigfeit durd) bie Welt ging, und Ar: 
besmann mußte fid) damit abfinden, ja, nun 
mußte er jehen, wie er damit fertig wurde. 
Es er[djien ihm unbegreiflich, daß zur Auf: 
rechterhaltung der BC Te Ordnung 
eine jolde Sile von Beſtimmungen und 
Paragraphen 
während Gott mit feinen zehn Geboten 
austam. Mielleiht rührte daher bie 
Feindſchaft mit feinen Büchern, bie er jebt 
mit jpigen Fingern und verefeltem Gett 
aus Viellas Händen entgegennahm, um fie 
auf die Regale zu Wellen, 

Einen großen Teil der Bücher, den aller: 
rößten Teil fann man wohl kan: ver» 
perrte er im Gdranf, er legte [ie ganz Aus 
unterft und drehte ben Schlüjjel zweimal um. 
Mochten fie dort liegen bleiben, fie waren 
jogujagen beurlaubt, und Arbesmann mochte 

von ihrer Wnwejenheit nichts willen. „Die 
halt bu wohl [hon ausftudiert?” fragte 
Mella, jte glaubte allen Ernjtes, daß er diejen 
Berg von Willen jhon in feinem Ropfe habe 
und leicht über alles |predjen fonnte, was 


geihaffen werden mußte, ` 


dort gejchrieben ftand. Arbesmann blidte 
ein wenig aer[treut umber, er hatte oft einen 
Blid, als ftünde er über allen Dingen, und 
antwortete: „Ach nein.” Es war ihm pein: 
lih, daß Viella diefe Frage an ihn richtete. 
Bub. fie Denn nicht, daß ihm gerade diefe 
eijeite gejchafften Bücher am unangenehm: 
ten waren, daß fie die größten Rätſel in 
ih ſchloſſen und ibn ihr Anblick bebrüdte, 
ja geradezu hoffnungslos madte? Was hätte 
er aljo antworten follen? Erfagte , ad) nein“ 
unb mußte befiirdten, auch damit noch zu 
wenig gejagt zu haben. 

Set es, dab in Ddiefer Berneinung eine 
lächerlich geringe Zuverficht lag, eine allzu 
Heine Zuverficht, mit ber man für die Zus 
funft nichts anfangen fonnte, ober daß Kren: 
ginger, wee Poftoberoffigial, der geittveije 
beim Schalter jchlecht gehört hatte, im all» 
gemeinen ber Wijjenjdaft mit feinem über: 
triebenen Rejpeft gegeniiberftand, fura und 

ut, er trumpfte jet auf, |djnalgte mit ben 
nern durch bte Luft, daß es ordentlich 
leichtfinnig anzuhören war, und jagte: „Die 
befte Schule ijt das Leben!” Ja, man brauche 
nur das Leben zu ftudieren, dann wiffe man 
alles. „Die Bücher nimmt man im erften 
Anlauf,“ fagte er, „und dann folte man fie 
jo ra[d) als möglich wieder vergejjen.” Sie 
jeien ein Ballajt. : 

O, wie er nun bajtanb vor allen mit feiner 
Klugheit, ein abgeflarter Geijt, ber bie Wich- 
tigfeit aller Dinge auf das ihnen zukom— 
mende Maß zurüdzuführen verftand. Er 
laufchte, ob etwa jemand etwas zu erwidern 
hätte, ob es jemandem einfallen würde, Ops 

ofitton zu treiben, aber alles jchwieg, fie 
fite Déi geichlagen. Nicht einmal feine 
rau tat ben Mund auf, obwohl fie fonft gern 
gegenteiliger Meinung war und allerlei Ein» 
wände bei der Hand hatte, jebt ichwieg aud fie. 

Kreuzinger blickte um jid), über den ganzen 
Familienfreis ließ er fein Auge jchweifen, 
dann fagte er: „Wir jehen uns wohl nod) 
drüben.“ Es war eine Gelegenheit zu einem 
prachtvollen Abgang. 

ella wollte, mit Eduard allein gelafien, 
verjchiedenes wieder gutmachen, feine Ver: 
itimmung über ihre Frage war ihr nicht ent: 
gangen, und jo trállerte fte zunächjt ein wenig 
burdjs Zimmer. Du lieber Gott, es war ja 
nicht mehr dasjelbe wie vor einigen Jahren, 
als fie Eduards Schuß anrufen mußte, weil 
fie von allen Herren verfolgt wurde. Ihre 
Ride raujdjten leider nicht mehr |o frijd) 
unb jung um die jdmalen Knie, man fonnte 
jekt ganz gut darauf binbhorden, ohne Item: 
bejchwerden zu befommen. Auch thre Augen 
lagen ein wenig tiefer und umjchatteter, denn 
in manden Nächten jchredten fte angjtvolle 
Träume. Gie [ab Eduard von einer Schar 
dämonijch blidenber, böswilliger Kerle um» 
ringt, deren Schädel breit aufgedunjen waren. 
Cie ftellten mit harten, wilden Geften und 
wirren Worten eine Unzahl von Fragen an 
Eduard, überjchütteten ihn mit Hohn und 
Spott und gerieten außer fid) vor Schaden: 


— 


488 Bf) Emil Bradl: Be223222%2332332322222 


freude, wenn er nicht antworten fonnte. 
Dann warfen fie bie Befichter gum Himmel 
empor und ließen ihre Frobhlidfeit aus den 
Haffenden Lippen hervorpoltern, ihre braus 
nen Zähne ftanden wie Blóde in den Ries 
fern. „Sag’s doch,“ rief Mella und preßte 
die Hände gegen ihre flehenden Brüſte, 
lag s bod) Du weißt es ja!” Aber Eduard 
ftand da unb ließ fein Wort verlauten, fein 
einziges Wort, er feufzte nur und wußte 
Ihlechterdings gar nidts. Dann erwadte 
Viella und war mit Wirrnijjen erfüllt. 

CR aber war [ie voller Fröhlichkeit, fie 
trällerte Durchs Zimmer und zeigte feinerlet 
Kummer. Im Gegenteil, fie |prudelte von 
Zuverliht und Lebensmut und hatte eine 
Menge neuer Pläne ausgehedt. Gie warf 
Dabei mit großen Summen um fic und be: 
nahm jid) burdjaus wie die Gattin eines 
angejehenen Redjtsanwalts, ber jid) jederzeit 
auf ein ergiebiges Banffonto ftiigen tann. 
„Einmal jábrlid) maden wir eine weite 
Reife,“ jagt fie, „irgendwohin, nad Ägypten, 
oder 9[merifa, oder Indien. Wm ltebften 
nad) Indien. Ift es wahr, daß man dort 
burd) bie Straßen der Städte auf Wagen 
fährt, bie von Eingeborenen gezogen wer: 
den?“ Arbesmann lächelt zerftreut und jagt, 
daß er darüber noch nichts Bejftimmtes ere 
abren habe, aber es werde wohl fo fein, 
in Indten fet allerlei möglich), wovon wir 
uns gar feine Vorftelung madjen. 

Übrigens hatte Mella aud) nicht bie Ab— 
ee bet ben verjchiedenen Bállen und fons 
tigen Feitlichkeiten, bie [ie ja wohl mitmachen 
würden, mit nadten Händen und nadtem 
am zu erjdeinen, fie wollte vielmehr einige 

bellteine Darauf haben. Ja, es zeigte fic, 
daß fie fih dieje Gahe [hon gründlich batte 
durch den Kopf gehn [ajjen unb über Gat: 
tung, Größe und Preis diejer Edeljteine ge: 
naueftens unterrichtet war. „ch babe mir 
den Katalog eines Juweliers tommen laffen,” 
jagte fie, „um alles mit Muhe wählen zu 
Tonnen, Gs Dat natürlich Zeit, bis bu deinen 
eriten großen Prozeß gewonnen haft, aber 
den Katalog fann|t du gleich jehen, wenn 
bu es willjt.“ 

„So, haft du wieder einen neuen Ratas 
log?” jagte Eduard, denn Viella bejaB cine 
ganze Anzahl davon, „Haft du wieder einen 
neuen Katalog?“ jagt er, und es fällt ihm 
ein, wie jehr viel er noch für die Prüfung 
p lernen bat. „Wir tónnen ihn ja gelegent: 
ich bejichtigen,* jagt er, „hoffentlich halt du 
bir etwas Schönes ausgejudht.“ Er ijt plötz— 
lich etwas nervös geworden, aber das hat 
nicht viel zu bedeuten, eine fleine Nerven: 
verjtimmung, nicht der Rede wert. Er túBt 
Viella flüchtig auf die Lippen. „Du Liebe,” 
jagt er babet, und fein Herz ijt voll 3árt: 
lichfeit, „nun will ich aber noch ein wenig 
in meine Bücher hineinjchauen.” 

Dann fit er ba und [haut in feine Bücher 
hinein. Viella jchleicht lid) auf den Zehen 
ur Familie hinüber und fliijtert: „Sit, 

duard lernt,“ 


Angeregt burd) bie neue Umgebung und 
das Stille Behagen, das fein Zimmer erfüllte, 
ging Arbesmann daran, fid) mit ganzer Auf: 
merfjamteit auf bie fremden Paragraphen 
zu [türgen, und war gejonnen, heute nod) 
eine ganze Anzahl davon zu bewältigen. Es 
ihien ihm mit einemmal eine Rleinigfeit, 
ein Rinderjpiel zu fein, einen eid nad 
dem andern durchzuleſen und den „Inhalt 
dann frei aus dem Gedddtnis gu. wieder: 
holen. Eine tiefe Dankbarkeit erfüllte ihn, 
baB man ibn nicht vor ſchwerere Aufgaben 
ftellte. Es ftand ja alles ba, was er bei 
der — zu wiſſen verpflichtet war, mit 
klaren, ſauberen Buchſtaben war es nieder— 
gelegt, man brauchte es nur aus dem Buch 
herauszuleſen. Man hätte es ihm wahr: 
baftig nicht leichter machen fónnen. Wie, 
wenn er jid) zu all diejen Ideen, die Hier 
verzeichnet waren, erft felbft in jchweren 

eiftigen Rämpfen hatte durchringen miijjen ? 
enn er vor die Notwendigfeit geltelIt 
worden wäre, diejen oder jenen Sag jelbft 
miihevoll zu bilden? Go aber braudte er 
nur fertige Gedanfen in ber aufzunehmen, 
und es fonnte feinem Zweifel unterliegen, 
daß er dicle ganze fogenannte Willenjchaft 
leicht bewältigen würde, bitte, modte man 
ihm davon aufgeben, foviel man wollte. 

Arbesmann las einige Gabe laut und 
aufmertiam, bann ſchloß er das Bud und 
wiederholte fie mit zurüdgelegtem Kopf. 
Ja, es ging prádjtig. In kurzer Zeit prägte 
er fid) eine volle Seite ein und hätte fidjer 
ein ganzes Kapitel im erjten Anlauf genoms 
men, wenn ibn nicht das Girenengebrüll 
einer nahen Fabrik abgelentt hätte. Er 
blidte auf die Uhr und ftellte fejt, daß er 
innerhalb vierzehn Minuten mit einer Seite 
fertig geworden war, ein lächerlich Feiner 
Zeitraum. Zum Spaß berechnete er, wies 
viel Minuten notwendig feien, um fidh bei 
gleihmäßiger Arbeit den ganzen Stoff an» 
gucignen, und fand, daß er viele Woden 
vor dem angejegten Prüjungstermin fertig 
werden mußte. 

Frohgemut trat er zum offenen enter 
und jah voll Mitleid aut die vorbeizichenden 
rußgejhwärzten Arbeiter hinab, Die in 
ee Mühe für ihr notdiirjtiges Leben 
orgen mußten, während er hier bequem 
Jigen fonnte und nichts anderes zu tun hatte, 
als Gelejenes zu merfen. 

Es wurde ihm nicht leicht, nad) Ddiefer 
Heinen 9[bIenfung fih wieder in fein Studium 
zurüdzufinden, und fo entjchloß er jid), vor 
allem die gelernte Seite nod) einmal zu 
wiederholen, den Faden wieder von vorn 
aufzunehmen. Er fagte die erften Worte 
medjani|d) vor fid) hin, dann ftodte er aber 
und fonnte jid) nicht gleid) zurechtfinden. 
Sa ja, da war wohl ein kleiner Gedächtnis» 
fehler, eine Lüde, Die er nicht jo rajd) aus» 
zufüllen vermochte. Er zog Die Stirn in 
alten und dachte nad. Es fonnte fid 
iblimmitenfalls um ein entfallenes Binde: 
wort handeln, eines jener gefährlichen Binde» 


tegliß) 


— 
-w 


(Aufnahme der Neuen Photogr. Gefellidjaft, Berlin 


Weidewund 





— o m — — — E mg = 


possesses Die Prüfung bes Eduard Arbesmann B2222223 489 


wörter, bie fid) [don wiederholt nicht zur 
rechten Zeit einjtelen wollten, um den An— 
ibluB an das Kommende zu vermitteln. 
Eine leichte Unruhe befiel Arbesmann, wäh. 
rend er eine ganze Unzahl von Bindewör: 
tern berjagte und fie in bie entftandene 
Liide o^ ügen verjuchte, wie man Gteine 
in ein Moſaik einfügt. Aber feines pakte. 
Er ftand auf und verjchaffte fid) ein wenig 
Bewegung, mit hajtigen, unficheren Beinen 
Ichritt er auf und ab. Gein Gejidjt nahm 
einen feindjeligen Ausdrud an, und er ahnte, 
daß es vielleicht bod) nicht fo leicht fein 
würde, fid) mit all diejen Paragraphen auf 
vertrauten Fuß zu Wellen, Es [bien ibm mit 
einemmal, als jtede ein geheimer, boshafter 
Ginn in ihnen, als feien fie mit Vorbedadht 
jo abgefaBt, daß fie ihn verwirren mußten. 
Er fühlte etwas wie Haß gegen feine Peis 
niger auffeimen, die er nicht fannte, die er 
fih aber nicht anders als mit hämiſchen Ge: 
lihtstügen porjtellen konnte. - 

Urbesmann fpábte verftohlen gwifden 


die Geiten, dort wo der eingctlemmte Zeige: , 


finger einen jchmalen Spalt freigab, denn 
er mochte es fih nicht eingejteben, daß er 
im Text feftap. Mit jchielendem Auge juchte 
er haftig nad) dem vermiften Bindewort 
und war überzeugt, dak er fließend forts 
abren fónnte, fobalo er nur einmal an bie: 
em Wort einen neuen Halt gewonnen. 
loglid) fand er es, mitten auf der Geite 
ftand es ba, als fei es mit fetten Lettern 
bingejegt: demgemáB. Man mußte fih wun= 
bern, es nicht [hon früher entbedt zu haben, 
denn da ftand es, breit und glänzend: Dem: 
gemäß. Wrbesmann ließ fein Gebüdjtnis 
auf diejes Wort einjdnappen und konnte 
nun wirflid in überjtürzter, murmelnder 
Freude zu einem Ende gelangen. | 

Nun ging er fogar weit über: bie erjte 
Geite hinaus, er warf bie Zeilen hinter fid) 
wie ein 9Ber|djmenber. Einen ganzen Berg 
von Willen [djidjtete er in feinem Kopfe 
auf, ja, es war genügend Plagg darin, fein 
Kopf tonnte mit Leichtigkeit ein ganzes Ra: 
pitel faffen, aud) zwei Kapitel, daran war 
nichts Bejonderes. Er ftieß die Cage mit 
teujliihem Bebagen hervor, holte jeden ein: 
zelnen aus jeinem Sei Log und kämpfte mit 
ibm. Er zerbiß die Worte in überquellen- 
ber Graujamfcit zwijchen den Zähnen und 
Ihlürfte fie in fein Gedächtnis ein. Wie? 
Schon genug? Der Schweiß ftand ihm auf 
der Stirn. Er hielt das Bud) mit beiden 
Händen weitab vom Körper wie einen Ober 
wältigten Gegner und deflamierte mit ficges: 
trunfener Stimme. 

„Demgemäß?“ fagte er, „haha, demge- 
map!” Gr fegte dieje lumpigen drei Silben 
vor fid) auf den Teppich hin wie einen Hund, 
den man zur Raijon gebradt hat, und ftieB 


pe mit ber Fußjpige an, um n eben, ob- 


e etwa nod) Widerjtand leiften. Er ijt 
plóglid) eine Rampfnatur, ber Eduard, in 
bielem Mugenblid ift er ganz auf Kampf 
gejtellt und will es gern aufs ánferfte an: 


Jagte Viella. 


tommen laffen. „Demgemäß,“. fagte er, 
ihöpfte tief Atem und jtellte fid) lauernd 
e? die Probe. Aber das Wort zeigte [td 
efügig, es war in feinen dauernden gets 
tigen Befiß übergegangen und ließ fid) nad) 
Belieben beniigen. 
Erihöpft hielt 9Itbesmann [HlieBlid) inne, 
eine ag duftgetrántte Luft hauchte zum 
enjter herein wie aus einem D nenden 
unb. Im Garten fummten die Rafer, und 
bas Plätjchern eines Springbrunnens ¿lang 
wie Regen aus einem le Land. 
Arbesmann jchwelgte in einem te Wee 
von Gliid und Gelbitvertrauen, er ftellte fi 
in feine ferne 3ufunft hinein, und etwas 
wie abwehrende Dankbarkeit tam über ihn. 
Nein, man follte ihn nicht übermäßig bes 
wundern, wenn er fein Ziel erreicht haben 
würde, denn ſchließlich waren feine Geiltes: 
gaben mit denen er Die Materie [o jptelend 
ewáltigte, ein Geſchenk der Natur, bas 
weder zu Gtolz nod) zu Übermut bereds 
Dote, Man fonnte einen mit Geift [pärlich 
ausgeltatteten Menſchen bemitleiden, fonnte 
ihm beruhigend und aufmunternd auf die 
Schulter Hopfen, bas fonnte man tun. Zu 
mehr aber war feine ON SUNG Und 
man mußte. fih anberjeits aud) in Beſchei— 
denbeit fajjen, wenn man jozujagen ein 
offener Kopf war, ein Menjch, der nicht nur 
die Dinge felbjt fieht, fo wie fie find, fons 
dern auch hinter ben Dingen zu lejen vers 
fteht, turg und gut, ein Licht. J 
88 


8 
Ob Eduard ſchon See Jet? fragte 
Kreuzinger beim Frübftüd über den Rand 
feiner Zeitung hinweg und blidte auf Viella, 
bie ibm den Kaffee brachte. 

„Kein, er ijt noch nicht aufgeftanden,“ 
„Willſt bu etwas von ihm?“ 

„Nein, ich dachte nur.” 

„Warum follte er denn fo früh aufiteben ? 
Er bat ja Seit" 

Ja, diejes licbende Mädchen tut fo, als 
habe es einen Bräutigam, der fid) noch lange 
nad) Eonnenaufgang im Bett wálzen tann, er 
bewältigt fein Studium fpielend, wenige 
Stunden im Tage genügen ihm, um fich bte 
Wiſſenſchaft angueigen, Die er — 
„Warum folte er denn fo früh aufíteben 2” 
[aat fie und Delt Eduard als einen folden 
hin, Der ganz gut jeiner Bequemlichkeit frö- 
nen fann, im ganzen ein Menjch, dem das 
Leben leicht wird. 

Set will Kreuzinger auch Toilen. was 
AUrbesmann denn immer made, vielleicht 
Hellt er diefe Frage nur aus Höflichkeit 
gegen feine Tochter, oder um das Gefprád) 
in Fluß zu — ohne bejondere Neu: 
gierde. „Man Debt "d ja jo felten,” jagt er. 
- Auch darauf weiß Viella eine glinjtige 
Antwort zu geben, [ie war jogar darauf 
vorbereitet, einmal darüber Auskunft er: 
teilen zu müjjen, was Eduard immer made. 
„Was er immer madjt ?^ jagt fie. „Du meinft, 
womit er fid) beijchäftigt? Du lieber Gott, 
er [iet die Zeitungen, ſchaut zum Fenfter 


490 FSSES3>3 Emil Bradl: sel 


hinaus, wie eben alle Menichen fid) die Zeit 
vertreiben. Hier und da lernt er aud) ein 
wenig.“ 

Go weit geht Mela in ihrer Liebe, dah 
fte jagen fann: „Hie und da lernt er aud 
ein wenig.“ 

Rreuginger hatte Luft, feine Tagescins 
teilung zu jchildern zur Zeit, als er jtd) zur 
Bertebrspriifung vorbereitete. , Ja, ja, id) 
mußte mich tüchtig radern,” jagt er, „bis in 
die Nacht hinein.“ Wher Viella ftudierte [hon 
in ihren Katalogen, fie machte jid) mit Eifer 
darüber, ein Verzeichnis derjenigen Gegen: 
ftände anzulegen, zu deren Anfauf fie ent: 
chloͤſen war, und hordte daher nur obere 

ddlic) auf die Morte ihres Baters bin, 
obwohl [ie daraus hätte Erfahrungen ſchöp— 
fen Tonnen, jedenfalls zu Vergleichen ange- 
regt worden wäre. Go aber erwiberte fie 
gar nichts, fie wühlte nur in ber Borjtels 
lung all der Herrlichleiten, bie fie einftmals 
bejigen jollte, auch einige echte Bronzen 
waren dabei. 

Wenn Wrbesmann bei der Mahlzeit ers 
hien, fonnte man bemerfen, daß feine Ge: 
ichtsfarbe nicht die allerjrijdjejte war, er 
war durchaus fein jonnenverbrannter Jing: 
ling mit blißenden Augen und einem erd: 
frilden Atem, fondern jah ein wenig welt 
unb abge|pannt aus. „Ach Dante, ganz gut,” 
fonnte er jagen, wenn thn jemand nad) fei- 
nem Befinden fragte, und es Hang fo, als 


habe er nod) nicht darüber nadjgebadjt und 


werde wohl aud) in allernádjiter Zeit nicht 
paan tommen. Dian behandelte ihn ſchonungs⸗ 
voll und überließ es ganz ihm, ob ein Ge: 
ſpräch geführt werden folte. Sak er idjweig: 
jam und teilnahmlos da, wie es gewöhn— 
lid) der Fall war, jo war man überzeugt, 
daß er gewaltige Gedanfen verarbeitete, daß 
er jtaatsrechtliche Probleme von tiefjter Be: 
deutung Lotte, während er, über ee Teller 
ebeugt, bie Suppe ſchlürfte. Bon Zeit zu 
Beit Bob er den Kopf, richtete die waller: 
hellen Augen auf Mella, und über fein Ge: 
licht Hujchte ein zerftreutes Lächeln. 
„Wi du dann den neuen Katalo 
leben?" fragt Mela und glaubt, fein fel- 
tenes $'üdjeln nicht ungenüßt Iajjen zu follen, 
ie meint, daß der Anblid der vielen Edel- 
teine Arbesmann erfreuen wird, und will 
ibm einen Vorgeſchmack der glänzenden Zu: 
tunft geben, Der fie entgegengehen. Gie 
madjte (id) Jofort bereit, den Katalog herbei: 
ujchaffen, damit. er jehen Tonne. was fie 
iter am Hals und an den Händen tragen 
werde, aber Arbesmann dankte. „Sch ver: 
laffe mid) ganz auf deinen guten Gejdmad,“ 
fagte er und bemühte fih, einen joldjen Ton 
u finden, der ihre Hoffnungen nicht zer: 
Morte. „Aber wenn du etwas [ingen willit...“ 
Mella war aud) damit einverftanden. 
„Aber gewiß!“ rief fie und entjcehuldigte fic, 
daß ihre Stimme bei vollem 3Utagen Der 
nicht jo rein tingen werde, fie habe nod) 
nie mit vollem Wagen gejungen. „Gleidh 
will id) bir etwas fingen,“ jagte [ie und 


genon die Mühen und 
i 


beugte fid) tief über ben Notenftánder. „Wo 
es nur fein fann, bas neue Lied?“ Cie beugt 
(id) immer tiefer über den Notenftänder, 
dann fteigt fie auf Stühle hinauf und Ichaut 
auf ben Kälten nad, fie dehnt und [tredt 
die junge Figur, ob, fie nügt die Situation 
grünblid) aus und will fih ganz zur Gel: 
tung bringen. Aud ben Coreibtijd) unter: 
fubt fie genau, [ie beugt ſich dahin und 
dorthin und bemerkt in ihrer Ratlofigteit 
ar nicht, daB fih ihre Bluje wieder ver: 
hoben bat, jo daß eine Menge geheimer 
Schönheiten zutage treten. Arbesmann fann 
eine ganze Anzahl geheimer Schönheiten 
eftitellen, von denen er bisher nod) feine 

hnung hatte, und fie föhnen ihn einiger: 
maen mit feinem Schidjal aus. Diejer 
junge Dann, der fich ein hohes Ziel gelebt 
bat, der fid) zum Advofaten emporarbeiten 
will, um feiner Frau Edeljteine an den Hals 
faufen zu können, war wohl oft, wenn er 
ftundenlang mit ber Wiſſenſchaft aetámpit 
hatte, ein wenig verzweifelt. Ja, er wog 
lagen ab, Die er 
dj auferlegt hatte, und febte ihnen bie 
Freuden gegenüber, bie ihm Viella bringen 
fonnte, er machte eine Bilanz. Nun konnte 
er Jehen, daß die Rechnung ganz zu feinen 
Buniten ig We , es blieb wohl nod ein 
gewaltiger Überſchuß für ihn, ein Geldjent, 
bas ihm Viella barbot, ohne daß er fid) da: 
für durch feine Arbeit erfenntlich zeigen 
fonnte. War fie nicht ein pradjtvolles, an 
Leib und Geele mit allen erdenklichen Bor- 
zigen ausgeftattetes Gejchöpf, bas zu er- 
ringen man fid alle móglime Mühe nehmen 
mußte? Mie? Ihre Röde raujdten nicht 
mehr jo jung und frijd um die jchmalen 
Knie, wie in der erften Zeit? Im Grunde 
genommen raujdjtem fie wohl un enau jo 
jung und frijdj, man mußte nur ein feines Ohr 
dafür haben. Arbesmann jah fih von einer 
tiefen Zärtlichkeit erfüllt und war gejonnen, 
feine Anftrengung zu joheuen, um Viella jo 
rajd) wie möglidy ganz zu gewinnen. Er 
lehnte jid) gemächlich und zufrieden in Jet 
nen Armituhl zurüd und ftredte die Beine 
vor fid bin, im ganzen ein Mann, deffen 
Lebensweg flar vorgezeichnet ijt. „Du follteft 
eigentlich öfter fingen,“ fagte er zu Viella 
und meinte Damit, daß fie öfter nad) ben 
Noten fuen folte, denn ihre Stimme war 
wohl nicht viel wert, Mella hatte fein Gold 
in der Kehle. Ein winziges Stimmaden war 
es für den Hausgebraud, aber beim Singen 
zeigte ihr Kleiner Mund einen Spalt, glit- 
zernd von Jüßer Feuchtigkeit, und bas war 
\chöner als alle Lieder, 

Leider hatte Arbesmann feine Kräfte 
überſchätzt, vielleicht Hatte er aud) zu üppig 
gegejien, fo daß jein Blut jebt jchwer und 
did durch Die Adern pumpte, denn als Viella 
ihren Gejang beendet hatte, ftellte es fid) 
heraus, daß er ſchlief. Vielleicht war er 
bod) nicht mehr im Bett gelegen, als Kreu- 
ginger gefragt hatte, ob er [don aufgeftan- 
den fei, vielleicht hatte er überhaupt Die 


o2 252252252 252 2 25 2 


Nächte nicht gehörig aum Schlafen ausges 
nügt, nun ging es über feine Kräfte, er 
ichltef.. „Hat es bir gefallen?“ fragte Mella 
und hielt den Blid nod) auf die Notenblätter 
gerichtet. Aber fie befam feine Antwort... 
Die Tage gingen bin, die Wochen. Die 
Zeit jchritt rüjtig aus, fie hielt fid) nirgends 
auf, jeder fiebente Tag war ein Sonntag, 
Man fonnte nicht dagegen anfampfen. Lángjt 
waren die Blätter zur Erde gejunten wie 
müde, alte Hände, die eine Bebarde Der 
Hoffnungslofigteit machen, der Himmel 
ipannte jiġ über die Stadt wie eine Platte 
aus Blei. Arbesmann ftarrte in leßter Zeit 
oft ftundenlang in diefen bleiernen Himmel, 
es war ibm eine liebe Bejchäftigung ges 
worden, in ben grauen Himmel zu fchauen, 
und der Zujtand völliger Gedanfenlojigfeit 
tat ihm ungemein wohl. Er fühlte das Bes 
dürfnis in go, fein ganzes Leben lang immer 
nur in Diejen grauen Himmel zu jchauen, 
der jedes Problem zu einem Nichts zufammen:= 
idrumpfen, als eine Bagatelle erjdeinen lief. 
Es gab viele Probleme in Arbesmanns 
Keben, eine ganze Fülle davon, und es [hien 
ihm oft, als habe er fih in einem Labyrinth 
von Träumen und Unwahrjceinlichkeiten 
perftridt, bie er fid) felbft nicht zu erflären 
vermochte. Da war vor allem dieje Prüfung, 
die er nun einmal abzulegen gezwungen war, 
eine beftimmte Menge von Wiljenichaft mußte 
er fic) aneignen, um darüber Auskunft geben 
zu fonnen, wenn man eine diesbezügliche 
Frage an ihn richten folte. Gewiß, es ftand 
alles in den Büchern, was zu wijjen notwendig 
war, fein Menjch verlangte von ihm, bab 
er Rechtsfragen jelbitändig Iöfe, fie waren 
alle ſchon gelóft. Trotzdem konnte er [id) 
des Bedantens nicht erwehren, daß man uner: 
hörte Anforderungen an ihn ftellte, wie fie 
nod nie ein Menjch zu erfüllen vermochte, 
ja, daß es feine Mitmenſchen geradezu darauf 
abgejeben hatten, fein Leben [o ſchwer und 
unertraglid) als möglich zu geftalten, Mit 
Neid und [tiller Bewunderung dadte er an 
die vielen jungen Männer, bie in derjelben 
Lage waren wie er und dabei noch Zeit und 
Mutt fanden, an den Roftbarteiten bes Lebens 
zu najchen. Sie jaBen beim Wein und fangen 
mit dróbnender Kehle Lieder vom Vaterland 
und von der Liebe, bejonders [joldje von ber 
Liebe. Ihre Gelichter glühten, und plóblid) 
ftand einer auf und fagte: , Morgen made 
id) meine Prüfung.“ — „Sp, machſt du Die 
Prüfung?“ jagten die andern, und es ijt 
gar nichts, es ijt nur eine Bemerkung nebenbei, 
und dann [ingen fie wieder: „Entzüdende 
Lijette, bann tomm’ KE dein Bette,“ fingen 
jie und laffen ihre Lebenslujt tüchtig aus 
den Zungen ftrdmen, fie jagen alles genau 
le, wie fie es meinen, und das dauert bis in 
ie Nacht hinein. Ja, ſolche Menſchen gibt 
es, Urbesmann weiß, daß es fein Märchen 
ijt, und er ijt voll Neid und Bewunderung. 
Wenn er durd) die Straßen der Stadt 
ging und bie Menjchen beobachtete, die mit 
ausgeglichenen, forglojen Gelichtern an ihm 


Die Prüfung des Eduard Arbesmann 491 


voriibertamen, fo forjdte er gefpannt in 
ihren Vienen, denn er war überzeugt, daß 
jie alle im Beli eines Geheimnijjes find, 
mit bem fie die Schwierigkeiten der Welt 
leicht zu bewältigen vermögen. (Er hoffte, 
einmal durch einen Zufall Hinter diejes (Be: 
Deimnis zu tommen, ja, es fonnte fein, daß 
er es eines ſchönen Tages irgendwo ablejen 
fonnte, er mußte nur dort aufpajjen. 

Vielleicht aber gab es hier gar fein Ge: 
heimnis zu lójen, es fonnte fein, daß alle, 
die ba auf fo vertrautem Fuß mit. ber Welt 
zu jtehen jdjienen, nur gute (Gdjaujpieler 
waren, nichts weiter. Gie willen nichts, fie 
find dumm wie eine Stallbiirite, aber wenn 
man eine Frage am fie richtet, jo praffeln 
fte mit taujend Worten los und machen 
ein Belicht, als fagten fie bie Wahrheit. 

Eines Tages nahm Arbesmann zu uns 
ewohnter Stunde Hut und Stod und madte 
ich in allem bereit, in die Stadt zu gehen. 
Gr ließ den Stock 3mijden den Fingern 
Ihwirren wie einen Propeller und war aud 
jonft in ber allerbeften Laune. Hoho, nun 
würde es fid) ja berausftellen, wie es mit 
den andern bejdajfen jet, nun follte es fih 
zeigen, daß fie ebenfo gequälte und unwiſſende 

enjdjen waren wie er, die nichts vor ibm 
voraus hatten als die Babe, bei jeder Ge: 
en aufzutrumpfen und jid) als Jolche 
hinzuftellen, die bas Leben bejonders eins 
geladen hat, fid) zu bedienen. 

Während des längeren Aufenthaltes im 
Wartezimmer des Wdvofaten wiederholte 
AUrbesmann im ftillen immer wieder von 
neuem den Fall, den er bem Advokaten vor: 
tragen wollte, es war ein ungemein [chwieriger, 
eigentlich hoffnungslofer Fall. Das Bewußt: 
jein, in jedem beliebigen Augenblid vor 
einen Mtenjden bintreten und ibm mit ge: 
Foie, vorbereiteten Worten eine Redjtss 
rage vorlegen zu fünnen, verlieh fetner 

altung etwas Beltimmtes und Juver: 
ichtliches, wozu fih bie Erwartung gelellte, 
daß der Befragte vorauslichtlich verblüfft 
und ratlos vor ibm Dajtehen und feine 
eiltige Unzulänglichkeit eingelteDen würde. 

rbesmann durdtoftete im vorhinein feinen 
Triumph mit der ganzen Schonungslojigfeit 
eines Gedemiitigten, dem einmal Gelegenheit 
gegeben wird, ftd) aus feiner Beringfügigteit 
zu erheben. Cin leuchtendes Strahlen lag 
über jeinen jonjt nichtsjagenden und häufig 
zu einer Grimajje der Unjicherheit verzerrten 
Zügen, ja, er trug ſich eine Weile fogar mit 
dem Gedanken, die gleich ihm Wartenden 
einzuladen, fih mit ihren Angelegenheiten 
nur ruhig an ihn zu wenden, er jet jozujagen 
au dvofat und könnte ihnen jede Auss 
funft erteilen. Go weit ging er in feiner 
Gelbftüberhebung, daß er ben Leuten gerabes: 
wegs und ruhig ins Gefidt [faute und 
teinerlei Befangenheit zeigte, er |djlug ein 
Bein über das andere und wippte damit 
und jdaute ben Leuten mitten ins Belicht. 
Dann betrachtete er die aus fojtbarem Birn: 
holz gefertigten VBiedermeicrmóbel, die Ole 


492 Fee Emil Cral: Lee al 


bilder an den Wänden und. die PBerjertep- 
pide. Ja ja, ganz nett, Dachte er und ließ 
lich teineswegs imponieren. ‚Der Herr Kolege 
hat’s ganz nett hier,‘ dachte er und wippte. 
. Ws er, vollgejogen mit Geringſchätzung 
` für jede geiftige Autorität, bie Kanzler des 
Wdvofaten betrat, um diejem in wobldurd)» 
dachten Ausführungen eine jchlechterdings 
unlösbare Redtsfrage vorzulegen und aus 
der unguldngliden oder gar irrigen Antwort 
einen Beweis für das lüdenhafte Willen 
diejes Menjden zu jchöpfen, drang eine 
Beobabtung in fein Bewubtjein, die fich 
feiner Borausfid)t entzogen hatte und Des: 
halb jegt höchſt ftörend wirkte. Wohl war 
er fih Darüber flar gewejen, es mit einem 
an Erfahrungen reichen, in feinem Selbjtgefühl 
unnabbaren Mann zu tun zu haben, die uns 
geheure Gelaflenheit aber, mit ber der Ad— 
votat dem Cintretenden entgegenjab, war 
bod) geeignet, Arbesmann in feiner fünftlich 
aufgeltachelten Gelbjtüberhebung gu ers 
Ichüttern. 

Co blieb er einjtwetlen unter der Tür: 
Paris ſtehen. ‚Ich hätte nie gedadht, daß 
id jo groß bin, ſchoß es ihm durch ben 
Kopf, er erjdjraf über feinen aufgeredten 
Körper unb fenfte in dem Beftreben, eine 
möglichjt Heine Angriffsfläche für den auf 
ihn gerichteten Blid zu bieten, unwillfiirlid 
ein wenig den Kopf, was ibm den Anjchein 
tiefen Jtadjdenfens verlieh. In Wirklichkeit 
aber gelang es ihm nicht, auch nur die Spur 
eines der vielen Gedanken zu entbeden, die 
er fid) in mühevoller, Jäuberer Arbeit zurecht: 
gelegt hatte. Gein Kopf [mien leer zu fein 
wie eine Glasfugel. Mein Kopf ift leer wie 
eine Glastugel,' bad)te er, und Diejer Ver: 
gleich fellelte ihn, er jab vor fih einen ter: 

arten mit Hunderten von farbigen Glass 
ugeln, die auf Holzitäbe aufgeftectt waren. 
In jeder fpiegelte (id) ein Geficht, zu einem 
weinerlichen Grinjen verzerrt, und gab Zeug» 
nis von jeinem beflagenswerten, hoffnungs» 
lojen Geelenzujtand, aus dem er jid) ſchein— 
bar nie mehr herausfinden würde. ‚Nun 
Bebe ich alfo da,‘ fo fam es ihm in den 
Ginn, ‚ein Menſch mit zweifellos umfang: 
reidjem Wiſſen wartet darauf, daß id) etwas 
Jagen werde, aber id) bin es nicht imftande. 
Wie lange tann es nod) dauern, jo wird er 
ber Fruchtlojigfeit meines Geijtes innewer- 
ben, und fein Gelidt läßt nichts Gutes ers 
warten.‘ Er fühlte ein unbezwingliches Ver: 
langen, das Zimmer wieder zu verlaffen und 
ftd) ben Anſchein zu neben, als habe er gar 
nicht bie ernfte Abfid)t gehabt, etwas vor: 
zubringen, als habe er fih in der Adreſſe 
geirrt, nein, bier fet er wohl nicht richtig. 

Dazu fam, dab Arbesmann, feiner Körpers 
lichkeit in überdimenfionaler Meije bewußt, 
mit einemmal eine Abnormität jeines Leibes 
feititellte, bie er genauer zu erfennen fürs 
erfte zwar nod) nidjt in der Lage war, die 
ihn aber bod) mit jenem Abſcheu erfüllte, 
wie wir ihn in Panoptifen und dirurgijden 
Ausjtellungen empfinden. Bei näherer Bes 


iradjtung ergab es fih, daß ihm eine Hand 
zur Cette bing, deren Exijteng ebenjo láftig 
wie überflüjfig Idien, da er mit ihr nichts 
anzufangen, Fe nirgends unterzubringen 
wußte, In heller Sham und Verzweiflung, 
jeine unglüdlicherweije zu |pát wabrgenom: 
mene Brejthaftigleit vor einem remden 
zur Schau gejtellt zu feben, verbarg er Die 
Hand, bie fid) wie ein toter Begenitand an= 
fühlte, rajd) in ber Holentajche, während die 
andere den Hut umilammerte. Aber durfte 
er, im Begriffe, Das Mort an einen im öf- 
fentlichen Leben ftehenden Mann zu richten, 
Daftehen wie ein Bauer? Durfte er bie 
primitivjten Gejege bes Anftandes auf jolche 
Weile verlegen, daß er wie ber erjtbejte 
Kümmel eine Fauft in der Hoje balte und 
Jo jede höhere Lebensform verleugnete ? 
Mubte es nicht den Anſchein haben, als 
wollte er, der bod) vor allem einen günftigen 
Eindrud zu ermeden fo bitter notwendig 
hatte, durch eine jolde ungeziemende Sal: 
tung feine Geringihäßgung fund tun und 
eine geiltige Überlegenheit vorjpiegeln, die 
es erit zu beweijen galt? 

Die ttefe Bejtiirzung über fein ungehöriges 
Benehmen raubte ihm fefundenlang jeden 
Willen. Wohl lief irgendwo in rajendem 
Reigen ein halber Gedanfe burd) fein Ge- 
d doch mangelte es ihm in dem Chaos 
einer Empfindungen an Gejtaltungsfraft, 
um biejem Shemen nachzujpüren, oder gar 
ibm orm zu geben. Cr wollte eine Ent- 
Ihuldigung ftammeln, ,entjduldigen Gte,” 
wollte er Jagen und fic) jo bem 9Ibpotaten 
als einen mit allerlei Schwächen bebajteten 
Mann zu erfennen geben, den man nicht 
allzu hart beurteilen möge. Es erjdien ihm 
nod) als die einzig mögliche Rettung aus 
feiner verzweifelten Lage, offen und ebrlid) 
zu geitehen, daß er fih eine Verfehlung habe 
gujdulden fommen laffen, denn niemand 
würde Der etwa jet nod) verjuchten Aus: 
flucht Glauben beimejjen Tonnen, er babe bie 
Hand nur deshalb in bie Tajd)e verjentt, 
um ein Najentuch, ein Zajdjenmejjer oder 
ein Wugenglas hervorguholen. 

Der Borjak, jeine Sache bem Wobhlwollen 
bes Advokaten zu überantworten, gab Arbes: 
mann einigen Halt, und jo ráujperte er fid) 
und fagte auf alle Fälle: „Berzeihen Cie 
mir, daß ih...“ 

Der Wovofat machte eine einladende Hande 
bewegung, Bla zu nehmen, bie aud) als 
Aufforderung, zur Sabe zu tommen, gedeutet 
werden fonnte, und Arbesmann fah jid) vor 
die Notwendigkeit geftellt, die begonnene 
Entifuldigung zu Ende zu führen. Die 
immer mehr anjchwellende Stille jedoch, die 
lid) algemad bis zur Dede türmte, mit bei: 
Iden ber Gewalt an Arbesmann herandrängte 
und bublerijd) danach verlangte, daß Ich 
jeine Stimme ihr vermáble, gab ibm uner- 
wartet jenes Gelbjtvertrauen zurüd, das er 
vom Augenblid feines Eintrittes an fo ſchmerz— 
lid) vermigt und Dellen unerflärlicher Zu: 
jammenbrud) ihn einer Reihe von Verhäng— 


Lee 
nifien ausgeliefert hatte. Tiberlegte er es 
recht, jo war ber Cindrud des Menjdjen, 
dem cr — — nicht danach ange— 
tan, ſeine Nerven auf die Dauer zu irritieren, 
und die verſteckte Hand, die, wie er jetzt zu 
einem größten Erſtaunen wahrnehmen fonnte, 
Durdjaus nichts Abnormales an fich Hatte, 
mochte in Gottes Namen dort bleiben, wo 
fie einen bequemen Unterfchlupf gefunden. 
- Ein gütiges Schiedfal fügte es, dak fid) 
nun aud ein Gag in feinem Geifte formte, 
an Dellen Bau er im vorbereitenber Arbeit 
mit bejonders liebevoller Hingabe gefeilt 
Pau um ibn, ein Meijterwerf ftilijtijcher 
unft, reich bejebt mit wohllautenden Bos 
talen, deren jeder wie ein Edelftein Ieudjtete, 
an die Spige feiner Ausführungen zu ftellen 
und fo mit einem Schlage den Zuhörer in 
feinen Bann zu zwingen. Was bedeutete Das 
egen die, wenn aud) noch fo formvollendete 
porting des Cakes, den er in einer 
nwandlung faljcher Bejcheidenheit unb unter 
bem Drud einer jeelijden Verftimmung be: 
gonnen hatte! Er, Eduard Arbesmann, war 
gelonnen, ein juriltiiches Thema aufzuwerfen, 
dejjen Durchleuhtung niemand gelingen 
würde und hatte es, wenn er feinen Ge: 
banfenreidjtum bloßlegte, wahrhaftig nicht 
notwendig, fid) in Formalitäten zu zeriplit: 
tern, über die ein Mann von feiner Bedeu: 
tung erhaben fein mußte. Stein, der be: 
pono Sak modte als Gtiidwert eben 
[eiben, ein Fragment von untergeorbneter 
Bedeutung, dem aber bod) ein gewiljer Wert 
nicht abgejproden werden fonnte. Es war 
Arbesmann fogar erwünjcht, wenn die pri 
ginelle Art, feine Ausführungen mit einem 
unvollendeten Sat zu beginnen, Zeugnis 
ab von dem bewundernswert paradoxen 
— — ſeiner Gedankengänge und 
der Vielſeitigkeit eines Geiſteslebens, das 
mit jeder kleinſten Außerung unbedingt be— 
ruchtend wirkte. So legte er noch eine kurze, 
pannende Pauſe ein, um dann mit der nach— 
äſſigen Bedachtſamkeit eines Menſchen, der 
viel zu geben hat, zu Wort zu kommen. 
„Brüchige Türen find unjere Geſetze, bie jeder 
Shwädling eintennen fann!” rief er im 
Apojtelton, und man fonnte hinter feinem 
Musruf die Rufzeichen wie ein Hagelwetter 
nieDderprajjeln jeben. Überhaupt bejd)rántte 
er fid) vorerft auf kurze, lapidare Gage, bie 
durch ihre Wahrheit verblüfften. Mit dem 
Gejcdid eines Baumeifters, ber zunächſt das 
Fundament ausgejtaltet, ftellte er fte, viel: 
oe untermijcht mit elliptijdjen formen, wie 
elfen vor fid) bin, fo, da ftanden fie. 9tad) 
ben Saßzeichen atmete er tief und zufrieden 
und tat jo, als jet nichts gejchehen. Dann 
aber griff er weiter aus, |djlang mit Hilfe 
foordinierender Bindewörter funftvolle 
Schleifen unb knüpfte auserlejene Nebenſätze 
daran, Die bird) ihre Form fowobl, als aud) 
durch den ftrablenden Glanz beftadhen, den 
jie, felbft in márdjenbafte Schatteneffefte oe: 
taucht, auf ben Hauptja warfen. Bald 
frönte er, beraujcht vom Klang der eigenen 


Die Prüfung des Eduard Arbesmann 493 


Stimme, hemmungslos ` feiner Leidenſchaft 
für Interrogativpronomen, bald jchwelgte 
er in Alliterationen und Aſſonanzen, daß 
feine Worte wie Harfentöne anzuhören waren. 
Bom Sdhwall der Worte fortgerijfen, ſchickte 
er fid) an, einen Gedanfen, ber bird) feine 
Wucht und Größe dazu gejchaffen Iden, die 
Gerechtigkeit auf cine ganz neue Grundlage 
p ftellen, in eine Periode zu Heiden. Mit 
Metaphern, Vertauſchungen und Hyperbeln 
jonglierend, fügte er den gewagter Bau und 
— ſich an den angſtgeſpannten Mienen 
des Advokaten, der, von Schwindelgefühlen 
ergriffen, jeden Augenblick den Zuſammen— 
[fura bes gigantiſchen Baues erwarten mußte, 

Auh Arbesmann beſchlich einevage Furcht, 
daß er fid) zu viel zugemutet habe und das 
Wagnis ein unglüdliches Ende nehmen 
würde. Troßdem häufte er immer neue 
Borderjäße an, ftreute verſchwenderiſch Strid- 
puntte ein und verwidelt fih in einem Neg 
von Gedanken, aus dem ein Entfommen be: 
reits unmöglich jchien. Je verzweifelter er 
e anjtrengte, zu einem Ende zu gelangen, 
belto lauter wurde feine Stimme und flug 
Ichließlich zu einem fürdhterlichen Brüllen um. 
Angitichweiß trat auf feine Gtirn. ‚Der 
Doppelpuntt,‘ dadjte er, ‚wo ift um Gottes 
willen ber Doppelpunft ?' und juchte mit irren 
Augen die beiden nebeneinander ftehenden 
Puntte, bis fie plöglich vor ihm auftauchten. 
GroB und Deutlich ftanden fie vor ihm, 
glühend, unbeweglich, und Arbesmann Jdien 
es, als habe er wähtend der ganzen Zeit 
immer nur auf dieje beiden Buntte geftarrt. 
Es fiel ihm auf, daß fie inmitten eines Ge: 
(tes ftanden und unverweilt auf ihn ges 
richtet waren wie Augen. Cs waren Die 
Augen bes 9Ibpofaten, nun fah er es deut- 
lid), daß es nichts anderes war, als Die 
Augen des Advofaten. 

» «+» Daß ich mid) mit einer Anfrage an 
Gie wende,“ ergänzte er den begonnenen Sag 
und erfannte mit einemmal, daß er feinen 
anderen gejproden Hatte als diejen. 

Zum lic erinnerte fih Arbesmann jest 
einer Erbichaftsangelegenheit von einer ver: 
itorbenen Tante, es jet natürlich nicht jehr 
uitia, aber er möchte fid) als Late Dod) 
einen Rat holen. Er nannte jid) felbft einen 
$aiem und übertrieb damit offenbar ein 
wenig, aber es war ibm wohl darum zu 
tun, feine EECH Abſichten zu verwilchen. 
Der Advokat hörte fih den Fall an und 
lante, daß ein einfaches Einjchreiten beim 
zuſtändigen Bezirksgericht genüge, eine Inter: 
vention des Redjtsanwaltes jet hier nicht 
notwendig, es fei ein flarer Fall. „Es wür: 
den Ihnen nur unötige Soften ent[teben ," 
jagte er. Für bie Belpre ung rechne er 
lid zwanzig Kronen. „Empfehle mic.” 

Als Arbesmann auf bie Straße trat, 


Ihludte er heftig und erichüttert und Dep 


einigemal die Augenlider wie PBublappen 
über bie Augäpfel gleiten, daß jie fpiegel: 
blanf wurden. Dann ftarrte er. ‚Da muk 


id) aljo zum zuftändigen Bezirksgericht gehen,‘ 


494 Tee SS) Emil Grol: Lesser 


badjte er und hatte alles andere vergeljen. 
Diejer angehende Advofat, ber früher mit dem 
Fuß gewippt hatte, ftellte jegt wohl vor fih 
eon die Gade fo dar, als habe er dringend 
n einer Erbjchaftsangelegenheit eines Rates 
bedurft, als jet er volllommen unwijjend der 
Sinterlaffenibaft einer Tante gegenüberge: 
ftanden. ‚Gott fei Sant, daß ich jebt über 
den einzujchlagenden Weg im laren bin, 
badje er und fühlte fid) geborgen.‘ Der 
Wovofat jdjien ibm mit einemmal bas Mujfter 
eines wiljenjchaftlichen Kopfes zu fein, ein 
durchaus hervorragender Menſch, dem man 
jede Angelegenheit ruhig anvertrauen konnte, 
Er Hatte'nicht einmal ein Buh zur Hand 
genommen, Jondern frei aus dem Bedädht- 
nis Die betreffende (Gejebes[telle angegeben, 
im ganzen ein Teufelsterl, vor dem man 
alle $odjadjtung haben mußte. 

Arbesmann ging bird) die Dämmernden 
Straßen, in denen Schwaden gelben Nebels 
flojfen wie Bade von Schleim. Er ftemmte 
die rechte Schulter vor, als fei er in ein Ges 
ſchirr gejpannt und zöge eine unlichtbare Laft 
hinter fic) ber. Won Zeit zu Zeit blieb er 
jtehen, dann hingen feine Hände Ichlaff zur 
Geite, fein Kopf rollte einigemal unentidie: 
ben hin und Der wie eine Roulettefugel, ehe 
fie lid) in bie Höhlung bettet, um endlich 
gwijden den Ipigen Schultern zu verlinken. 
So badjte er an Mella. Manchmal tauchten 
verihwommene Gilhouetten von Menjen 
auf, gi fih und ſchwanden wieder. 
Cine gabe, tlebrige Näfje jprühte vom Him- 
mel herab. Ein PBolizift mit einem [ub 
fórmigen 9tideljdjilb unter bem Gelicht kreiſte 
verdachterfüllt um den Regungslofen, dann 
Tage er: „Haben Cie etwas verloren?“ 

Arbesmann jagte: „Ja, ja. Nein, nicht 
dak id) wüßte. Was folte ich denn verloren 
haben $“ 

„Nun denn, gute Nacht.“ 

„Bute Nacht.“ 

Arbesmann ftarrte weiter in den giftigen 
Nebel. Stand dort nidjt Mella? Sie konnte 
es ganz gut fein, es wäre nichts Auferges 
wóbnlimes gewejen, wenn fie nun vor ihn 
bingetreten wäre, an die er fo heftig dachte. 
Ja, wahrhaftig, im grünen Schein einer 
Gaslaterne jah er fie, fie war nadt. 

» Dtella ?!“ 

Yrbesmann geiferte ein fleines Laden 
aus bem Viundwintel heraus und ftellte einen 
Fuß auf ben anderen, um dod einen fleinen 
Schmerz zu haben, ber ibm über vieles Din, 
— Leider konnte er Mella wegen des 
Nebels nicht ganz deutlich ſehen, obwohl er 
verſuchte, den vor ihm lagernden Dunſtblock 
mit flatternder Hand zu zerteilen. Aber es 
war immerhin geny , was er fah, bei Gott, 
es reichte bin. Gie kniete neben der Laterne, 
der Oberkörper rubte aufrecht auf den Ferjen 
wie eine verzierte Opferterze. Bon dem zus 
rüdgelegten Kopf floB das Haar marg und 
lind bernieder wte eine braujende Jtadt. 
Ihre Hände, an denen geidhliffene Steine 
bligten, griffen in weite Fernen. 


Als fid) Arbesmann ihr nähern wollte, 
gewabrte er, daß er im Nebel feititedte, er 
tonnte fih jchlechterdings nicht von ber Stelle 
rühren. ‚Das wäre aber doch‘, badjte er und 
begann zu fampfen. Hoho, wie er támpjte! 
Er blies mit jprühenden Baden ein Lod in 
bie Hebrige Wand, geabe in der Richtung 
auf Tella pfiff fein Atem. Mit den Händen 
Iharrte er den Dunft beifeite und legte fid) 
mit vorgejchobenen Schultern tiidtig ins Zeug. 
Nod) immer nicht? Nun fchneidet er Blóde 
aus dem Nebel, wahre Riejenblóde, er arbei: 
tet wie ein Gigant. Geine Fäuſte rütteln 
an den geloderten Blöden, um fie zu en 
und über den Weltenrand in die Tiefe zu 
Ichleudern, aber ba fiebt er, daß er es nicht 
mit Blöden zu tun bat, jondern mit Schädeln. 
Es find mächtige Schädel, mit jchlüpfriger 
Haut bejpannt, auf ihren Gefictern [tebt ein 

öhniſches Grinjen. „Könnten Sie mir jagen, 

err Arbesmann...“ Ob, fie find voller 

reundlichteit, aber hinter ihren Augen foblt 
ein tüdi|djes Licht. „Nun will id Ihnen 
nod) eine lebte rage ftellen.. .“ 

Arbesmann fonnte es nicht ertragen, von 
diejen Männern ausgeforjcht zu werden, Ort 
und Zeit [bienen ihm gänzlich verfehlt. So 
Initterte er bie Finger zu Fäuſten gujammen 
und bob fie langjam zum Schlag. Aber ber 
I des Bejeges mit dem fichelförmigen 

tdeljchild unter bem Belicht zwang fie nieder. 

„Ste follten nad) Haufe gehen, wenn Gie 
trant find,” jagte er. 

E 


8 e 

Am Morgen bes Priifungstages jap Arbes» 
mann im ſchwarzen Gebrod, den Zylinder 
in der Hand, bei feinen aufgejchlagenen Bii- 
hern und juchte nad) Stellen, bie etwa nod) 
nicht feft in feinem Gedächtnis fein könnten. 
Belonders in den Fußnoten forjchte er eifrig 
und erfannte, daß er dieje Fußnoten ein 
wenig vernadláffigt hatte, nun holte er es 
nad. Leider jah er aud) in biejer Kleidung 
nicht bejonders feftlid aus, vielleiht war 
dem Schneider beim Anfertigen ein teiner 
Fehler unterlaufen. Jedenfalls bot Arbes⸗ 
mann feinen erfttlajfigen Anblid, und es war 
wohl eine fleine Übertreibung, wenn Viella 
(id) bei ihrem Eintritt jo jehr von thm ents 
¿lidt zeigte. Gie bradte ihm ein robes Ei, 
„damit bu eine flare Stimme haft,” fagte 
jie und dadbte an alles. ` 

Arbesmann jchlürfte bas Ei feierlich wie 
ein heiliges Gaframent, bann bat er Mella, 
ein wenig zu verweilen, er wünjche ihr einiges 
zu Jagen. 

„Es ijt mir gelungen," begann er, den 
Spiegel bes Zylinders glättend, „durch ſcharfe 
Konzentrierung meiner Gedanten bie ganze 
jurijti]de Willenichaft auf eine höchſt eins 
face Formel guriidguleiten, unb jeitdem mir 
dieje Formel befannt ijt, hege id) für unjere 
Zukunft feinerlei Befürchtungen mehr. Cs 
ijt bir wohl nicht verborgen geblieben, daß 
id in legter Zeit viel unter dem Zweifel 
gelitten babe, ob meine bejcheidenen Vers 
jtandesfrajte binreidjen werden, Dir jene 


EE 


e cg the und materielle Stellung zu 
doten, bie du dir an meiner Seite zweifellos 
verjprochen Haft, als du meine jeinerzeitige 
Werbung annahmft. Dein mir erwiejenes 
Vertrauen ehrt mid) unb es beruhigt mid), 
Did) darin nicht täujchen zu miiffen, denn id) 
fann wohl ohne Übertreibung jagen, dak id) 
die Prüfung fo viel wie beftanden babe, 

„Bas die erwähnte Formel betrifft, jo muß 
fie natürlich vorläufig mein Geheimnis bleiben, 
id) will bir nur jagen, daß id) ihre Richtig: 
teit zu überprüfen vermochte. Denn unmittel: 
bar nachdem id) fie gefunden hatte, erjchienft 
du mir — nadt. Ja, bu tnieteft neben 
einer Laterne, der Oberkörper ruhte aufrecht 
auf den Ferien wie eine verzierte Opferferze. 
Bon dem zurüdgelegten Kopf floB das Haar 
Ihwarz und lind hernieder wie eine braus 
fende Naht. Deine Hände, an denen ge: 
ihliffene Steine blitten, griffen in weite 
qernen. Go [ab id) bid), es war eine Art 
myftijder Bermáblung. Wäre bie von mir 

bene Formel niht bie richtige gewejen, 
fo hätte 1d) bid) niemals fo gejeben, id) 
hätte es nicht gewagt, bid) jo zu jeben.“ 

- Arbesmann Honn inmitten bes Zimmers 
mit vergiidtem Gejicht und [trid) nod) immer 
den Spiegel bes Zylinders glatt, während 
Mella mit wadjendem Staunen feinen Wor: 
ten laujchte. Bald glaubte fie in jäher, er- 
löfter Freude fid) in Eduards Arme ftürzen 
zu folen, bald griff ein faltes, tappijdes 
Entjegen nad) ihr unb lähmte jede Be: 
wegung. 

„Sch hätte es nicht gewagt, bid) fo zu 
feben," fuhr Arbesmann fort, „ich hätte es 
niht gewagt, mid) mit dir zu vermablen. 
Das ilt es, worauf ich deine Aufmerkjam- 
feit binlenfen will. Begreifft du nun, dak 
id) alle Befürdhtungen abgeftreift habe und 
die Tarang A nod als eine $yorm[adje 
betrachte? Wir find bereits vermáblt, und 
es ift Dumm von dir, did) vor mir nod) in 
Gewander zu biillen.” 

Er trat zu Viella hin und veranlaßte fie, 
die, «in feinen ftarren Blid gebannt, feinen 
Widerjtand zu leiften vermochte, bie Kleidung 
abzujtreifen. Gorpfältig legte fie Stüd zu 
Gtúd, wie ein Madden im Penfionat, das 
fih zur Ruhe begibt. „Nun tnie did) nieder, 
nimm jene Stellung an, Die id) bir vorhin 
bejdrieb. Warum zitterft Du? Nod nie 
hat ein Weib vor bem Manne jo gezittert 
wie bit." 

Arbesmann zog mit langen, [chleichenden 
Schritten Kreije um Viella, die er noch mit 
feinem finger berührt batte. Manchmal 
blieb er jtehen, fein Gejid)t verdiijterte fih, 
und es jien, als grüble er angeftrengt über 
etwas nad. Dann Hatte er es mit einem: 
mal gefunden, feine Züge verzerrten fih, als 
jeten fie aus Gummi geformt, in tödlichen 
Entfegen. „Die Steine,“ fliifterte er, „es 
fehlen die Steine an deinen Händen.“ 

Mella fant vornüber, vergrub bas Beficht 
in dem Gewölk ihrer Wälche und jchluchzte 
mit [djitternben Schultern. 


Die Prüfung des Eduard Arbesmann 495 


Weine nicht,“ fagte Arbesmann, ,idj will 
dir die Gteine bringen.“ 


8 B 

‚Im Prüfungsjaal tobte ein lautlofer, ers 
bitterter Kampf. Die Morte fangen nicht 
mehr jo, als feien fie als bloBes Berftän: 
digungsmittel von Menſch zu Menſch erdacdht 
und gejprochen, jondern fo, als jet jedes etn: 
geIne von ihnen dazu gejdaffen, Exiltenzen 
u vernichten oder aufzubauen. Eritarben 
lie für eine Weile, jo Pacte bie Stille wie 
ein tojender SBajfertpirbel in die Ohren, 
\häumte und raujd)te darin und wurde nad) 
furger Zeit ebenjo unerträglich, wie die monos 
ton dabinftolpernden Laute. 

Nur Eduard Arbesmann fab in ftiller, 
gliidjeliger Verfunfenheit da, den Kopf in 
die Hände gelegt, und wartete, daß man an 
ihn eine Frage ridjte. Vorláufig blidte er 
um fih, ohne Neugierde, ohne Erregung, 
vielleicht mit einer Kleinen Freude im Herzen, 
daß Diejenigen, bie das Leben wie einen 
Bindfaden um den Finger gewidelt und von 
der Liebe gelungen hatten, während er hins 
ter feinen Büchern gejejien, jcheinbar bod) 
nicht fo im unbeftrittenen Befig bes Gebeim: 
niffes waren, mit dem fie bie Schwierigfeiten 
der Welt leicht bewältigen konnten. Hätten 
fte fonft jo viele Worte aufgewendet, um 
ihre Wiſſenſchaft funbautun? - Hätten fie es 
notwendig gaan, die Stirnen zu runzeln, 
— den Kopf zu ſenken und in ſcharfem 

achdenken die Augen zu ſchließen? Er, 
Eduard Arbesmann, hatte das alles ber 
getan, folange nod) Zeit dazu war, in vielen 
Nächten hatte er die Stirn gerungelt und 
die ganze Kraft feines Geiftes zu Hilfe ge: 
nommen, um die ibm auferlegte Wiljenjchaft 
in eine flare, fnappe Formel zu prejjen. Tun 
war er im Beli bieler Formel und fonnte 
getroft der Zukunft entgegenjehen, es fonnte 
ibm nichts gejdeben. 

Endlich fam uem an ihn die Reihe. Ein 
Mitglied der Prüfungstommilfion benegte 
jorgráltig den Zeigefinger, blätterte in einem 
diden Bud) einige Setten vor, dann einige 
Geiten zurüd, ſtrich die Blätter glatt und 
legte den Bleiftift ein. Er jchien bte gefuchte 
Stelle gefunden zu haben, jet dachte er nad) 
und formte im Geijt die Frage. Es war 
allerdings eine ziemlich verwidelte Frage, 
das mußte man ibm laffen, jeder fonnte feben, 
daß er es Urbesmann jo ſchwer als möglid) 
machen wollte, man fonnte mit Leichtigfeit 
über diefe Frage ftolpern. 

Wher benft man, daß Arbesmann fid) vor 
lauter Berlegenheit räujpert, daß er, um Zeit 
zu gewinnen, etwa das Tajchentuch heraus: 
nimmt und jid) damit umjtändlich bie Nafe 
pugt? Oder daß er mit den Fingern über 
die Gtirn ftreicht, um feinen Beilt in ruhige 
und geordnete Bahnen zu bringen? Er tut 
nichts bergleidjen. Nur eine Heine Paufe 
läßt er verjtreichen, ehe er mit der Antwort 
einjebt, obwohl ibm diefe volltommen geläu— 
fig iit. „Man hat jid) in einer folchen An— 
gelegenbeit nur an das zujtändige Bezirks: 


‘ Des ch ^ dad E í 


496 ESSSSSSEEN Helen Fidelis Butſch: Die große Glode 


gericht u wenden,“ fagt er, ohne in dem 
Bewußtiein jeiner vortrefflichen Antwort einen 
übermäßig Itolzen Eindrud zu maden. 

Die UmfiBenden laten, die verblüffend 
einfache Lójung der Frage rette fie begreif: 
licherweije zum Laden. Manche von ihnen 
Leck Den Kopf mit einem [djarfen Rud und 

arrten Arbesmann an. Wud der Prüfende 
ftarrte ibn an, fein Mund flaffte ein wenig. 
Sa, nun fah er fid) um feinen Triumph ger 
prellt, dagegen war nichts zu machen. Als 
er eine neue rage ftellte, antwortete Arbes- 
mann wieder, daß man fid an bas zuftán: 
dige Bezirksgericht zu wenden habe, er ftellte 
mit tiefer Freude felt, daß fid) bie von ihm 
gefundene Formel trefflich E o „Es 
würden der Partei nur unnötige Koften ents 
Sech jagte er, „wenn fie mit der Durch» 
ührung diejer 9(mgelegenbeit einen Rechts» 
anwalt betrauen würde.” 

Die Mitglieder der Kommiſſion rutjchten 
unruhig auf den Stühlen Din und her, ber 
eine, der die Fragen gejtellt hatte, ftielte den 
Kopf an einem zinnoberroten Hals hod, es jab 

ang unwahrjcheinlich aus, wieviel Hals er im 
Sembfeagen verjtect hatte. Dannriefer: „Sie 
wollen wohl Ihren Spaß mit uns treiben?“ 

Arbesmann verneigte jid) verbindlich, es 
tue ihm leid, aw er mit feinen zutreffenden 
Antworten die AUbficht, ibn durdfallen zu 
laffen, vereitelt habe, ungemein leid, aber 
er könne fic beim beiten Willen nicht ent: 
Ichliegen, gegen fein bejferes Willen zu |pre- 
chen. e E die Herren noch eine Frage 
an es zu richten ?^ 

„ein.“ 


Arbesmann ging: Sm Gang zündete er eine 
Zigarette an. Es war ihm ungemein wohl 
und leicht. Sm Bejtibül erwartete ibn Mela, 
fie [ab ibm mit verftörtem Geficht entgegen, mit 
einem völlig vernichteten Geftcht. „Sch habe 


die Prüfung bejtanden,” fagte Arbesmann, | 


„wir wollen nun gleich die Steine bejorgen.” 
Melas flehende Einwände überhörte er. _ 
Beim Juwelier mufterte er bas ganze 
Lager, er nahm mit einem flüchtigen Blid 
ein Inventar auf und fagte bann, zu Viella 
ewendet: „Ich bin glüdlih, dir. diefe 
hake zu Füßen legen zu tónnen. Wähle!“ 
Und als Mella zögerte, raffte er haftig eine 
Handvoll toftbarer Schmudjtüde zujammen 
und reichte fie Viella hin. Der Juwelier 
glaubte wohl, einen Gauner vor fih zu vri 
einen nidtsnugigen Menjchen, ber ihn be: 
ftehlen wolle, denn er öffnete den Mund zu 
einem großen Hilferuf. Aber ehe er einen 
Laut von jid) gegeben Hatte, blidte er in 
Melas hilflos flagenbes Geſicht, er [jab 
dieje von Dual und Gäre geweiteten Augen 
und erfannte die Wahrheit. Da jchwieg er. 
Mella legte bie von Arbesmann errafften 
Schhmudftüde zurüd und fagte zu ihm: „Der 
D will bie Freundlichkeit haben, uns eine 
uswahl in bte Wohnung zu [djiden." 

„Bewiß, gewiß, bitte eg febr,” ver[td)erte 
der Juwelier. 

Dann 30g Mella Arbesmann auf die 
GtraBe, was er ohne Widerftand geſchehen 
ließ, und führte ihn in das fleine Haus in 
ber Kienmayergaſſe. Ne 

. Tränen liefen über ihre Wangen, die 
bligten-in der Sonne wie ge[djlijffene Steine. 


it bel mm mer ps cis || | emm race sas | mm] mmm | mm | 


Mittagftille ift über den Rirchplatz gegoffen; 

Leer alle Straßen, die Augen der Häufer 
gefdyloffen. 

fur am Turm, der fteil in den Himmel 


. gezüdt, 

Steht ein Menfd, das Haupt in den Naden 
gedrüdt, 

Späht hinauf zum fleinernen Wächter der 


arre. 

Dod) von der Glodenftube ringt fid) ein 

Nöhnend Ocfnarte, 

Und in des Bogenfenflers geöffnetem Rund 

Aufgähnt und fd)winàet gigantifd ein eher: 
ner Mund. 

Die gewaltige Olode bewegt ihr Riefen» 


gewicht, 
Schwerfälig fhwingend, und ächzt: Jd) will 

— nod nidt — 
Matt fehlägt die erzene Zunge ihr bin und 


er 
Und ihre Geile föhnen: Sie if — fo 
fhwer — 


3 Hasc | ! sores |) ne | | aca | | acme | | icem || 


Die grofe Glode. Von Selen Sidelis Dutfdj 


Jum | | PESES | | | | eet | | ee | | eres | | oes | peces || eme | | poe, | | see | | scams | | 


Aber flets in höher gerundetem Bogen, 
Rafher unà wudtiger Fommt fie empor» 


geflogen. 
Drohender naht fid) ww, — der Glocke 
n 


ano, 
Schwer bolt er aus — ſchwingt hod) — er 
pagt ihren Rand: — 
Schall! Sie donnert’s zum óftlid)en Tore 
. beraus ; | 
Hall! Sie dröhnt es rollend nad) Weften 
hinaus ; 
Shall! In großen Wellen umbrandet’s 


den Turm, 
Daf er fdiittert und Wi fHwankt wie im 
tu 


rm. 
Drunten tief in Plages Enge gefangen 
Prallt ohne Ende der Hall Bong Wand zu 
Da 


nd. 

Sebft du, einfamer Laufder? Saft did) ein 
Sangen? 

füüdjiger oft als der Menfh find Werke 

aus Menfdenhand! 


11 A || ETAC | | ey |] ero | | ec || eee | | emeng | | ey || mmm | | 






: Philippine Char: MER 
s lotte, Erbprinzefftn 
* von Braunibweig: 
Lüneburg 


Gemalt nad) ln: 
toine Pesne. Be: 
fißer: Oscar Mid): 
tendal, Hannover + 


aus tdeo 
— 


m Spätherbſt vorigen Jahres veran— 
ſtaltete die Keſtner-Geſellſchaft, eine 
Vereinigung von Freunden der mo— 
dernen Kunſt in Hannover, eine ſehr 
bemerkenswerte Ausſtellung von 


Bildnisminiatu— 
ren aus nieder— 
ſächſiſchem Pri— 
vatbeſitz, die eine 
Fülle unbekann— 
ten Materials 
ans Licht brachte. 
DieGeſchichte der 
Bildnisminiatur 
iſt ja leider bis 
vor noch gar 
nicht langer Zeit 
ein Stiefkind un- 
ſeres ſonſt ſo 
regen künſtleri— 
ſchen Intereſſes 
eweſen. Auch 
fir jie galt, wie 
ür Das ganze 
peutjde Runjts 
gebiet des 17. 
und 18. Jahrhun— 
derts, Der zu Uns 
reht geprägte 
Lehrjak, Daß 
gegenüber Der 
mádjtigen Runft: 
blüte Des fran: 
zöliichen Rokoko 
Deut}hland arm 
an jelbitändigen 
Erjeheinungen 
geweſen fei, jo dab 
es faum lobne, 


e 
on 


Beet SS AM e C 
-.....„n„..„.„.„n.n....... SOSSS SSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSESSSSESSSSSSSSSTSESSSESSESO SESE SSEEESOESESESOO CESS 


(Mnisminiatucen _ 


tof. Dr. 


turmaleret 


*...0.0.0.0.0.. vn... „.„..„.„..... 


»no....„.„.....u.„.„.....ss 
"»"^9"*9"99**7?09****"9979?*^* 





Prinzeffin Louife Caroline von Anhalt: Cithen 
Gemalt von Friedrich — Hill. Beſitzer: Raphael Sander, * 
annover 


Velhagen & Klafings Monatshefte. 53. Jahrg. 192021. 2. Bd, 





däi Me P eivatb ofits 


ber Gejchichte ber deutjchen Runft in diefer 
Zeit nachzugehen. Aber gerade in ber Minia- 
elten bejondere Wertmaße: ihr 
kulturhiſtoriſches Material eignet fic) mehr als 
andere Stoffgebiete ber Runjit, führt fie hinab 


in'bas Mejen und 
Empfinden einer 
Zeit, für die fie 
einenunvergäng: 
lien Ausdrud 
geprägt hat. 
Nicht von unge: 
fähr wurde fie in 
dem Zeitalter 
höchſten hofijden 
Glanzes und ges 
iteigerter&ebens: 
tunjt ber verbát: 
[helte Liebling 
einer wobltulti: 
vierten Gefell- 
ibaft unb eines 
langjam wieder 
zum Gelbjtbe- 
wußtjein heran= 
reifenden Biirs 
ertums. Gie al: 
ein war Tráge: 
rin der intim[ten 
Gefühle, die der 
Fürft feinem 
treuen Untertan, 
die Mutter ihren 
Kindern, bie (Be: 
liebte bem Ge: 
liebten entgegen: 
bringt. In dem 
Zeitalter, wo es 
noch feine Photos 
33 


498 





LLEIDA RR 





Des fünftlers Gattin, geb. ——— Barez 
Gemalt von Daniel Chodowiecki 
Beſitzer: Richard Oppenheimer, Hannover 


AC ab, hatte fie bie Aufgabe, das leben: 
dige Bild teuerer Menjchen täglich, [tünblid) 
dem Betrachter vor Augen zu zaubern, und die 
Summe des heute noh vorhandenen Materials 
betvei|t zur Genüge, wie ungeheuer groß und 
vielfeitig bie Wünjche und Anfprüche ber Ge- 
felfidjajit von damals gewejen find. Daß 
dieje Anſprüche nur in feltenen Fällen von 
Künftlern mit internationalem Ruf erfüllt 
werden konnten, ift beinahe jelbjtverftändlich. 
Der at freilich hielt fic) feinen Hofmaler, 
der, mei ZU N bejoldet und im Range 
eines Lafaten ftehend, immer aud) das Fad 
der Miniaturmalerei beherrihen mußte. 
Aber aud) in dey Städten des Reiches, die 
fanden, wo mal feinem Fürſten unter: 


tanden, wo wie in den Sanjaftádten oder 
n ber reichsfreien Handelsitadt Frankfurt 
ein jelbjtbewußtes Bürgertum mit der Mode 
Schritt hielt, gab es Dialer, bie bie Miniatur 
zu ihrem Spegialfad) gemadt hatten, Hand» 
werfer im 
Sinne der das 
maligen Beit, 
Riinjftler von 
Gottes Gna: 
den, wie eine 
viel zu |pát eins 
gejebgte Zunft: 
geichichtliche 
Forihung ine 
zwilchenoftmit 
Dberrajdjun 
erfennen lieh. 
Mod vor 
einem Jahr: 
zehnt — iprad) 
mam jelbit in 
Sadtreijen 
öchſt verádt: 
id) über Die 
deutibe Mi: 
niatur aus Der 
Zeit des Bar 


(Gottorp, Schweiter Friedrichs 
tod und Ros ro hber e d 


Elfenbein. Beltter: ©. 





Louiſe Ulrife, Gemahlin des Prinzen Adolf Friedrid von Holftein: 


des Großen. Unbelannter Maler. 
$. Großherzog von Oldenburg 


Prof. Dr. Georg Biermann: seiss 


toto, wenn EEN überhaupt einmal 
die Rede darauf tam. Der Deutjche, deffen 
Erbjünde es nun einmal ijt, das Fremde 
überall, wo es auftaucht, über bie Maken zu 
bewundern, hat erft |pát bie Hodadtung vor 
feinem eigenen Erbe gelernt. o jpat — wie 
wir heute angefidjts ber Erfahrungen biejes 
Weltkrieges jagen miiffen, ber uns graujam 
genug darüber aufgeklärt hat, wie jehr uns 





9990900000009000000000090000092€ 


Charlotte, nog von England, Gemahlin 
Georgs lll. Gemalt 1761 von Elifabeth Jiefenis 
Bejiter: Geheimrat Dr. Conze 


die anderen, zumal die Frangojen, als Heloten 
ihres Geijtes betrachten. Inzwiſchen freilich 
hat eine Wandlung eingejeßt, und es mag als 
Zeichen der Zeit gebucht werden, wenn lang: 
jam aber nachhaltig fogar bie beut|dje Minia: 
tur anfängt, nicht nur den Mann der Wiljen- 
ibaft und den Sammler, fondern allgemein 
den deutjchen Kunftfreund anzuziehen. 
In Deutjchland hat — ganz im Sinne ber 
| Gemiitsveran= 
lagung unjeres 
Volkes — die 
Rleinbildnis- 
funjt, zumalim 
18. Jabrbhun- 
dert, eine Pflege 
erfahren wie 
kaum in einem 
anderen Lande 
bes Kontinen⸗ 
tes. Stammes⸗ 
eigentümlich— 
keiten heben 
ſich deutlich 
auch in der 
Kunſtübung 
dieſes Zweiges 
voneinander 
ab. Wir ſpre— 
den heuteſchon 
von Jüddeut: 
¡den Miniatus 
ren im Gegen: 








SSS] Bildnisminiaturen aus niederfadjijdhem Privatbelik 1333 499 


Saiferin Marie oui 


jak zu ben norddeutichen und wir werden 
wohl bald bie Rreije ep, enger fallen Tonnen 
und 3. B. einen hanjeatilchen Runjttreis, ber 
feine ftártiten Berührungspunfte mit Holland 
und Dänemark bat, von dem niederjädhlilchen 
trennen, diejen wiederum von Mejtfalen und 
Rheinland jcheiden und fo fort. — 
Hauptaufgabe wird es zunädjlt fein, bas 
nod) verjtedte Material überhaupt erft einmal 
gu heben und zu fichten, und wie ſolches am 
eften gejdieht, bas hat bie denfwiirdige 
Ausjtelung der Keſtner-Geſellſchaft zur Ge- 
me dargetan. 
as Thema ber Ausftellung hieß , Bild: 
nisminiaturen aus niederjächlilchem vat: 
befig“; ihr Ergebnis war nicht mehr und 
Ri weniger als bie niederlächlilche Miniatur 
idledjtbin. Denn obwohl bei bem internatio: 





e pe Gemahlin Napoleons I. 9tad) Ifabey gemalt 
von Ehriftian Whrbed, Mien. fBefigerin: Frau Kommerzienrat Georg Spiegel: 
berg, Hannover 


Zu, 
so 


nalen Charatter, den gerade die Miniatur: 
malerei bejejjen, aus altadligem Beliß oder 
aus den Bitrinen der modernen Sammler 
manches foftbare Stück franzöſiſcher oder eng: 
Didier Herkunft auftauchte (legteres fonnte in 
ber Hauptitadt des alten welfijhen König— 
reiches taum überralchen), jo tonnten Nic bod) 
vor allen jene neuentbedten deutjchen Minia— 
turmaler behaupten, bie oft nur ein E 
Zufall ans Licht gezogen hat. Die Abbil- 
dungen zu diejem Beitrag geben einige Stid- 
roben aus ber Fülle bes Materials, das 
nterejfierte Lefer in bem jchönen illuftrierten 
Katalog ber Veranjtaltung, der burd) Die 
Keitner:Bejellichaft zu beziehen ift, wundervoll 
beieinander finden. 
Mer fannte, um aus aroßer Zahl nur einige 
Beilpiele zu nennen, bisher die beut[dje Minia- 


33* 


500 BESSSSESSSSTETESTEIETEN Prof. Dr. Georg Biermann: R=3223222222224 


turiftin Elijabeth Ziejenis? Wer ben Bater 
diejer Künjtlerin, den De Johann 
Georg 3ielenis, ber durch bie Darmitädter 
Jabrbundertausitellung als einer ber erften 
Borträtilten feiner Zeit entdedt wurde? 
Wohl wußte man aus Meujels , Viiszel: 
laneen”, daß Zieſenis eine zu ihrer Zeit be- 
rühmte Tochter gehabt habe, Die im Miniatur: 
fad) tätig gewejen war, und dod) wollte es 
trog mannigfacher Forjchungen nicht gelingen, 
von diejer Elijabeth Ziejenis auch nur ein ein: 
ziges autbentijd)es Werk nachzuweilen. Gest 
endlich ift jie, durch bie genannte Ausftellung, 
neu in unfer Bewußtjein — Ein 
einziges bezeichnetes Stück mit dem Bildnis 
jener Königin Charlotte von England, der 
gebürtigen Prinzeſſin von Mecklenburg-Stre— 
lif, bie Jowohl von dem Schweriner Hofmaler 





Pergament gemalt zu haben, was immerhin 
auffällt, da die übrige Miniaturmalerei feiner 
Zeit faft ausnahmlos das Elfenbein als Mal: 
grund bevorzugt. 

Ungleid) typiſcher als Niederjachje er: 
ideint in feiner Hunt der ebenfalls neu- 
entbedte Wtintaturijt $. Clajen, der um 
die Wende des 18. Jahrhunderts hauptlächlid) 
in Hannover gemalt zu haben jdjeint. Eine 
bezeichnete, bier wiedergegebene Miniatur 
bes hannoverichen Weinhändlers Johann 
Friedrich Böttger ijt ein gutes Beilpiel jener 
bereits [tart bürgerlich gewordenen Miniatur: 
malerei. Cie verrät Deutlich den Wandel ber 
Zeit. Talente wie Clajen haben zu Dutzen— 
den in allen beutjdjen Städten gemalt. 

Wud in einem anderen hannoverjchen 
Mtintaturenmaler, dem betannteren Heinrich 


Mathieu Anton Sáb: 
wie ſpäter ling, der 
ſo oft von Mitglied 

Gains⸗ der Berli— 
borough ge- ner 9Ifabe- 
maltijt,balf mie war 
auf Die und um die 
Spur, und Mitte Des 
burd) Ver: 19. Jabr: 
gleich tonn- hunderts in 
ten gleidh Potsdam 
acht weitere jtarb, — iit 
Arbeiten dies neue 
ihrer Hand bürgerliche 
zum Teil Ideal le: 
nad) be: benbia, 

fannten wenn auch 
Bildnifjen feine Mi— 
ihres Wa: niaturen in 
ters, Dellen 5 ihrer mehr 
Werte Hem $ ariltofratt: 
der Haupt- oe Auf: 
jade „en ajjung et: 
RE : nen legten 
übertragen ilhel i t: 98 in Saud) der 
an haben See Eis SMS SO RMI Bien EE alten fiber: 
ſcheint, lieferung 


nachgewieſen werden. — Oder ein anderes, 
nicht weniger vielſagendes Beiſpiel: der han— 
noverſche Bildnis: und Miniaturmaler Chri- 
ftian Ahrbed,wen bisher fein Lexiton nannte, 
der völlig vergejjen war, bis er eben jest 
wieder entdeckt wurde. Diefer war der Sohn 
eines Dejtillateurs, der um 1770 in Hannover 
das Licht der Welt erblidte und Schüler bes 
berühmten franzöfijchen Mtiniaturijten Sjaben 
und joll es logar zum Hofminiaturenmaler 
Napoleons gebrad)t haben, was die bier 
abgebildete Miniatur mit dem Bildnis jener 
Marie Louije, der zweiten Gemahlin des 
groen Raijers, einigermaßen belegen könnte. 
Ibrbed läßt fid) freilich nur bedingt bem 
Kreis der iypilch niederjädhliichen Miniatur: 
malerei einfligen. Geine ein wenig trodene 
Gleganz verrät ganz und gar die Parijer 
Schule, und das bürgerliche Element jeiner 
niederdeutihen Heimat bat reftlos dem 
Weltgefühl in feiner &unjt weichen müllen. 
Er ſcheint mit Vorliebe aud) in Aquarell auf 


bewahrt haben. Das bier wiedergegebene 
Bildnis des Grafen Georg von Wangenheim 
ijt in feiner freien Vergeiftigung und der ver: 
haltenen Energie bes Kopfes fait ſymboliſch 
für das ftarte Führergejchlecht, bem die Zeit 
der Befreiungskriege vom Napoleoniſchen Joch 
zum Inhalt und Erlebnis ihres Dajeins wurde. 

Diejem Dábling Debt ein anderer wenig 
befannter deutſcher Viintaturijt Wilhelm 
Unger bejonbers nahe, weil aud) er nicht 
jo febr das bürgerliche Ideal jdjledjtbin als 
vielmehr das des neuen Adels liebt, mit 
dem ibn — man möchte jagen — eine 
familiengejchichtliche Überlieferung verbindet. 
Denn diefer Wilhelm Unger war der Neffe 
von Johann Heinrich und Heinrich Wilhelm 
Tijehbein, bei denen er als Schüler in Kaf- 
fel gelernt, und das Schiejal hat es Jeltiam 
gefügt, daß auch er nod) Hofmaler wurde, 
in Wroljen, als im übrigen Deutjchland 
dies Handwerk bereits zu den veralteten Ein: 
richtungen zählte. Freilich jd)eint Unger 


BESSSESESEIESEEN Bildnisminiaturen aus niederſächſiſchem Privatbelik B=S=3<4 501 


Wiffen wir auch von diejem Künjtler heute nod 
nicht beftimmt, daß er ebenfalls Miniaturen 
malte, jo liegt bod) der Gedanfe nahe, daß er 
(id) ebenfowenig wie feine Kollegen der Mode 
der Zeit perjd)loB. Und deshalb möchte man 
ohne weiteres annehmen, daß das hier abge: 
bildete Stüd mit dem Bildnis ber Schweiter 
Friedrihs des Großen Louije Ulrike, der Ge- 
mablin des Prinzen Adolf Friedrich von Hol- 
[tein - Gottorp, bas aus dem Befit des Groß: 
hergogs von Oldenburg auf die Hannoverjde 

us|tellung fam, ein Werk bes gefeierten Ber: 
liner Hofmalers ijt, bejjen Handſchrift es un: 
zweideutig verrät. Auch eine andere hier ab: 
NEE Miniatur mit bem Porträt jener be: 
annteren Echweiter Friedrichs des Großen, 
Philippine Charlotte, ber jpäteren Herzogin 
von Braunfihweig - Lüneburg, die bas leben: 
digite Gewijjen ihrer Zeit gewejen ift, gebt 
wenigftens mittelbar auf ein Original von 
Pesne zurüd; dod) glaube id) in meiner Ber- 
mutung nicht fehlzugehen, wenn ich die Minia- 
tur felbft als eine Arbeit ber Rojine be Galf 
anfpreche, die dem befannten Hofmalergejchlecht 
ber Lifiewjti entjtammte und 1760 nad) Braun: 


Der Tänzer La Porte. Gemalt von Phil. Stuben: \hweig berufen wurde, wo nod) zahlreiche Ar: 
rauch. Bejiger: L. O. $. Biermann, Bremen beiten ihrer Hand zu jehen find. 


beim FFürjten zu Walded 
und Pyrmont nicht all: 
zulange verweilt zu Do: 
ben; denn er ijt bereits 
1812 in Paris nad)weis: 
bar und hat fih wenige 
Jahre fpáter als Dialer 
in Hamburg niedergelaj: 
jen. Das bier wiederge- 
aebene Bildnis der Für: 
Dm Ida zu Walded 
mag gemalt fein, als fie 
fih mit bem Fürſten Ge: 
org Wilhelm zu Schaum: 
burg: Lippe vermáblte, 
vielleicht aud) fura nad) 
der Bermählung; etn on: 
mutiges Werf, doch ein 
wenig unperjönlich in 
ber Auffaljung. 

Mie anders erjcheint 
die Frau auf jenen Klein 
bildniffen, bie taum ein 
Menjchenalter vorher 
von den unzähligen deut: 
iden Hofmalern gejchaf: 
fen wurden. Nicht qulebt 
in Berlin, wo der große 
Friedrich in den wenigen 
Syelertags|tunben, Die 
ibm fein tatenrei bes Le: 
ben ließ, die Mujen um 
fih verjammelte, Dichter 
und Gelehrte an feinen 
Hof 30g und einem Diet: 
fter wie Pesne Auftrag 
gab, bie Menjen feiner 
nádjten Umgebung mit 








: ^ Graf Cajetan von Bilfingen: Nippenburg. Gemalt auf Elfenbein von Rob 
bem Pinjel zu verewigen. Cheer. Befigerin: Frau Rommerzienrat Georg Spiegelberg, Senne” 


509 Eeesessssesa Prof. Dr. Georg Biermann: ' Bz=222272232773 


Diejen Werfen höfiichen Uriprungs TT TE 
fteht die bürgerlide Kunjtanichauung | an : 
eines Danie! Chodowiecti jeltfam fremd 
gegenüber, obwohl ja — wie befannt — 
auch er fiir Den großen König gearbeitet 
und Dellen Grjdjeinung ohne höfifchen 
Prunk im Sinne bes rein Menjchlichen 
wunderbar erfaßt bat. Geine Art, die 
Dinge wiederzugeben, liebte nicht den 
hohlen Schein, er war zeitlebens Mann 
der Wirklichkeit, wenn aud) ein Riinjtler 
höchſten Gebliites, Delen Erjcheinung 
in diejem Jahrhundert einzigartig ijt. 
Michtig ijt die Ehrlichkeit, mit der er 
jeiner Gattin auf jener entzüdenden 
Miniatur aus hannoverjchem Brivatbe: 
jig begegnet: Madame Chodowiecfa, 
geb. Demoijelle Barez. 

Auch in der Seele bes nur um vier 
ganre älteren Berliners Anton Friedrich 

önig, der fid) fogar ftolz Hofminiatur: 
maler $yriebrid)s des Großen nennen 
durfte, flingt entfernt das Ideal eines 
erft beginnenden 3eitalters an. Außer: 
lid) bat feine Runft viel VBerwanbtes 
mit ber feines Kollegen Chodowiecti, jo 


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daß der Laie gelegentlich fogar die beiden CT s e Wie i E menn STEP V 

Künftler — foweit fie als Miniaturiften A 

s.ssss.„.„....„„„.„„.„„„.a„.ss> ...„„uu.9u.,sas........... or Graf von Wangenheim 
Gemalt auf Elfenbein von Hein- 


rid) Anton Dabling. Befiter: Frb. 
v. Wangenheim: Wale, Eldenburg 


tätig waren — verwedjeln 
tónnte, aber im ganzen ges 
leben, erreidt König dod 
nirgends die Meilterfchaft 
des anderen. Da wo er höfiſch 
elegant fein will, wirfen jeine 
Miniaturen fteif und inner: 
lid) Hohl — wie man es auf 
dem bier wiedergegebenen 
Ctüd mit dem Bilde des 
Prinzen Auguft Wilhelm, des 
Bruders Friedrichs des Bro: 
Be deutlich erfennt. Beffer 
inb jeinebürgerlichen Minia— 
turen, die oft einen genre: 
haften Zug haben und gern 
den Arzt, den Kaufmann in 
dem bielem eigenen Berufs» 
milieu zeigen. 

Bon dem Polen Jannaſch, 
Dellen Hier wiedergegebene 
Miniatur einer braunlodigen 
jungen Dame [Hon 1914 in 
Darmitadt auffiel, weiß man 
leider noch zu wenig. Er ijt 
in Den neunziger Jahren des 
18. Jahrhunderts in Sam: 
burg nachweisbar. Möglich, 
dak in Hamburger Befig nod) 
zahlreiche Arbeiten feiner 
Hand vorhanden find, Die 
eine erjtaunliche Entdedung 
wären, wenn ein Rüdichlu 


SSCSSSSSSSSSSSSSsesesseeseeeseesese E) 
SSSSSSSSSSSSSTSESESSESSEHESEE SESE ECE 










Wiener Dame. (1832) Gemalt von Adolf Theer A d — 
— EE Beſiher: €. O. $. Biermann, Bremen ceeececccccceeel VON dieſer einen Miniatur 


fesecsccl Bildnisminiaturen aus niederſächſiſchem Privatbefit 503 


“.......„....:.„....— 
-.....n.......n..n...:.n00nsnss25# A AAA AAA AAA AAA AAA —, 111114 co cnn. .....n..... vc. .OÓO AS. %.. 


*.66%- gg 4458000000000 000 


auf bie übrigen Werte feiner Hand — 
iſt. Als deutſch würde man dieſe Miniatur 
ſchwerlich anſprechen. Franzöſiſcher Einfluß 
iſt unverkennbar, und auch die Dargeſtellte 
dürfte ihre Wiege eher in Polen als in 
Deutſchland — ſicher nicht in DES — 
eje haben. Aber abgejehen von Ddiejer 
Feft telung jdjeint das Bildnis wie ber legte 
Austlang bes Rofofo, ber Übergang ins 
Zeitalter bes Nationalismus und ber Auf: 
tlárung. 
Das find freilich nur wenige Proben aus 
einer Wusftellung, die viele hundert Minia- 
turen aus niederſächſiſchem Privatbeliz erft- 





Charlotte Kejtner geb. Buff. Wabhrfcheinlich gemalt von Job. Chr. Aug. Shwark 
Bejigerin: Frau Obertonfiftorialrat p. Berger, Hannover cecccccccccccccccccsccece 


malig ans Licht 308 und deren Bedeutung 
für bie Gejchichte ber beutjd)en Miniatur 
erft dann vo — iſt, wenn dem Bei— 
ſpiel Hannovers folgend auch andere Städte 
das örtlich begrenzte Gebiet abtaſten und 
anſchaulich machen. 
In Hannover lebte als Gattin bes Hofrats 
Jobann Chrijtian Rejtner Charlotte, geb. 
Buff, Werthers unjterbliche Lotte aus Web: 
lar. Ein feltener Fund der hier nur in großen 
igen zu würdigenden Miniaturenausſtellung 
rachte ein bisher völlig unbekannt geblie— 
benes Paſtellbildnis jener Lotte an die 
Öffentlichkeit, bas aud) bann, wenn bie Dar: 


504 Prof. Dr. Georg Biermann: Bildnisminiaturen aus niederjächliichem Privatbefib 






































Ida, Fürftin zu Schaumburg:Lippe. Gemalt 
auf Elfenbein von Wilhelm Unger. Befiger: 
S. D. der Fürjt zu Schaumburg: Lippe 


gejtellte einen weniger berühmten und 
feinen durd Goethe geheiligten Namen 
trüge, tiinftlerijd) ein wundervolles Do: 
tument jenes zu Unrecht verachteten 
deutjchen Runitfleißes bes 18. Jahrhun— 
derts wäre. In dem Antliß Diejer 
Des hat fid) das Zeitalter der Emp- 

ndjamfeit em lebtes jpätes Denkmal 
gejegt. Ein Hauch wehmutsvoller ver: 
glommener £etben|djajt zittert über bem 
fein profilierten Geficht. Hoheit und an= 
mutige Würde find ganz im Goethejchen 


Braunlodige, junge Dame. Gemalt von Jannafd) 1795 
Befiber: Geh. Kommerzienrat ©. Seligmann, Hannover 


Geift über der Erjcheinung Lottens aus: 
gebreitet. Das Bildnis, wirklich eine Ent- 
Dedung, bie alle Freunde ber Kunft und Lite- 
ratur gleichmäßig fejleln muß, ift höchſtwahr— 
icheinlich bas Werf jenes befannten Braun- 
ibweiger Bajtellmalers Johann Cbriftian 
Sdwark, dejjen Arbeiten einem nod) heute jo 
zablreid) neben denjenigen feines ebenfalls 
auf biejem Gebiet bejonbers bewährten Rol: 
legen Johann Heinrich Schroeder überall 
in den mitteldeutichen Fürſtenſchlöſſern be: 
gegnen. 

Die Hannover|dhe Austellung hat mit aller 
Deutlidfeit dargetan, wieviel heute mod) in 
Deutichland an entlegenen Orten unbeadtet 
verborgen ruht, namentlid) im Befig des alten 
höfiſchen Adels, der meijt gar nicht weiß, was 
ererbtes Runftgut im Sinne unjerer modernen 
Zeiten wert ilt. 

Die Miniatur aber, deren Gejdhichte Die 


Weinhandler Johann Gottlob Böttger 
Gemalt von $. Elajen 1803 
Beliger: Senator Dr. Mertens, Hannover 


friibeften Anfänge menjdjlider Kunft- 
betätigung jtreitt, gehört zu jenen 
Zweigen alten Erbes, die erjt unver: 
hältnismäßig |pät wieder zu Geltung 
und Beabtung gefommen find. Wah- 
T rend man in Deutjchland jowohl in den 
= Kreijen der Sammler als auc in ben 
Diujeen die Blüten franzöſiſch-eng— 
Didier Mliniaturmalerei heißhungrig 
pilüdte, dachte niemand daran, dak 
diejes fo unjagbar wichtige Dokument 
der Gelinnung einer Zeit auch bei 
uns einmal bejtand, daß viele Hun: 
dert fleiBige Meifter aud) in deutſchen 
Städten und an deutjchen Füritenhöfen 
am Werte waren, in ber Miniatur 
ein lebendiges Bild der Gejelljdaft 
und ihrer Sitten auf die Nachwelt zu 
vererben! 















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Hn weiß SS Vlöwe auf ber gelben: - 





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mut mit ber ¡firieberile IBocrmana! ont 


grobe Fahrt go 9fujtralieu, Es tann dn 
ré Diner ober Drei, Da fonn tb Dod) ` 

Sei AUi nicht allein. Talfen, benn fie bat feine ` 
Bermanbten, Und in der Bar Tanı fie nicht ` 


vielen Wilöre, pie fie trinfen muB, Das mußt ` 
daß id) bie Tilt in Verwahrung gebe, bis i 


‚helfe mit großen, gebrdumnten $ 


Winger ihe 
weidh er 
fonnte: ¿Du mapt bod) einjeben, Trina 


Shipp, “bab ich toren andern auf Der Erde - 


de mili lieber andertrauen Hi Ta als bir. 


ans deinem Mann, „Natürlich ah ich 
5 Haft unb Vogis 


fan rina bewegte Damm den Kopf Bin 
wad, Hei. 





56 jelben Augenblid lam ein großer, 


Beie Mann in Die a imb i irat 


TET 


P rus Eri... 
oar ‘Sune, oe 5 


fig. „Mita mem de 


fant, als mo e Dun a 


: ben 3 
SS 2 er Sufguetende ‘Be Sat Kier SS 


dede E Sid — E in Spier bet ` 


ie Barfränlein find nicht ale | m r 
Jo, mie ba, Senf, tina cx y 
up fag a. ift es: 
tie, iS Der er ber ver | 
Trina Cdüpp, 
ein Bar brennt wie bie tote Boje. im ` ^ 
Be von iste, wenn wie Sonne ont G ber 


D. "n 


; stuchvede lag; unb fagte einbeinglic, | ERU DONE 
bie. bie Hand EE, SCH "Ties mS mp bed. na des | | yi 


s on d e Pu doch einiehen, Da habe id dern gedacht 
o ie ` Ex; data 

f "wieder ba bit, ‚als Schenimasniell: ober mas - 
"br fonit Für fie zu tun habt,“ Er umichmeis 





506 ELSSSSoosoosesssy] Kurt Kühler: Be22232232332323323223 


in den roten Sonnenjchein, |o daß breit ein 
Schatten quer über den runden Tijd fiel. 
Schwer fühlte Trina, wer hinter ihr ftand, 
und jah deutlich das bartloje, mürrijche Ge: 
fidt unb bie tiefe, [Hwarze falte, die fent: 
recht zwilchen dichten Nugenbrauen Durch 
die Stirn lief bis ins ergrauende Haar. Cie 
bog die Schultern nad) vorn unb jenfte ben 
roltroten Kopf, als läge plößlich jchwere 
Bürde auf ihrem Naden. 

Der Mann, mit einem mißtrauifchen Blid 
zu dem Diatrofen hinüber, fagte verdrojjen: 
„rau, fino die Flaldjen ge|pült? Ift ber 
Rum abgezogen?“ 

grau Trina erhob fid) mit einer angit: 
vollen unb jcheuen Bewegung, ftand eine 
Cefunbe lang unentidieden zwijchen den 
beiden Männern, dann wandte fie den Blid 
zu Heini Stoner und fagte leije, ein wenig 
traurig: „Das mit deiner Braut, mußt 
bu mit Hinrich ausmaden. Was mid 
betrifft, fannft bu [ie uns gern ins Haus 
bringen.“ 

Cie wandte fid) um und ging hinaus, 
ein wenig müde, den Kopf auf die hohe 
Schulter geneigt, und ftieg in Den Seller. 


88 

Sie ftanden auf dem gelben Strand von 
Svelgónne, Frau Schüpp und Fräulein 
Miindel, gwijden ihnen fdwer und breit 
der Scheniwirt, und jahen bie ‚Syriederife 
Moermann', wie fie mit drei vollgetafelten 
Majten, einem weißbeſchwingten Vogel gleich, 
ftromabwárts ſchwamm, dem eijengrauen 
Himmel entgegen, ber mit grünjpanfarbener 
Kante die weitgedehnte Mündung der Elbe 
beriibrte. Achtern, vor dem dreiedigen Ba: 
gienenjegel, Honn duntel ein aufrechter Strich; 
das war Der Matroje Stoner, der in Die 
Südfee und nad) Auftralien fuhr. 

„Wenn ihn man bloß nicht ein Haifilch 
wegldnappt," ſeufzte Tili Diündel und bob 
ein gterlidjes Batijttüchlein zu den feucht: 
blauen Augen, die der große, dunfelblaue 
Strohhut weich beichattete. 

„Rab man,” jagte Trina Schüpp langjam, 
„er wird fid) [Hon vorjeben.” 

Der Schentwirt Hinrid Schüpp [Hob den 
dampfenden Bröjel aus der rechten in Die 
linte Mundede, blinzelte mit veriniffenen 
Augen über Tillis olivgrünen Seidenmantel, 
der weih und verräteriih vollendete 
Cdjantbeit umfing, und fagte mit trode: 
nem Ladeln: „Wenn Gie [id man in: 
zwilchen nicht felber von einem Haifiſch 
fapern [ajjen, Fräulein.” 

Mit hellaufbligendem Laden drehte fid) 
das Fräulein aus der Tridjterbar auf den 
hohen Abjägen ihrer zierlihen Laditiefel 
berum, fo daß es im Sande fnirichte, [its 
telte den Kopf und zeigte den blendenden 
Strid) ihrer jpikigen Eed „I tann febr 
treu feim.” 

Der große, breite Schentwitt lachte derb. 

„Das wollen wir hoffen,“ jagte Trina 
Ship Get und langjam mit einem Pund, 
der fid) faum öffnete, und löfte den großen 


. rifur. 


und traurigen Blid ſchwer von dem fd)malen 
Cdjatten[tridj, ber immer dünner wurde vor 
dem weißgebaujchten Bagienenjegel. 

88 


BE 

Es famen graue und regnerildhe Herbit: 
tage. Tili Mündels brennend blonder Kopf 
flog Tag um Tag durd die Dämmerung 
der feinen Cdjente am Meberg wie ein 
golb|prüDenber Paradiesvogel durch lidhts 
bungriges Urwalddunfel. Abends, wenn bie 
eleftrijd)en Lichter in ber Wirtsjtube brannten, 
entzúdte fie alle Janmaaten, deren teine 
und jdarfe Seemannsaugen nicht zur Ruhe 
famen, wenn fie mit Dampfenden Grogs auf 
blantem Ytideltablett durd bie Cdjenfitube 
glitt, behende und jchmiegfam in der feidenen 
Weidhheit ihres lichtblauen Kleides, bas junge, 
duftende Gefiht ewig heiter unter dem 
frauen Wunderbau der gelbfunfelnden 
Hinrih Schüpp hatte fic) nicht vers 
rechnet, als er dem Matroſen Heini Gtoyer 
nad) gründlicher sa m verjprad, das 
Heine {Fraulein aus ber — während 
ber langen Giidjeefahrt in Verwahrung zu 
nehmen. Die Gajte famen in Haufen. Sieben 
Gteuerleute vom Ridmers verlegten ihren 
Stammtijd vom Fährhaus nad der Heinen 
Sdenfe am Meßberg. Der ausgediente 
Kapitän Hendrik von der Hapag, in Pellen 
tlginen, Haren Iltisaugen ununterbrochen 
Erinnerungen an rätjelvolle Abenteuer unter 
der Gonne des Südens zu funfeln fchienen, 
ließ jid) täglich, wenn er auf feinem Mor: 
genfpaziergang am Meßberg vorbeifam, von 
Lillis |djlanfen Fingern einen Bomeranzen: 
codtail milchen, einen für fic), einen für 
Fraulein Tilli, genau wie in der Trichterbar. 
Und ber Heuerbaas Samuel Wittop aus 
ber Admiralitätsitraße, ein fleiner, magerer 
Herr mit flabsblonder Perüde, ein wenig 
Ihief auf [pigem Schädel, legte einen frijden 
Kragen an und neue Roden, wenn er 
einmal in der Mode in Die Wirtsftube fam, 
um, von Tilli bedient, jein Quintett zu er» 
ledigen, wie er Die — feiner Ge: 
tränte nannte: einen Kümmel, ein Glas 
Bier, ein Blas Burgunder, einen Bataviagrog 
und einen Whistyfhot. Gie verdarb es mit 
feinem. Jeden lachte fie an, mit ihrem die 
lautlofen Laden, bas ben Blig der Zähne 
zeigte. Gie erwiderte jeden Blid, hei wie 
er fam. Ein jeder durfte, wenn er ge 
wajdene Hände hatte und aud fonft ma» 
nierlid) war, ihre weiche, gerundete Hüfte 
beflopfen, einen Herzichlag lang, wenn fie 
das Glas auf ben Tijd) ftellte. 

SHinrid) Shipp jak hinter der Tonbant 
und madte Rajje. Geine breiten Schultern 
rubten unbeweglich auf mächtigem Körper. 
Nur die graugrünlichen Augen wanderten 
unermiidlid) dem brennenden Blond nad, 
das fid) funtelnd bin und Der bewegte im 
blauwogenden Tabafsraud der Luft. 

„Berdammt!“ murmelte er manchmal, 
wenn er einen Haufen Geld in Die mering: 
beichlagene Kafjenrige ber Tonbant ſcho 
„Berdammt, es wäre wahrhaftig nicht übel, 


SE SS In der Schente am Mehberg EZ ZZ 507 


wenn in ber Südſee ein Hat den Heini 
Gtoyer wegibnappen wollte.“ 

Bron Trina fam nur dann aus der Küche 
in die Schentjtube, wenn fie für einen bung: 
rigen Gaft ein Schintenbrot ober Knackwurſt 
mit Rartoffeljalat zurechtgemacht hatte. Dann 
tand fie mit hart geldjlojjenem Mund und 
hwer eeng Augen [till Hinter ber 
Zonbanf und wartete, bis Tilli ihr das Ge: 
[hirr aus der Hand nahm. Jedesmal wollte 
D bem rajden Mädchen einen Namen zus 
úftern, mabnend und —— doch 
immer, ehe das Wort über die Lippen kam, 
war Tilli ſchon wieder unter den Gäſten. 
In der Küche ſaß ſie dumpf grübelnd auf 
einem Stuhl, dunkles und verworrenes Gefühl 
ſchwer und unruhig auf dem Grunde ihres 
Herzens. 

Zuweilen kamen Briefe von Heini Stoyer. 
Der erſte aus Liſſabon, der zweite aus Port 
Said, ein anderer aus Kolombo. Am Schluß 
unter dem Namenszug war ſtets zu leſen: 
E bie Schüpps und bleibe brav. Der 

ige.“ 

Tilli las lahend vor, was er [djrieb, 
Morte der Liebe, ftammelnde Worte der 


Gehnjudt. Trina Schüpp [Haute groß und 


ftumm in bie Ferne, unb es war oft, als 
wogte Dumpfes und verworrenes Befühl and 
in der Tiefe bes entrüdten Blids, bald füß, 
bald magad, 

Cines Abends, eine halbe Stunde nad) 
Mitternabt, als fein Gaft mehr in ber 
dente war und das Mädchen auf Zehen: 
Jpigen vor bem langen Edjpiegel mit anmutig 
bewegten Fingern ihrer Frilur eine neue 
und funjtvolle Form zu geben verjuchte, 
richtete (id) rou Trina, bie vor ber Ton: 
bant auf den Knien lag und den Linoleum: 
belag jauberte, pliglid) auf, laufchte eine 
Getunbe nach oben, wo unter Hinrichs fchwer 
fid) Drehendem Körper die Bettftatt Frachte, 
und fagte rajch zu Tilli hinüber: ,Rannft 
du das wirklich verantworten, Tilli, vor dir 
und deinem Bräutigam?” 

Tili fuhr herum, die Hände nod) vers 
graben in Duft und Farbe der Frifur, eine 
blaue Stahlnadel zwijchen den Zähnen. Auf 
den gebogenen Armen, unter blaugeipannter 
Geide bebte ein feines Mtusfelfpiel. Unter 
der Dede brannte nur nod) eine einzige 
eleftrijche Birne, aber Frau Trina jab bod), 
wie blag das Mädchen geworden war. 

„Wie meinft du das?“ 

„Wie du mit den Männern umfpringjft.“ 

Tili nahm die blaue Nadel aus den 
Zähnen, warf den Kopf in den Naden und 
fragte fühl: „Kann mir irgend jemand 
etwas nadjagen ?^ 

Trina Schüpps Augen wurden ftarr. Wie: 
ber |pürte fte Dumpfe, ungewijje Angft. Cie 
jchüttelte den Kopf und fagte tonlos: „Nein.“ 

„Na aljo.” Gie jchwieg eine Weile, bann 
jagte fie leidjtbin, bie dunfelroten Kippen 
ein wenig fraus: „Wenn ich Abfichten hätte, 
wär’ id) in der Bar geblieben, Ta gibt's 
andere Ravaliere als bei euch.“ 


Die Frau entgegrtete leije und bewegte 
befiimmert den Kopf: „Heini Stoyer würde 
fih nicht freuen, wenn er bid) fo Jähe.“ 

Tili hatte ein beftiges Wort auf den 
Rippen. Dod als fic die kleine Frau Schüpp 
jab, wie fie auf den Knien lag, hilflos, mit 
müdem Mund und dunflen Augen unter 
ber zarten, von der Wucht bes Haares fait 
erdrüdten Stirn, die Schulter traurig ges 
wölbt, erfaßte fie ein weiches, unrubiges 
Gefühl. Gie fagte langjam und hatte vor 
träumenden — das ſtrahlende Knaben: 
antlig ihres Bräutigams: „Ich glaube, 
Trina Schüpp, bu benf[t zuviel an Heini 
Stoner.“ - 

„Nein,“ rief fie gequält, beugte fih über 
ihre Arbeit und fah nicht, wie glänzende 
Tropfen |djmer in das Tuch fielen, das ihre 
Hände hart umframpften. 

Tili feufzte. Dann warf fie den Kopf 
zurüd. „Ach mas." 

Cie madjte fih daran, bie Stühle auf bie 
Tiihe zu jeben. CEs ging geräufchvoller 
dabei zu als fonjt. 

a] 


8 

An einem Commertag, ber bie gebred) 
lihen, an Feuchtigkeit und Nebel gewöhnten 
Häujer am Hafen in die Vollfommenbeit 
jeltener Klarheit bettete, fam ein Brief von 
Heini Gtoyer aus Palermo. Es war frü 
am Morgen. Tilli hinter dem Gent 
wujd) Glajer. Mit feuchten Fingern, Die 
Armel hod) aufgetrempelt, nahm fie dem 
Poftboten den Brief aus der Hand, riB ihn 
mit einer Haarnadel auf und las ihn gliihend. 
Frau Trina pußte bie Fenfter. Sinrid jab 
im Rofbaarjofa und frúbitúdte. 

„Dentt euch, er [^ auf ber Fahrt nad) 
Hamburg! In vier Wochen ijt er ba." 

Frau Trina fuhr herum, ließ das feuchte 
Putzleder finten und ftarrte zu Tilli hinüber, 
die aufgeregt vorlas: „Wir haben Havarie 
gehabt und tónnen die Reife nad) Wuftralien 
nicht risfieren. Aber bis Hamburg [dleppt 
[i die ,Friederite Woermann‘ [Hon durch, 
wenn uns bloß bie Bisfaya in Ruhe läkt. 
Menſch, Tilli, Herzensihaß, ich freu’ mich 
auf bie Hod)zeit wie ein Stint! Denn wir 
jeilen uns gleid) an, wenn id) wieder in 
Hamburg bin.“ 

„ein, was?” (Cie ftand, bie weidgerun: 
deten Arme in bie Hüften geftemmt, im 


^ ftrablenben Morgen wie in einer Moge von 


Helligteit. 

Hinrich lahte breit mit fauendem Mund. 
Dann wurde er plóblíd) ftill, jchludte das 
Ctüd Brot hinunter und blidte ftier, mit 
ftedjend auffladernden Augen zu der leud: 
tenden Tilli hinüber, bie ihn funfelnd anjab. 
Der grünlidje Blid bes Schenfwirts faugte 
fid) in das leichte Beben ihrer Schultern, 
die mädchenhaft fic) in die dünne Bluje 
\hmiegten. Frau Trina jah den grabenden 
Blid ihres Mannes. Cie dadte: ‚Er ift 
wütend, daß Heini fic thm aus dem Bejchäft 
nimmt.‘ Dod) dann erjchraf fie heftig, denn 
fie erfannte in feinen unrubigen Augen den 


508 ESS== SS) Hurt Kühler: Eeer 


Hunger nad) dem jungen Weib, das erregt 
und blühend hinter dem Schenttiſch fih 

affte. Gie wollte etwas fagen, Dod) fie 
iblte, daß ihre Stimme zerbrechen würde, 
. wandte jid) um und fuhr mit bem Bubleder 
Ihwer und langjam über die Scheibe, 
obwohl bas Glas lángft blouf und jauber 


war. 

Als Frau Trina gegen Abend bie Keller: 
treppe hinunterjtieg, um für einen Gaft eine 
Flaſche Rheinwein heraufzuholen, blieb fie 
plóBítd) ftehen, da jie Geräujche hörte aus 
dem Dunfel, bas ſchwarz und breiig unter 
thr lag: ein ee in rajden Yltemzügen 
er|tidenbes Laden und das hitige Flijtern 
ihres Mannes. Cie laujdjte reglos, ben 
Kopf vorgeitredt. Nur ihre Knie zitterten 
BR repen gegen den Rod. 

Warum brennt fein Licht im Keller?‘ 
dachte fie. Da hörte fic einen Aufjchrei und 
dann Gerdujde wie von rajh und raubend 
——— Küſſen, ein rauhes, erregtes 

ännerlachen, ein Klirren, wie wenn Fla— 
ſchen ſtürzen. Zwei Sekunden ſpäter, mit 
rare Biegjamteit, glitt Tilt Mün- 
del aus der Finfternis. Gie jd)rie auf, als 
ie Frau Trina jab, bie ftarr auf ber Treppe 
tand, blieb einen Augenblid erjchroden fteben, 

ann flog fie die Stufen hinauf, an Trina 
vorbei, mit dem bajtigen Ruf: „Das Licht 
war uns ausgegangen.“ 

Im Keller entzündete fid) eine Flamme, 
die blaB bas Duntel zerteilte. Der Gent: 
wirt, groß und fantig, vom jchwachen Licht 
unſicher umjpült, dudte jid), hodte jchwer 
vor einem mächtigen Rotweinjah und griff 
in bie Flaſchen, bie umgejtürzt auf dem Fuß— 
boden lagen. 

Frau Trina ls bas alles unſicher und 
bump. Cie mußte jid) nieberjeben und fab 
auf der Treppenjtufe, die Augen griiblerijd 
auf den breiten Rüden des Mannes gebannt, 
über Dem bie Rundfante bes Rotweinfajjes 
(id bog wie der Rahmen eines ſchwarzen 
Tors. Gie fror unter der feuchten Luft, die 
fühl aus dem Keller herausjiieg. Schwer 
im Schoß rubten die Hände. Gte fap wie 
betäubt. In der Tiefe ftritten Gedanten 
und vi rcm Das Blut in ihren Schläfen 
flopfte ſchwer. Grol war in ihr, der jid) 
duntel hob und fentte, nicht gegen den Dann, 
der fie betrog, nicht gegen das Mädchen, 
das mit leichtfertigem Blut durd) ihr Leben 
jprang, fondern er galt dem unbegreiflichen 

djiidjal, das den [trablenben Watrojen 
Heini Stoyer einer Frau in die Arme trieb, 
die feine Treue fannte und ihre Solle wahl» 
los austeilte, wie jie jedem ihre ſüßen Ge: 
tránte mijdte, ber in der Bar von Gantt 
Pauli auf hohem Hoder fie angelächelt hatte. 
Sie ftöhnte unter einer Welle von Zorn, 
bie Jchmerzhaft Durd ihr Blut fprang, Durch 
ihr ftrómendes Blut, das jelber noch jung 
und cr war. 


Der Mann unten im Keller drehte fih 
um, blidte erftaunt hinauf zur Frau und 
fragte, mürrijd) eine halbgefüllte Flaſche in 


der Hand: „Menj, Trina, was tuft bu 
denn da?“ 

Cie blidte an ihm vorbei bis zur licht» 
bejpiilten Rellerwand, bie wie ein Mogen 
von Nebel war und jagte und wußte taum, 
daß fie es fprad: „Ich muß an Heini Stoner 
denten, der auf ber ,Friederife Moermann' 
zur Hochzeit fährt wie in fein Ungliid.” 

Der Viann blidte fie eine Werle ftumm 
an, dann [djüttelte er den Kopf, lachte 
ipóttijd) und fagte, während er bie Flajde 
SN den Zapfhahn bradjte: „Spöten» 
teter.“ 


88 8 

In einer Septembernacht, die blank und 
flar war wie Stahl, glitt die ‚Friederike 
Woermannm in Schlepp eines Lotſendampfers 
in den Segelſchiffhafen. Dunkel und hoch 
ſtrichen die abgetatelten Maſten durch das 
funkelnde Feld der Sterne. 

Zwei Stunden nach Mitternacht betrat 
der Matroſe Heini Stoyer die Schenke am 
Meßberg. Die letzten Gäſte, rotweinduf— 
tende Gteuerleute vom ,Rosmos‘, ſchwankten 
jelig an ihm vorbei in die warme und 
flare Gommernadt. 

„Tag aujammen!^ jchrie er nod) unter 
der Tür und jcehwang feine Müße. Die La: 
terne über dem Eingang jchoß gelbes Feuer 
in fein dichtes, braunes Haar. Tilli |d)rie 
hell auf. Sie hatte nod) das Glas Rotwein 
in der Hand, das die beiden Kosmosleute 
ihr einge|djenft hatten. Nun berübrte es 
tlingend den Tijd). Cie [Hnellte vom Sofa 
und flog durch bie Stube dem Bräutigam 
um den Hals. „Dunnerjlag!“ fnurrte Sino 
rid) und e: fih Ichwer aus ber Ede des 
Roßhaarjofas. Frau Trina hinter dem 
Schenktiſch beim Glajerwajdhen wurde fo 
bleidj, dag ihr roftrotes Haar über der wei» 
Ben, [Món gewölbten Stirn doppelt duntel 
erjdjien. ! 

„Menſch!“ rief Tili Dell zwiſchen ¿wet 
wilden Külfen, „weshalb haft du fein Tele 
gramm gejdidt, aus Kuxhaven?“ 

„Selbertonmen ift beffer!“ Heini Stoyer 
lachte, ließ feine blau angeſtrichene Seemanns» 
tifte zu Boden gleiten, |d)ritt breitbeinig, ben 
linten Arm auf Tillis Hüften durd Die 
Mirtsftube, jchüttelte über den Sdhenftijd 
hinweg Frau Trinas fleine, feuchte Hand 
unb dann die Prante, bie Hinrich ibm ents 
gegen[tredte. Bald jaßen jie alle um den 
runden Tilh, das Brautpaar auf dem 
Ihwarzen Sofa, und vor ihnen in Grog: 
gläjern funtelte Burgunder. Cs ging auf 
drei. Heini Stoner prablte mit Abenteuern 
aus Kolombo und Ralitut und warf malend 
jeine braungebadenen Hände in die Luft, 
wenn er fie nicht gerade auf Tillis Schul: 
tern hatte. 

Unvermittelt fragte Tili: ,Bift bu mir 
treu gewejen ?" 

Heini Stover blidte fie eine Sekunde groß 
an, dann lachte er überlaut. „Menſch, wenn 
man zu Haufe fo etwas hat wie bid)! Jn 
Bombay weißt du, da waren zwei braune 


eeh In der Schenfe 


indijde Frauenzimmer, mit blaufchwarzen 

aaren und funtelnden Raubtierangen höl— 
Did Hinter mir ber. Als id) unter einem 
Granatapfelbaum jählief und von deinen 
fleinen ſüßen Händen träumte, fibelten fie 
mid) mit weichen iyebern aus Paradies: 
vogeljhweifen. Ws id) anfwadte und 
die Hindumadden mit ihren Jchwarzen 
aeg er jah, brüllte ich fie an wie ein 

iger, fo daß fie mit ihren blanfen brau- 
nen Beinen freilhend davonrannten und 
topbeifter verichwanden im Palmenwalb.” 
Er lahte jcehallend. „Berdammt, ihr fwar: 
ges Haar bligte wie Bunferfohle in der 

onne.” , 

Hinrich Schüpps Laden Hang fnurrenb 
und bóobnijd. illi Hatjchte in die Hände. 

rau Trina, ihr Glas zwifchen reglofen 

ingern, blidte ftumm in Heini Gtoyers 
ammend erregtes Geſicht. 

Da rief der Matroje: „Und mit deiner 
Treue? Heraus damit, Tillt, wie ftebt es 
mit der?” 

Sie lahte in feinen herausfordernd ges 
öffneten Mund. „Treu wie Gold, bas fannijt 
du mir glauben!“ 

Dabei warf fie den Kopf in ben Naden, 
daB gelbglánzende Blumen aufiprojjen im 
blonden Dicdicht ihres Haarcs. 

Da beugte rau Trina den Kopf weit 
vor und fagte langlam, ganz blab um Die 
Najenflügel: „Das ijt nicht wahr.“ 

b it beftigem Rud warf Tili den Kopf 
erum. 

Eine Weile war es totenftill in ber Stube. 
Eine nadtlide Barkafje draußen im Baaten: 
hafen gerfnatterte mit eiligem Motor bie 
ichlummernde Macht. Heini Stoner mit er: 
jtarrendem Blid jab, wie Frau Trinas 
duntel gewordene Augen |djmer von Tilt 
zum Schentwirt wanderten. 

Da ftieg ibm das Blut dunfelrot in die 
Stirn. Dann jchlug er, die Schultern wild 

egen Hinrich vorftoßend, bie Fault auf den 

D . „Verdammt, du!” 

„Es ift nicht wahr,“ ſchrie Tili. „Er hat 
mid) gefüpt, er, unten im Keller.“ 

Hinrich lachte Géck er jeBte die Tot: 
weinflajche, aus der er fic) ein Glas hatte 
re wollen, Tnallend auf ben Tijd, 
erhob fih jchwerfällig und fnurrte: „Dori 
dimm! ... wenn’s ungemiitlid) wird, ver: 
[affe id) das Lofal.” 

Breitbeinig |d)ritt er durch den Raum. 
Die Tür —— ihm fiel krachend ins Schloß. 

Sie ſaßen ſekundenlang ſtumm um die 


MWachstuchdede. Die Unterlippe bes Via: 


trojen bing nad) unten und zitterte, In feinen 
grauen Augen war ein erjchrodener und uns 
ruhiger Glanz. Mit unjicherer Hand wehrte er 
Tilli, bte ihn [iebfojenb bedrángte, und griff 
ſchwer nad) bem Handgelenf Trina Schüpps. 


ES=3333S333341 509 


. „Heraus mit ber Wahrheit!“ 

Tilt begann zu weinen. 

Frau Trina wollte |predjen. Gie wollte 
ihm jagen, dumpf getrieben von dem duntel 
aufwogenden Gefühl, daß er Diejes junge 
Meib nicht zur Frau nehmen durfte, wenn 
er nicht unglüdlid) werden wollte für fein 
ganzes Reben. Nie würde fie ihm gehören 
ónnen, wie ein Weib dem Mann gehören 
muß, der fie zur SC nimmt. Das alles 
wollte fie jagen. Doch ihre Lippen waren 
jo ftarr und die Flucht ihrer Gedanken fo 
wirt, das fie fein Wort herausbringen fonnte. 
Hilflos fap fie am Tijd), und ihre Augen, 
die ig verjchleierten, gingen verzweifelt 
durch Srre und Duntelbeit. E 
Als Tili fie fo jab, ſtieg unbekanntes Ge⸗ 
bl in ihr auf, und ein Erſchauern umflog 
an Schultern. Gie griff nad) der Hand bes 

atrojen unb fagte unruhig, fajt ohne Be: 
wußtjein: „Laß jie. 
es iit Eiferjucht.“ 

Der Miatroje, jeltjam betroffen, hob den 
Ropf ein wenig und jab, wie das Bejicht 
Trinas voll zu ihm hingewendet war, reglos, 
[wer und |dmerglid) im Bann eines Ges 
fühls, das wie unendliche Liebe und Gehns 
juht war. Plöglich fiel thm ein, wie fie 
beide miteinander gejpielt batten, als jie 
nod) Kinder waren, im engen, felten von 
Sonne beichienenen Hof, hinter bem düftern 
Haus, wie fie unter einem Zelt aus zerrijs 
penen Tüchern gejdlafen hatten, das er für 
ie beide gebaut hatte. Mann und Frau in 
träumender Unjchuld, bie Heinen Hände vers 
Ihlungen, Wange an Wange, auf die weichen 
Beräufche ihres Atems laufchend wie auf 
einen fernen, unbetannten Belang. Wie 
eine Woge lief es durch fein Blut, duntel 
unb hod. Wie er fie nun am Tijd figen 
jah, das blajje Gelicht zur rechten Schulter 
geneigt, als wollte es ftd), von Traurigkeit 

elite ef müde auf weichem Hügel betten, 
fühlte er ungewiB und traurig, daß fie thn 
liebte. Gie blidte thn groß und fehnjüchtig 
an, und ihre Geele empfing zitternd eine 
Melle ftarten Gefiibls, das m aus feiner 
Bruft Lotte, , 

Da j|pürte er die Hand Tillis, bie bes 
hutjam fein Knie [treidjelte, Er wandte 
den Kopf langjam zu ihr bin und jab ihre 
Augen, die ein ungewobnter Glanz feucht 
und warm füllte, und er fagte in Die 
Stille hinein, feine Lippen ihrem funfelns 
den Haar nábernd und den fiigen Eos 
jpürend, bem er béi willig ergab: „Un 
wenn fie die Wahrheit gejagt hätte, ich fann 
nicht laffen von Dir.” 

rau Trina fenfte tief den Kopf. Die 

panne lagen im Schoß, ftumm und blag. 

ränen fielen hinein unb glitten über bie 
Haut wie graue Perlen. i 


am Mefberg 


Sd) glaube...ja... 





> 





Nervos 


Bon Dr. med. Carl Braunwarth 


DXX OX OX OOO OO II III nn 






Irre S gibt nicht viel Begriffe, die, je 
INS nadjbem man fie auffaßt, weniger 
SS ye jagen ober auch jchwerer wiegen 
SI als das Wort „nervös“ — das 
= jo oft vor bem Arete — 
los wird, weil die vermeintliche Nervoſität 
auf falſcher Vorſtellung beruht und vor der 
ärztlichen Aufklärung verfliegt wie die Spreu 
im Winde. 

Und doch iſt es nicht nur für den Arzt 
zum Beſten ſeiner Kranken ſehr notwendig, 
die Grundlage dieſer Nervoſität zu erkennen, 
ſondern aud für Juriften, Geiftlihe unb 
Erzieher. Mancher Miſſetäter läuft frei herum 
und begeht aus lauter „Nervofität” immer 
neue Schandtaten, und monder fibt Hinter 
Schloß und Riegel und gehörte ins Irren— 
haus. Bei vielen Kindern wird bie Unge- 

ogenbeit fürmlich gezüchtet und [heut man 
Lé vor Gtrafe, weil das Kind, ad), jo „ner: 
pis” ijt, und viele werden blau und grün 
gejdlagen ober mit Spott und Hohn über: 
gojjen, wo Mitleid am Plage ware. 

ábrend im allgemeinen das Wort „ners 
vis” nod) für ganz ver|djiebenartig zu be: 
urteilende Sujtánbe gebraucht wird, hat bie 
Wiſſenſchaft den Begriff mehr und mehr ein: 
geengt und zunächſt feitgeitellt, daß eine 
Gruppe auf Organfranfhetten beruht. Eine 
andere Art nervöjer Zujtinde ijt im Gegens 
jag hierzu Jicher nicht in fórperlidjer Er: 
trantung begründet, jondern rein im Mor: 
ftellungsleben, alfo feelijd) bedingt. Won 
einer dritten Gruppe fennt man zwar Die 
Urjadhe und Art der Störung nod nicht, 
bod) ift nad) dem ganzen Berlauf anzuneh: 
men, daß fie ebenfalls | tórperlidjen frant: 
haften Vorgängen beruht, ohne daß wir 
dieje [Hon nachweijen tónnten. 

Das Bild der landláiufigen Nervofität 
wechjelt nicht nur bet per|d)iebenen Men— 
Iden, fondern bei ein und bemielben in 
bunter Folge. Manchmal glaubt man einen 

ana anderen Menjchen vor jid) zu jehen, fo 
Paben leine Bejchwerden, fo bat fein ganzes 
Befinden gewechlelt. Bei einem anderen ijt 
die Nervolität wie eine Hydra, bei der 
immer neue AME wadjen, wenn man pue 
[id einen abgejichlagen bat, Da gibt es 
„Nervöſe“, bie können wie bie Dtenjchen ber 
SRenaillance weinen über ein Gedicht und 
feiner Fliege was zuleide tun und bod) falten 
Blutes einen Widerjacher opfern, ja töten. 
Und Peer Gynt-Naturen gibt es, die nur 
in Bhantafien leben, in geijtreichelnder e 
ftapelet fic) als Prophet fühlen, und in 
unbeimlidjer Gewijjenlofigteit Das Leben 
und felbft den Tod meijtern. Ein anderer 
„Nervöjer“ möchte am liebften fic) und 
bie Welt vergiften, und ba ibm zu beidem 
Mut und Möglichkeit fehlen, poltert er 





bald über die Cdjledjtigleit der Welt im 
allgemeinen, bald weint er über feine eigene 
Unzulänglichfeit im bejonderen. Und dabei 
it er ein fleißiger, gejchäßter Arbeiter, ber 
voll und ganz jeinen Dann ftellt und dem 
die Welt gar nichts getan hat. Wieder ein 
anderer aber fiebt alles rot in rot, möchte 
und fann angeblich alles und Ieijtet nichts, 
ift aber immer vevgniigter Stimmung, progt 
mit feiner Tatfraft, jo unjfrudtbar fie iit, 
und |dimpft auf die Unzulänglichkeit ber ans 
deren, die ihre Erfolge nur weiß Gott welcher 
Ungerechtigkeit verdanken. Noch einer hat 
Meinen und Laden in einem Sädchen, wie 
ein Kind, ſchafft auBerorbentlidje Werte, 
wenn er muß, und bringt nichts ¿uftande, 
fid) felbft überlajjen. 

Viele Ctarrfópje rennen bewußt in ihr 
Unglüd, bloß weil ihre bejjere Einficht von 
dem Zuftande ihrer Nerven unterdrüdt wird, 
und find jelbjt unglüdlid) darüber. Und 
mander Nervenihwädhling weint über jede 
riibrjelige Gejchichte zu feinem eigenen Jrger. 
Der eine zittert aus Nervolität an allen Glies 
dern, der andere ftottert, wieder ein anderer 
zählt awangsmäßig bie Fenfter bes Haufes 
gegenüber oder die Treppenftufen oder rennt 
um Brieffaften zurüd, um zu jeben, ob der 

rief nicht nebenher gefallen ift, den er ges 
rade eingeworfen hatte. Unter den all: 
gemeinen Begriff „Nervofität“ rechnen ferner 
das Gefichtszuden, die verjdiedenen Arten 
von Angſt wie Plaßangit, Menichenichen, 
Angft vor der Polizei trog tadellojem Staats: 
bürgertum ujw. Lähmungen Tonnen nervös 
fein und Stummbeit wie Taubheit, leichte 
Erregbarteit wie Phlegma, Berftopfung wie 
Durdfall, Salaflofigteit und Schlafſucht, 
Erjhwerung und CErleidterung des Ge: 
bantenablaujs, Krämpfe, Exaltiertheit, Apa: 
thie, Enthufiasmiertheit und Banaujentum, 
Pedanterte und allzu großzügigeleranlagung, 
e tae Unter: und Úbererregbarteit, 

Ifobolismuis und Abjtinenz, übergroße Pier 
tät wie Lieblofigfeit und alle möglichen Gee 
genjäglichfeiten und jonjtigen Ericheinungen, 
die alle und genauer aufzuführen — 
iſt und auch gar nicht angebracht. Es liegt 
ſonſt die Gefahr vor, daß an manchem ners 
vos veranlagten Lefer einzelne der Krant: 
heitsbilder in die Erjcheinung treten. Denn 
es ijt ein Zeichen von „Nervojität“, daß fid) 
leicht irgendwelche franthaften Symptome, 
die man gelejen, gehört oder gejehen bat, 
einitellen. DE glauben fajt alle Medizin» 
ftudenten im Laufe ihres Studiums — 
alle Krankheiten nacheinander zu haben, die 
ſie ſehen und die ihnen vorgetragen werden. 
Man kann ſo gut wie alle äußeren at 
von Krankheit fozufagen nachäffen. a, 
mehr nod, fie tann auch die Krankheiten 


Dr. med. Carl Braunwarth: Nervös BSSsssssd 511 


jelbft begiinftigen. Go ijt es eine befannte 
Erjdeinung, Daß man eine Krankheit, die 
man fürdjet und von der man viel redet, 
auch leicht befommt. 

— — und Übertreibung ijt rein 
nad) den äußeren Erjcheinungsformen bes 
tradtet, bas eine Mertmal der „Nervojis 
tat”. Ein anderes Merfmal ijt ber jábe 
Medjel: Da fommt einer abgejpannt und 
verärgert nad) Hauje, nahdem er womög- 
lid) don während der vorhergehenden Nad)t 
na geihlafen Hatte. Cr glaubt vor 

fibigfett. umſinken zu müffen und hat nicht 
einmal Appetit. Da befommt er irgendeine 
erfreuliche Nachricht, und alle Müdigkeit ijt 
verjhwunden, und in freudigiter Stimmung 
tann er nod) eine zweite Nacht durchwachen. 
Leichter nod) jchlägt feine gehobene Stim: 
mung ins Gegenteil um. Aud jonft ijt der 
leichte Wechjel ber nervöjen Symptome eine 
häufige Ericheinung. Heute find es Be: 
brüdtbeit und bleierner Cdjaf, morgen 
Schmerzen, dann Herzbeſchwerden, Angjt: 
zujtände ujw. 

Manhem Lefer wird aufgefallen fein, 
daß viele ber genannten, oft als „nervös“ 
angelprochenen Erjdeinungen mit bem Cha: 
rafter zujammenhängen. Jn der Tat geht 
aud) eine ärztliche Schule foweit, zu be: 
haupten, alle Nervofitát (im, wie [pater 

ezeigt, [tart eingeengten Begriff) fet ſozu— 

aes ftart betonte Charafterveranlagung. 
Wir werden fpdter jehen, daß dieje Auf: 
fajjung viel Richtiges bat. 

Wenn wir nun zu den willenjchaftlich er: 
forjdten inneren Mr spen Dellen, was ſchlecht— 
bin met als „nervös“ bezeichnet wird, über: 

eben, jo find zunächſt drei Ergebnilje ber 
Going von grundlegender Bedeutung: 
ie Zatladje ber fogenannten inneren Ab: 
jcheidung, die Abhängigkeit ,nervójer” Stö— 
rungen von Gehirn: und Riidenmartsfranfs 
SCH und der mit auf die Welt en 

eranlagung, und ſchließlich die Miöglichkeit 
rein auf faljden Borftelungen berubender 
tranthajfter Lebensáuferung. Die erftere be: 
ruht: Darauf, daß wohl alle briijigen Organe 
Des Körpers auger dem Gafte, den fie nad) 
außen abjcheiden (wie die Leber bie Galle, 
bie Munddrüjen ben Gpeichel, die Bauch» 
jpeicheldrüje einen WBerdauungsjaft ujw.), 
aud) einen Stoff erzeugen, ber ins Blut 
übergeht. Mit diejem verbreitet er fich im 
ganzen Körper und gelangt damit aud zu 
en Nerven und dem Gebirn, auf Die er 
in gang beftimmter Weile einwirft. Go 
reagiert 3. B. bas Nerveniyitem von Mens 
[den mit franfhaft arbeitender Schilddrüſe 
ganz anders als bas eines Menjchen mit 
DEE Organ. Die Mrt der veränderten 

eaftionsfabigfett hängt ab von der Art 
ber Grfrantung bes Organs, je nachdem ob 
zu viel oder zu wenig bes jpezifiichen Gaftes 
abgejondert wird: Das Nerveniyitem eines 
Menſchen, bejjen Schilddriije zu ftart funt- 
tioniert, reagiert leichter auf Reize, arbeitet 
fogujagen auch zu viel, fo daß der gejamte 


Stoffwedjelumjak, ber ja nur durd Ver: 
mittlung bes Mervenjyftents aujtanbe fonumt, 
teils zu rajd, teils zu ftart vor jid) geht. 
Daher find joldhe Menſchen met mager, 
ſchwitzen leicht, alle ihre Funktionen, bejon: 
ders die Verdauung und bie Herztätigfeit, 
find bejdleunigt. Geijtig find fie jehr reg: 
jam, leicht reigbar ujw. Umgekehrt find 
Krante mit verminderter Schilodrüjenfunfs 
tion geijtig träge, was bis zur Idiotie gehen 
tann; fórperlid) neigen fie zum Fettanlag ujw. 

Ferner find viele nervöje Störungen von 
nadweisbaren Grfranfungen des Gehirns, 
Riidenmarfs und der Nerven abhängig. 
Um bieles zu verftehen, muß man jid) vers 
gegenwärtigen, daß Gehirn, Riidenmarf und 
Nerven ein zujammenhängendes Gyjtem 
bilden, derart, daß Gehirn und Riidenmart 
ineinander übergehen und alle Nerven von 
dem einen ber beiden ihren Urjprung neb: 
men. Denn jeder Nerv ijt ber Fortjaß einer 
im Riidenmart oder e elegenen Zelle. 
Allein für jid, aljo ohne 3ujammenbang 
mit jenen, geht jeder Nerv zugrunde Er 
hat allo n nur feiner pee gl jondern 
aud) feine Jtahrquelle in jenen. Es ijt ba: 
nad) far, daß jid) nicht nur Erkrankungen 
der Nerven Jelbit, jondern auch des Rüden: 
marfs und Gehirns in frantbajter Funktion 
der Nerven äußern, wie fih Krankheiten 
einer ftilenden Mutter aud) oft an bem 
Kinde äußern, bas von ihr abhängig iit. 
So Tonnen allo Gehirn: und Riidenmartss 
tranfheiten fid unter dem Bilde einfacher 
„Nervofität“ verfteden, wie jid) Störungen 
auf einem Telephon: ober Telegraphenamt 
auch an den Leitungen und —— und 
Aufnahmeſtellen bemerkbar machen. Solchen 
aber ſind die Nerven mit ihren Endorganen 
in der Haut und den übrigen Sinnesorganen 
vergleichbar. 

Aber nicht nur im ſpäteren Leben er— 
worbene Krankheiten, ſondern auch die mit 
auf die Welt gebrachte verſchiedene Veran— 
lagung, die 3. T. auf verjdiedengradige Mus: 
bildung der einzelnen Gehirn: oder Riicens 
marfsteile oder auch der Nerven und der 
erwähnten Driijen zurüdzuführen find, Tom: 
nen Gr|djeinungen hervorrufen, die vielfach 
als nervös angejprochen werden. Denn 
wie der Körper feine Organe hat, bie vers 
[dieben gut angelegt und entwidelt fein 
tónnen, fo Bat aud) unjere Seele jozujagen 
ihre Organe, Fähigkeiten genannt, bie ver: 
[hieden gut angelegt fein können. Auch die 
Drüfen mit innerer Abjcheidung fönnen von 
Geburt an verjchieden gut entwidelt und 
angelegt fein, und fo verwidelt fih die Urs 
¡ade mancher Iervofitát nod) mehr. Wie 
es Menſchen gibt mit fehlenden oder ſchwach 
entwidelten Gliedern und Organen, jo gibt 
es welche mit ſchwachen Nerven und ſchwach 
entwidelten oder gar fehlenden Anlagen. 
Es ijf befannt, daß manche Menſchen bes 
fondere Talente auf einzelnen Gebieten zeigen 
unb auf anderen jehr jchwer lernen. Genau 
jo ijt es auf fittlihfem Gebiet. Und die 


512 EoesSssscesessey Dr. med. Carl Sraunwarth: Wees 


Nerven mancher Menfchen reagieren außer» 
ordentlich viel leichter auf diejelben Reize als 
die anderer, Vielfach bezeichnet man Wrens 
Iden, denen irgendeine Begabung fehlt, fei 
es auf finnlidem, fittlidem oder fonftigem 
geiftigen Gebiet, als „geiltig mindermertig”. 
ies ift in feiner Berallgemeinerung auf den 
ganzen Menſchen durchaus verfehrt. Nicht 
der Menſch ijt geijtig minderwertig, fonder nur 
eine oder Die andere Fabigfeit. Im ganzen 
genommen tann er fogar geijtig ftart „höher: 
wertig” fein. Dies fommt einem aud) auf 
Beobabtungsftationen auf Beiltes: und Jer: 
venfranfheiten dauernd zum Bewußtjein. 
Und betrachten wir das ganze Heer unjerer 
Künftler, Staatsmänner, Dichter ujw., bie 
Pirgte nicht ausgenommen: cine überrajchend 
grobe Zahl rechnet zu den angeblich „geiltig 
inderwertigen”; fie haben ihre Schrullen, 
Eigenheiten und Unfábigteiten, und felbft 
Goethe und Bismard verlieren unter ber 
ploditatrijden Lupe ihre Vollkommenheit. 

Die per|djtebene Veranlagung findet fih 
auch oft auf denjelben (Gebieten, je nad) Ur: 
jahe. Co find oft die bei gewijjen Urjaden 
* und energieloſeſten Nervenſchwächlinge 

ei anderen Urſachen von erſtaunlicher Zähig— 
keit. Da regen ſich viele bei oft ganz ge— 
ringfügigen Anläſſen auf und in ſehr ge— 
fährlichen Lagen ſind ſie völlig ruhig. Aus 
Liebe werden manche zu Verbrechern wie zu 
Helden, die ſonſt weder zu dem einen noch 
dem anderen Veranlagung hatten, weil die 
Hemmungen jeitens ber RNerven verſagten. 
Und daß vielfach ganz gegenjablide Ver: 
anlagungen bet ein und demjelben bet Aus» 
eet: ber Nerventätigkeit febr ftart in 

ie Erſcheinung treten können, ijt eine alltág: 
liche Erjheinung: nahe beieinander wohnen 
Liebe und Haß, Heldentum und Feigheit, 
Größe unb Laderlidfeit und fonftige Gegen: 
jäglichleiten bet vielen, die ihre Nerven nicht 
im Baum haben. Bet vielen wohnen jo zwei 
Geelen in einer Bruft. 

Vererbung und Erziehung (in weiteftem 
Sinne gefaßt) beftimmen allein den Wiens 
Iden, Gerade auf nervójem Gebiete ijt die 
Tragil ber Vererbung wie die Bedeutung 
der Erziehung weittragend wie auf feinem 
anderen Gebiete, fo weittragend, daß ftreng 

enommen nur joIdje Menjchen Kinder zeugen 
ollten, bie, fórperlid) und geijtig gejund, jid) 
ihrer Pflicht als Erzieher bewußt find und 
— bie Fähigkeit dazu haben. Die Kinder: 
eiweg: jollte mit Rüdliht auf die Vers 
erbung mit der Gelbiterziehung der Eltern 
beginnen, indem diefe alles unterlaffen, was 
bie Entwidlung der Kinder ungünftig be: 
einflujjen finnte und in allem fo leben, daß 
die Kinder an ihnen das volltommenjte Bei: 
ipiel haben. 

Cs ift [bon erwähnt, daß viele anjchei- 
nenden und angeblichen ,nervójen” Sym: 
ptome im Gbaratter und der Veranlagung 
begründet find. Dies tritt Jhon beim Kind 
in bie Ericheinung. Wenn die Veranlagung 
jebr ftart ausgejproden ijt, [o madt das 


Rind oft einen „nervöjen“ Eindrud. Die 
nervöjen Zeichen äußern fih entweder mehr 
in der Art bes ſanguiniſchen ober dolerijden, 
melandjolildjen ober phlegmatijden Charat: 
ters. Gahe der Eltern und Erzieher ijt es, 
ba zu dämpfen und zu zügeln, dort zu 
weden und anzuregen. Man darf nie die 
Kinder von der eigenen Veranlagung aus 
beurteilen oder erziehen wollen, jondern von 
ihrer. Manches Kind ijt febr ungeduldig, 
wenn es nicht rechtzeitig feine ah e oder 
bie Bruft befommt, was fic im reien 
äußert, unb gibt aud) fonft unverkennbar 
tráftige Willensmeinungen von fi. Andere 
find im Gegenja dazu auffallend ruhig und 
geduldig. Die erftere Art von Kindern gilt 
vielfach als „nervös“, troßdem es [id) nur 
um bie erjten Anzeichen ihres künfti 
janguinijden Temperamentes handelt; Die 
legteren gelten als ec „brav“ und 
find in vielen Fällen |páter geiftig träge 
und von Temperament pblegmatijd — Ers 
jheinungen, die vielfach aud wieder als 
„nervös“ ange|prodjen werden. Auch im 
Ipáteren Alter ift eine Unterjcheidung zwi» 
ien Temperament und „Nervofität“ oft 
u^ möglich. 
uch wird eine Veranlagung, die noch 

als Ausfluß des Charakters angeſprochen 
werden muß, oft erft in ſpäterem Ulter aus» 
gejprodjen „nervös“, zeigt aber immer nod) 
bie nrjpriüinglidjen Eharattermertmale, Dr 
diejem alle famen Gründe dazu, bie bie 
Veranlagung in ber ihr einmal gegebenen 
Richtung verftärkten, |o dağ fie lie lich 
einen wirklich frankthaften Eindrud machen, 
indem der betreffende Träger dann in der 
einen oder anderen NWichtung nicht mehr 
Herr feiner Nerven e Golde Gründe find 
zunächſt einmal: vielleicht eine gewijje Ab» 
nußung, dann aber aid) irgendeine innere 
Swielpáltigteit. Da fieht einer, daß er trog 
aller Arbeit jein Ziel nicht erreicht, dort 
reichen bie Mittel nicht, um leben zu Zonen, 
wie man möchte; bei einem anderen find es 
ebelidje Zerwürfnilje und bei wieder einem 
anderen irgendein anderer Gegenjat gwijden 
Erftrebtem und Erreichtem oder Können, und 
Wollen. 

Der legte Gegenlaß Ka uns auf eine 
vielfad) angejchuldigte Urſache: bie liber 
arbeitung. An und für fic ijt Überarbeitung 
ewiß ein Grund für nervöje Erjchöpfung. 
Wher allen, die ihre Nervolität auf fibers 
arbeitung zurückführen, fet es gejagt, daß fie 
als alleinige Urjache nervöjer e KK Jo 
außerordentlich felten ift, dab fie profi 
laum in Frage fommt. Es fol damit nicht 
gejagt werden, daß man ungeftraft fein Leben 
lang ein reines YWrbeitstier fein Tonne und 
jole ohne Erholung und andere Anregung. 
Im Gegenteil find ſolche zur Borbeugung 
und Erhaltung eines langen Lebens unbe: 
dingt notwendig. Es ijt aber eritaunlich, 
wieviel der Menſch, und jeder Menſch, leiften 
tann, wenn er in einer thm zujagenden, feinen 
yábigleiten entjprechenden, erfolgreichen 


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Das Goethehaus in Weimar, 
von der Uderwand aus gejehen 


Gemälde von 
Alle Meyn 


GC e ‘Das Vielen her tea 
hung Beflebt mi 


nerds mid. 
‚beiten Daran merien, mie Wien i i ies ge n 


| Ir Sher nepos. emt — 


E ud equ s lu abel noc 
i a e — einen. E einen hog 


2 St ee 
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a n geichlafen. haben, has 1t iu. 


e auf ihr tórpeci 
! on jeinem Befinden ausgehend kann tein 
mn & Ste Hace | * Sat. SS? * Bb. 





dë DEE — Va holaa Se EE 


SE la: pida at Bewegung, menn. 
| bensweile gesmüngen if, 
für deniers f erlie Ruhe, wenn feine | 
Tatigteit eine ile. tórpertide i 





t in ber Mebeit, ſondern 
Parit. bab mentgitens einer Der. ‚eben ges 
-nannten Amftänte, fehlt: Meiſt find es aber 

mehrere for Sc Unt dazu führten vielfad aus 
: Suede viel arbeiten müjfen, um ans. 
| [iss | Me — au erhalten, ihrem t 
! Té ext ift e mie. Steel, ` 
Tee, — ns n, umb gönnen ihrem 


oo Stárper. nicht die. Së Rube, Oder andere 
o ehen Temen Erfolg, Pen fa ber Virbeit 
Dëst genae. ta, alles 


mitände, pie 
[Pas Schäblirhe ber „logenanntenr über 
arema, verurja aer, Go gut wie nie ifi 
és on Sie Arbeit an unb für N ME 
Das Tonn jeder and” 





| anjen verſcc wunden it, menm 


| an rengende. Arbeit i ren verkienten "otn 


| betomnt, enia bon, taf wenig 
ER Urbeit mit — ander di conis weit | 


- unb me Jr nad vas: 


o v "Me 9ibsgánatateit di a fie Be: 
FA, E E e pe s it: w 


geſtellt bağ ber ` 


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Ke dr Bien als Mrs rud Ze 
3E — í z 
und — — Des 

ev Seele, Denit 











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po — ofjembart , Po om KEE Wehe me 


co Buie und „talte Sünde — warmes Herz” 
Si gu Gemüt) bride vas Sprihwert der 
.  Sesiehungen ` Aiden Biutverteilung und 
. Bemälsberfaflung ous. Wlan frage unnore 
der Mo deme Madibarn, was eme Wendel: 


id mas lompatt fel, umb hie mteijten ` 


treppen 
a — ihre Ertlärung ‚mit einer enifprechen» 

‚ben: Nod Und nod an einem | 
et ef mag die Bedeutung viejer ` 





 mtefttäiden Belip 
H D ämgi teit Des D perli nbens von ` 
i Em bem Gein n daa iin 


iR Dargetan werben: Ap. 
es Menjdjen, bie geben um neun Uhr. 
` "99 Seth, liegen darin bis wieder nenti ober 
kn) gar Les N und Pen. bi noch gwei 
DU oetan pnimen zum Misté nna 
UE CH en über r Guat, e be (GËT befteht, ` 
2S ha ie oft mad) würben tind mergens wie 

ur Men Denen fan man muc ente 

pone mag man midis BEE mb 
GE at eiert ärt e OO a d 
la ge en mie man Hi ele 
— alle eier "ber alle 


| — Wal en. Dah fie zwiſchen allen 


tun ben unb. lo:  piefleid)t: de Als gemi | 

E ihr Bewubtlein - 

nicht el en de en unb bleibt fai Din up 
es MWohlbefinten. ` 


— fiberarbeis i 


— verweilen. 





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“Ment wi — ſch ober tör Erik 
Don wi Ten — ee mr E 
törperlichen. Buüamb ber Or — 
 fonbern | — DR eg, o v 
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Juit Don bem 
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tänden, bag he, wie es lo. nielfady eit M 4 d | 


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Polat ie begründet fein fönnen, ' 


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Zommen, auf, n fe 


Ste aber. gar feinem Grund mehr nr 


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le geheilt worden, tardy bie rinja 


tegning, vag He nicht mer. — Er Get ER 


Zeiten ausgeleht wirtden, die Die 


-xeruriudt hatten, - ‚Ben, "n Sie n nt SN 


An der erffew Bett erfolgte, oder gar mehrere 

Arzte & ejns an ine i ecumbettorten, wo 

E fick natürlich — denn bie xoenigiten un 
ünner Pies willen — ber ST fell, Dag 

e Erkrankung hod ni 

T Gifjred aser Erregung ei, 

müfe was. faputt in, wie man. Auf 

ët ` fe. Inbitna ‚oder. beier un 

Ex e Annahme unterhielt dann bit (Eve 


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heinungen ener. Gin weiteres Beil J 


t bas Entitehen rein eeliſcher Rranth Së 
jt Dies: Remand leidet lange Zeit pidor 
‚an einem langwierigen Magenleiden, Mehr⸗ 


ud mufite er jhon Diätfehler ober leichte S 
Bfüblnngen mit: Rerihlimmerung hüben. ` 


Sneak miro er immer üneftlicher, amtet 
Torafaltia at, fi und vermeidet Tieber eine 
mög Ai Schäplichteit. guviel, 

meanſches permeiden,. was rm 
teftitellen, — 


mdjting wird er manies an fid) 


was ibm früher nicht aufgefallen war — < ——— 

bünbem mar — nnb — DEREN 
‚wird. ee deshalb als frantbak ewerten. 
Dam er fanm ja nicht willen, ob die Go — 


Jropbem es genou fogo 


Torna. mod normal ig ober mit, Über 


wher Hr er, um enblid fern Leiden losHis 5 s 
heilt dice gome — 0 

bent Arontheitsneriditer if Mor 

— geworben, ber jebe feine ` o, 


werben, jü vor] dig. So f 
Bus, uber ans 
gin 


heitsgemöß amb edi bis tynt anfiebt: 
‚er at aum. EECH anten" geworpen: 


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her — fann wirkuch wot EE 
bedingte Qunénen 0 070 
olhe SE ve per. fonder. mitti Hs EA 
Geer .uübegrüsbeb o 
— — eis Ge 





‚aber ohne SC E 





bie Haznrette = = 
«Temen oder gar. jet tod haben unb. Ce oe 


Reaktion = Pe 


So mid er ` Im 
> utente: 
‚wäre, limb burd) die pois SCENE SE 


unbe amie ober unangenehme rſch ` AE 
zuerſt abſichtlich und tert. ipäter Bob ANS 


514 Dr. med. Carl Braunwarth: Nervös 


Weld) große Rolle jpielen bie Gewohnheit 
und bie Guggejtion! Wenn man monate: 
lang fein Mittagsichläfchen gehalten bat, fo 
wird man täglich zur bejtimmten Zeit müde, 
ob mit ober ohne wirtlihen Grund zur 
Müdigkeit; ber Magen verlangt aur ge: 
wohnten Zeit fein gewohntes Mah an Fiils 
lung, ob der Körper Bedarf an Nahrung 
bat oder nicht; zur Gewohnheit wird uns 
Das ganze Leben, und Bewohntes vermijjen, 
madjt uns trant. 

Und gar die Suggeftion! Man tann ohne 
Übertreibung fagen, daß bie Lebensáupe: 
rungen zur Hälfte körperlicher Natur find, 
zu einem Siertel Gewohnheit und zum 
anderen Biertel auf Guggeftion beruhen, 
Suggejlion begründet die ganze Mtode, den 
grópten Teil aller Kunſt- unb jonjtigen Be: 

eilterung, und ein gut Teil unjerer an: 
Pheinend jo höchſt perjonliden Lebensan= 
Ihauungen. Die Guggejtion ijt die mádjtigite 
Beherricherin der Maſſen, die Triebfraft und 
Erklärung für jo manches Verbrechen und 
jo mandes Sjelbentum, ja die Grundlage 
unjerer Erziehung und fajt unjerer ganzen 
Lebensführung. Denn was ijt Suggeftion ? 
Gie ijt Erwedung von Gefühlen fettens des 
Guggerierenden bei einem Menjchen mit 
eingeengter Rritif. Mer fritiflos die Mode 
mitmadt, wird von der Sucht, immer „mo: 
bern" zu fein, fo beberr|djt, daß er alles 
ohne Rritif ſchön findet, was die Mode bringt. 
Wer in einem Konzert, einem Vortrag, einem 
Theaterjtüd in Begeilterung gerät, in dem 
erwedt das Gebórte oder aud) der Beifall 
jeiner Umgebung |o mächtig jeine Gefühle, 
daß feine Rritil gunddjt jdweigt. Der 
Diplomat, Politifer und Demagoge nubt 
mehr ober weniger gejdjidt eine Gemiits- 
ftimmung aus, engt fo die Rritil ein, um 
eine feinen Zweden förderliche Entichließung 
oder Tat zu erzielen. Wie mit magnetijcher 
Kraft ziehen Ideale wie irdiſche Güter an, 
verblenden oft bie normale Geiltesverfaj: 
jung und lajjen den einen zum Helden, den 
- andern zum Berbreder werden. 

Alles, was in unjerem Unterbewußtfein 
lebt, tann gelegentlid) gewedt werden. 

Go fann auch bei jedem Menſchen bie 
Erinnerung an irgendein Leiden, von dem 
er jemals jah oder hörte, aus feinem 
Unterbewußtjein durd eine Gelegenbeits: 
urjadje auftauchen, aber faft immer gefäljcht 
und verzerrt und in faljcher Beziehung. Mer 
nie von Rückenmarksſchwindſucht hörte oder 
las, tann jid) nie „einbilden“, er hätte eine. 
Wer aber je überhaupt etwas von Krant- 
beit erfuhr, ijt nie ficher, daß aus feinem 
Unterbewußtjein heraus jid) nicht ber Ge: 
dante fejtjegt, an einem Leiden erkrankt zu 
fein, Dellen Symptome, wenn aud nod) jo 
entfernt, Ahnlichkeit haben mit bem Gebórten 
oder Gejehenen. Denn fein Menjd fann 
genau alle Symptome aller Krankheiten 
tennen, joweit ijt fein Arzt durchgebildet. 
Ja, bie Tragif oder Komödie will es, daß 
gerade die Ärzte und Krantenpflegerinnen 


EE 


der faljdjen Deutung Durch ihr Unterbewußt: 
jein gujammen mit ber Suggeftion ziemlich 
ftart ausgejebt find und einen großen Anteil 
zu den ,eingebilbet" Rranfen Pellen. weil 
lie den größten Vorrat Krankheitsbilder im 
Unterbewußtjein mit jich ne 

Ziele Gntjtebungsart pjydijder, oft aber 
als phyliih angejprodener Leiden bildet 
das ejen ber fogenannten „Hyſterie“. 
Dies Si an und für [id) ein ganz unmög: 
SC ort, und zwar in |pradjlidjer wie 
inhaltlicher lg f. Es ift abgeleitet von 
dem griedijden Wort ,hysterra'', was auf 
beut|d) bie Gebärmutter bedeutet. Es be: 
deutet aljo etwas, was mit der Gebärmutter 
aufammenbángt. Wie faljch bas ijt, bat der 
Krieg zur Genüge bewiejen, ber vielleicht 
mehr „hyſteriſche“ Männer ans Tageslicht 
gebradt bat, als es jeither Frauen mit jener 

iagnoje gegeben hat. Vian bradjte wohl 
einft bte Krankheit mit bem genannten Organ 
in Verbindung, weil man fie bejonders 
häufig bei älteren Tungfrauen Re 
glaubte. Wir wijjen aber heute, daß der 
ältere Sjunggelelle — ob mit oder ohne 
nn te athe — wie bie verheiratete Frau 
und der verheiratete Mann ebenjo Hyfterijch 
jein und werden-fónnen. Wenn ein Fünf: 
chen Richtiges an jener vermeintlichen Felt: 
itellung ijt, fo bódftens dies: daß man 
bei älteren Jungfrauen vielleicht bejonders 
häufig ein inbaltlofes, zwedlojes Leben an= 
trifft — und viel weniger häufig, als die 
moderne Literatur annimmt, jexuelle Unbe: 
friedigtbeit. 

Es Tann nidt genug betont werden — 
und damit fommen wir zum Abjchnitt „Be= 
Ren ber Nervolität” — Daß jexuelle 

nthaltjamfeit an unb für jid) nod) feinem 
Menſchen etwas geldjabet hat. Was viele 
Abftinente „hyſteriſch“ macht, ijt ein innerer 

wielpalt. Wellen Phantafte dauernd durch 

djaujtellungen, Leftiire, Unterhaltung und 
Grübeln angeregt wird und wer nicht für ge» 
nügend Ablentung und genügend Gtoff: 
wechſelumſatz durd) Bewegung jorgt, der wird 
ein Spielball feiner Ginnlidjfeit. Es tft un: 
verzeiblid) von einer gewij en Richtung der 
modernen Forihung, dak immer nur im bie 
Welt hinauspojaunt wird, daß der Menſch das 
bódjftentmidelte (ja oft nicht einmal bieles) 
Tier, und alles an ihm PRIM Funktion 
und mithin auch ſein Sexualtrieb ein Dod 
natürlicher Antrieb zur Ableitung gebildeter 
Stoffe Jet. Darüber wird ganz verjchwiegen, 
wie hochgradig der Trieb abgeſchwächt, ja 
ausgegliden werden fann burd) bie innere 
fittliche Stellung des Menjen Dazu, durch 
feine Meltauifafjuna, durch tórperlime Be: 
tátigungen. Uber davon weiß diefe „wiſſen⸗ 
ida Wée: Richtung in ihrer Ginjeitigteit 
und Aurzlichtigfeit nichts oder will nichts 
wiſſen. enn wenn man ſieht, wie ſogar 
der Film in den jener einſeitigen 
„Aufklärung“ geſtellt wird, ſo kann man 
ſich eines gewiſſen Verdachtes nicht erwehren. 

Das eben Ausgeführte gibt zuſammen 


HEEE R. M. Schiller: 


mit bem über die Grundlage nervöfer Leiden 
Gejagten auch einen Hinweis auf die einzi 
richtige Behandlung „Nervöſer“. Zunädlt 
gilt es feitzuitellen, ob die „Nervofität“ rein 
ſeeliſch ijt, oder ob ihr etwa eine körperliche 
Griranfumg von Gehirn ober Riidenmart, 
oder ber Driijen mit innerer Abfcheidung 
oder etwa eine fehlerhafte angeborene An: 
(age zugrunde legt. In manchen der letzteren 
Fälle fann man burg Meditamente oder fons 
ftige ärztliche Behandlung belfend eingreifen. 
Syene Feltitellung fann aber nur Sade eines 
erfahrenen Arztes fein. Ift es aber eine 
Ertrantung jeelijdjer Natur, fo tritt Die 
törperlich wirfende Behandlung ganz in ben 
intergrund. Man wird ihrer nicht entraten 
Ünnen, denn die Bejchwerden der Patienten 
äußern jid) ja vorzugsweije körperlich, und 
man muß oft bas ganze NRüjtzeug nerven: 
ärztliher Sunft zu Hilfe nehmen, um die 
törperlichen Bejchwerden infoweit zu lindern, 
daß die Hauptbehandlung, die nur feelijd 
fein fann, überhaupt erft wirken fann. Uber 
es wäre Pfufchwert, an einem feeliich Ner- 
vöjen bloß mit Elektrizität und Mittelchen 
ee ohne die Urjache ne 
e) eine faljde Borjtellung, eine faljde 
Anſicht im Gehirn wirft aber fein Brom 
und fein Morphium, jonbern einzig und allein 
Richtigitellung jener faljchen ſeeliſchen Gin: 
ftellung. Biele Fehler werden hier nod von 
Yirgten gemacht, was Diagnofe anlangt, aber 
sehr nod) von der Unvernunft der guten 
Bene und Verwandten und der ganzen 
aienwelt. Eine faljche Borftellung, eine 
falige Mteinung tann nur dadurch bejeitigt 
werden, daß man die Überzeugung von der 
$Berfebrtbeit beibringt. Und mit der Urjache 
werden aud) bie Wirkungen verjchwinden. 
Wenn alfo ein Arzt fid) in diefer Richtung 
bemüht, jet es durch Mort oder —— 
ewiſſer oft nicht ganz angenehmer Mittel, 
fo darf ibm nicht feine Arbeit baburd) er: 
ichwert werden, dak in bem Kranten von 
anderer Geite wieder bie faljdje Vorftellung 
perjtárft wird. Und wenn die ärztliche Be- 
handlung darauf hinzielt, den Kranten dazu 
fu erziehen, gewille Bejchwerden zu vernad)s 
áffigen, ihnen feine Beabtung zu denten, 
jo darf nicht die Umgebung ibn bedauern 
und bemitleiben, weil dadurch eine faljche 
Borjtelung ja nur bejtárft wird. Im Gegen- 
teil muß die Umgebung des Kranten vers 


Erftes Begegnen ES333332339 515 


jtandig mitwirfen mit dem Arzt. Tas ih 
ür alle Beteiligten jehr jdjmer. Denn mei 
iit ber Krante derart von der forperlidjen 
Art feines Leidens überzeugt, baB er es oft 
als eine Beleidigung empfindet, fie ihm aus: 
reden zu wollen, und man darf als Arzt 
wie als Menſch es nod) faum wagen, jemand 
au jagen: „Sie find Hyiterijch“, trogdem dies 
eine Ertrantung ijt, genau wie eine Rungen: 
entzündung. Und gar die Behandlung, die 
—— auf die mannigfaltigen Be— 
ſchwerden, deren Unbegründetheit ja bar: 
getan werden ſoll, wenig Rückſicht nehmen 
darf, gibt oft den Anlaß zu Vorwürfen über 
Liebloſigkeit und Härte. Und es liegt eine 
ewiſſe Tragik darin, daß ſo viele ſolcher 
tranten niht geſund werden können, weil 
die Angehörigen nicht die nötige „liebevolle 
Strenge und Vernachläſſigung“ aufbringen 
tónnen. Entweder find fie zu liebevoll und 
beftárten dDadurd den Kranten in feiner 
falihen Vorftellung, oder zu rüdjichtslos und 
dë und ziehen fih Dadurch Vorwürfe oder 
eindjchaft zu. Oft ift dann ber Arzt ge: 
gwungen, als fozufagen leßtes Mittel Die 
Sypnoje anzuwenden, was nur gejdeben 
jollte, wenn bie anderen Mittel weniger 
uten Erfolg verjpreden ober aus obigen 
chwierigen Verbáltniffen. Denn fie will bem 
Kranten in feinem Zujtand der gefteigerten 
Guggeftionsfabigteit bie Überzeugung beis 
bringen, daß feine Leiden nur feeliide feiten. 
Cie nubt zu diejem Zwede bie Suggeftion 
aus, bringt in der Hypnoje den Kranten zu. 
der Tätigkeit, die er n leiften zu Tonnen 
vermeint, oder beruhigt Aufregungszuftände 
und nugt dann den Zuftand der erhöhten 
Guggeltionsfähigfeit aus, um ihm jogujagen 
bie Grundlojigfeit feiner Annahme nachzu— 
weijen. 

Bertrauen zum Arzt ijt alfo die Grund: 
bedingung der Heilung. Wenn der Krante 
von vornherein bem Arzt nicht glaubt, ijt 
all deffen Mühe vergeblih. Befteht aber 
das Vertrauen, dann gibt gerade die pſychiſche 
Beeinflufjung — und niht bloß die Hypnoje 
— mit bie jchönften Heilerfolge. Tyreilich 
muß ber Krante eifrig mithelfen, fremden 
Einflüffen fein Ohr verjchließen und den 
Mut haben, gejunb zu werden. Daran fehlt 
es aber oft. Die Behandlung jpielt hinüber in 
das Gebiet ber Selbiterziehung und jo in 
das der Vorbeugung nervöfer Leiden. 


Ototototototototetotc S A E se 


Erftes Begegnen. Von Karl Martin Schiller 


Aufjubelte Mufik. Dein Arm 
Berührte meinen im 6ewühl: 
Da läutete mein ferz Alarm 
Wie eine Glocke im Geftühl. 


Umfonft! Es ftand von Tor zu Tor 
Die ganze Seele bald in Brand. 

Oft kommft du mir im Traum nod) por 
Mit einer Fackel in der Hand. 


OOOO OOOO 0/00 0 00 ee 0'900 00'000) 0 00 900,000 0,0000 © ee 0 +; 
g4* 


Dom Schreibtifch und aus der Werlſtatt 


ADAGIO 


Deutihe Kunſtabende 
Non Geh. Regierungsrat Dr. Wilhelm Scellberg 


E ee e e 
poro) m veriloffenen Winter [huf Brofeffor 

: Dr. Hermann Reih eine E das 
Runjtleben Berlins wie für das 
deutjche Geiftesleben höchſt fórders 
fide, aufunftsreidje Einrichtung: 
bie deutjchen Runftabende, bie von einer 
immer zahlreicher werdenden Gemeinde eben» 
jo freudig begrüßt wurden wie von Der 
Kritik. 

Dieſe Kunſtabende, deren Darbietungen 
die Aufmerkſamkeit weiteſter Kreiſe verdienen, 
ſind erwachſen aus der Arbeitsgemeinſchaft 
für vergleichende Literaturgeſchichte, bie Hers 
mann Reih im Mai vorigen Jabres huf. 
In Ddiejer Arbeitsgemeinjchaft jammelte fich 
{hnel bie von jchöpferiichem Drang bewegte 
Jugend der Berliner Univerfitát: klaſſiſche 
Philologen und Germaniften, Angliften unb 
Romaniſten, Studierende ber Theaterwijjen: 
[haften wie DEG? Dramaturgen und 
junge Dichter. Unter fie warf ber Leiter 

en Gedanken ber deutſchen Runjtabende. 
Gie vg ee ihn mit Begeijterung auf und 
tellten fortan alle freie Zeit, die ihnen blieb, 
reudig in den Dienft des |djonen Unter: 
nehmens. Die Begeilterung und Weihe, die 
s aus Den großen Werfen unjerer deutjchen 
titeratur gejchöpft batten, hei wieder bin: 





ausjtrablen in die Herzen zahlreicher Männer, 
Frauen und der heranreifenden Jugend. In 
chwerer Zeit jollten dieje Abende der Deuts 
den Geele Troft und Gtártung bringen. 

Hermann Reihs Ruf als Gelehrter und 

Dichter verbürgte das Gelingen des Unter: 
nebmens, dem bald zahlreiche Perjönlich- 
leiten aus den Rreijen des Minifteriums für 
Wiſſenſchaft, Kunſt und Voltsbildung, der 
Univerlität, der Lehrerjchaft, der Runft, 
Literatur und Preſſe als fördernde Mit- 

lieder beitraten. Um befte Runft bei billig: 
Ken Preijen bieten und die teuren Diietjále 
meiden zu können, ficherte fid) Profeſſor Reid) 
ben Feſtſaal bes Franzöſiſchen Gymnafiums 
und des Wilhelms: Gymnaljiums. 

Wm 20. November ward ber erfte „deutſche 
&un|tabenb" eröffnet. Balladen unb Schwänte 
brachte er, gejprochen von Ferdinand Gregori 
(Seut|djes Theater). Alle Pláge waren 
lange vor der Eröffnung bejett, und nod) 
immer ftrómten neue Scharen herbei, Die 
notdürftig nur untergebrad)t werden konnten. 
Eine geiftig hochſtehende Zuhörerichaft war 
vereint, wie man fie jelten beijammen 
fiebt. In beadhtenswerten Ausführungen 
wandte (id) Hermann Reih an bie Verjam: 
melten: 

„Sie find Bier erjchienen, um die hohen 
Werke deutjcher Dichtung zu hören und Ihre 





Herzen zu erheben und fröhlich zu machen. 
Ihre Stimmung ift feftlid) und erwartungss» 
vol. Und dod ſchlummert auf bem Grunde 
unjerer aller Herzen Trauer, Sorge, Not 
und Qual. Cie fommen vom Bußtage ber 
und jchreiten hinüber zum Totenfonntag, und 
niemals wurden in Deutjchland jo viele beige 
Tränen geweint, Tränen um alle Toten des 
Krieges, Tränen um Deutſchlands Schmad) 
und Not, um alles verlorene Land und But, 
verloren felber Kleid und Brot. — Gie war 
[o ſchwer, die deutjche Klage. Die [d)retenbjte 
Gefahr aber ijt, daß in zehrender Not un: 
lere Seele ftirbt, unjres Voltes Seele — erft 
dann wären wir verloren ganz und gar. 

„Es gibt ein piel be|prodjenes Bud) vom 
Untergang bes Whendlandes. Da wird unter 
cheinbarer Wiffenjchaftlichkeit, mit ber Driene 

es allweijen Arztes am Bette eines tob: 
Fronten Patienten vorgerechnet, daß bie 
fauftilhe Seele alt geworden jet und nun 
eben fterben mülje, wie die Geelen früherer 
Kulturen gejtorben find. Unfer Vorzug fei, 
diefem Gterben, d. h. unjerem eigenen fee: 
Iden Sterben mit hellem, gelajjenem Bes 
wußtjein zuzufchauen. Welche müde, übers 
fluge Mersheit | Nein, bie faujtijde Seele 
wird niht fterben und am wenigiten bie 
deutjche Seele. Gerade die hillijcde Not, die 
heute wütet, bie ſchwachen Seelen nimmt fie 
hinweg ins Nirwana, aber die ftarten, glut= 
vollen Geelen wird fie nod) ftárter machen 
und Den neuen höheren Geelenmenjchen 
Ihaffen. Glauben wir feft an die diony: 
Wide Macht der Dinde, der Braut Dionyjos 
des Erlöjers, jo wird fie uns beglüden und 
befreien. Wir juchen das Land der Geele. 
Su ibm weijen uns die Großen unjerer 
beutjden Dichtung den [teilen Meg, fie tras 
gen die Schlüjjel zu ihm in ewigen Händen. 

„Nein, wir wollen nicht fa und müde 
die Hände in den Schoß legen und er: 
geben den Geelentod erwarten, aud) nicht im 
wilden Tanz, im irren Ginnentaumel, im 
Mohnblumentraum des Morphiums unjerm 
Untergang entgegenrajen. Wir folgen den 
lichten Heroen unferer beutjden Dichtung 
e ziehen froh unb feierlich ins 9teid) ber 

eele — 

„Und wenn un|re Armut fo groß ges 
worden ijt, daß den Geijtigen fih heute die 
Theater mit ihren unbezahlbaren Preijen pers 
Ichließen, wenn hohe Runjt und gute Bücher 
unerjchwinglich werden, jo bitten wir unjere 
großen Schaujpieler, ftatt dem Film und 
dem Kino und bem Mammon zu dienen 
und unjere Geelen nod) tiefer hinunter: 
zuzerren in Schlamm und Berblódung und 











BESSER Geh. Reg.. Rat Dr. W. Schellberg: Deutiche Runftabende [2:2:24231 517 


geiftigen Tod, vielmehr herunterzufteigen zu 
uns in ben Bortragsjaal und zu fpreden 
all das Hohe und Herrliche, das unjere alte 
unb neue Dichtung und Hunt burd)bebt. 
„Die Arbeitsgemeinjchaft für vergleichende 


Literaturwillenihaft an ber Univerjität Ber: ' 


lin ijt es, die dieje deutichen Runjtabende 
bietet für billigfte, voltstümliche Preije. 
In ihr haben fid) zahlreiche Studenten und 
Studentinnen aus allen pbifologijdjen Wij- 
lenidjajten, junge Doktoren und junge Dichter 
NEE ORDER Es gibt unter ihnen 

nbánger ber verjdiedenften politijden 
Ideale und Parteien, jelbjt ber extremften. 
Und bennod), fie arbeiten und forjden ¿us 
li — He wandern und jubeln gujammen, 
ie glauben und hoffen zulammen. Denn 
im hohen Dienjt der Seele, in neuer Wiljen- 
ibajt, bie das Geelenvolle, das Schöpfe— 
rildje, das Genialijche jucht, die sue machen 
will zum Leben md zur Tat, ſchwindet aller 
politijcher Streit, auf ben höchſten Ebenen 
der Geele ijt für politijdhen Haß fein 


aum. 

„Weil alfo die neue Arbeitsgemeinjchaft 
nur der Geele dient, möchte fie fih gerne 
bemühen, in diefen Kunſtabenden der deut- 
den Seele eine bleibende Stätte zu ſchaf— 
en — — —" ; 

Dann gab Reih eine furze erläuternde 
Überficht über die geplanten SBeranital: 
tungen des Winters und jchloß mit der 
Bitte an bie Anwejenden, fih zu einer Runjts 
gemeinde zujammenzujchließen und in tätiger 

nteilnayme mitzubelfen, daß hier ber Deut: 
[ten Seele eine jtille, grüne Inſel erjtebe 
mitten im GCdlammjtrome der Zeit, ein 
rechtes Hilligenlei — eine Aufforderung, die 
mit freudiger Zuftimmung begrüßt wurde, 
¡yerdinand Gregoris hohe Runft bot eine 
güle bejter deutjcher Balladen und Schwänte. 
Herder und Bürger, Schiller und Goethe, 
Uhland, Ctradjmt5, €. 5 Meyer, Fontane, 
Börries von Müncdhhaujen, Agnes Miegel 
famen zu tráftiger und Dod) jeelenvoller 
Daritellung. Gewaltig wirkte die tragijche 
Wucht der beutjdjen Ballade. Der Tragödie 
folgte bas Gatyripiel; die tragijche Stim: 
mung löfte fih freundlid im Humor bes 
deutiden Schwanfes, in der lujtigen Ge: 
ſchichte vom Schwaben, der bas Leberlein 
gefrejjen, und Der füjtfidjen Teftaments: 
eröffnung aus den Flegeljahren von Jean 

aul, it lautem Beifallsjubel danfte die 
uhörerſchaft. 

Der nächſte Abend war der Myſtik ge— 
weiht. Hermann Reich gab eine tiefgrün— 
dige Einführung. 

„Wir wollen uns von der myſtiſchen Gdjop: 
fung des 3SDtenidjengeid)fed)ts, von bes Buches 
Hiob jchwermütig troßiger Frage nad) der 
Gerechtigkeit Gottes, von der indijden Pty: 
ftit Buddhas, ber dionyfilchen, bie in Aſchy— 
los’ Prometheus [Hwingt, der Sjobannei|d)en 
mit ihren apofalyptijden Reitern und dem 
júngften Bericht und weiter durd) die mittel: 
alterliche Myſtik hindurchträumen bis zum 


erhabenen Schluß von Goethes Fauft und 
gu der modernen Myſtik. 

„Heute nad) der Menjchheit [Hwerftem Sün 
denfall, den gerade unfer armes deutjches 
Bolt am jchlimmften büken muß, ſchwingt 
eine ftarte religiöfe Stimmung durch Die 
Welt, und wieder werden alle großen Fragen 
bes Menjchenherzens wad). 

-* „Die hohe Men tif bas tiefjte tranfzendente 
Erlebnis der Geele, fteht hinter allen großen 
Religionen, fie ijt bas allen Gemeinjame 
und barum bas Berbindende, Berjöhnende. 
Aber id) tann unmöglich in bielen furzen 
Augenbliden von ber Vinftit aller Jahr: 
taujende, Völker, Zeiten und Zonen [predjem. . 
Sch greife ein großes Beijpiel heraus und 
rede von der dionyſiſchen Diyitit der Hels 
lenen, von ber Myſtik Dionyjos des Crs 
lójers. In diefem hohen Bilde wird Ihnen 
aud) alle andere Myſtik verftándlid werden. 

„Wer ijt num Diongjos? Was ift bios 
nyſiſche Myſtik? 

„Ich gebe Ihnen hier legte wiſſenſchaft— 
liche Entdeckungen, die am Schluſſe der Ar— 
beitsgemeinſchaft für vergleichende Literaturs 
wiſſenſchaft gemacht wurden. Aber ich gebe 
ſie abſichtlich höchſt einfach und ohne allen 
wiſſenſchaftlichen Prunk, ſo ſchwere Forſchung 
auch dahinter ſteht. 

„Hier muß id) Sie zunáchft an den Wns 
fang aller Religion führen, zur Urreligion 
des Yaubers, des DONOR ee Der 
einft gleichmäßig über alle Urvdlfer ber Erde 
verbreitet war, zur Mutter Erde: zu ur: 
álteften Mtyfterien, zum heiligen, magilch- 
ae Geheimnis längjt vergejjener 

eiten. 

„Seltjam ift im alten Sem die Feier 
dionyſiſcher Myſten. Dieje Dinfterien gingen 
gegen Ende des Winters vor dem (Einzug 
des — auf Berghalden vor ſich im 
Dunkel der Nacht, Fackeln glühten, lärmende 
Muſik erſcholl, ſchmetternder Schall eherner 
Becken, der veliti Donner großer Hand» 
paufen und dazwilchen der zum Wahnfinn 
lodende Klang tieftönender Flöten. Bon 
diejer wilden Muſik erregt tanzte mit gellens 
dem Jauchzen die Schar der Vinften. Gie 
toben, bis Gergiidung fie ergreift. Sie rufen 
Dionyjos dr den Gott des Frühlings, 
den Gemabl der blühenden Mutter Erde, 
der im falten Winter perjd)munben ijt, bin: 
unter in bie dunkle Unterwelt, zu ben toten 
Geelen, als deren Herr und Geelenführer. 
Und mit einemmal fühlen fie im verzüdten 
myſtiſchen Wahn: ber Gott ijt nah, ift da, 
leibhaftig fommt er durch) das Dunfel ber 
on zu ihnen hergelchritten. Und in wil: 
der Berziidung [treben die feiernden Myſten 
Dionylos zu, gut —— mit ihm. Die 
unio mystica beginnt. ‘Bloglid find fie ers 
lóft vom engen perjönlichen Gein mit jeiner 
Qual, das principium individuationis, das 
jelbjtilche Sein, ift aufgehoben, fie find er: 
löft vom Ih. Die Seele jprengt die enge 
Reibeskraft, fie ſchwingt fid) auf und per: 
einigt fic) mit der Gottheit, wird jelbjt zum 


. bis herab zur myſtiſchen Liebe 


518 Geh. Regierungsrat Dr. Wilhelm Schellberg: 


Gotte. Noh im irdifchen Gein fühlt fie die 
Fülle unendlicher göttlicher, die Welt — 
fahrender ſchöpferiſcher Urkraft, wird un[terb: 
lich, wird ſelig und eins mit Dionyſos, dem 
himmliſchen Gemahl der Mutter Erde, 
dem Herrn der Geiſter, des Lebens und der 
Geelen.  ' 

„Aber vergeffen wir nicht, diefe hohe bios 


nyſiſche Myſtik tit aufgebaut auf dem ewigen P 


Urgrunde des Bejchlechtlichen, bes Eros fagen 
die Griechen, der Liebe bie Diodernen. Eros 
aber ift der erfte Diener bes Dionyjos. Go 
it Moftit und Erotit von Uranfang an ge: 
d verwandt und ift es geblieben 
riftlicher 
Minne zur Himmesfinigin. — Alle Elemen: 
targeijter im Gefolge bes Dionyjos, Satyrn, 
Gilene, Pane, Pantsfen find ftart vom ero: 
tijchen Triebe bewegt, ber aud) ber Menjchen 
Bruft durdhflammt, und wenn bie Mänade 
im wilden orgiajtijdhen Tange Dionyjos hers 
beiruft, den Gott bes Frühlings und der 
Fruchtbarkeit, und wenn fie endlich mit ihm 
eins wird, lo ift bas bet aller Myſtik nod) 
immer ſinnlicher Trieb. Aber wir dürfen 
nicht vergejlen, wenn im Anfang Die bio: 
nyſiſche Myſtik zunächſt erotiſch iſt, ſo 
gibt es auch eine je des Eros und Der 
iebe. Darüber hat Plato in feinem wunder: 
baren Dialoge über die Liebe Herrlides 
empfunden und gejagt. 

„Staunend fiiblt fih der Menſch burd) den 
dionyſiſchen Eros von aller Feſſel befreit, ers 
lóft vom principium individuationis. Das 
Einzelwejen fühlt jid) jelig im Allgemeinen vers 
jinfen, wenn es auch nur im anderen Einzel« 
melen verjinft. In diefem feligen Berfinten 
tann ein myſtiſches 9Ber|djmelgen mit ber 
ganzen Natur und dem All:Einen glüdhaft 

eraujdt erfaßt werden. Grlöjung, Dios 
nyſiſche Erlöjung durch den Eros — chriſtlich 
ausgedrüdt und allerdings jehr anders emp» 
funden durch die Liebe, 

„Auf dem erotilchen Wege fteigt bie Dios 
nofiibe Myſtik und Ekſtaſe im Laufe von 
Jahrhunderten immer poner, immer dira 
hinan. Schließlich ruft bie vergiidte Mä— 
nade nidi mehr den Mann, fie ruft den 
Gott im finnlid-iiberfinnliden Raujdh. Die 
Erdenichwere fintt, die Welt verwandelt fic, 
[ie wird vollfommen, bie Geele bricht den 
Rerfer bes Leibes; Piyche, bie Braut des 
Dionyjos, |pannt die weißen Flügel und 
ende mit dem Gottjein durd bas raus 
ſchende, tönende AU, und fernDer leuchten die 
goldenen Pforten des Himmels. Der uralte, 
niedrige phalliihe Naturdämon ward zum 
hohen, heiligen Gotte, zum Heiland, zu 
Dionyjos, dem Erlöjer — 

„Diele dionyſiſche efftatijde Myſtik [djwinat 
dann fpäter in der *Bbilojopbie des Pytha— 

oras, der auf feinen Wander: und Pilger- 
rte im Orient von orientalijd)er Dinftit 
burdjtrántt, vom Buddhismus her die Lehre 
von Der E EE übernahm. Aud) 
in Buddhas Myſtik ijt dionyſiſche Ekſtaſe, 
wenn auch in inbildjer Form; und wenn 


—— — — 


der Buddhiſt das principium individuationis 
bricht und aufgeht in das Geſtaltenloſe der 
Geelenwanderung und dem Gelbitjein nicht 
mehr Nat ‚Alleine — fo ijt bieles 
Nirwana Buddhas eben auch die dionyfilche 
Erlöjung vom Gelbft und vom Ich als Quell 
aller Qual. 

„In dionyſiſcher Verzüdung [hwang [id 
lato auf den Flügeln bes himmliſchen Eros 
zu den Ideen. Bom Platonismus fam bie 
dionyſiſche Myftik ins Chrijtentum und wirkt 
dort in der Offenbarung Gantt Johannis, in 
ben Reden der großen fatbolijdjen Myſtiker 
des Mittelalters, in Sequenzen und Hymnen 
unb in abgejhwächter Form in rührenden, 
volfsmäßigen SUtarienliebern. — In Diejer 
turzen Einführung, von der ich abjichtlich 
jede —— — Gelehrſamkeit fern halte, 
tann ich leider nichts Näheres über Zuſammen— 
bang und Unterfchied chriftlicher und dio- 
woher Myftif geben. Sm moftifden Ur: 
grund ber Gottheit find Chriftus unb Dio: 
nyjos Brüder, wenn bisher auch feindliche. 
Aber aud) ihnen wird die große Berjóbnung 
fommen.“ 

Den mit lebhaften Beifall aufgenommes 
nen Darlegungen Reihs folgte Friedrich 
Kayplers Vortrag, ber getragen war vom 
maſtiſchen Schauer, von der großen religiöjen 
Überwindung der Not unb der Nätjel in 
Kosmos und Geele, Der duntle Sammet 
feiner Stimme legte bas unirdijd) Gdymieg: 
jame bes Fiúblens der Myjtik iiber bie Hörer. 
Durh Jahrhunderte führte die Fülle ber 
Darbietungen. Vian hörte die Runde myfti- 
her Inbrunft mit Wndadht, mochten fie 
fernftem Altertum angehören ober dem Mit: 
telalter ober unjeren Tagen wie Gbrijtian 
Morgenitern, Hermann Reich oder Friedrich 
Kayßler jelbjt. Im erften Teile feines Bor: 
trages führte Kayßler den Zuhörer vor bie 
großen Fragen ber Menjchheit. Hiobs Re: 
den, des Prometheus’ Rátfel, Buddhas Tief: 
Uu Reihs myitiiher Hymnus aus bem 

ude Michael, die jhwerblütigen Bilder 
der Offenbarung Gantt Johannis flagten, 
fragten, tröfteten ergreifend tm Widerllang 
einer tief empfindenden Riinjtlerjeele. Der 
weite Teil des Abends brachte Schalt und 

aune burd) bie innige Naivität mittelalter: 
licher dirijtftdjer Myſtik; über ibm jchwebte 
der Stern von Golgatha und der Glanz von 
Chrifti Krippe — Weihnadhtsitimmung. ` 

Es folgte im Januar der Abend Romans 
tif. Der Verfaſſer bteles Berichts unter: 
nahm es, in fnappen Darlegungen die Trieb: 
tráfte ber Romantik zu umjchreiben, bie auch 
heute nod) eine Lebensmacht bedeutet. 

„In Liebe und Haß befdaftigt uns, um 
mit Wilh. Dilthey zu |prechen, die Romantit 
immer nod). Die Verworrenheit ber Gegen: 
wart lentt die Gemüter wieder hin zur Roman: 
tit: jener großen, auf bas Ganze, das Un: 
endliche gerichteten Bewegung, die von einem 
tiefen Sehnen nad) der Heimat und ber 
Ferne, bem Großen, Urwmeltliden getragen, 
die Pfadfinderin war in das dunfle Reid) 








e? 


unjeres Innern, ins Land des Unbewuften, 
bie Deuterin bes Mythus, des Märchens, 
ber Gage, deren bódjter Ruhm und größte 
Shwäde es war, alles umfajjen, alles ers 
ftreben zu wollen. Dieje Zuwendung ift be: 
reiflih. In ber — und Verſach— 
ichung des heutigen Lebens, das in Sorge 
oder im Rauſch m verzehrt, geht eim tiefes 
Sehnen bird) die Gemüter nad Selbftbefin- 
nung, Jeelijcher Freiheit, Tat und Innerlich— 
feit, nad) bem Unbewußten, nad) Loslófung 
von allem Mechanismus, nad) wahrem, leben: 
digem Leben. Der Romantik gleich drängen 
wir nad) des Lebens Quellen Hin. 

„Sch will nicht ben Verſuch machen, bie 
Romantik, bas Romantijde zu deuten. Das 
Romantijme ift feine Erfindung der Romans 
titer. Wher bie deutſche Romantif hat bas 
Romantijche bejonbers fruchtbar zur Geltung 

ebradjt. Go wie es in ber Romantik erbliihte, 
tit es mehr, als die typiichen Vorftelungen 
bejagen; es ift mehr als ftimmungsvolle 
Maldeinjamteit und riejelnder Brunnen, vers 
ip PBalaft und verwildernder Garten, 

aubernadt und leuchtende Diorgendámmes 
tung. Es ijt Wiedererwedung und Wieder: 
empfindung des uralten Weltgefühls, lauter 
WMiderftand gegen nüchternen Wirklichkeits- 
jinn, gegen das Beftreben, Natur und Menſch 
aller überfinnlichen Beziehungen zu entflei= 
den. Die deutihe Romantik ijt, wie O. Wal: 
gel richtig erfannt bat, Sehnen aus dem 

Mtag in die Welt, Sehnjucht nach deutjcher 
Art und Runft, nad) neuem Deutjchtum, fie 
ift Blid auf die Vergangenheit, Schauen 
in die Zukunft. — Traum und Klarheit, Ein: 
falt und Tieffinn, Todesverherrlidung und 

irflichleitsverlangen. 

„Aus der Fülle bes Bedeutungsreichen 
bebe id) drei Brundtriebe hervor: Das Welt- 
gefühl, das Lebens: und Kunjtgefühl, den 
Rug in die Heimat und in Die carne: 

„Die Romantifer find erfüllt von dem 
Drange, über bas Endlide hinwegzufliegen 
und unter Berzicht e gorm und (bere 
mäßigfeit bas tiefe MWeltgefühl zu geftalten. 
Cie wollen den engen Horizont aufreißen, 
das Unbegrenzte zum Weltprinzip erheben. 
Gegenüber ber SIuitlárumg ber Klajfiter, die 
Iden an ben Grenzen bes Diesfeitigen vor: 
iv ani ater ift bie Romantif fic) bewußt, 
daß bes Menichen Beftimmung jenjeits diejes 
Erdendajeins liegt dab das Ringen nad 
dem Unendliden Aufgabe der Menjchheit ift. 
Co ijt die Gehnjudht der tiefjte Trieb ber 
Romantifer. Gewiß find fih dieje Combo: 
liter und Myſtiker Tor. daß fie bie lebten 
Ouellen des Urgrundes nicht zu erfajjen ver: 
mögen. ber unzerjtörbar if in ihnen der 
Glaube, dak Poelie und Liebe, in denen fih 
Zeitlihes und Ewiges, Gnblidjes und Um: 
endliches verjchlingen, den Zugang zum Un: 
endlichen eröffnen Tonnen, 

„Das Sehnen und Suchen ber Romantil 
mwurzelt ganz in dem Organismusgedanten. 
Die Welt ift ihr eine lebendige Einheit, ein 
Organismus, jedes (lieb hängt mit dem 


Deutſche Runftabende 519 


anderen gujammen; es gibt nichts Totes in 
der Welt. Gie will die Welt als Ganzes 
betrachten, das Mannigfaltige verfniipjen, 
bas Kunſtwerk als organijches Ganges er: 
fajfen. Der Organismusgedante fündet die 
Solidarität bes Menfjchengefchlechtes, das 
Wertvolle aber auch der Einzelperjönlichkeit. 
Er lenit den Blid wieder auf die große 
überwältigende Einfachheit alles Geins, gibt 
ber Bejhichtsauffaflung und der naturwiſſen⸗ 
Ichaftlichen Sentweije ber Romantif die eigens 
tümlidje Richtung. 

„Bon diejen Grunduoritelungen aus ge: 
winnen die Romantifer ihr Verhältnis zu 
Leben und Dichtung. Alles Sein ift etwas Les 
bensvolles und etwas Merdendes, ein Idees 
geftaltendes. Alle Werke verdanken ihr Ent: - 
jteben einer Schöpfungstraft. Die Poeſie 
fol das Leben durchdringen, es aus dem 
grauen Werktagseinerlei in den Duft des 
Poetiſchen heben. Der Geift der Liebe muß 
Diele ewig werdende Poeſie umfliefen, ein 
Geift, der [id) nicht gewaltjam fajjen und 
medjanijd) greifen, aber freundlich loden 
läßt. Die Poefie ift ber Abglanz bes Gött- 
lichen, deffen Mittler der Dichter ijt. 

„So ftimmt bie Romantit ihr uralt heiliges 
Märchenlied mit wunderjamer Melodie an, 
das geheimnisvolle Lied, das verborgen in 
allen Dingen jchlummert, flingt und fingt. 
Am ergretjendjten entjtrómt diejes Lied ber 
Didhtung Eichendorffs. Er verpflanzte die 
blaue Blume aus Deler Welt in ein Jens 
jeits. In ihm erreidt die Romantik thre 
lebte und höchſte Lójung: bas irdijde Leben 
im Abglanz bes Unendlichen unb Ewigen 
zu ſchauen. | 

„Aus bem Organismusgedanten findet bie 
Romantil den Weg zum Gtaatsgedanfen 
und zum beimijden Murzelboden. Mit 
Wadenroder pilgert bas neue Gejchlecht zur 
alten deutſchen Hunt: Herder, Schlegel, 
Grimm, Görres führen es zu den Quellen 
ber eigenen Gpradje, Gage oder Dichtung, 
Brentano und Arnim laljen des Knaben 
Wunderhorn ertönen, deffen Sauberflángen 
alle echten €yrifer gefolgt find. Go fumen 
bie Romantifer mit ftets wachem Ginn in der 
Vergangenheit bie deutjche Eigenart zu bes 
greijen, fo -ftreben fie immer wieder von 
einem tiefen Gefühl des — getragen 
gur deutihen Scholle. Diejes Heimweh — 

ichendorff bat ihm ergreifend Ausdrud ges 
ſchenkt: „... es ijt ein wunderjames Lied in 
dem Waldesraujchen unjerer heimatlichen 
Berge, wo bu aud) feift, es findet bid) dod 
einmal wieder,“ Diejes Heimweh ijt der 
Duell der germanijden Sagen: und Sprad): 
forjdung, es hat die deutſche Landjichaft 
erft eigentlich entbedt und vertlárt, 

„Dte Romantifer find fid) aber auch des 
anderen Dranges bewußt: des Triebes in 
die Ferne. Die Romantik, die quellende 
Fülle und lauteren Reichtum umſchließt, Schlägt 
die Brüden zur Weltliteratur, öffnet den 
weiten Orient, verjentt fid) mit liebevollem 
Ginn in die Völker und Zeiten. Gie will, 


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GO us bem ftarren Eis des Olet|djers, 
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der alles Leben tötet, bricht der 
SW 2 G milchweiße Bach und drängt burd) 

[SW das Gerdll ber Mioräne zu Tal, 

Dell jprudelt unter faftigem Moos 
und grünen SFarnen per[tedt die flare Wald: 
quelle, [pringt murmelnd über die Stellen, in 
taujend Tropfen zerftáubend, aus denen Die 
Sonne alle Farben zaubert. Eilig ftrebt der 
Fluß aus der Höhe zur Tiefe, zwängt fid) 
durh Schluchten und Engen, |djeijt und 
bobrt fein Bett breiter und tiefer, rechts und 
lints nimmt er Brüder und Schweitern pi 
bie alle das gleiche Ziel haben und geſchäf— 
tig eilen, [bon trägt fein breiter Riden 
Kähne und Schiffe, Fräftig muß der Swim: 
mer die Flut teilen, wenn er gegen [te an: 
jtiirmen will. Träger werden die Majjen, 
langjam wälzen fid) die Waller den Strom 
hinab, ihre weißen Wellenföpfe grüßen die 
weitipannenden Brüden und raunen ihnen 
thre Gehnjucht zu: bas Meer, das Weer. 
Schüßend, vereinend nimmt bas Peer fie 
alle auf, maht fie alle gleich, bie Waller, 
und nur die Wellen, bie an Die [teile Suite 
branden, verraten noch die Kraft, die all 
die Bädhlein, Flüffe und Ströme verborgen 
hielten. 

Aber bie gewaltige Beherricherin aller 
Kräfte der Natur gönnt den Wajjern feine 





Ruhe. Prallend jcheint die Sonne auf die 
weite Fläche des Meeres, auf Seen und 
Flüſſe, undibre 

warmen 8*"9999*55992a2500509099099090999990999000 


Strahlen gie: * 
ben ben Dunit 
bes Wallers 
in bie Hohe, 
höher und hö- 
Der, bis Die 
feinen Gtáub: 
chen in Der 
Kälte des Mel: 
tenraumes 
frierend ers 
Marrem und zu 
Tröpfchen fih 
Ichließen. 
Braujend ballt 
(ie ber Sturm 
zu Wolfen zu: 
jammen, wirft 
jie dorthin und 
hierhin, über 
Berge und Tä- 
ler, und aus 
ihrer Erftar: 
rung erlöjen 
jie [fid und 
itrómen wieder 
hinab zur Erde, 





Skizze zu einer Ebbe: und Flutmühle von Mariano aus dem Jabre 1438 
München, Staatsbibliothet 


befruchtend und legen|penbenb, verheerend 
und vernichtend, hemmend und traftipendend. 
Und der Kreislauf beginnt von neuem. Gin: 
ten und Heben, und als gewaltige, unermüd- 
lide Energiejpenderin, als bie große Welt: 
majchine: die Sonne. Gie, die Ki in Jahr- 
taujenden Pflanzen wachlen lief, fie zu Boden 
[iürgte, vermodern ließ und zu Kohlen um: 
wandelte, fie |djenft uns aud) die Kräfte, 
die der Kreislauf bes Waljers, bie zu Tale 
jtrebenden Bäche, Fliijje und Ströme bergen. 

Ift denn Majjer eine Kraft? Willen wir 
nicht, dak es eine chemilche Verbindung von 
Waſſerſtoff und Sauerftoff T Es wird zum 
Träger einer Kraft durch feine Maffe, genau 
wie der Stein, Der zu Boden fällt, eine Kraft 
ausübt. Dieje Kraft ijt bie Schwere, bie 
Kraft unjere Erde, die uns zu fid) herab: 
zieht. Was ift denn Kraft? Wohl tenne 
ich bie Kraft meines Armes, meiner Mus: 
fein. Gie ift bas Urjprüngliche. Wenn id) 
ein Gewidht von einem Kilogramm hod) 
bebe, jo muß ich eine bejtimmte Kraft an» 
wenden. Die gleiche Kraft übt aber aud) 
das Gewidt aus, wenn es zu Boden fällt. 
Kraft im tednijden Sinne it aljo Gewicht. 
Wohl verjtanden im technijchen Sinne, denn 
im phylifalifchen ift Kraft bas Produtt aus 
Maffe und Beldleunigung, ober Maffe ift 
das Gewicht, geteilt durch die Erdbeſchleuni— 
gung, eine fonjtante Zahl. 

Wir wollen aber von ber ted)nijd)en Kraft 


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Entwurf zu einer Turbine 
Angeblich von einem Bapft um 1430 erfunden 
Aus bem Cod. lat. ber Staatsbiblivtbet, München 


|predjen. Wenn wir jenes Kilogramm zehn 
Meter hod heben, jo leiften wir eine Arbeit, 
die dem Produft aus Kraft und Weg gleich 
ift. Es ift alfo die gleiche Arbeit nötig, um 
zehn Kilogramm einen Dieter zu heben, wie 
ein Kilogramm zehn Meter. Das Produft 
ijt immer zehn Metertilogramm. In Meter: 
filogramm mellen wir auch die Arbeit. Je 
länger der Weg ijt, den ich eine Kraft neh: 
men laffe, um eine bejtimmte Arbeit zu ver: 
richten, bejto geringer wird bie aufzuwen: 
dende Kraft, oder id) fann eine bedeutende 
Arbeit mit der gleichen Kraft verrichten, 
wenn id) den Weg groß genug wähle In 
Gerpentinen zieht das Pferd den Wagen 
auf der jteilen Straße Dinan, den es un: 
mittelbar nicht vorwärtsbewegen tónnte. 
Aber Arbeit wird erft verwertbar, wenn 
fie zur Leitung im technijchen Sinne wird. 
Arbeit in einer bejtimmten eit, das ijt das 
Erfordernis der ted)nijdjen Leiftung. Es ges 
nügt nicht, daß eine Arbeit überhaupt ge: 
leijtet wird, fondern einen Gradmeffer D 
die Leiftung betomme ich erft, wenn die Zeit 
beftimmt wird, in ber die Arbeit gejchehen 
ijf. Kraft mal Meg durch Zeit, bas ift die 
Leiftung, der „Effett“. Entjprechend iit das 
Sefundenmeterfilogramm das Mah für die 
Leiftung, b. b. die Leijtung, die Darin bejtebt, 
ein Kilogramm in einer Gefunde um ein 
Meter zu heben. Zum prattijden Gebraud) 
eignete fid) dies Heine Maß nidjt. Man 
\huf die Pierdeftárte (PS) und legte fie |páter 
felt als bie jetundliche Leiftung von 75 Meter: 


Iesse SA Dipl.» Ing. Grid Labwik: EZR RRR 242€ ABRA 


tilogramm. Cin Menih, ber 75 Kilogramm, 
b. D. em und einen halben Zentner wóge und 
in einer Gefunde einen Meter Dodjitiege, 
würde alfo eine Pferdefrajt leiten. 

Mas bedeutet dies aber für bie Waſſer— 
fraft? Auch hier ijt bas Gewicht die Kraft, 
und zwar das Gewicht der Majjermenge, 
bie zur Mirfung auf eine Gegentraft, einen 
Widerjtand tommt. Waflermenge und Gefälle 
eines Majjerlaufes bejtimmen die Kräfte, 
die das ci deen Bewäjler ausüben fann, 
und beide [teben in Abhängigkeit von Ge: 
jdhwindigfeit und Gefälle ber in Frage tom: 
menden Majjerlaufitrede. 

Das Majjer bejigt aljo feine Kraft nur 
durch feine örtliche Lage gegenüber der Ber: 
wendungsitelle, an ber es diefe Kraft aus- 
üben fol. Anders die Roble. Cie wirft 
nur mittelbar, indem fie den Zuſtand einer 
Slüjligfeit ändert, Zoller in Dampf ver: 
wandelt, der dann feinen Drud in Bewe- 

PA esie umjeßt. Aber darin gleichen 
ja ie Roble und bie Majjertraft: fie bel: 
en beide, die zeitraubende und ſchwache Ylr: 
beit der Hände zu erleben durd) die ſchnel— 
len und jtarfen Kräfte ber Majchine. Bon 
ber unzulänglichen Menſchenkraft bejreiten 
la uns und gaben uns die Hiejentráfte ber 

urbinen, der Dampfmajdinen und des 
eleftrijden Stromes. Go war es trog ber 
Berjchiedenheit der urjprünglichen Rraftwir: 
fung und Eniftehung wohl beredtigt, von 
ber Majjertraft als der weißen Roble gegen: 


‘liber ber |djwargen Roble unjerer Bergwerte 


zu |prechen. Aber erft jebt, als die ſchwarze 
Roble uns jo ſchmählich im Stich ließ, er: 
Hang der Schrei nad) ben Majjertráften laut 
und plößlic), wurde bie weiße Roble ein 
Schlagwort der heutigen Zeit. 

Die Kenntnis von der weißen Kohle als 
Kraftquelle und das Vermögen, fie als ſolche 
zu verwenden, find feine Errungenjchaften 
ber neuzeitlichen Technik. Die nod) heute 
in China gebrauchten — bewäſſer⸗ 
ten ſchon vor mehreren Tauſenden von Jah— 
ren die gleichen Felder und haben gewiß 
ebenſo ausgeſehen. Sie ſtellen wohl die äl— 
tefte Waſſermaſchine dar. Ein aus Bambus: 
ſtäben gefügtes Rad taucht in das ſtrömende 
Waſſer, das es dreht unb damit bie am 
Radiranze befejtigten unb wajjergefüllten 
Bambusröhren hebt. Infolge ihrer Neigung 
zum Radfrange entleeren die Röhren ihren 
Wafferinhalt in einer bejtimmten Lage. Die 
Kraft bes 9Bajjers wird alfo hier benußt, 
um fic) felbft zu heben. Ahnliche Schipj- 
raider jieht man auch heute noch in großer 
Anzahl in den Gemüje: und Fruchtgärten 
Konjtantinopels und Rleinafiens. Won der 
erften Mühle erzählt Strabo. Nach ibm fol 
ur Zeit bes Mithridates (100 p. Chr.) eine 
he mit Majjer betrieben worden fein. 
Dod) die billige Stlavenarbeit ließ die Dia: 
Ihinen nicht redjt aujfommen. Erſt im 
4. Jahrhundert n. Chr. hört man von einer 
häufigeren Anwendung, und von einer fef- 
jelnden technijchen Austibrung wird aus dem 


See SES SC Weiße Roble seess 523 


Jahr der Belagerung Roms durd) den Doten: 
könig Vitiges im Jahre 536 erzählt. Als diejer 
nämlich bie Wajferleitungen Roms zerftórt 
und Dadurd) die Mühlen jtillgelegt hatte, tam 
Belifar auf den technijch völlig neuen Gedan— 
ten, bie Waſſerkräfte des Tibers ausgunugen. 
Er jebte die Mühlen auf Schiffe, veranterte 
dieje tm Tiber und trieb feine Mühlen mit 
ber Strömungsgejchwindigfeit bes Fluſſes. 

Rom braudte bie Waljermühlen bejon: 
ders als Slmiiblen, ba zur Olgewinnung 
eine große Kraft erforderlich war; auch für 
Relteranlagen wurden Wajjerräder als Ans 
trieb benußt. Nach dem Norden unb bejon: 
ders nad) Deutichland brachten erft die 
Mönche, die Träger ber römijchen Kultur, 
die po ek a und Hunt ber Wusnugung 
der weißen Roble. Nicht nur aus Riidjidt 
auf bie Gpeilegele5e juchten fie fih Die 
wajjerreiben und damit filchreichen Gegen: 
den zum Ort ihrer Niederlafjungen aus, 
jondern auch aus technijchen Gründen. Cs 
bejtand eine alte Vorjchrift, die beftimmte, 
dağ jedes Rlofter eine Mühle bejiben folle, 
damit die Mönche ihr Getreide jelbjt mablen 
fónnten, ohne bas Klofter erft verlajjen zu 
müſſen. Bald wurde bie 9Bajjerfrajt dann 
zum Betrieb von Sägemühlen ausgenußt, 
denn Waller und Wald fanden fih ja met 
an gleichen Stellen. Mit dem Beginn des 
Bergbaus erihloß fih für die et di 
ein neues Wirfungsgebiet, Hammerwerte 


entjtanden, die em richteten Papier: 


miiblen ein, in den Glashiitten wurden Boch: 
werfe nötig, für die Gerbereien arbeiteten 
$€obítampfen, die fid) alle ber Majjertraft 
ür ihre Arbeitsmalchine bebienten. ber 
immer blieb bas Wajjerrad nur der Erjas 
für bie menjchliche Kraft, es war nie Selbjt: 
awed, jondern Mittel zu einem beftimmten 
Swed und Hetz an ben Ort bes Worhanden- 
feins ber Krajt gebunden. Die Indujtrien 
mußten jid) in ber 
Beitimmung ihrer 
epi Lagenad) 
den Wajjerläufen 
richten. 

So war es na: 
türlih, daß die 
Dampfitraft, jo: 
bald jie fic) ge: 
EN ers 
wies, bie Waſſer— 
traft jd)nell in den 
Schatten ` ftellte. 
Ganz abgejehen 
von ihrer Bieljeis 
tigteit und An— 
pajjung an den 
jeweiligen Kraft: 
bedarf war jie vom 
Ort nicht mehr 
abhängig. Der 
Dampitejjeltonnte 
überall aufgejtellt 
werden, und Die | 
Ihwarze Kohle zu gg 





feiner Beheizung war überall hingubringen. 
Auch war die Dampitraft von äußeren Zus 
falligfeiten, der Witterung, niht abhängig, 
es fam nicht vor, dak Hochwaſſer bie Mebre 
zeritörte ober Wafjermangel die Werte ftill- 
legte. Go vollbrachte bie Damen ihren 
ee? en Giegeslauf, während die Majjer: 
raft iid) mit bejcheidenen Aufgaben an be: 
ftimmten Pläßen begnügen mußte. 

Eine Befferung zugunjten der weißen Roble 
trat ein, als Durd) die Erfindung ber Majjer: 
turbine nicht nur eine günftigere Ausnubung 
ber Gefälle, befonders ber geringen Gefáll: 
itufen möglich wurde, fondern bird) ben er: 
leichterten Einbau, geringeren Umfang der 
Maſchinenſätze und die hohen Umbrebungs: 
zahlen der Turbinen bedeutend größere Kräfte 
an einer Stelle ausqenugt und zu neuen 

weden verwertet werden konnten. Sn erjter 
tinie war es die Textilinduftrie, bie fidh bie 
neue Erfindung zunuße mate. - 

Cpinnereien und Webereien fiedelten jid) 
bald in der Nähe ftarter Majjertráfte an, 
dem — eröffnete ſich ein reiches 
Betätigungsfeld, und große Anlagen, Ars 
beiterfolonien, ganze Ortjchaften entitanden 
durch bas Vorhandenjein der weißen Roble. 
Auch im Kleinbetrieb wurde jeßt die Waller: 
traft mehr herangezogen, belonbers im rhei⸗ 
niſch⸗weſtfäliſchen Induſtriegebiet diente fie 
in emer großen Anzahl fleiner Betriebe als 
Arbeitskraft. Eine zweite, gewaltige Run: 
din befam die weiße Kohle dann durd) bie 
Zellſtoff- und Holzjtoff: Fabrikation. Für bie 
Heritellung des Holzichliffes wie ber 3ellu: 
lofe waren große Holz: und Wajjermengen 
an und für jid) nötig. Das Roden, Schlei: 
en, Walchen und Auslaugen des Holzes er: 
orbert Waſſer und wieder Majjer. Es lag 
deshalb nahe, bas Waller aud) zum Antrieb 
ber Arbeitsmajchinen heranzuziehen. Co fin: 
den wir in den wald: und waljerreichen 








Alte Waffermiible in Vals, Tirol EX 


524 Dipl.-Ing. Grid) Laßwitz: 


Gegenden Gadjjens und Böhmens bie erften 
3ellulofefabriten. 

Aber trog ber tednijden Vervolltomm: 
nung baftete ber Majjertraft immer Der 
Mangel der Unbeweglidfeit an. Gie war 
nur am Gewinnungsort verwendbar. Da 
brachte ein erjter und gea überwältigender 
Verjud) eine völlige Anderung in ber Be: 
deutung ber Majjertraft. 

Auf ber Parijer Weltausftelung Hatte 
die Elektrizität große Triumphe gefeiert, die 
damals ſchon recht gut entwidelte deutjche 
Glettrizitätsinduftrie hatte wegen ungeniigen: 
der —— dabei aber ſchlecht abge— 
ſchnitten. So ſchuf auf das Betreiben des 
bekannten Frankfurter Politikers Sonne— 
mann die Elektrotechniſche Geſellſchaft in 
Frankfurt a. M. im Jahre 1891 die Inter— 
nationale Elektrotechniſche Ausſtellung 
in Frankfurt, Die zu einer außerordent— 
lich bedeutungsvollen Kundgebung ber deut- 
iden Induftrie werden folte. Die ted): 
nilde Leitung hatte ber Ingenieur Ostar 
von Miller, der heutige Ctaatsfommijjar 
für das Banernwerf, Für dieje Ausjtellung 
wurde ber fübne Plan gefaBt, eine von der 
Portland: 3ementfabrit in Lauffen a. Nedar 
zur Verfügung gejtellte Wajjerfraft auszu— 
nugen. Trog aller theoretijchen Beweije 
der Unmöglichkeit, ber mannigfaltigenSchwie= 
tigfeiten und der außerordentlichen Kürze 





der Ausführungszeit bielten die geiftigen 
Urheber des Planes an ihm feft, und Die 
Ausführung gelang über alles Erwarten 
ut. Die aus dem Lauffener 9Bajjerfall 
tammende Kraft wurde in einer Turbine 
von 300 PS. Qeiftung in Bewegungsenergie 
umgewandelt, erzeugte eleftrijden Drehitrom 
— etwas völlig Neues für damals — von 
50 Volt, ber auf die damals unerbórte 
Epannung von 12500—25000 Bolt trans: 
— und nad) dem 180 km entfernten 
ranffurt geleitet wurde, um bier, auf 
100 Bolt Spannung erniedrigt, die Aus: 
ftellung zu erleudjten, Bahnen zu bewegen 
und, was eine bejonders eindrudvolle und 
dabei geijtreiche Verfinnbildlichung der Lei- 
tung war, einen fünjtlidjen JBajferfall zu 
betreiben. Die Wajferfraft, bie weiße Roble, 
war über 180 km durch einen Draht fort: 
eleitet worden. Die Unbeweglidfeit war 
thr genommen worden, und zum erftenmal 
war fie Gelbjtzwed, nicht mehr Mittel zum 
Zwed. „Weiße Roble” wurde in elettrijbe 
(Energie verwandelt, war frei vom Ent: 
itebungsort. 
Schnell folgte bie Induftrie auf Dem neuen 
e. Wor allem war es die gewaltig an: 
ftrebende chemijche Induftrie, bie große Elet- 
trizitátsmengen erforderte und Die Waſſer— 
traft fih zunußge machte. Go entitand das 
große Wert in Rheinfelden, bas die Kräfte 








Chiffsmüblen in ber Gd bei Verona E 








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Iesel Weihe Kohle sel 525 


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E Turbinenraum von Krafthaus II ber Niagarafälle A 


bes Rheinfales zum Teil ausnubte, in 
Bayern erjhloß man die Energien der Jfar, 
des Leds und der Amper. Zugleich be: 
tamen Die an vielen Stellen [Hon angelegten 
Taljperren eine neue Bedeutung. Diele 
waren ja urjprünglich entjtanden, um ent: 
weder die Hochwafjergefahbr abzuwenden 
oder einzelne Gebiete mit jtetigen Wafers 
mengen zu verjorgen. Nun dienten fie Ap: 
leid) ber Energie-Erzeugung, man fam zur 
tfenntnis, daß bas Majjer nicht zu Tal 
fließen dürfe, ohne Arbeit geleiftet zu haben. 
ber noch hielt bezüglich bes Strompreis 
fes bie ſchwarze Kohle in vielen Fallen bie 
Konkurrenz aus, und jelbft der Krieg, ber 
riejige Snbu[trien über Nacht entjtehen ließ, 
vermochte es nicht, ben Ausbau der Wajjer: 
fräfte in den Vordergrund zu rüden. Wiel- 
mehr wurden unfere Brauntoblenlager der: 
artig angegriffen, daß man von einem Raub 
Iprechen fann; ber tagein, tagaus zu Tale 
fließenden weißen Roble wurde ihre Energie 
nicht voll entzogen. Nur Baden baute trog 
bes Krieges jein großes Waſſerwerk, das 
Murgwert, aus und ijt jo heute in ber glüd: 
lichen Lage, von der Kohlennot viel weniger 
betroffen zu jein als andere Teile Des 
Reichs. 
Wir haben im Laufe ber geichichtlichen 
Entwidlung die beiden Mittler [fon er: 
wähnt, bie die Verwandlung Der weißen 


einem 


Kohle in Bewegungsenergie übernommen 
SEH bas Majjerrad und bie Majjertur: 
ine. Zwiſchen beiden bejtebt ein wejent: 
licher Unterfdied. Das Majjerrad nubt in 
ber Hauptfache tatjád)lid) nur das Gewicht 
bes ajjers aus. Wlan tann fih den Ge- 
amtvorgang deutlich) machen, wenn man bei 
ajjerrad den Einzelvorgang in einer 
Schaufel einmal beobadtet. Das Waller 
fließt mit einer bejtimmten Gejchwindigfeit 
auf das Rad und füllt eine Schaufel, bie 
eigentlid) eine Art Waſſerkaſten darftellt, 
mit Waller. In bem WUugenblid ijt Die 
Gelbftbewegung des Waſſers vernichtet, bas 
Wajjer ift zur Ruhe gefommen. Eine neue 
Bewegung befommt es nun Durch Die 
Drehung des Rades, das jeine Bewegung 
dem Waller mitteilt. Die drehende Kraft, 
bie auf das Rad wirft, ijt aber bas Gewicht 
bes Majjers. Es würde zu weit führen, 
von den bejonderen Verhältnijjen einzelner 
Konjtruftionen und dentebenerjcheinungen zu 
Iprechen. Hier fol nur das Wejentliche bes 
Unterjchieds gezeigt werden. Denn die 
Turbine nubt die Eigengejchwindigfeit bes 
Majjers aus. CEs wird dabei durch ge: 
trimmte Schaufeln von feiner Richtung abs 
gelentt, ohne jebod) feine Beichwindigfeit zu 
verlieren, es leijtet Arbeit durch die Rich— 
tungsänderung feiner relativen Geſchwin— 
digkeit, Durch bie Reaktion, bie es auf den 


526 Dipl.» Ing. Grid) Laßwitz: 





Ed Entwurf von Profeffor Hans Poelzig für bie Sperrmauer ber Talfperre Klingenberg 


beweglichen Teil ausübt. Beim Wafferrad 
wie bei der Turbine ift die Leiftung ab: 
— von der Waſſermenge und dem Ge— 
älle, jedoch nutzt das Waſſerrad die poten— 
tielle Energie des Waſſers aus, während in 
der Turbine ſeine kinetiſche Energie in Ar— 
beit umgeſetzt wird. 

Der Vollſtändigkeit halber ſei noch eine 
dritte Form des Waſſermotors erwähnt, die 
aber keine große Bedeutung hat, es iſt dies 
die Kolbenwaſſermaſchine. ei ihr wirkt 
der Waſſerdruck unmittelbar auf einen in 
einem Zylinder beweglichen Kolben, der 
ſeine hin- und hergehende Bewegung auf 
dem üblichen Weg durch Kurbeltrieb auf 
einen Drehmechanismus überträgt. Golde 
kleinen Maſchinen finden ſich im Anſchluß 
an Waſſerleitungen für geringe Leiſtungen; 
durch die Langſamkeit der Bewegung und 
die nur unbedeutende Kraftentwicklung kön— 








Ka | Malzenwebr in Finnland 


nen fie für größere Rraftgwede niht in 
Trage tommen. i 
St nicht wie bet MWafferfällen eine natür- 
liche größere Gefállitufe vorhanden, jo muß 
eine jolde erft. geichaffen werden. Dies ge- 
ſchieht immer bird) eine fünjtlidje Anftauung 
des Majjers, bei fleineren Anlagen bird) 
Ginbauen von Wehren, bie bei großen An: 
lagen, bejonders Dann, wenn mehrere flei- 
nere Majjerláiufe erft gejammelt werden fol- 
len, zu Stauwehren, Staudänmen und Tal: 
jperren ausgebaut werben. Aus ber auf- 
eftauten SBajfjermenge wird dann in offenen 
Ranälen — bie befannte Ausführung Der 
Miühlgräben — oder in geld)lojjenen Rohren 
oder Stollen die zur Verwendung fommende 
Majjermenge entnommen und ihr die größt: 
mögliche und zuläjlige Bejchleunigung durch 
den Abſturz bes Wajjerleiters gegeben. 
Techniſche Erfordernijje verlangen im all: 
gonnen, daß bei 

. Diejen ¿ulegt ges 
nannten imus 
unb Soddrudan: 
lagen bas Waſſer 
unddjt einem be: 
Tonberen Behälter 
zugeführt wird, der 
Die oft gehörte Be: 
eichnung „Waller: 
Luet: führt. Aus 


diejem Waſſer— 
ſchloß, das das 
Waſſer „ſchließt“, 


ſtürzen dann die 
Marien zum Kraft- 
werf, um bier thre 
Kraft abzugeben. 
Die Erwähnung 
der Taljperren 
hatte uns [hon auf 
die Tatjache gewie- 
jen, daß nur in 
den felteneren Fäl: 








— Weiße Kohle 15:32:37 33: 3 37 3 37 33333359 527 


len jo große 9Bajjermengen vereinigt find, 
um eine  mirtidjajtlidje Wusnubung zu 
lihern, daß vielmehr die Waller erft ge: 
jammelt werden miijfen. Wenn es aud 
überall, wenigjtens in den Gegenden Der 
gemäßigten Zone, regnet und Flüſſe und 
Ströme zu Tal fließen, jo ift die Verteilung 
der Wajfertrafte Dod) eine recht ungleich: 
mäßige. Bejonders reich an — 
iſt Norwegen und Schweden. orwegen, 
das in Bezug von Kohle völlig von fremder 
Einfuhr abhängig war, hat deshalb in groß» 
ligiger Meije frühzeitig feine weiße Kohle 
ich dienjtbar gemad)t. In den Jahren 1905 
bis 1915 bat es Wajjerfrafte mit mehr als 
800000 PS ausgebaut und Ddieje in einem 
Jahr allein, 1917, um 250000 PS vermehrt. 
Go find dort die burd) Wajlerfräfte gewon- 
nenen Pferdeftarfen zehnmal fo groß als bie 
Dampfipferdeftárten. Ähnlich hat Schweden 
Die weiße Roble gegenüber der jchwarzen 
bevorzugt. Es erzeugt heute [hon mehr als 
eine Nion Pierbertarten burd) Waller: 
tráfte und gibt davon fogar an Dänemarf 
durch Unterjeetabel in Form von elektrijcher 


Energie ab. Den gleichen Weg ijt Italien 
gegangen, das SC ion mehr als andert- 
halb Millionen Pferdeitärfen feinen Waifer: 
tráften entnimmt, und zu einer Zeit, zu ber in 
Deutidland die Wajferfraftbetriebe nur fünf 
vom Hundert der Dampitraftbetriebe aus: 
madten, bedte Frankreich bereits vierzig vom 
DUM jeiner Dampffraftwerfe burd) weiße 

oble. Während des Krieges ift dieje Ent: 
widlung in — ſtark gefördert wor— 
den und außerordentlich ſchnell weiterge— 
gangen, fo daß dort heute andy [ion über 
eine Milion Pferdeitärfen aus Majfertráf: 
ten gewonnen werden. Wie die Schweiz 
ihon lange fyftematijd fic) ihrer weißen 
Kohle bedient, ift befannt, die Elektrifi— 
gierung ber Schweizer Eijenbahnen ijt ber 
äußere Beweis des Erfolges biejer An: 
ftrengungen. | 

Und Deutjchland? Man hat errechnet, 
daß bas Deutjche Reih in feinen vortrieg- 
lihen Grenzen zwölf Millionen Pferdeitär: 
fen in Wajferfrajten bejäße, von denen zwei 
Drittel auf Süddeutjchland entfielen. An: 
bere Schäßungen jpreden von vierundein: 





5 Die Eifeltaliperre im Bau Dä 





528 Dipl.» Ing. Grid) Labwik: R=e==22222=22224 


halb bis jedjsunbeinbalb Millionen PS, Diefe 
Zahlen beruhen jedoch nicht auf genauen 
Unterlagen, wie überhaupt das Fehlen eines 
umfajjenden [tatijti]d)en Materials einer der 
e Hee Der — Entwicklung 
des Ausbaues unſerer Waſſerkräfte iſt. Nur 
für einzelne Bezirke ſind genaue Unterlagen 
vorhanden. 

Es würde zu weit führen, hier auf die 
Möglichkeit der tatjächlihen Ausnutzung 
diejer SBajferfrájte einzugehen, wir miijjen 
uns damit hefdeiden, aus dem bisher (Er: 
reichten nur einige bedeutende Beijpiele Der: 
de, SC Gewaltige Anlagen, bejon- 
ders 
bei uns. Es fet nur an bie großen Tal: 
iperren im rheinijchen Induftriegebiet erin: 
nert, von denen die Möhnejperre einen In: 

alt von 130 Millionen Kubikmeter bat. 

od) größer ift mit ihrem Gtauinhalt 
von 200 Millionen Rubitmeter bie Edertal- 
jperre. Auch in der Proving Schlejien find 
eine große Anzahl Taljperren vorhanden 
und weitere geplant. Wenn auch dieje An: 
lagen urjprünglich andere Zwede wie Die 
Vorbeugung gegen Pommciiergersarest, die 
Gpeifung von Kanälen ujw. verfolgten, fo 
dienen fie bod) zum großen Zeile auch don 
der Erzeugung von Energie in Form von 
Elektrizität. Wm befanntejten und heute im 
Wordergrunde Des Interejjes ftehend ift 
das im Bau vp A Bayernwerf, das 
ausschließlich bem Zwecke ber Rrafterzeugung 
dient und jerm Entjtehen ber unermüdlichen 
Arbeit Osfar von Millers verdantt, 


CH, 





aljperren, bejteben aud) heute [hon 


Die Kraftquelle bes Bayernwertes ijt der 
Waldenjee, bem ein Teil ber Sjarmajjer: 
menge zugeleitet wird. Durch einen Tunnel 
wird bas Walchenjeewajjer nad) einem am 
Abhang bes Keljelberges ftehenden 3Bajjer- 
Ihloß geführt, von bem es in jedjs Rohr- 
leitungen von je zwei Dieter Durchmejler 
nad) dem 200 Dieter tiefer am KRocheljee lte- 

enden Rraftwert abjtürzt. Dieje gewaltige 
nergie fol über 14000 PS maximal er: 
zeugen und einen großen Teil Bayerns mit 
eleftrijdem Strom verjorgen. Es ut aber 
weiter beabfichtigt, den aus anderen bayeri= 
Gen Werten über|djiepenben Strom eben- 
alls bem Bayernwert zuzuführen, fo daß 
urd) bieles ein Wusgletd) der Gejamtver: 
jorgung Bayerns gejchehen fann, da es den 
anderen Werfen zu beftimmten Zeiten von 
jeinem Überfhuß wiederum abgeben tann. 
Die Anlage eines foldjen Wertes erfordert 
natürlich bedeutende Viittel, und es ijt zu 
bedauern, daß nicht vor bem Kriege und 
während des Krieges die Arbeiten weiter 
efördert wurden. Lang genug lagen Die 
Mrojette ion vor. Damals lautete Der 
Boranjchlag über 52 Millionen Mtarf, heute 
erfordert der Ausbau ſchätzungsweiſe die 
zehnfachen Aufwendungen. Immerhin bat 
der bayrifche Landtag im Mai des Jahres 
1919 die erjte Rate zum Ausbau des Werkes 
bewilligt, jo daß mit ben tatjád)lid)en Ur: 
beiten begonnen werden fonnte, die in: 
zwilchen rüſtig vorgejchritten find. 

An großen Anlagen, die bie Wusnubung 
der vorhandenen ajjertráfte zum Biel 








Sperrmauer mit Staubeden, fiberlauf und Kraftwerk ber Bobertaljperre EJ 








see SCH Weihe Kohle B22233232323232323233233324 529 


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en Dettingen 
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haben, wurde das Murgwert Badens [bon 
erwähnt, erinnert fei nod) an die Drain- 
werfe, die verjchiedenen Anlagen am Ober: 
rhein, die Projekte, die fid) auf die Auss 
nugung ber Majjertráfte OftpreuBens, der 
er der Nahe, der Rhön und des Harzes 
eziehen. | 

Es ift ein fihtbares Zeichen für bie 
ap und die Entwidlung unferer dente 
hen Technil, daß fie gerade im Turbinen= 
bau £eiftungen aufzuweijen hat, die von 
feiner anderen Nation erreicht wurden. 
Bon ber Ausnugung des Lauffener Wertes 
mit feinen Turbinen von 300 PS ift es 
ein gewaltiger Schritt bis zu den Rieſen— 
majdinen, die vor dem Kriege von Der 
deutichen Mafchinen:Induftrie nad) Amerika 
und bejonders Japan geliefert wurden. Dort 
famen Bajjertráfte in Frage, wie fie in 
Deutichland nicht auftreten. Deutjche Ma- 
hinen fonnten fie verwerten. Go laufen 
in Kanada Turbinen von 12500 PS, in Ja: 
pan von 8000, 10000 und 11400 PS, die nur 
von einer deutjchen Fabrik geliefert werden 
fonnten. 

Man bat oft befürchtet, daß bie Mus: 
nugung ber weißen Kohle durch den Ein» 
bau der Majdinenhaujer, der Cperren 
unb tedjnijdjen Anlagen das Iandichaftliche 
Bild gefährden würde Die ausgeführten 
Werte beweijen, daß diefe Befürchtungen 


Belhagen & Klafinas Monatshefte. 35. Jabrg. 1920/1921. 2, Bo. 


Leitungsnetz des Bayernwerkes 





d 
V 1 


Walchenseewk 


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D 


=== 930 Km 100000 Volt- Leitungen für 2x3x120qm Aluminium 

220 Km 100000 Volt -Leitungen für 1x3x120qm Aluminium 

---- Hauptspeiseleitungen unter 100000 V. — Beisp. eines Verteilungsnetzes 
@ Haupttransform:Stat. f. 100000 V. € Wasserkraftanlagen, A Dampfkraftanlagen. 


Hof @ Ma 








N 





HP MÜNCHEN 





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Ae 


unbegründet find. Landſchaftlich reizvolle 
Geen find in wafferarmen Gegenden ents 
ftanden, bie ein Wngiehungspuntt für Ortss 
fremde geworden find, und ebenfo bat 
man es perjtanben, bie notwendigen Baus 
ten, jelbft die Transformatorenftationen für 
bie eleftrijche Stromführung, ber Umgebung 
und dem Der Landichaft eigenen Stil ans 
zupalien. Go haben die Majjertraftwerte 
oft eher zur Verſchönerung der Gegend beis 
getragen. 

Nicht nublos fol das Waller zu Tale 
fließen. Cine gewaltige Energiequelle aus» 
zunußen, ijt bisher aber nod) niht geglüdt: 
die der Ebbe und Flut. Aber der Technil 
find ja feine Grengen gezogen. Unmeßbare 
Kräfte treiben bie Majjermengen bes offenen 
Meeres táglid) zum Lande und drängen 
jie ebenjo regelmäßig zurüd. Wud) der Tag 
wird fommen, ba fie dem Menſchen dienen 
werden, dienen eben|o wie die Spenderin 
aller Energie, die Sonne. Nod) arbeitet fie 
nicht unmittelbar für uns. Gie Debt nur 
die weiße Kohle aus der Tiefe hinauf auf 
unfere Berge. Doch fte fendet außerdem 
mit ihren Strahlen gewaltige Energiemengen 
auf die Erde, Die zu verwerten wir nod) 
nicht SE ER Unjere 9tadjfommen wers 
den vielleiht einmal, wie wir von ber 
weißen Roble, von ber roten Roble fpreden, 
ber Gonnen:» Energie. 

85 


Xuije 





C 


Mide bin ich, 
Schließe beide ein zu: 
Mater, laß die Augen bein 
fiber meinem Vette fein! 


Ce Rubh’, 


ab’ id) unrecht heut getan, 

ieh es, lieber Gott, nicht an! 
Deine Gnad’ in Jefu Blut . 
Madt ja allen Schaden gut. 


Alle, bie mir find verwandt, 
Gott, laß rubn in deiner Hand! 
Wie Menichen, groß und klein, 
Sollen dir befoblen fein. 


Kranlen Herzen fende Rub”, 
Nafie neg ſchließe zu! 

Laß den Mond am — ſtehn 
Und die ſtille Welt beſehn. 


mac as ift eine Weiſe, die man aus der 
(UNA eigenen Kindheit fennt. Aber viel- 
Sy leicht geichah es febr viel fpáter, 
c ! 

als man felber lángft erwachjen 
war, daß man fid) an dem Bett 
eines Rindes fand, das dies Nachtgebet jprach, 
und bie Iddien Berje gewannen Gewalt 
über Das Herz, und etwas wie eine Schnjucht 
erftand, dte Pitgerreije in Dies ferne — oder 
verlorene? — Land anzutreten... Und dar: 
über mochten wieder lange Jahre verjtrichen 
fein, der Wunjch war vergejfen und wieder 
aufgetaucht, bis jid) bod) die Stunde fand, 
Aufſchluß zu fuen, was es recht eigentlich 
um diefe Rinderverje ift, und wer diefe 
Vue Henfel war, die fie ſchrieb? 

Es war aber, als ftiinden der Beant: 
wortung ber ——— Hinder⸗ 
niſſe entgegen. an vermochte kaum zu 
ſagen, was den Blick derart trübte. Die 
e WEN diejes Mädchens oder irgendein 

1 


erftand im eigenen Ich? 

Was will bas überhaupt bejagen: „Rak 
ben Mond am Himmel jtehn und die ftille 
Welt bejehn?“ Ift bas bildhaft erfaßt, und 
wenden jid) die Augen der elei zu, 
deren Hütten unter dem Ctrobbad) im Mtond- 
lit heimijcher werden, ober ijt es Symbol 
für eine befriedete Welt? Warum die aus: 
drüdliche Bitte an Gott um etwas, bas bod) 
aud) ohnedies in der WeltordDnung vorgeleben 
pial Schrieb ein Menſch dieje Berfe, ber ein 

indesempfinden bewußt ftilifierte, ober war 
bie Achtzehnjährige, bie fie dichtete, Kind 
geblieben? 

Cs ift, als ftiinde man vor ganz jihlichter 
Gartenpforte; aber fie ijt derart mit wild 
aufgejchojjenem, von Gártners Händen un: 
berührtem Grin überwuchert, daß man nidt 
auszumachen vermag, was ſich Dahinter birgt. 


ES & a] 
Hinter Diejer — breitet ſich die 
märkiſche Heidelandſchaft. 

Luiſe Henſel iſt am 30. März 1798 geboren 





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Henſel. Ird 
Get 
Dor Ernft Heilborn ma 


ihes und 


eb en 


worden, ihr Bater war protejtantijder 
Pfarrer zu Linum im Havelland, fie jelbit 
das fünfte Rind inmitten fiebentópfiger Ge: 
diwijterid)ar, von denen einzelne allerdings 
jung geftorben find. Sie war ein wildes Mäd- 
den, das es den Buben zuvortat, aber es 
zeigte fih aud) febr früh bet ihr die Neigung, 
Graberjtatten aufzujuchen und dort zu weilen. 
Die bid)terijd)e Beanlagung war ihr von ber 
Mutter überfommen. nm biejer Familie 
bidjtete eigentlih alles, man jchrieb fih 
Briefe in burdjaus flingenben Verjen, Mutter 
und Tochter gewannen fogar in Liedern 
Ausiprachemöglichkeiten, Die ihnen das 
Schreiben ſonſt verjagte, und Bruder Wilhelm, 
der finnige Maler, Rand darin hinter ihnen 
nicht zurüd. 

Sorge und Not hat fie früh tennen gelernt, 
der Vater trántelte, Geſchwiſter ftarben, ein 
Prozeß hatte Armut im Gefolge; dann ftarb 
der Bater. Luije Henjel war zwölf Jahre alt, 
als fie mit der Mutter und den überlebenden 
Gejdwijtern nad) Berlin überjiedelte. 

Cie wohnte in dem Haufe Diartarafens 
und Lindenftraßen: Ede und befud)te die 
SReal]djule in ber Rodjtrake. In der nahe: 
—— Sternwarte fand ſie mancherlei 

nregung. In dieſe Schuljahre, in ihr 
zwölftes bis vierzehntes Jahr alſo, fielen 
ihrem eigenen Zeugnis nach ernſte religiöſe 
Kämpfe; man möchte das, in ſo jugendlichem 
Alter, belächeln; doch hat die Kindheit ihren 
ſtummen Ernſt. 

Trotz der bedrängten Verhältniſſe, in denen 
die vaterloſe Familie lebte, war Luiſe Henſel 
in den ſchöngeiſtigen Kreiſen dieſes Berlins, 
das von der eben überſtandenen ſchweren 
Arbeit der EC Erholung fudte, 
ein gern gejehener Gajt. Gie verkehrte im 
Hauje dés Rriminalrats Eduard Hiki 
d dort aller Wahrjcheinlichkeit nad) mit 
£. T. U. Hoffmann, Houwald, Gontejja, 
Chamijjo um einen Tijd herum gejejjen. 
Mit der Tochter des Staatsrats und Dichters 
Friedrich Auguft v. Stägemann verband fie 
innige Freundſchaft. Bei Stägemanns ges 
ſchah's, daß Gneijenau dem Mädchen von 
lemer bitteren Kindheit — ein fonjt ftreng 
gehütetes Geheimnis — erzählte. Im Hauſe 
Stägemanns lernte fie Brentano tennen. 

Diejem febr bejcheidenen Berliner Dafein 
wurden dennoch — bas lag nun einmal im 
Zuge ber Zeit — die Freuden einer Sommers» 
wohnung zuteil. Im Jahre 1816 30g die 
verwitwete Paſtorin Henjel mit ihren Kin» 
dern nad) Schöneberg hinaus, und eben dies 
SCH „ganz im Grünen“ in Schöneberg iit 

uije Henjel zu einem Arkadien ber Erinne: 
rung geworden, Die Freunde und jyreum 


und 


pese Ernft Heilborn: Kuifje Henfel. Irdiſches unb himmlifdes Lieben BZA 531 


. binnen famen tagtäglich hinaus, man erging 
i bei ben Bergißmeinnicht am Bahe, man 
pielte, man tanzte. Won Schöneberg aus 
tam £uije Henjel an jenem Nachmittag nad) 
Berlin und in die „gute Stube“ des Staats» 
rats v. Stägemann, als fie Clemens Brentano 
tennen lernte. 

Verſunken fcheinen die Cindriide der 
märlijchen Heidelandichaft; bie geiftig an: 

eregte Rleinftadt, die zugleich Preußens 
AS ilt, beftimmt, umrahmend, diefe 

ungmädchenbilder. Gewiß, das Leben hat 
feine Gorgen, aber fie |deinem bod) nicht 
allzu jchwer; man weiß eines Mintertages 
nicht, woher das Holz zum Heizen nehmen, 
aber noch zur rechten Zeit wird es einem 
auf Borg geliefert; man findet fid) in gutem 
eiltigen Berfehr; zu innerer Erregung, zu 
Reliichem Kampf jdeint fein Anlaß gegeben. 
Blaut nicht der Himmel über aller Kind: 
de, Wendet man der Heranwadjenden 
uife Henjel jchärferes Augenmerk au, fo 
find es drei 9iuBerungen, bie sunádjlt um 
mindeiten merfwiirdig erjcheinen. Als Rind 
fagt jie einmal auf die Frage, ob fie 
nibt aud Palftorenfrau werden möchte: 
„Nein, nein!  Geijtlide brauchen gar feine 
Frau zu haben.“ Bei ihrer Einjegnung 
burd) einen gut proteftantijden Berliner 
Geiftlichen macht fie eine Art Patt mit Gott: 
daß fie fih Durch diefe Handlung zum Chrijten- 
tum befenne, fih aber die Freiheit e si 
wolle, die rechte Kirche unter den Kon: 
EC gu fuchen. Und endlich findet fih 
n ihren Aufzeichnungen der Sat: „Meine 
Eltern liebten einander jehr. Doch habe ich 
gottlob! nie eine Tändelei oder fonft etwas 
Kindiſches zwilchen ihnen erlebt, ebenjowenig 
einen Streit.“ 

Man weiß zunächſt nicht, was man von 
alledem zu halten bat. Cs ift aud) nur, als 
nábme ein Iteblidjes Syungmábdjenantlit für 
einen Augenblid bejrembenben Ausdrud an. 
E 


88 88 
Am 7. unb 8. Dezember 1818 vollzog 
$uije Henjel, Tochter des weiland proteftan: 
tijden Pfarrers Johann Jakob Ludwig 
pent ihren Übertritt zur SE oe Kirche. 
ie tat den Schritt aunádjt ohne Willen 
ihrer Mutter. Cie beging ihn aus reiflicher 
Überlegung heraus und nahdem fie fleiBtge 
Bejucherin protejtantijdjer Kirchen gewejen 
war. Es geichah bas aber zu der nämlichen 
Zeit, in ber ein Cchleiermader auf der Kanzel 
der Dreifaltigfeitstirche ftand. 


8 B] 8 

Luije Henjel ift ſchön gewejen, das wird 
alljeitig bezeugt. Ihre Geftalt war jchlant 
und zart. „Einen Teint wie Lilien und 
Rofen” rühmt ihr Frau v. Olfers nad. Ten 
blauen Mugen war ein tiefer Blid gegeben. 
Auf dem lieblidhen Köpfchen lag jchweres, ans 
[djeinenb braunes Haar. Es war ibr in folder 
a gegeben, daß fie, bereits gealtert, ihrer 

utter ein Fußkiſſen daraus fertigen fonnte, 
wie „des Geidenhäsleins Mutter“. 

Als Brentano ihr an jenem September: 


abend des Jabres 1816 zum erftenmal ento 
gegentrat, fagte ez: „Mein Gott, wie gleichen 
ie meiner verftorbenen Schweiter Sophie!“ 
Cie jelbjt aber hatte nod) eben, bevor er 
eintrat und bereits von ibm gelprodjen 
wurde, gemeint: „Wenn er weiter nichts ift 
als geiftreich, jo tann er babet nod) ein febr 
unglidlider und erbärmlicher Menjch fein.” 
rentano hatte in feinem Liebesleben bes 
reits Schiffbruch gelitten, als er Luije Henjel 
tennen lernte. Geine erfte Frau, bie er ges 
liebt hatte, Sophie Mereau, war, man tann 
wohl jagen, an thm und für ihn geltorben: 
diejer krankhafte Drang in ihm, bie zu quae 
len, bie er liebte, hatte fih an ihr ausgetobt. 
Mit feiner zweiten Frau, die er nie geliebt 
unb nur aus einem Dummjungenftreich heraus 
geheiratet hatte, Augufte Busmann, lebte 
er in Scheidung, nahdem [ie einander das 
Leben vergällt hatten. 

Mit all bem leidenjichaftlichen Ungeftiim, 
das in ihm tobte, umwarb nunmehr der 
Achtunddreißigjährige [die achtzehnjährige 
Luiſe Henjel. Bon allem Anfang an wehrte 
fie ab, denn fie bat ihn in Wahrheit nie 
geliebt. Ihm aber war es gegeben, aud 
ba, wo man ihn abwies, feelijd) einzuwurzeln. 
Und fo geldjab das Geltjame: dies Herzens» 
ME apr das bod) nun [o oder [o beitand, 
aud) wenn Bequältjein und Mitleid in ihr 
die Liebe zu erjegen hatten, führte zu einer 
religiójen Gemeinjchaft ehe Tatſache 
iſt, daß Luiſe Henſels Einfluß mitwirkte, 
Brentano ſeiner katholiſchen Mutterkirche 
wiederzugeben; ſie war's gewiſſermaßen, die 
ihn zur Beichte führte; und Tatſache iſt es 
auch, obwohl Luiſe Henſel es in Abrede ge— 
ſtellt hat, daß er ſeinen Anteil an ihrem 
Übertritt zum Katholizismus hatte. 

Luije Henjel hat ibn nie geliebt. lus 
jenem Opferdrange aber, der jungen Mädchen 
vielfad) eigen, hatte fie, bevor fie wußte, 
daß er in Scheidung lebte, mit der Möglich: 
feit ihn zu heiraten durchaus gerechnet. Mie 
nun hatte fie fic) bie Ehe mit ibm vorgejtellt? 

Shr eigenes Tagebuch gibt darauf Ant: 
wort: , 3d) RE bu würdeft fonft gut, 
aber ungeduldig fein, und würdeſt mid 
vielleicht oft quälen ober flagen; id) würde 
darin meine Buße und (en De finden, 
mid in Geduld und Gntjlagung zu üben; 
denn ein weltliches — hatte ich damals 
nicht für dich.“ Und weiterhin: „Auch glaubte 
ich, unſere Ehe würde kinderlos und keuſch 
ſein.“ Wieder fragt man ſich, was iſt da 
ſeeliſch und ſinnlich vor ſich gegangen? 

Es gibt Jungmädchennaturen, und Luiſe 
Henjel [Heint zu ihnen gehört zu haben, bie, 
ohne barum unjinnlich zu jein, mimojenbafte 
Scheu vor jeder förperlihen Annäherung 
hegen; in denen gleihjam die Furcht vor 
jeder Berührung zittert. Man weiß von 
einer Braut, die ihren Verlobten aufs aürt: 
lichfte liebte, ihm, fobald er entfernt war, 
dentbar  bingebungspolle Briefe jchrieb. 
Nabte er fih thr aber perjönlich, fo wid fie 
ibm aus; war taum imijtande, mit ihm allein 

35? 


539 ee SS Ernft Heilborn: see 


u fein; führte heftige Auftritte herbei, gleidh- 
Ft um [lid vor ibm zu fügen — um 
wiederum, jobald er fie verlafjen hatte, in 
ihren Briefen ganz Hingebung und Liebe 
u fein. Das ging durd Jahre; der Mtann 
hörte nicht auf, demütig um fie zu werben, 
is auch feine Kraft erlahmte und er bie 
Verlobung löfte. Da gejdah es, daß fie in 
tiefitem Herzeleid völlig zulammenbrad ... 
Bielleiht hat man in Luije Henfel eine nicht 
unábnlide Natur zu jehen. Ihr nun trat 
in Brentano die nicht ſowohl ftarte, als viel- 
mehr verderbte und frante Sinnlichkeit ent: 
gegen. Es ift, als wäre fie in tiefiter Seele 
darüber erjchroden. Als wäre alles um fie 
herum und in ge para ender Unfider: 


beit verfallen. ätte fie fich in ihrem 
Gelbft — aud) vor jid) felber —  betajtet 
gefühlt. Brentano hat in Luije 


Que bas 
reine und unjchuldige ſinnliche pfinden 
getötet, er hat es zugleich geipenftern ln 

Etwas von dem allen muß freilich [Hon 
vorher in ihr gejchlummert haben. Denn 
es war bod) merkwürdig, daß ein Rind Bes 
tradtungen darüber anjtellte, daß Beiftliche 
nicht verheiratet fein jollten, und fid) deffen 
dankbar bewußt wurde, nie einem Zärtlich- 
leitsaustaujd) der Eltern beigewohnt zu has 
ben! Wo es gejpenitert, war immer Neigung 
zur GBeijterjeheret vorhanden. 

Am 6. Mai 1820 legte Luife Henfel ihr 
Keuſchheitsgelübde ab. 

In Brentanos Art blieb, auch nachdem 
er auf alles Liebeswerben Berzicht geleijtet 
hatte und etwas wie eine jeeltjd)e und reli: 

töje ve a zwilchen ihnen ers 
anden war, Dies finnlid) Aufreizende, 
franfhaft Quálende, eine empfindjame Geele 
Berlegende, geradezu Verjcheuchende. Tone, 
wie bas , ahr’ bin in Deiner Heiligkeit, 
Du Tórin, Du Mabnfinnige,” verloren 
(id) bald aus den Briefen, die er an fic rich: 
tete. Um fo peinvoller mochte es eine Zuije 
Senjel berühren, wenn der lülterne Büker 
ichrieb, ibm fets, „als wäre meine Bruft ein 
Badezuber und Deine Füße ftiinden badend 
und plätjchernd in meinem Herzen, und Du 
fagit: endlich frieg id) warme Füße." Oder 
wenn er ihr |djilbert, daß er wie ein Shat: 
ten mit dem VTiondlibt in ihre Rammer 
leite, den Ramm greife, den fie aus dem 

aar gejchüttelt habe. Gie mal darüber 
ein. „Und ich frieche heran und faſſe Deine 

and, die ijt nicht falt; ich falte meine arme 

and hinein und bete, Gott möge mir bel: 
en, lieben und fterben, Dir, Dir, und dem, 
ber uns liebet.“ Das wird dann weiter aus: 
gelponnen, und am andern Morgen fehlt 
bem Ramm ein Zahn — „Sud ihn nur in 
der ganzen Rammer, Du findeft ihn nicht, er 
ift in einer andern Kammer, wo Du viel 
ſchöner brin wohnit, in meiner Herzfammer, 
ba Hedi er mitten a und ijt ganz ver: 
oldet. Gute Macht.“ ewig; das il echt 

rentanojdjes Märchen; bier aber griff es 
bod) mit plumpvertraulichen Händen nad) 
einer, bie vor jeder Berührung aurüd|d)redte; 


und bie — bas bleibt bas Entifeidende — 
den Zudringlichen nicht einmal Itebte. 

Cs ift von Luije Henfel zweifellos als Gre 
lójung empfunden worden, als Brentano 
in den Geptembertagen 1818 Berlin und 
feiner Wohnung in ber Mauerſtraße ben 
Rüden ¿uwandte, um fic auf Reifen zu bes 
geben. Auch hatte fie bas Ihrige dazu beis 
getragen, ihn dazu zu bewegen. 

Zuele Reife aber hatte ein Ziel, das ihnen 
beiden gleihmäßig am Herzen tag, und das 
tein geringeres war als — das Wunder, 

In Dülmen lebte damals Katharina Ems 
merih, von Krankheit gejchlagen, Berzüdun« 
gen anbeimgegeben, Gefichte |djauenb. Ein 
Kind aus dem niederen Volle, von geringer 
— trug ſie die Male des Herrn an 
ihrem Leibe; und dieſe Male bluteten an 
jedem Freitag. 

Zu Katharina Emmerich begab fic Cles 
mens Brentano, um Jahre bei brau melen und 
e Eingebungen aufzuzeichnen. Zu Füßen 
ihrer SR $ageritátte wird |päter aud) 
Luiſe Henjel figen, recht innige Freundfchaft 
gebend und nehmend, den Worten der „Ers 
wedten” [aujdend. Und es mutet wie eine 
grellfarbige Illuſtration zu diefem romans 
tijden Zeitempfinden an, wenn fih wie 
Henjel, wieder ein paar Jahre |päter, nach— 
dem bie Emmerich geltorben war, nadts 
vom Totengräber begleitet auf den Kirchhof 
begibt (es Dich. der Leib ber Emmreric fet 
aeftoblen worden), bas Grab öffnen läßt und 
der Toten ins Angelicht |djaut. 

Unmöglich, an der Frage vorüberzugehen, 
wer dieje Katharina Emmerid war, denn 
nur von bier aus ijt Einblid in Luije Henfels 
— Empfinden zu gewinnen. 

an hat von Betrug geſprochen, wie es 
in ſolchen Fällen niemals ausbleibt, aber 
an Betrug iſt hier ſchwerlich zu denken. Die 
Frage, wie weit Autoſuggeſtion und fugs 
geftive Einwirkungen anderer an dem , Mun: 
der” Anteil hatten, berührt uns nicht, Diele 
Katharina Emmerich war eine Ehrlidhe und 
Geijtgegeid)nete. Ihr wurden wirklich Ge: 
fihte und Eingebungen zuteil. 

Aber — und das ijt es, was meiftens über» 
leben wird — es ift ein Unterſchied zwiſchen 
Geijt und Geijt, zwiichen Eingebungsdenten 
und CGingebungsdenfen. Was ihr zuteil 
wurde, war ohne Tiefe und ohne jchöpferilche 
Kraft. Was fte jah, war bar jeder ſeeliſchen 
Offenbarung. Gte erblidte den heiligen Jos 
jeph und zeigte mit der Hand, wie groß er 
BEEN lei. Gie wurde über Lander und 

eere in ber Efitaje hinweggeführt, um zu 
erjdjauen, was jedem Kenner der biblijden 
Geſchichte fo, ober ungefähr fo, befannt fein 
dürfte. Gie betrat mit načten Colen die 
Paradieſeswieſe, ohne ben Blid ins Innere 
der Natur zu tun. Der Jefus, der ihr ſprach, 
war ber Jefus, den fie verftand. Gie hatte 
bie Eingebungen — eines frommen Kindes. 

Der die Kindlein zu jid) tommen ließ, tft 
in dem Kindhaften aber nicht erſchöpft. 

Man tann jagen, daß Clemens Brentano 


Luife Henfel. Irdiſches 


durch bie Emmerich einem Jefus zugeführt 
wurde, der nicht der Heiland feiner Geele 
war. Hier liegt bie tieffte Tragif feines Les 
bens unb das, woran fein Dichten verdorrte. 

Clemens Brentano aber fap neben dem 
Bett der Emmericd und ſchrieb an Luife 

enjel die Icngen Briefe, die zu ausführ: 
lihen Berichten wurden. Alles Ginnliche 
| eint nun wirflid von ihm abgefallen zu 
ein, Schweiter ift fie im und „Eluges, flares, 
Hangvolles Kleinod“. Ctwas alttlug tönt 
es hinein: „Meine liebe Schwelter, meide 
allen Umgang, wo Du gefällit; das ift ge: 
fährlicher als Lob“. Die Warnun tebrt 
wieder und Klingt beftimmter: „Es wird eine 
Zeit tommen, ba Du zwiſchen bem himm- 
Itjdjen und einem irdijden Bräutigam ftehen 
wirft. Gott erbarme jid) dann Deiner!” Die 
Cpradje wird abermals deutlicher: „So laffe 
uns Denn das Fleiſch dem Herrn opfern, aud 
er hat bas feine für uns geopfert.” Und in 
der Nachſchrift desjelben Briefes: „Du willjt 
dem Leben jeine Sinnlichkeit nicht gönnen: — 
verjage fie Dir, dann ek Du mehr gut ge: 
tan, als alle Goethes gejchadet haben.“ 

Das flingt nun [reilid) etwas jeltjam, 
blidt man dem Brentano in die Mugen, der 
er nod) eben gewejen war. Tian fiirdtet, uns 
ter der himmliſchen Livree tónnte einem eine 
von febr irdifden Nöten bewegte Brujt ent: 

egentlopfen, und wirflid, aus Brentanos 

D onifben Morten [prid)t eine neue, nicht 
[onberfid) überirdiſche Leidenſchaft, bie — 
Eiferſucht. 

Luiſe Henſel war dem Jüngling begegnet, 
nach dem ihr Herz Verlangen trug: Ludwig 
von Gerlach. 

Wirklich hebt in ihrem Innern damit der 
Kampf an, dies peinvolle Sichentſcheiden 
en dem himmliſchen und dem irdiſchen 

räutigam. Wie D nun einmal war und 
empfand, beftand für fie dies gebieterijche 
Entweder — Oder, eim GCid)barumberum: 
lügen gab es nidi. Mit tiefer Rührung 
Det man in ihren Tagebüchern, daß es piel: 
leicht bejjer fet, zu zweit zu gehn als allein, 
weil eins dem andern out bem Meg zu Gott 
bod) forthelfen Tome — aber bie innere 
Stimme gibt's nicht zu —: „DO, um Gottes 
willen werde du ntt jo mein Peiniger, fieh 
mich nicht wieder jo an, wie du mich einmal 
angejehen — wenn mid noch einmal bie 
Welt jo begehrend und fo verheißend aus 
deinen Augen anfieht, jo muß ich bid) vers 
lajjen, mid) ganz von bir wenden, da id) 
bod) fo gerne deine Schweiter fein möchte.“ 
Cie trägt Danad Verlangen, einen Lieblings: 
Jpagiergang mit ibm zu maden — „aber 
wir müßten beide nichts verlangen und nicht 
fehnen und von dem lieben Gott reden.“ 

Cid) bieles Liebesweben in Luije Henjel 
vergegenwärtigen, heißt nun wirtlih an 
Barteites rühren; es ijt, als öffnete (ich Bier 
eine Blüte, eine jener jeltjamen, die tn einer 
Nacht erftehen und vergeben und bie fih 
unter jedem Blid ſchließen müllen. 

Co zart war bieles Liebesfehnen in Quife 


und himmlifches Lieben 533 


Henfel, daß ber Mann, dem es galt, es nicht 

‚einmal gewahr geworden ift. Der Zufall, 
oder ein freun lides Geſchick, folte es fügen, 
daß Ludwig von Gerlach, als Greis, an das 
legte Giechenlager von Luiſe Henfel, die er 
jett Jahrzehnten nicht geſehen hatte, trat. 
Er plauderte mit ihr von Der alten Zeit 
und von gemeinjamen Befannten. Was er 
jelbjt fiir Dies Leben, bas ba im Erlöjchen 
war, bedeutet batte, abnte er nicht. 

Aber man begreift, daß eine Natur wie 
fuije Henjel, diefe Zartefte und Allzuzarte, 
(i von einer Grjdjtnung wie der Luthers 
abgeftoßen fühlte. Der gejund finnlide Zug 
in bem benut|den Reformator jcheucht die 
Mimofjenhafte tief in ihr Inneres zurück. 
Cie wohnte hinter zugezogenen Gardinen. 

Mie ein Symbol mutet es an: Die vers 
ftorbene Schweiter hatte Brentano in £uije 
Henjel wiederzuertennen geglaubt, als [ie 
ibm bas erftemal entgegengetreten war; aus 
Ludwig p. Gerlad) grüßte Luije Henjel ihr 

eitorbener Bruder. In ihren Tagebüchern 
Bit es: „Rieber Freund, but du denn aud) 
jo? Sd) Habe einen Bruder Ludwig vers 
loren; verloren habe ich ihn nicht, aber er 
tft geltorben, willft du nun nicht mein Bru 
der Ludwig fein? ... Ich habe mid) gewuns 
dert, baB du nicht im September gejtorben 
bijt; mein Bruder ftarb in demjelben Mo— 
nate, an derjelben Krankheit, die du hatteft.” 

Dies Lieben blidt aus toten Augen. 

CH 88 


„Und [oll ich bid) nicht haben, 
Den einzig ich erwählt, 

So E man mich begraben 

Verſchmäht und unvermáblt ! 

Und jollt ich bid) nicht jeben, 

Auch dort nicht werden dein; 

Möcht ich nicht auferiteben, 

Mode id nicht felig ein!” 

Ohne je in ein Kloſter einzutreten, Dat 
Luiſe Henjel ihr Keujchheitsgelübde abgelegt. 
Der Bräutigam, dem fie t anverlobt hat, 
ijt Gottes Sohn geweien, der für bie jündige 
Menjchheit den Kruezestod erlitt. 

Cs ijt ein wehes Geheimnis um die Brauts 
haft der menichlichen Seele mit ihrem Gr: 
lójer. Jefus felbft hat ihr das Mort ges 
geben, als er das Bleichnis von den Mugen 
und törichten Jungfrauen ſprach. Alteſte 
Tinjtit beginnt darüber zu raunen, man ers 
tennt darin bie Efftajen ber Verzücdten, aber 
man blidt aud) in bie ftille Glut ber in die 
Mejenbeit der Dinge 9Berjenften. In einen 
Menibbeitsmorgen dámmert ein Menjch- 
heitsabend hinüber, unb nun ertönt es von 
den Lippen eines Novalis: „Hinunter zu der 
higen Braut, zu Jejus, dem Geliebten!” — 
Sawohl; wir willen um das bräutliche 
Geheimnis der Geele zu ihrem zeitlofen 
Freunde, 

Bei Luife Henjel ift von alledem nicht die 
Rede. Und es ift wichtig, darin Har zu 
leben, um fo mehr, als von mancher Geite 
bas Gegenteil behauptet worden tft, Von 
dem Myjterium ber Brautihaft ijt nichts in 
Luije Henjels Gedichten, und nichts in ihren 


Quije Henjel. Irdiſches und himmlifches Lieben 535 


firdhe aufgenommen und fand fid) da warm 
und wärmer eingebettet. Go verjtrid) ihr 
das Leben: fie wurde geführt. Zwar, 
e immer wieder aufiteigender Wunſch, 

onne zu werden, gin nicht in Erfüllung, 
aber fie lebte in der Welt, als tate fies 
nidjt.. Die Gardinen vor ihrem Fenfter blie- 
ben zugezogen. Gie fand in adligen Häus 
fern Aufnahme und fduf fid) da ihren Wir: 
tungsbereid); fie pflegte Rranfe; fie erzog 
junge Mábddjen und ftreute in ihre Herzen 
den Samen, der in ihrem eigenen Blüte und 
— getrieben hatte; ſie gab und fand 

iebe; ſie ſtarb mit gefalteten Händen als 
eine, die den Tod ſeit Kindestagen herbei— 
geſehnt ſie ſchloß die Augen achtund⸗ 
ſiebzigiährig, und es war nicht anders, als 
wäre nur eine Nacht darüber verjtrichen, feit 


jie, ein Kind, ihr Abendgebet gejprochen hatte. . 


Der Jungfräulichen war etwas wie Mutter: 
gliid bejchieden. Sterbend hatte ihre Schwelter 
thr ihr Söhnchen anvertraut, und die Gorge 
um dies Kind, bem Dod) ber protejtantijde 
Bater lebte, hatte ihr ihren Entſchluß, zur 
tatholiichen Kirche überzutreten, febr welent- 
lich erldmert, ber die Hindernijje waren 
bejeitigt worden, fie lebte diejem Kinde, er: 
fuhr an ibm Wlutterfreude, aber auch jebr 
berbe Mutternot und jah den längjt Heran- 
gewadjenen fterben. Co glitt und entglitt 
alles. Bielleicht aber war jeder Berluft auf 
bieler Erde Gewinn für die Heimat jenjeits 
der Todeswolte ? 

Cie glid) der alternden Braut aus dem 
Bolfslied, deren Bräutigam vor fünfzig oder 
mehr Jabren in der Schlacht gefallen ijt, 
und die nod) Abend für Abend die Lampe 
an ihr Genjter ftellt, ibm den Weg zu weijen, 
wenn er bod) beimfebren jollte —, altgewor: 
denes Rind. Aber fie glich auch zugleich der 
Hugen Jungfrau, die bie Lampe bereit hält, 
weil jie weiß, der Bräutigam muß fommen, 
denn er ift nicht von biejer Welt, und Tod 
und Gterben haben über ihn nicht Gewalt, — 
Kind Gottes. 


8 e & 

Luije Henjel tft Rind geblieben, ijt es aud 
in ihrer Dichtung, und damit findet Die 
Frage, was es doch bedeuten wollte, Dies: 
„Zah den Mond am Himmel ftehn — Und die 
ftille Welt bejehn,“ ihre Beantwortung. Es 
if nichts anderes, als ftredte ein Kind die 
Hände aus und jubelte: „So [Món ijt der 
Mond!” und faltete fte alsbald und bäte den 
lieben Gott, ihn immer am Himmel zu laffen. 

Daß fie Kind blieb, wirklich und ohne alle 
Ginjdrantung, aud) ohne alle Hintergedan- 
ten, das gibt ihren Gedichten den ganz 
eigenartigen Retz. Cie find wie einer Diejer 
vergejjenen Garten hinter hohen Mauern 
mitten im Gtadtgetriebe. Der Gartner, der 
für ihn zu jorgen hatte, timmert jid) nicht 
darum, oder er ijt auch feit langem geftors 
ben. Inmitten des hohen Grajes haben fih 
dar angejdet. Es wádit aus ihrer 

urgelfnolle aber auch Jahr für Jahr die 
eine hohe, weiße Lilie auf... 


Gerade weil fie fo ganz Rind ijt, belit 
fte eine wundervolle bildnerifche Kraft. Ste 
dentt in Bildern, ihre Gedanken treten, 
gleihjam mit Händen greifbar, vor fie hin. 
So wird bei thr Todesjehnjucht zu der 
Bitte an Mutter Erde: 


„gab uns in grünen Wiegen 
Im weißen Hembdlein liegen 
Go tief und jtill und Dicht.“ 


Nun ift es freilich nicht zu leugnen, daß 
fith dieje ausgejprochen bildnerijche Kraft 
aus ihren |päteren Gedichten verliert. Mud) 
ba nod ipridt bas Kind, aber die Um: 
gebung wird verſchwommener, die Wände des 
Zimmers Ideen Mu YA zu fein. 
Mas will das befagen? Nichts gegen die 
Didterin und nidts gegen ihren Entwid: 
lungsgang. Jedes Menjchenleben hat aud) 
jeelifd) ſeine Blütezeit. Die ihre mußte in 
die Kindheit und in die frühe Jugend fallen. 

Auch findet p eins unter ihren febr jpáten 
Gedichten, es ift im Sommer 1869 entitan= 
den, Das zum mindeften zeigt, wie perjón: 
lid, wie innig jchlicht ihr bas religióje Er» 
lebnis blieb, ein Gedicht, bas eben durch 
diefe Erlebnistraft auch bildhaft wirft. Es 
ijt „Mein Emmaus” überjchrieben und fegt 
mit ben Berjen ein: 


„Der Tag bat fih geneiget, 
Kehr’ ein, geliebter Gajt! 

Der Lärm des Tages SCENE 
Und günnt der Seele Raft. 


£aB uns beim ben tahle 
Und trauter Rede nun 

Sm milden Whendjtrable 

Bon jhwerer Wand’rung rubn!” 


Man Det bas und erinnert fih, dak ihr 
Geelfjorger ihr aufgetragen hatte, Jofeph 
und Maria auf ber Reife Me Ke 
zu begleiten; man erfennt, wie jolche Reifen 
ihr Früchte trugen. 

Irdiſche Wirklichkeitseindrückte ſucht man in 
ben Bedichten bieles Kindes vergeblich. Gelbjt 
bie Landidaft gewinnt feine entſcheidende 
Kraft, oder bod) nur da, wo fih die inneren 
Beziehungen von jelbft ergeben. Ms ein ewig 
EAS tritt ihr die Birte jchweiterlich 
nabe. ieber ijt es der Mond, der Die 
Landſchaft ihrer Seele redjt eigentlich be: 
ftimmt: 

» tenn’ ein blei ; 
E E E 


Es fiebt, als jagt’ es: ‚Weine nicht! 
Sit alles wohlgetan.‘“ 


Und bann findet [fid in einem ihrer 
Sugendgedidte — fie ift Damals zweiund- 
zwanzig Jahre alt — ein Wort, bas für 
dieje ganze (Empfindungswelt geradezu 
Offenbarungsfrajt gewinnt, derart, daß 
Himmel und Erde, Sehnen und Erfennen 
in eins verwadjen, nur das Mort, in dem: 
jie Den Mond Jeju janftes Bild nennt. 

Und darüber möchte man die Hände mit 
ihr falten: 

„Laß den Mond am Himmel jtehn 
Und die ftille Welt bejegn!” 


«lees bom Büchertiſch⸗ 


Bon Karl Otrocfor 


SRLLLELLELLLELLLETLLLLSLLLLLLTEeELLELLLETLLLLELTELETEEC IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIDIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIO 


gons Sterneder: Der Bauernftudent (Leipzig, L. Staadmann) — Ostar 
oerte: Der Oger (Hamburg, Hoffmann & (impe) — Elifabeth von Sepfing: 
Das volltommene Blüd (Berlin, Auguft SHer) — Seinrid) Lilienfein: Der 
Shag im Ader be pee abe Gtreder & Schröder) — Rory Towsfa: Der Pring 
von Hyiterten (Leipzig: Wien, Donau- Verlag) — Karl Streder: Unfere Raijerin, 
Sebensbild einer deutjchen Frau (Berlin, Neudeutige Verlags» und Treuhandgeſellſchaft) 





dlich einmal wieder ein junges, kräf— 
tiges Ringen! Endlich wieder eins 
mal ein neucr Kopf mit Dellen 
Augen und ohne merfliche Sjolier» 
fidt awijden diejem Kopf unb 
dem Herzen. Hans Gterneder ift ber 
neue Dann, ein armer Volksſchullehrer 
im niederöfterreihilhden Wald, und Der 
Bauernftudent heißt fein Roman, ber 
Erjtling eines BZweiunddreißigjährigen — 
was fon ein wenig für ihn einnimmt. 
Wenn der Dorflehrer Sans Sterneder in den 
gerien auf die Wanderjchaft geht, jo ſchnei— 
bet er fid) vorher in feinem Wald einen hands 
felten Wanderftab vom Gtraud); fo einen 
Gteden mödten wir ibm bei Antritt feiner 
Wanderung in die Zeitliteratur geben, Die 
EE ange nicht fo [Món ift wie ver: 
mutlich fein Wald am Semmering und in 
ber es fid) auch lange nicht fo luftig wan: 
bert, Denn ba tritt man oft unperjebens in 
ein $yudjslod), daß man fih für ein Weil: 
den den Fuß verfnadjt, oder Brombeer: 
BE Ihlingt [id mneibijd mit zäben 
tadeln um den ausjchreitenden Gtiefel; 
fommt der Wandersmann aber trog alledem 
vorwärts, fo umjchreien ihn die Rráben und 
Doblen, die im Schwarm bejonders tapfer 
unb bejonders mißtönig find. Holla, Dons 
Gterneder! Top deinen guten Gteden fefter 
und Ihwing ibn lachend zur Abwehr um 
bie Müge, wenn du ibn nicht gerade als 
Stütze braudjt, etwa um über ein Fuchslo 
zu jpringen. Ein rechter Kerl findet jchließ» 
lid) feinen Meg, wenn ihm aud) mandmal 
das Lahen vergeht: namentlich heute, wo 
ber geijtige Arbeiter der eigentliche Proles 
tarier ilt. 

Der Bauernfiudent ijt natürlich Sterneder 
jelber, der, wie die meiften Anfänger, in 
einem Entwidlungsroman fid) zunädjlt ein» 
mal die eigenen Erlebnijje, Rampfe, Liebes: 
und Berufsangelegenbeiten zur Erleichterung 
von ber Geele jchreibt. Der arme Klein: 
báuslerbube in einem winzigen weltfernen 
Dörflein kannte feine Eltern nicht, bie früh 
tarben, bie Mutter [Hon bei feiner Geburt, 
o bleibt ber Heine Wolfgang Heß in Obhut 
der Großmutter Barbara, die aud thr 
zweites Rind verliert, |o daß nun bas Büb— 
chen ihre einzige Freude und Gorge ijt, bas 
fie zum Dante dafür aus ihrem Summer 
langjam wieder ins Leben führt. In Der 
Stille und Cinjamfecit, gwijden Wiejen, 


HHVH UU UU JUL U 101020 T0101 01010101 01010101 012010101 030 10101 


Aderbreiten und Bergen erlebt Wolf eine 
[üdlidje Bubengeit; fein Lehrer Dlartin 
tons nimmt fid) feiner freundlich an und hilft 

dem nad) Bildung ftrebenden Knaben vor: 
wärts, jowcit es da auf dem Dörflein eben 


‘geht. Und weit geht es leider nicht. Als Wolf 


H Sabre alt ijt, bat Duy epe. bie 
ijfenjchaft für Den armen Buben ein Ende, 
und es geht ins Leben, das heißt — ans fub: 
hüten, Ungern fieht ibn fein Lehrer [Hon 
aus der Schule gehen, aber er weiß, wie 
fauer fid) bie Großmutter Hef ihr Brot vers 
dient, und |o verichafft er ibm die Gemeinde- 
biiterftelle. Nun tann Wölflein Tag für Tag 
Draußen im Freien liegen und feinen Träus 


‘men nadbangen; für gute Verpflegung jorgen 


die Bauern, deren Vieh er hütet. So jpringt 
er durch froblidje Bubenjahre. Mad zwei 
Jahren wird er Rnedt bei einem rechtichafr 
fenen Bauer, wo es KL im Sommer die 
Beine und bie Faulte en Debt, Für 
die langen Winterabende aber d itd) Wolf 
Heß wiljenichaftliche Bücher von jeinem Lehrer 
und Gett und ftudiert, bis endlich fein Drang 
nad) geijtiger Entwidlung ihm feine Ruhe 
mehr im Dörflein läßt: er muß auf bie 
GStadtjchule und ordentlih etwas lernen! 
Martin Lins ebnet ihm auch hier bie Wege. 
Zwar fommt ber große Rnedt fid) etwas 
jeltjam vor gwijdjen den viel jüngeren Rin: 
dern ber Klaſſe in der Stadt, aber er findet 
aud) bier freundliche Helfer: iyreitilde und 
Gelegenheit, fih Durd) Stundengeben Lebens: 
unterbalt zu verdienen. Cine lebensgefähr: 
liche Schädeloperation wird überwunden, und 
Heh, ber in den Ferien mit den wenigen 
Bagen, bie er beim Gtundengeben erübrigt 
Bat, als Walzbruder durd die Alpen und 
durch Deutichland wandert, beendet fein- 
Mittelſchulſtudium durch eine glänzende Priis 
fung. Uber was nun? Die Beamtenlauf— 

abn wird ihm bald gründlich zuwider, und 
Wolf fapt [fon den verzweifelten Entichluß, 
wjeder Knecht zu werden, nur um feine {freis 
heit und frijde Luft zu haben, da verweift 
ibn der wohlmeinende Schuldireftor auf den 
Lehrerberuf. Wolf geht aufs Seminar. Als 
er in den Ferien daheim ijt, lernt er bie 
hübjche Tochter eines Runjttifdlers fennen, 
mit Der er jid) nad) gutbejtandener Prüfung 
verlobt. Bald tann er fie heimführen, da 
er in einer benachbarten Gemeinde am Sem» 
mering als Lehrer angeftellt wird. So hat 
er feine jchöne Heimat gefunden, bie nod 


PeessssSssss5 Karl Streder: Neues vom 3Büdjertijd) RESZ 537 


immer rüjtige Großmutter verfauft ihr flei- 
nes Anwejen und zieht zu dem glüdlich ver: 
heirateten Enfel, der in den langen Winters 
abenden zur TFabulierfeder greift und bald 
jeinen erften Roman in bie Welt jchidlen 
fann, ber heißt: „Der Bauernjtudent”. 

Es liegt viel Sonne auf den Blättern 
diejes Buches. Nicht jenes „liebe Himmels: 
liht”, das „trüb durch gemalte Scheiben 
bricht“, jondern die ganz unmittelbare, 
ladende, wármende Berg: und Wiejenjonne, 
die alle Dinge in beiteres Licht und frób- 
lihe Zuverliht taucht, bie würzigen Duft 
aus Tannenwáldern und Heujchwaden Tölt. 
Ginfad) und ungetiinjtelt ift alles erzählt, 
aber doch mit Starker epijcher Begabung und 
friiher Sarjtellungsfunjt. Ein Heller, tiid: 
ef unperborbener SUlenjd) jdjeint diejer 

olf: Hans, mit dem man gern einen Tag 
auf feiner Viebtrift ober gwijden reifen 
Rornjeld. rn ober im Waldesdidicht verbringt, 
denn in jeinen jdjauenben Augen fpiegeln 
fid) alle Herrlichkeiten der Natur von ber 
Freude eines fühlenten, bidjterijd) verjtehen: 
den Menjchen vertlárt, Weld) ein finnig-fetner 
Poet jpridt etwa aus der Weihnachtsviſion 
oben im jtillen, jchneeverbrämten Walde, 
während die Menjchen unten ihre Tannen: 
báume mit Silberlicht ſchmücken. Das deutſche 
Schrifttum hat vielleicht feine großen Offen: 
barungen von Hans Sterneder zu erwarten, 
er gehört nicht zu den Genien, die einft die 
Literaturgefhichte an erfier Stelle nennen 
wird, aber wir dürfen uns [hon freuen, daß 
ein |o gejunder Bolksdichter in Diejer üblen 
Zeit auftaucht und unjeren Glauben an bas 
ewige Jungbad der Natur kräftig befeftigt. 
Kein Wunder, daß der einundjechzigjährige 
Meilter Hans Thoma feine Freude an diejem 
jungen Waldlehrer gefunden. und ihm ein 
wunderjchönes, finnvolles Titelbild für dies 
Bud gezeichnet Dat. Mie jener Hellt aud) 
Gterneder Landjdaften und Szenen aus dem 
täglichen Leben am beiten dar, vielleicht daß 
auch er nicht immer ganz im Figürlichen 
befriedigt, aber dafür um jo mehr durch Die 
ſchlichte Kunſt jeines jchöpferijchen Bauens, 
durch innige Berfentung in bas Mejen des 
Dargeftellten und burd) ungewöhnliche Ge: 
fühlswärme erfreut. Wie Hans Thoma au 
einem der Lieblingsmaler Des DdDeutjden 
Volkes geworden ift, jo wollen wir von Hans 
Gterneder hoffen, daß er berein|t zu feinen 
Sieblingserzáblern gehören wird. 

Das wird Osfar Loerfe vermutlich 
niemals werden, obgleich er wohl bie Här: 
tere Begabung ift und (]djon weil er in 
größerer Reife fteht) ihn an Gebantentieje 
wie an Filigranfunft bes daritellenden Aus: 
druds überragt. Obgleich? vielmehr gerade 
deshalb. 

Gein Roman Der Oger ijt nicht für 
jedermann, und wer nichts als Spannung 
durch Gejdehnijfe, durch ftarte Handlung 
jucht, wird jchwerlich auf feine Kojten fom- 
men. Ausnahmsweije darf man einmal dem 
Urteil des Verlages (bas ja met durch bas 


Vergrößerungsglas der Reflame orientiert 
ijt) recht geben, wenn er ausjpridt: „Es 
Iheint müßig (um ganz Deutlich) zu fein: 
barbarijch), die Fabel diejes Romans in ge- 
drängten Worten hier herauszujchälen, um 
das Stofflihe als äußeren Anreiz anzu: 
preijen. Romane wie biejer Rieje Oger find 
ſchwer zerlegbar in Schaufeniterbildchen. Sie 
ind nicht um bes Gegenjtändlichen willen da, 
jondern” ujw. 

Vielleicht darf man — dies in Klammern 
bemertt — .jene ftumpfe Schiht bes Leje- 
publitums, die eine Erzählung zu fennen 
[aubt, wenn fie ihre äußeren Geldjebnijje 
ennt, und darum vom Beurteiler unbedingt 


‚eine ausführliche „Inhaltsangabe“ verlangt, 


einmal daran erinnern, dab bie föltlichite 
Erzählung in deutſcher Sprache, Kellers 
„Romeo und Julia auf dem Dorfe”, die 
Fabel einer Dugend- Kalendergeichichte hat, 
und daß bie Wiedergabe Dieter abel in 
fünfzig Reporterzeilen ein Vandalismus ift; 
zumal wenn etwa fura hinterher die Inhalts» 
angabe eines Deteftivromans folgte, die von 
Spannungen ët Niht auf das Was, 
jondern auf das Wie fommt es an, wenig: 
itens bet einem Dichter. 

Und Loerfe ift ein Dichter. Schon nad) 
den eriten fünf Seiten bes „Oger“ wüßte es 
aud) ber, der bisher nod) nichts von ibm 
gelejen bat. Geltjam verjchlungen [teber an 
diejem Eingang Dámonie und VBifion. Gem 
toter Bater jpricht mit bem „Helden“ Martin 
und verteidigt fih gegen deffen heftige Be: 
Ihuldigungen. Wir haben aljo hier wieder 
bas nachgerade ſchon abgetriebene Steden: 
pferd ber Tüngften: die Eltern und naments 
lid) den Bater als den Ausbund irdilcher 
Gemeinbeit hinzuftellen (es fei nur an den 
„Sohn“ des „Tichters” Hajenclever erinnert). 
Uber £oerfe ijt, dem Literaturtalender gus 
folge, bald vierzig Jabre alt, aud) gebórt 
er jicherlich nicht zu denen, bie eine Mode 
um ihrer jelbft willen mitmachen, Hier liegt 
der Grund alfo tiefer. Martin ijt nad) einer 
heftigen Szene mit feinem Bater, in der er 
ihn für bas ganze Unglüd der Familie ver: 
antwortlid) madt und Jich beinahe zu Tat: 
lichteiten binreiBen läßt, von Haufe fortge: 

angen, obwohl er etwas Tüchtiges gelernt 
bat und es in Darts Beruf zu etwas 
ringen fónnte. Er fährt zu feinem ältejten 
Bruder, ber auf einem SFilchdampfer als 
Mafdhinift tätig ijt, und nimmt dort gleiche 
Stellung. Sm diejer neuen, ihn wenig an: 
heimelnden Umgebung, Jozujagen oi der 
Plante im Ewigen babintreibenb, fiebt er 
bie Ddiifteren Schidfale feiner Familie und 
jeiner Jugend in anderem Licht und er vers 
bringt nun feine Tage und namentlich feine 
Nächte damit, diefe Schickſale und bie Schuld 
jeines Baters einer gründlichen Prüfung und 
Nachrechnung zu unterziehen. 

Hier Scheint Loerte Strindbergepigone. Mie 
der fauftiiche Schwede zehrt aud) er davon, 
verzehrt auch er fih damit, daß er in Träumen 
und Phantaſien mit den gejpenftijd auf: 


538 Rarl Gtreder: 


tauchenden Gejtalten feines früheren Lebens, 
mit Eltern und Gejchwiltern im Geijte fid) 
hberumjchlägt, daß er auf dauerndem Sput: 
erichtstag bald fid) felber, bald andere ans 
lagt und entid)u[bigt. Aber, mag Koerte 
ion von Gtrindberg einiges empfangen 
Ben er ijt mehr als Nachfahre, denn ficherlich 
ennt er jelber den nächtlichen Beſuch diejer 
wiiften Gelpeniterfippe, tennt er diefe Ge: 
banfenidjladjtet aus eigener Anſchauung. 
Auch ift feine Erlöjung eine andere als bei 
Strindberg, fie liegt bei ibm nicht in jener 
Inſchrift, bie auf des ſchwediſchen Dichters 
Grabtreuz [tebt: „Ave crux, spes unica!“ 
(ie fommt aus einem pantheijtijchen Welt: 
verftehen, bem Bewußtjein eines unlöslichen 
und unentrinnbaren 3ufjammenbangs, das 


uns Dichterijch vermittelt wird und das ben - 


eigentlichen Schwerpunft biejer Dichtung aus: 
madt, d. b. ben Punt, in dem ihr ganzes 
Bewicht vereinigt Icheint. Wher diejer Schwer: 
puntt muß, wie jeder andere, unterjtüßt fein, 
wenn bas Ganze der Schwere gegenüber fein 
Bleichgewicht behalten fol, und er wird 
unterjtüßt durch Dichterijche und menjchliche 
Kräfte, bie fi hier wunderjam vereinen. 
Nur ein Beilpiel, wie dies Gleichgewicht ber: 
Cal wird: ,Selbft wenn wir nur einen 

egenbogen mit jenem Blide, der uns im 
Ankhanen des väterlichen Leides ſchwer— 
mütig geworden ijt, nur eine Gefunde und 
ohne das Bewußjein daran anjehen, und 
dann fánte das fiebenfarbige Spiel zurüd in 
den Himmel und wir zurüd in die Erde, jo 
wäre das [hon gut: es war einmal in ber 
Welt. Der Friede über alle Vernunft, den 
uns die Sagen verheißen, ift bann Dagewejen. 
In der Empfindjamteit ijt er jhon nicht mehr 
und im Morte auch nicht — er ift jo [till, 
daß er eben nur da fein fann.” 

Man fann die Dämonie und bie Geſchichte 
des Romans teilweije ungejund nennen, aber 
aus ihnen winft Gejundung. Werdendes 
Licht liegt in Diejer Dämmerung, Hohe 
poetijche Verklärung in diejer Bhantafie über 
tragildjes Leben. Dazu gefellt fih eine feltene 
Eindringlichfeit und Ge)dhliffenheit des Aus: 
druds und ein Etil, ber jid) trog leiden: 
Ichaftlicher Empfindung zu gelajjener Ruhe 
geläutert hat. 

Dies legte fann man auh Elifabeth von 
Heyfings neuer Erzählung: Das voll: 
tommene Glück nachjagen, fo unähnlid) fie 
jonft der vorigen ift. ber Glijabetl) von 
Heyfings neuer Erzählung liegt wieder bie 
alte Schwermut einer vom Leben oft Ver: 
wundeten, nur diesmal diifterer nod) gefärbt 
als fonft und bod), wie immer, mit ber leijen 
Gehnjuht nad) bem Schönen erfüllt. Eine 
junge, ſchöne, reiche und berühmte (mehr tann 
man eigentlich nicht verlangen) Sängerin, 
eine Gängerin der Seide: wohnt im rojen: 
umjponnenen Landhauje am Mittelmeer. Aber 
trog allen Cegnungen des Blüds wartet 
fie wie Nora auf das „Wunderbare“, fie 
fühlt, daß ihrem Leben und vielleicht aud 
ihrer Kunſt die rechte, lebte Weihe nod) fehlt. 


EE 


Die bringt ihr ein erniter Mann, ein be: 
tannter Forjder, ein Sonderling und Lebens: 
verneiner. Cie hat ein Bud von ihm über 
Mufit gelefen, und bas Giitige, Harmonie- 
beildjenbe in ihr hatte zu der Sehnſucht ge: 
führt, ihn von jeiner Schwermut zu erlöjen. 
Da bórt er fie in einer Kirche fingen und 
fühlt bes Lebens Schwere von fih weichen, 
ein Nieerlebtes, Unfaßbares erfüllt ihn. Cie 
lernen jid) tennen, lieben und jdjlieger ben 
Bund fürs Leben. In ihr Glüd miſcht lid) 
bei ihm nur manchmal die Gorge, ob er thr 
aud) genug fein fann, eine Gorge, die indes 
bald ſchwindet, da fie volltommen glüdlich 
an feiner Geite ift. Er wird an feiner pejfi: 
mi[tijden Welteinftellung irre, wird belehrt 
u der Ahnung eines Ginnes und einer 
entung im Weltgeichehen. Aber ift dies 
wirklich die Wahrheit? Wn feinem eigenen 
Schickſal wird fie, |o jcheint’s, ad absurdum 
geführt. Im Begriff, ein armes Kind vor 
einem beranfaujenden Auto zu retten, wird 
er jelber überfahren und ftirbt nach wenigen 
Tagen. Eine Wandlung vollzieht fid) nun 
aud) in ihr. Nie noch hatte fie bisher im 
Schmerz gejungen; nun lernte fie ein ganz 
anderes ingen, ein bleibendes Lied weil 
in Schmerzen entitanden. Aber gerade mit 
diejem vertieften Singen, das ihrer Runft 
erit die rechte Weihe gab, war fie eine rechte 
Sreudebringerin, denn wer nun ihre Stimme 
vernahm, glaubte darin bas eigene Leid zu 
hören, als habe die Stimme es in fid) auf: 
genommen und trüge es nun mit fic) weit, 
weit fort. So wurde. fie eine Befreterin 
vielen. Auch bas geht vorüber; die Jahre 
eilen dahin, ihre Gtimme erlijcht, und 
idlieBlid) fommt die große Frage nad) dem 
Ginn und Wert des Ganzen dufter aud zu ihr. 
Dm Erlöjchen, in ber Riidfehr zum Urjprung 
des Lebens, zur Heimat, wo das Vergeffene 
wiedererlernt, bas Verlorene wiedergefunden 
wird, Debt fie bas vollfommene Glid. 

Mer jähe nicht in bieler Sängerin bie 
Dichterin felbft? Wie bei jener der Gejang 
jo ijt bet ihr die Dichtung geweiht Durch 
tiefes Leid, nicht nur die angeborene Wien: 
jchenliebe Klingt darin, fondern „Das wijjende 
Erbarmen derer, die felbft am Kreuze hängen“. 
Wir haben ¡Hon gelegentlich ihrer Erzählung 
„Die Orgelpfeifen” vernommen, wie [hwer 
bas Sdhidjal Frau von Heyfing im Kriege 
getroffen, wir vernehmen nun, wie eine große 
Seele aus fo furdtbarem Ungliid Trijtung 
juht, und ben Frieden höchſier Art findet. 

Eine merfliche Stufe tiefer ftebt Sein: 
rid) Lilienfeins Heine Gkizzenfammlung 
Der Shak im Ader. Lilienfein fann 
jonit mehr und er hat fidjerfid) Urteil genug, 
um dieje Gelegenheitsjammlung von Hobel: 
ipánen aus feiner Mertitatt, bie zum Teil 
nod) aus dem Kriege ftammen, allzubod) ein: 
aujd)ü&en. „Der Scha im Ader”, die erfte 
Heine Erzählung, nad) der er das Büchlein 
benennt, ijt nicht einmal bie befte. Ludwig, 
ein armer $yelbjolbat, fommt auf Urlaub, 
weil feine Mutter im Sterben liegt; als er 


—— — 


Fee ES Neues vom Büchertiſch B22222%23233232323349 539 


eintrifft, iſt ſie aber ſchon begraben. Er 
findet dafür wenigſtens ſeine alte Liebe noch, 
die Juſtine, ein robuſtes Mannweib, das arg 
aufs Verdienen aus iſt und in der Ehe ſicher 
einmal „die Hoſen anhaben“ würde. Zu 
et oder gar zur Berlobung 
bat fie weder Zeit nod) Luft, dafür zerbricht 
fie fic) den Kopf, wo feine Mutter, bie bod) 
unmöglich jo arm geftorben fein fünne, einen 
Scag veritedt haben wird, vielleicht habe 
fie ihn gar im Ader vergraben. Dem ent: 
taujdten Urlauber, ber genau weiß, daß 
feine arme Mutter faum einen Biffen Brot 
gehabt hat, wird das au bunt, er geht, ohne 
Abſchied zu nehmen, wieder in den Schüßen: 
graben, noch ehe fein Urlaub zu Ende ijf. 
Juftine, die feiner Mutter Acer mitbeftellt, 
pran indefjen unb gräbt nad) dem Shak, 

is fie die Nachricht erhält, dah Ludwig ge- 
fallen ift und ihr den Ader vermadt hat. 
Das verftört ihr den Sinn. Gie bat den 
größeren Gdjab, feine treue Liebe per|d)mábt 
und einem Phantom nachgegraben. Darüber 
wird fie [djlieplid) tieffinnig. Zwar tut fie 
tagsüber nad) wie vor ihre Arbeit, aber 
nadjts geht fie an den Stellen um, wo fie 
targe Liebesjtündchen mit ihm gefeiert hatte. 
— Hübſch ijt bie Erzählung „Der Himmel- 
ftürmer“, in ber Lilienfein ein junges Genie 
Ichildert, bas jpäter zum ftumpfen Philifter 
wird, der bebábig mit jeiner Familie um 
ben Gptijd) [i5t, als ber alte Gugendfreund 
ibn bejucht. enigitens liegt in den hellen 
Mugen feines Bübleins die Möglichkeit, 
daß ber einmal der Simmelftiirmer wird, 
ten der Gajt einftmals von feinem Bater 
erhoffte. Lilienfein verleugnet in Ddiejen 
Heinen Gfizzen nicht, daß er ein liebens: 
wiirdiger, frohmütiger Schriftiieller ift, ber 
aud) zur Natur ein gefundes Verhältnis hat, 
aber einen Lorbeerfrang wird man ibm für 
diejes Büchlein, das vielleicht nur auf Wunſch 
bes SBerlegers ¿ujammengejtellt ijt, nicht 
reichen Tonnen — es find, wie gejagt, Hobel: 
jpáne aus ber Mertitatt. 

In eine gänzlich andere Umwelt, als die 
der bisher angezeigten Bücher war, auf das 
leichte ?Brettergerü|t des Bühnenvöltchens 
führt uns ein neuer Roman: Der Prinz 
von Hyiterien, den eine dem Wiener 
Burgtheater fehr nabeltebenbe Dame unter 
dem Dednamen BE eh ejchrieben 
hat. Cin Jofef Raing-Roman — ong Rainz. 
Der Meilter tit nämlich [don zwei Jahre 
-tot, als der Roman beginnt. Aber fein Beilt 
geht um und flopft an monde Tür, daß bie 
dahinter Wohnenden erichroden auffahren. 
Bor allem [ibt er als Alb feinem Nachfolger 
am Burgtheater, einem unzulänglichen Erja, 
namens Peter Hödlmojer, auf. Immer wie- 
der muB nad) dem Willen des halsitarrigen 
Direktors ber arme Hödlmojer all bie Glanz: 
rollen Sainz»: Chryjanders jpielen, immer 
wieder wird er von der öffentlichen Meinung 
heruntergepußt, jo daß er, nervös geworden, 
mit dem Direktor heftig aneinandergerät und 
drauf bejtebt, Rollen zu fpielen, in denen 


nicht der Schatten feines großen Vorgängers 
ihn Berabbrüdt. Schon bat Hödlmojer um 
jeine Entlajjung gebeten, da tritt eine Sid: 
jalswende ein durch eine junge Dame na: 
mens Sjabella. 

Eine Kainzihwärmerin wie fie im Bude 
— in dieſem Buche) ſteht. Ihr 

eben iſt nur noch der Trauer und dem 
Totenkult gewidmet. Sie ordnet des Künſtlers 
Nachlaß und will ſeine Briefe herausgeben; 
dabei entdeckt ſie ein hinterlaſſenes Drama 
Chryſanders: „Der Prinz von Hyſterien.“ 
Mit allen Mitteln betreibt fe die Aufführung; 
die fommt auch zuftande, und die Hauptrolle 
jo natiirlid) Hödlmojer fpielen. Bei den 
Proben lernt Sjabella ihn tennen. Gie ijt 
beraujdt von feiner Schönheit; fie, bie bis: 
ber nur mit der Geele lieben fonnte, lernt 
nun bie irdijde Liebe tennen. Aber der 
umgebende Geilt Chryjanders ijt unerbittlich, 
feine Gefpenfterhand jdjiebt fic) zwijchen die 
beiden, als [te fih beinahe angehören. Hödl— 
mojer, ber einen glänzenden Abend bei ber 
Erxftauffiibrung bat, weil ihm diesmal Publi- 
fum und Rritit, Rolle, Stüd und Theater 
gleichgültig geworden find nad) einer Auss 
Ipradje mit Sabella. Aber mitten in einer 
erregten Szene erblidt er das ihm verhaßte 
Beliht des Direktors und er bricht unter 
einem Sterpendjof gujammen. Es ijt aus. 
Sjabella läßt ihn Fallen: jie bereut ihren 
Serrat" an dem geliebten Toten, deffen 
Macht fie in jener Szene zu jpüren geglaubt 
hat. Und es ijt bie Tragif des von jeinem 
roBen Mebenbubler gleichjam aus dem Grabe : 
Segue verfolgten Schaujpielers, dağ er 
erade nach diejem großen Erfolg, infolge 
einer [on unabwendbaren Sunftmiidigtert, 
ins bürgerliche Leben zurüdtritt. 

Ein unterhaltender Roman ohne literaris 
iden Ehrgeiz und ohne übermäßigen Drang: 
aus Geelenfenntnis heraus („pjychologildy” 
auf deutjch) bie Begebenheiten zu begründen, 
auch weniger von dem Drang nad) epiichem 
Lorbeer als nad) Senfation. ber er ijt von 
—— genauer geſagt, von wieneriſcher 
Theaterluft geſättigt und ſicherlich für ſolche 
Leſer anziehend und feſthaltend, die in dieſer 
Atmoſphäre ein wenig zu Hauſe ſind. 

— — Wenn ich zum Schluß meine Le— 
bensbeſchreibung der Kaiſerin kurz 
anzeige, ſo geſchieht es in der Erwägung, 
daß vielleicht mancher Leſer dankbar iſt für 
den Hinweis auf ein Andenken an dieſe 
gütige und edle Frau —: auf ein Lebensbild, 
das ſie (wenigſtens nach dem Bemühen des 
Verfaſſers) ganz ſchildern ſoll, wie ſie war 
und wirkte, und das auch ihr Leben in der 
Verbannung, ihr Leiden und ihren Tod 
mitumfaßt. Natürlich hat das Buch, das 
mit Abbildungen, handſchriftlich wiederge— 
gebenen Briefen uſw. ausgeſtattet iſt, keiner— 
lei politiſche Nebenzwecke, dazu wäre dieſe 
Frau zu ſchade und ſie ſelbſt würde es 
ſchwerlich billigen. Es iſt nicht mehr und 
nicht weniger, als der Untertitel beſagt: das 
Lebensbild einer deutſchen Frau. 


e Slluftrierte Rundſchau e 


OtCccecceccceccececeecceccecccececccecececcceccecececcecececec II IIIDIIIIIIIIIIIIIIIIIIIFIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII=-0 


Mode — Shmud von Annie Hyftaf — OberidjIejiijdes Hiittenwerf. Ra: 
dierung von Prof. F. C. Börner — Bildnis des früheren deutjhen Kron- 
pringen — Zu unfern Bildern 


EEE e 
| i $ | im. 5 P 1 







Ü 





n bielen Woden, wo uns mit Lug unb 
Trug nicht nur, fondern mit blutiger Ge: 
walt das Induftriegebiet von Dberjchlejien 
entrijjen werden fol und nod) niemand weiß, 
wie [id das Schickſal des unglüdlichen 
Landes gejtalten wird, halten wir uns und 
unfern Feinden immer von neuem vor, daß 
beim Berlujt Oberjchlefiens unjre wirtjchaft: 
liche €eijtungsfábigteit vollends zertrümmert 
werden würde. indeftens ebenjo jchwer 
wiegt jebod), woran bie GSachverjtändigen 
Ki erinnern, daß unjrer Tüchtigfeit, bie jid) 
einjt in aller Welt durchzujegen vermochte, 





abermals ein Arbeitsfeld entzogen zu werden 
droht, daß für eine große Menge Kopf: und 
Handarbeiter wieder die Gefahr wächſt, im 
Ausland für fremde Vorteile fronden zu 
müjjen. er ein Bild wie die hier aufge 
nommene Radierung betrachtet, diejes Ge- 
wirr von Majchinen und Bauten, Ddiejes 
Betriebe von Arbeitern, der fühlt, auch wenn 
er nie in Dberjchlejien war, wieviel Großes 
in Diejem fernen Wintel unjeres deutjchen 
Waterlandes zum gemeinjamen Beften ge: 
Ihaffen wurde. 

Der Radierung von Prof. F.C. Börner. 





DOberjchlefiihes Hüttenwerk. Radierung von Prof. F. C. Börner nad) einem Bemälde vo 
Sandrod. (Aus der Austellung von Amsler & Cal ardt, Berlin) von Leonhard 





549 bSSSSssSSsssssssse]] IUuftrierte 9tunb[djau see set 








liegt ein Gemälde von Leonhard Sand: 
rod zugrunde. Cine derartige fiber: 
tragung in eine andere Runjtiprache ver: 
langt ein hohes Maß von liebevoller 
und Jchmienlamer Nachempfindung: ein 
eigenes Runftwerf tritt aus eigenen An: 
Iprüchen neben bas Urbild, ähnlich etwa 
wie Schlegels Shafejpeare neben den 
enaliichen Dichter. 

Börner hat bie „Friedershütte” für 
eine Folge von Drei Blättern ge: 
Ihaffen, die bie Berliner Runjthand- 


: Links: Pfirjichfarbener Schlafanzug mit bemalten Aufichlägen. — Redts: Bemalter Schlafrod 
H Dearzella: Werlitatt, Berlin=* 


lung von Amsler & Ruthardt unter dem Nas 
men , Arbeit” plant. 


88 88 8 
Bu den hübſchen Modebildern auf bieler 
Geite fónnen wir uns kurz fajjen. Die Lejerinnen 
werden ohne ein Mort der Erläuterung am 
beiten jelber fejtftellen, daß diejer Schlafanzug 
und diejer Schlafrod jehr reizvoll find. 
88 


8 
Unſere Leſer gouen (id bereits früher an 
funftgewerblichen Arbeiten von Annie Hyftat 
gefreut. Wir zeigen heute eine Anzahl neuer 
glüdlicher Chöpfungen von ihr. Antonine Val: 
lentin gibt dazu folgende Jachlichen Erläuterungen: 
Cin dunkler Chryjoberynll mit einem Leuchten 
gleich altem Wein, ber fih langjam vom Beber 
lojt, ijt in eine goldene &aplel eingejchlojjen, die 
ihn gleich einem SHeiligenjchein umgibt. Einen 
dreifantigen, Ichwarzen Opal, bejjen Blau von 
roten und grünen Flammen aufgewiiblt ijt, läßt 


ilmersdorf 





ra=. a 








UE S 


die Rinftlerin von ei- 
nem goldenen Gtrab: 
lentranz tragen. Gie 
faßt einen großen bel: 
len Ghryjopras, der fih 
glei) einem riefigen 
Wafjertropfen jam: 
melt, und läßt ihn in 
ein Brillantengerinnjel 
tropfen. Gie [dajt 
wunderbare Ringe, de- 
nen man geheimnis» 
volle Kräfte zutraut: 
Rubine in ſchwerem, ge: 
ſchnittenem Gold, Sma: 
ragde in kantiger hoher 
Faſſung. Und Ketten 
von großen Steinen 
mit blaßgoldenen Zwi— 
— — In den 

erken von Annie Hy— 
ſtak werden tote Steine 
und ſtummes Gold zum 
Leben erweckt. 


Mondſteinbroſche 


Kunſtgewerbliche Arbeiten von Annie Hyſtak, Berlin 








Broſche. Chryſopraſſe in Silber mit Brillanten 


Bevor wir auf 
unſere Kunſtbei— 
lagen eingehen, 
möchten wir noch 
einen Nachtrag 
zum vorigen Heft 
geben: Das Bild— 
nis der Kaiſerin 
ſtammt von dem 

Bildnismaler 
Max Arenz, ei— 
nem Künſtler, de]: 
jen liebenswiir- 
dige Darftellungs= 
gabe in der Pots- 
damer SHofgejell: 
\chaft bejonderen 


Ynflang fand. Die 


HKotelftizze Der 
&ailerin tft als ein 
Nebenwerk gleich: 
zeitig mit einer an: 
dern ausgeführten 
Bildniszeichnung 
entitanden, Die 
dem Kaifer -zur 
Erinnerung an 
den Hochzeitstag 
überreicht wurde. 
Die hohe Frau ge: 
wahrte demKünſt— 
ler fünf Sithungen 
gu je amet bis drei 
Stunden, und der 
Dialer hatte, wie 
er uns berichtet, 
erneut Gelegen: 
heit, ihre fejjelnde 





ESSSSSSCOASASA 543 


Unterhaltungsgabe,ihr 
wundervolles Taftges 
fühl und ihre bin: 
reißende SHerzensgüte 
zu erfahren. Gie hatte 
die Freundlichkeit, bas 
von uns wiedergege: 
bene Blatt mit ihrem 
Namen zu zeichnen und 
damit den  Grinne- 
rungswert für den Ma— 
ler zu verdoppeln. — 

Das vorliegende Heft 
wird mit einem rechten 
Sommerbild eröffnet. 
Ziele junge Frau in 
der jaftgrünen Lanb: 
haft, die ber Münch— 
ner © M. Gdult: 
heißgemalt hat, tónnte 
als die Vertórperung 
eines Jonnedurdflute- 
ten Julitages gelten. 
Das Bild verjud)t, ein 
Stüd gejunder Natur 


Monditeinichmud in blajfem Gold mit 
Brillanten 


544 IEI Muftrierte Rundihau seess 


— 


wiederzugeben, und wer bei einem Bilde nad 
der Wirkung und nicht nad) der Richtung fragt, 
wird bas Kraftvolle und Seben|penbenbe 
jpiiren, bas von ihm aus[trómt. — Kraft 
und Leben find aud) bie Vorzüge des Bil: 
des „Am alten Leuchtturm“ von Otto 
Damajius Franz (zw. ©. 440 u. 411). 
Der 1872 zu Arnftein in Bayern geborene 
Künftler ift jebr |pát unter bie Dialer ge: 
gangen Er ift Mitglied des Künftlerbundes 

ayern und malt ?Bilbnijje, Landjdaften 
und Snnenrdume. — Wir bleiben nod) in 
fBanern, wenn wir uns dem Leutajder 
Bauernmadden von Profeſſor Walter 
Thor zuwenden (zw. ©. 448 u. 449). Das 


Bild ift farbig von ungemein zartem Reis. * 


Das Braun von Augen und Haaren, das 
Schwarz bes Haarbandes und der Hals: 
Biel der Fleiſchton des Gelidts, das 
Rot der Lippen und der Blujenftreifen, das 
Blau der Bluje felbft — alle diefe Farb: 
tine fehren im Hintergrund des Bildes wie: 
ber und [djaffeu eine große Einheit, — 3wi: 
(den ©. 464 u. 465 finden bie Lejer einen 





Goldnadel mit Monpdfteinen und Turmalinen. Bon Annie Hyital, Berlin 


Gottesdienft von Karl Albredt, bem 
Königsberger Meijter, von dem man jagen 
möchte, daß jedes feiner Werke einen Gottes: 
dienft darftellt: mit fo GC Ginn ftebt 
er vor der Natur, mit jo andächtiger Treue 
erfaßt er die äußere Erjcheinung, mit fo hinge- 
gebener Liebe erjpiirt er die Geele aud) in 
den einfadjten Vorwürfen feiner Malerei. — 
Ein Schüler der Königsberger Atademie ijt 
der 1863 zu Dirichau bei Danzig geborene 
und jest in München anjáliige Alfred 
Bahmann. Er ift Landichafter und ver: 
ftebt, wie bie Dier wiedergegebene Probe 
jemer Kunſt (315. ©. 480 u. 481) verrät, Iy- 
rijde Stimmungen fejtzubalten. Aber er ijt 
nicht nur Landimafter. Vielleicht bat er es 
Münchner Einflülfen zu banfen, daß er ben 
ihm eingeborenen Humor aud) da zum Aus: 
drud bringt, wo ängjtliche Gemüter fürchten 
müßten, jtilwidrig zu wirfen. — Adolf 
Brütts „Weidwund“ (zw. ©. 488 u. 489) 
ijt eine PBlaftit von ftarter Geſchloſſenheit 
bes Aufbaues und tiefer Bejeelung des Aus: 
drudes, wie [ie biejem Meilter, ber klaſſiſche 








Nadel mit Brillanten und Perlen. Von Annie 
Hyftal, Verlin 


fiberlieferung mit modernem Empfinden zu 
vereinigen ftrebt, eigentiimlid fino. — Einen 
Blid in eine geweibte Stätte, in Goethes 
Garten, aus dem er bis in die legten Lebens: 
tage Erholung und Belehrung erntete, läßt 
uns Ilſe Meyn mit ihrem duftigen Bilde 
| (zw. ©. 512 u. 513) 
tun. — Mit dem 
Strandbild (zw. ©. 
520 u. 521) zeigen 
wir eine Probe 
Düffeldorfer Runft. 
Hugo Mühlig 
hat es gemalt und 
beweijt, wie frijd) 
und eigen er ein 
unendlich oft dar: 
geitelltes Motiv ab: 
zuwandeln weiß. — Ebenfalls aus ul 
Dorf ftammt die einfache und haubzarte Ha: 
— (auf S. 445); Wilhelm Herber— 
holz hat ſie uns zur Wiedergabe überlaſſen, 
ein Künſtler, von dem wir noch manche 
Gabe für dieſe Hefte erwarten. 1881 in 
Schwerte in Weſtfalen geboren, beſuchte 
Herberholz die Kunſtgewerbeſchule und Aka— 
demie in Kaſſel, zog dann nach Düſſeldorf, 
wo er Schüler von Reter Sanjjen und Prof. 
Spas, vor allem aber von Prof. Claus: ` 
Meyer wurde. Nach den Lehrjahren famen 
Wanderjahre — als Krefelder Hujaren= 
freiwilliger machte Sjerberbolg den Krieg 
mit — DN lebt unb jchafft er wieder in 
Düffeldorf. Seine Radierung bezeugt ibn 
als Meifter des fnappiten Ausdruds. Ein 
Freund unjerer Hefte, der ein paar Som: 
mertage als Gajt des früheren Rronprin: 
zen in Wieringen verlebte, hat uns ein Düb- 
ihes und gewinnendes Bild des Berbannten 
— und leider fo oft und viel Berfannten — 
überbradjt, deffen Wiedergabe zahlreiche 
unjerer Lefer herzlich erfreuen wird. P. W. 





Herausgeber und verantwortlider Schriftleiter: Baul Osfar Hider in Berlin 
Künſtleriſche Leitung: Rudolf Hofmann in Berlin — Verlag: Velbagen & Slafing in Berlin, Bicle- 
feld, Leipzig, Wien — Drut: Fifer & Wittig in Leipzig — Für Öfterreich Herausgabe: Friefe E 
Lang in Wien I. Verantwortlih: Grid) Friefein Wien L Bräunergaffe 3 — Nahdrud des Inhalts 


verboten. Alle Rechte vorbehalten. 


Quldriften an die Schriftleitung von Velbagen & Klafings 


Monatsheften in Berlin W 50 

















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35 Jabra. / Auguft 1921 / 12.Beft 


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Hans Boſenhagen 





'Eequm ein zweiter unter den jüngeren 

) Berliner Malern hat im legten 
2 Jahrzehnt joviel ernithafte Bead: 
tung gefunden wie Franz Eichhorft. 
Nicht, weil er der ann har Ver: 
treter einer der heut bas öffentliche Runjt: 
leben beberrjdenden Richtungen ijt, jondern, 
weil er, unbefiimmert um die Tagesmoden, 
einfach ehrliche gute Runft macht. Seine Er: 
folge find freilid) weniger leicht errungen als 








die feiner zu den verjchiedeniten Ssmen 
jedod) 


Ihwörenden Runjftgenojjen, obne 





D Kornernte 
Belhagen € Klajings Monatshefte. 35. Jabrg.1920/1921. 2. Bb, Nachdrud verboten, Copyright 1921 by Belhagen € Klafing 





Zweifel jehr viel bejjer begründet und be: 
feftigt. Ebrlid währt nämlich aud) in ber 
Kunft am lángften, und wenn gegenwärtig 
einer ftattlihen Zahl von Exprejfioniften, 
&ubijten, Futuriften und Raleidoftopmalern 
von Gtaatsjeite beftätigt wird, daß fie 
Unvergängliches gejdaffen, jo fragt fid) 
doch jehr, was bie Nachwelt zu ihren Lei: 
tungen jagt, und ob die ftaatlime Ynerten: 
nung nicht jhon nad) wenigen Jahren als 
ein aus der Verwirrung der Zeit geborener 
Irrtum wieder zurüdgenommen wird. Mag 


090500000000000000000000000000900000000000«05«ccccc Saubentoloniefeſt. Privatbefip AAA Arc 





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Wurftball in ber Schwalm. Privatbefit 





36 * 


548 


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— 8 Beguinenhof in Brügge 


die Gegenwart bie Unwahrhaftigkeit und 
Qualitátslofigteit ber meiften von ben Dei: 
tigen Modegrößen hervorgebradten Werte 
nicht wahrnehmen — der Nachwelt wird 
es unbegreiflich jcheinen, daß man eine Beit- 
lang in Deutjchland ben Unterjchied zwiſchen 
einem funjtgewerblichen Entwurf und einem 
Tafelbilde nicht mehr jab und dürftige Talente 
für gottbegnadete Genies nahm. Nun fol um 
Gottes willen niht Franz Eichhorft jenen 
Pjeudobegabungen hier als das wahre Mal: 
genie unjerer Zeit entgegengeftellt werden. Sa: 
mit wäre weder dem Dialer nod) der Sade 
gedient. Es handelt fich hier nur darum, den 
Gegenjas feftaujtellen zwijchen ehrlicher, mit 
voller Hingabe an den Gegenftand und mit 
vollendetem Handwerk gelerfteter Arbeit und 
Hervorbringungen, die nichts oder bod) jehr 
wenig von diejen Eigenjchaften ertennen 
laffen. Wergleiche find unmöglich, [hon weil 
alle inneren Bezüge fehlen, weil die Kunft 
Gidjborjits Ahnen hat, der anderen aber 
Jolche fehlen oder nicht mehr nachzuweijen 
find; denn wie der Inhalt der Runjtjamm- 
lungen bezeugt, überleben bewußt fragenbhafte 
&un[tergeugnijje taum eine Generation. Die 
Nachwelt erfährt nichts mehr von ihnen, 
weil nicht nur ber einzelne Menih, jondern 
Die ganze Menjchheit banad) trachtet, Ver: 
irrungen |o jchnell und jo gründlich wie 
möglich vergejjen zu machen. 

„Ale im NRücdjchreiten und in der Auf: 


Hans Rojenhagen: 


RE=R22222272224 
ANT : ; 


rt ` wr — 





löſung begriffenen Epochen find fubjettiv, da- 
gegen aber haben alle vorſchreitenden Epochen 
eine objektive Richtung.“ Ob dieſes Goethe: 
wort Eid) horit befannt tft, bleibe babingeltellt ; 
für jid) jelbft jedoch hat er offenbar die Er: 
fahrung gemacht, daß der Maler, der voran 
und dauernd in Schäßung bleiben will, nichts 
Yörderlicheres tun fann als jid) zunächſt ganz 
nahe an die Natur zu halten, weil diefe alle 
Elemente, bie im Runjtwert wirtjam find, 
enthält, und es nur darauf anfommt, fie 
zu finden und herauszuarbeiten. Dak Phan: 
tafie aud) dazu gehört, ijt ficher; aber es ift 
eine andere Art von Phantaſie als die, von 
ber man gewöhnlich jpricht. Es ijt die Phan- 
tafie, die im Alltäglichen und Unfdeinbaren 
das Wunder der Schönheit jucht und nicht 
rubt, bis fie es gefunden. Mfo nicht bie er: 
findende und gejtaltende Bhantafie. Den 3Bejtt 
bieler bat Eichhorft, bis jet wenigitens, nod) 
ct genügend bewiejen. Damit ijt gejagt, 
daß feine Runft realijtijd, alfo rein auf das 
MWirkliche gerichtet ift. Dadurd wird weder 
ihr Wert nod) ihre Bedeutung verringert; 
denn nur auf dem Boden folder mit Ber: 
itánbnis betriebenen Mirtlimteitstunft tann 
jene andere Runft wadjen und gedeihen, 
bie Der Welt die berau|djenben und bin» 
reißenden Werte ber Raffael und Rubens, 
der — und Böcklin geſchenkt hat. 
Die Malerei an ſich, als eine auf hand- 
werflide Gejege und Erfahrungen auf: 





Iesel Franz Eichhorft seess 549 


idj)orit den größten Vorteil, weil fie ihr 
bie Drittel und bte Waffen liefern, den Himmel 
zu ftürmen und ibn mit all’ feinem Glanz 
und Zauber auf bie graue Erde zu verjegen. 
In bielem Sinne ijt Eichhorfts Bejtreben, 
die Objektivität ber Naturwiedergabe hod: 
¿ubalten, nicht genug zu ſchätzen. 

Objektivität it nicht mit 9tüdternbeit zu 
verwedjeln. Hinter Eichhorfts Bildern der 
Wirklichkeit jtedt fowobl Liebe als aud) Be: 
geijterung. Ein flares Auge und eine ihrem 
Herrn geborjame Kr und Doch aud) wieder 
zarte Hand haben jie gejchaffen. Wohl taum 


ebaute Runft iib aus Erjeheinungen wie 





Pé Helfiidher Innenraum 


ein anderer unter den heut lebenden deutjchen 
Malern ijf imftande, der Wirklichkeit foweit 
in ihren legten und feiniten Äußerungen zu 
folgen wie Eichhorſt. Nichts erjcheint ihm 
in der Natur nebenjád)lid); bennod) drängen 
(id) die Einzelheiten auf feinen Bildern nicht 
vor, jondern ordnen fih dem Bejamteindrud 
unter. Und jo intim der Maler die Wirklich: 
feit wiedergibt, niemals erjcheint deren Durch: 
bildung fleinlidh. Es ijt unmöglich, gewijje 
Bilder Eichhorits zu jehen, ohne dag man 
an Leibl dentt; aber man bat nicht das 
Gefühl ber Madhahmung. Nur das gleiche 
Streben ijt vorhanden, der Natur möglichft 





550 Iesse ees SH Hans 9tolenbagen: Lee 


nahe zu tommen und feinen ihrer leijen Reize 
zu E EEN Auch in ber Gauberteit 
des Handwerts bejtebt eine gewijje Whnlid: 
teit. Allerdings: Leibl ift berber, männlicher 
und fübner. Ein fo glánzender Zeichner Cid): 
horft ijt — ibm fehlt vielleicht manchmal die 
ungeheure Sicherheit der Borm, über bie £eibl 
verfügte, aud) wenn er die Farben nod) jo 
duftig ineinanderfpielen ließ. Und fo ton: 
ión die Bilder des unfterblichen Meilters 
von Aibling find, er wagte kräftige Farben, 
tráftige Gegenſähe. Bet Eichhorft herricht 
faft nur ber Ton, felten bie farbe. In der 
Gtillebenbaftigteit ber Naturwiedergabe er: 
innert Eichhorjt mehr nod) an Trübner als 
an Leibl. Es ift ibm nur zuweilen gegeben, 
die jogujagen atmenbe Natur darzultellen 
oder bas jeelijde Leben von Menichen zum 
Ausdrud zu bringen. (Er jieht in der Regel 
mehr mit feinen jcharfen Augen, als mit 
dem Gefühl. Alfo Debt er aud) ben Dingen 
und Wejen nicht immer bis auf jenen legten 
Brund, in dem das Leben mit jeinen feinften 
Außerungen fih regt. Indejjen — Das find 
Mängel, bie von ben meilten Menjden gar 
nicht wahrgenommen werden, und denen jo 
große Vorzüge gegenüberitehen, daß fie für 
die Beurteilung Eichhorſts nur joweit in 
fBetrad)t fommen, als man ibn mit Leibl 


& Karfreitag. 


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— — = ` s 


vergleicht. Jedenfalls gehört er zu den aller: 
beiten Malern, über bie Deutjchland gegen: 
wärtig verfügt, und es ijt auf feinen Fall 
richtig, einem Talent vorzuwerfen, daß feine 
Gaben begrenzt find; denn ber Künjtler wird 
mit jolchen Grenzen geboren; er hat fie jid) 
nicht felbft gelebt. an tann aljo hodjtens 
einen Ehrgeiz weden, fie weiter hinauszus 
rüden. enn ein Maler allerdings ein fo 
außerordentliches Können befigt und zeigt, 
wie Eichhorjt, glaubt ber naive Beurteiler 
jeiner Leiftungen immer, daß der Riinjtler es 
in der Hand habe, nod) Bedeutenderes her: 
vorzubringen. Das ift aber ein Srrtum. 
Mie Leibl jeiner bejonderen Anlage nad) 
niemals, aud) mit dem beiten Willen nicht, 
zu einem Rembrandt jid) zu erhöhen ver: 
mochte, jo wird Eichhorit in feinem ganzen 
Leben nicht an Holbein oder Menzel heran: 
reihen, obwohl man vor einzelnen Schöp: 
fungen der beiden Dialer an jo große Meijter 
wohl denten mag. Aber er ijt Eichhorjt ges 
worden, und das will [Hon etwas fagen. 
Die wahren Maler werden als Vialer 
geboren. Sobald fie nur die nótigiten Hand» 
werfsqriffe erlernt haben, jtehen fie als 
fertige Rünjtler ba. Das hat man im ver: 
gangenen Jahrhundert an Franz Krüger 
und Menzel, an Leibl und Trübner, an Rnaus 





Privathefiz Vi 


1:32:23$3$3:9353$39393$3232353252] Franz Eihhortt Keess 551 


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Frau am Ofen. Gemälde von Franz Eichhorft. 


und Gebhardt — Auch Eichhorſt iſt als 
Maler auf die Welt gekommen. Seine Lehrer 
haben ihm gerade nur das Rüſtzeug geben 
Tonnen, und aud) aus dieſem hat ber junge 
Riinjtler erft etwas gemadt, indem er fih 
große Vorbilder wählte und an ihrem Können 
das jeinige entwidelte. Er jteht durchaus 
fejt in der Überlieferung der alten Meijter 
und injofern nicht in ber Leibls, als er nicht 
auf bie SBrimamaleret — die Malerei, bie 
jeden einmal auf bie Bildfläche gejekten 
SBinjelftrid) für unveränderlid ertlárt — 
Ihwört. Er arbeitet im großen und ganzen 
etwa wie die Künftler malten, ehe Frans 
Hals zeigte, daß man das aud) anders könne, 
aljo mit Untermalungen, fibermalungen und 
Lajuren. Und wie bie großen Meijter fann 
er alles malen. Er ijt fein Spezialift. Er 
malt Menjchen, Tiere, Sandidafien. Bild: 
nijje und Stilleben mit dem gleichen Gelingen. 
Aber bas hat er wieder mit Leibl gemein, 
daß er feine Modelle mit Vorliebe unter den 
Bauern jucht und lieber bie Durchgearbeiteten, 
djarafterpollen Köpfe alter Mtenjden, als 
hübjche, glatte Mädchengeſichter malt. Nicht 
um feinen Realismus zu beweijen, fondern 
um zu zeigen, daß überall in der Wirklich: 
feit Schönheit vorhanden ift, und es nur 
darauf antommt, fie ins rechte Licht zu jtellen. 
Ziele Richtung hat Gid)borit von Anfang 
an gehabt, obgleich er als Maler erft all: 
máblid der geworden, der er Deut ijt. 





(Original im Befige von Carl Rriener, Berlin) 


Mie viele ausgezeichnete Maler des ver: 
gangenen Jahrhunderts, wie Menzel und 
Hofemann, Daumier und Stud, fam aud 
Eihhorft von der JMuftration her, und feine 
eriten Bilder — „Wurjtball in ber Schwalm“, 
„Zaubentoloniefelt“ und „Waldfeſt“ — find 
barum aud niht auf bejtimmte Farben: 
Hänge, jondern auf den Gegen[a& von Hell 
und Dunkel aufgebaut. Gelbjt jebt, wo er 
in feinen Bildern bod) malertjdje Gedanten 
zum Wusdrud bringt, behält ber Riinjtler 
diejen Gegenjaß bis zu einem gewiljen Grade 
bet, indem er gern Dunfle Geitalten gegen 
belle Hintergründe oder gegen das Liht 
lebt. Aber obwohl nun die Farben in feinen 
Schöpfungen eindringlicher |preden — Das, 
was man einen Roloriften nennt, ijt Eich» 
horſt nicht geworden. Ihm ift bie Farbe 
nidt 3wed, jondern Mittel. Won ihrer 
blühenden Schönheit, ihren  berüdenben 
Reizen weiß er wenig. Er wirft eigentlich 
nur durd) bie Anmut und ben guten Ge: 
idjmad, mit denen er bie eine zu der anderen 
lebt unb den Eindrud des Malerijchen er: 
zielt. — Indeſſen — toloriftijhe Begabun 
iit, auch bei guten Dlalern, jo außerordentlid) 
felten, daß man nicht wagen darf, deren Ab: 
wejenheit ihm als fiinftlerijden Mangel vor: 
uwerfen. Bejonders die deutjchen Roloriften 
Ind an den Fingern berzuzáblen. Weder 
Leib] nod) €enbad), weder Uhde nod Geb- 
hardt, weder Knaus nod Liebermann tónnen 


552 Hans Rofenhagen: Franz Eichhorft 





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Zerſchoſſener Wald 


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als folde gelten. Ihre Vorzüge lagen, wie jchnittenen Köpfe in ber National-Galerie. 


bie Eichhorfts, auf anderen Gebieten. 


Wie bei jenen Bildniffen, find Eichhorits 


Die Richtung auf Leibl zu hat Eihhorjt Köpfe eng vom Rahmen umſchloſſen, wie bei 
erft vor einigen Jahren eingejchlagen, als den Wildjchügen ift bie Malerei weich und 


er fid) nachdrüdlicher 
dem Bildnijjfe ¿uwen: 
dete. In feinen male: 
riſchen Bauernbildern 
gemabnt er nur teils 
weije an ibn, häufiger, 
insbejonders zu An— 
fang feiner Laufbahn, 
an Carl Banger oder 
Knaus, die gleich ihm 
im Hellenlande gemalt 
haben. Dan darf je: 
do bei Gidborlis 
Bildnijfen nicht etwa 
an den Leibl denten, 
der den Bürgermeilter 
Klein oder den Kölner 
Pallenberg malte; er 
hat fid) vielmehr an 
jene holbeinartigen 
Köpfe gehalten, Die 
Leibl in den Bildnijjen 
der Maler Triibner, 
Job. Sperl und Ge 
linger geliefert oder 
an die aus dem Bilde 
„Die Wildjchügen“ ge- 





vertrieben. Auch die 
geiftige Unbewegtheit, 
die Leibl in einigen 
diejer Dienjchendaritel: 
lungen zeigt, findet fid 
bei QGidjborit. Mag 
s bei ben Bildnijjen 
urd) bie Art Der 
Maleret, die viele 
Sitzungen der Por- 
trátierten verlangt, be: 
dingt fein, jo bevorzugt 
der Kiinjtler bei feinen 
Bauernbildern ganz 
erjichtlich bie Schilde- 
rungen ruhigen oder 
bod) nur mäßig beweg: 
ten Dajeins. Geine 
Bauern regen felten 
die Glieder in Arbeit. 
Gie figen und Iejen die 
Bibel oder die Zei: 
tung, hoden am Ofen, 
halten ein Kaffeeſtünd— 
hen, eine Andacht 
oder einen Gevatter: 
Ichnad, weilen in der 














Sum Gegenjtoß vorgebende Seefoldaten 


Aus den Kämpfen an ber Somme 





x Studien zu einem Spreewaldbilde A 


Scenfe, laffen fid) vorleſen ober ſchieben 
fid) durd) enge Kirhenbänte. Zeigt er fie — 
met find das Frauen — wirklich einmal 
bei der Arbeit, jo ijt es jolche, die teine Det: 
tigen Anftrengungen verlangt, wie Nähen, 
Gtiden, Spinnen, Gpigenflippeln oder 
ladsbreden. Weicht er von biejen ruhigen 
orgängen ab, um, wie in bem „Heſſiſchen 
Bauerntanz” von 1920, ftarte Bewegung zu 
geben, jo zeigt fid) deutlich, was ihm und 
Diejer Malerei im wejentlichen verjagt ijt. 
Man darf indejjen nicht glauben, daß 
Eichhorſt etwa temperamentlos wäre. 
Wenn feine Dialerluft durch ftarte, aber 
jchnell vorübergehende Eindriide oder 
Erlebnijje in Tätigkeit geſetzt wird, wie 
es während des Krieges häufig der Fall 
war, |o vermag der Riinftler aud) be: 
wegtes Leben fo überzeugend zur Dar: 
ftelung zu bringen, wie nur irgendeiner 
von den beten Imprejfioniften, ja auf 
Grund feines außerordentlichen Zeichen: 
talents jogar um vieles beffer. Es hat 
eigentlid) etwas Überrajchendes, 
taum ein anderer von den Mialern, die 
im Felde waren, das Furchtbare, Herz» 
bebrüngenbe, über alle Borjtellungen 
SE Unbeimlide des legten 
rieges jo padend, wahr und dod in 
jeder Beziehung künſtleriſch zum us: 
drud gebradjt bat wie ber in feinen 
jonftigen Schöpfungen [o beruhigend ` 
und trieblid) witfende QGidjborit. Ein 
Blid auf das hier farbig wiedergegebene 
Gemälde aus den Kämpfen an ber 
Comme und bie gezeichnete Studie der 
zum Verbandplaß jid) jchleppenden ver: 
wundeten Soldaten müjlen jedem Be: 
wunderung vor dem Riinftler abnötigen, 
der gerade bas Eigenartige ber in diejem 
Kriege verwendeten Kampfweiſe und das E 


554 FESSSSS3%8 Hans 9tefenbagen: Franz Eichhorft 





LEE 


ftille Heldentum des 
deutjchen Soldaten 
jo fidjer zu fallen 
unb anichaulich zu 
machen wußte. 
Man hat heute 
leider einen Haß 
geworfen auf alles, 
was an den Krieg 
erinnert oder mit 
ibm zuſammen— 
hängt. Vian will 
nichts mehr willen 
von feinen Leiden 
und ben Opfern, 
die er gefordert, 
und ijt Dabet nicht 
nur ungeredt ge: 
worden gegen Die 
Dialer des Krieges, 
jondern, was qe: 
radezu verrucht iit, 
aud) gegen Die 
Männer, die Blut 
und Leben für die 
Erhaltung bes Va— 
terlandes eingejeßt haben. Dod) bie Zeit wird 
tommen, wo bas deutiche Volt aus feiner 
Berftórung erwaden und mit heißer Scham 
empfinden wird, wie jd)mad)voll es fid) gegen 
jeine beiten Söhne vergangen bat, wo es 
begreifen wird, daß diejer Krieg, trog feinem 
traurigen Ausgang, bie leuchtendfte, herr— 
lichfte Blüte ift in Deutjchlands Ebrentranz. 
Und wenn man dann nad fün[tlerijdjemn 





Bildnisitudte E 


990900000000000000000000200000000000000000009*2009^00000 (UNIR "Dunmadeundun mg np su) ualnvgsnorg u uud uot 09000909000900009000009000090000000000000000000000000000709 








000 Hans 9tojenbagen: cc HH HH 22242223 





E Kabarett. 1913. Privatbefit E 


Dokumenten Umjchau hält, durch die fih bie 
Erinnerung an bie größte und ruhmvollite 
Tat Deutidlands auffriichen läßt, werden 
es in erfter Reihe Gid)bor|ts Bilder aus 
Flandern und Frantreid) fein, vor denen 
man aufs neue fih begetitert. Mögen an: 
dere mehr gemalt und interejjantere Mo: 
mente, Perjonen und Geldjebnijje gejchildert 
haben — Eichhorft ijt falt der einzige unter 
den Dbeut|djmn Malern, von Dellen Kriegs: 
bildern mit Recht behauptet werden darf, 
er habe das, was das deutiche Volk und vor 
allem den beut|djen Soldaten bejeelte, treu, 
wahr und binreiBend, ohne eine Spur von 
Poje, von bewußtem Heldentum zum us: 
drud gebradt. Cr ijt faft der einzige, ber 
(id nicht begnügte, Imprejjionen und All: 
gemeinbeiten zu geben, fondern der wirkliche, 
überzeugende Dofumente von dem erniten, 
pflichtbewußten Heldentum deutjcher Männer 
— hat. Seine he E Richtung, feine 
teigung, an die Wirklichkeit jid) zu halten 
und ihr bis ins legte nachzugehen, ließen 
ihn Bilder jchaffen, vor denen man nicht 
auf Vermutungen angewiejen ift, jondern 
die Tatjachen, Stimmungen und Menſchen 
mit dem bejtimmtejten Wusdrud und in jorg: 
fältiger, liebe: und gejhmadvoller Malerei 
geben. Gerade für dieje Art Bilder genügen 


— — —— — — — — E 
ee — 


nicht flüchtige maleriſche Notizen. Hier kam 
es darauf an, den Daheimgebliebenen die 
Vorgänge an der Front möglichſt gewiſſen— 
haft zu ſchildern. Was tónnen fie mit Im: 
prejfionen anfangen, Die fie nicht aus dem 
Schage eigener Vorftelungen zu fertigen 
Bildern zu ergänzen vermögen? Was jagt 
ihnen eine ftilifierte Wirklichkeit, wie gewijje 
Maler fie für ihre Kriegsbilder bevorzugten, 
Sa fie nicht wijjen, wie die Natur aus: 
tebt 
Eichhorſt hat freilich nicht fo zahlreiche 
Rriegsbilder geichaffen wie andere Maler; 
aber was von ihm vorhanden ilt, trägt ganz 
die Züge feiner feinen, forgfaltigen Riinjtlers 
Ichaft und verrät, wie innig der Maler mit 
jeinen hart fämpfenden Kameraden Ben 
hat, und daß ibm das wahnjinnige Toben 
des Krieges und fein ftándig wechjelndes 
Geſicht nicht jo wichtig Ichienen wie das [tille 
eldentum des einzelnen Mannes und bejjen 
timmungen. Wie wundervoll hat er joldje 
in feinen Bildern ,,FeldDwade an der Dier”, 
„Rüczug“ und „Bentport“ zum Ausdrud ge: 
madt! Das eigene ftarte Erlebnis ließ ben 
Maler Blide in die Seelen der anderen tun, 
madte ibn zum Piychologen und gab feiner 
Runjt jenes [tarte innerliche Leben, bas man 
bisher an ihr vermißt hatte, Auch tójtlide 








FAIRE rang Eichhorit seess 557 


Bilder aus den flandrijdhen Städten ent: 
ftanben während der Kriegszeit unter Eich: 
horjts geübten ee 

Die Lebensgeſchichte Eichhorſts gleicht der 
der meilten großen Riinjtler darin, daß ein 
Aufitieg aus den bejcheidenften Verhaltnijjen 
u einem in heißem Ringen erworbenen 

ubm in verhältnismäßig jungen Aedes 
ftattgefunden bat. Er wurde am 7. Sep: 
tember 18-5 geboren und als richtiger Ber: 
liner mit Spreewajjer getauft. Schon früh 
regte fih bas Riinjtlerblut bei ibm; bod) da 
er genötigt war, móglid)it bald auf eigenen 
Füßen zu fteben, entichloß er jid, Holz: 
(chneider zu werden, und trat als Lehrling in 
bie Xylograpbijdje Anftalt von Brend'amour 
ein, wo er von 1900 bis 1904 tátig war. 
Die Art der Lehre und die ganze Beſchäf— 
tigung madte ihm jedoch wenig Freude und 
er fam zu Dem 
Gnt[d)lup, den Be: 
ruf des Holzſchnei— 
ders mit bem bes 
SMlujtrators zu per: 
taujden. Bu bie: 
jem Swede aber 
wareserforderlich, 
die vorhandene Be» 
gabung ſyſtema— 
tijd) auszubilden, 
wozu der Bejud) 
ber Atademie, ver: 
bunden mit einem 
gründlichen Stu— 
Dium, unerläßlich 
ihien. — Gid)borit 
widmete fih biejem 
— bei Georg 
och, der eine 
Porträtzeichen— 
klaſſe in der aka— 
demiſchen 
ſchule leitete, 
ſuchte dann die 
Antiken- und Aft- 
tlafje von Konrad 
Böje und landete 
ſchließlich, um nicht 
den ganzen úbli: 
den afademijden 
Schulgang bird) 
zumachen, 1906 bei 
dem Landichafts: 
maler Yriedr. 
Rallmorgen, der 
fih ibm darin hilf- 
reich erzeigen moll: 
te, obgleich ber 
Schüler bisher fo 
gut wie nichts ge: 
malt hatte. Cid: 
bor badjte na: 
türlich nicht daran, 
$anb|djajfter au 
werden, und Rall: 
morgen als ein: 
ſichtsvoller Mann E 





ließ ihm jede Freiheit, zu malen, was ihm 
bebagte. Auf eigene Gefahr machte der 
junge Maler fid) nun an allerlei Rompo- 
Kitenge figiirlidjen Inhalts und führte fie, 
ohne Ahnung von Farbe zu haben, eigent: 
lid) nur aus dem Schwarz heraus ans. 
Auf diefe Weile ent[tanben 1908 die erjten 
Entwürfe zum  ,Laubentolonitefeft” und 
„Waldfeſt“. Am feinen Lebensunterhalt zu 
verdienen, arbeitete Eichhorſt währenddem 
reibig an Sllujtrationen und funftgewerb: 
iden Zeichnungen. Auf der Akademie hatte 
er ein paar Freunde gefunden, die jid) bes 
jungen Talents jelbjtlos annabmen. Als er 
mit jenen beiden Entwürfen durchaus nicht 
mehr weitertam, riet thm einer diejer Freunde, 
Herbert Arnold, ein Sohn der durd) ihr 
Freundichaftsverhältnis zu Menzel und eigene 
vorzügliche Leiltungen bekannten Maler: 


Beim Spinnen. 1918 


558 BSSSSSSSE) Hans Rojenhagen: Franz Eichhorſt BSSS3S333333I 





pz) Beim Flach 


familie, doch einmal aufs Land zu gehen 
und dort ungeftért und unbeeinflußt von 
allem afademtjden Kram eine neue Arbeit 
anzufangen. 
it den Freunden Herbert Arnold und 
rang Lünſtroth und erjparten dreihundert 
art in der Tajche begab fih Eichhorjt im 
anuar 1909 nun in das heſſiſche Dörfchen 
Willinghaujen. Dort entitand ber „Wurſt— 
ball in der Schwalm“, eine Leiftung, mit 
ber Rallmorgen von feinem Schüler überrafcht, 
unb für die Ddiejer zu feiner eigenen Über: 
rajdung bei ber Mu UAE im Moabiter 
Glaspalaft mit der Heinen goldenen Medaille 
ausgezeichnet wurde. Den Sommer des glei- 
den Jahres benugte Eichhorft, bas „Lauben: 
folontefeft“und das „Waldfejt” auf Grund ber 
in Berlin ent[tanbenen Gfizzen als große 
Bilder zu malen. 1911 begab er fidh wieder 
nad Heffen, wo bas auf der nädjitjährigen 
Wusftellung von der Stadt Berlin erworbene 
Bild „Andacht“, der „Karfreitag“, ,Rubitall”, 
die , Spinnftube” und die „Beiden Alten“ ent: 
ftanden. Um nidt ganz in bem Bauernbild: 
genre aufzugeben, malte er im Winter 
1913/14 in Berlin das Bild ,Variété”, in 
dem er zugleich ein intereffantes Beleud): 
tungsproblem zu löjen judjte. Da jebod) 
der Beifall, den auch diefe Leiftung fand, 
nicht ganz feinen Erwartungen entjprad), 
wendete er fih wieder bem gewohnten Thema 


sbreden. 1920 E 


zu und malte das am meilten bewunderte 
jeiner Bauernbilder, die heſſiſche Bäuerin, bie 
mit ihrer Tochter „vorm Schrant“ Wäjche- 
und Kleidungsitüde ordnet. Bis zum Mobil: 
madungstage arbeitete er an Dtejem Wert 
unb ließ es unfertig zurüd, um feiner Pflicht 
gegen bas Vaterland zu genügen. — (rit nad) 
längerer Zeit erfuhren Eichhorits militäriiche 
Borgejegte, dak der unternehmungslujtige, 
immer bien[tbereite Motorradfahrer, ber jo 
unerjhroden mit Meldungen und Befehlen 
zu den gefährdeten Stellungen eilte, cin 
nambafter Maler je. So wurde er ber in 
wc: E erjcheinenden Kriegszeitung des 
1. Viarinetorps „Un Flanderns Küjte“ als 
Viitarbeiter zugeteilt, und es wurde ihm Ge: 
legenbeit gegeben, bie verfchiedenften mili: 
tárijd)en Unternehmungen zu Studienzweden 
mitzumachen. Er fammelte Ginbrüde auf 
Feldwachen, im Schüßengraben, in Unter: 
itánben, auf VBerbandpláben, überall, wo er 
das für ihn — Objeft, den deutſchen 
Soldaten beobachten konnte. Dazu malte er 
Porträts, Offiziersbildniſſe, darunter auch 
den Admiral von Schröder. In Brügge 
entſtanden einige vorzügliche Straßenbilder, 
wie der „Eiermarkt“ in Abendbeleuchtung, 
der köſtliche „Beguinenhof“, ferner der „Bel 
gijdhe Innenraum“ mit den beiden Män: 
nern vorm Ramin und verjchiedene Bilder 
von Spigentldpplerinnen. Während eines 


= 


@eegeeggeggeeeéegegegpedëeeggégéepgeggeggeegpgggggëgeggegegeggggegeéégegpegeéeeëegppgecegeggpegeéeggegeegéeggeggogeegpegegeeeege 


Betftunde. 1911. Im Beſitz der Stadt Berlin 





....:............„„„„„„„..0008002008000000009000900000990000909000900000002009000020000085000002000000000 0000000005500 8 


560 [SSSe=s=s=sp Hans Rofenbagen: Franz Eihhorft 


Urlaubes 1917 [buf er das Bildnis „Mein 
Freund Hönig“, bas jo ganz Leiblid) an: 
mutet, 1918 das bódjit charakterijtilche Por: 
trát bes Radierers Wolfsfeld. 

Nachdem Eidborft nod ben traurigen 
Nüdzug des unbejiegten deutjchen Heeres 
miterlebt, fehrte er in die Heimat zurúd und 
nahm die Arbeit wieder auf, wie er fie zurück— 
elajjen, malte teils in jeinem Berliner 
Atelier, teils in einem hejliichen Dörfchen. 
Er entbedt jet die zauberiiche Mirtung bes 
Lichtes, bas in niedrige Bauernjtuben durch 
fleine Fenſter fällt, und fommt nun auf die 
Motive bes Pieter be Hoogh. 1919 ging er 
für einige Woden in den Spreewald, wo 
neben anderen Bildern aud) die prächtige 
„grau am Ofen” entitanben ijt. Im gleichen 
Jahre malte er in Berlin das Bildnis des 
Berlagsbuchhhändlers Nabel, in Hejjen Die 
wieder zu Leibl neigende „Schneideritube” 
mit dem von hinten in den Raum ftrómen: 
Den Tageslicht, Die eine feiner beiten 
Schöpfungen wurde. Weniger glüdte ihm 
1920 der |djon erwähnte „Helliiche Bauern: 
tanz“ und das Bild der , Vier Schwälmer 
Bauern“ ber troßalledem: Wer ver: 


möchte in Deutjchland bem Riinftler Ddiejes 
Bild nachzumalen? Er bat feinen ein- 
zigen lebenden Rivalen auf feinem bejon: 
Dak er jelbjt die Grenzen 


deren Gebiet. 





ahnt, beweijen einige Verjuche, bie er in an: 
derer Richtung gemadjt: Das breit und jaftig 
gemalte Bildnis feines Baters von 1920 und 
zwei lebensgroße Bilder von je zwei fpin: 
nenden und fladjsbredjenben Frauen. Und 
aud) bas hier wiedergegebene Bild der 
„Flachsſcheuer“ bezeugt, daß der Begabung 
Eichhorſts nichts verlagt ijt. 

Bom Standpunkte des Exprejlionismus 
aus ließe fih natürlich jehr leicht der Nach: 
weis erbringen, daß Cidborits Art ante: 
diluvianiſch unmodern fei; wer aber, un: 
beeinflußt von allem Modegelchrei, fidh den 
Ginn für gute malerijdje Qualität und Die 
Schönheit der einfachen Natur bewahrt hat, 
wird in dem Berliner Dialer einen der vor: 
gliglidjten Riinftler der Gegenwart verebren, 
einen 9tadjfommen der Ends, Holbein, 
Menzel und Leibl, Mag Diejer ober jener 
die Erwähnung jo großer Namen bei biejer 
Gelegenheit mibbilligen — in Eihhorft jtedt 
bie Reinheit ber Abſichten diejer Vieifter 
und foviel von ihrer Weile, bie Runjt zu 
betreiben, daß man blind fein müßte, es 
nicht wahrzunehmen. Die Bejcheidenheit 
ihrer Runft ijt auch bie ber feinigen, und 
die Art, wie er liebevoll an die Natur jid) 
Ichmiegt, kennzeichnet ihn als einen Träger 
Deutlden WMejens, Dellen Ausdrud man an 
den Werfen jener Broken bewundert. 


E Cdneiberitube. 1919. Gemälde von Franz Eichhorft & 


Sæ&oi 


veunde 


Roman von Wilhelm Hegeler 





Ve Sn fiel zu Gchnee. Und das 
> Lu $ fterbensmiide Hinjinfen der zahl: 

Injen Floden aus grauem Diifter 
IC >) auf die weiBlid) verdämmernde 
Fläche war nod) das augenfalligfte Zeichen 
von Leben, das es in der weiten Runde gab, 
wo liberal Tod und Zerftörung aufdring: 
lid) ihre Gegenwart anzeigten, mit den gro: 
testen Baumftümpfen ohne Äſte und Zweige, 
mit den jchwärzlichen Ruinen des Stations: 
gebäudes, mit den niedergebrannten und zu: 
jammengebrochenen Bauernhütten und den 
aus Dem Schnee ragenden Gfeletten von 
Rindern und Pferden. Wher wenn man 
näher zuſah, fo wimmelte es eigentlich von 
Leben, nur daß diejes fidh unter bie FFittiche 
des Todes verfroden hatte. Da und dort 
ballten fid) dunkle Haufen gwijden den 
Trümmern um ein Feuer ohne Flamme und 
Glut, Dellen Rauh wie Nebeljchwaden über 
den Boden froh und Dort zerflop. Es 
waren Soldaten, die dort feit zehn, feit zwölf, 





&e 


feit ‚vierundzwanzig Stunden auf den Bug 


warteten, von dem bas Gerücht ging, daß 
er bier einträfe — bod) wuhte niemand, 
wann und ob er wirklich fame. 

Auf einem Pfad im Schnee zwijchen 
Gtationsgebáude und Landftraße gingen 
zwei Soldaten auf und ab, in abgerijjenen 
ruſſiſchen Infanterieuniformen, doch ohne 
jedes Abzeichen, felbft ben breiten Schirm: 
müßen fehlte bie Rotarde. — 

Der eine war jehr groß, bumpelte ein 
wenig und trug in den auf dem Rüden 
zujammengelegten Händen einen Meidjel: 
Hod Der andere war im Verhältnis zu 
feinem Begleiter auffallend Hein, batte einen 
mächtigen, ihm fajt bis an die Hüfte reichen: 
den Eichenholzfnüppel und machte gewaltige 
Schritte. 

Es waren Hans Bofelmann und Hermann 
Alt, fein Freund und Sdidjalsgefahrte, der 
feit Jahr und Tag alles mit ihm geteilt 
hatte, Gefahren, Wundfieber, Hunger und 
Käufe, aber auch monde tójtlid) bampfenbe 
Robljuppe, Piroggen und Kwas. 

„Hans, was denkſt bu nun über die Zus 
tunft ?^ fragte er. 

„Nichts Bejonderes eigentlih. Ich dachte, 
ob wir nicht alles, was wir durchgemacht 
haben, vielleiht nur darum durdgemadt 
haben, damit nun das Schwerfte und 
Sdlimmite tommt.” 

„Herzlichen Glüdtwun|d!" — Das frohe 


Belhagen & Klafings Monatshefte. 35. Jabrg. 1920/1921. 2. BD. 


Funkeln en N Augen erlojch plöß- 
fid) in Alt, und die wie zu Aſche zerbrödel: 
ten Züge [dienen einem alten Manne zu 
gehören. 

„Ich dante!” murmelte er. „Da könnten 
wir uns bod) lieber gleich aufhängen.“. 

yout man bod) nicht.“ Ä 

„Und braudt’s aud niht! Es fann ja 
aud) ganz anders tommen. Und dann — 
Menſch, vergiBt du denn ganz, daß wir eine 
Zigarre haben? Eine richtige Tabaks— 
gigarre! Die Iteden wir nadjber im Zug 
an. Wie follen wir fie rauhen? Erft du 
die Hälfte und dann id) die Hälfte? Oder 
Zug um Zug?“ 

Hans lächelte, und fein Unmut war plop: 
lid) bezwungen. „Ich dente, erjt einmal 
jeder ein paar Züge, damit er auf ben Ge- 
Ihmad fommt, und dann Zug um Zug.“ 

„So wirds gemadt! Und dabei Dellen 
wir uns vor, wie die ganze Sade verläuft. 
Und ich [age bir, fie wird einfach großartig. 


~ 


Did erwartet deine Braut und deine Mut: ` 


ter. Und mid — na, einjad) die ganze 
Ravaltade. Meine Frau mit dem Bengel 
auf dem Arm. Hans, Ramerad, [tell 2g 
vor, ich habe einen Jungen, einen Benge 
von drei Jahren, der Ion Papa jagen 
fann und den id) nie gelehn Babe. Mfo 
wenn ich den fehe, ich — id) briille ja, als 
wenn’s auf bie Panjes ginge. Und der 
Bengel, der brüllt natiirlid) auch, wenn ich 
jo auf ihn und feine Mutter losjtürze. Und 
mein oller Schwiegervater — meine Schwies 
germutter ift zu Haus und toht was Feines, 
darauf verfteht fie fid) — mein oler Schwies 
gervater fragt: ‚Warum fommft du denn jo 
unpünftlih, Hermann? Das fragt er 
immer. — Go und nidjt "ne Spur anders 
wird die Gade verlaufen.“ 

„Bir wollen's hoffen.“ 

„Denn jchließlich, wir haben uns bod) nicht 
mit dem Tod herumgeprügelt und haben 
ihn fleingefriegt, damit wir jebt erft recht 
in Den Dre geraten. Du bátteft, wie oft? 
— neunmal von Rechts wegen zum Deubel 
gehn müjjen, und id) viermal, und das 
alles für die Rak, für weitere Gdinderei? 
Für jo gemein halte id) den lieben Gott 
nicht.” 

„Wollen’s hoffen. = 

Der Zug fam nie, und die beiden beten 
noch tagelang warten. Aber daran waren 
jie jchließlich gewöhnt. Gelbft ihr langer 
37 


562 BSSSSSSSscscc3+ Wilhelm Hegeler: 


Mari aus Sibirien bis hierher nad) Mol: 
hynien war nicht viel mehr als ein ein: 
töniges Warten gewejen. 

Endlich jedoch gelangten fie nad Berlin, 
und alles, was fie gerüchtweije gehört Dat: 
ten, bejtätigte jid) bier: ber Weltfrieq war 
verloren und in Deutjchland Revolution. 
Die beiden waren traurig, aber nicht min: 
der hungrig, durjtig, verfroren und reinlid): 
feitsbedürftig. Nachdem fie diefe Verlangen 
geftillt und fic) ein, wenn aud) ziemlich 
räubermäßiges Zivil verſchafft batten, jaßen 
He wieder auf einem Bahnhof und warteten 
aufeinen Zug. Und endlich tam der Augenblid, 
an den zu denfen, von dem zu träumen, den 
bis in alle Kleinigkeiten fih auszumalen, 
jie feit vier Jahren nicht müde geworden 
waren: fie betraten den Boden der Heimats 
ftadt. 

„Wie ijt bir gumute?” fragte Alt, der 
finfter, aber zugleich gelpannt in der auf 
dem Bahniteig gedrängten Menge der Zivi- 
liften und zahlreichen, mit roten Rofarden 
und Bändchen gezeichneten Soldaten umher: 
jah, als müßte bod) einer der Erwarteten 
fid darunter befinden, obwohl ibm feine 
Vernunft fagte, das fet ganz unmöglich, da 
man ihre Telegramme der Überlaftung wegen 
gar nicht angenommen hatte. 

„But ijt mir zumute!“ ermiderte Hans. 
„But! Denn die eine Hoffnung hat fich nun 
pod) erfüllt, an der wir, Gott weiß wie oft, 
verzweifelten: wir find wieder zu Haufe.” 

„Das find wir. Ja. Uber es fann doch 
auch anders tommen, als wir uns das aus: 
gemalt haben. Ich will nichts Bójes gegen 
meine Frau Jagen. Aber wir waren bod) 
erit ein halbes Jahr verheiratet, und fie ift 
jung und biibjd und... Weiber find Wei- 
ber. D Gott verdamm mid, Hans, wenn 


bas pajfjiert ift — id) nehme meinen Gtod" 


und baue ... den Kerl, die Frau, das Kind, 
die Schwiegereltern, alle haue id) fie zu 
Brei. So wahr id) hier ftebe!” 

„Das tuft du [Hon nicht, mein Lieber. — 
Was aud) immer geldjeben fein mag, dent 
dran, Daß deine Frau aud) nur ein Menſch 
ijt. Wielleicht war die Probe zu Dart. Und 
Dent dran, was du jefbjt in —" 

„Hör bloß auf! Crinnere mid jebt dar: 
an nicht!“ 

Seder feinen Gedanfen  nadjbüngenb, 
gingen fie bie Straße hinunter. In einem 
Laden faufte Hans einige Karten, auf die 
er feinen Namen jchrieb. Als fie aber bann 
der Kreuzung lid) náberten, wo ihre Wege 
fih trennten, [ob Alt feinen Arm unter 
den Des Freundes und jagte, feine Schritte 
verlangjamend: „Du, Hans, wir haben dod) 
nun drei Jahre zujammen gelebt, man tann 


wohl jagen, wie Bruder und Bruder) faft 
wie ein Ehepaar. Nun miijjen wir uns ja 
wohl irgendwie trennen. Wher, nicht wahr, 
ganz auseinanderfommen wollen wir nicht?“ 

„Soviel an mir liegt, nidjt. Denn — id) 
muß es dir mal jagen: daß ich bid) getrof: 
fen babe, einen treuen und gütigen Men: 
iden wie dich, einen Wienjchen, Der Die 
ibónfte Gabe bejikt, den andern reicher, 
freier und felbjtbewußter gu madjen, bas 
betradjte id) als ein unverlierbares Gut 
für mein Leben. Und was jegt aud fom: 
men mag, ganz jhwarz tann es nicht wer: 
ben, ba es Menjchen wie bid) gibt.“ 

„Das haft bu gut gejagt,“ erwiderte ATI 
mit einemmal froblid. „Das haft du einfach 
glänzend gejagt. So was läßt fih eben nus 
jagen. Malen fann man das nicht. — Wher 
da wir uns alfo nicht trennen wollen, foll- 
ten wir gleich) heute ein MWiederjehn aus: 
machen. Wies auch ablaufen mag, tot oder 
lebendig — auf alle Fälle treffen wir uns 
noch.“ 

„Abgemacht!“ 

Und die beiden verabredeten Stunde und 
Ort. 

Als dann aber die Stelle gekommen war, 
wo die Wege ſich trennten, ließ Alt doch 
wieder den Kopf hängen und erklärte, ihm 
wäre himmelangſt und er würde ſich erſt bei 
den Nachbarn erkundigen, ehe er ſein Haus 
beträte. Und Hans war ſchon ein ganzes 
Stück ſeine Straße hinuntergegangen, da ſah 
er den Freund nod) immer mit ſchiefem Kont 
an der alten Stelle [tebn, und als Hans ihm 
winfte, legte er die Hand .aujs Herz und 
wintte ab, als wenn er jagen wollte, da 
herum wäre ibm gar nicht wohl. Sans aber 
30g feine Uhr hervor und dachte, wenn diejer 
winzige Stahlfplitter nur um einen Benti: 
meter weitergeriidt wäre, dann würde er 
alles wijjen. Ein jonberbares Ráltegefiib) 
prekte feine Rippen zujammen, troh pridelnb 
über Rüden und Arme und ließ ihn den 
Kopf zwilhen bie Schultern ziehn. Aber 
zugleich zwang eine andere Kraft auf fein 
ausgemergeltes Beficht ben Ausdrud findlid 
ergreifender Erwartung. 

Was fid) in diejen nád)ften drei oder vier 
Minuten erfüllen folte, das hatte er wäh- 
rend zweier langer Jabre vielhundertmal 
durchlebt. In fahlen Lazaretten, in bumpfen 
Bauernftuben, auf endlojen Märjchen hatte 
er bie wintligiten Züge bes Schidjals durd): 
gegrübelt, durchgefoftet und durdgelitten. 
Gr hatte in ben Armen feiner Mutter ae: 
legen, Annies großäugiges Erichreden, ihr 
Aufjchreien Hatte ibn erjchüttert, und fein 
Mund Hatte thre Lippen geichmedt. Den 
alten Gugendfreunden hatte er die Hand ge: 


Iesel Zwei 


ſchüllelt und Nächte hindurch mit ihnen Er— 
lebniſſe ausgetauſcht. 

Aber kaum minder oft war ihm das Haus 
ſeiner Mutter verſchloſſen geweſen, und Nach— 
barn hatten ihm mitgeteilt, daß ſie geſtorben 
ſei. Dem Schmerzlichſten war er nicht aus: 
gewichen, auch Annie war tot. Nicht nur 
das: fie hatte an feiner Riidfehr verzweifelt 
und fid) mit einem andern verheiratet. Aber 
gerade dieje Möglichkeit war jedesmal von 
irgend etwas anderem, von feiner Liebe 
oder feiner Eigenliebe ober feinem Glauben 
an Annie entfrüjtet und zunichte gemacht 
worden, ehe fie mit ihrem Schmerz wirklich 
in feine GejübIstiefen einbringen fonnte. 
Dagegen hatte gerade im legten Jahr eine 
neue Empfindung über ihn Macht erlangt. 
Während er in Sibirien, unter Bauern ganz 
als einer ber ihrigen lebend, die Axt ge- 
Ihwungen, den Pflug geführt oder abends 
beim Spiel der Balalaita mit den Mädchen 
auf primitiv derbe Art gejcherzt hatte, war 
die Erinnerung an fein friiheres Leben 
mandmal nahezu erlojchen gewejen. Gewiß 
hatte es Zeiten gegeben, wo Ungeduld und 
Sehnjudt ibn verzebrten, zu anderen Zeiten 
aber war der Gedanke, daß er etwa wieder 
(tubieren und fpater als Richter fungieren, 
daß er, als europdijder Herr verkleidet, in 
einem feinen Zimmer mit einer fultivierten, 

arten Frau Gejprade führen, daß jein 
wildes, abenteuerliches Leben auf einmal 
über Gerichtsaften, in einer Mietswohnung, 
gwijden Kollegen und gejellichaftlichen Ber: 
anjtaltungen fih abjpielen folte: diejer Ge: 
dante war ihm höchſt befremdlich, unwahr: 
icheinlih und faft erniedrigend erjchienen. 
Und ohne Widerftreben hatte er jid) bem 
Gleichmaß der Tage hingegeben, bis irgend: 
ein Ereignis alles wieder in ihm entfadte. 

Aber im Augenblid war von derlei Stim- 
mungen nichts in ibm. Im Augenblid war 
er, entfrüjtet, zermürbt, dDurchfröftelt von der 
allgemeinen Niedergejchlagenheit, zugleich 
aber ganz durchglüht und der Wirklichkeit 
entrüdt von jenen Wiederjehensträumen, 
nichts weiter als ein armer, glüdshungriger, 
an Blüdshoffnungen [id antlammernder 
Menjd. Und war zugleich bod) jo trampf: 
haft gelpannt, jo diinngejdliffen und wund, 
daß ber leijejte Ton, fets der Erfüllung, 
jei’s der Enttaujdung fein inneres Behäuje 
faft zertrümmern mußte. 

Er flingelte am Haus feiner Mutter. Ein 
Dienjtmädchen öffnete ihm etwas miftrauijd 
die Tür. 

pot Frau Bofelmann zu Haus?“ 

„grau Bofelmann? Die wohnt nicht hier.“ 

„grau Botelmann!” wiederholte er bet, 
tiger. 


Freunde | RW323233232333323324 563 
^ 


„Warten Cie mal.“ 

Das Mädchen ſchloß vor bem auf der 
zweiten ber drei eingebauten Gteinjtufen 

tehenden die Tür und rief etwas ins Haus 
zurüd, worauf eine andere Stimme unDdent: 
lich antwortete, 

„grau Botelmann hat hier mal gewohnt,“ 
jagte das Mädchen dann, die Tür von 
neuem Offnend. „Mber fie ift geftorben. 
Schon voriges Jahr.” 

, Dante.” 

Gejentten Hauptes, das rehte Bein ein 
wenig nadjjchleppend durch den glitidigen 
Schmuß des 3Bürger|teigs, ging Hans die 
Straße hinunter. 

Ah jo! ... Sol... Co wars gemeint! 

Nervös zerrieb feine in ber Mtanteltajde 
jtedenbe Rechte ein eghen Papier. 

Tot... Das war ja ein [jdóner Ans 
fang! ... Arme Mutter — haft fiher immer 
auf mich gewartet — haft bid) nod) in deinen 
legten Stunden.um mich gebangt. Tot... 
Was nun? Am beiten... am beiten war's 
wohl, man verjchob den Weit auf morgen. 

Das Kinn auf den najjen Kragen ge: 
preBt, den Blick auf bie von einer breiten 
Kotſchicht umränderten Stiefellpigen gerichtet, 
ſchlurfte er langſam weiter. 

Rudi tot. Klaus tot. Und Annie — 
tot? — verheiratet? So würde es [Hon 
fommen. Dies war ja nur die erjte Kugel 
gewejen. Ein Streifihuß. Der wahre Tanz 
würde erft beginnen. 

Uber dann richtete er den Kopf empor, 
und wieder trat Deler erjchütternde lus: 
drud einer findliden Gliidserwartung auf 
jein hageres Geſicht. 

Nein! Es konnte fo nicht gemeint fein! 
Seine Mutter war frünflid) gewejen. Nah’ 
an die Sechzig. Cie hatte ihr Leben gelebt, 
wenn auch das Ende bitter gewejen war... 
Aber damit war’s aud) genug. Und geradezu 
ein Gefühl der Erleichterung, faft etwas wie 
Freude erfüllte ihn bei dem Gedanfen, dağ 
er damit feinen Zoll an das Schidjal be: 
zahlt hatte. 

Im Dewertbiden Haufe öffnete ihm nicht 
Auguft, jondern ein neuer Diener bie Tür, 
ein eben aus dem Goldatenftand ent[ajfener 
junger Mtenjd) mit einem harmlojen runden 
Bauerngeficht. „Sind die Herrichaften zu 
Haus?“ fragte Hans, indes feine Rechte in 
ber Mtanteltajde die Karte mit feinem 
9tamensaug umpreßte. 

„Jawohl. Wen darf ich melden?“ 

„Aljo ... fie leben alle nod) 2“ 

„Jawohl.“ 

Da ſah der Diener, wie über die Züge 
des nicht ganz einwandfreien Fremden, an— 
geſichts deſſen er ſich eben überlegt hatte, ob 

97” 


564 bee———e---—-z---4) Wilhelm Hegeler: 


er ein Herr ober nur ein Mann fei, ein fon: 
derbares Zuden und Grimajjieren ging, halb 
wie törichtes Ladjen, halb wie Weinen. Und 
während Hans die Hand auf den Armel 
des jungen Menſchen legte, fagte er über: 
haftet, freundlich, faft flehentlich:. „Ich will 
die Tochter [predjen. Wo ijt fie? Sagen 
Cie mir ſchnell! Mo ijt fie?“ 

„õm grünen Zimmer. Aber wen darf 
id) melden?” 


„Ach nidjt dod! 3d) bin ja ein alter 


Freund. Im grünen Zimmer!“ 


Raih ging er, von bem Diener gefolgt, 
auf bas ibm woblbetannte Zimmer zu, öff: 
nete die Tür unb blieb, den Hut in Der 
Hand, am Eingang ftebn. 

Auf bem mit ſchwerer grüner Seide be: 
zogenen Empirejofa ſaß im Lichtjchein eines 
Sampen|dirms Annie, den Blid auf das 
gegen die Kante bes Mahagonitijches ge: 
lehnte Bud) gerichtet. Seht erhob fie ihr in 
bas zarte, rojagelblidje Licht getauchte Ge: 
(idi und blidte mit verjonnenem Ausdrud 
die Eingetretenen an und wollte eben fragen, 
“was diefe Störung zu bedeuten hätte, als 
der Fremde in bem regenbejprühten Viantel 
aus dem Halbdunfel näher fam und gleich- 
zeitig wie betrunfen zu ſchwanken begann. 

Gein hageres Geficht mit ben tiefen Mund: 
falten, dem verwilderten, rotbraunen Bart, 
den wirr an die Stirn geflebten Haaren, die 
bod) bie tiefe, von ber Schädeldede bis über 
die linfe Augenbraue reichende Narbe nicht 
verdeden fonnten, 30g jid) auf lächerliche 
Meile immer mehr in die Breite, und wäh: 
rend ber unheimliche Venid jet feine ge: 
ballten Hände gegen die jchligartig verzoges 
nen Augen preßte, begann er zu |chluchzen, 
erft Bumm und unterdrüdt, bann aber immer 
heftiger, begann laut zu weinen wie ein 
Rind, fo baB die Tränen in breiten Fäden 
in feinen Bart rannen. 

„Der Herr jagt, er wäre ein guter Freund,“ 
ertlárte der Diener ſchüchtern. 

Da ließ Hans einen Augenblid die Hände 
(inten, blidte aus tránenblinden Augen Annie 
an und nannte tonlos flüjternd ihren Namen. 

Der Laut fam ihr entgegen, fant, faum 
gehört, vor ihr nieder, erhob jid) nod) ein: 
mal mit fernbefanntem Ton und drang, 
furchtbar verwandelt, in fie ein. Während 
ihr Kopf zurüdjanf und ihr ſchwerer, blon: 
der $jaarfnoten fih gegen das jchwarze 
Seidenkiſſen preBte, jo daß ihr Haar jid) auf 
ber Kopfhöhe emporwölbte, blidte fie von 
unten ber den jebt nicht mehr ‘Fremden, 
jondern nur allzu Belannten, das moder: 
umwitterte Bejpenjt, an, und die halb offene 
Mundhöhle gab ihrem entfärbten Gefidt 
den Ausdrud eines Menjchen, Dellen ganze 


Kraft fid) in einen Schrei zufammendrängt 
und der fid bod) von diejem Schrei nicht 
befreien fann. Sie hatte nur bie Kraft, die 
Hand zu erheben und dem Diener zu winten, 
daß er fih entfernen folte. 

„Annie — du lebft — und ich glaubte — 
du wärft tot!” Er tämpfte gegen fein Weinen 
an, judjte es von fih abzujchütteln, ftampfte 
mit dem Fuß auf, warf fid) auf einen Sefjel 
am Tijd) und wiederholte, während er zu 
lachen verjuchte: „Ich glaubte, du wärjt 
auch tot!“ 

Uber von neuem brad) die Erjcehütterung 
feinen Miderfland zujammen. Er riB ein 
Tajdentud hervor, ein [rijd) geplättetes, 
mürbes Tuh, bas er zu Riejengröße aus: 
einanderjchüttelte und gegen feine Augen 
prekte, indes er bie Rechte Annie entgegene 
reichte. / 

Einige Augenblide vergingen, und feine 
Hand lag noch immer vor ihr ausgejtredt 
wie bie eines Bettlers. Aber während ihr 
Entjeken fih lófte, überfam fie etwas viel 
Schlimmeres, ein Gefühl namenlojer Pein: 
lichkeit. Sie ſchämte fih für ibn, empfand 
grenzenlofes Mitleid mit ibm, nicht wegen 
des Furchtbaren, das er jogleid) erfahren 
würde, jondern weil er wie ein Rind vor 
Freude weinte und weil dies Meinen fo 
gar nidt angebradjt war. Während fie 
nervös über ihre Schläfe wijdte, fagte fie: 
„Du — bift da?“ d 

Er nidte, ladelte, jah fie zum erjtermal 
wirflid) an, und fein erter Blid fiel auf 
ihre Hand, auf diefe überreich mit Ringen 
geihmüdten Finger... und von à jour ge- 
faBten Perlen und Brillanten ein wenig vers 
dedt, aber bod) unverkennbar jdjimmerte ihm 
ber Trauring entgegen. In einer ungehen- 
ren Aufmerkjamfeit und Gejpanntheit faßte 
fid) fein Inneres zujammen. ^ Mfo wirklich 
dod! Was er jo oft gedacht hatte ... aber 
eigentlich nie geglaubt. 

„Du bijt wiedergelommen — endlih — 
nad) jo langer Zeit!” wiederholte fie. | 

r nidte nur. Einige Sefunden lang biet, 
ten fie mit ihren Augen Zwieſprache. Gie 
fragte ibn: ‚Mjo begriffen?‘ und er ant: 


wortete: Jawohl, begriffen! ... Dann 
jagte er: „Ich wollte euch bod) guten Tag 
jagen." 


Unwillfürlich hatte er vor dem ‚euch‘ ein 
wenig gezögert und es ein lein wenig 
ftarfer betont. Gie erhob fih, wie in plot: 
lider Flut. „Ich will meinen Mann 
holen.“ 

Er jebte jid) wieder und blidte zerjtreut 
ins Zimmer, — Hatte fid) bier nicht aller: 
hand geändert? Mo jebt die Qidterpor- 
tráts Dingen, ber fterbende Nietzſche, Tolftoi, 


UE) 


da Hatten fic) bod) früher Kupferſtiche be: 
funden. Und einer davon ... einer hatte 
die Erziehung des Achilles dargeftellt. Auch 
der Schrank, Hinter deffen Glasjcheiben 
Bücherrüden funfelten, war [rüber nicht da- 
gewejen. Berheiratet?!... Wo war denn 
eigentlich fein Hut? Er juchte ihn unter 
bem Tilh, auf den Seſſeln und enbedte ihn 
endlid) in dem Halbdunfel nahe bei ber 
Tür. 
Er fühlte jid) ordentlich erleichtert, als 
er ibn Hatte. Nun folte er gehn. Raſch 
und jchmerzlos bavon|d)leidjen. Seine Mut— 
ter tof — Annie verheiratet — er |dchiittelte 
nur den Kopf. Was wollte er hier nod? 
Warum war er nur fo töricht gewejen und 
hatte nicht zuerft Klaus aufgejudt, um von 
dem alles zu erfahren! Aber das würde 
ja entjeglic) unangenehm werden, wenn jest 
: Diejer fremde Menſch erjdien und er mit thm 
eine Unterhaltung führen folte. Weg!... 
Dod zur Ausführung diejes Entjchlufjfes ge: 
hörte mehr Kraft, als er bejaß. 

Unterdes hatte Annie ihren Mann von 
der Riidfehr des Totgeglaubten unterrichtet. 
Klaus war turg vor Hans nad) Haufe ge: 
tommen und gerade im Begriff, feinen An: 
zug zu wedjeln. 

Erihroden von dem Ausjehn feiner Frau 
fragte er, was los fei? Als er dann hörte, 
worum es fic) handelte, erklärte er die Mit: 
teilung rund heraus für ein Märchen. Annie 
erwiderte, er folle (id) bod) ſelbſt überzeugen. 
Erregt auf und ab gehend und die Trag: 
‚weite bieles Ereignijjes überlegend, fam er 
troB aller Berjicherungen feiner Frau zu Der 
Überzeung, daß ber free Verſuch eines 
Schwindlers porliege. Er wollte allein bin: 
— aber Annie, die ihre Feigheit 
bereute, beſtand darauf, ihn zu begleiten. 

Gewohnheitsmäßig, nur etwas energijd)er 
als jonjt, drehte Klaus bei feinem Eintreten 
die Kerzen im Kronleuchter an und mus 
jterte bann, von falten Schauern fortwáb: 
rend übergofjen, jedoch mit renger Miene, 
drei oder vier Gefunden lang den jebt in 
hellem Licht vor ibm Stehenden. Mehr nod) 
als die Ähnlichkeit belehrte ihn der hilflos 
erjchrodene Ausdrud in diejem Gelicht, daß 
es wirflid) Hans jet, unb jofort aus feiner 
Angft fih heraushajpelnd, begann er den 
Freund mit einem Wortſchwall zu Ober: 
Ichütten. 

Während er feine Rechte ergriff und fie 
immer wieder jchüttelte und ihm mit Der 
Kinten auf den najjen Mantel Elopfte, jchrie 
er ibm Willfomm zu, jagte, thm wirbele ein: 
fad) der Kopf und er habe es erjt für ein 
Märchen, ja, um ganz wahr zu fein — wobei 
er lachte — für Schwindel gehalten, ertlärte, 


Zwei Freunde ZEIT ZZ 565 


dies fei feit Monaten wieder ber erjte frohe 
Augenblid, verjidjerte, — mit einem Blid 
auf Annie — Hans fehe glänzend aus. Ein 
Held! Die Narbe! Donnerwetter. 

Hans blidte finjter-jtumm auf ihn hinunter 
und Dote: ‚Fünf Minuten! Wd, fünf 
Minuten! Nur fünf Minnten fei ft, damit 
id) alles begteifen fann.‘ 

Annie fam ibm zu Hilfe „Man folte 
Sans bod) erft mal zu Ruhe fommen laffen. 
Lege bod) überhaupt erft mal ab!” 

Da raffte biejer jid) zujammen. „Nein, 
‚gnädige Frau, Berzeihung! Ich muß gehn. 
— Sch wollte mic) nur nad) dir erfun: 
digen.“ 

„Du bleibt, Hans,” erwiderte fie mit ein- 
‘fader Herzlichkeit. „Wir laſſen bid) fo nicht 
fort.“ 

„Das wäre ja nod) jchöner!” fiel Klaus 
ein. „Was ilt bas überhaupt für eine Ma- 
nier, bet alten Freunden niht einmal ab: 
zulegen! Wir müjjen dein Wiederjehn feiern. 
Und jelbjtverjtändlich wohnft du bei uns. 
Du Haft bod) nicht etwa [Hon ein Hotel?” 

Hans ließ es fid) gefallen, daß Klaus ihm 
den Tiberzieber auffnöpfte, erflarte aber, 
unter feinen Umftänden im Haus wohnen 
zu fünnen. Er hätte eine wichtige Zuſam— 
menfunft mit einem alten Freund. 

„Na, ich dente, hier ift auch ein alter 
Freund, der vielleicht nod) größere Anjprüche 
Bat," polterte Klaus. 

Der Diener trug Mantel und Hut hinaus, 
indes Klaus forteilte, um den ‚richtigen‘ 
Wein und bie ‚richtigen‘ Zigarren zu holen. 

Die beiden waren allein. Annie fap wie: 
der auf dem Sofa, Hans ihr gegenüber auf 
dem Gejjel. Leije fnabberten im Ofen die 
Flammen. Annie tat, das Buch [chließend, 
nod) einen rajden Blid hinein. Und bie 
Morte, bie fie vorhin gelejen hatte, gerade 
als Hans eintrat, befamen, fo gleichgültig 
jie waren, jebt etwas Cdjidjalbaftes und 
Unvergängliches. 

Gein Auge ftreifte ihr Geſicht. ‚Das ift 
der Mund!‘ dachte er. ‚Der Mund, ben ich 
jo oft gefüßt habe...‘ Und hätte vor 
Schmerz aufheulen mögen. Cie Hob den 
Ropf. 

„Warum haft du nie gejchrieben ?^ 

„Sch Babe gejd)rteben," murmelte er, ohne 
jie anzujehn. ' 

„Es ijt nie ein Brief angefommen.” 

Wieder trat Schweigen ein und gejpann: 
tefte Stille, indes bie Kohlen im Ofen fnad- 
ten und bariten. 

„Seit wann feid ihr verheiratet?“ 

„Weihnachten wird es ein Jahr.“ 

„Bor einem Jahr — gerade jekt vor 
einem Jahr traten wir unjere Flucht an.“ 


LSS] Zwei Freunde sees el 567 


bod) zu den alltáglidjiten Lebensgewobn: 
beiten gehört hatte, waren alle Kameraden 
furchtbar aufgeregt über bas Ereignis ge: 
wejen und hatten ihrer Wut über das Menih‘, 
das einem braven Soldaten untreu geworden 
war, in einem gemeinjamen Brief voller Be: 
\himpfungen Luft gemadt. 

Aber biejer Vorfall hatte ja gar keine, aud 
nicht bie geringfte Sihnlichkeit mit feinem 
Sdidjal. Wem wollte er einen Vorwurf 
machen? Go war das Leben, bas unbegreif: 
(ide, bas auf bem Schachbrett der Möglich: 
teiten gerade den Zug tat, den man am 
wenigiten erwartete. Wher würgen mußte 
er an Diejem Biffen! Gott wußte, wann er 
ibn binunterbradte! 

Da weder Hans nod Annie mehr als 
das Notwendige jagten, lag es weiter auf 
Klaus, das Gejpenjt der Stille zu ver|djeudjen. 
Gebebt in eiferjüchtiger Angſt flogen feine 
Augen bin und her, von Hans zu Annie, 
von Annie zu Hans. Cinmal quol, weh: 
miitig, töricht, ein altes Gefühl in ihm auf, 
rig ab... Der Freund war jebt der Feind! 
Mie durfte er wieder ins Haus! Wenn der 
wiipte!... 

Die Augen ftanden plóblid [till, wie auf: 
gejpießt, ber offne Mund verjtummte, als 
bräche ein geflumpter Schrei heraus. Wenn 
der von feinem Yammer wüßte!... 

Uber gleich Iármte die Klapper weiter. 

Nur einmal wurde der Gajt lebhaft, als 
Klaus‘ nad) einigen jcharfen Bemerkungen 
über die Revolution behauptete, auch der 
Armee werde ewig der Matel anhängen, 
daß fie im legten Augenblid feige die Flinte 
ins Korn geworfen hätte. Da fuhr Hans 
auf: Was ber Frontfoldat durdgemadt und 
ausgejtanden hätte, Darüber dürfe nur der 
mitjprechen, ber jelbft im Schüßengraben ge- 
melen fei. Einmal jet auch die Widerftands= 


traft bes Ctürf|ten erjchöpft. Und jelbjt im 


Tapferften fame einmal bie arme Kreatur 
mit ihrem Gelbjterbaltungstrieb zum Bor- 
idein. 

Klaus gab jofort Hein bei, verjicherte, 
Hans dürfe feine Worte nicht mißverjtehen, 
und benubte die Gelegenheit, um auf bie un: 
bejiegten Helden zu trinten. Als Hans mit 
ihm und Annie anftieg, jah er zu feinem 
Erftaunen, daß deren Augen mit Tränen 
gefüllt waren. Gleich darauf fam der Diener 
und meldete, daß das Whendejfen bereit fet, 

Aber nun beftand Hans darauf aufzu- 
bredjen. Und alle Vorftellungen, alles Be: 
leidigtjein von Klaus vermodten ibn nicht um: 
zujtimmen. Wher als diejer [Hon verftummte, 
da war es Annie, da war es der weiche 
Aufblid ihrer Augen mehr als ihre turze 
Bitte, bie ihn plößlich fühlen ließ, daß diejes 


widerfinnige, quälende und Ddemiitigende 
Beijammenfein dennod ein Glüd in fid) be: 
ſchloß, ein unentrinnbares, wehes und fúBes 
Gliid, bie legte linde Gabe des Lebens vor 
der ‚großen Ode des Nimmerwiederiehens. 

Uber faum hatten die drei bas Gpeije: 
zimmer betreten, als feine Ntacdhgiebigfeit ihn 
reute. Der ftrablend erbellte Raum, der 
weiß gebedte Tijd mit ben dreierlei Glajern, 
dem bli5enben Gilber, der feierlich Hinter 
einem Stuhl harrende Diener, Klaus jelbit, 
mit äußerjter Eleganz gefleidet und ihm 
mit der Handbewegung des Hausherrn den 
Pla anweijend — das alles entfachte feine 
Wut. 

3uerft gab es eine ſcharf gewiirzte Mod- 
turtlee Suppe, banad) Hummer. Und Hans, 
ganz dem Gedanfen verfallen, daß es trog 
allem eine Gemeinbeit jet, eine freche Scham: 
lofigteit, daß diefer Mann, der einmal fein 
Freund gewejen, ibm bier gegenüberjaß, ftatt 
ih in Scham und Schande zu vertrieden 
— Hans, aus diejem Gedanfen auftaudend, 
merfte plöglich, daß er ftatt bes Fiſchbeſtecks 
mit gewöhnlichem Mejjer und Gabel feinen 
Hummer verzehrte, und einen Augenblid 
ungewiß, ob er taufchen folte, jah er, wie 
von der weißen Sauce etwas in jeinen Bart 
träufelte, und ihm fiel ein, wie Annie einft- 
mals über dieje Germanenbärte, dieje Cpeile- 
fammern für Suppen: und Gaucenrejte, ge: 
ierat hatte. Gequält aß er weiter. Gein 
Kopf war von dem genojjenen jchweren 
Mein ganz dumpf. 

Da Klaus fic) wieder einmal nad) feinen 
Kriegsabenteuern erfundigte, erzählte er, 
wie fein Ramerad und er, als fie beide vor 
Hunger jdon beinah delirierten, auf dem 
gelb ein verendetes und bereits ziemlich auf: 
getriebenes Rind entdedt und nad) Bers 
treibung ber Krähen und Hunde aus deffen 
bledendem Maul die hartgefrorene Zunge 
herausgemeißelt und in einem Blechtopf ge: 
toht hätten. ‚Sie hatte fo herrlich gejchmedt, 
daß fie trog aller Befürchtungen, davon 
frant zu werden, nad) und, nad) die ganze 
Zunge verjdlungen batten... Und war 
ganz verwundert, als Klaus fich mit blaffem 
Geſicht zurüdlehnte und aufhórte zu effen. 
Es war mit feine |chönfte Erinnerung aus 
dem ganzen Kriege. 

Aber dann verjant er wieder in fein vers 
jtodtes Schweigen und träumte von weißen 
Gdneefelbern, jo öde, Tod ausftrablend... 
der warme Atem gefror fofort, indes Dod) 
in der Brut bie Hoffnung auf ein prajjelnbes 
Feuer luftig fortglühte, von jommerlichen 
Landftragen, biejen breiten, ſchwarzen Giró: 
men germablener Erde, über die vier, fünf 
Magengeleife nebeneinanderliefen, von Korn: 


— — o — 


568 PBESSSSSSSSTESTA Wilhelm Hegeler: Lee 


‘ogeanen, auf bie der Himmel fein Feuer 
und Licht Hinunterftrömte, von Sonnenunter: 
gangsbränden, denen blaue, tiefe Gtille 
folgte und in der Bruft ein über Schmerz 
und Luft erhobenes Gefühl, eins zu fein mit 
Staub und Gras und Himmel im altmütter: 
lien Schoß... 

Dod Annies Stimme ftörte ihn. Es war 
das erjtemal, wie ihm jebt auffiel, daß fie 
mit ihrem Mann fprad) Es handelte fid) 
um die Briefe und Telegramme, die Klaus 
infolge feiner Nachforichungen nad) bem 
Vermißten von ben verjchiedenen Behörden 
betommen hatte. Er fagte, Hans müßte fic 
unbedingt lejen. Aber Annie erwiderte: 
warum eigentlid)? Hans würde auch ohne: 
dies überzeugt fein, daß er fih forreft be: 
nommen hätte. 

„Bon forrett ijt nicht die Rede.“ 

„Wohl von Freundſchaft ...?!“ 

Und wie Annie jebt Klaus anjah, bas 
war ganz der höhnijche, erbarmungslos De: 
miitigende Blid, mit dem einft bie teine 
Annie den Heinen Klaus gefranft hatte... 
nur daß fie jebt feine Frau und er ihr 
Mann war. 

Mad dem Effen ging Klaus dann nod) 
hinauf, um das Material zu Holen. Die 
beiden waren wieder allein in dem grünen 
Zimmer. Hans ging unruhig auf und ab. 

„Willſt bu wirklich fort?” 

„Was fol ich bier? 

Annie ließ mutlos den Kopf finten. Smmer 
mehr war bas Fremdartige und Abjtoßende 
von ihm abgefallen. Aber in demjelben 
Maß ftieg in ihr eine Flut von Tränen auf, 
die fie Doch nicht weinen fonnte und Die 
vielleicht nichts waren als der Schmerz über 
ihre verlorene Liebe. Während fic nod) troft: 
los vor fid) binblidte, fagte fie: „Hans, id) 
muß bid) nod) einmal jpreden. Willft du?“ 

„Natürlich, wenn du wünjchelt.“ 

„Sei morgen im Part an Der großen 
yontáne.” 

„Bann ?“ 

„Am zwölf.“ 

„But. Um zwölf.“ | 

Er jebte fid). Klaus fam mit einer großen 
Altenmappe. Hans mußte bas ganze dice 
Konvolut durdfliegen und dadbte nur: Ja 
er hat fid) ganz forreft benommen. lud) 
den Trumpf hat er nod) in der Hand. Wo: 
möglich fol id) mid) nod) für feine Mühe 
bedanfen.' 

Als er geendigt hatte, ftand er auf und 
jagte, er müßte nun gehn. Geine Miene 
war fo finjter und beftimmt, dak Klaus nur 
ſchwache Einwände machte, während Annie 
gänzlich ſchwieg. 

Als Hans die fleine Wirtjchaft, in ber er 


„Bier Sabre ... 


während ber Ferien manchmal eingetebrt 
war, betrat, erhob fein Freund fih von dem 
Tilh am Fenfter. 

„Outen Abend,“ jagte Hans. „Nun wie 
war's?” 

„Ach, Hans,“ erwiderte Alt leije, und 
jein im erjten Wugenblid befümmertes Ge: 
licht ftrablte auf. „Sch bin ja ein Schuft — 
jo was zu denten. Ein fo braves Weib!” 

„Das freut mich.“ / 

„Aber bu. — Sch Habe jchon gehört, 
deine... das Fräulein Dewerth hat ja deinen 
Freund geheiratet.” 

„5a, gerade den. — Meinetwegen,” et: 
widerte er bem hinzugetretenen Kellner, 
„was Cie wollen.“ 

Er fegte fic) Dem Freund gegenüber, jv 
daß er ben anderen Tijchen, an denen ältere 
Herren Karten jpielten, ben Rüden drehte. 

„Ja, mein Lieber, juft den. — Aber 
ſprechen wir von dir. Alſo es war alles jo, 
wie du gehofft haft?” 

„Ach, es war über die Maßen chon, 
Hans.“ 

„Und alle gejund Zu 

„Alle gejund, vergnügt —“ 

„Und der Schwiegervater? Hat er wirklich 
gejagt —?“ 

„Ach, der gute alte Mann! Er war ja 
jo aus dem Häuschen! Ich hatte wahrhaftig 
Angit, er tut fih vor Freuden was an. Und 


. Der Junge! Hans, Menſch! Da jest man jo 


was in die Welt und weiß nicht, daß man 
(id das ſchönſte Glüd ſchafft. So ein 
Dienjchenleben geht bod) über alle Runft.“ 

„Ka immerhin... alles zu feiner Zeit. 
Oder willjt du nur nod Kinder zeugen und 
das Malen ganz fein laffen?” 

Alt lahte. ,Wenigftens Haft du nod) 
deinen Humor.“ 

Eine lange Weile faen die beiden ein: 
ander jchweigend gegenüber. Alt hatte fih 
eine neue Pfeife geftopft und durch die vor: 
geitoBenen Wolfen betrachtete er von Zeit zu 
Seit feinen Freund. Endlich jagte er janjt: 
es waren immerhin vier 
Jahre. Und fie war nod) Jo jung!” 

„Sch gebe ihr aud) feine Schuld. — Aber“ 
— $janjens Stimme Hang jo dünn — „rühr' 
nicht dran. Heut nicht. Morgen.“ 

„But. Morgen.“ 

Alt [Mob die Pfeife wieder zwijchen die 
Zähne und [tie den Rauch aus dem Mund: 
wintel jchräg in die Höhe und fonnte nicht 
hindern, dağ er immer wieder an fein Su: 
hauje dachte und babet von Glüd und Dant: 
barfeit und Ungeduld fórmlid übertroff, und 
blidte Dann wieder den Freund an, Das 
icheinbar ruhig nachdenkliche Geſicht, dejjen 
Züge bod) jo verfallen, gramvoll und alt 


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PSSSSSSSSSSSESCTA Zwei Freunde 569 


waren, wie er ihn auch in den jdjled)tejten 
Zeiten nicht gejehen hatte, Und dachte bann 
an dunkle Nächte in Lazaretten, an Nächte 
in Baraden voll Ungeziefer, an Nächte, wo 
fte aneinander gefouert, im Freien gefroren 
hatten... an ihre Unterhaltungen, wie immer 
¿utiefft der Troft gelungen hatte: noch find 
wir ja da! Und der elendejte Feen des 
nadten Dajeins fann wieder zum bunten 
Teppich des Lebens werden... Und andere 
Morte fielen ihm ein — aber was halfen 
hier Morte? Das lindefte Wort, noch fo 
janft an die Wunde gelegt, mußte fie nur 
wilder brennen laffen ... Und er litt mit 
ihm, fühlte das Kragen und Graben des 
Schmerzes, litt unter dem Schweigen und 
unter den vermorrenen Geräujchen, wenn 
ein Geloftid auf die Tonbant fiel, wenn 
das Bier aus dem Hahn raujdte unb in 
bejtimmten Intervallen eine Faujt drdhnend 
Die Karte auf den Tijd) warf. Und fagte 
plöglih: „Dein Freund ijt ein Schuft!“ 

„Ein Schuft?” fragte Hans, als wäre 
er aus fernften Träumen aufgejchredt. „Ach, 
weißt du, wenn man bedenft, dak es noch 
gar nicht jo lange... 
bunderttaufend Jahre her ift, daß bas ge- 
ſchickteſte Raubtier (id) zu dem entwidelt 
hat, was man Menjch nennt, dann wundert 
man fih, wieviel verfeinerte, über den 
bloßen Egoismus hinausgehende Inftintte 
ihon vorhanden find. — Man muß bei Klaus 
jeine Entwidlung bedenten. Er bat eine 
jehr harte Jugend gehabt. Ein Schuft? 
Nein. Nur ein ziemlich gewöhnlicher Menih 
und nicht gerade das, was man einen guten 
Freund nennt." 

„Ein Schuft! Ein ganz gemeiner Schuft!“ 
wiederholte Alt. Ret 

„Eins ift mir rátjelbaft,” fagte Sans. 
„Er war bod) immer ein armer Teufel. 
Damals, als wir uns zuleßt jahen, pumpte 
er mid) nod) an, um jeine Schulden zu be: 
zahlen.“ 

„Mir ift das gar nicht rätjelhaft,” er: 
widerte Alt. „Er hat dich angepumpt und 
deine Gutglaubigteit mißbraucht, um feine 
Gejdhajte zu machen. Mit deinem Geld hat 
er fic) bereichert. Und als er ein gemadjter 
Mann war, da hat er bas Mädel herum: 
gefriegt.” 

„Blaubit du, daß die Dinge fo einfad) 
liegen ?“ 

„So liegen fie. Du fannft bid) drauf 
verlajjen.” 

„Möglich. — Aber id) dente, id) gehe zu 
Bett. Für dich ift es aud) Zeit.“ 

Cie bezahlten. Alt brachte feinen Freund 
nod) hinauf, ftellte felt, daß bas Bett we: 
nigftens lang genug war, bat, da das Zimmer 


nur eine, zweimal: 


ungeheizt war, ben Kelner, eine Wärmflajche 
zu bringen, erklärte, er würde morgen um ` 
zehn Uhr wieder bei Hans erjcheinen, und 
Dep fid) bann, ba biejer einen Bejud bei 
feinem Redhtsanwalt vorjchüßte, bas Ver: 
Iprechen geben, daß Hans bei ibm zu Viittag 


effen würde, wünjchte gute Nacht, drehte 


jebod) nod einmal um und fagte, bes 


Freundes Hand ergreifend: „Du fommit 


drüber weg! Glaub’ mir, Hans, bu fommjt: 
drüber weg!“ (Es waren nicht dieje Morte, 
es war ihr dunfel warmer Ton, der ibn 


‚wunderbar tróftete und ihn einen Augenblid ` 


~ 


lang empfinden ließ, daß das Leben nicht 


ganz leer und falt und nicht ganz ohne 


Güte jet. | 

Aber nachdem er furze Zeit auf und ab 
gegangen war, febte er fid) und verjant in 
Nachdenken. Und beinah fein ganzes Leben, 


alles, was irgendwie auf Annie Bezug hatte, 


drängte fid) an ihm vorüber, alle die ſehn— 
jiichtigen, leiden|dhaftliden, ſchmerzlichen ober 
glüdlihen Stunden, die von ihr erfüllt 
waren. Und er fühlte, daß er ihr ganz ges 
hört hatte,. mehr als irgendeinem anderen 
Menſchen, jo wie fih felb[jt. Wenn da draußen 
bie ganze Vergangenheit verjunten und grau 
geworden war, irgendwo unter ber tiefften 
Aihe hatte noch ein Fünkchen gegliiht, und 
es war eine Erinnerung an fie. Wenn je 
die Sehnſucht an ibm gezerrt hatte, jo war 
es bie Sehnjucht nad) ihr gewejen, und wenn 
je das Laden eines ruſſiſchen Mädchens ihn 
gefreut hatte, fo war es, weil es wie ihr | 
Laden geflungen hatte. 

Und aud er glaubte, fie bejeffen zu haben, 
wie nur ein Menjch einen andern befiben 
tann. Es war fein bódites Glück gewejen, 
fie mit feinem Geift erfüllt zu haben, der 
befte Teil feines Glaubens an fih, daß er 
meinte, in ihr zu leben und das 3artefte und 
Tiefite in ihr gewedt und fie umgejchaffen 
zu haben zu dem Menfchen, als den er fie 
geträumt und erjehnt hatte. Und das war 
bas Dunfelfte in diejen ſchwarzen Stunden, 
daß er fih fagte: wie armjelig war ich, wie 
jhwad und ohne Kraft ber Geele, dak id) 
fte nicht halten fonnte, nicht über bie paar 


Jahre des Zweifels hinaus, dak fie mid) 


verlor und fid) an Klaus. 
8 E: 

‚Uber was ... was will ich denn eigent- 
li? fragte Annie fid). ‚Aber... bas ijt ja 
Torheit! Da ift ja finbildje Torheit! .. .' 
Ad), warum ging die Uhr |o langjam? 
Warum ging ihr Herz |o fdnell? 

„Dante!“ fagte fie zu der eintretenden 
Jungfer. „Ich gebe erft |páter aus. Kommen 
Cie in einer... in dreiviertel Stunden 
wieder.“ 





570 ES: Wilhelm Hegeler: Rees===22222222 


Es hatte eben halb elf gejchlagen, und 
fie hatte fid) eingebildet, wenn fie eine Stunde 
früher an der großen Fontäne wäre, jo würde, 
burd) eine Art von Fernwirtung gezwungen, 
aud) Hans eine Stunde [rüber dort fein. 
Uber die Folge würde nur fein, daß fie ver: 
geblich wartete, daß fie fror und fid) ermii- 
dete. Und fie mußte frifch fein, um ihm 
Rede und Antwort zu ftehn. Um ibm alles 
zu jagen. Alles, was fie in diejer langen 
Naht unb was fie früher zu ibm gelprodjen 
hatte. 

Wie oft hatte fie in dem einen Jahr mit 
dem Toten Zwiejprahhe gehalten. Uber 
rätjelhaft, wie er aufgetaucht war, war er 
aud) immer wieder verjdjwunden. Und alles, 
wovon fie ihr beladenes Herz erleichtern 
wollte, war in dies Herz zurüdgeflojjen, fo 
daß alle befreiende Ausſprache nur eine Be: 
freiung für den Wugenblid gewejen war. 
Der Lebende aber konnte ihr nicht fo ent: 
gehn. Er mußte ihr Antwort geben. Er 
fonnte fie mit harten Worten fránten, er 
fonnte fie verflagen und ihr Untreue und 
Seibtfinn vorwerfen. Dann würde fie jid) 
verteidigen! Mit feinen eigenen Worten 
würde fie fid) rechtfertigen! War bas geftern 
nicht ein Freijprud) gewejen? Hatte es nicht 
gelungen, als wären die Worte geradezu 
an fie perjönlich gerichtet gewejen: einmal 
füme aud) im Tapferften bie arme menſch— 
lide Kreatur mit ihrem Gelbiterhaltungs: 
trieb zum Borjchein! Cie hatte ehrlich ge- 
kämpft, ehe fie zufammengebrochen war. Er 
fonnte nicht ungerecht gegen jie fein! Aber 
vielleicht würde er antworten: Sch will nicht 
deine Freundichaft, id) will dich! Da du 
Klaus nicht [ieb|t, jo mach’ dich frei. Komm 
mit! | 

Sn dem Chaos der auf fie einjtiirgenben 
Gefühle batte fie fih gejtern abend [don 
gefragt, ob fie ihn nod) liebte? Aber wäh: 
rend in ihrer Borftelung feine Gejtalt mit 
aller Deutlichteit auf fie zutrat, hatte fid) 
nicht bas leijefte Begehren in ihr geregt. 
Nur helfen wollte jie ihm, wollte vor ihm 
fnien, ibm die ſchmutzbedeckten Stiefel von 
den Füßen ziehen, ihn betten und pflegen. 
Wollte ihn tróften und mit an feiner Zu: 
tunft bauen ... Gie hatte von erregten, 
befreienden Gejpraden mit ihm geträumt. 
Sie hatte ihm gejagt: fieh, id) wollte mir 
das Leben nehmen, aber ich war zu ſchwach. 
Dann wollte id) bid) töten, aber du warft 
zu Start. Mas du mir hinterlajjen haft, ijt 
unzerftórbar. Es hat mir geholfen, das 
andere Leben, das, was ich als Frau von 
Klaus führen muß, zu ertragen. Det aber 
wollen wir es gemeinjam leben, niemand 
tann uns das nehmen. 


a 


Cie hatte das Gefühl gehabt, wenn aud 
nicht alles wieder gut, jo würde es bod) viel 
bejjer werden, es würde irgendwie eine neue 
Zebensmöglichkeit aus all bem hervorgehn. 
Wud in bezug auf ihr Verhältnis zu Klaus. 
Warum hatte fie fih innerlich fo gegen ihn 
verjperrt? Warum hatte fie jedesmal, wenn 
ein wärmeres Gefühl fic) regen wollte, fo 
lange gebohrt und gegrübelt, bis der alte 
Haß wieder über fie Maht hatte? Mar 
nidt im lebten Grund ein Schuldgefühl 
gegen den Toten der Grund gewejen? Aber 
was der Tote niet fonnte, bas permodjte 
der Lebendige. Er fonnte aud) Klaus frei- 
jpreden. Es gab viel, was ihn entſchul— 
digte. Die alten Freunde fonnten fich wieder 
zulammenfinden. Und dadurd würde Hans 
ihr helfen, daß auch fie zu Klaus einen Weg 
fand. 

Dieje Gedanken Hatten fie jedoch nur kurz 
und im Borbeiflug bejchäftigt. Sie batten 
nieht die Kraft gehabt, eine Wusjprade mit 
ihrem Mann herbeizuführen. Geftern abend 
war fie trog feinem angedeuteten Wunjch 
gleich zu Bett gegangen und war heute erit 
aufgeftanden, als er das Haus verlajfen 
hatte, 

Bon Hans war ihr Inneres ganz erfüllt 
gewejen. Nach der eriten furdtbaren Be: 
jtiirgung, nad) dem marternd bilflofen Mit: 
leid war in der Nacht das eigentliche Er: 
wachen gefommen, das Gefühl, daß fie ibm 
wirklich helfen fonnte und daß damit and 
ihr geholfen fet. 

Dod was fie jebt erregte, was in ihrer 
Bruft ſchwoll, ihr Herz flattern und ihr Blut 
Hopfen ließ, war, wenn nicht Liebe, jo doch 
bie 9Ingit und bie Ungeduld der Liebe und 
über allem Gchmergliden das Borgefiibl 
eines nahen Glids, ein Singen neuer Ju- 
gend und bingegebener Celigteit. 

Cie ging rubelos durch) die Zimmer. 
Fragte fih, ob [ie nicht Anordnungen wegen 
des Mittagejlens geben, ob fie nicht bas 
Gaftzimmer herrichten lajjen folte. Grat in 
ihrem grünen Zimmer an den Bücherjchrant, 
betrachtete die Bilder an den Wänden und 
fragte fic), ob ibm dieje Beránderungen 
wohl aufgefallen jeien? Blätterte in einem 
Band Goethe und hörte wie einjt feine 
Stimme. Schellte dann plótlid) und hieß 
die Jungfer aus dem Gewädhshaus einen 
Strauß Weildhen holen.  3Beildjen waren 
jeine Lieblingsblumen. Und dann — es war 
noch nicht halb zwölf — lebte fie den Hut 
auf, ließ fid Gamajden und Pelz angiehn, 
verſchmähte bie Gummijdube und ging eilig 
zum Bart. 

Hans war nod) niht ba. Weil ihr auf 
dem freien Pla um bie große Fontäne 


BERE AAA Zwei Freunde 571 


wahrjdjeinlid) Bekannte begegnen würden, 
bog fie in einen Geitenpfad ein, von dem 
aus fie durch das entblätterte Strauchwerf 
einen Überblid hatte. Es ſchlug zwölf. Aber 
er fam nicht, und nach jeder neuen Ent- 
tüu|dung verlängerte fie ihre Gtrede auf 
dem Geitenpfad. Troßdem war er piintt: 
lid) zur Stelle gewejen. | 

Beim grauen Erwachen war als triber 
Grund bes geftrigen Abends das Gefühl 
ber Demütigung in Hans zurüdgeblieben. 
Das zerrende, zornige Gefühl einer Demii- 
tigung, Der er fih ganz unnötig ausgefebt 
hatte. | 

‚Nur weg aus der Stadt!‘ dachte er. Aber 
vorher jtand ihm ja noch diefe Zujammen: 
tunft mit Annie bevor. Was hatten fie eins 
ander zu jagen? Mit noch fo [Hónen Worten 
tonnte fie die Tatjade nicht wegichaffen, 
daß fie nicht einmal bis zum (Ende bes 
Krieges auf ihn gewartet hatte. 

Auf dem Wege durch die Stadt judte er 
das Bureau des thm befannten Redtsan: 
walts auf und liep jid) über den Stand 
feines Vermögens aufflären. Was er er: 
fuhr, madjte ihn nicht frober, nicht trauriger. 
Bon dem, was übriggeblieben war, fonnte 
er immerhin nod) ein Jahr leben. Das ge: 
niigte. Wozu fid) über die Zufunft nod) 
Gedanten machen? 

Er jchlenderte weiter durch die Stadt. 
Es regnete. Und mit ibm ging fein Ich 
aus glúdlimeren Tagen und machte jeden 
Schritt zur Qual. Die Schaufenjter, vor 
denen er jtehn blieb, die Befannten, die ihn 
nicht wieder erfannten, alles erinnerte ihn 
an feine Heruntergetommenbeit. Schlimmer 
als die Traurigkeit wurde jchließlich Die 
Angit, jie nicht länger ertragen zu tónnen, 
Wieder geriet er, wie jdjon am frühen 
Morgen, in Verjuchung, feine Habjeligfeiten 
zu nehmen und die Stadt zu verlajjen, ohne 
Abjchied von irgendwen. 

Aber bann — jeltjamer Widerjprudy — 
trat er in einen Friſeurladen und ließ fein 
Haar und feinen Bart gured)tjtuben und 
faufte auch einen jauberen Kragen und eine 
neue Rrawatte. 

Aber in feinem Zimmer merkte er, daß 
er verlernt hatte, mit Gelbjtbindern fertig 
zu werden und mußte den Hausdiener her: 
beiflingeln, der ihm mit nicht ganz Jauberen 
Händen half. 

Als er fid) dann im Spiegel betrachtet, 
aufmerfjam, eine ganze Weile, den am Hals 
abjtehenden, graumelierten, [hon ziemlich 
Ihäbigen Eommerüberzieher, darunter den 
grellweißen Kragen und die bunte Krawatte, 
den an den hohlen Baden wie feitgeflebten, 
¿ugejpigten Bart, dachte er: ‚Handlungs: 


reijenber' ... Und ftand einige Augenblide 
ganz verloren da. Warum dies alles? War: 
um mit jchönen Worten ein [djmeres Gd, 
jal zerfleinern? Doch immer fühlte er, wie 
leije, weiche, jchmeichelnde Hände fein Herz 
umjtreielten... Wher er rif die vertráum: 
ten Gedanken in die Wirklichkeit zurüd, und 
ber grele Schein in feinen Augen verdampjte 
den bunten Nebel darin. 

Langjam jdjlenberte er zum Part. Dod 
als er dann den Blak um die große Fon: 
täne leer fand, bettel ibn Angjt, dak er fih 
verjpätet hätte. Wher gerade begann Die 
Uhr von irgendeinem Kirchturm zwölf zu 
ſchlagen. Sie aljo verjpátete fid)! Wielleicht 
hatte fie fih ingwijden von der Unerfreulich- 
feit diejer Begegnung überzeugt. Oder... 
wichtigere Dinge hatten fie abgehalten. 

Obne länger zu verweilen, jebte er lang: 
jam feinen Weg bis in bie auf den Plag 
einmündende Lindenallee fort. Die Bitter: 
feit in ihm frap um fid. Aber dann er: 
innerte ihn bas langjame Fallen eines wel- 
fen Blattes daran, daß Annie geftern Tränen 
in den Augen gehabt hatte. Und feine Span: 
nung ſchlug jofort ins Gegenteil um. Schludh: 
zen erjdjütterte feine Bruft. Wie durfte er 
jie befhimpfen? Er allein trug die Schuld! 
Wenn er fie damals bei Kriegsausbruch nicht 
jo graujam verlajjen hätte, wäre wohl alles 


‚anders gefommen. Wieviel Leid und Sorge 


und Berjudung mochte fie zermahlen haben, 
bis ihr armes Herz Liebe und verächtliche 
Abneigung nicht mehr unterjcheiden fonnte, 
Während er unter den jchwarzen, ver: 
frampjten Bäumen auf und ab ging, legte 


Traurigkeit fic) fröftelnd um ibn wie der 


Nebel, der im Geſträuch nijtete und über die 
laubbededten Grasflädhen frod), und ver: 
bidjtete fid) gu bem Bewußtjein, wie ver: 
gänglich alles war und wie vergeblich aller 
Kampf, dieje Verganglidteit aufzuhalten. 
Liebe, Treue, Freundesanhänglichfeit — alle 
dieje ftarten und heißen Gefühle hatten ihre 
Zeit, ftanden eine Weile in Cajt und Flor 
und ftarben dann bin. Und der redlidjte 
Mille hatte nicht die Kraft, diejes Vergehen 
aufzuhalten. Warum eine menjchliche Schuld 
ba fon|truieren, wo ein Naturprozeß vor: 
lag? Warum bas, was einmal fhön und 
beglüdenb war, bejudeln, nur weil es fein 
Ende erreicht hatte? Annie trug jo wenig 
Schuld wie er. 

Und nun wollte er gehn. Es freute ihn, 
daß er mit einem legten guten Gedanfen 
von ihr Abjchied genommen hatte. Es war 
ja hundertmal beffer fo. Gie hatte jehr 
weile gehandelt, nicht zu fommen. 

Gejenften Sjauptes jchritt er über ben 
weiten Pla. Da trat fie plöglih auf ihn 


0/9 BESSSSSESESESA Wilhelm Hegeler: see E 


zu unb rief jehüchtern feinen Namen. Er 
ſchrak auf. 

„Bijt du dod) nod) gefommen?^ fprad 
jie ihn an. 

„Ich — id) warte [djon lange hier.“ 

„Und id) ging dort auf und ab. Hier 
tommen jo viele Betannte vorbei. Hab’ 
Dant, daß du gefommen bijt." 

„Aber id) dante Ihnen. Es ift febr freund: 
lid, Dak Sie mid) nod) jpredjen wollen." 

n Sie?” 

„Berzeih! Ja, natürlich, du! Es ijt febr 
freundlich von bir. Gewiß but du febr be: 
Ihäftigt. Aber wir Haben ja aud nod) 
mancdherlei zu befpreden. Wohin follen wir 
gehn?” 

„Bleiben wir bod) auf biejem Meg. Da 
find wir am ungejtörtejten.“ 

„But.“ 

Mieviel ihr daran lag, niemandem zu be: 
gegnen! In feiner augenblidlidjen Berfajlung 
gehörte er freilich aud) nicht zu den Mens 
ihen, mit denen man fih gern jehn Dep, 
Sie am wenigjten! Und, bielen Gedanken 
weiterjpinnend, erzählte er, daß er an dem 
Gejdaft ihres Mannes  vorbeigefommen 
wäre unb den prächtigen Neubau bewundert 
hätte, Auch da und dort wären ihm andere 
Veränderungen aufgefallen. Der Riejen: 
auffhwung der Stadt hätte (id) jelbjt durch 
den Krieg nicht aufhalten laffen, und fhein: 
bar gäbe es viel neuen Reichtum. 

Shr riB jedes Wort eine fleine Wunde, 
Und er fam ihr noch viel fremder und ent: 
itellter vor als geftern im Lauf des Abends. 
Aber zugleich hatte fie das Gefühl, daß er 
wie ein Gririnfenber fid) ihr entwand, dah 
jie ibn aber mit aller Kraft an fid) ziehn 
müßte. Und gewaltiam die Sindernijje 
durchbrechend, fiel fie ibm ins Mort: „Hans, 
wollen wir nicht von was anderem jprechen ?” 

„ja, matürlidj, Pardon!“ erwiderte er 
auffahrend. „Ich wollte did) [don fragen, 
wie Das eigentlich mit meiner Mutter war. 
Mar fie lange frank?“ 

„Drei Woden ungefähr hat fie gelegen.“ 

„Halt du fie nod) gejebn ?^ 

„Sch Babe fie ja bis gulekt gepflegt.“ 

„Du fie gepflegt? Verſtehſt du bid) denn 
auf Krankenpflege?“ 

"Ja, gewiß.“ Gie wollte ibm jagen, daß 
jie Schweiter geworden fei, als fie von feiner 
Verwundung gehört hatte. Wher es fam 
ibr fo gleichgültig vor und aud fo... 
ſchamlos. 

„Woran ift fie eigentlich geſtorben?“ 

„An Schwäche. Sie hatte fid) eben auf: 
gezehrt.“ 

„Ste Bat fid) aufgezehrt. Ja. 
liegt fie begraben?“ 


Und wo 


„Auf dem Sohannisfriedhof. Wenn du 
ihr Grab jehn willft, ich will dich gern be: 
gleiten.“ 

„Wenn du mir nur den Meg zeigen willft. 
Das muß bod) da draußen fein, da hinter —“ 
„Du fannft eine Gleftrijde nehmen.“ 

„Bas, eine Eleftrijde fährt dorthin? Seit 
wann?“ 

„Sie ift wohl im Krieg fertig geworden.“ 

„sm Krieg ... Sd) war auch mal beim 
Babnbau bejdjüftigt. In Rußland. Es ift 
eine ziemlich jchwere Arbeit.“ 

„Das glaube id. Sd) dente mir das 
furchtbar.“ 

„Gott, wie man's nimmt. Wenn's einem 
äußerlich ſchlecht geht, dann retiriert man 
in ſein Inneres. Dann träumt man ſehr 
ſtark — von...” Er brad) in ein zerfledertes 
Lachen aus, unter dem ſich ſein eigenes Herz 
zuſammenkrampfte. Ach, fände er doch ein 
einziges gutes Wort! Er ſtreifte ſie mit 
einem dürſtend ängſtlichen Blick, Hoffnungen, 
Wünſche, die unſinnigſten Dinge ſtiegen in 
ihm auf, zugleich mit der Furcht, ſich preis— 
zugeben, ſich zu verlieren. Und fuhr dann 
fort: „Man findet jid) mit der niedrigſten 
Arbeit ab. Anfangs war ich gänzlich talent— 
los. Aber mit der Zeit gehörte ich immer— 
hin zu den Mittelguten. Schließlich bekam 
ich ſo eine Art Stolz. Nein, die körperliche 
Arbeit iſt noch nicht das ſchlimmſte. Nur 
die Nächte in den Baracken, voller Ungeziefer, 
aneinandergepreßt . . . Dian kann's einfad) 
nicht beſchreiben.“ Und dann wühlte er doch 
wieder in dieſen Erinnerungen. 

Sie hörte voll Widerwillen zu. Warum 
erzählte er dies alles? Wollte er ſie quälen? 
Oder war es wirklich jo, daß ſeiner fürper: 
lichen auch eine innerliche Veränderung ent: 
jprah? Dak er abgejtumpft war und alle 
feineren Empfindungen verloren hatte. 
Konnte das fein? 

Der Weg, den die beiden gingen, war 
mit Blättern allerart bededt, fablgelben und 
bunfelbraunen, bic an den Rändern dicht 
gehäuft lagen, mittwegs aber in eine breiige 
Maſſe verwandelt und mit dem Erdboden 
ion halb eins waren. Ein bitter würziger 
Geruch ftieg von ihnen auf. Es regnete nicht 
mehr, aber an den [djmargen Äſten hingen 
nod) lange Reihen von Tropfen. An ben 
Sträudern zur Geite bes Weges faulten 
einige weiße Beeren und zitterten frierend 
filbrig graue Samentapjeln. Sonft waren 
alle Farben zu einem bräunlichen Einerlei 
zujammengeflojjen, über dem jchwer, [ait 
berftend von Feuchtigkeit, ber ſchwarzgraue 
Himmel hing. 

Er |prad) von Den weißen Nächten in 
Sibirien, wo man manchmal in den Keller 


PESSSESESESSCSSESESE Zwei Freunde 3333333333334 573 


frod, um nur eine Stunde Goblaf zu finden. 
Cie erwiderte, baB es aid) dunkle, jchlaflofe 
Nächte gäbe. Uber die eigenen Worte 
rajdjelten ihr dürr im Ohr. 

.Da fiel ihr Blid auf einen freundlichen 
Schimmer. Jn einiger Entfernung leuh: 
teten bie jchlanten Nuten eines Hartriegel: 
jtrauches, rot, jajtig und förmlich von Früh: 
lingsduft umwoben. Und im jelben Augen 
blid begann ihr verlorenes Herz fic) wieder: 
zufinden, und während es jchneller, jchlug, 

verlangjamte jie ihre Schritte. 


Umrahmt von diejem Weidengebüjch ftand 


eine Bant. An einem Herbjtabend Heim- 
febrenb Hatten fie fih Hier nicdergelaffen, 
um bie Moge jehnjüchtiger Zärtlichkeit, die 
plöglich über fie gefommen war, auszutoften. 
Eng umiblungen, Mund gegen Mund ges 
preßt, hatten [ie dort gejejjen wie ein Liebes: 
paar aus dem Bolf, und bie leije Scham 
vor ben neugierigen Bliden hatte bie bren: 
nende Güße ihrer Suite nur noch gewürzt. 

Wud) an den ſchwärzeſten Tagen konnte 
Annie an biejer Bank nicht voriibergehn, 
ohne daß die Erinnerung eine Ieije liebfojende 
Welle an ihr ödes Herz warf. 

Immer mehr verlangjamten id) ihre 
Schritte, gejpanntefte Erwartung liep fie 
zögern, als trate fie gleich aus bem Grauen, 
Frierenden in etwas Auferirdijdes, wo 
Düfte und Blüten auf fie niederregneten .. , 
und wußte, bap, wenn er jebt fie nahm, fie 
füßte und jagte: Komm mit! Ich bin trant, 
Hilf mir zu mir jelbjt! ... daß fie alles vers 
laffen würde... und ftand wie gelähmt und 
glaubte zu fühlen, wie im nächſten Augen: 
blid fein Arm fie umjchlang. 

Er hatte Iangjamer ge|prodjem, dann 
verwundert gejchwiegen, jab auf einmal bie 
Bank, erfannte jie wieder, an die er fich fo 
oft, an die er fic) gejtern nod) erinnert 
hatte... glaubte, Annie wäre von ungefähr, 
gedanfenlos hier ftehn geblieben, und dachte 
mit furchtbarer 3Bitterfeit, es gäbe Dod) nichts 
Graujameres als das Bergejjen einer Frau. 

„Wollen wir umfehren?” fragte er und 
hatte fih aud) [hon umgewandt, in der (Er: 
wartung, daß fie ibm folgte. 

Gie ging neben ihm her, immer noch mit 
Heinen Schritten, blidte auf ihre Füße, und 
ihre Füße Hatten Mitleid mit ihr. Nun 
hatte jie nichts mehr... Wher dann rafíte 
jie fid) bod) nod) einmal auf und fagte mit 
halb gebrochener Stimme: „Du mußt nicht 
denten, Hans, id) hätte bid) vergefjen ...” 

„Aber wer benft denn das? Ic dod 
nicht!” unterbrach er fie, und feine Worte 
Hangen, als wollte er einen unvermuteten 
Angriff abwehren. Und fuhr dann haftig 
fort: „Wie kommſt bu nur darauf? Die 


Sade liegt ja ganz anders. Sch fam geftern 
zu dir. Sch wollte hören, wie’s dir gebt. 
Ih war jebr aufgeregt. Ich hatte ja eben 
die Todesnachricht meiner Mutter betommen. 
Hoffentlich haft bu meine Aufregung nicht 
mißverjtanden. Ich hörte, es ginge bir gut. 
Du wärjt verheiratet. Ich war einen Mo: 
ment überrajcht, daß es gerade Klaus war. 
Wenn id) mich recht entjinne, fonntejt du 
ibn früher nicht bejonders leiden. Aber die 
Gefühle ändern jid) Aud id) habe mid) 
verändert. Vier Jahre — Krieg, Not, Mben- 
teuer, brutaljter Lebensfampf, ein jchredliches 
Leben, aber — ich fage bir, es |pringen da 
andere Gefühle heraus, als id) früher ge: 
fannt babe. MWielleiht bin ich verrobt. 
Aber — id) tann das nicht mehr empfinden, 
was id) früher empfunden babe. — Ah, 
verdammt!“ Er war bei den lebten Worten 
durch die Luft gefahren, und der Stod war 
jeiner Hand entglitten und in den Schmuß 
geflogen. „Verzeih! — Mie unangenehm!“ 
Humpelnd trat er auf den Rajen, nahm eine 
Handvoll Blätter und begann, den Gtod 
abzuwijten. „Ein cfenber Rniippel. Aber 
er hat mid) auf bem ganzen Mtarjch begleitet. 
Sd mag ihn nicht wegjchmeißen. Verzeih 
taujenbmal! — Wollen wir da nicht ein: 
biegen?“ 

Er wies auf bie Hauptallee. Cie gingen, 
und einer jpürte faum bes andern Gegen: 
wart, jo war jeder eingehüllt in eine finjtere 
Wolfe. Als fie das Ende des Parts erreicht 
hatten, blieb er ftehen und jtredte ihr die 
Hand bin: ,€cb' wohl, Annie!“ 

„Hans, bleib — nod) heute!“ 

Er jdjüttelte nur den Kopf. Kraftlos 
erhob fie die Hand, die er auf halbem Wege 
ergriff. 

Aber wie fie ibm jekt ins Geficht jab, 
veritand fie, dak es Der fura geld)nittene 
Bart war, der ihn fo verändert hatte; und 
peritanb auch, daß er bas ihretwegen getan 
hatte, wollte ibm ins Gejid)t jdreien: Mas 
du gejagt haft, ift ja alles nicht wahr. Ich 
weiß ja, daß bu mich noch liebjt ... Aber. 
jie fühlte fid) wie unter einem Sargdedel 
begraben. 

Und er, der jeinen Blid auf den Strauß 
an ihrer Bruft geheftet hielt, wollte fie bitten: 
Gib mir die Veilden. Von unferer ganzen 
heißen Liebe laß mir dies bißchen Duft. 

Wher aud) er jagte nichts, liek ihre Hand 
finten, lüftete mit einiger Mühe den Hut 
und entfernte fih, indem er fein rechtes 
Bein etwas nadhjlchleppte. 
8 BB R 

Schon am nächſten Tag verließ Hans die 
Stadt und febte fih wieder in Marikh. Aber 
wenn er früher ein Ziel gehabt Hatte, jebt 


574 ee Wilhelm Hegeler: | 


hatte er feins. Und wenn früher die Hoff: 
nung feine Füße bejdwingt hatte, jekt be: 
ſchwerte He ber Gram, Doch mit der Zeit 
lief er fid) auf den geduldigen alten Land: 
ſtraßen nicht nur die Gtiefeljohlen ab. ` ` 
Unterwegs begegneten ihm Landbriej- 
träger, Bauern, Handwerfer, Haufierer, die 
fih Dann und wann den Weg durd ein paar 
Morte verkürzten, aud) traf er abends in 
ben Heinen bäuerlichen Gajthäufern mand) 
mal einen einjamen Amtsrichter oder Dot: 
tor, mit dem eine Unterhaltung zuftande 
tam. Uud wenn dann bie erften Stoßjeufzer 
über die Rartoffel:, Kohlen: und fonftige 
Materiennot getan waren, gelangte das Ges 
iprád) auf die größere Not bes einft fo ftol: 
zen Baterlandes, bas nun gedemütigt und 
aus taujend Wunden blutend dantederlag. 
Und beinah jeder erzählte ihm, daß er einen 
nahen Angehörigen oder lieben Freund ver: 
loren hatte. Trauer war überall. Doğ 
liberal auch wieder die Spuren neuen 
Lebens. Da der Winter gelinde war, jah 
Hans von der Straße aus da und dort auf 
einem höher gelegenen Feld einen Bauern 
hinter dem Pflug bergebn. Und in den 
Dörfern waren Maurer mit der Ausbejjes 


` rung bejchädigter Häuſer bejchäftigt, auch 


wurde in einigen fogar ein neues Ladden 
eingebaut. 

Mit der Zeit ging dem Herumtreiber das 
Geld zur Neige, und er hätte [Hon lángit, 
wie es verabredet war, an Hermann Mlt 
um neues fchreiben miiffen. Aber es fehlte 
ibm Die Energie, und er verjchob es von 
einem Tag auf den anderen. 

Da fam ihm der Zufall zu Hilfe. Auf 
feiner Wanderjchaft war er ins Thüringer 
Sand gefommen und hatte einen ganzen 
Morgen einen einjamen Wald durdhitreift, 
als er gegen Mittag eine Bauersfrau an: 
traf, ein Heines, ſchwächlich ausjehendes 
IBeiblein, das jid) vor einen mit meterlangen 
Holzttämmen beladenen Sandwagen ge: 
ipannt hatte. Solange der Weg eben war, 


‚vermochte die Mte, wenn auch mit großer 


Miibe, den Wagen vorwärts zu bringen, 
aber bergauf verjagten ihr die Kräfte. Hans 
rief ihr zu, er wolle ihr helfen. Erjchroden, 
da fie Die Schritte des Hinter ihr Gehenden 
auf den weichen Nadeln nicht gehört Hatte, 
drehte fie jid) um und überließ ibm den 
Handgriff der Deichjel, mehr aus Angit, als 
weil feine Hilfe thr willfommen gewejen 
wäre. Um ihr Mißtrauen zu bejeitigen, be- 
gann Hans ein Gejprád, erzählte, daß er 
aus ruffiicher Kriegsgefangenjchaft fame, und 
erfuhr, Dak aud) bie alte Frau einen Sohn 
in franzöliicher Gefangenjdajft batte. Was 
has Holz anlangte, jo hatte fie es auf einer 





Auktion erftanden und wollte es, um Die 
unerjcehwingliden Abfubrtoften zu ſparen, 
jelbft nad) Haus transportieren. Aber es 
wäre was Tolles, murrte fie, was thr im 
vorigen Winter nod eine Kleinigtcit gewejen, 
wollte jest partout nicht mehr gehn, jo hätte 
ber Rheumatismus fie gepadt und ihre 
Rnoden gelähmt. 

Nach einer fleinen Stunde hatten fie bas 
Dorf erreicht,. in deffen erjtem, ganz ftatts 
lihem Gehöft Frau Geiß wohnte. Als er 
den Wagen in den Hof fuhr, iiberfam ibn 
der Wunjd, nad) alter, in der Gefangen: 
Ichaft gelernter Weije, feine Kräfte zu regen. 
Er [lug der Frau vor, ihr gegen eine gute 
Mahlzeit das Holz zu zerfleinern. Die 
Mahlzeit lehnte fie ab, da fie felbjt fnapp 
zu ejjen hätte, wollte ibn aber für feine 
Mühe bezahlen. Ihm war es recht, und 
nachdem er in dem nächſten Wirtshaus feinen 
Hunger geftillt batte, machte er jid) an bie 
Arbeit, ohne bis zum Abend fertig zu 
werden. 

Als er am nádjiten Morgen wiedertam, 
fand er das Mütterchen jtodíteif und mit 
großen Schmerzen im Bett liegen, und bei 
ihr ein zehnjähriges Enfelfind, bas einem 
armjeligen, bläulihen Flämmchen im Ofen 
durch Deftiges Blajen vollends den Garaus 
machte. Die Frau flagte ihm ihre Not, 
aber nicht wehleidig jammernd, fondern eher 
mit Gemurr, daß fie die ganze Nacht fein 
Auge zugetan hätte und daß das 9teiBen fie 
plage, es wäre was Tolles. Und zwijchen: 
durch f[opite fie ungeduldig mit ihrem Krüds 
ftod auf den Boden und fhalt, dab Deut: 
zutage bie Kinder aud) gar zu dumm wären 
und nicht mal ein Feuer machen fónnten 
und die Streichhölzer verbrennten, als wenn 
die fein Geld fofteten. Ohne viel zu reden, 
30g Hans fein Tajchenmefjer hervor, ſuchte 
ein fienbaltiges Gtiid Holz und jchnißelte 
Späne. Bald fnijterte eine luftige Flamme 
im Ofen. Da er vom Stall her ungedul: 
diges Muhen vernommen hatte, fragte er, 
wie’s denn damit wäre, vb er vielleicht bte 
Kuh verjorgen folle, Das gab nun Anlaß 
zu neuen Ausfällen über die Torbeit der 
Menichen heutzutage. Die Dienjtmagd ihrer 
Schwiegertochter wäre vorige Woche in die 
Stadt gemacht, angeblich weil fie mehr Kohn 
befame, in Wirklichkeit aber, weil es dort 
mehr Tangvergniigen gabe. Und ihre 
Schwiegertochter timmere fid) aud) nicht in 
der richtigen Weile um fie. Es wäre zu 
arg, wenn man [id) jein Lebtag geplagt 
hatte und auf jeine alten Tage jo hilflos 
wäre. Am Ende aber gab fie ihm dod An- 
weijungen, wo fid) das Heu in der Scheuer 
befand. und bie Gerätjchaften ftanden, hieß 


ee Zwei 


jedoch vorjidjtsbalber ibt Enfeltind mit: 
gehn. 

Nahdem Hans bas Nötigfte beforgt hatte, 
madte er fid) wieder über das Holz ber. 
Als es dunkel geworden war, jebte er fih 
zu feiner Arbeitgeberin in die Stube und 
mußte ein fcharfes Werhör über jtd) ergehn 
lajjet, woher er fame, warum er fid) im 
Land herumtriebe und was für eine Art 
Menjdentind er überhaupt ware. Hans er: 
zählte der Wahrheit gemäß, dak während 
feiner langen Abwejenheit feine Angehörigen 
geftorben jeien und daß ihm deshalb der 
Aufenthalt in jeiner Heimat verleidet jet... 
Er wolle fih anderswo eine neue Exiftenz 
Ihaffen, bier aber fürs erjte bleiben, ba er 
Geld erwarte. Er jet zwar ein Stadtmenſch, 
habe in Rubland aber die Bauernarbeit ge: 
lernt, und wenn’s der Frau (Geib recht wäre, 
wollte er ihr einftweilen die Wirtſchaft be: 
jorgen. Dieje meinte, es wäre was Tolles, 
wie’s jest in ber Welt guginge und daß die 
Stadtmenihen Bauern werden wollten. 
Wher im Dorf fet feit mehreren Jahren ein 
ruſſiſcher Gefangener, reicher Leute Gobn, 
der in [einem gebrochenen Deutſch rades 
bredje: „Früher alles Rnedt, jebt alles ich,“ 
und zur Zufriedenheit feines Bauern Die 
Arbeit verridte. So möge ers auch ver: 
juen. , 

Acht Tage waren vergangen. Sans hatte 
Geld befommen, aber anftatt wieder feinen 
Wanderjtab zu ergreifen, fiedelte er ganz zu 


der Bäuerin über, und da die Zeit der Früh: - 


jabrbejtellung gefommen war, jo pflügte er 
ihr mit einem geliehenen Pferd das Rar: 
toffelland und den Kornader. Und wieder 
vergingen Wochen, der Schnee jchmolz, die 
Mutt wurde linder, und der Boden begrünte 
(id mit der Saat, bie Hans geját hatte. Er 
hatte fid) [Hon an den Gedanten gewöhnt, 
Bauer zu werden und die Welt zu ver: 
gellen, Nicht daß er die Menjchen insge: 
jamt gehaßt ober nur Übles von ihnen ges 
dacht hätte, aber fein Herz war nod zu 
wund, um ihre lauten Stimmen zu ertragen, 
und er bildete jid) ein, ohne fie austommen 
zu Tonnen, Dod) ohne daß er es abnte, waren 
(ie [bon zu ihm gefommen, er war nicht 
mehr allein in feinem jelbftjüchtigen Schmerz, 
jondern ſchwamm im großen Strom mit und 
hörte fein vielftimmiges Gemurmel. 
Hermann hatte ibm Bücher gejdidt, eine 
ganze Rijte voll, und ſchickte unverdrojfen 
immer neue, als wüßte er, was dem Freunde 
not tat. Anfangs hatte Hans nur wenige 
Geiten Iejen fónnen, Dann wurde er von 
jeinen eigenen Gedanfen überwältigt. Hs 
máblid) erweiterte fih Das Tor feiner Geele, 
und er wurde gezwungen, den fremden Stim: 


Freunde sees 575 


men zu antworten. Aber das Lebendige in ` 
feiner Seele war immer nod) der Schmerz, 
der Dunkel Indie und Gelbitbeftátigung, und 
alle Bücher, bie der großen Toten jowohl 
wie bie ber Lebenden, fünbeten ibm nur 
von bem einen, ber Allmadt bes Leids. 
Eines Nachts, nachdem er lange gelejen, 
fap er am offenen Fenſter feiner dunklen 
Stube und blidte auf den mondbejchienenen 
Hof hinaus, auf deffen engem Bezirk ein 
uralter Birnbaum ftand; der Blig Hatte ihn 
gejpalten, jo daß von den beiden Haupt» 
ájten, in die der Stamm fih gabelte, nur 
nod) der fleinere übrig war. Die Bauers: 
frau hatte ihm erzählt, daß ihr Sohn den 
Rriippel von Baum, der den Hof verun: 
zierte, hatte umjägen, daß fie es aber nicht 
batte dulden wollen, ba er [Hon vom Grok- 
vater gepflanzt fei und immer nod) biibjd) 
Früchte trage. 
Während feine Blüten wie blajje Mond- 
lichttropfen niederfielen, Dachte Hans an den 
Birnbaum im heimatlichen Garten, an die 
Spiele, die er damals gejpielt, und Die 
Träume, Die er Damals geträumt. Beides 
war verweht, und ihn, den Mann, verband 
faum etwas anderes als Wehmut mit dem 
Iptelen pen, träumenden Knaben. Berjonnen 
blidte er auf den Himmel, auf das tragijdh 
groteste Spiel der Wolfen, bie, vom falten 
Vollmondlicht zu gejpenftijdcm Leben ent: 
fadt, mythijden Ungeheuern glichen, Die 
einen wilden Kampf aufführen. Und feine 
trauerbeladene Geele wanderte über Schlacht» 
felder, über Mioräfte, aus denen Leichen. 
ragten, über Schnee, der mit Blut ge: 
rötet war. 
- ls er nad) eines Gedanfens Lange ben 
Blid dann wieder auf den Himmel richtete, 
war alles verfhwunden, das falte Rund des 
Mondes [Hwebte einjam im rauchigen Blau. 
Alles war verjchwunden in eines Gedanfens 
Augenblid, wie vor dem Gedantenblig der 
Ewigkeit Menſchen- und Völkerſchickſale fih 
abjpielten und das Antlig der Erde [id) ver: 
wandelte. Nur eben daß der einzelne fein 
Schidjal als feine Ewigfeit empfand. Aber 
nod) rajcher und unmerfbarer als am Him: 
mel wedjelte in bem Bejchauer die Szenerie: 
eine linde, monderhellte Sommernadt ftieg 
empor, in der ein junger Menih, weniger 
vom Wein als von Jugend und Glüd bes 
rau|djt, bas volle Glas ins Finftere geleert 
und Gott mit bem vermejjenen Wunjch 
Derausge[orbert hatte: er habe genug von 
Siebesglanz und forglojem Jugendgliid, er 
jehne fic) nad) Schmerz und Leid, Denn 
Hiob jet reicher als Calomo ... Und 
diejer Menjch war er jelbjt gewejen, und 
Gott hatte feinen Wunfch erfüllt unb bie 


576 BEESHEHETETN Erika Rhemid: Die Wahl 


Bermejfenbeit eines Augenblids zu feinem 
Schickſal gemadt. 

Als Sjans fid) deffen bewußt wurde, war 
ibm, als verjänfe er in fid) wie im fein 
eigenes Grab, und die 9[ngit, bie ihn um: 
webte, war der Hauch des Gterbens, und 
die Traurigfeit war die Traurigfeit, mit der 
das Nichts erfüllt ijt. Aber während er 
jant, glitt er zugleich in eine noch tiefere 
Melt... oder war es jo, Dak ber geheimnis= 
volle Zbeatermeijter in feiner Geele eine 
neue Bühne emporfteigen ließ, mit neuen 
Hintergründen und Rulijjen und mit Men: 
Iden, die laten und litten, blutdurdpulft, 
förperhaft bie einen, ſchemenhaft die andern, 
aber alle von jeltiam überlebendiger Ein: 
bringlid)feit, und bod) nur von den Strömen 
jeines eigenen Lebens belebt. 

Er jak mit aufwärts gerichtetem Geficht, 
in einem 3ujtanb zugleich Willen Empfangens 
und böchiter Gelpanntheit. Es war eine 


Maáblet euch 


Dod) 


Gelig ruben die Toten! 


Die Wahl. Von Grifa Sifeinjd) 


„Alle bie Kinder mun ruhten im Paradieſe verfammelt, 
flange, Tier und Geftein und der erhabene Menſch, 
Und es gebot js allen ber ewige Bater: Nun wáblet! 
amen und Los für bas unendliche Sein! 

Siehe, ba nannten die Kinder ihm jedes den eigenen Namen, 
Und ein jegliches bat ihn um fein eignes Gejdjid. 

Ruhe zwar hatte der Vater den Steinen allen verliehen, 
Aber als Wandrer im Bad) dachte der Kiefer fid) gern; 

Jejtlid mit Schönheit geſchmückt umgaben ihn Blumen und Baume, 
Aber den Pla am Altar wählte die Lilie fih felbft; 

Rajtlos Jagen und Spiel war allen Tieren gemeinjam, 

aus Der eigenen Bruft jd)opfte die Merde thr Lied. 

Und fo umdrängten die Menjchen ihn bittend, Anbetung im Antlitz, — 
Aber mit träumendem Blid zu den Gejchwiltern zurüd 

Kehrte fid) mander und bat vom Vater bas Schidjal der Rofe 
Oder des dienenden Halms oder des kindlichen Tiers. 

Sarum follft du, o Glarus," ſprach 3Barageljus, „die Menge 
Nicht bedauern, ob Gott ferner und fremder ihr fei — 

Sit ibm denn fremd bie Natur? Erglangt nicht ber Rajen im Traume 
Geiner Liebe? Und fo fajfet bie Menge ihn aud. — 

Und es erwáblte fih fürber ein jeder ben eigenen Standort, 
Wählte den Stern ber Geburt und den ureigenen Tod — 

Uber nod) über die Bitten der Kinder und über Verftehen 
Fügte der ewige Gott Gnade zu jeglichem Los. 

Und er bejdjmor die Gejdjide und nahm zum Pfande der Freiheit 
Jedes einzelne Kind gegen das andre in Pfliht — 

Und es durfte nicht eines fic) bir widerjegen von Anfang, — 
Und jo ftebft du nun hier, wie du dih ewig gewollt. 

Stehjt mit verbundenen Augen und weißt nicht Eingang nod Ausgang, 
Doh ben bejdjmorenen Pfad, glaube mir, wirft du geführt! 

JBillit du ihn jelber ertennen? Go bd in des ftrebenden Herzens 
Heiliges Dunkel hinab, fiebe, da leuchtet er auf! 

Darum, mein Glarus," jprad Parazeljus, ,betlage mir feiner, 
Weil er im Leide verweilt, weil er im Tode verging! 

Und einft erfennft du der Schmerzen, 

Die du bir felbft in das Glüd mijchteft, unendlichen Wert!” 


wundervoll gejegnete Nacht, und fie verging, 
ohne daß er es merfte. 

Dies geheimnisvolle andere Leben tebrte 
jeitdem immer wieder und wurde jchließlich 
jein eigentliches Leben. Aber je mehr es in 
jetner Geele heimijch wurde, Ddefto mehr 
wurde feine Vergangenheit ihm wirklich zum 
Goidjal, wurde formende und nábrende 
Kraft, i wie der Schnee bes Winters im 
Frühjahr als Quelle aus der Erde empor: 
fteigt. | 

Eines Tages ſchrieb er an Hermann Alt: 
„Deine Tage gehen immer nod ohne äußere 
Greignijje hin, nur unendlich viel [d)neller. 
Meine gute alte Bäuerin ift vielleicht nicht 
mebr fo zufrieden mit mir wie früher, wenn 
fie aud nod nicht gemurrt bat, Aber 
id glaube, Gott bat mid pod) zu ans 
derer Arbeit bejtimmt. Bon welder Art 
bie ijt, Das laß noch eine Weile mein Ge 
Heimnis fein!” ... : 


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Gemälde von Friedrih Pauly: Hagen 


Die Hütte. 


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Aus den Gedichten des Malers: 
Fabrik im Tal 


Don Hermann Hefe 


Du aud bift fhon, Fabril im grünen Tal, 

Ob aud) verhafter Dinge Sinnbild und Heimat: 
Jagd nad) Geld, Sklaverei, diiftre Gefangenfhaft. 
Du aud bit ſchön! Oft erfreut 

Deiner Dächer zärtlihes Rot mir das Auge 

Und dein Maft, deine Fahne: der ftolze Kamin. 
Sei gegriift aud) du und geliebt, 

Holdes verfholfenes Blau an ärmlihen Käufern, 
Wo es nad) Seife, nah Bier und nad Rindern richt! 
In der Wiefen Grün, in das Violett der Acer 
Spielt das Haufergefhadtel und Dächerrot 

$reudig hinein, freudig und dennod zart, 
Bläfermufit, Oboe und Flöte verwandt. 

Ladend taudy id) den Dinfel in Lad und Zinnober, 
Wiſche über die Felder mit ftaubigem Grün, 

Aber ſchöner als alles leuchtet der rote Kamin, 
Senkrecht in diefe törichte Welt geftellt, 
Riefenfpielzeug, 

Eines Giganten vortrefflihe Sonnenuhr, 





deccm | mme | | aran (Ger |! ssepe (mem || eem (messen | | mus | | emm | | 


II 


(een | | soma | | occurs | | ama | | amenas | | ra | | sema erger | | corey (Eessen | | oe (gemeng | | pac (pement | | orco || aeons | | ee | (ores | | ates (eg | | messy | cement 


¡ans || nz | | ea | | as | | as | men: | | me | | a || A | A | | aras | | ummy | | eee | | ieu 
Velhagen & Alafings Monatshefte. 35. Jahrg. 1920/1921. 2. Bd. 38 


ophi und D 


Iympia 


— Don Prof Dr Iheobor Biri 


O&tCCCCCCCCCCECCCCCCCCCCCCCCCCCECCCCCCCCCCCCCCCCCCCC CCCCCC III IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIDIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII350 


n glänzendem Hodtrieb [tanb das 
Griehentum nad dem glüdlichen 
Berlauf ber Perjerfriege. Wo aber 
blieb der Zuſammenſchluß Griechen» 
lands, die nationale Einigung? 
9tod) war Hoffnung, bee He zuftande fam 
und die Gegenjake zwilhen Dorijd und 
Joniſch, Sparta und Athen fid) ausglichen. 
Modte fih Perfien jest ruhig verhalten: 
in ber Sufun[t drobten andere Grokmadte; 
nur nod) 150 Jahre, und bas Mazedonien 
Alexanders des Großen regte fih; nod) wei: 
tere 150 Jahre, und Rom hatte jenfeits der 
Adria feine Großmacht gegründet, um rafts 
los erobernb auszugreifen. Wie folte der 
Grieche fih behaupten? 

Es gibt aud) geiftige Mächte, es gibt 
S erzenstriebe, die, wo die Bolitit ber Staats: 
manner verjagt, die getrennten Gruppen im 
Wolf zueinander ziehn. Freilich die Religion 
tat es nidjt. So wie Deutichlands Einheit 
paro pen Widerftreit ber Ronfejftonen und 
bas Mißlingen des nationalen Wertes Mar: 
tin Luthers gejchädigt wurde, jo ftand es 
aud damals in Griekenland, nur nod) 
iblimmer. Denn jeder Kanton Hatte ja 
jetne Stadtgottheiten. Athena forgte nur für 
Athen jo wie Jehova für Ifrael. Nur an 
Apol in Delphi hing die Hoffnung und 
air? Zeus in Olympia. Aber beides ver: 
gebens. 

Das Drafelwejen des Altertums mutet 
uns heute ae Saad an: ein findijder 
Aberglaube. Tatſache ijt: bas Orafel in 
Delphi war die Stimme Apolls, es war ber 
politiſche Ratgeber de alle Griechen; es war 
eine politijde Macht geworden. Der junge 
Lidtgott, ber vorwillend in die Zukunft 
[haute — es war Pflicht ihn zu fragen, wo 
immer es fid) um große Pläne ber Be 
handelte. Auch Auswärtige wie Kröjus, 
ber Großkönig Lydiens, wandten fid) an ihn. 
Für die naive Frömmigkeit ijf bas jelbit- 
verftándlib; denn lebt Gott wirklich, fo ift 
er auch allwijjenb; aber er ijt zudem aud) 

ütig und Hat das Verlangen, uns zu bel: 
en; er antwortet aljo, wenn wir ihn fragen. 
Es fommt nur darauf an, feine Stimme 
richtig zu verjtehen. Im Donnerichlag, im 
Adler: und Habidtsflug, in der Gejtaltung 
ber Leber bes Opfertiers fprad) ber Gott zu 
bem Gläubigen. Fiel ein Dteteoritein, lo 
war man fider, bie Schlacht ging verloren. 
Mubs einer Priefterin der Schimmer eines 
Bartes auf der Oberlippe, fo drohte Unheil. 
Auch Menichen von Hhelljehender Natur gab 
es; von folden eier) rätjelhafte Spruch: 
bücher, Bücher bes Batis und der Gibyllen, 
bie bie MWahrjager gegen gute Bezahlung 
auslegten: natürlich ein weites Feld De gros 





ben Schwindel; aber der Gläubige liep fid) 
nidi irremaben. Bor allem aber redet 
Zeus burd) Apol, und unter ben vielen 
apollinijden ODratelftítten war Delphi in 
ber Feljenwildnis Bóotiens am Fuße bes 
SBarnaB bie weitaus angelebenite, von päpft- 
licher Unfeblbartett. 

Der Frager mußte feine Frage jchriftlich 
bringen, und jchriftlich erhielt er aud) bie 
Antwort. Er hatte im Vorraum des Tem: 
pels zu warten. Der Tempel jelbjt war 
über einem jchmalen Cpalt, dem offenen 
Erdjdhlund ber Erdmutter Ge, erbaut, aus 
dem betäubende talte Diinfte aufítiegen; auch 
ein Quel war mit eingebaut in den Tem: 
pel. fiber bem Erdipalt aber ftand ein hoher 
Dreifuß; auf diejem lag eine burd)brodjene 
Metallplatte, auf der Platte ftand endlich 
ein Seffel, unb auf ihm hatte die ungliid: 
liche fogenannte Pythia zu fiber, wenn es 

u weisjagen galt. Nur unverbeiratete 

rauen wurden zu Diejer peinlidjen Rolle 
verwendet; fie galten als Gefäß bes Seber: 
ottes. Der Dunft aus der Tiefe betäubt 
te, und fie fängt wirren Geiftes an zu 
tammeln und zu lallen, bis fie in Ohnmacht 
zufammenbricht. Der Priefter aber ift gu- 
egen; er heißt der Prophet, d. i. der Vers 
ünder. Aus den Naturlauten, bie er Hört, 
muß er die Antwort des Gottes entnehmen. 
Niemand fonft ijt Zeuge, und er Hat freie 
Hand, den Spruch nad) eigen[tem Butdünfen 
u —— faſt immer geſchah es in 
erjen, allemal in andeutender, geheimnis» 
voll doppeldeutiger Sprade. 3umeift waren 
es Privatleute, bie mit ıhren Gorgen, ob 
fie reifen, einen Ader taufen, ein Haus bauen 
jollten, nad) Delphi famen. Aber auch bie 
Staaten wandten fih nad) Delphi, und die 
Propheten waren ausgezeichnete Politiker; 
fte hatten über die Händel der Zeit völligen 
Überblid, aud) eine ausgebreitete Landes: 
funde, und fo find wohl bie meiften Rolo: 
nialgriindungen, die die Griechen unter» 
nahmen, unter Apolos Führung, d. b. auf 
Anleitung der delphifden Propheten ge: 
ichehen, zumeift mit beftem Erfolg. Geſchah 
ein chicen. hatte man eben bas Oratel 
faljd) verftanden. 

Uber der bódjten Aufgabe — ich 
jene Propheten nicht gewachſen. Als die 
Perſer famen, äußerten fie fih, durch Ter: 
xes und Mardonius eingeſchüchtert, geradezu 
perſerfreundlich, und nie haben ſie zur 
Einigung aller Griechenſtämme die Führung 
genommen. Im Gegenteil: ſchlugen Grie— 
chen auf Griechen los, ſo gaben ſie auch da 
unbedenklich Rat, und zwar nicht parteilos; 
Delphi war für die Dorer, und Sparta hatte 
das Orakel geradezu in Händen. Auch be— 


Prof. Dr. Theodor Birt: 
en ließen fid) die Propheten. Daß ber 


öne Tempel in Delphi dereinft von atbe: 
nijden Gottesverehrern erbaut worden war, 
half nichts, bie athenijde Politif hat fih 
nie auf Delphi [tien können. Die Klertjei 
ftand nicht über den Parteien, jo wie fie es 
aud dE nicht tut. Se verwidelter, zer» 
rüttenber bie ele Gel wurden, je mehr 
fant daher Delphis Anjehen, jo EA aud) 
— Dichter, ſo ſehr auch der fromme 
iſtoriler Herodot es noch hochzuhalten 
ſuchten. Ein RE — iſt 
im Dienſt der Frömmigkeit immer erlaubt; 
das, was die Chriſten des Mittelalters 
konnten, konnten auch die alten frommen 
Griechen, indem [ie bie ausgegebenen Orakel 
nachträglich ſo zuſtutzten wie wir ſie bei 
Herodot leſen. Sie machen Stimmung und 
— den Reiz der Erzählung. Das ge— 


nü 
Bar von Apoll nichts zu hoffen, fo dod 
vielleicht von Zeus, vom Zeus von Olympia. 
Olympia! olympijde Spiele! bas be: 
rühmtefte Sportfeld Griechenlands in Glis, 
am Aladeos und Alpheios! Da ift nichts 
von politildjem Prophetentum, my Ae 
Duntel und Prieftervorwik. Der große Gott 
Zeus lodt nur die Turner und Athleten — 
nicht Berufsatbleten, Jondern freie Liebhaber 
des edlen Sports — aus allen Gauen zum 
ropen Mettipiel, ihm felbjt zu Ehren: frijch, 
Komi, fröhlich, frei. Wie follten jid) ba 
nicht die Herzen zujammenfinden, die Seelen 
aus ber eng fantonalen Borniertheit fih be: 
freien? Auch aus Sizilien, Süditalien famen 
die Bewerber, aud) Roffegejpanne. 
3m der Tat, das ganze griechijche Leben 


Delphi und Olympia BZZZSZZ 579 


wurde davon erfaßt. Die Olympien waren 
jo wichtig, dak die ganze griechilche Zeit: 
rechnung fih ſchließlich aut jie gegründet bat, 
Ale vier Jahre fanden fie fott: man 
führte nun nicht nur Giegerliften, fondern 
zählte aud) dieje vierjährigen Zeitabjchnitte 
als Olympiaden. Gonft gab es nod) durd): 
aus feine Jabreszáblung; wo war das Jahr, 
von bem man hätte ausgehen fónnen? und 
die Zeitrechnung lag noch völlig im argen. 
Cpurlos verliefen fih bie vergangenen 
Sabre wie die Wellen im Meer. ollte 
man ein Ereignis aus der Vorzeit datieren, 
[o fagte man, es gejhah unter bem Beamten 
X ober Y, der in ber Beamtenlijte Honn, 
Auch die Monate hießen ungefähr in jedem 
Kleinitaat anders, ein wirres Chaos. Mir 
aber fönnen zum Blüd feititellen, daB bas 
Qahr ber gen Olympiade in das Jahr 
776 v. Chr. fällt, da nämlich Chrifti Geburt 
jelbft ber 195. Olympiade angehört. Grit 
mit der Zahl 776 beginnt aljo die genauere 
Chronologie in ber Bejchichte der Menjch: 
heit, und nur Salad D es móglid) ges 
worden, für bie Schladyt bei Marathon und 
ee andere Gejdeben beftimmte Jahre ans 
zujeßen. 

Begeben wir uns nad Olympia. 

Auch auf bem Ifthmus von Korinth, aud 
in Delphi wurden baid die olympijden Spiele 
Legal Ipäterhin aud) in Italien, in 
er en, und pene tft es ebenjo. Ihr Bor: 
bild beherricht je5t wieder den großmächtt 
entwidelten Sport der Neuzeit. Die Sache i 
hodmodern geworden. Stadion und Olym: 
piajpiel in Berlin, Kopenhagen, Chicago, 
Sidney; überall Athletenflubs, Boxerfampfe, 





Krönung des Siegers im Pferderennen. Innenbild einer attiihden Schale aus bem 4. Jahrh. v. Chr. 


(Minden, Bajenfammlung in der Alten *pinafotbet) 


gge 


580 ESSSSSSeSSSS+8) Prof. Dr. Theodor Birt: Keess 


Hodeyleute; Gajtipielreifen im Länderwett: 
ipiel: bie Stadt Höchſt fampft gegen die 
Stadt Mainz, Nürnberg gegen dg 
In Amerita Marathon » Wettläufe; Zeit 
25 Minuten; Radfahrer als Sdrittmader; 
40 000 Bujdaucr am Plak. Die Kämpfer 
eben im Gportdreg und in Farben, granat: 
arben, orange. Das Publifum felbft fpaltet 
fid) und trägt die Farben der Kämpfer. 
Bom Beginn wird im SHalltrihter das 

ommando geheult. Automobile am Start: 
play; bie Photographen liegen auf Lauer 
mit ihren Apparaten. Gelbjt Chinejen bes 
teiligen fid) an joldjem Wettlauf; fie find 
tenntlid) am dinefijden Drachen, ber auf 
auf ihrem Brujtlat grel afgana ift. 

Das ift heute. ie viel [djlid)ter war 

alles in jener fleinen Welt der Wntife! Wher 
es war Driginal, nicht Kopie, und auch im 
engen Rahmen gibt es großartiges Leben. Die 
ral E waren Bott zu Ehren ein Wett: 
eifern der Züdjigleit aus allen Staaten, 
und mochten aud fonft bie de aj toben, 
Stadt gegen Stadt, in ber Feſtwoche war 
weithin Landfrieden, und ungefährdet zogen 
bie Prozejfionen von überall, aus den Hod: 
gebirgsichluchten oder bie offenen Küſten— 
ide — entlang, um [id am Wlpheios zu 
treffen, in bem lieblichen Flußtal, bas wie 
eine weite Wanne ganze ?Bolfsidjaren auf: 
zunehmen im Wonne war: „Strömt herbei, 
ihr Völkerſcharen!“ 
Zu Fuß pilgerten bie einen, die anderen 
famen zu Rog, auf Maultieren. Reijewagen 
gab es niht. Die hohen Tiagiftrate felbft 
aus allen Städten famen.mit, im Feftornat, 
in Gala. Denn die Städte felbft find- es, 
die die Kämpfer ftellen. Es find Beltaclandts 
Ichaften, bie man „Theorien“ nannte, Golde 
Theorie aber war Praxis. 

O ſchönes Land, dort um Olympia! Auch 
der heutige Reijende atmet felig auf, wenn 
er dort fteht! Denn Olympia i Beute Ends 
ftation ber Lofalbahn und bequemer als das 
mals zu erreichen. Die Felfengebirge weg: 
SE nur ber Rronionbiigel ragt wald» 

eichattet über der milden Talfláge. Nur 
aus weitefter Ferne, im Often, ragt bas 
Alpenland Artadiens eru Eine Tempels» 
Hätte in der heiligen Einfamteit, Man fiebt 
nod) heute die Bautrümmer der Gottes: 
báufer über ben Rajen gejtreut. Ein Raub: 
vogel fdwebt von Often herüber; ift es ein 
Habicht? o nein, ein Adler, ber bliBtragende 
Bogel des Himmelsherrn. 
nter dem Kronionhügel Iangbin eine 
Terrajfe mit TFreitreppe, aufgebaut zum 
Cteben für bie Gemeinde. Der Terrafje zu 
Füßen ein Dugend altmodijcher Zeusbilder 
aus Bronze, lauter Meibgaben. Wud) um 
die E großen Tempel im Flachen Drängen 
fih Statuen auf Poftamenten, Weihgeichenfe 
aud) fie. Dagwijden oder jeitab der große 
Altar mit Schladtitatte, etwa 12 Meter 
in Front, aus Aſche bod) aufgejchüttet; bet 
jedem alr wächſt er in Die Höhe, 
Gajthaujerbetrieb gab es taum in ben 


Städten, erft recht nicht bier. Am FluBufer 
baute man Zelte oder jchlief in der Sommer: 
naht (es ijt Juli) unter freiem Himmel. 
Um bie Zelte her Jahrmarktsgetriebe. Die 
Pferde wiehern, angepflodt. Die Menichheit 
wogt durcheinander, ein Plaudern und Be- 
ben derer, bie fid) fennen und nod nicht 
ennen, in allen Dialetten, Man weitet, 
man ftreitet; die jungen Athleten mellen fid) 
mit den Bliden, Die Turnmeifter, bodge: 
ebrte Perjonen, ftehen mit ftrenger Miene 
daneben und geben adt: „Reinen Wein 
trinten ! nur leichte Bilanzentoft!” Die [trenge 
Diät fichert den Enola. Nur wer niidtern, 
ijt Herr feiner Kraft! Cine Asteje im Dienft 
des Zeus. Freunde fteden ihren Günftlingen 
Amulette zu, damit [ie fiegen. Wolle zehn 
Monate dauert vor dem Wettfampf das 
Üben und. Trainieren. EIER (Gym: 
nafien) waren dazu in Olympia Jelbjt por: 
handen. 

Mer weiß nicht vom Zeusbild des Phidias ? 
Sms Flache ftellte man den ftattlichen, bunts 
bemalten bori|djen Tempel, darin der bürtige 
Riejengott hodte, aus Gold und Glfenbetn 
eet Mui auf reich gejdmiidtem 

bronjefjel, eng eingepfercht, als folte er 
die Wände ' [prengen. Gtünde er auf, er 
wäre nie durch die Türe gefommen. Wer 
weiß niht vom Hermes des Praxiteles, ber 
als Schmudjtüd im benachbarten Heratem: 
pel ftand (der ganze Heratempel war zum 
Mujeum geworden) und von der Victoria, 
der Nite bes Paionios, die durch unjere 
deutjchen Ausgrabungen dort aus dem Sande 
ehoben worden find? An den zwei Giebels 
el ern bes Sjaupttempels die —— 
der Roſſebändigerin Hippodamia in doppel: 
ter Wiedergabe, worüber es viel zu raten 
gab. Aber all dieſe Sehenswürdigkeiten gab 
es zu der Zeit noch gar nicht, von der wir 
handeln. Die Götter waren damals noch 
anſpruchsloſer und nahmen mit einer guten 
und kräftigem Opferdampf in 
ſchöner Natur vorlieb. 

Fünf, ſechs oder an fieben Tage dauerte 
das Felt. An jedem Viorgen wird geopfert, 
unb die Menge [taut jid) auf dem Plage. 
Berühmte Männer tauchen auf, der Spars 
tanertónig oder Themijtotles oder Kimon; 
dann ijt große Genlation, und alles weift 
auf fie, und des Redens ijt fein Ende, bis 
alles ¿um Stadion jtrömt, ‘wo 10000 Men: 
Iden Blak finden. Und die Vorführungen 
beginnen. Wbmedjelung genug; nur den 
heute unvermeidlichen Fußball, aud) Riegens 
turnen und Klettern gibt es nicht, auc feine 
Menjchenpyramiden nad) Art unjerer Bir- 
tusleute. le Tage neue Wettbewerber. 
Cie haben fih zuvor angemeldet. Wettlau: 
fen: Knaben laufen, dann Diinglinge, aud 
ipigbártige Männer; jie ſchnauben und hegen 
fih in ſüdländiſchem SjeiBblut. Das Publi. 
tum muß Geduld haben, denn es währt 
lange. Aber viele haben ihre Angehörigen 
unter den Käufern und verfolgen die fliegen: 
den Gruppen mit Gier. an fißt in der 


ee Delphi und Olympia seess 581 


prallen Sonne, völlig [Hattenlos. Gegen 
den Hunger bat man fih Frühſtück mitge- 
bradjt. Auf alle Fälle ein Hochbetrieb, ſpan⸗ 
nend und flott. 

Denn [Hon fommen die Gerwerfer, dann 
ar die —— Blitzend fliegt der 
istus, die runde Metallſcheibe, wie ein ges 

wirbeltes Rad gegen die Sonne. Mer fie 
am weiteften jchwingt, hat gewonnen. Ein 
Schauſpiel: denn ei der Schönheitsfinn 
tam dabei zu feinem Recht. Das Schauen 
jelbft nannte man göttlih. Nie ige lich 


dazu rundlider Kopf; feine Lippen, gerades 
Najenbein, der a e harmontid mit 
fejtem Fleifch, geraden Schenfeln, die Hal: 
tung angejpannt und edel; jo find jene jpor: 
tenden jungen Menjchen für die Ewmigteit 
feftgebalten. Nur ber feuchte Glanz bes 
Auges ift erlojden; fein Bolt galt als fo 
NIE wie das BDellenijdje. Wher ber 
Wettfampfer |djlug es nieder und — 
nie beifallſüchtig ins Publikum. Denn ſtrenge 
Zucht herrſchte. Und alle nackt; die Nackt— 
heit ſchien in der Hitze unentbehrlich. Eben 
deshalb aber waren im Publikum keine 
grauen; nur die Spartaner erlaubten trop: 
dem ihren Töchtern das Zujdauen; Harat- 
teriftijd) für die Mädchenerziehung in 
Sparta, 






Nun aber erft bie Gingelfámpfe, Mann 
gegen Mann. Das Ringen im Zweilampf: 
Der Griff, bas Ausweichen, der lauernde 
Blid, die bligjchnellen Bewegungen! Muss 
teltraft und fiberliftung! Das währt oft 
jtundenlang. Das Schreien im Publitum 
wird [Hon erregter. Und endlich gar bas 
Boxen. Die jdweren Kerle mit den Bulls 
doggennaturen auf die Menfur! Da hört 
freilich bie Aſthetik auf, aber die Senfation 
wächſt ins Un d'Ee Die Fäuſte im feften 
Riemenhand du , mit ?Bletbe|djfag. Die 


der Körper |djóner als hier. Kein Photos Schläge frachen, und es gibt Wunden, zers 
graph bat das feftgehalten; aber der hauene Ohren, blutende Nafen; die Zähne 
DEDE oU rt id o flogen ` aus 
Der borde pee REESEN, ; bem Kiefer. 
Riinjtler Po: : : Der Wunde 
Inflet hat den : .s arzt mußte 
Ger: oder : : Beten. 
Speerwerfer, : : 0 ging es 
aber nur im : : von Tag zu 
Rubeftand, : : Tag mit im: 
dargeftellt; : jo : mer neuen 
ber el e: Do. Berfonal. 
Riinjtler My- * Mer den Hieb 
ron den Laue erleidet, trägt 
er unb den Um ſtumm; 
istuswerfer nur die Volts: 
jogar in vol: menge jchreit 
ler Bewe: wehe. Die Zus 
ung: der [hauer aber 
gelen mit applaudier: 
eingegogenent ten nicht nur 
Weichen und und jauh: 
fo, daß bas ` , ten: fie a 
Ergbilo mit ` : ten aud) ihre 
IojemjyuBoon : : Wike. Troll: 
feiner Bafis : : te einer im 
u  [pringen : : Wettlauf als 
bien: er : : Teter, fo hieß 
- Distuswerfer : : es: „Er fann 
(es ift ber, : ¿ mur fliegen, 
cef er m : : "éi Zi 
atifan ftebt) : , uu ; ibn zu Ti 
: JBettlüufer. Snnenbild einer attijden S , — — 
—— $ D Gr (München, kee * “Alten ENEE : Ts e ne 
Ee E EE EEGEN : Mund laufen 
Scheibe aus y und mit ben 
feiner Hand fliegen will. Welche Kühnheit; Süßen ejjen.” Bom übel zugerichteten 
Das Blondhaar ijt immer furz gejchoren oxer fagte man: „Odyſſeus war 20 Jahre 


von zu Hauje abwejend, und fogar fein 
Hund erfannte ibn fogletd), als er heim» 
tam. Den Boxer erfennt fein Menih 
und fein Hund wieder, Erben [oll er; 
aber damit wird es nichts; denn bie Tefta: 
mentsvollftreder ertennen die Identität der 
Perjon nicht mehr.“ 

Zehn Preisridter Hatten den Vorfis, von 
Gtabtrágern (Poliziften) begleitet, die, wo 
Unordnung eintiß, dareinjdlugen. Die 
Kämpfer hatten, um bie Schweißbildung zu 
hemmen, den ganzen Körper mit Olivenöl 
eingerieben. Nach bem Kampf jchlug ber 
Gieger rajh den Mantel um feine Glieder 
und trat jo, in einer Wolfe von Olgerud, 
mitten ins Bublitum, um fid) anjubeln zu 
lajjen. Dann ftrid er jid) mit bem geölten 





582 seess) 


Schabeiſen das ŠI ab (als Apoxgomenos), 
man reichte ibm bie jchmale Giegerbinde, 
und er band fie fih felbft um bie Schläfen 
feft (als Diadumenos). 

Hatte er bie Binde wirklich verdient? 
Man diskutierte wohl nod) hinterdrein, die 
Meinungen prallten aufeinander. Aber die 
Schiedsrichter erwiejen fich als untadelig, 
und |o folgte endlich nod) der ſchönſte Lohn: 
fein filberner Chrenpofal, auch filberne 
Ehrennadeln gab es nicht wie heute. Nur 
ein Zweig wurde vom alt-heiligen Ölbaum 
Olympias gejdnitten, den einſt Herafles ges 
pilanat, und ber zum Kranz gebogene Zweig 
von — dem Jüngling feierlich um 


das Haupt gelegt. Der Zweig aber mußte 
mit goldenem Meſſer geſchnitten ſein. Das 
war alles. 


Sant das Dunkel herein, da ging natür: 
lid) der Becher um; ber Südwein floß aus 
den Milchkrügen, ein wonniges Gelage. 
Die übliche Weile, das „Heil bir im Sieger- 
franz“, das „Tenelle kallinike” [Hol und 
Lieder nod) fonft in Fülle; denn „der Gieg 
begehrt Gejang". Ein Schwärmen und Vers 
brüdern im linden Hauch ber Commernadt, 
indes des Mondes heller Blid mit Hold: 
fergen Schimmer das weite Tal umfing. 

ar bas alles? Freilich, es gab im 
Hippodrom aud noch Pferdejport, das Wett: 
fahren ber Quadrigen mit bem Viererzug, 
und gewiß, das war eig ntlid) die Krone 
des Ganzen. Ein Sueno, gelegentlich gar 
40 Wagen am Gtart. Die diden Staub: 
wolten flogen. Nur der Gieger, der vorne 
war, [djludte den Staub niht. Die Tiere 
buntfarbig aufgezäumt, bie Mábne ftets nad) 
lints gefammt, weil fie andernfalls nicht 
tenien. Auh Mtaultiere liefen. Aber aud) 

ettiport gab's, Wettreiten, leider nur in 
gejchloffener Bahn. In den Giegesliedern 
wird uns ein zweijähriger Sudshengit aus 
den Gtállen des Königs von Syrafus ge: 
priejen; das Tier hieß Ton von vornherein 
Pherenikos, „der Steger”, und es hat feinem 
Namen Ehre gemadjt. Aber nur Fürften 
wie bie Kleinkönige Giziliens und fonftige 
Männer des Groffapitals fonnten fih einen 
Nennftall halten. Die Fürften fuhren und 
ritten auch natürlich nicht Jelbjt. Die braven 
Bürgersjöhne, die Ringer und Turner mit 
ihrem Familienanhbang, das Gtadtbiirger: 
tum war es allein, bas ber feier Den 
Stempel gab. ` ` 

Kamen aber die Bürgersjöhne nad) Haufe, 
da ging erft recht das Feiern los, wenigjtens 
für bie, deren Eltern Jolche Feſtfeier bezab: 
len fonnten. Chöre wurden —“ um 
„ſchwebenden Schrittes“ im Reigen zu 
eiern, und die großen griechiſchen Dichter, 
die ſich Sch Muſizieren verftanden, lieferten 
dazu die Gejánge, immer neue. Die Volts: 
majje bleibt immer im Trivialen hängen, 
der Dichter aber reißt die Stimmung zur 
Andacht, zum Erbabenen empor. 
wer mit Dem Rennpferd fiegt; Gott gab ihm 
den Reichtum, jid) ein Gejtiit zu Halten!“ 


„Selig, 


Prof. Dr. Theodor Birt: BS23223223222332333232323 


Golde Geligpreijungen gibt es heute nicht 
mehr. Nennen wir es Cportpoejte. Durch 
dë Fahre bat fie gedauert; Simonides, 
indar, Balchylides ihre en 
Sie waren Konkurrenten, reilten von Stadt 
gu Stadt hin und her und brachten ihre Lie: 
der. Waren fie perjónlid) verhindert, [djid- 
ten [ie den Text. Neichliche Belohnung war 
jelbjtverjtändlich. 
alten wir uns an Pindar; Denn bes 
Batdhylides erhaltene Lieder find neben 
Sé wie Holgmufif neben einem Konzert: 
üigel. 

Heute wird höchſtens von der Muſik— 
fapelle ein Tuſch für den Sieger geblajen, 
oder in ber Sportzeitung Debt eine ehrende 
Erwähnung. Pindar dagegen madt Die 
Gabe zum ftädtilchen Felt, und die Helden 
aus ber alten Gagengett werden berbeige: 
holt, um die Stadt zu feiern; denn die Groh- 
taten der Väter find „wie bie Sterne am 
Nadthimmel, bie über uns leuchten“; „Der 
Ruhm der Vorzeit ift eingejchlafen auf feis 
nem Lager, aber wir wollen ihn aufweden“. 
Daneben verjdwindet der junge Menje, 
der jebt eben gefiegt bat, faft ganz, und ge: 
naue Sportberichte juht man umſonſt in diejen 
Liedern. Wir hören vom Sjeratles und wie 
es fam, daß er die olympijden Spiele ge: 
gründet bat. Die Injel Rhodus wird er: 
wähnt, die dem Sonnengott Helios heilig 
ijt; wir hören, daß einft Zeus die Länder 
unter die Götter verteilte, nur den pe 
hatte er vergeffen; was tun? Er ließ aus 
dem Meeresgrund bie ſchöne Injel Rhodus 
auffteiqen und gab fie ihm. Held Jafon 
wird eingeführt und die weisjagende Medea; 
wir hören, wie wader einjt fih Jafon be: 
nahm, ber junge Sradjentóter, deffen langes 
Haar nie eine Schere gemábt hatte, fo daß 
ibm ber reiche Blanz ber Moden tief ben 
ganzen Rüden binabiloB uff. 

Das nimmt fid) alfo wie regelredhte Bals 
laden aus; [te fehlen als Einlage fait nie. 
Dabei berridt fajt überall ein enthufiaftiich 
Lar oft eg Ton; die Erzählungen aber 
inb oft bod) nur abgerijfen, prächtig folo: 
riert, aber das meilte nur andeutend; fie 
find wie Spiegelungen im zitternden Majjer, 
bie ba reizend aufleudten, um plóblid) zu 
verflieBen. Der Dichter ftreicht béi bann 
jelbjt die Stirn: „Mein Lied hat fid) ver» 
irrt; ein MinditoB bradjte mein Boot aus 
bem Fahrwaſſer.“ Aber aud) ernfte Worte 
der Ermahnung findet er oft: „Steil find 
ber Bollendung Pfade.“ „Nimm Dich in 
Zudt; bie Begabung genügt nicht; du mußt 
lernen.“ „Suhe zu jedem Tun das Ptah 
in bir felber.“ „Wünſche bir hienteden fein 
ewiges Leben” und das berühmte „werde, 
was du bijft!“ 

Im übrigen eine ſchwärmende, geradezu 
genußfüchtige Fröhlichkeit; alles flimmert in 
golbiger Stimmung. „Ich liebe die Fille bes 

eichtums, nidt um ibn zu begoen, fonbern 
um Gaben zu |penben, um zu genießen und 
gelobt zu fein.” ,LebensgenuB ilt bas erite, 


ee 


SES Delphi unb Olympia PERRA 583 


der Ruhm das zweite.“ „Was ift [Hóner, 
als Jorgenfret zu fein nad) dem Gelingen ?^ 
Go fredengt der Poet dem jungen Gieger 
jein Preislied wie den 3utrunt tóftlimen 
Meines, den jemand einem Bräutigam zu: 
trinkt, ber bas jelige Glück der Ltebe ges 


nden. 

Hoffentlich bat dem Sieger der poetijche 
Zutrunt aud) gemundet; hoffentlich bat er 
dasBedicht überhaupt verftanden ! Denn junge 
17 jährige Sportleute find meiftens feine Ge; 
lehrte, und Pindars Saben find gewaltig 
jhwer. Reine beut[dje Fiberjegung tann fie 
aud) nur annähernd wiedergeben; das liegt 
am freien Versmaß, es liegt an der Ha 
der Gedantenfiibrung, ber felbft unjere mo: 
dernite Lyrik mit ihren ſprachloſen Bedanten: 
ftrtden nicht nabefommt; es liegt an ber 
oft unglaublichen Verwegenheit des Sprad- 
ausdrudes, ber Mijbhung der Tropen. In 
deutfcher Wiedergabe wird der Vers ftodig, 
die Sprade nahezu irr. Nur ber Grágilt 
der ibm fein volles Studium widmet, wird 
um Bewunderer des Pindar. Sagt bod) ber 

ichter ſelbſt: „Solh Dichten ijt mühjam 
wie eine Bergbejteigung.” 

Bredhen wir aljo ab und ermüden uns 
nicht weiter. Gewiß war es viel Großes 
und Sjerrlidjes, was Olympia gab: Gteige- 
rung der Kultur, Bereicherung des Qeiltes: 
lebens, Grtüd)tigung ber — in körper⸗ 
licher Schulung und ihre Verklärung in 
lyriſchem Hochgeſang, ber bis heute beiſpiel— 
los geblieben iſt. Aber Griechenland? Wel— 
Gewinn hatte davon das politiſche 

riechenland, ber große Gedanke des Al: 
griehentums? 

Bei uns in Deutjchland waren es, ehe 
uns ein Bismard erftand, die waderen 
Schützen⸗ und — — unſere Turn: 
vereine, auch die Schillergedenktage, wo ſich 
von überall, von Rhein und Oder, von 
Schwaben und Oſtpreußen die Männer tra: 
fen und, fo verjdieden fie waren, fich 
trenhergig anbiederten und ſehnſüchtig 
als Deutſche fühlen lernten mit Der ewi- 
gen Frage: „Was ijt bes Deutichen Water: 
land?” Ram nidt aud in Olympia bie: 
felbe Gebnjudt zu Worte und nábrte ben 
groß⸗griechiſchen Gedanten ? 


Cs ift auffallend genug: bei Pindar fin: 
den wir nichts von jolden Fragen: „Was 
ift des Griechen Vaterland?" Noch aud) gar 
die Antwort: „Das ganze Hellas foll es 
fein.“ Vielmehr wurde burd) feine ftolzen 
Preisgedichte überall nur ber bornierte 
Lofalpatriotismus genábrt, Der Dichter 
war Zbebaner; [hon das bejagt genug. 
Als ber athenijdhe Staat fih bie Injel 
Agina angliedern will, macht er Gtim: 
mung gegen bielen Gewaltatt. In ihm 
berrichte nur die Liebe zum Einzelnen, nicht 
zum Ganzen. 

Und nicht anders ftand es mit dem Sport: 
melen felbft. Das um Sparta gruppierte 
doriihe Bolfselement bildete in Olympia 
die erdrüdende Mehrheit. Das zeigen allein 
ion die Giegerliften. Athen juchte fid) dort 
zur Geltung zu bringen, war aber immer 
viel zu ſchwach vertreten. Als bas athenilche 
Bürgerheer einmal irgendwo in einem Lofal: 
triege eine Glodt verloren beet durfte 
der Gieger in Olympia ein Stegesdenfmal 
errichten. Das war nicht ermutigend. Aber 
Athen ai fid. Überraſchend jchnell bil: 
bete jest Athen felbft einen neuen Mittel: 
punft für das Feſte — Griechen⸗ 
land, und Olympias Bedeutung erblaßte 
raſch; die grandios aufgeputzte Turner: 
lyrik wurde unmodern und ging ein, und 
in Athen erhob ſich die griechiſche Tra— 
gödie: Alchylus gegen Pindar. Der Sieg 
war entſchieden. 

Mochten die Boxer in Olympia am ſchö— 
nen Alpheios weiter boxen, mochten auch 
reiche SR e Herren dort nod) ab und 
an ihr Biergejpann laufen laffen: was da 
gelben, hatte für das Bejamtgefühl teine 

edeutung mehr, und die Namen der Sieger 
verflangen. Das Niveau fant; es blieb nur 
nod ein Sabrmarftstreiben mit Berufs» 
atbleten, bis es gar auf ber altbeiligen 
Stätte zu wülten Balgereien, zum Zieler: 
ftehen, zum Kampf um bie Tempel jelber 
fam. Is Alexander der Große feinen 
Fuß dorthin jebte und jid) Iádjelnb um: 
ihaute, mar die Sade pego ands end: 
ültig verloren; er war ber Mann, bejjen 
Bhantafie und Wille über Babylon bis 
zum Indus reichte. 





Biergeipanne ber olympiſchen Rennen auf einem attijchen Gefäß bes 5. Jahrh. v. Cbr. 
(Münden, Bajenfammlung in der Alten Pinalothet) 







(arg N adjbem Kärnten bird) Bolfsabjtim: 
N Ka ) mung dem Deutihtum erhalten 
N Gei blieb, bilden bie Rarawanfen ends 
DE l gültig den äußerften Schugwall ber 
— deutſchen Südmark: eine nur an 
zwei Stelen zu überſchreitende Gletſcher— 
mauer gegen das Slawentum im Süden. 
Bei der Vermiſchung deutſchen Blutes mit 
ſlawiſchem und romaniſchem feit grauen Bors 
eiten hat unſer Volksſtamm auch in Kärnten 
* berlegenheit bewieſen. Die Slawen 
lernten unter deutſcher Führung Ackerbau 
und Handwerk. Nichts jedoch haben die 
Slawen den Deutſchen in Kärnten zu geben 
vermocht, weder im Ce e Leben, 
nod in Kultur und Runft. Wenn aud) in 






einzelnen Gegenden die |[o:eni[dje Umgangs: 
ſprache bas Tibergewicht erhielt, in feiner 
Geele fühlt fogar ber Windijde d. d Der 
Kärtner flowenijber Herkunft deutj 


und 


E Romaniſche Fresten im 9tonnendjor des Doms zu Gur! 











Romaniſche Wnklange in Kärnten 
Bon Curt Bauer 


> 


fein Volkslied fingt er in deutjcher Sprade. 
Anders verhält es jid) mit den Romanen, 
deren Rultur und Runft ihre Spuren in 
Kärnten bei weitem ftárter hinterlafjen haben 
als in andern deutjchen Landen. 

Kärnten bildete ehemals einen Teil der 
rómijden Provinz Binnen-Noricum. Das 
mals lag in der heutigen Ebene des Zoll» 
feldes nördlich von Klagenfurt bie römilche 
Hauptitadt Virunum. Große BertebrsftraBen 
führten hinab nad) Aquileja und hinauf nad) 
dem Norden. Ihr Handel blübte, unb von 
ihrer Kultur zeugen Tiberrefte, deren Steine 
heute über ganz Kärnten verbreitet find. 
Ein wahres Pruntitüd befigt das Klagen» 
furter Mufeum an einem berrliden, wohl: 
erhaltenen Mojaiffupboden aus Birunum. 
Nod) in der Legende diejes jo überaus jagen: 
reihen Landes lebt der Gedanke an jene 
Tage, ba bie deutjhen Einwanderer dort 
um erftenmal mit den 

mern in Berührung 
lamen, in grotester 
Mehmut fort. Gie ers 
zählt von einem Knap» 
pen, der abends am 
Santenberg, in bem fid) 
jebt ein ausgelaffenes 
Duedlilberbergwerf be: 
ée am A 
id) gewahrte er einen 
Greis in fremdartigem, 
altigem Gewande, der 
ibm wintte, daß er ihm 
folge. Gie gelangten 
durd den dunklen Bergs 
eingang in einen tagbell 
erleuchteten Saal. Sort 
jaBen viele ebenjo alter: 
tümlich gefleidete Män: 
ner um einen Tiſch. Cie 
redeten eine fremde 
Sprade, in der das 
Ohr des Jiinglings die 
Gebetiprade ber Pries 
fter wicderzuertennen 
meinte. Cic füllten ihm 
die Tajchen mit Gold- 
jttiden unb boten ihm 
Eur einen Becher feurigen 
E, + Weines, ben er mit kräf⸗ 


KM tigem ,Vivat” an ben 
AR, und führte. Da tönte 
D ein taujendfaches , Vis 
: vat” bird) ben Berg. 
Ki Das lateiniihe Mort 
ui wë hatte bie Geifter aller 


^ ^| Römer bejchworen. 
Immer größer wurde 
die Zahl derer, bie ihn 
bejdenften, und der 





Ppeses=s=s=== Gurt Bauer: 


Süngline febrte reich in 
jeine Heimat zurüd. Auch 
aus fpáteren Zeiten weiß 
die Sage zu berichten, wie 
die Italiener mit bem Zeus 
fel im Bunde beriber: 
lamen, um (Erzadern zu 
juchen. Sogar von dem 
italienijden Weinwirt er: 
zählt die Sage, der bereits 
Damals den Wein nad) bent 
in Stalien heute mehr als 
je üblichen Rezept: „A 
halbe 3Bajjer und a halbe 
Mein wird wohl aud) a 
Maß jein^ verfälichte. 
Wie reid) waren dod 
bie alten Römer jogar in 
dem entfernten Kärnten 
an foftbarem Baumaterial 
und an Ideen! Noch heute 
ſchmücken jid) damit Die 
modernen Denen Sehr 
fejjelnde eliefs aus 
Virunum wurden aud in 
die Fajjade des Domes von 
Maria Saal eingebaut, fajt 
modern mutet ber Rea- 
. fismus diejer Figuren auf 
dem mittelalterlichen Ge: 
mäuer an. Freilich benubt 
derartige Berquidungen 
, gelegentlid) aud) ein Ko: 
bold, um Damit jeinen 
Scherz zu treiben. So wenn 
ein biederer Cade ein 
paar auf jeinem Grunde 


aufgefundene Römer: 
biijten für jeine Vorfahren 
ausgibt. Über ber Tir E 


eines Wirtshaujes in ©. 

Beit Debt man bas Grabrelief eines römijchen 
Ebepaares und darunter bie Injhrift: „Diele 
beiden famen aus Friejen und Sachjenland, 
fie fanden bier Gold, Gilber und Erz.“ 
Wnderjeits aber ijt auch bas altehrwiirdig}te 
Gejdhidtsdenfmal Kärntens aus Marmor: 
Heinen Birunums zujammengejegt: nämlich 
der Herzogenftein auf dem Zollfeld. Ein 
einfacher Doppeliteinfig, auf dem die deut- 
iden Herzöge ihre Leben verteilten. Denn 
ion frühzeitig riefen bie Clawen die bay- 
rijden Herzöge zum Schuß gegen Die it: 
fallenden Awarenhorden herbei, und jeit 828 
haben nur Herzöge deutjchen Geblütes auf 
Diejem Stuble Pla genommen. Ihre eigente 
liche Einführung gejdab auf bem Fiirjten- 
Hein, deffen Sik bas untere Ende der 3Bajis 
einer antiten Marmorjäule bildete. Hier 
aB an jenem Tage ein Vertreter der Bauern- 
haft als Bauernherzog, eine Würde, Die 
in bem erit im Jahre 1823 ausgejtorbenen 
Gejchlecht der Edlinger zu Blajendorf erblid) 
war, Yor dem Bauernherzog erjdien nun 
der ebenfalls in Bauerntradt gefleidete Her: 
sog mit einem Gtabe in der Hand, zur 
Seite führte er je ein jchediges, mageres 





Romaniſche Antlánge in Kärnten 585 


Hof des Landhaufes in Klagenfurt bs 


Feldtier, ein Rind und ein Pferd. Ihm 
folgte eine Anzahl Landherren und Würden- 
träger. Der Banernberzog richtete an den 
Herzog drei E „Wer ift ber, ber hof: 
färtig (vornehm) baberpranget ?^ 

„Sit er auch ein gerechter Rihter, ein 
Freund des Heiles unjeres Baterlandes, 
freien Standes und driftliden Glaubens?“ 

„Wie und mit welcher Gerechtigkeit wird 
er mid) von Ddiejem Gtuble wegbringen ?“ 

Die erften beiden Fragen beantwortete 
das Volt, bie lebte ber Fürft. Darauf er 
hob fid) ber Bauernherzog, gab bem Fiirften 
einen leichten Badenftreid und ermabnte 
ihn, ein guter Richter zu fein. Indem jebt 
der Herzog den Stuhl einnahm, \hwang er 
fein Schwert nad) allen Richtungen. Mad) 
der Herzogsweihe in Marta Saal und dem 
feierlichen SntbronijattonsmabI begab fid) 
der Fürſt zur Lehensverteilung auf den 
Herzogenftuhl. Während der Fiirftenftein, auf 
dem als lester Herzog im Jahre 1414 Ernit 
der Eijerne jag, neuerdings nad) bem Klagen: 
furter Muſeum überführt wurde, jteht der 
Herzogenitein nod) an alter Stelle inmitten 
eines feierlichen, Dien Gaines. Seine Jn: 


586 Curt Bauer: Ve 343838353] 





Mejte bes Schloffes Lavant in Friefad E 


Schriften, die Mommjen im Jahre 1857 als 
aus bejter römischer Zeit ftammend erklärte, 
wurden von den Slawen verunechtet, um 
als jlowenijd) zu gelten und den jlowenijchen 
Urjprung der Zeremonie glaubhaft zu maden. 
Hauptjächlich waren es die |[ovenijd)en Jour: 
naliften, die während des Abftimmungs: 
fampfes durch allerhand Geſchichtsfälſchungen 
Dartun wollten, daß der ehemalige 
deutjche Herzog von ben Slowenen durd) 
eine jlowentjche TFeierlichkeit eingejebt 
wurde und daher aud) von ihnen wieder 
abzujegen fei. Wiljenichaftliche For: 
Lungen. an erfier Gtelle bie Des 
Klagenfurter Profeffors Grabar, ftellten 
indeifen vie Herleitung der Feierlichkeit 
aus reinbeutid)em Nechtsempfinden eine 
wandfrei felt. Durch fie vollzog der 
Fiirft die Übernahme der Herrichaft 
fraft der Belehnung feitens bes deutjchen 
Ratlers. 

Sein älteites Heiligtum befigt Kärnten 
in der auf einem Hügel nahe bem Her: 
aogenjteim gelegenen Burgkirche Maria 
Gaal. Anihrem Standort verjammelten 
fid) einft bte Kelten im heiligen Hain, 
dann bie Römer zur Verehrung ihrer 
Götter, und jpäter jtand dort der Opfer: 
tijd) der Slawen. Früh jhon Jebte von 
Aquileja her bie Chriftianijierung Kärn— 
tens ein. Davon zeugt ein im Klagen: 
Ve Mujeum aufbewahrtes römtjches 
Relief des guten Hirten, bas ber Ka: 
tafombenzeit entjtammt. Karl der Große 
ıandte feinen Unterfeldherrn Ingo nad) 
Kärnten, der einer Sage nad) den heid: 
nijden Adel auf einem Gajtmahl zum 
Ghriftentum befehrte. Damals wurde 
ber Glanz ber WMutterfiche Maria 


Caal begründet. 
Der romanijdhe Ban 
jedoch ift von Tir- 
fenfriegen und 
Feuersbrünſten aer: 
itórt worden, jo 
daß der mächtige 
Mariendom fih 
— im weſent⸗ 
iden als eine Dr: 
beit des 15. Jahr: 
hunderts Ddarjtellt, 
Aus bem 8. Jahr- 
hundert ftammtnod 
der Modejtusitein, 
oa og ` Sieg 
acher a a 
mit den Gebeinen 
bes Bilhofs Vio: 
deitus, ber in Der 
frommen  Erinne: 
fort bt. Gs. geht 
ortlebt. Es g 
ie Cage, daß 
der Diode > 
immer mehr dem 
Kreuzaltar nähere, 
Wenn erihnerreicht, 
dann fei ber Jiingfte Tag getommen. Ro- 
manijchen Stils ilf vor allem jenes eigen- 
artige, —— — genannte Oftogon, 
das der Marienkirche gegenüberliegt und 
urjpriinglid) eine romaniſche Tau ; 
bildete.  Swildem beiden erhebt jid) eine 
eigenartige gotiiche Lichtſäule. Große Wall- 
fahrten, bie aus allen Gegenden hierher ge- 

















ESSSSSssssse] Romanijde Antlánge in Kärnten Tess? 587 


ELI DES deel 
A 
Ca 





‚Stadtmauer mit Groben in Friefad E 


pilgert fommen, um fid) in langem Zuge 
über ben Magdalensberg und ben Ulrihs- 
berg ¿usbewegen, bezeugen, Dak Maria Saal 
im Laufe ber Jabrtaufende nicht feine Be: 
— einbüßte, wennſchon der Schwer— 
punkt des kirchlichen Lebens ſpäter nach 
Gurk verlegt wurde. 

Das geſchah ſo: Die Erzbiſchöfe von Salz— 
burg, deren Diözeſe ſich bis zur Drau er— 
ſtreckte, konnten infolge der Unwegſamkeit 
der Päſſe über die vare Tauern und 
Stangalpen das heutige Kärnten zur Aus: 
übung ihrer bijchöflichen Pflichten nur felten 
bereijen. Gie hatten daher die Weih- oder 


Chorbiſchöfe von Maria Gaal zeitweile zu 
ihren ?Bertretern eingejebt. Später wurde 
für dieje Würde das Bistum Gurt, in dem 
die Bilchöfe von Salzburg große Beligungen 
hatten, auserfehen. Dort entjtand im Wett: 
eifer mit bem mächtigen Dom zu Salzburg 
ber Gurfer Dom, in dem wir bas bebeutenb|te 
romanijde Baudentmal aller ölterreichiichen 
Alpenländer befiken. Das herrliche Var: 
morportal mit Säulengliederung gehört zu 
den ſchönſten romanijchen eg über: 
haupt. Geweiht wurde der Dom der jagen- 
umjponnenen Gräfin Hemma, der Gemahlin 
des Grafen Wilhelm, die all ihre reichen 


588 Tse eeh Curt Bauer: 





Ruine Solnsberg bei Frielad 
Oben lints ein gefuppeltes romanijdes Fenfter 


8 


Güter zu Stiftszwecken vermacht und 
dort bie Marientirhe erbaut hatte. 
Auf biejen Bau wurde zunächſt von 
Bilhof Roman die ganz gewaltige 
hundertjäulige Krypta errichtet. 
Dreißig Jahre baute man daran, 
jo bap im Sabre 1174 ber Seid) 
nam Der heiligen Hemma dorthin 
überführt werden fonnte. Das große 
Anfeben, das diefe Heilige bis zum 
— Tage genießt, macht die 

rypta zum Biele gabllojer Wall: 
fahrer. Namentlich wird Hemma als 
Scyußpatronin werdender Wriitter ver- 
ehrt. Ein antifer Stein neben ihren: 
Grabe, auf den fid) die Schwangeren 
zur Erflehung einer glüdlichen Geburt 
nieberlajjen, ijt nicht weniger abge: 
nugt als der Fuß der Bronzgeftatue 
St. Petri in der Petersfirde zu Rom. 
Geradezu halsbrecheriſch mutet eine 
Gitte an, die nod) vor furger Zeit 
bejtand. Sm der diden Innenwand 
neben ber Krypta befand jid) etwa 
in Bruftbóbe ein Lod, durch das 
fid) bie abergläubijchen jdwangeren 
' Frauen zu zwängen pflegten in der 
merfwiirdigen Meinung, durch Dies 
Meijterftüd der Turntunft bie Geburt 
zu erleichtern. Schließlid) jedoch blieb 
eine darin [teden und mußte erjt vom 
Maurer befreit werden. Da wurde 
dann das Lod endlich gugemauert. 
fiber der Krypta wurde der Dom 





sel 


6n anas bes 13. Jahrhunderts 
vollendet. Dn ber ſchönge— 
gliederten Halle feiner Welt: 
empore, fálimlih Nonnen= 
dor genannt, jehen wir die 
hervorragendjten Wandmale: 
reien, bie uns aus der roma: 
met Zeit erhalten ge— 
blieben find. Gie bilden das 
bedeutendjte Werk mittelalter: 
lich)-romanijder Wandmalerei 
in den jüddeutichen Ländern 
überhaupt. Ihre Gnt[tebung 
fällt in das dritte Viertel des 
13. Jahrhunderts. Bom Dar: 
morportal des Domes aus 
erblidt man ben feierlichen 
Innenraummitdembarodalen 
Hochaltar bes Gurter Bild: 
bauers Hoenell, der trog feiner 
Fülle vergoldeter Figuren eine 
jo reine, ruhige Gliederung 
eigt, dab wir ihn als ein 

teilterwerf eines unter ber 
Nachwirkung der italienijd)en 
Renaijjance jtehenden Barod- 
fünftlers aus dem Jahre 1632 
an|predjen miijjen. Jn feiner 
Gejamtbeit ijt der Gurfer 
Dom wenn aud) das [hónjite, 
jo bod) nicht bas einzige Ober: 
tragende Bauwerk aga ie 
Gtiles in Kärnten. Würdig 


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Chorftubl von 1464 in ber Stadtpfarrtirde zu Villad 








SSeS Romanijde Antlánge in Kärnten 


ihm zur Seite ftehen die Kirche zu Millftatt 
unb die zu St. Paul, deren Portal in feiner 
Gliederung manhe Ähnlichkeit mit bem des 
Gurter Domes aufweift. Schon im Jahre 1123 
verlieh Biſchof Hildobald dem Bistum (Gurt 
die Regel des heiligen Augultin. Damals 
entitand in Gurt die áltefte beutjdje Dichtung 
in ben öjterreichiichen Alpenlándern, Die 
Genefis, die uns in einem Wiener Kodex 
jowie in einem Sammelband altdeutjcher 
Gedidte aus Millftatt im Archive bes Ge: 
Ihichtsvereins für Kärnten in Klagenfurt 
aufbewahrt wird. 

Großartige Baudentmáler der romanijchen 
Seit find uns ferner im Profanbau Rárntens 
erhalten geblieben. Bon ftolzen Höhen winten 
zahlreiche Schlöjjer und Burgen. Die Aus: 
läufer der Tauern mit ihren Wäldern und 
freijtehenden “Bergesipigen geben Ddiejen 
Bauten einen malerijdhen Hintergrund, 
während die meilten Täler ihnen herrliche 
Ausblide eröffnen. Kaum gibt es einen 
ftoljeren Anbli als die Burg Hoch-Oſter— 
wis im Gurftal. Auf einem jteil aus bem Tal 
lich erhebenden Feljen baut fie fih ftoctwert: 
artig empor. Schon aus weiter Entfer: 
nung fällt fie bem Nabenden ins Auge, bald 
hinter einem Städtchen auftauchend, bald in 
einjamer Höhe ragenb. Im Abendjchein Debt 
jie fih gleich einer Lufipiegelung, wie aus 
tübnem NRittertum geboren, von bem leud- 


Klofterhof in Viftring 





I ZZ Zi RR 589 





tenden Himmel ab. Go fteil ift der öftliche 
Jeljenabfturz des 3Bergfegels, daß der Volts: 
laube ihn mit einer Sage umiponn: eine 
ine Bofe jtürzte fih, ben Lüften des Burg: 
errm vie ME in bie grauje Tiefe hinab, 
am jedoch durch ein Wunder unbejchädigt 
zu Boden. Der Ritter aber zog reuepoll zur 
Sühne feiner Schuld ins heilige Land. Die 
Stelle des Berges heißt bis heutigen Tages 
ber ,Jungfernjprung”. Den groBartigiten 
Eindrud erweden indeffen die Ruinen der 
befeftigten Schlöffer Frieſach, bie auf Drei 
nebeneinanderliegenden Bergipigen, dem 
Geyersberg, Virgilienberg und Petersberg 
thronten. 


£ieblid) Tal mit deinen Matten, 
Die der —* Kranz umſchließt, 
Sonnig und doch auch voll Schatten, 
Lieblich Tal ſei mir gegrüßt. 


Aber ſind das deine Räume 

enter mit von Heiterkeit? 
übren mich nicht bunte Träume 

Fort in längjt verjhwundne Zeit? 


Mill es bod) mich fait entriiden 

Sn des Mittelalters Schoß, 

Kronen dod bie Bergesipigen 
Ringsum Mtauern, Turm und Schloß. 


Spähet hinter feften Mauern 
Wohl der wilde Rittergetit, 

Der auf Beute jcheint zu lauern, 
Mie das Raubtier hungrig treift? 


Roderich Anihüß 


590 


Das heu: Je — — 
tige Frieſach age . 
wurde am: 
fangs bes 12, 
Jahr: 
Dunberts ge: 
gründet. Erz: 








ee EN Curt Bauer: MRR RRR HI Vi 2:24 RRA 


= EN 


= — — ſonders der 

D — Donjon 

: y (Bergfried) 
auf dem Pe: 


tersberg, der 
jowobl in be- 
zug auf feine 


bijbof Son: Gliederung 
rad jchufjenes wie auf feine 
Syitem groß: innere Aus: 
artiger Stadt: malung 
befejtigungen eines der 
vom Birgi- merfwürdig: 
lienberge bis [ten Baudent: 
gum Geyers— mäler feiner 
berge. | Sm Art aus dem 
13. Jabrbun: 12. Jabrbun- 
dert war Frie— dert bildet. 
ſach ber Zank— Wud zahl: 
apfel zwiſchen reide Schlöſ— 
bem Vial: fer, die Den 
tejer- und dem Übergan 
Deutjchen sum Wohn: 
Ritterorden. baus bilden, 
Die Bedeu- find uns in 
tung der Kärnten aus 
Stadt gebt ber romas= 
aud daraus nijden Zeit 
hervor, dak erhalten ae 
König Ron: blieben. D 
rab III. und Schloß Laz 
Raijer Fried- vant, fowie 
rid) Barba: vor allem Die 
rojja in ihren E Gübportal ber Stiftstirdhe in St. Paul El Rejte Der Her- 
Viauern weil- ¿ogenburg zu 
ten. Sm Jahre 1224 támpjte Ulvid) von Gt. Veit, hinter deren vornehmer Bogen: 
Liedtenftein, als König Mai gekleidet, galerie heute Kleinbürger wohnen. 


im Turnier zu Friejad zu Ehren jeiner 
Herrin. Troßig und biüjter jchauen heute 
die Burgruinen ins Tal hinab, ganz be: 


Neben den romanijden Bauten Rärn= 
tens find die gotilchen von untergeordneter 
Bedeutung. Wohl fehlt es nicht an weihes 





Hauptplag mit Brunnen in St. Veit E 








& fenbeit. Aud 


Romanijdhe Antlánge in Kärnten 591 


voll wirfenden gotijden 
Kirchen in Villad, Klagen: 
furt u. a., aber ihr Stil er: 
reicht nicht die Schönheit, 
wie wir ihn Ddiesfeits der 
Alpen bewundern. Nur 
vereinzelt finden fich wirklich 
Ihöne gotiiche Ctüde wie 
ber Chorjtuhl von 1464 in 
ber Stadtpfarrfirche zu Vil: 
lad. Rein bridt dann 
wieder ber Sftenaijjanceitil 
inburd) wie 3. B. in bem 
liigelaltar bes nördlichen 
Seitenjchiffes im  GQurter 
Dom 


Bis in bie neuejte Zeit 
hinein herrſcht in Kärnten 
die ruhige romanifche Linie 
vor, jo daß bie Kärntner 
Ctübtebilber in ihrer Ge: 
jamtheit überaus harmo- 
nijd) wirfen. Mer beijpiels: 
weile Villabh mit feinen 
großen Gtraßenzügen, den 
Ne geradlinigen Häus 
ferfafjaden betritt, glaubt 
fih leicht in eine italienijche 
Stadt verjegt, Da folie- 
en fid) bie alten romani: 
ierenden Sáujerblóde mit 
ihren jchweren Bogenſtützen 
den neuen bharmonijd an. 
Nichts von dem Wirrwarr, 
der Enge und arditettoni: 
iden Tiberladenbeit gotiſcher 
Ctabtbilber. Bis in Die 
fleinen  Ctábte zieht jid) 
biele einheitlihe Geſchloſ— 
dort um: 
geben wie 3.8. in St. Beit 
große, ruhige Häujerflächen 
ie vieredigen Pläße. Ne— 
ben ber Nachwirkung ber 
alten Überlieferungen wird 
ierbet aud) der Einfluß 
taliens entweder unmit: 
telbar ober auf dem Um: 
wege Durch Salzburg maf: 
gebenb gewejen fein. Bezeich— 
nend tt bie Bermijdung 
ber  fladen romanilchen 
Hausfajjade mit bem hohen 
otijden Tah und ben breiten Sdorn- 
feinen, wie wir es u. a. im Alofterhofe 
von Wiltring leben. Cine woblige Ge: 
borgenheit geht von diejer Architektur aus, 
die fid) bis in das Bauernhaus hinein er: 
Itredt, Dellen große, bebaglidje Ráumlid: 
teiten man vergeblid) in Deutjchland Iden 


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würde. Daneben fommt eine zweite Bauern - 


hausart, vorwiegend aus Holz, zur Geltung. 
Gie wird gefennzeichnet durch eine lange 
Galerie unter überhängendem Dachgiebel. 

Als ein Übergangsland zum Eüden er: 
(eint Kärnten bejonbers in Iandichaftlicher 
unb flimatijder Hinficht, da es einerfeits 


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X Lichtſäule tm Friedhof von Maria Saal & 


ion jenjeits der nördlichen Waſſerſcheide 
liegt, während anberjeits bie Rarawanten 
und Karnilchen Alpen das Land gegen bie 
heftigen Entladungen der adriatijchen Zone 
ſchüten. Die Wiljenichaft hat daher Kärnten 
als „Wetterinjel“ bezeichnet. Milde Luft 
vereint mit großartigen Naturjchönheiten 
machten es zum Ziel zabllofer Sommer: 
reijenden. Neben den jchroffen Gleticherhöhen 
der Hohen Tauern mit dem Grof-Glodner 
im Norden jowie den Rarnijen Alpen und 
Rarawanfen im Süden lächeln weite Täler, 
durchzogen von reißenden Flüſſen, bie Ai 
wafjerreihen Drau hinabjtürzen. Die mitt: 


592 Curt Bauer: 9tomani[dje 9Inflánge in Kärnten 


leren Gebirgszüge find mit alten Wald: 
beftanden hededt. Bejonderer Beliebtheit 
un fih die vielen Geen Rárntens. Da 
gibt es große MBajjerfláchen in milder Tief: 
ebene wie den Wörther See, fowie weltab: 
gejchiedene Bergjeen wie etwa den Oſſiacher— 
Jee mit feinem tiefblauen, von [teilen Bergen 
eingefaßten Majjerjpiegel. Wor allem be: 
ginnen bereits bie Raltfeljen ber Karawanten 
ſüdländiſchen Farbenzauber zu entfalten. 
Unter ihnen breitet fid) das Rojental aus, 
das die Drau in fanften Windungen durch: 
aieht. Der zarte Gilberijhimmer, den bte 
Gonnenftrablen über bie von Blumen über: 
játen Wiejen tragen jowie die großen mit 
rofig blühenden Buchweizen bededten Fel- 
der verleihen ber Landjdaft eine MWeichheit 
und Milde, bie uns in den Süden verjegen 
würde, redten nicht gleich Daneben Die 
tolzen, berben Rarawanfen ihre Delen, 
chneeigen Gletidher gen Himmel. 

Wer mit den Bewohnern Kärntens in 
nähere Berührung fommt, wird erftaunt fein 
über bie Sprachgewandtheit und den tlang- 
vollen JBortreid)tum bieles ftarten, jdjlant 
gewachlenen Menjchenjchlages. Gogar ber 
einfache Bauer mem feine Gedanken in wohl: 
geformten Cäßen auszudrüden. “Bereits 
— Mädchen überraſchen auf dem 

ande durch die Anmut ihrer Bewegungen 
und ihre liebenswürdige Unterhaltungs— 
gabe. Zweifellos dürfen wir auch hierin 
eine Miſchung zwiſchen deutſchem Gemüts— 
leben und italieniſcher Ausdruckskulter er— 
bliden, eine Miſchung, die ſich insbejondere 


in der Gangesfreudigfeit der Kärntner nicht 
vertennen läßt. Wie die Italiener jo fingen 
aud fie Luft und Leid im Liede aus. Es 
begleitet fie auf Meg und Steg. Oft Hort 
man Angehörige ber verjchiedenen fid) be: 
fehdenden Parteien zujammen Quintett fingen. 
Tas Lied, der Stolz der Kärntner, hebt alle 
Gegenjäße auf. Freilid ftammt das Kärntner 
Volkslied von den Bergen, wie jchon die 
Gage berichtet: Eine Bergfee hat es den 
Menjchen in den Tälern gebradt. Das ver: 
rät vor allem der fernige, urbeutid)e Inhalt 
bieler Lieder. Aber deranjprechende Melodien: 
reichtum, die Runjt des Vortrages deutet bod) 
nad dem Süden hin. Mie die italieniichen 
IBinzerinnnen ohne jede Schulung ihre Kehlen 
in harmoniſchem Dreitlang feblerlos ver: 
einen, fo finden jid) fünf Kärntner ohne weis 
tere Vorbereitung jogleid) im melobijdjen 
Quintett zufammen. Die deutjche Vertiefung 
hat bier eben bie ſüdländiſche Naturanlage 
vervolltommnen helfen. Der Bewohner der 
deutjchen Ciibmarf verftand es, die Kultur- 
vorzüge feiner jüdlichen Nachbarn in deutjche 
Snnerlidfeit umzujegen und daraus neue 
Werte zu jchaffen. Go ijt Kärnten trog aller 
Mifchungen ein beutjdjes Land. Der Reichs: 
deutjche ijt fih viel zu wenig bewußt, daß dort 
unten im Güden unjer Boltstum im Grenz: 
fampf und auf der Grengwadt Gil Der fla: 
viſche Ausbreitungswille läuft hier ebenjo 
Sturm gegen bas Deutjchtum wie in unjeren 
Dftmarten, und oft vermijjen die Kärntner ben 
jtarfendDen Widerhall ihrer deutichen Emp: 
findungen bei ihren Blutsbrüdern im Reid). 





Seite der alten Herzogsburg in St. Veit E 








Das alte Befch 


lech 


ovelle von Julius Ruprecht. Löwenfeld 





ES To ift bas Gefeg bes Herrn dem 
ve WK Monden gleich, der ba jcheinet, aber 
—J d die Finſternis bleibet dennoch, der da 
MON leuchtet, aber es gibet nicht Wärme. 
Durd bas Geſetz vermögft du nicht felig zu 
werden, fintemalen es dir bes Fleiſches und 
deiner Gelüjten Bosheit wohl aufbedet, da 
es ſpricht: ‚Du jot: — oder ‚Du follft nicht‘, 
und bu fannft bennod) nicht banad) tun. 
Du ſollſt keuſch fein, aber es brennet bir im 
Leibe; du follft dich mäßiglich halten, aber 
bu faufeft bid) voll; du jolljt dein Zungen 
dämpfen, aber Gatanas läßt dein Afters 
reden und Klatjchbajerei als eine bittere 
Schmußquellen fpringen. Du vermógit es 
nicht von bir, Chrift, bu vermögft es nicht, 
burd) eigen Ebrbarteit felig zu werden, 
jondern ftampfeft und ftoBeft bid) weiter 
hinein in dein Berdammnis als eine Mäbhre, 
jo in den Sumpf geraten. Aber größer denn 
ein Cherub jtebet bes Gejeges: ‚Du folljt' 
vor bir und ftrafet dein Tun vor dir felbften 
bis in Mart und Bein. Merfluchet, vers 
fluchet bijt du aljo, Menſche, und der feurige 
Pfuhl der Höllen voller Schrednis und 
Heulen wartet dein, gehet dir nicht der helle 
Morgenfterne auf, der all Finjternis |djeudjet. 
Gelobt feift du, o Chrifte!“ 

Während Ehrn Piftorius von der Rangel 
mit folder Rede bes Bejegesmenjchen Elend 
ichilderte, fap bie Gemeinde in fih verfunten 
und lautlos auf den harten Bánten. Nicht 
nur die zwei Mugen Augen über Talar und 
Halskrauſe vifitierten bei der Predigt mans 
niglid) in der gut überjehbaren Rapelle-und 
gingen dabei vom Taufjtein an der Pforte 
bis zum Altar und dann wiederum die 
Breite entlang, jondern von dorten, wo bie 
Hoharäfin- Witwe neben ihrem Gohne in 
bem umfenjterten Herrenjtuhle jak, wanderte 
ebenfalls ein graues, jcharfes Wugenpaar 
burd) bas Kirchenſchiff, und bieles zweite 
fürdjtete das Schloßgelinde um vieles mehr. 
Ehrn Pijtorius war bei aller Wachjamteit 
bod) immer ein rechter Bote bes Evangelii. 
Wenn er auch der affijdhen Trine Hoffer, 
die um ben Pförtnersjohn Aurelius Klops 
Jelbft im Gottestempel ihr liebáugelndes 
Getue fortjeßte, Durch eine barmberzige Ohr: 
feige nad) dem Gottesdienfte cin Lichtlein 
aufgeftedt hatte, fo war er bod) zumeift 
püterlid) gütig und mahnte nur unter vier 
Augen. Über eines verhugelten alten Weib- 
leins bejcheidenen Kirchenjchlummer hatte er 












s 








bas [idjelnbe Wort gejagt, dah der Herr es 
den Geinen wohl auch jchlafend gäbe. Anders 
SHodgráfin Sophie! Sie war wie bas Geje 
und ftrafte ohn’ Erbarmen, bald mit harter, 
trefflichrer Hand, bald mit Faften, Entziehung 
und häßlihen Gdjifanen. Der Reittnet 
Peter Schwenninger freilid) hatte fih eine 
neue Art zurechtgelegt, daß er in der Kirche 
ichlafen fonnte, ohne jenen grauen, ſcharfen 
Spähern aufzufallen, und er tat's nun gerade 
ihnen gum Troße, um nachher in der Gefindes 
[tube laut zu prahlen. — Über dort wartete 
das Verhangnis hinter der Türe, und während 
er bie Bewunderung der anderen einheimfte, 
fam es burd) bie Tür gefchlichen — eine 
weiße Haube — eine magere Hand — Matih, 
tatih, Hatfh, immer auf bie linte Bade. 
Wie dieje brannte, wurde jeder fofort gewahr. 

Go fab die Heine Gemeinde und laujchte. 
Eigentlich war es gar nicht febr jd)mer gus 
zuhören, weil Ehrn Piſtorius meiftens gar 
lebendig predigte und auch feine Wieder: 
holungen den vielen Gedanfenlojen nur zum 
Gegen fein fonnten. Cin fröhliches Sonnen: 
ftrählchen tanate ihm heute über den Schädel, 
auf dem mod) einige ftandhafte Silberloden 
ausharrten, ob fie wohl oft gezauft wurden, 
wenn er vor feinem nußbraunen Gilde an 
der Predigt arbeitete und die nicht recht in 
Fluß tommen wollte. Diejes Sonnenftrählchen 
hatte ber Hochgraf Friedrich ins Auge ges 
fat und, ftatt des Gejebes Schreden zu 
fühlen, fid) lächelnd an dem lieben Alten 
erfreut, wie er jo ehrlich zeugend auf ber 
Rangel ftand. — Da traf ihn der Mutter 
ftrafender Blid, unb er [Haute migmutig zu 
Boden. Aber aleidjjam zum Trote, wie 
Peter Schwenninger, paßte der regierende 
Herr ohngeachtet folder Kontrolle nicht auf. 
Die Gedanten jpazierten dem Giebenunds 
dreifigiáibrigen davon, und plóblid) glitt 
wieder ein leijes Lächeln um feine Mund» 
wintel. Er jah die Frau Mutter verftohlen 


von der Geite an, er jah, wie ihre Hände 


heimlich unter dem Tube arbeiteten — der 
Daumen ging bei der Linten hod, und die 
Rechte berührte ihn, dann der Zeigefinger — 
Jie redjnete. Während fie Rirdenvifitation 
abbielt, zählte und rechnete fie. Der Hod: 
graf nidte unmerflid) mit dem Ropfe. Das 
feine Lächeln blieb, aber leife Wehmut hatte 
es etwas verändert; er wußte, worum fie 
lich qualte. 

Mit hundertundvierzig Pferden war vor: 

39 


Belhagen & Klafings Monatshefte. 35. Jabrg. 192091. 2. Bd. 


594 Julius Rupreht von Loewenfeld: B=232233233334 


geftern der ſächſiſche Rurprinz aus den Toren 
Frauenfteins geritten, nachdem er auf feiner 
Rúdtebr von Frankfurt bes befreundeten 
Hochgrafen Gajt gewejen. Zweihundertund: 
liebenundvierzig Pfund Rindfleifch, bas Pfund 
zu neun Pfennigen, und einundeinhalbes 
Kalb hatten fie allein beim Gefinde konſu— 
mieret — vierzehn Hühner, je zu 15 Pfennigen, 
fünf Rapaune je zu 5 Grojden, und zween 
Hajen, je zu 5*/, Groldjen bei der Herribaft 
ohne die Schmerlen und Hechte, jo man neben: 
bei verzehret. Item vier Eimer Wein für 
die Lausbuben vom Troß; aber ganze vierzig 
Maß bes köſtlichſten Falles in bem fowiejo 
ziemlich leeren Keller mußte man dem diten 
Prinzen und feinem bur[tigen Gefolge opfern, 
worauf fie denn in vergnügtefter Laune 
etlide *Bofale und Glajer zerichmetterten 
und am nädjlten Morgen müben Angelichtes, 
aber des Dantes und Lobes poll fid) auf 
ihre Rößlein |djmangen, bie zum Gliid nur 
Majjer gejoffen hatten. O, du arme Mutter 
Sophie, Patronin aller Falten, Wachthund 
vor Keller, Speijegelaß und Geldtruhe — 
o du gefür|tete Grafichaft Frauenftein, Ata: 
demie der Pfennigfuchjer und ftolze Kanzlei 
der vergoldeten Armut und Not! 

Die Hodgrafin jeufzte; ihr Sohn feufate 
mit. Cie jahen fid) als zwei Miffende an, 
aber bas Wijjen einte fie nicht, ba ber be 
benunddreißigjährige, noch immer unbeweibte 
Sohn nad) der Mutter Meinung den jchlaffen 
Gedel auch nur entleerte, ftatt ihn zu füllen. 
Gtrafend und [treng trafen die grauen Augen 
den Hodgrafen. Der Riele hätte die Kleine, 
alte Frau in feine Taſche [teden tónnen, 
falls nicht ihre |pibe, magere Hafennale et: 
welde Schwierigkeiten dabei bereitet haben 
würde. - Aber er ftarrte wieder den Prädi— 
tanten an, ber als Dritter im Bunde wohl 
einige Sekunden lang mit feinen Bliden an 
dem ftummen Spiel im Glasfaften teilge: 
nommen hatte. Nah einigem Grollen wider 
die argliftigen Sejuiter und Teufelsfnechte 
bes bijpanijten Ignaz erftieg bie Predigt 
den Gipfel, jchrittelte des wenigen darauf 
bin und nahm mit einem fejten, tapferen 
Amen ihr Ende. 

Beim Schhlußliede fang der fraftige Bak 
des Grafen Friedrich jehr vernehmlid. Es 
war immer Des Hofpredigers helle Freude, 
wenn ba im berrihaftlichen Stuble alle 
Regifter gezogen wurden. Das Gefinde 
richtete fic) banadj; die Tägerburjchen in 
grüner Livrei dróbnten und |djmetterten mit 
darein — fogar bie drei Geheimen Rate 
ftrengten die leden Blafebálge ihrer gus 
jammengeluntenen Bruft an, und das Frauen: 
zimmer [djalmeite inbriinftig unb woblge: 
fällig. Gelbjt bie gráflime Wittib milderte 


ihre ftrengen Züge unb blidte mit verftoblenem 
Stolze zu ihrem Friedrich hin, als würde 
fte erit jebt gewahr, weld) Hüne aus bem 
Kindlein ihres Schoßes geworden. Wenn 
er bod) nur fparen, feines Saufes und 
Ranges Erfordernifje befjer erfajfen, vor 
allem aber, wenn er ehelichen wollte, damit 
bas hodgraflide Geld)led)t, fo Jahrhunderte 
hindurch ftolz geblüht, nicht dürftiglich und 
flanglos ausjtürbe und [eine Berggaue lahen: 
den Erben anbeimfielen. Der Fri war 
ein Rind, trog feinen [iebenumbbreiBig Jahren 
— nur ein Kind! Er ging auf die Pirih, 
ftatt in die Kanzlei, ftatt auf bie Freite. 
Uber die Elfe! Mit dem Gedanten an die 
Elje fteuerten ihre forgenvollen Bedenken in 
den ruhigen Port, gerade als Ehrn Piftorius 
den Cdjluplegen [prad), und wie jelbige 
glüdli in den Hafen eingelaufen, verbiek 
fie im ftillen ihrem Herrgott, bas nadjte Mal 
im Gotteshauje beffer aufzumerfen. Faſt 
ein wenig weid war die alte Gräfin ge: 
worden. 

8 8 8 
Nicht ohne Erſtaunen hörte der Hochgraf 
bes nächſten Tages, daß ſeine tatkräftige 
Frau Mutter Nichte Elfe, die vierte Orgel: 
pfeife aus ber Töchterſchar feiner verftorbenen 
Baje, nad) Schloß Frauenftein eingeladen 
habe. 

„Du wirft wohl nichts einzuwenden haben, 
Friedrich!“ fagte jie mit jener [attjam be: 
fannten, ausichließenden Armbewegung, als 
der Bote bereits lange auf dem Landwege 
davontrabte. Ganz wider Erwarten ließ ber 
regierende Herr immerhin eine Antwort, 
wenn aud) feinen  Gin|prud) vernehmen. 
„Nein, verehrte Frau Mutter — wie ftets 
Euer geborjam[ter Rnedht! Es ift zudem 
Zeit, bie gute blonde Elfe unter die Haube 
zu bringen, und id) will einmal ganz feriós 
darob mit ihr reden. Behabt Euh wohl, 
liebe Frau Mutter!“ 

„Du ſollſt mit ihr reden.“ Die Hodgrafin: 
Witwe |prad) felbige fünf Morte faft tonlos, 
jo jehr madte ihr des Sohnes unerwartete 
Antwort zu jdaffen; verdugt blidte [te Dem 
Fortjchreitenden nad), ber unter luftigem 
Pfeifen — wie oft mußte man’s Friedrich 
lagen, daß jid) derlei Troßbubengepfeife für 
ihn nicht [djide! — um die Ede bog. Mar 
[ie etwa ber $yelbDerr, ber ben böjen Feind 
gana unvorſchriftsmäßig vom Often ftatt 
vom Welten anmarjchieren und durch fold 
völlig unmilitäriihes Hafelantentum feine 
beten Mejüren gefährdet fiehet? 

Am Sonntagabend hatte Gräfin Sophie 
das Aſthma Joldje Bein bereitet, daß fie ans 
fangs Ehrn Piftorius holen laffen wollte, 
ihr vor bem Abſcheiden das Nachtmahl au 


el Das alte Beihledt BESSsesssssssd 595 


reihen — fie war marjchjertig, die tapfere 
Heine Frau —; alsdann wurde es wieder 
etwas bejjer, und ihre Hand ließ dod die 
geflochtene Rlingeljchnur fahren. Ihr Sinn 
verweltlidte wieder ein weniges und Dachte 
den Eheitiftungsplan mit der achtzehnjährigen 
Elfe weiter aus. Es würde getiBlid) gar 
feine reiche Heirat werden, wie fie jolche an 
fic) wohl wünjchte, aber diefe Projefta waren 
ja aud) ftets gejcheitert. Da man dem zwölf: 
jährigen Friedrich eine dreijährige, pfälzijche 
Pringefjin anverlobte, hatte bie Braut den 
Unftern, bald an ber argen Peftileng zu 
fterben. Hiernach waren Rurjadjen und 
Brandenburg immer ftórendere Ranfelpinner 
geworden, weil eines ber, beiden Die ges 
fürftete Hochgrafichaft bei Friedrichs Kinder: 
lojigfeit erben mußte, und $yriebrid) — hm 
— ja — er madte fih darob aud feine 
KRopfichmerzen. Aber die Elfe! Dieje Ehe 
würde gewiß Erben |djajfet — Erben — 
Kinder — Kinder. — — Viele Kinder? — — 
Faft wurde es der afthmatijden, alten Dame 
angit. Das Paar war jo gejunb, fo uns 
bejonnen lebensfroh! Cie jab im Geiſte bie 
Sprößlinge gleich Pilzen aus der Erde ſchießen. 
Zwillinge, liebwerte Frau Mutter! Zwillinge, 
jtammig und freuggejund! D web! Dann 
wieder ein Heiner Hochgraf hier, eine frähende 
Hochgräfin dort, und alle Jahr... Die 
Gräfin Witwe [blog erjchöpft bie Augen. 
„Apage Satanas!” Gebildetes Latein 
mochte Beelzebub nicht, ber fie nur heim» 
juchte, weil ihm ihre treue baushälterijche 
Sorge um bas verarmte Gejdledt fold) ein 
Dorn im Auge war. (Cie madte Drei 
Krenze, und der Gput entiGwand. Nicht 
lange. Zugleich mit der Atemnot in der 
morſchen Bruft bedrángten neue Beängfti- 
gungen bie Sdlafloje. Friedrich und Elfe 
waren miteinander verfippt, fojern Hoch: 
graf Ernit Confejjor fein Großvater unb 
ihr Urgroßvater gewejen. Zwei Kindlein 
hatte ber Tapfere gezeuget. Das eine hieß 
Friedrich und wurde — Gott hab’ ibn felig! 
— ihr, Sophies Gatte, ein braver Mann, 
in feiner Jugend zwar jo etwas wie ein 
Schwelger, ber viel vertat und verpfändete, 
dafür aber hernad als Gatte feinem Weibe 
um fo gehorjamer, zumal wenn fie etwas recht 
eindringlich von ihm verlangte. Er ängjtigte 
(id) wohl, jobald ihre Worte ein wenig 
Ichriller wurden — er ábnelte manchmalen 
dem Gobne Friedrid), bem fie jetzo bas Gliid 
ber heiligen Ehe bereiten wollte Ja — 
und bes bhodjeligen Grafen Ernft zweites 
Kind war Erneftine, Burthards von Hohen: 
fteins waderes Ebegejpons und der blonden 
Elfe Großmutter. Aljo Blutsverwandtichaft! 
Tian untte, daß jolde mandmalen den 


Schnur im 3Bajjer hing. 


Kinderjegen verfiimmere oder gar verhindere. 
Und dann? Der alte Stamm der Hod: 
grafen ohne Frucht unb Schößling? Nein, 
nein, bie beiden jahen nidt aus, als ob 
ihnen £eibeserben mangeln fónnten, unb der 
Herrgott im Himmel würde [oldjes gewißlich 
aud) nicht gulajjen. Nein. „Apage Satanas!” 
Cie dräute fiegesgewiß in bie Nacht. 

Unter erquidlichen Träumen einer [Hónen 
und nicht zu toftipieligen Hochzeitsfeier war 
die verwitwete Hochgräfin Sophie, in ihrem 
Bette mehr figend als liegend, endlich ein- 
geichlummert, ba die beijere und gleichfalls 
etwas ajthmatijde Uhr von dem Turm der 
Scloßfapellen die dritte Morgenftunde an: 
zeigte. — 

Der gefiirftete Hochgraf war nach ber 
Ankündigung feiner Mutter durch den Schloß: 
garten gejchritten, pfeifend, trällernd und 
endlich jeufgend, um den Junter Jatob von 
Ölppen zu fuchen, den einzig Jüngeren im 
Heinen Hofitaate. Ihm unterftanden Forft 
und Weidwerf unb jene drei mageren Güter, 
die man nod nicht vermarfetendiert hatte, 
und er pflegte dies faure Amt des Bor: 
mittags damit zu beginnen, daß er gemädhlich 
die Filchreufen abging und alsdann bie 
Angeljchnur warf. So bodie er auch heute, 
die runden Beinden angewintelt, und jab 
bejchaulich auf bie blánfernbe, [tille Fläche, 
bis ihn Friedrich anrief: „Bleib Er fiken, 
Jaköbke!“ 

„Wenn es Euer Gnaden durchaus be— 
fehlen,“ ſprach Slppen und legte beſchwö— 
rend bie dide Linke auf den breiten Bruft: 
falten. Er hatte übrigens feinen Herrn ganz 
gut fommen hören. 

"3Jatóbte,” meinte der Hodgraf, „Eriftfaul ` 
— wiederum faul, wie id) fehe!” ` 

Zwei liftige Nuglein fuchten in des Klägers 
Mienen zu lejen und jchauten dann be: 
friedigt wieder nad) der Gtelle, da die 
„Unter fotanen 
Umitánden nicht ganz |o tätig als jonjten. 
Der Wald wächlet zu etlichen Zeiten von 
jelber; Hirſch nebjt Gemahlin pflegen jebo 
ber wohlverdieneten Ruhe, und was unfere 
drei Herrengüter betrifft, find bie Lajfiiten 
und Bauern in Bängnis, daß Syafob von 
Ölppen [tünblid) hinter jedem Schlehdorn 
aufpaßt. Ich Habe erft geftern zwei Gaus 
lenzern die Hude vollgedrejchet, dak ihr Weh- 
gejchrei bie gelamte Hochgrafichaft erfüllte.” 

„Am heiligen Sonntag? Pfui, Jaköbke!“ 

„Richtig. Es war aber ebegejtern — 
bitte um Wbjolution, gnädiger Herr. Ad, 
ad), daß ihr nicht anbeiBen wollt — id) meine 
nämlich die Filh. Selbſt die vernunftloje 
Kreatur in diejem gottverlajjenen Bau” — 
fuhr der Junter fort, und feine weltſchmerz— 

§9* 





596 ESs=S==sSs===3 Julius Rupreht von Loewenfeld: BZZZZZZ RZA 


lerifche Miene bes Elendsphilojophen fuchte 
mit dem Klagegetöne der Worte Schritt zu 
halten, „jelbft fie verfintet hier in Lethes 
verlorene Tragheit. Schaut bod) nur bieles 
traurige Gras an, Jo bläulich»gräulich ange: 
laufen — diefe dumme Wajjerjungfer in 
ihrem matten Gedrójel, Euer Gnaden, welche 
find ein exemplum nature, daß ringsumber 
die ganze liebe, alte Welt verjtodet, vers 
filget und endlich Stumpflinns halben Herchen 
geht. O Peft und faure Bohnen!“ 

nJatóbte, du haft geitern in der Kirche 
gefehlt,“ riigte ber andere gänzlich ungerührt 
weiter. 

"Ab, ah! Gbrn Pijtorius, diejer vers 
malebeite Schloßpfaff, bat mir davon bereits 
die Levitifa gelejen, bis id) mein Habit riids 
wärts hochklappte und sub specie posterioris 
erllárte: Der Serrgott habe Nuten genug 
wachſen laffen, er möge lieber die verdienete 
Pin jogleich erteilen. Er ließ es jedoch beim 
jymbolijden Anlauf bewenden, gejtrenger 
Herr, und damit bin td) abjoloteret, falls nicht 
etwa Euer Gnaden liebe Frau Mutter...“ 

„Sa, meine Mutter,“ [prah der Hodgraf 
mit Nachdruck und jeufzte laut. 

"Ja, die Frau Mtutter, wie id) denn Ehrn 
Piftorio [Hon mehrmalen als verbum bibli- 
cum den Text empfohlen, nach dem unjer 
Herrgott zum erften den Mann, dana% erft 
die Männin, das Weib gejchaffen habe. Er 
aber fordt fih und wollte nicht anbeiBer, juft 
wie heuer die Filh. — Doch halt, bie ijt einer!” 

Ein dider Hecht wurde ans Ufer gejchnellt 
und unter Biltoriaruf ins Tragneß getan, 
worauf Safob von Ölppen [eine Angelrute 
ihulterte und gemütlich erflarte: „Wenn 
Euer Gnaden nicht Gegenbefehl geben, will 
ich jebt beim, mich auf das wiehernde Rok 
werfen und meinen vielen Pflichten nad): 
jagen, als wie Horatius Flaccus jpridt: 
Post equitem sedet atra cura, oder perbol: 
metjdt: bas dráuende Offizium [tadjelt mid) 
von hinten.“ Ä 

„Bleib Er figen, Jaköbke! Er madt mir 
bod) nidis vor — Er ijf nur durjtig und 
möchte daheim pofulieren. Jaköbke, wir find 
Jugendgenoffen — du but ja faul und zwar 
[djanbbar faul, aber immerhin haft du bod) 
ein Herz und ladjende Augen. — Schweig! 
IH will reden und zwar vernünftig mit bir 
reden, Sjafobfe, jo ſchwer es dir auch fällt, 
Dabei aufzumerfen.“ 

„Bernünftig — in Frauenltein? Ad 
rike! S9Bernün[tig ?" Der Junter fiel ſtöh— 
nend und bod) bewußt aus feiner Devotions: 
rolle, ohne daß ber Hochgraf ihn drob fhalt. 
Er fonnte hierin fonft febr deutlich werden. 

„Dteinethalben mag ich heute, aber nur 
heute, Jatóbte, wieder der $yribe fein,” fuhr 


der regierende Herr leutjelig fort. „Vielleicht 
wird das Gerede Dadurch freier und franter. 
Nun Höre, was ich bir fagen móbte, als 
man einen Freund. anhört, der nicht allotria 
unb gaudia, fondern Ernjt in dem Herzen 
Dot, Ergo, ich beginne Du weißt, dab 
meine Frau Mutter bas ganze Regiment 
im Jammertal diejer Grafjchaft bejibt, wie 
es bei meinem Herrn Bater — Gott hab’ 
ibn felig!” — hierbei lüftete der Hochgraf 
pietätvoll den Hut, und Jaköbke tat mit ver: 
ſtohlenem Grinjen bas gleihe — „. . . ja 
aud) bas Gewöhnliche gewejen. Cie hat nun 
ihr Regiment sine gloria, aber mit Ehren 
ion durch den großen Krieg geführt, feit 
feinem zweiten Dezennium. Gie ift nicht 
ausgeflüchtet als der George Wilhelm von 
Brandenburg, objdon der Mansfeld wie ber 
Tilly den Schred ins Land getragen hatten, 
und jujtamente am Tage der Vittoria von 
Breitenfeld bin ich geboren. Reſpekt vor 
meiner liebwerten Frau Mutter!“ 

Der hohe Herr fuhr mit bem Handrüden 
wider die Stirn, eine Schnaken abzujtreichen, 
was Jaköbke, migverftehend, als Introitus zu 
einem neuen Hutlüften nahm. Er traute 
aber eilfertig den Scheitel, als Friedrich ihn 
darum mißtrauiſch anjchaute. „Die Schnafen, 
die Schnafen, Fribe,“ entſchuldigte er fid) 
und ſchob den Hut guriid. 

„Nta ja, bie Schnafen. Wher hör’ nun zu! 
Sch habe oft genug wider die Frau Mutter 
mit einem Grimmen gejdolten, wies aud 
weiland der Herr Bater noch auf feinem 
legten Lager gemadt, fobald fie nur aus 
der Türen gewejen ift, und ich repetier’ es 
bod), als wie er es auch getan bat: Das 
Regimente meiner Frau Mutter ijt eine 
harte Nuß und fein Paradiesapfel, aber 
auch nicht faulig, Jondern fein, sine gloria, 
Iparjam.“ 

„Sehr [parjam — zu fparjam.”* 

»@eb’s zu, aber — Rejpett! Der Nußkern 
war immerdar gut. Nur bat ihr Spiirfinn 
ein Faktum völlig vertannt. Gie hat mir, 
ihrem Sohne, als ein jd)ledjter Magifter 
meine Lektion ganz verleidet. Sd) folt immer 
ipringen wie fie, fargen, [paren und Auf- 
paffer fein. Das war nicht gut. Sid) modt' 
nicht ein halbes Quentlein Regiment, mod’ 
aud) bas ganze SJammergeblaje mit Sparen 
und Hungern nicht, moht nicht bas Schulden: 
freuz, jo fein groß Wollen und frei Wirken 
gedeihen läßt. Goll ich vielleicht jedwedem 
alten Gaul, der [Hon von felbjt jehindanger: 
wärts wanten will, dod) lieber ein gut Wort 
geben, ob er es nicht nochmalen mit dem 
Leben probieren mödhte, weil es daheim zu 
einem neuen Pferd beim Mokfamm nicht 
mehr langt? Nein, nein, nein!“ 


Lesser ee) 


Hobgraf Friedrid) war vor Erregung 
aufgeiprungen; er ſetzte fih aber bann jeufzend 
wieder neben den Junker, ber jehr verftándnis: 
voll nidte unb aud) einen tiefen, jympas 
tbilden Seufzer tat. 

„Sieh, Jaköbke — ich Jag’ dirs im Ver: 
trauen. Da lag der Haj’ im Pfeffer. Ich 
Ibon” mich nimmermehr; es war gewißlich 
nicht recht von mir; denn wem Gott ein 
officium gibt, ber muß fid auch Durch Ge: 
ftrüpp und Dornengerant hindurdgwangen. 
Aber da nun meine Frau Mutter und das 
ganze Hochgrafentum jo gewejen, vermochte 
ih es nidjt. Im Walde war id) fret, zu 
Rok war id) frei, wenn id) die Lauten ſchlug, 
Hang’s mir froh vom Munde. Ergo: Sd) 
ließ fie jchalten, bab’ daheim nicht Gin: 
iprud) nod) Gegenafte getan und bin fo ein 
Weidmann, bod) fein Regente worden. Der 
Ehe aber ging id) aus dem Wege, auf daß 
id) nicht bod) nod) einmal ins Joh fame.“ 

„Recht gehandelt, brav gehandelt, Frige. 
Sd) Iob's." 

Gtirnrungelnb jdjaute ber Hochgraf feinem 
behäbigen, vergniigten Beichtvater in die 
labenden Mugen. Der bemerkte es und 
legte flugs bas Segel um, den Wind wieder 
einzufangen. „Ih fann das alles wohl 
fallen, rige. Bin nicht auf den Kopf ge: 
fallen und aud) fein läppiſcher Kirchweih: 
fiedler ohne Nachdenflichfeit über unfer armes 
Reben. Kram’ nur aus, fram’ nur ruhig 
aus und lag mid) bann meine |djlidjte ex- 
hortatio madden, fo du fie hören magft. Erft 
du — dann vielleicht ich — alles secundum 
ordinem." 

„Hm,“ brummte der Regent, „alfo fa es, 
Satöbfe, wie du es fallen magit, und [prid) 
Danad) zu mir, Dod nie darüber zu dem 
andern Gelidjter. Hand hierauf, Jatóbte!” 

„So wahr id) Syatob von Ölppen heiße!“ 
Und des Sjunfers Schwurfinger [tiegen tergen: 
gerad empor, daß der Hodgraf lachen mußte. 

"Es fet, ich fahre fort. Wir ftanden in 
puncto &be. 
vite, Syafóbfe, ob id) mir Ion aus Dirnen 
und Mägdlein niemalen viel gemacht babe." 

„Dho — mit Vergunft — ijt bas aud bie 
ganze 3Beidjt'?" Jaköbke fühlte, daß er zu 
dreift gewejen — es war ibm jo gejdwind 
entflohen. Als er aber den flaren, reinen 
Bli des Hochgrafen unverwandt auf [id) 
gerichtet fah, ſchrak er erft wirklich in fich 
zufammen und verjtummte völlig. 

„Ja, das ift Die ganze ehrliche Beichte, 
wenn wir es einmal Beichte nennen wollen. 
Dorten im Gee wadjen nicht nur Waller: 
rofen, aud jchlabbrig, glibbrig Schmutzkraut. 
Sch weiß wohl, und dein Leben mag fein’ 
MWaflerrojen gewejen fein.” 


Das bleibt ein ernithaft caput . 


Das alte Geſchlecht 597 


„Bewiß nicht, o nein,” fprad) ber Junter 
ohne Zögern. 

„Ich bin niemalen als Manz, Gott jei's 
gedankt, in eines Weibes Arm gelegen. 
Mein Gewiljen ijt fret in rebus eroticis, 
Der Wald mag mid) bewahrt haben oder 
gar mein Schußengel, aber ein Mann Zomm 
auch ohne. Lotterbett Mann fein. Wer’s 
bezweifelt, Dem will id) meine Fauft zu toften 
geben; danad) wird er einen anderen Bes. 
weis nicht weiter begebren.” 

„Dit Berlaub,“ warf ber Dide etwas 
Ihüchtern ein, „ich glaube, daß wir jet einen 
Geitenweg eingelchlagen haben.” 

„Du bijt felbft jdjufb daran, dummes 
Jatóbte,” jagt ber Hochgraf in gutmütiger 
Überlegenheit. „Ergo, id) mag nicht gern 
ans Gbelidjen denten. Aber bas hochgräf> 
lide Haus droht auszufterben, fo ich nicht 
Kinder befomme, unb die Pflicht gegen Ge: 
Ihleht und Land hält mid) jego in ihren 
Klammern, ohne mid) loszulajfen. Das it's. 
Und um nun die langen Präambeln zu 
meiden: Die Frau Mutter lud mir heute 
meine Nichte Elfje von Hohenftein auf den 
Hals, bie Mtaterie zu bejchleunigen, da fie 
fih felbft abgängig fühlt. Unjer Herrgott 
erhalte fie! Es fann einmal gejhwind mit 
ihr aus jein; denn Freund Hein ift der 
einzige, den fie nicht unter den Pantoffel 
triegt.” 

Der dide Junter riB bie wafjerhellen 
Augen weit auf. „Summa: Du willft alfo 
bie wohledle Gräfin Elfe von Hohenitein 
freien? O jerum — mit Bergunft. Sie ift 
ganz arm. Du wirft jenes bejagte und bes 
tagte Rok nod) zum zweiten Dtale erjuchen 
miijjen, den Erlöjungsweg zum Shinder aufs 
gujdieben, Frige, weils nod) immer für 
fein neues Pferd reiht, und id — ih — 
werde bei meiner biedern, alten Rub in die 
Schule gehen, damit id) bas Wiederfauen 
lerne und mit dem halben Gehalt ausreidje. 
Fritze — Frige — muß das fein? Muß 
das wirklich fein?“ 

„Alles secundum ordinem, [prad) vorhin 
deine Weisheit, Gafdbfe. Nun rede du! 
Item — nicht daß id) mich irgend verjchwöre, 
deinen Rat zu befolgen. Nein, Jaköbke, aber 
hören will id) denjelbigen.“ 

Der "unter [trid) jid) nachdenklich bas 
Doppeltinn, dann erhob er fid) gravitüáti[d). 
„Ich rede unb rate: Heirate nicht, bleib uns 
beweibt bis an dein Lebensende, und fo die 
Hochgrafſchaft an die Erben fällt, ob Sachſen 
oder Brandenburg — fames ex est! Der 
Hungerteufel, der hier doch nichts gedeihen 
Läffet, hat damit fein Ende gefunden. — Deine 
Bajallen und deine Eigenen werden es dir 
nur banfen, Frife; das Land ift ja zu flein, 


598 Julius Rupredt 


bie Laft zu groß. Ob Wettin oder Zollern, 
jie jchaffen beide mehr als eure honefte Eigen: 
brötelei, um es einmal von der Leber frei 
weg zu jagen. Hut ab vor deinem Treuz: 
braven Gejdledte, 9tejpeft!^ Diesmal 30g 
Jatóble wirklich artig fein Jágerbitletn. 
„Stirbt es aus, ift’s trokdem feine Schande; 
find doch noch viel berühmtere und größere 
denn die Frauenfteiner Hod)grafen den Todes. 
weg gegangen, als per exemplum die Staufen 
oder bes großen Carolus Familia. Aud 
die ältefte Eichen treibt einmal in einem 
Lenze feinen Sproß, feinen Aft mehr.” 

Und plößlid — nad) furgem silentium 
lug ſich Jaköbke bie feiften Schentel, daß 
es nur jo Hatjchte. „Hoch, Frige. Tut 
einmal die gejtrenge Frau Mutter die Augen 
gu, dann leben — dann leben wir auf! Wir 
Herchen aus, wozu denn nod fnaujern? 
Wettin muß ja zahlen, Brandenburg muß 
bledjen. Wir fterben aus. Goldgiilden regnet 
es zum Feſte. Wer fann es bir nad) ben 
magern Griesgrametagen denn miBgónnen ? 
Wir fterben aus. — Lak mid) nur machen, 
optime Frige! So wahr id Safob von 
Olppen getauft bin, fie miiffen blutig zahlen, 
wenn id) den einen mit dem andern Neben: 
bubler |djüre. Gelbgriine Galle fpuden fie 
zwar jicherlic), aber der Neid, ber giftige 
Neid läkt fie freigebig fein, um nur einander 
auszujtehen. Und Rautelen, daß bir nies 
mand zu Lebzeiten in die Lande kommt, 
werde ich aufrichten, hoch wie einen Müniter: 
turm, falls du wirflich bindend verfpridft, 
auf jegliche Ehe zu verzichten. Aurora |chirrt 
dann den Wagen jogar über unjere Düjternis 
bier, und alle Nachtfröfte des Jammers 
haben ein End’ — ein End’. Juchhe!“ 

Der Junter, von Ölppen warf fic felig 
ins Gras und |djnalate [Hon vorjchmedend 
mit der Zunge, während ber Hochgraf ihm 
verwundert zujchaute. Etwas wie Herren: 
itol} redte jid) nun bod) in ibm auf — er 
richtete fid) empor in feiner ganzen riefigen 
Gejtalt und fprad) mit fürftlicher Ruhe: „Es 
war mir gut, baB id) mich einmal frei ge: 
redet habe, Jatóbte, Die eigenen reflexiones 
Hären jid) dabei. Es war mir auch ergóblid, 
Seine lachende, zappelnde Weisheit zu ver- 
nehmen, das Körnlein fefter Wahrheit in 
eines Jaköbke von Olppen Iuftigen Sprüchen. 
Genug! Schwing’ Er fid) nun auf Sein Rok, 
Syunfer, um nad) Wald unb Ader zu jchauen 
und den Wilderern das üble Handwerk zu 
legen.“ 

Gemejjen jchritten Diele Morte dahin; 
dann aber gudte bod) die alte Herzlichkeit 
nochmals grüßend zum Oberftübchen hinaus: 
„Nichts für ungut, Jatóbte! Du bt dod 
beffer als jene eingeroftete Culenweisheit 


von Roewenjed: 'B23323323332324 


der drei überjährigen Rate meiner Frau 
Mutter. Bleib gejund!” 

Etwas verfniffen fah ber Junter anfangs 
der hohen Gejtalt nad), wie fie weiter ging 
— Dann erblidte er wieder die Angelrute 
und den pradtigen Hecht, und feine Tienen 
helten fid) merflid) auf. „Wielleicht ift mir 
bod) nod) ein edlerer Fijd an den Köder 
gegangen als biejer bijjige Geeräuber ba, 
unb bein Rat deucht mir auch gut, wirklich 
recht gut, better Jatob von Ölppen; denn 
wir müjjen einfach ausfterben!“ 
88 E & 

Den alten Efeu, ber fih zu dicht und zu 
weitgreifend an einer Mauer feftgefrallt hat, 
fann|t du wohl herunterreißen — aber wenn 
du dir nicht nod eine dreifache "Gelder 
mit bem allerjorgfältigften Abjchaben jchaffen 
möchteft, läkt ber alte Herr feine deutlichen 
Spuren zurüd. Hofdirurgus Moosmeier 
jtellte diefe gelehrte Objervation beim eigenen 
Haufe an, und fie war — mirabile dictu — 
jogar richtig. Die trodenen, braunen Wurzel: 
füßchen, bie fejtgejogenen, fraujen, oft faft 
gezieferähnlichen Fajern bafteten zäh noch 
weiter am Gejtein, 

So hatte der Hodgraf Jaköbkes Verfucher: 
rede zwar im ganzen bald abgejtreift, aber 
eben nur im ganzen. Er ging in die Schloß: 
fapelle, in ber ber glorreiche Hochgraf Erne- 
ftus Gonfei[or mit gefalteten Händen, den 
Helm neben fich, auf feinem Stetnjarge fniete 
und ihm gegenüber, beinahe mehr einem 
Mägdlein als einer Eheliebſten ähnlich, feine 
zarte Gattin Hedwig aus dem naſſauiſchen 
Haufe. -Gar ſchön gemeißelt ftand das 
Frauenfteiner Wappen auf der Platte. Das 
fromme Paar betete andächtig nod) im Steine 
fort, wie es im Leben gebetet, und betete 
jicherlid) aud) für bes alten, ebrwiirdigen 
Geſchlechtes und feiner Untertanen zeitlich 
und etpiglid) Wohl. Graf Friedrich Donn 
fait beflommen daneben. Wie er ben tapferen 
Großvater betrachtete, fam er [id) recht er: 
bürmlid) vor und jeufzte fo laut, dak Piftorius, 
der nach einem Zettel in der dunteln, ge: 
wölbten Gatriftei gejudt hatte, in bie Kirche 
trat. 

„Es ift feine superbia, fondern bantbarer 
Stolz, Euer Gnaden, jo man feiner Vater 
gedentt,” fprad) ber Hofprediger voller Gal: 
bung. 

„Glaubt Shr, Ehrwürdiger? Die Ahnen 
bedrüden aber das Gemüt der Nachfahren 
oft, daß man darob verwirret wird.“ 

„Ste heben nur die Hand inb mahnen.“ 

„Sft in unjerer Hungerleiderei Denn nod) 
ihre Glorie, Ehrn Piftorius? Ich hab’ zu- 
bem, ba id) jünger war, eine Reife in die 
Niederlande gemadt. Der Oranier ftand 


PSSSSFSSFFIHSIIIFTE Das alte Gv]djtedjt Bez22222222224 599 


dort nebenaus — die Hochmögenden ge: 
dDiehen auch ohne ibn — ohne Fürſt und 
ohne Krone. Hier aber in Deutjchland 
wuchert es allenthalben von blinden Rrón: 
lein und mottengerfrejfenen Grafenbiitlein 
im dichteften Gejchlinge, unb die vielen Zoll: 
báume fperren die Lanpdftraßen als ein 
dauernd impedimentum. Sid) weiß bod) nicht, 
0D... a 

Der alte Geijtlidje |djaute den verftums 
menden Hodgrafen wie Ehriftoph Columbus 
fein neu entbedtes Eiland Gan Salvador 
an. ‚Was lebt bod) mannigmal in einer 
Menjchenbruft,‘ dachte er, ‚ohne daß wir es 
abnden!' — Dann aber trat er ebrerbietig 
und zugleich mit jener reifen, rubigen Würde 
näher an den Zweifler heran. 

„Sch bin aud) dermalen in den General: 
ftaaten gewejen, hoher Herr, und habe den 
Ratspenfionár De Witt jelber gefehen. Er 
gerade hatte mir in dem freien, reichen Lande 
nicht gefallen mögen; die Oligarden hodten 
wie feilte Rapaune auf Hollands Pfeffer: 
jaden, ließen die Goldatesta verfommen, 
ohn’ des Reiches Sicherheit abzuwägen, da- 
mit nur nicht mit ihr bas Oraniſche Haus 
wieder aufitiege. Volk unb Geiftlichkeit 
fühlten’s wohl Balb — Oraniens tapferes 
Feldgeſchrei Hang ihnen beffer im Obre als 
das Geldgetlimper der fetten Hollander. 


Ja, Herr, bie Treue wählt bod) am beiten ` 


in dem Lande, da ein angejtammt Herrfcher: 
haus regiert; bie Treue, Euer Gnaden , ilt 
mir ein [onberfid) Kraut auch in unjerer 
fargen, armen Hochgrafſchaft.“ 

„Deinet Ihr?” . 

„Sch meine submissest freilich: Treue um 
Treue, Euer Bnaden.“ 

Des Jatob von Ölppen gefdeite Rede 
hatte der Hochgraf abgetan wie Moosmeier 
feinen Efeu; aber die Würzelchen blieben 
trog Ehrn Piftorit treffliden Monita, und 
diefe ziefrigen Krallen und Beinden zeig: 
ten fih bald bier, bald dorten an ber Mtauer, 
wenn er nachdenklich Durch den Buchenwald 
dahinſchritt. Es war mit der Mutter nicht 
mehr bejjer geworden; fie teilteihr Leben jego 
faft in gleiche Hälften: der eigenen Geelen 
Heil und die Heirat ihres Sohnes. Mit 
diejem Hatte fie, ohne ihn öfters zum Mort 
zu laffen, gleidjjam als ihr Teftamentum, 
feierlich unb beftimmt das Cbeprojeft bes 
redet, und zwar ganz offen, ganz nüchtern. 
Uber tiefe Riihrung zitterte bod) durch ihre 
diirren Worte, und die grauen Augen rid): 
teten fid) bisweilen in die Weite, als fáben 
fie [fon die Sinnen bes güldenen Jeruja: 
lems und bas eigene Gterben. Der Hoc)» 
graf fühlte fih in ihrer Gegenwart bedriictt, 
jtumm, im Banne, mas feine Mutter nur 


für lobenswerten Geborjam hielt — dod 
mitten in Andacht und Ernft hinein quáfte 
plötzlich Jaköbkes feierlos Ddreijte Rede: 
„Fames ex est. Die honefte Cigenbröte: 
lei — Refpeft Davor — geht gu End’! Wir 
leben auf, das ganze Frauenfteiner Land 
lebt auf; denn wir fterben ja aus. Judbe! 
Wir fterben aus!“ 

ag WW 88 
Befriedigt entzifferte bte Heine alte Dame 
das Antwortjchreiben aus Hobenftein, nad) 
bem die blonde Elfe zwei Tage fpáter als 
der Bote ihre folgenreiche Fahrt zur lieben 
Großmuhme antreten follte. Die ganze Gebr: 
jucht bes vielgeplagten Baters, wieder eine 
jeiner adjt Töchter verjorgt zu jehen, flötete 
ihren Nadtigallgefjang durd die fiigen 
Zeilen. Wud) bas Cheopfer felbften war 
[don eingeweiht, es hätte, hieß es, |djam: 
haft errótend fein Ja gelifpelt, als ob es 
dem ftattlihen Hochgrafen [Hon immerdar 
in feinem tleinen Hergensjdreine Hold ge: 
melen, und der glüdhafte Bater [djiert nad) 
ber Epiftul nicht erft Sturm, Blig, Donner 
und Gewitterregen benötigt zu haben, damit 
das roja Liebestráutlein erbliibe. Es rantte 
und [bnórtelte, diiftete und flingelte nur fo 
durch den Brief, dak bie alte Hochgräfin gue 
erft mit dem Kopfe nidte und dann in febr 
bejtimmtem Tone „Hansworft“ jagte. 

gait (Hien biejer Wusdrud es ihr onge: 
tan zu haben; denn als fie fid), ermattet 
vom langen Vorgebeugtfein, wiederum jap: 
pend im Lebnftuble zurüdlegte, fam er nod) 
einmal über ihre dünnen Lippen. Diejchmale, 
jebt etwas blaurote Hafennaje, welche die 
eingefallenen Wangen mit dem Sieber: 
tüpflein jo herausfordernd überjchattete, ragte 
tapfer in die Luft, als Bräfin Sophie müde 
ihre Augen ſchloß und einjchlummerte. Stop: 
weile ging der Atem, aber ein gages Lächeln 
verjuchte Dod) immer wieder, fid auf dem 
alten, [darfen Befichtchen feitzufegen. „Hans: 
orit" hauchte es faft unbórbar nod) ein: 
mal, und nad) jelbigem Worte breitete fid) 
allmählich eine auffallende Rube über die 
Schläferin, bis ber Odem endlich ganz auf: 
hörte. Da wurde es offenbar, daß die Seele 
(id) ein beffer Quartier als unjer armes 
Leben gejucht hatte. 

Hieran vermochte aud) des jchwerhöris 
gen $jofdjirurgus Explicatio über Causa 
prima und posterior bes höchſt beflagens: 
werten Berluftes leider nicht mehr bas min: 
dejte zu ändern. Ihro Gnaden fei, erklärte 
Moosmeier noch einmal beim Fortgange 
dem Hochgrafen privatissime, bereits feit 
etlichen Tagen eine moribunda für ihn, den 
Sadverjtandigen, gewejen, unb mit diejem 
zweifelhaften Trofte und zween tiefen Krag- 


600 Julius Rupreht von Loewenfeld: BSS3S3S333333I 


füßen, einen vor und einen in der Pforten, 
ließ er den Landesherrn allein. Dem ftan: 
den zwar die hellen Tränen in den Augen, 
aber basjelbe Wort, bas die Frau Mutter 
turg vor ihrem einjamen Berjcheiden ange: 
wandt hatte, |djlüpfte auch ihm über bie 
Rippen, als er feinem weilen Hofdirurgus 
nachblidte. 

Die Grabrede für die Heimgegangene 
hielt der Schloß: und Hofpfarrer, Jatóble 
hatte von ihr nichts Gutes geweisjaget, weil 
aud) ber Hohwürdige unter Dem verfloffe- 
nen Regimente durch ftille Bejchneidung 
feiner Deputate mandherlei Einbuße erlitten, 
er äußerte fih danach beinahe enttäufcht, 
dak Gbrn PBiftorius [o jalbadert habe. Aber 
nicht minder enttäufcht gebárdeten fich an: 
fangs Die drei Geheimen Rate Gterlatius, 
BeBmann und ber Edle zu Übigow. Wie 
fie etwas gebredjlid) und bod) in jener M- 
Iongenperüden- Würde, bie des Weltalls 
Augen auf fic) gerichtet weiß, bie Staats: 
aktion bes hodgrafliden Begräbnifjes mit 
barge|tellet hatten, deuchte es fie auch eines 
Sjoffaplans jJelbftverftändliche Untertanen: 
pflicht, zumindeftens den halben Olympus 
unb etliche berühmte römijche und griechijche 
Heldinnen als Gxempel berbeizuzitieren, 
wenn er von feiner Landesfiirftin und nicht 
von einer inferiorem Viehmagd in Memos 
riam zu reden hatte. Dem war nun durd- 
aus nidj genügt worden. Uber als ber 
Hodgraf Ehrn Piltorio tief bewegt die Hand 
ichüttelte, fanden aud) Gterlatius und fibi- 
gow jchlieklich ben Leichenjermon mehr und 
mehr angemejfen. Beßmann allein bejchloß, 
ftolz ſolchen Umfall zu meiden, und trippelte 
wortlos eilig, aber felb[taufrieben heim, um 
nur nidt dem Schloßpfarrer zu begegnen 
und noch nachträglich zu erliegen. 

Nicht bie Dellenildjen Götter, aber bie 
Ahnen bes Hodgrafenhaujes hatte Piftorins 
in feiner Rede herbeigerufen und dabei fei: 
nen Herrn gar fonderbar angeleben. Dem 
more, als zöge bie ganze Schar langjam 
mit wallenden Feiergewandern bei der Toten 
vorüber, von jenem Grid) bem Trußigen an, 
dem Kaifer Heinrich VII. von Liikelburg einft 
bie Grafichaft verliehen. Gie alle legten 
einen Kranz auf den Garg, fie alle fagten 
ihren Weiheſpruch; bie Entjchlafene gehörte 
ja zu ihnen, hatte gedarbt und fid) gemiibt, 


ausgeharrt und durdgefampft um ihrer. 


Sippe willen, um ihres Landes willen. Ans 
ders zwar als der wagemütige Sodgraf 
Erih oder der furdjtlos befennenbe Ernit 
— dod breiteten fie fegnende Hände über 
ihre Gruft: „Du warejt unjeres Erbes wun: 
derliche, aber treue Verwalterin und woll: 
teft, ein ehrlich und tapfer Weib, den Roft 


vom alten Wappenfdilde wegpuben und hie 
Leere in den Truben bannen, ohne Feier: 
ftunde für dih. Ein Ziel batteft du, da bu 
largteft, — unfer Ziel: Frauenfteins Ehre 
und Ruhm allerwegen!” So fpraden fie. 
Wie Hein ftand menfchlicy Gepránge neben 
dem, was Geifter taten, die aus ihren Grüf: 
ten emporgejtiegen! Als fie aber an ihm, 
bem Hodgrafen vorüberjchwebten, [chwiegen 
fte, zogen davon und zerfloffen in Nebel 
und Luft. 

Und nod eine nahm, ohne zunádft aus 
ber jchredhafteiten Verdubtbeit Derausaus 
fommen, an dem unerwarteten Leichen» 
begängnis teil und wußte gar nicht, wie, 
was und wo. Grit bei Ehrn Piftorii Grab: 
rede floffen die Tränen aus den Augen wie 
ein Bádlein, daß ihr Schludhgen die Um 
ftehenden |djier erjchütterte; denn ber Geis 
ftergug, ben ber Hochgraf erblickt hatte, wallte 
aud) an ihr vorüber, unb [ie wintten, fie 
ftredten die Hand nad) der blonden Elife 
von Hohenftein aus: „Frauenfteins Ehre und 
Ruhm allerwegen!” Go feierlich, aber auch 
jo verbliden deuchte fie alles, was da wie 
im Traume vor ihr babinglitt; fic weinte 
herggerbredend. Ihr [bien dabei, Dab nod) 
ein unjichtbar Gärglein Hinter dem der 
jeligen Großmuhme zu der ſchwarzen Gruft 
geichleppt wurde. 

Es war ein blühendes, rantes Mädchen 
mit einem feden, luftigen Gtumpfnasden, 
tráftig in Hand und Fuß, und bie Sonnen: 
funfen hüpften und hajchten einander in den 
goldblonden Flechten, die fic) mächtig um 
das junge Köpfchen legten, aber als es 
weinte, war es bod) nur wie ein Rindlein 
anzujchauen, hilflos und bittend. Der Hod: 
graf geleitete fie ins Schloß zurüd, und fie 
Jagte ergeben: , Ja, werter Herr Ohm.” Und 
er küßte die Nichte, da fie vor ihren Bemädhern 
ftanden, feierlich gerührt auf bie Ctirne. 

Mis er aber danad in feinem Zimmer 
auf und nieder fritt, ertappte er fid bei 
einem Gedanken, den er alsbald veritiegen 
und verjdroben fhalt: ‚Ich möchte viel lies 
ber dein Bater fein, Du armes blondes Rind!‘ 
Hodgraf Friedrich jeufzte. Frauenfteins 
Ehre und Ruhm allerwegen! War es viel: 
leicht auch wider Sitte und Braud, fo bod) 
gewiß im Sinne ber Gntjdjlafenen, wenn er 
ihon am morgenden Tage aller Ungewif» 
heit den Giftzabn herausbrad und unter 
den hohen Buchen vom Feldhay das Ver: 
löbnis mit Elfe von Hohenftein jchloß, das 
ihr Gdjidjal nun einmal von ihnen verlangte. 
Srauenfteins Ehre und Ruhm allerwegen! 
Und Frauenfteins Not und Armut dazu? 
Md), Jatóbte, du bift ein zäher Schelm. 
aB eb = 





hend ve Hass: EE Mi 


(Grosse Berliner Kunstausstellung 1921) 


ME LIBRARY 
OF THE 
UNIVERSITY -¢ 1 UMS 


604 Julius Ruprecht 


tiger, [don aus alter FreundiMaft mit mir 
vernünftiger, Ölppen. Und nicht mehr dieje 
jofojen Manieren!” 

„Dignitas. Gewiß, mifde mehr Dignitas 
in unfer diplomatijches Gelprad! Sd) ver: 
ftehe völlig. Die Dignität hat ftets ein eiter: 
fliijfig Bein unterm Samt gehabt, auf daß 
fie fid) nicht übereile, und als ber Marodeur 
mit der Kuh peitjchentnallend über bie Paks 
höhe fuhr, inipizierte die Dignitas erft jad: 
funbig die Ställe, behauptete aber fodann 
fteif und feft, felbige Rub fet wirklich nicht 
mehr darinnen. Darum Dignitas, Bröjelwig.“ 

„Zum Teufel, id) negiere an fich ja gar 
nicht bein Propofitum von vorhin, jo ver: 
Ihroben es mich anfangs aud) anmutete,” 
lärmte der arme ſächſiſche Freiherr wieder 
in feiner Not, fid) Gehör zu verichaffen. 

»Jiegierete etwa bie Dignitas bejagte Ruh? 
Nie und nimmer! In contrario, fie bejabte 
fie fogar obstinate, aber der antere [Hnappte 
Jie leider ohne viel Federleſens.“ 

„Wer folte denn Hier in aller Welt 
Ichnappen ?^ 

„Kurbrandenburg ijt in der Friihen heute 
bei uns einpajjieret, übrigens wirklich ein 
ganz traitabler, ziemlich rejuluter Herr, jener 
alte Dragonerobrifte und Streujandbüchler. 
Carpe diem und feine träge Blödigleit, jagt 
nun wohl Guilelmus Fridericus Elector, 
den fie mit Fug und Recht den (Groben 
Surfiirften heißen. Hojoh, wie er zufaßt, 
wie mein alter Kriegsfreund Bröjelwiß ur: 
plóglid ohne jeinen Wig Dazuftehet und nur 
nod) bie trodenen Bröjel nad) Rurfadjen 
guriidfehren, während unfer hochgräflicher 
Ruden [preewáris wandert!” 

„Faxen — jpöttilche Faxen — witzſchwan— 
gere Torheiten,“ [halt Bröjelwig höchſt frie- 
gerifch, aber dod) mit verdadtigen Sorgens 
falten auf der Gtirn. 

„Die Zeit ijt ein Miejel und das Wetter 
jeBo recht anmutend,“ erwiderte der Frauen 
fteiner Junter jeelenvergnügt. „Ergo, ich gehe 
angeln, fintemalen bie Fiſch heuer nach meis 
ner jadtundigen Opinion wirflid anbeifen 
miújjen.” 

Er ergriff bie Wngelrute, und als ber 
andere höchſt undiplomatijd) tnurrte und 
einige gepfefferte Injurien veribludte, nidte 
er ibm woblwollend zu: „Aber wer wird 
denn ob folden Scharmußierens die Gallen 
in fid) freſſen, optime? Mar ja bod) nur 
ein teiner essay, etwas Gcherz und Ko: 
mödie. Übrigens fol ber Rurbranben: 
burger Wlvensleben das Angeln ebenfalls 
lieben und wollte heute auch mal gelegent: 
lid) an den Schhloßteih ... Mu, nu, warum 
gleich jo furios ob meiner bejcheidenen Ber 
merfung?  3Beldje Laus frod) denn eben 


von Loewenfeld: B32322222223 


über Ew. Hochwohlgeboren Leber?” Nur: 
ſachſens Abgejandter fonnte den diden &riegs: 
fameraden, mit dem er ehedem am Lager: 
fener als Cornet mannigmalen und eigent- 
lid) immer mit Unglüd auf der Trommel 
gewürfelt hatte. Zum Catan bieje joviale 
Hinterlijt! Zum Gatan bieles ganze ver: 
fludte tiimmerlime Bergneft mit feinen 
hundsmijerablen Wegen — nicht einmal eine 
anjtändige Ebene irgendwo! Und in folches 
ſchmutzige Köhlerfpittel mußte man ihn, 
Dagobert von Brójelwig, ausgejudt ihn 
beordern, damit er beim Tode. jener alten 
hodgrafliden Hexe feinen kurſächſiſchen Rom 
dolenzkratzfuß machte! 

„Das walt’ die Sucht!“ bonnerte er aufs 
gebracht, fapte den früheren Waffengenojjen 
hirgerbanb am Kragen und brüdte ibn in 
einen Gejjel, daß es fnadte. „Das walt’ 
die Sut!” wiederholte er und wies Jas 
tobfes Verfuche, wieder aufzuftehen, kraftvoll 
ab. „Du bot ja in eurem hundsföttijchen 
Metterloche ganz vermaledeite Mores acci: 
pieret, Ölppen. Jebt reden wir aljo wie 
dazumal in der Kampagne.” 

„Ich weiche ber Gewalt,” trábte Jatóbte 
ftrampelnd, „nur ber roben Gewalt! Und 
Wein will ich haben!“ 

,Collt du — ſollſt du. Erft aber bie 
Angelrute her; bie lege ich in bie Ede Bier. 
Und nun zum Henter — vernünftig, endlich 
einmal vernünftig!” 

„In vino veritas, Tágben. Igt gefällt 
bu mir aud) fdon etwas beier denn in 
deiner ftödelnden ſächſiſchen Ráteweife: ‚Lieb: 
fter, verehrtejter Herr Ramarade und Jun: 
ter! Bin gánzlid) dejolat über ben Berluft, 
jo euer venerables Haus Frauenftein nad 
göttlicher Fügung betrübet‘, und das tángelt 
und jcharwenzelt dabei in Samt und Geide 
einher. O Pelt und faure Bohnen, was 
haft du bid) verändert, [eit ich dich dazı 
malen am $yajje bes rBeingánild)en Winzers 
lallend liegen fah! Du haft niemalen wie: 
ber fo bejeligte Grimajjen geld)nitten, ob: 
ion dein einer Sporn nod) auf dem She: 
mel fejtgehafet war unb die Lage darum 
nit gang tommobde fein mochte.“ 

Bei Diejer Memoria Jaköbkes Hujchte 
wohl ein leiles Mißfallen über bas rafierte 
Diplomatengelicht, verwandelte fih aber als: 
bald in fiegesgewilje, fordiale Freundlich: 
teit: Nun finden wir [hon den rechten Ton 
unb jteden bid) groben Riipel bod) nod) in 
ben Cad! Diejer Riipel aber fpreizte jeine 
diden Beinden voll Behagen von fid), blin- 
zelte den gepflegten, modiſchen Kurjachjen 
an und meinte: „Wenn id) fo iiberdenfe, wie 
oft wir beide dazumal Läufe gehabt haben, 
Dagden !” 


EES Das alte Geſchlecht 605 


„Nun ja, nun ja — in der Kampagne.“ 

Es Hopfte, und ein gedenhafter ſächſiſcher 
$eibbiener brachte [djmebenben Ganges den 
Mein, nicht ohne einen mitleidigen Seiten- 
blid auf ben furgen, wohlbeleibten Bejucher 
im Geffel zu werfen; der fing ihn auf und 
nidte ibm belujtigt zu. „Auch wieder fo'n 
Geiltänzer! Nein, wie bas alles bei eud) 
bier fchwippeln und wippeln tann als ein 
fichernd Meibsbild, mit bem gween Gardiften 
farefjieren. Ift ja prächtig!“ 

Da ent[djmebte der Goldbeftidte Hurtigft 
aus dem Zimmer, während Bröjelwiß einige 
Gefunden die Stirn in frauje Falten 30g. 
Uber dies ftórte [einen ehemaligen Kampfes» 
bruder nicht im geringiten. 

„Tres faciunt collegium. Der gute Rin: 
Berliner fehlte uns eigentlich nod, übrigens 
wirklich ein tüchtiger, probater Herr. Nicht 
wahr?” 

„Ich tenne ihn nicht. Er wird [hon feine 
Meriten haben!” bemertte der f$urjadjje 
nebenjählid. Dann jdentte er ein, klopfte 
Syatóble famerab|djajtlid) bie Schulter und 
ftieß mit ibm auf wilde, alte Tage und tolle 
Erinnerungen an, da: man feine Fortiine 
nod) auf der Klinge trug. Andächtig Ichlürfte 
Slppen den Wein, und feine wafferhellen 
Auglein [Hauten derweile bie Dede an. Er 
war zum erjten Male wirklich [till geworden, 
fill, ganz ftil. Endlich, und dazwilchen nod) 
immer nadjjchmedend, fam es befinnlich aus 
feinem Munde: „Hm! — Hm! Sic est! 
Das wäre ja ein probates Weinden. — 
Hm! — Hm! — Es bezeuget deinen feinen 
Spiirjinn, Dägchen Bröjelwite, daß du bid) 
nicht auf unjern hochgräflichen Curius von 
Hauswein veríieBeit. Schön! Trefflich!” 

„Sol id) dir vielleicht bei Gelegenheit ein 
Heines Fäßchen ...? Alte Freundichaft 
roftet nicht, mein lieber Ölppen.“ 

„Sp, nun ja! Bisweilen verflüchtiget fie 
fid) zwar, aber rojten tut fie am Ende wohl 
nicht. Doch nunc est bibendum. Mein armes, 
bejdeidenes Finkennäpfchen fteht wieder 
leer.“ 

„Verzeih!“ 
tigſt ein. 

Jaköbke nickte ernſthaft. „Schick' mir dein 
Fuder Wein nur ganz ruhig her, Dägchen! 
Mein Gewiſſen trägt dieſe Belaſtung mit 
Freuden, und id) hab’ einen äußerſt gefun: 
Den Schlaf. Ja, dieje Männerfauft könnte 
dreift ein Handjälbchen nehmen, ohne darob 
überfettet zu werden. Wir find hier mager 
daran, im Vertrauen — fogar recht mager!“ 

„Anſchauen tut man’s dir nicht gerade,” 
jagte Broójelwib, „Doch ijt ja meines gnábig: 
ften turfürftlichen Herrn Generofitát welt- 
betannt.” 


Und Bröjelwig gop eilfers 


„Dann ftoßen wir auf ihn an — unbes 
dingt, ftoBen wir auf feine Opuleng am; 
denn nichts deucht mid) [Hóner als weiland 
Philippi asinus aureus. Ein fürtrefflicher 
mazedonifcher Herr mit feinem goldenen 
Efel fürwahr! Ich bin ja aud) an fih folme 
freigebige Perjon, mi fili, nur fehlen immer 
die Dufaten, um es einmal zu verwirklichen. 
— Ad), und unfer Frauenftein? Me miserum! 
— Die wiirdige Frau Hochgräfin bois bes 
jonders arg getrieben.“ 

„Sch glaub’s, mein Wertefter.” 

„Darum Handfalben her, carissime, nur 
tüdjtig Handjalben! Aber, pft! pit! pit! Sim 
tiefjten Geheimnis bejchmierft du mánniglid) 
die Pfoten, von Fredericus secundus dem 
Hodgrafen an bis zu Peter Schwenninger, 
feinem S9?eitfnedjte; dann folljt du ein Mi- 
ratel jehen, Herzensihaß: Wir fterben alle 
aus und legen uns nod im Berjdeiden 
jelig lächelnd in eure furfiirftlid) Dresdner 
Arme. Handjalben, ad), Handjalben — 
Hoben wir ibt auf diefe Handjalben an! 
Non olet, fprad) der große Imperator.“ 

Dabei verzog Jaköbke fein rundes Antlit 
zu ſolchem verzüdten ſchwärmeriſchen Laden, 
daß aud) fein Freund Dagobert von Brofel: 
wis lächeln mußte. Er war zufrieden mit 
dem Diden. ‚Der ungewohnte ungarijde 
Mein fegt ihm zu,‘ dachte er, ‚und ich werde 
ibn bald dort haben, wo id) möchte.‘ Co 
wurde das Glas behende aufs neue gefüllt, 
ohne daß ber geldjájtige Freiherr das fha: 
denfrohe Grinjen feines Gegeniibers wahr: 
nahm. 

„Sieh, füßer Bujenfreund,” erklärte der 
Junter darauf, „das ijt nun bod) ganz ab: 
jonberlid)j. Bon deinem Weine Hier faufe 
ich eimerweile, aber voll werde ich niemalen. 
Dod unfer Curius erzeugt [don beim zwei- 
ten Glaje foldes Zujammenziehen ber Gin: 
geweide, daB man jchweißtriefend und in 
ftillen Rrampfen beimwárts taumelt unb 
Ichließlich nicht mehr weiß: Bin id) nun nod) 
der Ölppen oder vielleicht Chirurgus Moos: 
meier ober gar die Dumme Trine Hoffer?“ 

„Was du fagit! — Hm — trint nur aus! 
Wher um zu unjerer Gade zu tommen ...” 

„pu mirabel ift diefe Weinjeligfeit, Bro: 
feltoibd)en. Ein Truthahn, jo begecht iit, 
vergiljet fogar fein Bejchlecht und brütet die 
Eier aus, auf die man ihn gejebet Dat." 

„Fabulae — fabulae —!“ 

„Keine fabulae,“ erklärte Jatóble nad» 
drüdlichlt. „Probier’s nur jelb[ten! Mad’ 
mid) trunten, "Belt und faure Bohnen — 
mach’ mich trunken, Ramerade! Flugs jpringe 
id) als folleriger Puter ins Neft, brüte bein 
turjádjlildes Crbjdhaftset und unfer Frauen: 
fteinifches Not» und Todei aus, als ob id) 


606 - ESS==S====+ Julius Rupreht von Loewenfeld: REZAR 


eine Diplomatenhenne wäre. Geuk bod) ein, 
Sed)bruber! Mein Kehl’ dt troden, bie (Gelb: 
jumma [teBet felfenfeft, und unjere ganze 
Affäre ijt ja völlig tar. Die Zeit aber, 
Freund, läuft wie ein Miejel — darum Ialjet 
uns trinfen und brüten, bis niedlide, gül- 
bene Dufaten an bie Eierjchalen poden!” 

„Somit wäre das ganze Projeftum tat- 
ſächlich ernjt ?" 

Gs wäre nit nur — es ift einfad) 
Wahrheit, Bröjelwig. Der Hochgraf will 
in höchſteigener Perjona fid) in eure ſächſiſche 
Maufefallen einjperren lajjen, fo nur euer 
Cped reihlih und düftig ijt; anjonften 
macht Brandenburg den Handel.“ 

Der &urjadjle verjuchte einen falt über: 
legenen Ausdrud zu zeigen und meinte, 
während er weltmännijch mit den Fingern 
dazu trommelte: „Täuſcht euch dod nicht in 
Srauenjtein! Pretium und objectum miiffen 
nun einmal bet jeglidjem Handel im Gin: 
flange ftehen, und arm taufen mag fih weder 
Surjad)len noch Rurbrandenburg an diejen 
mageren Bergen.“ 

Doc da tam er ſchlecht an; denn Jaköbke 
ſchlug fic) nur geradezu ausgelajjen auf die 
Schenfel, „Fictum superstitionis, Altweiber: 
jared, Dagden! Trillerjt du fo, lojes Spaß: 
vögelein? Und wenn ihr nun beide nicht 
zu haben wäret, was dann? Dann heiratet 
mein Hochgraf lachend die ſchöne Hohen: 
fteinerin und hinterläßt nod) viele, viele Rine 
der. Bittere Not zum Borgen liegt ja gar 
nicht vor, nur bie ewigen Miolejtien und 
Duerelen, jo bislang aber aud) ertragen 
wurden.” 

Als hierob ber Magister elegantiarum von 
der Elbe betroffen ſchwieg, ließ der andere 
feine grobe Lace erjdjallen. „Raft ich, bann 
rojt id) — hahaha! Du Jelbft wirft alsdann 
zum Gevatter eingeladen; denn für einen 
Scherz ift mein Gebieter ftets zu haben. — 
Ich fege unfer Dagden als fpaBigen Paten: 
ohm Durch, der jJauer|üBen Wngelidtes bas 
higige urſächſiſche Erbgelüften im Taufwaffer 
erjäufet. Eine Staatsidee, Bröjelwis, meine 
allerliebjte Heine Heidſchnucke! Saba, das 
wäre ja ein Vierzigender von einem Wik!” 


88 8 88 

Die alte Schloßuhr hatte zwölf geichlagen. 
Zweimal des Tages mußte fie diefe Sjodjit: 
leiftung vollbringen; aber dann tlang es 
ftets, als ſchnappte bie Armſte gwijden ben 
. legten Schlägen immer und immer aufge: 
geregter nah Luft, bis ber zwölfte beijere 
Ton endli% heraus war. Noch geraume 
Zeit feuchte und [chnurrte das erjchöpfte 
Wert nad). 

„Sie ift aud) [don moribund, wie Moos: 
meier jagen würde,“ [prah Hochgraf Fried- 


rid) unb fdaute burd) das offene FFenfter 
hinaus. Bor feinen Augen lag, an den 
breiten, im Mondjchein gligernden See ges 
lehnt, der alte Schloßgarten, und über die 
müde rau|djenben Wipfel ber riefigen Lins 
den, über den jchimmernden Wajjerjpiegel 
hinweg jaben die hohen Waldberge, der 
peldbay dort und des Düwelsberges feljen- 
durhfegter Hang drüben. Zwijlchen ihnen 
miindete die Heine Munthe in einer ver: 
träumten Bucht, gerad’ wo man die hohen 
Pappeln aufragen jah. Käuzchen flagten 
burd) bie Nacht, und Fledermauje hujdten 
vorüber. Aus den Bäumen aber, bem Graje, 
den Beeten jtieg eine weiche, würzige Luft, 
bie der Einjame am Fenjter tief einatmete. 

„Behüt’ bid) ber dreifaltige Gott, mein 
altes Frauenſtein!“ flúfterte er leife, als er 
das Fenſter wieder [blog und bie frühere 
Zimmerwanderung aufnahm — auf und ab 
— immer auf unb ab. Zwiſchen Geweiben, 
ausgebälgten Auerhähnen unb etlichen Bas 
ren: und Molfstópfen, die von der Wand 
herunterfletjchten, hing im Gemad ein großes, 
bräunliches Olbild, das Hodgraf Erich zeigte 
an ber Bahre feines dem tüdijchen “Fieber 
erlegenen Raijers Heinrich von Lüßelburg. 
Eitel Armgewerfe und Mebgebeule war auf 
dem Gemälde zu jehen, gleichjam als folte 
die Desperation aus jedem Quadratzoll hers 
aus|d)reien, Nur den hageren Hodgrafen 
jelbft batte jener biedere Handwerfsmeijter 
mit fúrjtlider Dignität bingeftellet, wie er 
lid von dem geliebten Toten abwandte und 
ben Beſchauer gramvoll anblidte. Seine 
Augen [dienen freilich ein wenig groß ge» 
raten. Bon den Rindertagen an, da die 
jungen Hochgräflein nod) auf unficheren Bein 
den durchs Schloß ſchwankten, prägte fih 
ihnen dieje alte Schilderei tief ein. 

Auf und ab fdritt der Regent, [Haute 
im Zimmer bald bier:, bald dorthin, aber 
die traurigen Augen feines Ahnherrn mied 
er dabei geflijjentlich. Debt, ba er entjchloffen 
war, unter bie tatenreiche Hiltorie des Frauen: 
fteiner Haujes den Cdjlupitrid zu fesen, 
hätte er Grid) den Trußigen lieber an einen 
anderen Plat befördert; bod) er wußte, dak 
jolche Aktion bie nädjjten Abende an jämt: 
lihen Brunnen des Stadtleins, dazu aud 
im ‚Hirfchen‘ und ‚Wolfen‘ geradezu phan- 
tajtijd) fommentieret werden würde, So 
verblieb’s. 

Als ber Nachtwandler ben blatenden Doct 
gepubt und bod) von ungefähr einen |chnel: 
len, jchrägen Blid auf jenes ehrwürdige 
Bild geworfen, blieb er ftehen, lehnte fic, 
mit bem Rüden gegen den Whn, an bie 
eidjene Tiichfante und fenfzte laut: „Ach 
Bott!“ Er date nämlich an Jaköbke. — 


SE SCH Das alte Geldjledjt sees 607 


Nach jenem Gejprád) auf bem Feldhay hatte 
er thn mit barjden Worten aufgefordert, 
aus Brojelwik herauszuprefjen, was irgend 
möglich jet; er würde niemalen ehelichen. 
Wem Hätte er auch jonjt in diejem guten, 
verftaubten Gpiebbiirgerwinfel den Auftrag 
zum Negotiieren geben follen? Und Jatóbte 
zeigte jofort ein $yibug zu feiner eigenen 
Strategie, die alle Bedenfen ob des Succejfes 
befhwichtigen mußte — nur war der SucceB 
jelber bisher ausgeblieben. — Derweile ver: 
zehrte fid) der Hochgraf in Ungeduld, aber 
Slppen [bien es taum zu begreifen. 

„Alles im Lot! Es fann it gar nicht 
fehlen, fintemalen der Karpfen [hon am 
Ungelhafen zappelt,“ rapportierte ber dide 
Junter bont zufrieden. 

„sn Dreiteufelsnamen, fo zieh er ihn 
dod ans Land!” jdjoll bie erregte Antwort. 

„Das wäre nicht förderlich, gejtrenger 
Herr. Gut Ding will Meile haben, und 
bas Rok, der Bröfelwig muß jehen, daß wir 
unjer Negotium nicht zu übereilen brauchen. 
Cin Fürft, fo volle Geldtruhen bat, fol fie 
gwar auch nicht offen laffen; aber find fel- 
bige leer, Dann muß er ganz getviBlid) ben 
Schlüſſel gweimalen herumdrehen ; fonft nitet 
ber Gegner ja feine Dejolation aus.“ 

„Satansbraten!” fnurrte der Hochgraf, 
ließ Jatóble ftehen und warf ärgerlich bie 
Türe ins Schloß, faft befriedigt, für jolde 
Atten feinen inneren Genjus zu bejigen. 
Als Bröfelwis fid an ihn Deranjd)lángeln 
wollte, hatte er ihn biindigft an Ölppen ver: 
wiejen. Aber ungeduldig, jehr ungeduldig 
war er, unb dies Doppelt, weil ihn täglich 
zwei große blaue Augen frugen, zwei Augen, 
deren ftummes Bitten faum nod) zu ertras 
gen war. 

„Abwarten und jchweigen. Verjtanden, 
Eije?” 

„Sa, lieber Ohm,” erwiderte fie gang bes 
[djeiben. Die Stimme zitterte nur ein wenig 
Dabei. Da ftrid) er ihr freundlich über ihre 
herrlichen blonden Haare (er ftaunte jelber, 
wie gern er doch joldjes tat) und ließ [ie 
bann ebenjo ftehen wie den Junter, bloß 
mit dem Unterjchiede, daß jelbtger fih leicht 
zu tröften wußte und fie ihrem Obcim unter 
Ichmerzlihem Seufzen nadblidte. 

Die Elfe, ja, die Elfe! Je mehr er [ie 
anjdaute, je mehr fiels ibm auf, wie hübſch 
unb lieblid) ihr rofiges Gelichtchen, wie traf: 
tig und bod) ebenmäßig ihre Geftalt gewor: 
den. Geine hocdhlelige Frau Viutter hätte 
fih bei all ihrer jpigen Schärfe bod) bag 
daran ergóbt, einer jolchen Schnur den erften 
Willfomm zu bieten. Bot Schwefel und 
Kunte, Derausgemadjt hatte fih das Mad: 
hen! Würde wahrlich feine üble Figura 


als Landesmutter geboten haben! Würde... 
Etwas wehmütig lächelte der Hodhgraf. Cie 
liebte ja [Hon den Konrad Baalen, und 
dejjen Jahre hielten aud) ohngefähr mit 
ihren achtzehn Lengen Schritt — vier Jábts 
Iein pro maximo fonnte er voraus fein. 
Und man felbft blieb nun nichts als ber 
„alte“ Ohm, fo zwei junge Menſchlein glüd- 
lid) madt und zugleich) bie Frauenfteiner 
Hungerleiderei zum Teufel jagt. 

Freiheit, endlich Freiheit! Ohn' Sorg’ 
bem Hirjdhen nadfpiiren, ohn? Herzens- 
bejdjwer auf fróblimer Hak — Geld unter 
ein Darbendes Vúltlein ftreuen und dabei 
lachen, lahen, von Grund auf laden können 
— nad langen grauen Jahren, in denen 
man (fid) immerdar friimmete und dennod) 
nicht zu liegen tam. Freiheit! Beide Arme 
jtrectte der Hochgraf in die Luft, als wollte 
er die liebe Freiheit umbaljen, und [Haute 
dann zärtlich feine Jagdtropháen an, Die er 
fid) alle felber ertámpft hatte. Den Zweis 
und3wanzigender da auf dem Feldhay und 
jenen Meijter Peg — hojoh, war das ein 
Tanz gewejen, drüben zwiſchen Düwelsberg 
und Rreughorjt! Gein linfes Bein trug nod) 
jebt die Narbe, und wäre nicht der wadere 
Petermann bagugelpringen, Weidwerf und 
Leben hätten damals (hr Ende gefunden. 
Das fede Jagen, nun fols wieder angehen, 
horridoh ... Wenn doch nicht immer fo ber 
alte Ahn in feiner wehen Melancholei ber: 
überäugen wollte! 

Grnüdjtert |d)nuppte der Frauenfteiner 
Landesvater nochmals den Docht der qual: 
menden Öllampe, um fid) nebenan ins Schlaf: 
zimmer zu begeben, als plóflid) ganz vehe- 


menter an die Tür gepocht wurde und ftrads, 


ehe er fid) nod) des unerwarteten Überfalls 
richtig bejonnen, ber Edele zu Übigow mit 
dem Schrei: „Verrat, Verrat, Euer Fürft: 
liche Gnaden!” ins Zimmer ftiirzte. 

„Was ijt? Fak Er fic bod)!" rief ber 
Hochgraf gebieterijd). Der Geheime Rat 
tam joldjer Order nur langjam nad, ballte 
vielmehr erft feine welfen Hände zweimal 
zu drohenden Fäuften und blidte fih voll 
impojantejter Verachtung nad) einem mar» 
Herten einde um, Endlich trat er aber 
unter zween tiefen Kraßfüßen, wie [td)'s ge: 
biibrte, an feinen Herrn heran, ber ihn Topf: 
Ichüttelnd mit ben fnurrigen Worten emp: 
fing: „Sch will zu Bett, Übigow. Was tras 
gieret Er mir denn in folder Stunde hier 
vor ?“ 

„Staatsaffären leiden feinen Aufjchub, 
gejtrenger Herr, aud) nicht um Mitternacht,“ 
begann das Männlein aufgeregt geftifulte- 
rend. ,Rabalen find hier am Werte, greu- 
liche Kabalen. Ich erhebe meine treue Stimme 


608 Julius Ruprecht 


unb warne Euer Gnaden. Ter fächfilche 
Gelanbte — Gott ftrafe ihn und fein flagi- 
tium! — fpinnet bie terribelften Ranfe; er 
bat mid) heute abend zum Eſſen invitieret, 
er bat mich ſchmählich bejteden wollen — 
mid — mid!” 

„Und?“ 

„Aus ars diplomatica ging id darauf 
cin, aber fam damit gänzlich in confusiones 
bes Bewiljens. Diejer Dagobert von Bröfel: 
wig, haha! Die Heirat Euer Gnaden will 
jeine Smpertineng bintertreiben, fogar mei: 
nen Einfluß auf Euer Graben [oll id) mif: 
brauchen, damit...“ Der Rat jappte nad) 
Luft und ballte wieder bie Fäufte. 

„Hör Er nun damit auf,“ befahl der 
Hodgraf im Donnerton, „und respondiere 
Er jego einjad) mit Prägnanz auf meine 
gragen, Ubidhow!” Die Handbewegung, bie 
diefe Worte begleitete, war |o Derrijd), bas 
Auge fo bli&enb, daß fid) ber flapperbürre 
Ulte in Erwartung einer großen, fürftlichen 
Handlung erjchüttert verneigte und beinahe 
wie ein Schulbub wartete, was fih er: 
eignen würde, „Alfo felbiger Bröſelwitz 
gedachte meinen Getreuen, den Geheimen 
Rat und Edlen zu fibigow, durch Geld zu 
laufen ?^ 

„Sp ift es — ich Idüumete im ftillen.” 

„Wie groß folte die Handjalben fein?” 

„Zwanzig blante Goldgulden.“ 

„gwanzig Gülden!” brüllte ber erzürnte 
$jodjgraf wie ein verwundeter Leu, „nur 
zwanzig lumpige Bülden? Das wagt biejer 
Sujon bod) aud) nur einem harmlojen Frauen: 
fteiner zu bieten! Hundert, zweihundert 
hätte dein beleidigter Stolz fordern müjjen, 
bu ſchwächlicher Leifetreter.” 

„Um Gott! Euer Fürftliche Gnaden fers 
zen aber jet wirflid) crudeliter mit einem 
in Treuen ergrauten Diener.“ 

In größtem Entjegen ftarrte der greife 
Beamte den Landesherrn an und bob wie 
beihwörend feine diirren, alten Hände; da 
verraudte der Ingrimm. 

„Nehm’ Er alfo ruhig das Geld, mein 
waderer, lieber Übichow,“ fuhr ber Hochgraf 
milde fort. „SHereingefallen ift babet Dod) 
nur biejer fade Kurjacdhje, nicht ich. — Aber 
nun bóret! Er muß dem Bröjelwigio nod) 
etwas fo von ungefähr ins Ohr raunen. 
Zum Dant, darf er ibm jagen, zum Dant 
für feine tingende Erfenntlichleit wolle man 
ibm etwas verraten.“ 

„Ars diplomatica?“ 

„Nur ars diplomatica, gewiß! Wlfo, Gr 
fagt ibm folgendes: Man wiffe ja von ge: 
nannten Affären nidts ganz Gewiſſes, ba 
nun einmal unjer Ölppen, bieles dide Schwein, 
mit Verlaub ...” 


von Loewenfeld: III IE Ic ZZ Ic Ze 


„Schwein? — Schwein? — Das verftieße 
aber bod) gegen bas Dekorum?“ 

Der Regierende fchmunzelte behäbig. „Ein 
bischen faftig ift bie Bofabel [bon — na 
ja — aber id finde, es Klingt jo herzhaft, 
jo glaubwürdig und aud) [o waſchecht. Dar: 
um nehme Er [ie nur ganz ruhig! Alſo ber 
Slppen, bieles dide Schwein, fage-Er dem 
Bröjelwig, bejäße nämlich einen dermaßen 
incrediblen, unbeilvollen Einfluß auf den 
Hochgrafen, daß es eigentlich, im Vertrauen, 
eine infamia zu nennen wäre.“ 

„Aber — aber — aber, liebfter Herre!“ 

„St bod) nur ars diplomatica, Abigow. 
Er wird bod) niht auf ben Kopf gefallen 
fein!“ 

„Berftehe, Euer Gnaden, verftehe in jeder 
Weiſe,“ verbeſſerte fih begeiftert ber alte 
Rat und Jebte eine möglichft teuflifche Viene 
auf. | 

„Aljo — man wiffe ja nicht — immerhin 
— es fidere eben bod) allerlei Durd und es 
Ihiene, ganz im Bertrauen gejagt, als ob 
von Stunde zu Stunde bas Liebäugeln mit 
dem verjchmigten Rurbrandenburger, dem 
Herrn von Alvensleben, im Wachſen begriffen 
jet. Vielleicht mag fic) dort irgendein ge: 
beimer Patt...” | 

„Geheimer Patt?” wiederholte fibigow 
ganz Auge und Shr. 

matt an|pinnen. Die Geldbörje fist 
jenem Alvensleben eben [oder — na ja — 
et caetera — hm bm.” 

„Hm bm. — Und?“ 

„Das ijt alles, Übigow.“ 

wud fo!” fam es etwas fleinlaut von den 
diirren Lippen, als hätte der Edle nod) eine 
Auflöfung des gefdeiten Nätjels erwartet. 
Dod) diefe blieb aus. 

„Bin id) aud) richtig verftanden worden?” 

„Aber völlig, geftrenger Herr.” 

Da ward der alte Rat mit wohlwollen» 
ber Güte und mit der Bemerkung, es [ei 
nun Schlafenszeit, in Gnaden entlaffen. Er 
ftand, das fpige Kinn ftiigend und voller 
Nachdenklichkeit, nod) einige Minuten lang 
auf der finftern Cdjfoptreppe. — 9, diefer 
erlaudjte Herr! Immer hatte er bisher ben 
derben, arglojen Weidmann herausgefehrt 
unb nun...? Ganz augen|deinlid) wollte 
er bod) den Schelm, den Brojelwik, aufs er» 
ſchröcklichſte prelen, unb Bröfelwig in feiner 
Torheit glaubte dabei nod, das einfältige 
yrauenftein am Bändel zu haben. 

„Nein, köſtlich — köſtlich!“ jubilierte das 
Mánnden; dann legte es fic) aber felber 
bedeutungsvoll die Hand auf den Mund. 
‚Schweigen, Übigow! Jenes hohe Vertrauen 
deines Herrn bewähren, Übigow!' Das Ver» 
gnügen, genießerijch in diejer blinden Fin: 


(ugo0g xv Bumwmmvs unas) 
UUDUAIQILZ xpi “Jorg, uoa sqyyudg) 'u3jivDuola1G us 





IHE LIBRARY 
OF THE 
URIVERSITY LF ILLINOIS 


LESESSECSSESECESEAN Das alte 


[ternis bie Hände aneinanderzureiben, gónnte 
er fid) allerdings unb ſchritt dann fürfichtig 
taftend die etwas glatten, ausgetretenen 
Stufen ber Schloßtreppe hinab. 

8 8 

Zwei Tage darauf meldete Jaköbke mit 
der ſelbſtverſtändlichſten Miene von der Welt 
ſeinem Hochgrafen, Kurſachſen habe in allen 
punctis den Handel, jo man ihm offerieret, 
angenommen und in jämtliche conditiones 
gemilliget. Es lieh bie ganze verlangte 
Summe gegen Berjchreibung der drei Do: 
mänen für den Todesfall bes Grafen Fried: 
rid. Sollte der hohe Herr aber wider Er: 
warten heiraten, war das Geld allerdings 
jofort in bar und nod) um ein Dritteil ver: 
mebret ¿uriidzuzablen. 

„Euer Fürftlicde Gnaden werden mit mir 
zufrieden fein!” fügte Ölppen fiegesgewiß 
hingu. 

„Certissime, Jatóbte, alles ift fürtrefflich 
geraten," erwiderte der Regent. „Bejonders 
Übigow Bat fih auch große Meriten erwor: 
ben. Ift bod) ein abgefeimter Schlauberger, 
diejer alte Tibigow!” 

Da machte der dide Junter ein jo ver: 
dubtes Schafsgejicht, daß fein Brotherr jid) 
ladjenb zur Ceite bog. 
8 8 88 

Ladte denn nicht bie ganze Welt in dulci 
jubilo? Das war ja ein Schweben und 
Weben um fie herum, hundertfaltig, taujend: 
fáltig — ber Holderbujch bliihte, und in den 
Bäumen jummte es, brummte es unaufbör: 
lid, als wenn die ganze Natura vom Leben 
trunfen worden fei. Drunten am Schilfe 
ftanden Gladiolen und Iris, bie einen gelb, 
andere tiefblau — davor aber vergoldete die 
Dotterblume den breiten Grasftreifen, daß 
man immer in die Hände flatjdjen mochte, 
jo luftig bunt war alles anzujchauen. 

„Nein, nein, es gejchieht dir nichts!“ 
jagte Elfe zu dem fleinen, graubraunen 
Riiffelfafer, der an ihrem bloßen Unterarm 
aufgeregt bin und her eiferte. „Du bift nur 
auf eine faljde Straßen geraten, weißt du.“ 
Damit blies fie ihn lachend ab, faltete die 
Hände im Maden und jchwippte gar über: 
mütig mit ihren Füßen nad) einer Tanz: 
melodei, die ihr eingefallen war: 

Und id hab” einen Shag 
Und id) geb’ ibn nicht ber, 
Meil die ganze große Welt 
Mir zu enge dann wär”. 


Wollt’ nicht effen dDanad), 

Wollt nicht trinten alsdann, 
Weil mein Leb'n und mein Lieb'n 
Sch nicht trennen mehr lann. 
Dod ih bab’ meinen Shag, 

Der fid) treu zu mir Halt, 

Und nun laht mir und fpringt 
Rings Die weite, weite Welt. — 


Belbagen A Klafings Monatshefte. 35. Jahrg. 19201921. 2. Bb. 


Geſchlecht 609 


„Ach, und der gute, gute, gute Ohm!“ 
ſagte das Mädchen plóblid) und brad) ab, 
weil ihr juft der Hochgraf in den Ginn fam. 
Gab’s denn einen Bejjern auf Erden als 
ihn, ber dem traurigen Badjtelgdhen einfach 
den Käfig aufgeriegelt hatte: ‚Flieg’ davon 
— für bein Nejtlein ift gejorgt — nun folft 
du luftig fein, nun follft bu aufleben!‘ — 
„Und jo will id) aud, ja fo will id) and!” 
Damit trállerte und fummte fie unaufhörlich 
in die blühende Welt hinaus, bis ihr wieder 
ein fröhliches Hohenfteiner Bolfslied ganz 
von felbft auf die Lippen fprang: 


Gudt niht bas Smmeletn 
Tief in die Blüt’ hinein, 
Holt fid) den Honig ein? 
Sobiahboh! 

Ach ift bte Welt bod) ſchön, 
Wd iit bas Leben jain! 
Muß mih im Tange drebn, 
Sobiahoh! 

Silbern die Welle blinkt, 
Filchlein im Majjer ipringt, 
Und die Frau Amſel fingt. 
SJobiabob. 

Wh unb ber Sonnenichein 
Ladht mir ins Herz hinein; 
Luftig fein — fröhlich fein! 
Jobiabob ? 


Eigentlich ging das Lied ja noch weiter, 
aber fie wußte die folgenden Strophen nicht 
mehr auswendig; jo mußte fie denn wieder 
jummen, bis bas Jobiabob fam — und end: 
lich tlang aud) ihr Gejumme aus, weil fih 
ibm die Gedanken in ben Meg ftellten. 

Cie Hatte bie (Epiftul gelejen, die Ohm 
Frig mit viel &opfaerbredjen gefdrieben, 
ſolche freundliche, jolche gütige Epiftul, die 
den miirrijden Herrn Pater beinahe ftreis 
helte. Eine Summa [tanb darin für Konrad 
und fie ausgelebt, ſchwindelhoch nad) Hohen: 
ſteinſchen Magen, dazu aud) nod, fo lieb im 
Schlußſätzelein verjtedt, ein rejpeftables 
Schmerzensgeld für den Herrn Bater, damit 
er feine erte Enttäujchung leichter über- 
wände. Sa ja, der Ohm! — — „Die 
Mannsleute find allejamt falid,” batte 
die Sufe, ihre Rinderfrau, immer verdreuß- 
lid) gebrummt, unb wenn eines ber Hohen: 
jteinjden Küfen dawider anpiepjen wollte, 
wurde das verbijjene, budlige Weiblein 
ganz gallegiftig. 

„Aber fie find’s bod) nicht, alte Gufe! 
Der Herr Vater nimmt nur das Leben zu 
jhwer, und mein Konrad ift ein gar herz: 
lieber Burjche, und ber Frauenfteiner Ohm 


WE für den tät’ ich durchs Feuer laufen, 


alte, dumme Guje!“ 

Dod ja! Eins wollte fie ihrem Konrad 
ans Herz legen, und der machte aud) ge: 
wißlich feine Einwände. alt traurig und 
40 


610 ESS==S+ Julius Rupreht von Loewenfeld: sees — 


webmiitig [Haute der Ohm barein, fobalb 
in ben legten zwei Tagen die Rede auf ihren 
Abſchied tam. Er ijt ja fo allein! Lauter 
trodene, betagte Hußelmännlein im geheimen 
Conjilio, dann der hochwürdige alte Herr 
Scloßprediger, fo bas Hohenfteiner Mädchen 
nur immer wortlos mit feinen Augen auf: 
gelpießt hatte. Dem jchrödlich gelehrten 
Hofdirurgus Moosmeier mußte man’s ins 
Obr jchreien, wenn er etwas verftehen jollte. 
Cab man etwa von Junter Jakob ab, bei 
Dellen Namen Elfe ihr Näschen etwas vers 
ddjtlid) fraus 30g, fo fehlte dem Ohm im 
Golofje ein junges Herz — dazu ein jun: 
ger Arm, der tapfer mit in die Arbeit griff. 
Konrad mußte ber, daß der Gute nicht fo 
einjam war! Dann wollten fie beide mit 
fleißigen Händen ein wenig von ihrer 
Dankesſchuld abtragen. Mis fie ibm er: 
rötend jolden Vorſchlag machte, Hatte der 
Oheim geládjeft. „Du but ein gutes Kind, 
GEljelein“ und war wieder viel frober ge: 
worden. 

„run lebt wohl, Berg und Gee und Tal!“ 
. rief das Mädchen von ihrer Gteinbant und 
warf eine Rubhand hinüber. Sie wollte fih 
jego zur Abreiſe fertig machen, bie nod) 
heute vonjtatten gehen [ollte. „Auf Wieder: 
jeben!” Damit ftieg fie trillernb den moofi- 
gen Meg hinauf, ber an einem ganz ver: 
\chilften, verfallenen Springbrunnen vorüber 
zur Terrajje führte, und der Jäger Mori 
Petermann, ihr |dmuder, Hummer Ver: 
ebrer, fprang dienftbeflifien herbei, um die 
¡were Schloßtüre zu öffnen. 

Der Hodbgraf ftand inbejjen am Fenfter 
des Cpeilelaals und erteilte feine Inftruc: 
tiones: , Aljo Schwenninger fährt bie Falben 
und nicht der Pörzke, diejer Tródelmeier. — 
Daß ferner die dide Lina und die Trine 
beim Einpaden helfen und fih etwas be: 
hender tummeln, anjonjt id) ihnen nod) in 
bódjteigener Perjon gejchwindere motiones 
beibringen werde! (Er, mein guter alter 
Kerle, und fein nichtsnußiger filius, ihr beide 
traget bie Bagagen zum Wagen und ver: 
jtauct fie ganz fürfichtiglich, Damit fein Sigill 
an irgendeiner Rifte aud) nur ben fleinjten 
Sprung erhält. Pro tertio! Debt jofort 
fertigt Rat Gterlatius ben Paß der gna: 
digen Gräfin aus, und fol an feinem poms 
pöjen Wort darin fehlen. Habt ihr alles 
veritanden ?^ 

Pförtner Klops, das verftándige body: 
gräfliche Grbfaftotum, verneigete fid) etwas 
edig; aber fein Aurelius, deffen Wusbiindig: 
feit an gewählter Feinheit das Elternpaar 
Klops augenſcheinlich [Mon bei der Jtamen: 
gebung vorausgeahnt hatte, verbeugte jid) 
iogar bond und mebrmalen. 


„Petermann esfortiert beritten bie gelbe 
Rutiben! Er, Aule, hodet neben dem 
Schwenninger und madjt mir da oben ge 
fálligit teine albernen Filimatenten! Alle 
Mannsbilder find gut bewaffnet. Frauen- 
zimmer hat das gnábige Fraulein allein. — 
Mer mir aber von euch Schwefelbande nicht 
wie aus dem (Ei gepellet bie Fahrt antritt, 
dem gerbe id) danad) mit meiner Reitgerten 
jeinen von beiliger Providenz hierzu bes 
ftimmten Körperteil. Verſtanden?“ 

Ja, fie batten es verftanden. Und ber 
Hodgraf ftand am Fenjter allein. Er [ab 
Elſe gerade die Terrajje herauftommen und 
ertappte fih plöglich dabei, wie er bem 
Madden beinahe verliebt nad)gndte. Pog © 
Kuud Donnerjau — da fie einpajfieret war, 
hatte er jid) fajt als ihr Bater gefühlet, und 
jego trieb er ſolche amorojen Pollen — ja 
phantajierte fogar nächtens im Traume den 
allerdümmijten Schnickſchnack? Cave dia- 
bolum! Du Haft ihr wohl zu tief in bie 
blauen Rinderaugen geblidt? Lächelnd und 
bod) jeufgenb wandte fih ber Regierende 
ab. — Na, cave diabolum! 

Aber ber arge Diabolus monftrierte bod) 
nod) feinen Pferdefuß, und das gejchah beim 
Abjchied, während Elfe mit bem Ohm allein 
im Zimmer war. Des Mägdleins Augen 
glänzten feucht vor innerer Rúbrung, und 
um den Mund zudte es. Ihr fiel in biejer 
Stunde wieder ein, mit weld) wehem Herzen, 
welch heimlichem Grauen fie jüngft Frauen: 
Hem entgegengezogen war, und wie uners 
wartet gütig dann an ihr gehandelt wurde. 
Aus tiefiter Seele danten wollte bas Mad: 
den und brachte bod) feinen Gab heraus. 

„Ab Ohm!” jagte fie nur jchludend und 
flog ihm an den Hals. Da er unverjehens 
ihre frijchen, roten Lippen fühlte, Die wo: 
gende, junge Bruft, ein paar goldene Här: 
lein, bie ihm aufreizend ins Gefidyt fpielten, 
tip er das blühende, holde Geſchöpf plöglich 
in wildem Taumel an fid) und füßte Lippen 
und Hals mit brennenbem Durft, daß fie 
wie betäubt in feinen Armen hing. End» 
lich ließ er fie Ios. Ihr war das Blut 
fiedend heiß in bie Schläfen geftiegen; mit 
großen, leidvollen Augen ftarrte bie (Er: 
Ihrodene ihn ſchier faffungslos an und 
flüfterte Dann nur, rajd) die Türe öffnend: 
„Aber Herr Ohm!“ Und dann nod) einmal: 
„Aber Herr Ohm!” Sprechen fonnte fie nicht 
mit ibm. Beide waren ja aud) nicht mehr 
allein. Halb wie im Traume ging fie die 
Stufen hinab. Um Gottes willen, was wollte 
er? Mas bedeutete bas? Mit einem Male 
jab fies, fühlte fies, wußte fies, daß ihr 
bieles liebe, alte Haus fortan für immer 
verichlojjen war. 


Kee esc) Das alte Gejhledt ISeesesesessssssd 611 


,"ergeibt mir dod, Nichte Elfe!” Seine 
Flüfterworte Hangen nur aus weiter, neb- 
liger Ferne herüber. Cie aber ging wie im 
Schwindel an dem neugierigen SHofgefinde 
vorüber, das fih als Staffage bes feier- 
lihen Abjchiedes auf der Treppe aufgebaut 
hatte, viele Alte mit trummen Rüden dars 
unter. Pörzke wijchte jid) noch gerad’ im 
legten Augenblide einen Tropfen von der 
Naje, ängitlich, dab bie Herrichaft es gewahrt 
haben fónnte. Weder ber Hochgraf nod) 
Elfe achteten darauf. Aule Klops wollte 
mit breitipuriger Grandezza die Türe auf: 
reißen, an der [Hon Petermann Honn, (Er 
trat bielem auf bie Zehen und wurde von 
ibm fajt im Schwunge vorwärtsgeftoßen, 
daß er wie ein fliegender Borbote am 
Wagenſchlag anlangte; aber Elje jah es 
gar nicht. — ‚Der Ohm, der Ohm!‘ mußte 
fie immer denfen und jdjlieBlid): ‚Der arme 
Ohm! 

Es war bas Triumvirat, bas bie Situa: 
tion rettete, bie drei Geheimen Räte Ster: 
latius, BeBmann und der Edele zu Übigom, 
Der hagere, überlebensgroße Sterlatius ftand 
ftilvoll mit einem Blumenftrauße in Der 
Mitten, jeitwärts als Anhängjel die beiden 
ausgetrodneten, Heinen Kollegen, und bie 
Rettung vollzog fih ganz fimpel, indem 
Gterlatius unbeirrt eine jehr lange Rede 
hielt. Bei jedem 9Ibja& räujperte er fic 
vernehmlid und ftad) dann aufs neue mit 
jeinem Dogierenden Zeigefinger auf die Shei- 
dende los, während Behmann jowie Ubigow 
ihm zwar ohne Morte, aber mit defto be: 
redterem Geftus und Mienenjpiel attompag- 
nierten, wobei der Edle immer eine Bewe- 
gung machte, als riffe er fid) fein armes, 
zappelndes Herz aus bem Bujen und würfe 
es huldigend dem Schönften aller Fräulein 
vor die Füße. Diindeftens ein Dugend Her: 
zen hatte er freigebig [Mon jo babingeopfert, 
da gewann Elfe von Hohenitein endlich ihre 
Faſſung zurüd. Gie lächelte fogar wieder 
ein wenig und gab den drei alten Geheimen 
eine tráftige, tapfere Abjchiedshand; nur 
Jatóbte wurde zu feinem Letdwejen mit 
ganz flüchtigem Kopfniden abgejpeift, —- 
Schließlich fam aud) nod) Ehrn Piftorius 
heran. 

„Behaltet mid) in gutem Andenken, Hoch» 
würden!” jagte das Fräulein etwas ge: 
¿wungen, als die traurigen Augen des Geijt- 
lichen fie trafen. 

„And unfer armes $yrauenjtein ?" fragte 
feine ruhige Stimme leije. (Cie hörte es 
und errótete, ber Hochgraf hörte es auch 
und big fih auf bie Unterlippe. Auf feinen 
Wink wollte Peter Schwenninger [Hon bie 
Roffe antreiben, als die Hohenfteinerin fih 


nobmals aus dem Wagenjdlage heraus: 
beugte und durch eine zaghafte, unfidere 
Handbewegung ihren Ohm näher heranbat. 
Diejer trat eilig vor in der Hoffnung, nod 
ein verzeihendes Wörtlein für feine finnloje 
Torheit vorhin zu empfangen, derhalben er 
(id am liebjten mit Fäuften ins Geficdt ge: 
hauen hätte. Ein furges Weilchen ftodte 
Elfes Stimme — dann flüfterte fie ibm [tant 
melnd und bebenb ins Ohr: „Ihr tut mir 
ja jo leid, herzliebjter Herr Ohm, aber der 
Konrad — niht wahr — wir beide, meine 
id, Tonnen nun niemals, niemals mehr nad) 
Srauenftein tommen.” 

Darauf zogen die Falben an, Moritz 
Petermann ritt vorweg, und unter ben web: 
mütigen Klängen etlicher Jagdhórner fuhr 
die junge Gräfin von Hobenjtein zum Schloß: 
tor hinaus. Hofdirurgus Moosmeier aber, 
Dellen Zerjtreutheit heute wie met zu jpät 
heranfeuchte, mate draußen auf dem Anger 
vor bem gelben Retjewagen feine aller: 
devotefte Reverenz, bie niemand außer dem 
höflich wiedergrüßenden Aurelius Klops auf 
dem Bode zu würdigen verftand. Es währte 
nicht lange, fo Hatte das Gefährt aud die 
entjeglichen SHolpergäßlein des Bergftábt: 
dens Hinter jid) gelafjen. An zijchenden 
Gánjen und wie bejejjen Häffenden Rótern 
war es vorübergegangen. Nun rudelte man 
auf ber ausgefahrenen Handelsftraße zur 
Paßhöhe hinauf, und das Grafenfinb Jandte 
bem Feldhay nod) einen tränenvollen Blick zu. 

Bor bem Schloſſe aber hatte fid) bie Ge: 
jeljchaft bald getrennt; zulegt ftanden nur 
noch der auf die Torfahrt ftarrende Hoch: 
graf und Ehren Piftorius beijammen. Alls 
aud) der Beijtliche fid) mit Höflicher Werbeu: 
gung entfernen wollte, wachte der Landes: 
herr aus feinem finftern Brüten auf und 
blidte den Scloßpfarrer feindjelig an. 
„Wahrlich, Euer Reijefegen für meine Hohen: 
jteiner Nichte war ja der reinjte 3uderfudjen, 
Ebrwiirdiger! Wehe, wer einmal eines 
Pfatfen Gunft verjcherzt bat! Er fann das 
Mirafel gewabren, wie |djnell fic) bas Lámm- 
lein zum Wolfe verwandelt.“ Der alte Herr 
jab bem Ergrimmten nur ftumm ins Belicht, 
blieb aber in der Erwartung ftehen, dies 
würde nicht das lebte Wort fein. Er wollte 
nicht unj|djdlid) abbreden. „Kann denn 
etwa bie Elje dafür, daß fie Konrad von 
Baalen liebte und nicht mid? Nun, da ich 
ihr Glüd jae, werfet Ihr als böjer Feind 
Euer Unfraut zwijchen den Weizen. — War 
dazumalen ein irrjinniger, entlaufener Mönd) 
drüben im Sädhlilchen, fo auf den Friedhöfen 
immer den Abgeſchiedenen geprediget hat. 
Refommandiere ihm dies exemplum, $Bijto- 
rius, zu geneigter Erwägung, Ddieweil ja 

40 * 


619 Julius Rupreht von Loewenjeld: seiss AA] 


aud) Ihm die Toten mehr denn die Leben: 
digen gelten.“ 

Noch immer ſchwieg in ebrerbietigiter Hal: 
tung der Hofprediger und richtete feine fra: 
genden Augen auf den Hodgrafen. Diejer 
redte jid) in feiner ganzen Bröße auf. „Ich 
jage Ihm aber, daß ich regiere, nur ich, Ehrn 
Piftorius, und id) zum dritten Viale. Mir 
haben in Frauenftein feine Zwilchenjpreche: 
reien nötig. Wer jid) meine Gunft fonjer- 
vieren will, der halte fih dana!“ 

„Sp Euer Fiirftlihe Gnaden Das eigene 
Gewijfen die Abjolution erteilt, wer bin id), 
daß ich mich dann noch unterfinge, Euch zu 
richten ober zu widerſprechen?“ erjdoll jest 
des Pfarrers fefte Antwort. „Aber mid) 
hat mein Heiland als Diener am Worte an 
Ehrlichkeit verpflichtet, hoher Herr, und id) 
fann nod) nicht an biejen Freiſpruch Eures 
Bewiljens glauben.“ 

„Dann laßt es in Dreiteufels Namen 
bleiben!“ beendete der Hochgraf das Ge- 
ſpräch, ohne feinen Schloßprediger weiter zu 
grüßen oder auch nur anzujchauen. 

BS 88 

„Du mußt dich aber etwas mehr wajben, 
Jórge, bas ift ja für die &a&'!^ fagte bie 
Ehefrau Marie Klops zu ihrem Gatten, der 
(id) mit einem ſymboliſch flüchtigen Ein: 
tauchen der Fingerjpigen und Benegen von 
Stirn, Nafe und Wange an dem großen 
Bottid) vorbeidrüden wollte, 

„Wart es bod) ab, dummes Weibsbild 
— dies war ja nur der Anfang, und übrigens 
iit [fon am nächſten Samstag mein großer 
Badetag!” fam grungend Klopjens Erwide- 
rung. Wher bie aufmertijame Wächterin fei- 
ner Morgenwájde war wenig von ihr be: 
friedigt. „Dt noch drei Tage bin, mein 
Jórge. Dort am Halje — ba — nein, da 
— bier — du but ja nod) ganz braun dort! 
Mart”, id) will dir mal ein bihen helfen!“ 

Ihre tráftigen Hände, die bis dahin in 
die breiten Hüften geftemmt waren, nahmen 
ihm jeBt entjchlojjen ben groben Lappen aus 
den Fingern, und dann begann ein Schrub- 
ben und Rubbeln am Halje, Raden, Rüden, 
bis jeine Haut trebsrot geworden war, wäh- 
rend er des Gleichgewichts wegen fnurrig 
nad) ben Sjenfeln des Bottichs griff und fih 
darauf ftügte. „Satis — satis — genug, 
heißt bas auf deutih! Genug!” protejtierte 
er. „Wie hat auch nur unjer lieber Herrgott 
dazumal euh Weibjen erjchaffen können, 
davon aller Jammer auf Erden herrühret?“ 

„sch bin an Undanf gewöhnt, lieber Jórge. 
— Go, jebt gebt's aber dabinten!” 

Der Piórtner Klops griff mit rafender 
Schnelligkeit nad) bem Handtuch und fchlupfte 
dann falt ebenjo behende in fein Hemd, da- 


— a K — — — = —— 


mit Mariechen nicht etwa gar auf den teuf- 
liihen Plan verfiel, aud) nod die Vorder: 
leite des Oberförpers vorzunehmen. (Grit 
als diefe bringenb[té Gefahr befeitigt war, 
ließ er fid) zu dem übrigen Anziehen wieder 
gemächlich Zeit. 

„Bib mir die Jade vom Gchemel ber, 
Kind! — So. Sd) bin heiß geworden. Mein 
ganzer Rüden brennet.“ 

„Laß ibn brennen, Jorge, und iB jest 
Deine Morgenjuppe! VergiB auch nicht das 
Gebet vorher!“ 

„Belt und faure Bohnen! Gtedt mir denn 
nod als einem Rlippfdiiler der Hemden: 
aipfel zur Hojentlappen heraus?“ begehrte er 
auf und rungelte bie Stirne, worauf fein 
entjchlojjenes, aber gutmiitiges Eheweib doch 
einlentte: „Nun, nun, Syórgedjen! — Dein 
Suppen wird ja fonft falt, und ich hab’ fie 
bir heut morgen bejonbers [ón angeriibrt. 
Komm nur!” 

„Schlechte Zeiten — ſchlechte Zeiten!” 
brummte er und löffelte dann drauf los, 
während ſie ihm mit ihrem Spinnrocken Ge— 
ſellſchaft leiſtete. 

„Aber warum denn ſchlechte Zeiten, Jörge? 
Unſer gnädiger Herr gibt doch überall mit 
vollen Händen, und ich habe dir ſogar ehe— 
geſtern das ſchöne, warme Wams kaufen 
können, ohne erſt beim Schneider Borg zu 
nehmen.“ 

„Nein, nein, ſchlechte Zeiten. Was ver— 
ſtehſt du davon?“ 

„Frage mal die Frauenſteiner Krämer — 
ſie loben Hochgraf Fritz bis in den Himmel 
hinein — oder frage mal unſer Hofgeſind'!“ 

Er ſtocherte ſich im Gebiſſe herum, ſog 
pfeifend die Luft durch eine große Lücke am 
Eckzahn und ſetzte dann ruhig das Geſpräch 
fort: „Sind doch ſchlechte Zeiten, Mariechen. 
Wünſchte, daß die ſelige Hochgräfin-Witwe 
noch das Heft in Händen hätte, wo ein jeg— 
licher wußte, woran er war. Das lebt und 
praßt heuer in den Tag hinein, ohn’ Über- 
legen! — Dod ftill, was fol man folde 
Dinge mit einem Weibsbild bereden!“ 

Gie ftiigte ihre beiden Ellbogen auf den 
Tiih und legte bas Kinn auf bie roten Ar: 
beitshánde. „Deborah war aud ein Weib 
unb item die Brophetin Hulda in bem 5. Bud 
Moje, und unjere jelige Hochgräfin Sophie 
— na, wie ftebt's denn mit der?“ 

„Wie’s mit der ftebt, Mariehen? Mauſe— 
tot ijt fie leider. Geitdem wurde um ein 
$infengeridjte unjere gute, alte Grafihaft 
verhandelt, und Junter Ölppen, Die dice 
Tonne, fraht nad) Wein, wo er geht und 
Debt. daß ich nur immer fo fpringen tann. 
Wenn bas die Alte nod) erlebt hatte!“ 

„Ach was, Jórge, bie hat ja den Hiih: 


Doeeeeeeseeesees Das alte Geldiedt 613 


nern nicht mal Die Handvoll Gerfte ge: 
gönnt! Das ging ja gar niht jo weiter. 
Nein, unjer gnädiger Herr gefällt mir recht 
gut, lebet luftig, aber läjjet auch andere 
leben. Aurelius meint dasjelbe.“ 

Er war aufgeftanden und jab, bie Hände 
in den SHojentaígen, zu ihr hinunter. 
„Schnadt der Aule aud) wieder mal Hug?“ 

„Er heißt Aurelius!” verbefjerte [ie nad- 
drüdlichit. 

"Ja ja, wir wollten einen ganz gejcheiten 
Jungen haben, dahero benamjeten wir ihn 
Aurelius, und ift nun dod nichts denn ein 
fauler, dummodreilter Aule Daraus ge: 
worden.“ 

„Der fein Zeug aber beffer als bu in Ord- 
nung hält!“ 

„Das einzige, was Mule fann,” jchnitt er 
thr einfach das Wort ab. „Den Faulenger 
jolteft du jeden Morgen fiebenmal bei eis: 
faltem 3Bajjer in den 3Bottid) ftubjen, damit 
fein Verftand und Gewijjen aufwachen tun. 
Xd) gehe jebt, Mariechen.“ 

„Du Rabenvater!” fhalt fie erboft Hinter 
ibm drein, als der Pförtner |djon bie Türe 
auftlintte, — — — Richtig. — — Co man 
diabolum an die Wand malet, ftehet er aud) 
(don Ieibhaftig vor einem. Da ijt ber Mule 
im Hofe, ftieblt bem lieben Herrgott den 
Tag und ſchnackt voller Wichtigtuerei mit bem 
Ihläfrigen Pórzte, der natürlich wieder fet: 
nen Tropfen an der Naje figen hat; die dide 
Lina ijt aud) dabei, und fie [teden die Köpfe 
aulammen, als ob’s in Frauenſtein über: 
haupt feine wichtigere Arbeit für fie gäbe. 

„Aule! Heh, Mule!” jchrie ber Pförtner 
über den Schloßhof und fuchtelte dann 
dräuend auf feinen Sprößling los, der beim 
erften Anruf timide hinter dem diden Lam: 
mermädchen Dedung gejucht hatte. „Ift bas 
etwa euer Arbeiten, ihr Faulpelze, infamigte ? 
Wart’, ich lehr’ euch mores!" 

Rina war bie einzige bes Kleeblattes, 
die fih nicht im geringjten erjchüttern Dep, 
jondern fid) feelenrubig an ben Kampfberei- 
ten wandte: „Hört bod), Pförtner! Es fol 
allernddjtens ein Feſt gegeben werden, hat 
ber Bnädige eben gejagt, ein großes Felt, 
daß auch bie ältejten Baume darob wadeln 
miijjen. — Ihr glaubt’s nit? Geht nur 
hinauf; der Herr wartet [Hon auf Euch im 
Gpeijejaale und wirds Gud) erklären.“ 

Linas ruhige Stimme und nod) mehr bas, 
was fie mitgeteilt hatte, lenfte fofort die 
(Bebanfen von Klops senior ab. „Was? 
Auf ift er fon? Geftern hat er aber nod) 
um Mitternacht nad) mir gejchellt.“ 

„Der gnädige Herr bat gar nicht gut ge: 
ſchlafen,“ mengte fid) nun aud) Aule ins 
Gejprád). 


„Trinkt zwei ganze Maß von bem Schwe— 
ren und ſchläft trogdem nicht?“ raunte 
Piórtner Klops verwundert im Abgehen, 
und Pórzte pflichtete Fopfichüttelnd bei: „Es 
if was nicht richtig — wenn die Jelige Hoch: 
gráfin ... na, id) fage man immer, jchlecht, 
ſchlecht!“ 

„Wißt ihr was,“ teilte jetzt Aurelius un— 
ter dem Siegel des Geheimniſſes den beiden 
mit, als ber geſtrenge Bater durch die Schloß: 
tür wieder ver|d)munben war, „der Hodgraf 
Erich mit den großen Rulleraugen hängt 
droben auch nicht mehr im Arbeitszimmer. 
Sch und Bater und der Gnädige, alfo wir 
haben ihn geftern abend zujammen abge: 
nommen unb dann in bie Bücherei gejtellt. 
Wu, war bas |djwer, tann ich euch jagen!" 

„Das [Haurige, [chine Bild? Mich ſchluk— 
ferte immer, wenn ich’s anjab." 

„Sa, ein jehr ſchönes Bild, Lina! Du haft 
redjt, ein Meijterpinxit, als mir ber ge: 
heime Rat Begmann neulich unter vier Augen 
beftätiget hat! ‚Aurelius,‘ fagte er, ‚lieber 
Aurelius, diejes Pinxit bat jehr viel auf jid). 
Es ift alt und jchön.‘ Wher unfer Gnadiger 
hat es trogdem nicht mehr ertragen Tonnen." 

„Wenn bie felige Hochgräfin nod) lebte — 
na ja — und das Malwerf hat bisher bod) 
immer dort ... Es ijt was nicht richtig, 
glaubet mir," ertlárte Pórzte und jah nad): 
dentlid dem Trópflein nad, bas enblid) 
jeinen Sprung auf Die Erde gewagt hatte. 

88 88 


8 

Die dide Lina hatte ſich nichts aus ben 
Fingern geflogen. Es ſchilpten ja die frehen 
Spaten [Hon von ben Schindeldächern; der 
Storch betlapperte bejagtes Ereignis mit 
feiner außer fih geratenden Gattin und 
brachte nur durch den Hinweis: „Beherrjche 
dich — es könnte den Eiern jdjaben!" die 
Briitende zur Rube. Überhaupt ganz Frauen: 
Hein war aus ben Fugen, bieles ehrjame 
und jonft jo ans GleidjmaB der Tage ge: 
wöhnete Frauenftein, und alle Menſchheit 
(ob feminini, ob masculini generis, blicb 
völlig aequabel dabei) begrüßte jid) mit ben 
Fragen: „Nachbar, was bült[t bu von be: 
meldetem Voltsfefte?” oder: „Wann fols 
denn endlich losgehen?” — „Nein, fo was!“ 
Mit diefer Außerung traf Balbier Fingzel 
ben allgemeinen affectus auf den Kopf. 

Nicht lange, und bas Frauengimmer fra: 
mete feine beiten Kleider hervor, fand fie 
zwar leider nicht mehr jo farbenpradtig 
und ſchön, als ber Get fie im Nimbus der 
Träume gejeben, jeufzete anert vernehmlich, 
neftelte dann, nähte, modelte, jtidte und war 
nach einigem jrijd)en Aufpußge doch wieder 
rübrenb in feine ausgeblichene Fejtgewan: 
bung verliebt. „Es fieht igt als wie neu 


614 ESSSSescc9 Julius Rupreht von Loewenfeld: 


aus, und fo man das verjchojjene Blaue der 
armen Gevatterin vergleiht — nun, man 
will ja nicht ungart jein, aber...” 

Bis dato waren bie Amtsjtunden Des 
Geheimen Confilii faft ein wenig heilig 
gleich Dem Gottesdienfte gewejen, wie es fih 
ihon bei Beginn durch bas ehrfurdhtsvolle 
Aufitehen der Kanzlei und jenes folenne Ab» 
winten des hohen Rats beim Eintritt dofu- 
mentierete, Aber jego flinfte Sterlatius un: 
angemeldet bald des Edelen, bald Beßmanns 
Türe auf, um ihnen mitten in der Arbeits- 
zeit feine neuefte Feftode, bas Produkt wild: 
durdwálzter Nächte, vorzulejen, wobei Übi— 
gow begeijtert applaudierte, der andere, je 
öfter, je mehr, Korrekturen por|dj[ug, bie 
der Autor aber prinzipiell nur als neidijde 
Violeftien veradtete. Kienruß, [chwarzen, 
guten Rienrug befam probebalber ein wage: 
mutiger Jägerburjche ins Geficht und damit 
die erjte, und zwar durchaus ungünftige Sm: 
prejfion afrifanijden Mohrentums. Überall 
— das Felt! Unfer Felt! 

Eine fürftlide Augenblidslaune hatte 
diejen Rummel hervorgerufen — Der Ge: 
dante, mit jo[djem Projekte bie neue Frauen 
fteiner Ara zu inaugurieren, Ebrn Pijtorio 
zum Trog, deffen Worte fo böje Widerhafen 
bejafert. 

Dem Hodgrafen Friedrich war freilich bas 
Ganze [bon wieder verleidet worden. Er 
überließ daher Jatóbte die Führung und 
flüchtete für etliche Tage mit feinem Jäger 
Petermann nebjt Huſſo und 3Brajfo, den beiden 
Rüden, in die Berge, um dem gräßlichen 
Borbercitungsjpeftatel zu entgehen. Der 
Wald war ftill, und die Munthe, die mit 
teden Sprüngen und Wirbeln von der Beier: 
tuppe zu Tal Düpfte und dann fo fonder- 
bar träge durd)s Moor und ben Ichwarzen 
Bielteich weiter ſchlich, Focht bas Felt nicht an. 

„Die Menjchen find heuer wieder einmal 
verriidt, Worth,” erflärte ber Hodaraf, als 
jie guerft wieder des Waldes feierliche Ruhe 
einatmeten. 

„Das fit im Ropfe, Euer Gnaden,” war 
Petermanns philoſophiſche Antwort. 

„Selbitverjtändlih! So es zuerft in ben 
Beinen rappelte, wäre es vielleicht poſſier— 
licher anzujchauen als diejer Srrjinn da.“ 

Der Jäger jah feinem mißmutigen Herrn 
jtumm ins Belicht. ‚Und wer hat diejen ganzen 
Quart angerührt?‘ fragten feine Augen. 

Schon der erfte Abend fand den Landes: 
herren auf dem Anſtand. Dak er nicht irgend- 
welcher Kreatur zu Leibe gehen, fondern nur 
einmal die jtille, ernfte Einfamteit der Berge 
wieder erleben wollte, verjchwieg er feinen: 
Getrenen. So wartete Petermann mit Hujjo 
und Braſſo, daß ein Pfiff ihn herbeirief ober 


ein Schuß ericholl, aber es regte fih gar nichts. 
Auf einem Baumftamm jak bewegungslos 
bie mächtige Gejtalt bes Hodgrafen; man 
fonnte ihn gut dort erfennen. Petermann 
ihlüpfte wieder beruhigt ins Gebiijd und 
faute an feinem Grasjtengel weiter. 

Der Wald ging jchlafen. Über bie blan: 
grauen Mtauern ber Moltenburg ſchimmerten 
die Gtrablen bes riefigen Sonnenwagens, 
während feine wilden Roffe abgejchirrt wur: 
den. Aber als bie ungeduldigen Renner end: 
lich an ihren güldenen Krippen ftanden, rollte 
aud) das jchwere Gefährt langjam unter Dad). 
Noch immer gleiBte es, nod) immer funfelte 
es, bis endlich die wuchtigen Erztüren hinter 
ibm ins Shlok fielen — ba fam die Naht. 
Der Mond ließ feine weißen Belter über bie 
Geierfuppe hinwegtraben; weiche Silberlichter 
jpielten jebt um bie Mipfel aller Bergtópfe 
ringsum; [till und geheimnisvoll ¿og bas 
leuchtende, leichte Gejpann über bie weite, 
weite Himmelswieje. Nur als es bem Biel: 
teih gegenüber war, hielt ber Lenter ein Weil- 
den an und jab neugierig in bas jchwarze, 
moorige Majjer, um fein eigen Spiegelbild 
zu erjdauen. Dann fuhr er langjam und 
mit wortlojem Grüßen an Stern um Stern 
vorbei. 

Der Wald ging jchlafen. Was jest burd) 
feine die und feine Wipfel müde dahin- 
raujdte, war nur nod) Sprechen und Flültern 
im Traume. Darum ftand ber einjame Weid- 
mann, ber bisher regungslos dem Abend: 
weben und Dämmerreigen der Natur zuge: 
idaut Hatte, plößli auf — feine Gejtalt 
wuchs ganz unerwartet von dem Baumftumpf 
empor. Alsbald unterbrad) Reinefe Fuchs 
fein zottelndes Schlendern, hob die €aujdjer 
und mabte fic dann im ralcheiten Laufe 
davon. Wud) bie junge Ride am Waldes: 
rande Jchredte und flüchtete in das Bruch» 
dicicht zurück, daß man den Spiegel noch 
ein paarmal aufleuchten jab. 

nBetermann, wo ijt Er denn?“ 

Knadend und fnidenb arbeitete fih der 
Gerufene miibjelig durchs Gebüjd), von Hufjo 
und Brajjo falt umgertijen, und meldete fih 
bei dem Hochgrafen, Dellen Fräftiger Körper 
fid jebt, falt gejpenftifch groß anzujchauen, 
[harf vom fablen Himmel auf ber Bergwiele 
abhob. Der erfte neblige Nachtbrodem wob 
ibm um die Waden. Den Atem hielt der 
Wald an; denn wie ein Mejjer hatte jener 
herriſche Ruf die Abendjtille durchichnitten 
und ibn jáblings gewedt. — Welch fremdes, 
Unheimliches redte fid) da in feiner verlorenen 
Einjamteit auf? Wh, der große Verbrecher 
— unfer Feind — Der Menih! — — Als 
aber beide Jäger ftumm ihren weiten, miib: 
jeligen Wurzelweg zum jumpfigen Diuntbel: 


eeh Das alte Bejhledt ESS3SS33333331 615 


tale binabfletterten, nidte ber Hochwald bod) 
allmählich wieder ein, unb weiche Mondes: 
ftrablen jchmeichelten woblig um bie Wipfel, 
daß lächelnde Bilder durch feine Träume zogen. 

Der Nebel wuchs. Se tiefer man ins Tal 
fam, bejto mehr fröftelte einem unter feinen 
feuchtlalten Händen, defto mehr verſchleierte er 
Baum und Strand. Aus dem weißen Meere 
wintten verjchwimmend gejpenftijche (Ge: 
ftalten, und der Mond [djimmerte nur nod) 
ganz matt durch bie wogenden Diinfte. Nichts 
war von den Sternen zu leben, Des Munthe— 
moores Hexen fodten und brauten ohne 
Raft und ohne Rub, und höher und höher 
wuchs der Nebel; aud) der Viond verjdwand 
Ichließlich. Die geifterhafte Stille umber aber 
madte alles nur umjo unheimlicher. 

„Es ijt noch über eine Stunde Wegs bis 
gu unjerem SJagdhauje, gejtrenger Herr, und 
der Pfad führt diht am Munthemoor ent: 
lang!” wagte der Jäger feinen jchweigjamen 
Grafen anzureden. 

„Blaubt Er, daß wir uns vielleicht ver: 
irren. fónnten, Moriß? 

„alt fürchte ich fo, denn bie Sicht ijt übel. 
Aber bis zum Munthemüller wären es nur 
einige Minuten, Euer Gnaden.” 

Der Hochgraf überlegte. Die Mühle lag 
greulid) einjam, und ihr Wohnhaus deuchte 
ihm recht pauvre und eng zu fein. Nur das 
bellgriine Moos auf bem Dahe wucherte in 
üppiger Fille, weil ber Talgrund fonnenlos 
blieb. Berlodend war's gewißlich nicht, beim 
Diunthemüller Obdad) zu requirteren — aber 
die andere Ausficht? Dan geriet wahrjchein: 
lid) ins ſchwankende, jchwarze Moor, bas 
[eine Beute nie mehr herausgab. Ein elendes 
Los, hilflos gwijden den jeidenweichen, 
weißen Flodenblumen eingujinfen, von tangen: 
den Srrlidtern jdjabenfrob umbiipft — ver: 
irrt, verloren — Dann ein paar ſchmutzige 
Bläschen — geltorben, verdorben. 

„Hier zweigt Der Pfad zur Munthemühle 
ab, Euer Gnaden.” 

Ohne ein Wort zu erwidern, [lug Hod: 
graf Friedrich den neuen Weg ein, blieb aber 
dann wieder ftehn und laujdjte. Seijere, 
bellende Laute [follen ibm von fern ins Ohr. 
„Wölfe!“ 

„Werden drüben am Frauenftein ein Kig 
beben,” feuchte Petermann, der feine jaulen: 
ben und fiepjenden Róter taum nod) am Strid 
zurücdhalten fonnte. Nur wenige Schritte, 
und zum Greifen lag bie ärmliche Mühle 
vor ihnen. 

Ein altes, verfriimmtes Weib hantierte 
in der Küche, als fie eintraten, ohne fih um 
bie Antómmiinge zu fiimmern; es hatte einen 
Icheelen, häßlichen Blid und mummelte an: 
dauernd mit feinen zahnloſen Kiefern, während 


vom offenen Herde der beifende Raud in 
den Raum qualmte. 

„Wo ift der Müller ?" fragte ber Hodgraf. 

Gie flapperte und Elirrte gleichgültig weiter, 
ohne Rede zu ftehen, bis Petermann ihre 
Schultern padte und fie anbrüllte: „Wo der 
Müller ijt, alte Hexe?“ 

„Er tommt bald.“ 

Hochgraf Friedrih rahm jchweigend auf 
ber Bant an der Wand Plag, und fein Jäger 
band $jujjo und Braſſo an dem Bettpfoften 
feit, daß fie halb in ber Schlaffammer, halb 
in der Küche lagen; dabei verfolgte vom 
Schranfe aus eine große, weiße Rabe mit 
ihren grünen, funfelnden Augen jede feiner 
Bewegungen. 

„Das nennet man Behaglichkeit. Fak’ Er 
ih, Mori!” lahte ber €anbesberr, als ber 
bejorgte Begleiter fih noch immer nicht mit 
diejem zweifelhaften Empfange zufrieden: 
geben mochte. Grad’ im jelbigen Augenblid 
trat die junge Müllerin, ihren Säugling auf 
dem Arme, über bie Echwelle, ein großes, 
etwas nad) vorn geneigtes Weib. Gie trug 
(done, jchwarze Haarfledten ums Haupt ge- 
wunden, und aus dem jchmalen, weißen Ge: 
ficht mit den zart geröteten Wangen ſchauten 
zwei dicht überwimperte, große, fragende 
Augen eine Werle die unerwarteten Bejucher 
an. Darauf grüßte fie mit leichtem, freund- 
lihem Kopfniden und legte ihr Rind in ben 
ürmlidjen Betttorb, ber am Gtrid in Der 
Ede hing. Nod war fein Wort gelprodjen 
worden, aber bie Blide ber Müllerin mutter, 
ten ohne jede Verlegenbeit ihre beiden Bälte 
weiter, während fie hüftelnd Tijd unb Banke 
jauber wijdte. 

„Du bijt bod) unfer Herr Hodgraf?” fam 
es endlich von ihren Lippen. 

„Ja, ber bin ih, Müllerin! Uud Sie wird 
Ihrem Landesherrn in diejer nebligen Nacht 
ihon ein Lager bereiten tónnen, den? ich.“ 

,Gewig, Herr. Mir danken bir recht, dah 
du bei uns armen Leuten eingetebrt but. 
Nimm nun bitte aud) fonder Mtafelet mit 
dem Unjeren vorlieb! In ber Munthemübhle 
wird ein härterer Kampf ums tägliche Brot 
gefampft, als wohl fold) fürftlicher Herr fid) 
vorjtellen fann, Sd) rede ganz offen.“ 

Gie buftete heftiger, nidte aber dann ihrem 
Landesvater febr berzlih zu. Wie ruhig 
dies Weib aus dem Wolfe jpradj! Liber: 
raſcht [haute [ie ber Hochgraf an und ftimmte 
ihr zu Petermanns größter Berwunderung 
bei, ohne irgendDwelde Ginrebe zu machen. 
Der Jäger fand es piel ungiemlicher als er, 
daß bie jchlichte Müllerin einen hodgeborenen 
Mann jo fiihn zu ermahnen wagte. Uber 
heimlich ftaunte Dod) aud) Morig. Das 
Weib war jo jdjón — jo herzlich — jo trant! 


616 Fesesssccsa Julius Rupreht von Loewenfeld: REZAR RRR 


In bem verräucherten Raume quälte fid 
immer wieder ber Huften aus ihrer zujammen: 
gejuntenen Bruft. Wenn er jedoch über: 
wunden war, dann gewann Die milde, vers 
Härte Ruhe bald auf dem Belichte die Herr: 
Ihaft zurüd. 

„Sie ijt wohl leidend, Rind? Syd) werde 
Shr meinen Leibargt zujchiden,“ fagte ber 
Hodgraf voll väterlichen Mitgefühls. Aber 
da jchüttelte bie Krante nur webmiitig den 
Kopf. 

„Ach, wo es bei mir [bon [o weit ijt! 
Meine gute Mutter ijf aud) an der Aus: 
gehrung geftorben, ehe denn fie dreißig Jabre 
geworden.“ 

„Kun, nun,” entgegnete er beflommen, ,[tebt 
unjer Stündlein niht in Gottes Händen? 
Mer dürfte ibm da praescriptiones maden 
wollen?” Beinahe etwas beluftigt lächelte 
jie zurüd, als der Zandesherr ihr vorpredigen 
wollte, aber fie antwortete nichts, fondern 
itieB über dem Herde eine Lute auf, zum 
Abzug des Rauds, und wintte ber alten 
Schhwieger zu, nun die weitere Kocherei ihr 
zu überlafjen. Die Hexe febte jid) darauf 
willig auf einen Sheme! und mablte dort 
ftumpf mit ihren Kinnbaden fort, bie rung: 
lichen Hände abwartend im Shoke gefaltet. 
Der Qualm, der Qualm! Ein Weilchen 
hielt jid) die Müllerin wie |djminblig am 
Fenfterbrette und hujtete, daß es einen Stein 
erbarmen fonnte. Der Gaugling fing Ietje 
zu wimmern an. Gofort gab fie bem Korbe 
einen janjten Stoß, daß er jadjt bin und 
ber jdjaufelte, und machte fih mit miiden, 
ſchweren Bewegungen ans Wert, um das zu 
vollenden, was die Alte ihr abgetreten hatte. 

„Sie ift trant,” mummelte diefe gleichjam 
entjchuldigend, als Petermann den Kopf 
Ichüttelte. 

„Bum Teufel, jo hilf ihr doch, ftatt hier 
Maulaffen feilgubalten!" ſchrie der Jäger, 
über diejen gleichgültigen Stumpffinn erboft. 
„3% tann ihr ja bei eurem Kram nichts ab: 
nehmen.” 

„Sa, fie ijt front, Herr!“ wiederholte das 
taube Weib feixend, ohne feine Worte zu 
verftehen. Die junge Müllerin aber zog 
ärgerlich die Stirn in Falten und jab mit 
ihren glänzenden, braunen Augen ftrafend 
den Polterer an. 

„Sei Dod jtill," Flüfterte fie erichöpft und 
atemlos, „hier in der Mühle herrjdhe id) 
und nicht du!” 

Der Jáger befam einen roten Kopf und 
verjtummte mit einem verlegenen Bli auf 
jeinen Herrn. Auch der Hochgraf jchwieg. 
Defto deutlicher hörte man den Müller in 
den Vorflur treten und pfeifend den Schmutz 
von feinen Gtiefeln abjtampfen; bann fam 


er herein, ein mittelgroßer, rothaariger Mann 
mit vielen Sommerfprofjen im Gefibt, und 
blieb mit lautem, verbliifftem „Halo!“ an 
der Tür ftehen, weil er gween Gäſte in feiner 
Küche erblidte. Plóslid ertannte er feinen 
Landesherrn, machte eine linkiſche, aber unter: 
wiirfig tiefe Berbeugung, als ob er ibm die 
Stiefel füjjen wollte, unb rief: „O je, o je 
— nein nein! Aber was bedeutet das, Euer 
Gnaben ?^ 

„Sch bin Gein Gajt, wie Gr fieht, und Seine 
grau will uns Quartier geben, damit wir 
nicht heute im Nebel weiterirren müjjen.“ 

„Er ſchämt fic unferer Armut nicht, Edo,“ 
erjcholl bie ruhige Stimme ber Müllerin von: 
Herde. 

„Aber id) ſchäme mich ihrer,“ flagte er 
bemeglid). „O unfer Hundelod! Dieje arm: 
jelige Mififintenhöhle, Euer Gnaden! Sch 


„Rede Dod) nicht jo, Edo! Weshalb wol- 
len wir jemand wegen unjerer Armut um 
Nachſicht bitten? Ift fie denn nichts Ehr— 
liches ?^ 

„Kinder, fein convicium!” fprad) der Re: 
gent lahend. „Streitet euh bod) nicht! 
Rein anjtändiger Kerl [teet mir in meinent 
Lande jo tief, dak id) mich. |djeute, iiber 
jeine Schwelle zu jehreiten.“ 

Dieje Worte brachten dem Hodgrafen 
einen Danfbaren, warmen Blid ihrer jchönen 
Augen, ber ihm ganz jonberlid) wohl tat. 
Inzwilhen war das Herdfeuer berabges 
brannt; es gliibte noch matt in den verafchten, 
halb zerfallenen Sdeiten nad). Die Mummel- 
alte holte eine große, runde, irdene Schüjjel 
aus bem Schrank und ftellte fie ihrer Schnur 
zum Einfüllen bes Haferbreies aufs Fenjters 
brett. Dann legte fie jedem einen groben 
Löffel hin und den großen Brotlaib mitten 
auf den Tilh. Immer mehr entpuppte fie 
fid) als ein völlig harmlofes, etwas findilches 
Weiblein trot; ihrem hexenhaften Ausfehen. 

Der Müller hat bas Tijchgebet geiprochen 
— nein, heruntergeletert, und [tedengeblieben 
war er in feiner inneren Aufregung aud 
nod) dabei, daß fie ibm wie einem Abcſchützen 
einhelfen mußte. Danach begann das Abend- 
brot, und die Munthe gurgelte und raunte, 
vom Nebel dicht zugelponnen, als wollte fie 
lic) auch an der Unterhaltung beteiligen. Der 
Hochgraf wijchte fid) ben Löffel nochmals am 
Wamje ab, aber tunfte thn dann tapfer in 
den großen Hafen, weil er einen waderen 
Hunger mitgebradt hatte. Auch die Müllerin 
aß, und die Alte war völlig in ihre geliebte 
Abendmahlzeit vertieft, ohne über bie Tiſch— 
tanten hinweg zu guden. Vergebens hatte 
Petermann Der Hausfrau ein Zeichen ge: 
macht, daß fie Dod höflich den hohen Herrn 


‘bitte um gnábige 9Bergeibung." 





Fröhliche Gejellichaft 


Gemälde von Prof. Hermann Gradl 





m. 


INE LIBRARY 
OF THE 
UNIVERSITY OF ILLINGIS 








Das alte Gejdjledjt RBZZZZZZZZZZZ 617 


vorejjen laffen folte. Nur ihr rothaariger 

Gatte hielt nad) ben erften Biffen ein und 
folgte ängftlich feinem Beifpiele. 

„Run fo langt bod) ohne Zaudern zu, 
Kinder!” jagte ber Hochgraf, als er es ge: 
wahrte. „Der Bret läßt fid) gut effen.” 

„Was folte id) bir auch vorjegen, wenn 
er bir nicht munbete, lieber Herr? Wir haben 
heute nichts Bejjeres im Haufe. Wd, und 
ich möchte bid) bod) fo herzlich gern fröhlich 
und zufrieden auf meiner Bant fehen!” 

„Es ijt ein elenbes Hundedajein I^ |djimpfte 
ber Müller mit einem gewijjen bettelnden 
Blid auf feinen hohen Gajt. Uber ber 
wandte Déi rajh von ibm ab und thr zu: 
„Sie hat Ihre Sache recht gut gemacht, finde 
id, Müllerin !” 

Nun oben fie ftill beieinander, während 
die Moorhexen draußen ihr leichtes Linnen 
um die Fenjter fpannten; bie Hunde waren 
eingejchlafen und jifften im Traume Hinter 
einem Hafen her, und die weiße Rage, bie 
ion lange mit einem unentichloffenen Blid 
auf Hujjo und Braffo nad dem Brei ges 
Ihnüffelt hatte, jprang mit einem geräujch- 
lojen Cab auf ben Steinboden, um leije 
miauend und mit dem Schwanze [Hlagend 
bei den Effenden herumzubetieln. 

„Hört ihr’s? Miederumb die Wölfe!“ fagte 
der Miller aufhordend. „Sie haben im Ich» 
ten Winter den lahmen Schulmeiſter von 
Effenried gerijjen, als er abends durd) den 
Schnee nad Haufe [tampfte." 

„Eine Witwe und drei unverjorgte Wais: 
lein!“ ergänzte fein Weib und warf einen 
fragenden Blid auf den Hochgrafen. 

„Es wird für fie gelorgt werden. (Er: 
innere Er mich nod in Frauenftein daran, 
Petermann! Ich will es mir aber aid) 
jelber merten.” 

Darauf lächelte fie, ein gutes, danfbares, 
glüdliches Ládeln, und winfte ber Schwie: 
ger abzuräumen, wie es aud) fonft ihr üb— 
lides Amt gewejen. Der Hochgraf jah bas 
leidende, weiße Antlitz an, das fid) ohne 
Scheu an des Mannes Schulter lehnte und 
ihn immer wieder mit den großen Augen 
betrachtete, und fagte dann gütig: „Hört, 
Müllerin, man möchte Ihr gern ein desi- 
derium, einen fleinen Lieblingswunid, 
mein’ ich, erfüllen. Weiß Cie jolden anzu» 
geben?” 

„Ein Wunfh? Mir fält gewiß nod) 
etwas ein. Was but bu aber gut zu uns, 
Herr Hochgraf! Id habe es aud niemalen 
glauben wollen, wenn andere meinten, du 
jeift fein rechter Sandesvater.” 

„Sagen fie denn das von mir?“ 

„Ach, fie ſchwatzen ja immer etwas; aljo 
laß fie nur reden! Sc bin ein fterbend 


Weib — bas mot felbjtändig davon, bas 
treibet auch zu eigenem Fragen und Denten. 
Du but gewiß nichts als ein armer Menta, 
lieber Herr, habe ich mir gejagt, vom Weibe 
geboren als wir und wie wir auf Gottes Er: 
barmung angewiejen. Aber ebenfo but du 
unfer Landesvater, dem wir Treue halten 
folen, und den möchte id) nun fo recht von 
Herzen ehren und lieb haben können. Ders 
halben mußte ich dir heute oft in die Augen 
Ichauen.” 

„Und was lieft man in meinen Mugen, 
Miillerin?” fragte er unficher, als fie mit 
ihren ruhigen Worten gu Ende war. 

nod) lefe darin, baB du ohne Falſch but 
und es mit uns redlich meineft. Da plaget 
mid) nun ein Rätſel, lieber Herr. Cic jagen 
nämlich von allen Geiten, daß du unfer 
Frauenfteiner Land gegen Geld verhandelt 
babeft, nur um ein bequem und luftig Leben 
führen zu Tonnen, Das würde ich nicht ver: 
ſtehen.“ 

„Weib, was ſprichſt du itzt?“ ſchrak der 
Müller auf und ſchaute ſie entſetzt an. „Du 
biſt wieder fiebrig. Leg' dich ſchlafen!“ 

Auch Petermann, der oft genug gehört 
hatte, welch tolle Fama über dieſen Punkt 
in Frauenſtein ihr Unweſen trieb, zuckte beſorgt 
zuſammen, ſo keck kam ihm dieſes fragende 
Weib vor. Doch die Müllerin behielt ihre 
gehaltene Ruhe, als ſie antwortete: „Ich 
fiebere jeden Abend — das weißt du doch, 
Edo. Warum darf aber des Volkes Munkeln 
und Raunen nicht bis zu unſeres lieben Hod)« 
grafen Obr dringen? Er muß dod die Wahr: 
heit hören.“ Die Stille |djritt durch ben 
Raum, eine beengende Gtille, die der Bes 
fragte erft nach längerer Zeit brad): „Sie 
muß mir nicht dreift werden, Müllerin, auh 
wo Cie es von Herzen treu und gut meinet, 
und Cid) daran genügen laffen, daß ich mein 
Srauenjteiner Land wirklich lieb babe." 

„Run Hör’ aber auf und gib bid) hiemit 
zufrieden, du einfältiges Weib!” fagte der 
Rothaarige betreten und fraute fic in großer 
Verlegenheit den diden Schopf. „Wir aus 
dem einfachen Bolte, Herr,“ meinte er dann, 
zum Hochgrafen gewandt, „ſchwatzen bis: 
weilen un[djdlid) und dennod in beier 
Meinung.“ 

Die Krante Dujtete wieder erjchredend 
lange unb wiegte dann Ietje und webmiitig 
das Haupt. Ihre feuchten Augen blidten 
nicht mehr bie Bäfte an, fondern nur mit 
einem traurigen Wusdrud zum Fenſter in 
die wallenden, weißen Mtunthenebel hinaus. 
Die Stille, bie beengende Gtille, trat wieder 
zwilchen bie Menſchen am Tifde. Ein jeder 
fühlte fie. 

„sit Sie denn immer noch mit mir uns 


618 Julius Rupreht von Loewenfeld: 


zufrieden ?^ fhalt der Hochgraf halb im Ernft, 
halb im Scherze. 

„Ic bin nur eine Einfältige — der Müller 
hat es [bon richtig gejagt. Wher fo wie id) 
mein arm hilflos Rindeswiirmlein dort im 
Rorbe lieb habe, das mein Schoß geboren 
Bat, jo mußt du unfer fleines Land mit feinem 
vielen Darben und Hungern ganz, ganz warm 
ins Herze [|djliepen. Das ift ber Wunſch, 
den id) bir fagen wollte!“ Mit flehenden, 
großen Augen fah ihn die Munthemüllerin 
Dabei an, und ihre fragenden Blide lieben 
ibn faum nad) rechts oder links ausweichen. 
Er |djaute bewegt auf, ergriff ihre Hand 
und fprad: „Ich bab’ es ftets jo gehalten: 
ein Mann ein Wort! Frauenftein fol mir 
immerdar wie mein eigen Rindlein fein.“ 

Da glitt es wie vertlártes Laden über 
ihre Züge; fie tüpte die Rechte, bie er ihr zum 
Gelöbnis gegeben. „Nun habe id) bod) offen 
mit meinem Hochgrafen reden dürfen!“ 

Dann ftand fie auf. Die beiden Rüden 
lagen nod) immer jchlummernd auf ber 
Schwelle zur Rammer, und ihr jchlanter, 
nadter Fuß ftreichelte ihnen fröhlich das 
braune ell, daß fie gar behaglich vor [id) 
binfnurrten und mit ber Mute jchlugen. „Ihr 
habt einen lieben, guten Herrn, ihr Wilds 
fänge!“ 

Mit diefem Wort trat das Weib über fie 
hinweg in bas armfelige Schlafgemadh, um 
dem Hochgrafen dajelbit die Lagerſtatt zu 
bereiten, während bie vier Zurücbleibenden 
weiter dem eintönigen Schlummerliede der 
SUR lau]djten. ` 


88 

„Komm ber, Sujo, bu Ferkel! Morin 

haft bu did) nun [bon wieder gewálzt, daß 

du jo mórberlid) riehft? Ach, ihr Sjunbs- 

viecher lauft euch eben nicht mehr müde und 

befommt hier nichts zu tun; barob verfallet 
ihr dann auf ſolche Biden!” 

Huſſo mußte wirklich in ber eigenen Con: 
duite gar fein Deliftum finden; denn er blidte 
Petermann mit den treuberaig[ten Augen an, 
gab ihm ernithaft feine Pfote und wollte 
fid) fodann ftintend, wie er trog aller 9tajje: 
Ihönheit war, zärtlich) an bes Jägers Knien 
Iheuern. Die gröbliche Abwehr diejer Herz: 
lichfeit veranlaßte ihn jedoch, fid) tiefbeleidigt 
in etlicher Entfernung niederzulegen und 
Mori jehr vorwurfsvoll zu beäugen. ‚Won 
Natur finde ich bie Menjchheit recht lächer— 
lich,‘ beliberierte dabei fein empirtes Hunde: 
gemüt. ‚Nicht nur, dak wir ihnen oft genug 
das Wild anzeigen, und fie für gewöhnlich 
vorbeilchießen — nein, wie lächerlich ijt nun 
zum Beilpiel aud) diejer Petermann! Ich, 
Huſſo, bin von jehr gerechter Sinnesart und 
erfenne gern an, daß er mir noch niemals 


e 


wie Brajjo mein Futter weggefreffen bat. 
Auch pünktlich war er gumeijt. Aber heute? 
Ruft mid) erft und verjegt mir bann einen 
Ihmerzliden Tritt, und wenn id) mid) im 
Luder wálze, unjerem bewährten Hundemittel 
wider alles Flohzeug, fo fährt er mid) gar 
nod) barjd) an: Pfui, wie du ftintit, Schweine- 
leri! 

Nicht minder vorwurfsvol, aber auch nur 
in feines Bujens Tiefen flagte der gerügte 
Jägerburſche Mori Petermann bas genus 
hominum und den Hodgrafen, unter aller 
Verwahrung gebotenen 9e[peftes, als feinen 
Sjauptvertreter an: „Bob Lunte und Schwefel, 
ift dies nun etwa das Jágerleben, wie er’s 
[id bier vorgenommen hatte? Nah Kreuz» 
horft- Hin fpiire id) ihm einen uds auf. 
Ja, antwortet er mir wie geiftesabwejend, 
ift bod) oft ein [trammer Kerl, fon Luds, 
als ob er mir erft jagen müßte, was der 
Suds für ein Bieft fei. Drüben am Düwels» 
berge entbedte id) für ihn nad langem 
Cudjen einen Adlerhorft. Recte, meinet er, 
bas |djeint mir gar nicht ausgefdlofjen, daß 
ba aud) Adler find. Na, wer ijt nun eigent: 
lid) von uns beiden nicht bei Trofte? — Ich 
tomme jedenfalls, natürlich in aller Devotion 
gejagt, faum in Frage; aber die alte Hexe 
in der Mühle mag ihn vielleicht verwunjchen 
haben.” 

Sdliehlid) ging bem Unluftigen bod) ein 
Licht auf. Hatte er nicht der tranten Müllerin. 
für ihre Gaftlichkeit ein anjehnliches Geld» 
geſchenk hintragen müſſen? Mit jenemturiofen 
Abendgeſpräch in der Munthemühlen mußte 
das kurioſe Gebaren ſeines Herrn irgendwie 
im Zuſammenhang ſtehen; Petermanns Ap» 
probation fand der Regent auch bei dieſer 
halben Erklärung nicht. 

„Sie hat ja mancherlei, ſo Hand und Fuß 
beſaß, gejagt — gut, geben wir zul Aber 
ein Hochgraf, der nicht jaget, ijt fein rechter 
Hochgraf nicht, Und wie hat er bas früher 
verftanden — pog Lunte und Schwefel — 
er und fein getreuer Jäger Morig Peter: 
mann! Sonnten uns beide damit jehen 
lajjet — er voran. Rejpett! Beſſer wird 
dicje Welt nicht, ſpricht Ehrn Pijtorius, und 
bejjer ijt fie auch bier nicht geworden.“ 

Es wollte aber einer, daß es in Frauen: 
Hein wirklich beffer werden folte, und das 
war gerade ber gejcholtene Hochgraf Fried: 
rid) jelbft. Gein zerftreutes Wefen, bas dem 
Sager |o mißfiel, rührte eben daher. Hier 
in Waldesftille und Einfamtcit, wo die Geier: 
tuppe und der Feldhay, der Diiwelsberg und 
ber Frauenjtein mit ihren ernften Häuptern 
Dberüber|djauten, wo die Munthe durch den 
Ihwarzen Bielteich hinjchläferte, hier wollte 
er mit fid ins reine tommen, um den Gieg 


PSSSSESSESLSLCESA Das alte Geſchlecht 619 


zum Rechten und Chrlidh- Guten zu er: 
fampfen. Hier war er fernab jeiner ver: 
Häubten Kanzlei, fernab Jaköbkes Dreiftig- 
feiten und vor allem fern allem Rumore, 
den das Frauenfteiner Voltsfeft mit feinen 
Zurüftungen erzeugte. Wie das alte Rad 
ber Munthemühle die Waller ſchäumend 
durcheinander quirlte, fo war in der Riide 
ber Müllerin von feinen eigenen Rippen ein 
Geliibde gejprochen worden, das ihm alles 
in der Geele umtrieb und Durcheinander jagete: 
„Frauenſtein ſoll mir immerdar wie mein 
eigen Kindlein ſein!“ 

‚Höre auf mich!‘ fprad) eine innere Stimme, 
als er nachdenklich vor dem Jägerhauſe im 
Graſe lag. ‚Du mußt heiraten, allen Hinter: 
nifjen zum Troße; du mußt ben Frauenfteiner 
Succeſſor jchaffen, aud) wenn bie magere 
Paupertat wieder im Schloffe ihre Hunger: 
rippen gablet. Nicht zum Genießen, fondern 
bes officii wegen fekete bid) Gott in bein 
Amt — war nur geliehen, nicht gejchenfet. 
Alwo ein bitter Streiten ums liebe tägliche 
Brot in allen Hütten ijt, mögeft auch du 
als des Landes Vater mit Sorgen ins Bette 
fteigen und mit Mangel did) vom Lager 
heben. Tu Dornen in dein Ropffijjen, fo 
wirft du denen Freund werden, deren Lebens: 
'ader genug an Dornen unb Difteln trägt. 
Nicht dafür hat Grid) ber Trubige ober 
Erneftus Confeffor bas Banner deines alten 
Beichlechtes getragen, daß du bir einen ver: 
gnügten Freudentag jchüfeft oder der blonden 
Elfe Cheftifter wiirdejt. 

Einen vollen Tag rannte ber Hodgraf 
burd) bie Wälder, bie das Jagdhaus um: 
gaben, um mit dem Tor zu werden, was 
diefe Stimme in feine bange Geele hinein: 
gerufen hatte, und fhol ihm mandmal wie 
gelende Poſaunen des Gerichts ins Obr, 
da er nicht nur mit den Schatten der großen 
Toten, fondern aud) mit den Lebendigen in 
hartem Geifterfampfe ftritt. Er rang mit 
Ehrn Piftorit fefter Beharrlichkeit und jener 
tottranten Frau drunten in ber Munthe- 
miible, die ibm hieß, bas Kleine Frauen» 
fteiner Land mit feinem vielen Darben und 
Hungern ganz, ganz warm ins Herz zu 
ſchließen. 

O Jakob von Slppen, wenn du nur ets 
was von dem Erzvater an dir gehabt hate 
teft, der dir den Vornamen gab, vielleicht 
wäre der heiße Strauß bem Hochgrafen ets 
was leichter geworden! Wher du fämpfteft 
wahrlich mit feinem Engel bis zur Morgens 
rote, und was wußte deine Genubjeligtert 
überhaupt von Narben und Wunden? 

Nahe genug war Hodgraf Friedrich 
daran, vor ben Manen feines Sjaujes die 
Waffen au [treden, als gerade im [tilljten 


Walde, da ein biipfendes Wajferlein unter 
madtigen Farnen babinjdjmábte, plöglich 
die andere Stimme ihren tapferen Wider: 
ftreit begann. Klang zwar niht alles ber 
erften entgegen und flang dod nie jo wie 
jie; flagete auh an, und war bod) ein ans 
derer Ton darin! Und die heimlichen 
Schubgeilter des Landes traten aus Buch 
und Kluft und wurden der zweiten Stimme 
braujender Chor. 

‚Hohgraf — Hodgraf! Nimmft du den 
Schritt zurüd, den du getan, fo but bu 
fortan ein gefefjelter, bilflojer Knecht, und 
bie Gläubiger werden deines Landes harte 
Herren. Dein 9Bergid)ten ijt Heil und dein 
Opferweg Gegen, fo die Hand nur rein 
bleibet, die da opfert, und Der Ginn nur 
getreu, der da verzichtet. Aber du haft plan: 
los und ohne groß fiberlegen den neuen 
Samen über Trift und Feld geftreut, ein 
Ichlechter Bauersmann, ein tándelnd Rind! 
Hochgraf — Hodgraf! Im Schweiße deines 
AntliBes folljt du adern und den Gegen 
ernfter Arbeit einernten. Aber dein Opfer 
glich bem, bas Mtalacia ber Prophete rüget, 
da du Halbwertes auf den Altar legteft, um 
des Fetten im Frohſinne felbft zu genießen. 
Führ’ dein Regimente zum echten Opfer, 
jo wirds wohl werden! Nicht Felte, fon: 
dern Mühlalstage zimmern Frauenfteins 
Neubau — drum als erfter auf die Leiter 
und als letter vom Gerift! Hochgraf — 
Hochgraf! Schaffen ijf mehr denn Erhalten 
und neue Ziele mehr denn ein welfes Leben 
friften. Darum ſchließe neue Quellen auf 
für dein Diirres, verarmtes Land! Die Zeit 
Bat jid) gewandelt, feit Grid) ber Trugige 
am Garge von Buonconvento ftand und 
Radbertus gen Stendal au[bradj Dem 
Leben fein Recht und den Toten ihre Gruft! 
Dann magit bu, wenn bein Gtiindlein ge: 
tommen ijt, an ihre Pforten flopfen: Laßt 
mich ein; hab’ viel gepflanzet und viel bes 
Untrautes gereutet, hab’ neu gebaut und 
neu geſchaffen im Frauenfteiner Land. Ein 
Ichweres Opfer gab Kraft mir und offene 
Tür. Ich bin nun der lebte, der bier bei 
euch jchlafen geht, aber eurer bin id) wert 
geworden! — Und die Pforte wird fih auf. 
tun dem legten und dod wahren Hod: 
grafen von Frauenitein. Ans Werk! Gebe 
beim, Hodgraf Friedrid), und Gott [dente 
dir fróblid Gedeiben!: 

Verklungen war die Stimme. ber da 
jie verſchollen, hatte jie auch obgefieget. Ein 
einjamer Mann 30g bie Jágertappe und 
wollte nur nod fein Mórtlein mit bem 
reden, ber in ftillen Schritten feierlich Durch 
den Maldesdom wandelte, Bäume und 
Blumen zu benebeien, 


Dom Schreibtisch und aus der Werkſtatt 


PDO CIGD 2D lt DOW OI AS Od SDI Od CDI Oe CDs OL POS e 


Unjere Gajte 


Bon Börries, Freiherrn von Miindbhaujen 


SOHC IOS OS SOM Po 


E Wr — welde Unmenge von ver: 
RU chiedenen erten umfajjen bie 

MS) fünf Buchitaben et Wortes! 
IZA Der König, den id) in Frad und 
RES Orden an der Haustür erwarten 
muß, und ber Schufterle, der fid) durch uns 
beitimmte Borjpiegelung von Grüßen, die 
er mir von einem Freunde perjönlich über— 
bringen müjje, am Diener vorbei gelogen 












hat, der geliebte Bruder, dem das ganze 
Haus bas Fremdenzimmer jchmüdt, und der 


Weinreijende, ber bie Tiirflinfe nod) in der 
Hand hält — als er fie [hon wieder tief 
enttäujht und arg erjchüttert umjchließt, 
Der in qualvoller Gorge erwartete Arzt und 
der Jingling, ber ,aud) bidjtet^ — fie alle 
fino Gájte. 

Freilih fann man nicht von allen Ge: 
Ihichten erzählen und leider am wenigiten 
von den liebften. Denn der liebe Galt fügt 
ich jo gerubig-feftli in das Hauswejen ein 
wie ein Edelltein in feine eigene Faffung. 
Um fo luftiger find die anderen, bie a 
Gteine des AnftoBes durchs Haus poltern. — 

Mande können fid) gar nicht genug tun 
in Ritterlidfeit und allerlebhaftejtem Hoch: 
fonjervatismus. Cie denten, daß der Dichter 
ber Ritterliden Lieder notwendig [o ein Ultra 
fein müjje, wie Simpliziffimus und Fliegende 
Blätter ben Ariftotraten [djilbern. Ach, bas 
verjteinerte Lábeln, wenn fie dann im Gee 
prád) plóblid) merfen, daß man durchaus 
o freimütig uber ihre Ideale urteilt, wie 
jeder andere verjtändige Menjd und mit 
Boileau die Rage eine Rage nennt „et Rolet 
un fripon!“ — Den Gipfel an „Ritterlich— 
teit” erflomm wohl der Kaufmann, ber uns 
einmal bejuchte — („um das Rhinozeros zu 
jehn“ fängt ein altmodijches Gedicht an, 
bas mir bei [ofdjen Befuden immer ein: 
allt). Wir Hatten ihn unten begrüßt und 
tiegen nun die Treppe a aig inauf. 

nd ba Jah ich, daß er fih zu feinem Sommer: 
anzug ein Baar Sporen angejdnallt hatte! 
Wirklid)! er trug Sporen, richtige, flirrenbe, 
funfelnagelnene Wnjdnalljporen, bie den 
malerijden Fall der Sjojen freundlich über 
ben Gummizug: Stiefeletten auffingen. Es 
blieb gar feine andere Deutung, als daß ber 
rúbrende Dann fie eigens zu biejem Behufe 
—— hatte, um ſich dem vermeintlichen 
balladiſchen Stile bes Hauſes anzupaſſen. — 

Andere wieder denken gar nicht an An— 
pang und balten es fiir jelbjtverjtändlich, 
daß wir uns mit ihren Eigenheiten obt: 
den. Cin verebrter Riinfticr ipt grundjäß- 
lid) nicht mit uns am Tijche, FC wärmt 
fi feine mitgebradten fojdjeren Dojens 








NEE 


Mahlzeiten im Fremdenzimmer über einer 
— mitgebrachten Spirituslampe. Nur 
bit und Wein und allenfalls ein Ei in der 
Schale nimmt er von uns an, und id) 
jehe feinen Grund, ihn ändern zu wollen. - 
Rieber änderte ich da [Hon bie nadjte Rlajje, 
die Begenfüßler, jene Leute, bie vom 
lieben Gott zum Widerjpruch erjchaffen find. 
Gie [djmármen immer nur leidenichaftlich für 
Das, was wenigen befannt ijt, verächteln es 
aber jchnel, jobald es allgemein beliebt 
wird, Gie fommen zwar zu mir meiner 
Berfe wegen, aber fie jcheinen [djon von 
der Haustüre an beletdigt zu fein burd) eben 
dieje Haustür, burd) die Halle, durch die 
Wendeltreppe, — was weiß ich. Und wenn 
fie ins Simmer treten, fo find fie Durdaus 
le citonen Robespierre, und id) zittere als 
riidjtandiger Royalift vor dem Giegerblid 
Deler überlegenen Bernunft. In jedem 
porem Gabe betonen fie, daß fie lid) als 
ürgerliche aus altem Haufe jedem Wodligen 
gleid) fühlen. (Und ich fühle mich leider 
Durdaus nicht jedem Bürger gewadjfen!) 
In jedem dritten Gage fagen fie, daß ihnen 
durchaus nicht jeder Dichter und alle Ge: 
dichte imponteren ftónnten. (Und ich gebe 
ihnen, meine Berfe anlangend, aus tiefiter 
berzeugung recht!) In jedem vierten Gage 
er fte mir, als Ebrenmánner, denen 
chmeichelei ferneliegt, etwas Unangenehmes 
zu |düuden. (Und ich frage mich heimlich, 
ob fie ſich bloß deshalb die Mühe bieler 
Reife zu einem fremden Menſchen gemadt 
aan, und bewundere, etwas bedrüdt, dieſen 
rab von Stüdjtenliebe.) Und in jedem 
Gage fommt, offen ober unter ber Dede, 
vor, daß die jo verachteten Sozialdemofraten 
ganz berrlihe Menjdhen wären. Und ihr 
<Triumpbblid hinterher jagt deutlih: Dem 
bab’ idy’s aber gegeben! 

Manchmal — denn ich Habe zuzeiten bei 
Bejuchen Fremder den Teufel im Leibe — 
erwähne id) beiläufig, dak i jelber 
Sogialdemofrat war unb Marx und Engels, 
Lajjalle und Rautsfy recht genau tenne, bap 
id) nod heute manden ähnlichen Gebanfen: 
gängen febr nahe ftebe, und einige liebe 
Freunde in diejem Lager habe... 

Als ob man ein Auto von der großen 
Bejhwindigkeit auf 9tüdwürtsgang ftellt! 
Bisweilen hört man förmlich einige Zähne 
im Betriebe ausbreden, bis fie mit einem 
„Aber“, das wie die Fahne eines Renegaten 
flattert, ins Gegenlager überlaufen. 

ek Gegenfúpler [imb häufig jehr ajthe- 
tildje Leute, die bloß, um nicht bas Gejprad) 
geldimadíos werden zu lajjen, das Salz 














Less Börries, Freiherr von Mündyhaujen: Unjere Gájte E=====1 621 


fräftigften Widerjpruches einftreuen. Sch 
fonnte einen lieben Dichter, bem nun leider 
aud) [fon jedjs Schuh Erde auf der Bruft 
liegen: Dn Berlin, wo ich als Student let: 
denfchaftlicher Empörer gegen ftaatliche und 
—— Ordnung war, vertrat er den 

brigkeitsſtaat wie ein Geheimer Rat vom 
Miniſterium des Inneren. Aber als er dann 
als Gaſt in unſerem Hauſe weilte, konnte er 
d) gar nicht genug tun in blutroten Seit: 
ätzen. Erſt nach der dritten Flaſche Bur: 
"an hatte id) ihn gottlob wieder bis zur 

olfiihen Zeitung zurüd, unb wenn mein 
Gebád)tnis mid nicht taujdt, ftretfte er nad) 
der vierten wieder die Kreuzzeitung mit dem 
Urmel. Es war ihm eben mehr Ge[d)mads: 
als Tiberzeugungsjadhe, aber ehrlich war er 
babet immer. — 

Eine bejondere ch von Beluchern find 
bie Rezitatoren, die fi „autorifieren“ laffen. 
(Sd) weiß nicht genau, was das eigentlich 
beißt, und gebrauche deshalb bas von ihnen 
erhaſchte — Sie „erſchließen mir 
die Schönheiten meiner Gedichte“, indem ſie 
ſehr laut eine leicht übergeplünderte und 
(meiner beſcheidenen Überzeugung nach) da⸗ 
durch nicht immer glücklich veränderte Faf- 
[ung berjelben Berjagen. Nun ijt mir nicht 
leicht etwas peinlid)er, als eigene Berfe 
jprechen zu hören — Doch, eins ilt nod) pein: 
licher: als höfliher Mann am Schlujje Bets 
fall ipenden zu miijjen. 

Einmal war Herr G. bei mir. Meine 
Frau und ich jagen am Ramin, und er [tanb 
vor uns und fprad) Balladen. Und meine 
Helden jchrien und meine Pagen fliifterten 
und meine Königinnen filtelten, und ab und 
zu gerrig er bie feidenften Berje durch ein 
„Ha!“ oper ein hölliſches Gelächter. Meiner 
lieben Hausfrau wurde es |djlieBlid) zuviel, 
He ftand ftumm auf und verließ, wie zu 
Haushaltsangelegenheiten, das Zimmer. 

Da EE? er fid) mitten im $ijtels 
\prechen und fagte in feinem natürlichen Biers 
bag: „Auf Damen wirfe id) von jeher bes 
Jonders ftart!” 

Dann legte er fix den Kopf wieder auf 
die Geite, jah mid) verfiihrerijd) ſchräg von 
unten an wie ein Ferfelden, hob den gigas 
rettengelben Zeigefinger ſchalkhaft auf und 
fuhr in ſüßeſten Flötentönen fort: 

„Bage, was hobeft du heimlicherweis 
Zur Lippe ber Schleppe Ligen ...” 


Einmal, — id) war gerade in unjerm hans 
peta an Stadthauje bet meinen Eltern zu 
Beſuch, und mit mir jab mein lieber — 
Levin Ludwig Schücking in der Plauderecke, 
— wurde mir ein fremder Herr gemeldet. Da 
ich mich nicht in der Behaglichkeit des Ge— 
präches ſtören Iajjen wollte, ließ ich hinaus— 
agen: Der junge Herr könnte niemanden 
mehr empfangen, er wäre heute morgen vers 
rüdt geworden, Meine lieben nadhjlichtigen 
Eltern ließen mir die Unart hingehen, — 
nur Levin fagte in die ſchwüle Pauje, in 
welcher der Diener mit dem Beſcheid das 


Zimmer verließ: „Nein, du bift dod) wahr: 
haft vorurteilslos!“ 

Wher während wir noch über diejen 
freundjdaftliden und trodenen Werweis 
laten, Hatte der Unbefannte das Haus 
verlaffen und ein anderer ließ fid) melden, 
den Die Meinigen nad) der Bejuchskarte als 
den Hoftheaterfrijdr erfannten. Nun durfte 
id) nid) wieder unhöflich fein und ging 
jeufgend mit meinem Bater in das Neben» 
¿immer zum — 

Neben dem bullernden Ofen in der über— 
heizten Stube ſtand im dickſten Wintermantel 
ein fleiner Herr unb fragte, ob er mir cin: 
mal den ,Zot|pieler" herjagen dürfe. Jahre- 
langer intim|ter 3Bertebr mit Künftlern hätte 
ihm die Bewißheit gegeben, daß auch in thm 
der Genius Jchlummere ... 

Na, nun verjuchte er ihn mit gewaltigem 
Stimmaufwande zu weden. 

Uber ber Genius |djlief fo feft, dak wir 
ihn nicht wad friegter. — Und der Ofen 
bullerte, ber Friſör fchrie, daß ibm Die 
Schweißperlen unablällig aut den guten 
Wintermantel tropften, mein Vater iab unb 
jah wie in ber Kirche auf feine gefalteten 
Hände, und id) fand es fchredlich in ber 
Stube, — zum Teil aud) weil es |o heiß 


war. 

Sch bin leider wehrlos gegen dieje Herren. 
Cie können fo furdtbar laut [predjen, bas 
nimmt mir ben Mut. 

Dagegen glaube ich gegen junge Dichter 
immer ganz ehrlich und offen fein p tónnen. 
Meiſt jchleichen bteje fid) zunächjt harmlos 
als Freunde meiner Gedichte in mein Herz 
ein, aber ich habe nun [Hon jo einen Sherlod: 
Holmes: Blid gefriegt, ob die rechte Brujt: 
tajdje dider ijt, als es ftd) mit der Anatomie 
eines jungen Herren von zwanzig Jahren 
verträgt, und bin auf meiner Hut. Niemals 
aber ijt es mir, trog teuflijch gejchidter Ge: 
Iprähführung, móglid) gewejen, das zu ver: 
hüten, was Wilhelm Bujd fo einzig jdin 
aus|pridjt: 

Und [Hon erfolgt b imf b 3 
Reis in te RE alea ide E 

Mber id) will ausbrüdlid) verfichern, daß 
es mir eine ganz bejonbere Freude ift, jungen 
Menjchen mit größter Sorgfalt und Mühe 
in ihren Anfängen zu helfen, Beile für Zeile, 
Mort für Wort mit ihnen durchzujprechen 
und ihnen bas zu geben, was mir feiner: 
zeit von Älteren gegeben wurde. Freilich 
ijt ja das Entdeden eines neuen Gternes 
aud) eine der größten Gnaden im fünftleri: 
Iden Berufe, eine der tiefften, heiligiten Freu: 
den. Wher man muß bie Gauere-Ptild: 
Straße des unermeßlichen Dilettantismus 
jahrelang durdipáben, ehe man einen fol: 
den neuen Gtern findet! 

Ich dente jebod), wir dürfen bas Bön— 
hajentum (Dilettantismus) der Runft nicht fo 
anjehen, wie es melt gejchieht, nicht fo ſpöt— 
M. unb von oben herunter, vor allem aber 
nicht lieblos und vernichtend. Ich habe gefun: 
den, paf eigentlich nur der, welcher in feiner 


699 [5:2] Börries, Freiherr von Münchhauſen: 


Jugend jelber Berfe |djrieb, dann im Leben 
ein wirklicher Renner und Genießer Deutjcher 
SBortfun|t wurde. Gute Lefer find felten, 
febr felten, und ich helfe gern jedem, aud 
dem hoffnungslojen Dichterling, in der Aus: 
licht, daß aus ihm einmal ein wahrer Freund 
bes Goyrifttums wird. Übrigens ift es in 
anderen Künſten ebenjo, bie beften Hörer in 
den Konzerten machen d jelber Mufit, 
unb Die feinften fale er von Bildern 
find die, welche [rüber einmal gemalt 
baben. — 

Wer aud nur einen Hauch des Genius 
verjpürt bat, wird immer dankbar, aud für 
derbe Belehrung fein, aber bie ganz argen 
Nichtskönner find met entjeglich gefrantt, 
wenn man zu tadeln wagt. 

Als id) nod) in Göttingen Student war, 
fam eines Tages bie Frau eines dortigen 
Privatdozenten zu mir, um mir ihre Berfe 
vorzulejen. Vielleicht waren meine damaligen 
Urteile rauber, als id) fie heute aus|pred)en 
würde, vielleicht waren gerade diefe Berfe 
. bejonders jchleht, — jedenfalls war Die 
Wirtung meiner Worte verheerend: das 
Inrijdhe Ganjebliimden fant, wie von ber 
Genje bingemábt, ohnmadtig nieder, id) 
legte fie auf mein Gofa und ftand wabrs 
Eet: recht begojjen ba, als in Diejem 

ugenblid ihr fie abbolender Mann ins 
Zimmer trat und wie ein Held in ber lebten 
Balladenjtrophe ausrief: „Was haben Gie 
meinem 2ieshen angetan?!“ 

b m daß er mich nicht im Dottor zu prüfen 
atte. — 

Aber aud) Herren haben ott eine über: 
rajchend geringe Widerltandstraft gegenüber 
ihrer eigenen Berftimmung. Ein junger Arzt 
verließ zorniprühenden Auges und ohne ein 
Mort der Erwiderung mein Zimmer und 
das Haus, obgleid) er eine vielftündige Bahn 
fahrt gemadt Hatte, um mein Urteil zu 
hören. Da war mir ber junge Herr vers 
fändlicher, ber plóblid) aufitand und mid) 
wie ou 
Zeugen zu empfangen wünjche. — 

Etwas bejonders — find die Mens 
Iden, bie in feelilcher Not gum Dichter tom: 
jo wie ber fórperlid) Leidende zum 
Arzt geht, Syeber Berufsgenofje wird davon 
mehr berichten fünnen, id) glaube am meijten 
die Erzähler, aber aud) zu mir fommen, 
brieflid) oder perjinlid), ab und zu Leute, 
bie mir ihren Liebestummer auf den Schoß 
[dütten, (mett ift es Siebestummer), und 
dann ganz getröjtet fortgehen, während ich 
mit der Schürze voll daſitze. Bei manchen 
ijt es ec bloß das Mitteilungsbedürfnis, 
andere übergeben mir ihre Grlebni|je als 
wertvolle Unterlagen zu weiteren Gedichten, 
— bu lieber Gott, unfereiner ijt froh, wenn er 
jeine eigenen Nöte in Berjen losgeworden 
it! — Einige fommen aber aud) wirklich 
mit dem Werlangen nad Rat, und fein 
Ebrenmann wird diefe Berantwortung leicht 
oder gar [|póttildó nehmen, wenn er etwa 
einem fremden Mädchen raten fol, ob das 


der Biihne fragte, wann id) feine 


]533253:3:3:3:32: 253253] 


Ja oder bas Nein auf bie gewille Frage 
bas Redte ijt! 

In wieviel wunderliche Lebensuntenntnis 
unb Menichenverfennung blidt man da zu: 
weilen hinein! Ein jpätes Mädchen erzählt, 
wie [te unbefriedigt und tief ungliidlid bei 
bem alten Eltern auf dem einjamen Gute 
dDaherlebt. Nun hat [ie einen heldijden Ent: 
Ihluß gefaßt: Da ihr jede diesbezügliche 
Bitte eta tie en ijt, will fie betmlih — 
nad Berlin ichen und fih dort „ausleben“. 
Und be bittet mich unbefangen um meine 
Beihilfe. 

„gamos! Und wie haben Cie und Ihr 
ae [i die Einzelheiten ge: 

a “u 


„Entführer v — aber id will dod 
allein ...!” 

„Das ijt ftillos! Sowas will, wenn es 
en GER friegen fol, zu zweit gemacht 
ein!” 

Aber |djlieBlid) muß ich doch mit dem 
Ulfen aufhören und d erflären, daB das 
Leben teine Ballade fet, und eine Flucht 
unter ihren Umftänden eine Torheit. Hof- 
fentlid) babe id) ihr dann einen bejjerem 
Rat geben tónnen! — 

Bor dem Kriege mußte man oft Brimanern 
einen Beruf Indien helfen, bas hat jest faft 
aufgehört. Wielleicht darf ich als Erklärung 
eine fleine ganz anders gelagerte Bejchichte 
erzählen: Sch nehme oft im Wagen von 
Dorf zu Dorf eine Handvoll Schuljungens 
mit, foviel eben auf *Boljter, Fußboden und 
Trittbrett Plas GER Neulich fragte id) 
einen: „Was willjt du denn werden?“ 

„Bäder!“ fam es wie aus der Piftole ge» 
Klon dem blajjen Gefidte. 

„Und dus” 


We fagten, ohne einen Augenblid zu 
zögern: Bäder. Cs waren alles magere 
Heine Grubenarbeiter-Rinder. Ift das nicht 
furdtbar in feiner glajernen Durdylichtigteit? 

Go ift heute aud) die Berufswahl -für die 
Schüler der höheren Schulen jebr viel weniger 
ein Sd) will der Eignung als ein Sd 
muß bes Hungers. Die jämmerliche Ente 
Iohnung jeder geiftigen Arbeit vernagelt die 
eine Hälfte aller Laufbahnen, die Berar: 
mung der Eltern baut Cchranfen vor ben 
anderen, da bleibt met nur ein jchmaler 
Ausweg zum Sattwerden, der dann gegangen 
werden muß. 

Aber für diejen Ausfall an — tritt 
eine andere Klaſſe ein: Der Major außer 
Dienſten, bie alternde Witwe, ber plößlich 
vorm Hunger ftehende Kleinrentner fumen 
einen Verdienft und fragen, ob fie wohl 
mit ber Gchriftftellerei bas bißchen Leben 
friften Tonnen. bitten um Rat, was wohl 
am beiten ,, moe, und módten am Zeit: 
ſchriften — en ſein! 

Und da muß ich denn erzählen, daß kein 
Beruf hoffnungsloſer ift als der literariſche. 

Mich verbinden mit meinen Herren Ver— 


ee SS Unfere Gajte seess 623 


legern nicht nur eine — Freundſchaft 
ſondern auch günſtige Verträge, meine Bü— 
cher laufen in ſchnelleren Auflagenſchritten 
als die wohl der meiſten anderen Dichter 
— jedenfalls ſchneller als die vieler größerer 
Künſtler, als ich es bin. 
Und meine Einnahmen? 
1896 erſchien mein erſtes Buch. 1908 hatte 
ich deren elf herausgegeben. In dieſem drei— 
ehnten Jahre meiner dichteriſchen Tätigkeit 
atte ich zum erſten Male einen Jahres— 
Reingewinn aus meiner Arbeit, nämlich 
212 Mark und 45 Pfennig. Nach vierzehn: 
jähriger Tätigfeit überjtiegen meine Gin- 
nahmen aus allen Büchern zuerft 1000 Mart. 
Nah zwanzig Jahren hatte ich bie Gehalts: 
ftufe eines landwirtſchaftlichen Tagelóbners 
erflommen. Aber heute ftehe ich mich, trog 
ber zehntaujend und mehr im Jahr ver: 
fauften Stüde meiner Bücher, als Dichter 
weit |djled)ter als jeder Grubenarbeiter im 


Dorje. 

Sd babe diefe Zahlen fo oft brieflich und 
mündlich Fremden mitgeteilt, baB id) glaube, 
x ohne Scheu auch hier angeben zu dürfen. 

telleicht nügt es Doch bem oder jenem, fie 
zu lejen, und jedenfalls wird es mir in Zu: 
tunft einige Briefe fparen. 

Natürlich ift bas Einfommen ber Er: 
gabler und Dramatiter etwas höher, aber 
wie viel jchwieriger ift da mo die Ars 
beit, wie viel brángenber ber Mitbewerb! 
Und bie Zeitjehriften find überlaufen wie 
niemals früher, und Die Verleger können 
taum Papier und Drudfolten für die alt: 
eingeführten Namen aufbringen. Aud) das 
mag in diefem Zujammenhange einmal ge: 
fagt werden: Die geiftige unb künſtleriſche 
Berhungerung unjer Volkes |pricht fth gwar 
nicht in Streits und Pliinderungen aus, aber 
vielleicht ift fie deshalb nod) jämmerlicher 
und auf die Dauer gefährlicher als Die 
fórperlidje. Das „tägliche Brot“ des Vaters 
unjers heißt etgentlid) — die Benediltiner 
ſprechen bas Gebet jo: panis supersubstan- 
cialis, bas Brot im überwirflichen Sinne. 
— Panem supersubstancialem da nobis 
hodie! Möchte Gott unjerem Wolfe bie 
Bitte aud) in bielem Sinne erbóren! — 

Sehr nett find die Beſuche von Schulen, 
obgleich man babet bisweilen eine ungewollt: 
tomijbc Rolle fpielen muß. (Es meldet fih 
der Lehrer einer Mädchenjchule unb geleitet 
mich vor die Haustür. Dort driide id) 41 
feuchte, dürre Gdulmadeldenhande, und 
plóflid) fteht ber Lehrer neben mir, zeigt 
mit bem Gpazierjtod auf meinen Gólips 
und erklärt mit jdjallenber Stimme: „Nun 
febt euch ben deutſchen Dichter nur ordentlich 
an, von dem ich euch in der Stunde Die 
Sebensumitánde erzählt habe!“ 

Das Neden mit Schirmen und Gpagter- 
ftóden, fowie das Füttern ift verboten, zum 
Schluß geh id) mit zwei aufeinandergeitellten 
Tellern herum... 

Übrigens habe id) bei einem derartigen 
Bejuche einmal folgendes im Plaudern mit 


den Kinder erfahren: Befanntlic) ift es bier: 
lands ſchwer, das „harte“ und das „weiche“ d 
und t, b und p zu unterjcheiden. 3d) jelbit 
erinnere mich nod) gut, wie wir Gedichte 
herjagen mußten: 

„Ze Dionys, mitn weeden b, ben Dys 
rannen, mitn harten d, jchlich. 

Damon, mitn weeen d, ben Dolch, mit'n 
weechen b, in Gewande, mit weeen che 
un'n weeden d.” 

Und jo weiter, 

Nun erzählten mir einmal Kinder bei 
einem Jolchen Bejuche, daß der Lehrer ihnen 

elebrt babe: „Wenn man das b wie w aus: 
pridjt, bann 1jt es allemal weih, man jpricht 
bas Láwen, bie Liewe — und alfo Leben 
und Liebe find weih, dagegen jagt man: 
hapern, piepen und jpridj bier fein w, 
jondern ein weiches b, — alfo jchreibt man 
vie Worte mit hartem b!“ - i 

Das ijt bod) |pradjlid) febr nett, und id) 
dente, ber Mundartforjcher hat neben feinem 
Laden bod) aud) eine Heine nachdentliche, 
willenjchaftlihe Freude an biejem Unter: 
Iheidungsmertmal. Cs ijt gar nicht jo dumm, 
wie es zunächſt jcheint. 

Einmal war Profeſſor Lampredt mit 
feinem hiſtoriſchen Inftttut von mehr als 
hundert Schülern mein Baft. Ich zeigte den 
Studenten und Studentinnen unjer altes 
Schloß Windifchleuba, unb als wir in ben 
Großen Gaal temen, ftieg einer der Herren 
auf die Tribüne und fagte ſehr hübſch einige 
Gedichte von mir her. Meine Eitelkeit wiegte 
bes in dem Gedanfen, daß diejer Jungmann: 
daft das geliebte Schloß ein wenig ges 
fallen hätte. 

Vielleicht ift bas auch der DK gewejen, 
— nur war es luftig, daß juft der einzige 
Brief nad) zwei Tagen von jo gang anderen 
Dingen handelte! Cine Studentin jchrieb: 
„Berzeihen Cie, aber id) möchte für meinen 
Verlobten jo jehr gern willen, ob Ihr neu: 
lider Anzug in Leipzig gearbeitet tft und 
bet weldem Schneider... .“ 

Muß es uns, liebe Freunde, nicht aufer: 
ordentlich beruhigen, zu jehen, wie die Dürre 
Millenihaft aus jungen Mädchen feines: 
wegs immer dürre Gouvernanten ziüchtet, 
ja, wie bieje fogar ihren natürlichen Sinn 
für alles Gejchneiderte mitten in ber Miifte 
von gotijden Heiligen und neuzeitlichen 
Balladen unbeirrbar fefthalten! Ich geftebe, 
daß ich aufatmete bei ber Erkenntnis, daß 
gc "T den Sjolgbünfen zu Füßen des 
großen Lampreht von Boile und Chiffon 
gejlüftert wird, und daß „die Jagd auf 
Gs Bergen“ neben einem Wolljtoff von 
Cheviots Bergen verblaBt! — 

Eine bejonders hübjche Form von Baftlich- 
feit haben wir immer zu Pfingiten gehabt, 
indem wir uns zu diejer Woche die Rünftler 
unjerer Freundjchaft gujammenbaten. Da 
lajen Dichter die Ernte ihres legten Jahres 
vor, und wir alle juchten geradezu etwas in 
Ihonungslojejter gegenjeitiger Beurteilung, 
um einander mit der Gtrenge des Maps 


624 FESSES Börries, Freiherr von Miindhhaujen: Gebidjte Tse e E 


abes wahre Freundſchaft zu beweijen. Da 
pielten und fangen die Mufitanten, ba malten 
uns Die Maler die hübjcheften Blätter in 
unfer Gáftebud. ier Namen zu nennen 
würde mir prableri]jd) vortommen, und bie 
vielen ausgelaffenen und wikigen Gejchichtchen 
unjerer Pfingiten würde id) bod) nicht dazu 
erzählen mögen, um fommenden Felten nicht 
ben Reiz ber Iuftdichteften Abgejchloffenheit 
gegen die Öffentlichkeit zu nehmen. Së ers 
Sáblte pus bei meinen „Wortragsteijen“, 
daß ich Künftlergejchichtchen mit den Mugen: 
dngftliden SUtiBtrauens anjehe, weil gar zu 
leicht das Licht eines großen Namens wie 
eine Rampenlampe entzündet wird, beren 
Liht man aid) nicht fiebt, Jondern nur feinen 
hellen Schein auf den Schmintebaden des 
Edaujpielers, bes Erzáblers. 

Aber von unjerem Gajtebud laßt mid 
plaudern, denn ich bin ein Büchernarr troß 
meinen verehrten freunden Fedor v. Sobeltit 
und Martin Breslauer! 

Der erfte Band ift voll und enthält bie 
Namen von all den vielen Gajten, von denen 
id) eben einige Bejchichtchen erzählte. 216 
Namen füllen ben zehnjährigen Band, und 
Kaune und Gaben von Zeichnern und Malern, 
Dichtern unb Mlujifanten haben jede Geite 
aufs buntefte ausgeihmüdt. Biele Wappen, 
aber ba fie überall in anderen Gilden 
ftehen und anders ornamentiert find, wirfen 
jie feineswegs al MER wie in Stebmaders 
GroBem Wappenbud. Wer ein Gut bat, 


bem ijt met fein Schloß über den Namen 


gezeichnet, wer feines Dat, den zieren be: 
JN Dinge in buntem Wechjel die Seite. 
uf anderen Blättern fteben fojtlide Radie- 
rungen und wunDderjchöne EE 
bilder, liegen Ornamente und ftelzen Wunder: 
vege durch márdenbaftes Ranfenwerf. — 
ie dankbar wird man beim Durch 
blättern, wie viele gütige Menſchen betraten 
unfer Haus, wie viel habe id) von Ilugen 
Männern lernen dürfen! 

Ein Redhtsanwalt aus der Schweiz tam 
als Fremder und verlieh uns als ein wahrer 
Freund. Ein Frankfurter Herr erzählte mir 
eine wundervolle alte jübtjdje Legende als 
Parallele zu meinem Goldenen Ball. Ein 
junger Bhilologe jak einige Tage im Zimmer, 
um Auskunft über die Quellen der Balladen 
für jeine Doftor-Wrbeit zu erfragen. Ic 
muß gejtehen, daß ich viel mehr von ibm 
über mich erfuhr, als 1d) thm geben fonnte. 
Ein Landbrieftrager fam weit hergereift, und 
id) fand einen meiner feinfiibligften und ges 
imeiteften Lefer in bem ſchlichten Dianne. 

In der Reihe diejer Namen unferer Bälte 
fehlt wohl fein Beruf und fein Lebensalter. 
Und wenn wir in unjerem Bältebuche bláte 
tern, jo gehen wir in einem Blumengarten 
freundlidjter Erinnerungen fpazieren, und 
es geht uns mit feinen Blüten, wie Riebls 
Bibliothefar mit den Büchern: Die guten 
ſchätzen wir, weil fie fo felten reizend, die un— 
angenehmen, weil fie jo febr interejjant find. 
Ber den langweiligen aber entzüdt uns ihre 
ungeheure Drenge! 





Gedichte von Börries, Freiherrn v. Münchhaufen 


Herbftgäfte 


Ans Sentier drängen im Regenwind 
So unrubige Afte, — 

Stille, nahdenklihe Güfte 

um den Tifchkreis find. 


Dor dem dämmrigen Saal 

Tote Freunde heben und fenfen 
Traurig die Arme. Wir drinnen denken: 
Aud) ihr faßet Mer einmal! 


Ad, id) bin fo bang! 

Während wir drinnen trinken, 
Drängen und winfen 

Cote in £indenzweigen fdjon lang... 


Wahrheit 


„Öeflern fagteft du Plipp und Klar... 
Und heute — 717 

Liebe Leute, 

Was id) fage, ift immer wahr! 


Aber immer nur einen Tag, 
Oder eine Stunde, 

Ja, die naddfte Sekunde 

Fede Wahrheit zu ändern vermag 


Und wenn du darüber ergrimmft, — 
Ohne Zweifel 

Dift du ein Teufel, 

Daf du einen beim Worte nimmt! 


enee ee ee 


re AT e be, d INN ENE y 


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Y : m 
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Far re d'a 3 

AE EZ IRSA GO AAN" 
hse Ga ee ne AEN 


name me TS PS PEDO EPI 


" D: 


Bei Jatobsdorf in Oberſchleſien. Künftlerifche Aufnahme 


Aus deutſchen Landen 


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—— AE AT, 
T. Qo RT. S 
E ME RR 





THE LIBRARY 
OF THE 
UNIVERSITY SF ILLINOIS 


otototorototototorototototototototototorotoretototototototetototototorototootororototetototetotótototote; 


seber bieles Thema fann man heute 
nicht Ichreiben, ohne ein fürzlich 
; erichienenes Bud) (Die Technik der 
Lidtbildnerei) heranzuziehen, das 

OF bie Technik bes photographijden 
Bildes, feine Herjtellung und Veredelung 
aus eigener Erfahrung behandelt. Der Ver: 
fajjer diejes Buches ijt Heinrich Kühn, der 
bedeutendjte Lidtbildner Ion feit Jahren. 
Seine Hauptaufgabe erblidt er darin, auf 
Grund von Arbeitsweijen, bie er jid) zum 
guten Teil felbft zurechtgelegt hat, auf ge: 
radem Wege und mit allmáblidjer Steige: 
rung der Schwierigkeiten zu jenen Aus- 
drucsmitteln bin: 
zuführen, die den 
Anſprüchen an 
künſtleriſche Bild— 
geſtaltung und volle 
Haltbarkeit des Er: 
ztelten unter Aus: 
ſchluß aller erborg: 
ten Bebelfe am 
weitejten entgegen: 
tommen. Im me: 
jentlichen hält fid) 
das Bud an rein 
tedjni]je Dinge; 
denn bie Whoto= 
graphie ijt in erjter 
inte eine Technif, 
bie man jid) bis 
zu einem ziemlich 
bohen Grade an: 
zueignen gezwun: 
gen ijt, will man 
über 3ufallsergeb: 
nie binaustom: 
men. us diejem 
Grunde bleibt für 
uns das miibeloje, 
unterbaltende Her- 
Helen  pbotogra- 
pbilder Gelegen: 
Deitsbilber, Heije: 
bilder u. dergl. mag 
es nod) jo gejdjidt 
ausgeübt werden, 
ohne Belang. Die 
Berjönlichleit des 

Photographen 
fann fid) bier nur 
wenig und einjeitig 
äußern,  lediglid) 
durch die Auswahl 
des Wlotivs, wäh: 
rend es fid) bei 
dem Riinjtlerphoto- 
graphen um Den 
bejtimmten Aus- 






83 


Zur Technik ber fünltlerijden Photographie 
Bon F. Matthies-Majuren | 
DICIOIOIOIOIOIOIOIOIO OOOO OIOIIOK KKK 


Der Bianift Edwin Filer é 
Künftlerifche Aufnahme von E. Majow, Münden 


fBelbagen & Rlajings Monatshefte. 35. Jahrg. 1920/1921. 2. BD. 


IOJOJOJOJOJOJO 


MIN 
4 


brud Handelt, um „das nad) afthetijden 
Anjprüchen einwandfrei aufgebaute, in den 
Tonwerten wohlberechnete Bild in einer ehr- 
lichen, reinen und dauerhaften Technit“. 

Mas verjtehen wir nun unter diejer Ted): 
nif? Gie eingehender zu behandeln, fehlt 
bier der Raum, nur einige wichtige Puntte 
wollen wir herausgreifen. 

Für die meijten Anhänger der Photo: 
arapbie bejtebt die Technik in einigen opti: 
ſchen Renntnijjen, im Belichten, Entwideln 
und Kopieren auf Austopier: und Entwid- 
lungspapieren. Sie Tonnen eine Landimafts- 
aufnahme, ein Gelegenheitsporträt, -eine 





83 


41 





626 EESESZZ=ZEZIZESA Y. Matthies-Majuren see 





Frau Schenter. Künftlerijche 
Aufnahme an E Scenter, 
erlin 


Innenaufnahme ohne Lichthof 
maden und tennen bie Bors 
glige der orthodromatifden 
Platte mit und ohne Gelbfilter. 
Unzweifelbaft jehr wichtige 
Dinge, deren Bedeutung jogar 
vielfach nod) unterjchäßt wird, 
injofern als bem outen Ile: 
ativ nicht bie — 
Aufmerkſamkeit geſchenkt wird; 
denn das Negativ ift bie Grund- 
lage für jedes Gelingen. Es 
kann dünn oder dichter, weich 
oder härter gehalten, aber an 
ih muß es fauber und ein: 
wandfrei fein. Die genannten 
Zultände müſſen angeftrebt, 
das Ergebnis einwandfreier 
Belichtung und Entwidlung 
und nicht das des Zufalls fein. 
gür ben ernjthaften Lichtbild— 
ner ift bas Driginalnegativ 
ein Zeugnis, an dem er nicht 
rührt, jeden Eingriff der Hand 
als Unehrlichteit empfindet. 
Die reicheren Móglidteiten 
einer Beeinflujjung treten 
|püter bei ber Herftellung einer 
Vergrößerung und dem Pofi- 
tivverfahren wohl mehr in 
Erjcheinung, „aber mit feinem 
Mittel find Belichtungs: und 


Entwidlungsfebler nachträglich ganz 
aufzuheben”. Bor dem Beginn der 
Aufnahme fol man fid über bas 
Ziel, die Einwirkung des Bildes im 
flaren fein. Alle die Fragen über 
bie Lichtführung ber wichtigiten Tone 
werte, das Detail und die Majjen, 
die Erjcheinung bes Worwurfs als 
Ganzes, was hervorzuheben und zu 


unterdrüden ijt, was die Wirkung - 


ausmadt und was unwidtig ijt, 
miijjen vor der Aufnahme geitellt 
werden. Dieje Dinge gehören zu den 
Rorausjegungen, die heute nod) im 
allgemeinen am wenigiten beachtet 
werden, ohne die aber jede Grund: 
lage, jede Sicherheit für die weitere 
Arbeit fehlen wirde. Das „Sehen: 
lernen“ leben wir an den Anfang. 

Der Lichtbildner erfindet nichts, 
fügt nichts hinzu, wählt aus, betont, 
unterdriidt, trennt und bringt zu⸗ 
ſammen. Er verfolgt die Verände— 
rung der Natur, er ſtudiert die Be— 
leuchtung, er erlebt ſeinen Vorwurf, 
das ſcheinbar SE Däi wird ihm 
wertvoll, Jtebenjádjltd)es zum Ent: 
heidenden. Dieje Art des Natur: 
tudiums fenngeidjnet den Lichtbild- 
ner, Der Amateur fnipit hier und 





Rabindranath Tagore 8 
Künſtleriſche Aufnahme von E. Bieber, Hamburg 











IEN Spaziergang. Künftleriihe Aufnahme von $. von Seggern: Hamburg Ka 


dort und Bat jdjon 
Lët der zweiten 
Aufnahme die erjte 
vergejjen, und fo 
pberiládjlid), wie 
dieje gemacht, wer: 
ben jie aud) ent: 
widelt. Er freut 
(i an der Klar- 
heit, der Schärfe 
feiner Negative 
und überläßt es 
dem Zufall, ` 
„Stimmung“ 
die el 
Aufnahmen zu 
bringen. Hat er 
den Ehrzeiz, zu 
ben „Fortgejchrit- 
teneren” gezählt 
zu werden, fo tennt 
er Die neueren 
Verfahren des 
Gummi: und Öl 
brudes und mo: 
delt dann bei der 
Sjeritellung der 
Kopien das zwei: 
felhafte Negativ 
ganz purs — 
weiß daß 
als Haupivorzug 


AS 


d 





> 


Maria Leefer 
&ünftlerifdje Aufnahme des Ateliers Eberth, Berlin 


Dieler ſogenann— 
ten künſtleriſchen 
Drudverfahren 
gilt, „daß man 
die Tonwerte beim 
Entjteben bes pofi- 
tiven Bildes be: 
einflujjen und fo: 
gar vollitánbig 
umändern fónne", 
davon ijt aber, wie 
Kühn weiter aus: 
Driidlid) betont, 
feine Rede, „um 
einen allgemein 
beitehenden Sr: 
tum zu bejeitigen, 
daß von einer voll: 
fommenen Umge: 
ftaltung ber Ton: 
werte um jo mehr 
abgejehen werden 
muß, je Höhere 
Qualitäten das 
Bild  aufweijen 
jol. Venn ge: 
Pate Töne fal: 
len auch bier aus 
dem einheitlichen 
Bilddaratter 
burd) Die geän: 
derte Struftur des 


41* 


628 ES Y. Matthies-:Mafuren: Zur Technik ber künftleriichen Photographie ESSSS 


Das Trio Popniat: Deman: Beyer 





Künftlerifche Aufnahme von Karl Schenter, Berlin. (Mit Erlaubnis des Verlags W. J. Mörlins, Berlin) 


Bortragsheraus 
und zeritören 
febr leicht Die 
Bildharmonie. 
Und wenn aud 
eine gewille in 
der Tedhnif ber 
genannten Wer: 
fahren — vollbe: 
rünbete frei: 
beit bezüglid) 
der Wiedergabe 
ver Tonnuancen 
bejtebt, bie eben 
einen ber Bor: 
¿úge biejer Poſi— 
tivprozejje auss 
madt, jo wäre 
Die Annahme 
bod) volljtánbig 
verfehlt, als 
jollte dieje Frei— 
heit dazu dienen, 
aus — jdjled)ten 
oder mangel: 
haften Nega— 
tiven gute Bilder 
zu machen“. 
Wir möchten 
es als jebr er: 
freulich und be: 
jonders för: 
dernd angejehen 
willen, daß ge: 
rade Die legten, 











Helga Molander. Künftl. Aufnahme von K. Schenker, Berlin 








die neueften Hin- 
meile dem Ne: 
gativ gelten, der 
richtig belichte: 
ten und ent: 
widelten Platte. 
Betanntlid) iit 
es mid) ganz 
einfach, den 
Rid t=-und Shat: 
tenwerten ge 
recht zu werden; 
zumal die wat: 
men Töne Tom: 
men leicht un: 
durchſichtig und 
zu jchwer. Um 
ein annähernd 
vollfommenes 
Ergebnis zu et 
zielen, erfand 
Kühn 1915 die 
jehr bemertens» 
werte Methode 
ber Herjtellung 
zweier Negative, 
eines kurzen für 
bie äußerſten 
Rihter und eines 
langen für Die 
Tieten, bie ban 
in Der weiteren 
Arbeit zu einer 
Bildeinbeit ver: 
einigt werden. 





Im Hamburger Hafen. Künftlerifhe Aufnahme von $. von Seggern: Hamburg 





Ein folches Nega: 
tiv gibt dann alle 
— 
ſtufungen ziem— 
lich originalgetreu 

wieder. 

Wud) das Ver— 
tärken und Ab— 
chwächen der 
Platten ift mei: 
(tens unnötig, 
wenn ber Entwid: 
lung Die nötige 
Aufmertjamteit 
Bet, wird. 

ud) dieje Mittel 
gehören [don Au 
den Bebelfen, die 
idjlieBlid) zu Cine 
griffen führen, wie 
bie Retujde, das 
Deden und Sha- 
ben, das ein „voll- 
ftändig weſens— 
fremdes Element 
in eine ganz 
anders — geartete 
Sade hinein 
trägt”. 

lind damit find 
wir bei dem 
ſchlimmſten Übel 


1 Abziehendes Gewitter 
Künftlerifche Aufnahme von $. von Se 





Rnabenbildnis 


agern: Hamburg 





Künftleriihe Aufnahme von Karl Schenter, Berlin 


— e 





photographijder 
Darftellung, das 
die gejunde Ent: 
widlung des Licht: 
bildes fajt vom Be: 
ginn an untere 
raben hat. Aud) 
bier beweilt Kühn, 
daß bie Netujche 
nichts weiter ift, 
als die Nichtbe— 
erridung der 
echnik. „Es gibt 
feine Unvolltom- 
menbeiten des 
photographijden 
Perfahrens, Die 
eine Retujde nö- 
tig machen.“ 
Grünblide fad- 
lide Erziehung 
erübrigt alle we- 
lensfremben Ein— 
griffe. Die auf 
dem Hilfsmittel 
Retuſche ſyſtema— 
tiſch aufgebaute 
Arbeitsweiſe iſt 
nichts als eine 
Täuſchung, ver— 
dirbt die Photos 
graphie und be: 





E 


endet jede Entwidlung. — Das gilt in be: 
Jonderem Make für die Portratphotographie. 
Mir willen, daß die Porträtphotographie 
im Anfang, aljo zur Zeit, als die Mittel 
nod primitiv waren, allgemein auf einer 
hohen Stufe ftand, und vereinzelt jogar eine 
Spike erreichte, bie heute faum überjchritten 
ijt. Die erften Berufsphotographen, jchrieb 
$idjtmart, famen von der Miniaturmalerei 
her. Sie waren Riinjtler, und was fie in ber 


s Des 





oma Porten. Künftleriihe Aufnahme von Karl Schenker, Berlin 
(Mit Erlaubni erlags W. Sy. Mörlins, Berlin YB. 15) 


——, 


8 


Bildnisphotographie leiſteten, beſaß alle 
éi Wel bie jie mitbrachten. Aber febr 
bald drangen von allen Geiten ungelernte 
Bejchäftsleute in den Stand der Berufs: 
photographen ein, deren Leiftungen taum 
nod) fiinjtlerijde *Bejtanbteile hatten und 
deren technilche Kenntniſſe nur oberflächlich 
waren. Das Bublitum, das feinen Unterjchied 
wahrnahm, fiel ihnen anbeim. Und als die 
Netufche, die es anfangs nicht gab, erft durd)- 


632 EI Y. Matthies:Majuren: Zur Technik der fiinjtlerijden Photographie R===43 











E Fürftin Jiirftenberg. Künftlerifche Aufnahme von E. Mafow, München PE 


gebildet war, hörte jeder Bejchmad auf. Auch 
David Hill, der um 1843 die befannten, 
heute angejtaunten Bildnijje hergeftellt hatte, 
ftand jchon in den achtziger Jahren fo wider» 
Itandslos im Bonne bieler Entwidlung, daß 
lich leine Leiftungen weder in Stellung, Aus: 
Jdjnitt nod) Beleuchtung von den Arbeiten ber 
anderen Berufsphotographen unterjchieden. 

Auf eine aud) nur andeutende Schilde— 
rung des allmabliden Niedergangs bes pho- 
tographijdhen Bildniljes infolge der wenig 
liebevollen Anteilnahme des geringen ted): 


nijhen und funfthandwerflidhen Könnens, 
der Individualität, der eigenen Ausdruck zer: 
ftdrenden Retuſche und der egalifierenden 
Routine in ber Auffaflung wollen wir ver: 
zichten und uns nod turz mit den Anzeichen 
einer Wiederbelebung, ber Wiederantnüp: 
fung an jene Anfangszeiten bejchäftigen. 
(fs gibt heute Berufsphotographen, die 
aus Überzeugung mit all den unbeilvollen 
Errungenjchaften ber Retufde, der ertiin: 
Welten Beleuchtungen und Auffafjungen u. a. 
je eher, je lieber brechen und die Aufgabe 

















SCSSSSSSSSSSeSsal Elfe Torge: Verwandlung seess 633 


wieder ebrlid) und rein pbotograpbild) 
lójen móbten. Oft genug boren wir fie 
über die Vorgänge ber überlommenen Ar: 
beiten aus den Zeiten der Daguerreotypie 
reden, deren Natürlichkeit und Frifde ber: 
vorheben. Damit allein ift es aber nicht 
BE Die Berufsphotographie ijt zu jehr 
eichäft geworden. Gie tann nur eine ges 
unde Steigerung erfahren, wenn das Haupt: 
eben ber Beherrihung der Technik gilt, 
ie reichen, heute in hohem Maße gebotenen 
Mittel auszunugen. Darüber aber find die 
‚Meinungen eben nod) geteilt, was unter Be: 
herrſchung der Mittel zu verftehen ijt. Ted): 
nilche Neuerungen mitmachen, bedeutet nichts, 
wenn fie mit ein paar Verſuchen abgetan 
werden. Man tann nicht annehmen, fid) ein 
Verfahren angeeignet zu haben, wenn man 
nad) ein paar in Büchern oder Zeitjchriften 
angegebenen Rezepten ein paar mehr oder 
weniger geglüdte Bilder herausbringt. Es 
andelt fih vielmehr darum, das ganze Ge: 
iet ber Technit ber Lichtbildneret in ähn- 
licher Weije burdjguarbeiten, wie es Kühn 
in feinem Buhe verlangt, bann fommt von 
jelbjt bie Erkenntnis, welche Pfujcherei die 
übliche Handhabung der Photographie ijt, 
daß allein biejer Mangel ben Tiefftand ver: 
ſchuldet. 

Wohl ſahen wir die neueren Verfahren 
auch in der Bildnisphotographie angewandt, 
es gab Gummi⸗ und Oldrucke aber nur als 
— Im techniſchen Sinne waren ſie 

änzlich unzureichend, nur mit Hilfe des 
etuſcheurs ſoweit hergerichtet, den Nicht: 


fenner täufchen zu fónnen. Cie erwiejen 
jich in feiner Hinficht als Bereicherung, als 
eine Vertiefung bes Borwurfs. Schon ihrer 
unbegrenzten Daliartet wegen we) fie 
auf ein lebhaftes Intereſſe des Publikums 
zu rechnen. Wusfopters und Entwidlungs: 
papiere vergilben oder verblaffen met [Hon 
nad) wenigen Jahren, find nur als Bewers 
tungsmittel, als —— für den Chas 
rafter der Platte, die Whftufungen, den Bild» 
aus|djnitt anzujprechen und tommen für ben 
Runf hotogtaphen als Ausdrudsmittel nicht 
in Frage. Gummi, Öldrud: und be[onbers 
bas Umdrudverfahren find nad) bem heus 
tigen Stande bie einzig wertvollen Sjer|tel: 
par ete künſtleriſcher Arbeiten. 
ünftleriiche Photographie bedeutet bie 
** Stufe photographiſcher Bilddemiis 
ungen. Man tann ihr nur gerecht wers 
den, wenn man bie Tenit, von ber hier 
nur ein paar wichtige Punkte hervorgehoben 
find, im weiteften Sinne beherrjcht und fih 
alle Vorteile zunuge machen tann, bie fie 
gibt. Neben den gebotenen Ausdrudsmög- 
lichkeiten ift es aber aud ege E auf 
Haltbarkeit und Gediegenheit, auf E RE 
lichkeit und Reinlidfeit der Technik zu halten. 
Das erfordert neben dem feften Willen, nie 
zu malen oder gu retujchieren, große Aus: 
dauer und lange Übung, für die meiften 
Photographen eine vollfommene Umftellung, 
einen Jteuaufbau ber ganzen Arbeitsmethode. 
Nur dann aber tann fünftlerifche Photogra: 
phie Berechtigung haben, können ihre Er: 
zeugnijfe Dauer und Materialwert beiten. 


/ y, / Y, y, d 7 \ d r d d j P 
EE uaua anaana /.90/00/00/ 90/00, aan :123 
4 Ke 


Die Jugend ftirbt. 


VIII LIKE 
A À i D D J À A D A A A À 4 A 


Y 
À 


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D 4 


Y 
À 


. e D f Y D 
A A D A A 


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m. 


Verwandlung. Von Elfe Torge 


Ich traure ihr nidt nad — 
Cie war ein Dämmerjchwered, Dumpfe3 Träumen! 
Cie war ein allzu wilder Wellenichlag 

Bor eines grenzenlofen Meeres Schäumen 

Wm Ufer, dran ich frank vor Cebnhudt lag! 


Des Leben? Mittag führt mid nun hinauf, 
Und mid umfängt das Licht mit vollen Fluten. 
Doch fpiir id) wohl, eS fenft fid) bald Der Lauf 
Des Saggeltirn8! E3 wachſen fon bie Gluten 
Der Abendpradt an meinem Weg herduf. 


Dod wie ein Schmetterling, Der 30gernd fid) 
Aus enger Puppe, drin er Dumpf gefangen, 
Befreit und ftaunend regt fein fchimmernd Sch, 
Go ijt ein Klare in mir aufgegangen: 

Die Sonne, bie mir ſchwindet, — finft in mid! 


XXXXXXIXIXIXIIXXXAxIIXIIXAXXIXXIXAIXXIXIIXI 


LEE KR tat RR RR 
KB RK 


DieSeacanun 
S Stovelfe nr —— 


Otcccecececeeeeececececceceeccecccececceccecccececccccccce933333339393933933333333333333333339333333333325393393232?30 


) in ber ber einzelne wenig genug 
vom anderen hatte, waren wir eins 
ander wieder begegnet, und im 
gover eines Theaters hatten wir einmal 
eine Swijderpauje lang, vom Flug der 
Polonaile an die Wand geflemmt, ge: 
plaudert und mit dem üblichen Bedauern 
fejtgeftellt, daß der Krieg eigentlich bie beften 
alten Befannten gejchieden und bie netteften 
Zufammenhänge aufgelodert hätte. Sogar 
einen gemütlichen Abend, an dem wir den 
Schaden wieder gutmaden und richtig wie 
in alter Zeit gujammenjigen wollten, batten 
wir dabei in Ausjicht genommen — aber 
bas war dann fo verlidert und nichts ge: 
worden. 

Ih muß übrigens jagen, daß id) ben 
Juftizrat bei diejem Wiederfehen bid ge: 
worden fand, obwohl er dod in all den 
fargen Jabren hier in der Heimat troß feiner 
blühenden Kanzlei aud) nicht gerade im 
Tiberfluß gefeffen haben mochte. 

Ja — und zwei», Dreimal waren wir dann 
nod) jo für Augenblide aufeinandergeftoßen 
— immer in Eile, auf dem Sprung und 
in Betrieb — 

Und dann geftern abend. Geftern abend, 
als er mir ba im erften Dámmerlibte an 
der Gedächtniskirche zuwinkte und mit feiner 
breiten, majligen Geftalt und mit einem 
Shwal von lauten Worten den Weg ver: 
legte, 

„Tag, lieber Dottor — endlich fieht man 
Sie wieder mal! Wie geht’s? Was treiben 
Sie? Gut [eben Sie aus — na Ihr Schlan: 
ten babt’s eben beffer als unfereiner! — 
Was? Biel zu tun — viel Arbeit? Viens 
Ihenstind — das ift bod) nod) bas einzige 
Vergnügen, bas uns bleibt in diefer gott: 
verlajjenen, jammervollen Zeit! Sagen Cie 
felbft: ijt Denn bas nod) zu glauben? — Dieje 
Unfähigfeit — dieje Berfaltung — diefe Hilf: 
loſigkeit!“ Gein flachiges, vollbliitiges Beficht 
mit dem Behade alter Schlügernarben wurde 
nod) röter, ber breite, gutmiitige Bulldoggen: 
mund fletjchte, Dak es zum $ytird)ten war — 
jpriibte dann plößlich diejen Zorn von fid, 
iprang um in Herzlichkeit und Nähe: „Und 
was maht die Familie — die Frau? Das 
Tidhterden ?“ 

„Die find beide für ein paar Tage bei 
meiner Schwelter auf bem Gut —" 

„Dann find Cie jegt allein? Strobwitwer! 
Das trifft fih ja bod) ganz herrlih! Alſo 





dann miiffen wir den Abend feiern!” Und 
ohne weiteres [Mob er mir die [were Hand 
unter den Arm — legte Beſchlag auf mid. 
Nein — loszufommen war da wohl nidt 
mehr. 

Oben von der Höhe ber Bedächtniskirche 
iblug es abt. Schlank und [pif Boden bie 
Türme in ben rot durchleuchteten Abend: 
himmel. Als breite Wellen janfen Die 
Schläge in ben bumpfen Lärm ber Gtraße 
nieder, in bas tofende Braufen und Quar» 
ren der Autos, in bas hammernde Lauten 
der Elektrijchen, in bas taujendfältige Stim: 
mengewirre — 

Mor dem Straßendamm mußten mir war: 
ten. Ich fragte: „Haben Gie einen beftimm: 
ten 9Bor[djfag? Ich weiß. da wenig Be: 
ſcheid —“ 

Er jchob bie dide Unterlippe vor, fann 
nad und hob dann rajd) den Kopf: , Mars 
ten Cie mal — ba weiß id) eine fleine 
Meinftube — nicht zehn Minuten weit — 
Nur zwei Rimmerden — räuderig und 
ipieBig — und glatte Whorntijde. Und als 
Gájte nur fo ein halbes Dugend braver, 
alter Knaben. Aber ein Wirt, der fein Ge» 
ſchäft verftebt, und ein Tropfen — alfo Sie 
werden jeben —“ 

Wir bahnten uns den Meg quer durd) 
das Gewimmel der Tauengienftraße und 
bogen in bie [tille RanteftraBe ein. Immer 
nod) hielt er mid) untergefaßt — 

Ich fragte: „Sie find viel auswärts?“ 

pot eigentlich nicht ſchlimm. ber bod) 
bin und wieder — wie bas eben fo bet nem 
bejjeren alten Herren ijt —“ 

„Wir find etwa im gleichen Alter —?“ 

„Sch werde fünfzig — die Seit vergeht!” 
Er jah gerade aus, bann hatte er den Fas 
den wieder: „Ja — was ich abends treibe? 
Ein paar Juriſtentiſche habe ich, zu denen 
id jo bin und wieder aus Gewohnheit 
gehe —“ 

„Und Cie wohnen mod) immer ba bri: 
ben in der fleinen Straße mit den vielen 
Bäumen?“ 

Geine Augen ftrahlten aus den Wüllten 
ihrer Bettung: „Mit den vielen Bäumen — 
und mit den vielen Kleinen Hunden — jaaa — 
Müſſen Sie übrigens aud) wieder mal hin: 
tommen — ift ja bod) Jahre ber — !^ 

Dann waren wir auc fhon am Ziel und 
lagen in dem bebaglid) ftillen Raum diejer 
Heinen Meinftube im halben Licht. Er hatte 
wirflid) nicht zuviel verjprochen: Hier lief 





ee SS) Karl Rosner: Die Begegnung BZZ 635 


fid) wohl fein und hier ließ fic) plaudern. 
Hier lebte jeder von den wenigen Tiſchen 
mit feinen Menjchen nur für fid) und ließ 
die anderen unbeadhtet. 

Und bier beim Mein blübte ber gute 
Juftizrat auch bald zu allen feinen Prachten. 

Schon die Beratung mit dem Wirt über 
die Marfe, mit der wir beginnen wollten, 
war eine Angelegenheit fiir fih, war das 
Konzil zweier erfahrener unb von der Wid: 
tigfeit ihres Berhandelns tief durddrunges 


ner Kenner. Ich jelbft wurde dabei fofort . 


als mehr unerhebliche Ntebenerjcheinung ers 
fannt und beijeite gedriidt. — Aljo: Hatten: 
heimer Deitelsberg von 1897, Gewächs Frei- 
berr von Stumm: Halberg — und fpäter 
Burgunder: Chambertin 1889. Dazu Fiſch, 
ein Stiiddhen gebratenes Fleiſch und Küfe. 

Ein Schaufpiel, wie er bann bas erite 
Glas bob, mit gejdloffenen Augen feinen 
Duft nahm, leije ſchmatzend fchmedte, 
faute —. Wie alle Züge feines vollblütigen 
Belichtes jid) von der Außenwelt nad) innen, 
nad dem Baumen wandten und dann nad) 
einer Weile wiederum erichloffen: Gewiß, 
bas war ein Wein, mit dem fih leben 
Dep — — 

Bon taujenb Dingen redeten wir — fram: 
ten perjunfene Erinnerungen aus — famen 
auf Cdjidjale gemeinjamer Befannter und 
auf die Formen, bie bas Leben für uns 
jelbft nach all dem bitteren Umſchwung biejer 
Jahre nehmen wollte. Er Hatte fic) ba 
eine Art von Zujhauerpiychologie für feinen 
eigenen Bedarf zurechtgelegt. Ein wenig 
allzu abſichtlich baute er fie vor fic bin, 
verftedte er fih Hinter fie. Dadurch blieb 
mir als Eindrud mehr fein Wunjd: fo 
wollte er erjcheinen, als etwa die fiber: 
¿eugung: fo war er. Alfo: er Hatte aus» 
gejorgt und fonnte ruhig abwarten, wie fid) 
ber ,europüild)e Wahnjinn‘ weiter noch ent: 
wideln würde, Er war allein und trug feine 
Berantwortungen. Gott fei Sant! Gegen 
des viel verläjterten Sunggejellenitandes! 
Ja — wenn man Frau und Kinder und 
alle möglichen Zujammenhänge mit der Bore 
und Nachwelt hatte, dann fonnte man wohl 
Angft und Bange friegen. Er aber war 
von derlei Ballajt frei. Er hatte bod) nur 
jeine alte Emma, die mußte vorhalten, jo» 
lange er am Leben blieb, und ihm brav 
weiter wie feit zwanzig Bahren feine Wirt- 
(daft führen —, Prozeſſe aber würde es zu: 
nächſt aud) weiter geben — mehr nod) als 
je vorher — und unter allen Umftänden bis 
zu feinem erften Schlaganfall. 

Wir waren bei der zweiten Flajche, als 
unfer Plaudern bird) einen [djeinbar faum 
nennenswerten Zwijchenfall ins Gtoden fam. 


Da war die Türe von der Straße aufge: 
brüdt worden und ein junger Menſch von 
etwa vierundzwanzig Jahren war eingetres 
ten. Schlank, blondiMópfig und friid — 
Einen vergilbter und vom Gebraud reichlich 
mitgenommenen feldgrauen Rod ohne Abs 
zeichen trug er und hielt eine Soldatenmüße 
an den biden Pad von Zeitungen und 
Wodenfdriften geflemmt, die er zum Kaufe 
anbot. Bon Tijd zu Tilh ging er: „Xolals 
anzeiger — Woche — Illuſtrierte —?” 

Und ftand dann auch vor uns — 

Ich winfte ab — und jah dann, als mein 
Blid auf den Juftizrat fiel, daß ber ben 
jungen Menjchen mit einem Wusdrud, ber 
Erftaunen, Suchen, Fragen in fih jchloß, 
anftarrte — ihn gleich darauf aber mit einem 
jáben Kopfſchütteln enttäufht, beinahe 
ärgerlich wiederum ließ — 

Schon war der Zeitungshändler weiter 
vor dem nächſten Tijch, ba rief ihn ber Juftiza 
rat nod) einmal an: „He — Gie da —!“ 

„Bitte —? Lotalangeiger — Acht-Uhr⸗ 
Abend — Rundihau — ?” 

Rad irgendeinem Blatte griff die furze, 
vieredige Hand. Und zugleich fragte er: 
„nWo haben Cie im Krieg geftanden ?“ 

Ein wenig verwundert — gleidjjam auf: 
gejdredt — richtete fid) ber junge Menſch 
gerade. Als ob ibm da irgendeine alte 
und halb verjuntene Gewohnheit wieder in 
die Knochen führe. Mie eine Meldung Hang 
bie fnappe Antwort: ,, Rejerve-Feldartilleries 
Regiment fiebzehn — dritte Batterie.“ 

„So — — Na, waren Gie da aud mit 
an der Somme —? Nein —? Nun alfo!” 
Mit grimmigem Geficht und nachdenklich vor: 
gejchobener Unterlippe jah ber Juftizrat an 
dem anderen vorbei. Riidte fic) dann jah 
gujammen, 30g bas Täſchchen und reichte bem 
Manne einen Schein hin. Er jdjüttelte den 
Kopf, als der fi anjdictte, den überſchüſ— 
figen Betrag herauszugeben, und jchob die 
Zeitung, ohne einen Blid in fie zu werfen, 
zur Geite. 

Mir waren wieder allein — tranten und 
ipraen. Wher ber Tuftizrat war jebt zer: 
ftreut, und bie behaglich-zwangloſe Stim: 
mung von vorher wollte nicht recht wieder» 
lommen. Es war, als ob ihn irgend etwas, 
bas abjeits unjeres Plauderns lag, beſchäf— 
Dote, nicht losliege und ablentte, 

„Sind Gie verftimmt?” 

„3 wo —! Im Gegenteil!” Er jehwieg 
und fam nicht frei davon. 

Der Wirt brachte ben Chambertin in ber 
fleinen rohrgeflochtenen Wiege. Borfichtig 
trug er ihn, als wäre in dem Kleinen [mas 
len Körbchen ein Rindlein, Das über einer 
heftigen Bewegung erjchredt erwachen 


636 Bosse Karl Rosner: see 


lónnte. — Wieder das große Schaujpiel ber 
Probe. Wunderbar tentperiert war ber töfts 
lidje Burgunder, Honn ſchwer wie dunfles 
Blut in den dünnen Gläfern, und feine 
Kraft löjte auch bald genug das Unbehagen, 
das fid) da hatte niederjenfen wollen. 

Und pliglid) nad einem tiefen Zuge und 
ohne Übergang begann er dann zu reden. 

„Sehen Gie, lieber Dottor, biejer Kerl 
vorhin — der junge Burſch mit feinen Beis 
tungen — na, ja — alfo an ein merfwiirs 


diges fleines Erlebnis aus diefen Jahren, 


bat er mid) erinnert. Wn eine Begegnung 
— ja — nicht mehr. Weil er einem anderen 
ähnlich fieht — das heißt nur ganz entfernt 
ähnlich fieht — villen Sie, für den erften 
Blid-— und weil ich den anderen aud) fo 
in dem verbraudten, grauen Waffenrod und 
mit der Müge unterm Arm gejehen habe. 

Aljo eine ganz ausgefallene Gejdidte, 
die mir im dritten Kriegsjahre — ja, An: 
fang fiebzehn war es — gejdeben ift — 

Un einem Sonntag — an einem Sonn: 
tag nachmittag, fo um vier — id) Hatte es 
mir bequem gemadt — fige ba in Haus: 
Ihuhen und ohne Kragen, mit "ner Bigarre 
unb bláttere in einem Attenfafzitel, den id) 
mir nad) Haufe mitgenommen hatte — geht 
die Klingel draußen —. 

Ungewóbnlid. Ift bod) feine Bejuchs» 
zeit — und von Überrajchungen bin ich fein 
Freund — Na, man wird jehen. 

Emma öffnet. Ich höre fie gehen — Hire 
bie fette an der Türe klackern — höre fie 
eine ganze Weile mit jemand jprechen. 
Dann ift [ie bei mir: „Herr Gujtigrat, ein 
Soldat ift draußen und fragt nad Herrn 
Juftizrat —" 

„So? Haben Gie ihm nidt gejagt, wann 
id) in meinem Bureau zu jprechen bin?“ 

Die Emma nidt: „Ja — aber er jagt, 
er bat privat mit dem Herrn Juftizrat zu 
reden.“ 

„Brivat? Ein Soldat?“ Ich frage: „Iſt's 
ein Offizier? Hat er denn teine Karte ab: 
gegeben?“ 

„Nein, ein Offizier ift’s nicht: ein richtiger 
Soldat. Ein junger Menſch — ein hübjcher 
Menih —" 

Alſo: wenn Emma das [hon fagt: „Und 
was er will, bat er Ihnen nicht ver: 
raten ?“ 

„Nein. Aber er könnte aud) nicht ins 
Bureau Zommen, er wäre nur für heute in 
Berlin —“ 

Go. Keine Ahnung hatte id. Wher ba: 
mals war das bod) nod) |o: ein Soldat — 
Kämpfer — Baterlandsverteidiger — Den 
modte man nicht fo ohne weiteres abweijen. 
Wer weiß, was er wollte? Auf meine Haus: 


born jehe ich, dente an meinen kragenloſen 
Hals — 

„Den können der Herr Juftizrat auch fo 
empfangen —“ 

„Aljo in Gottes Namen!“ 

Gleid) darauf läßt ihn die Emma ein. 

An der Tür bleibt er ftehen: ftramm, beis 
nahe dienftlich und ben Blid gerade auf mid. 
Gin gut gewacdhjener, hübjcher, blonder Burſch 
von vielleicht ¿weiundzwanzig. Die Müge 
bat er in der Hand. Unteroffizierstrejjen — 
bas jchwarz: weiße und noch fon Bändchen 
auf ber Brujt Mein erfier Eindrud, wie 
th mid fo aus dem Geffel rede: Netter 
Junge — wirklich netter Junge Ein 
wenig befangen — aufgeregt — unjider — 

Ich bin alfo nett und leutfelig. Ich dente 
ibm, näher zu tommen, weile auf einen 
Stuhl: „Bitte. Entjchuldigen Sie meine 
unvorſchriftsmäßige Belleidung, aber — — 
Mit wem babe ich die Ehre, unb womit 
fann id) Ihnen dienen?“ 

Er fommt näher. Immer die Augen feft 
auf mir mit einem merkwürdigen Ausdrud, 
der Fragen und Erregung ijt und Neugier 
und Lächeln zugleid. Als ob id ein be 
jonders interejjantes Menagerietier wäre — 
und als ob er mir etwas ganz Geheimnis» 
volles mitzuteilen hätte, 

„Ich heiße Kramer —” fagt er, „Unter 
oflizier Ernft Kramer auf dem Transport 
von Rumänien nad) ber Mejtfront.” 

„Ja — 

„Ich darf mid) ausweiſen —?“ Er knöpft 
den Rock auf, holt ſeine abgegriffenen Papiere 
vor, reicht ſie mir hin. 

Nur der Form halber werfe ich einen 
Blick auf das Blatt: Ernſt Kramer — 
Schriftſetzer — Geburtsort: Erfurt — Ich 
falte das Ding wieder zuſammen, reiche es 
ihm zurück, ſage noch: „So, ſo — aus Erfurt 
ſind Sie? Da habe ich als junger Menſch 
auch einmal gelebt —“ 

Ohne aufzuſehen nimmt er das Blatt, 
meint, während er es wiederum verſorgt: 
„Morgen früh um halb ſechs werden wir 
wieder verladen — ich bin auch zum erften: 
mal in Berlin. Und da babe id) mir ge: 
Dodt: id) muB dod den Herrn Juftizrat 
aujjuden —“ 

„Sp. „Na, da muß es ja wohl eine für 
Cie widtige Sahe fein. Womit aljo — $^ 
Ich merte, daß id) immer nod) meine Zigarre 
in Händen habe, und greife nad) dem Kiſtchen, 
halte es ibm bin —: „Sie rauhen?” Dabei 
treffe ich feinen Blid. Einen ganz roten 
Kopf hat der Junge jebt, maifafert augen: 
ſcheinlich an feinem Fall und weiß wohl nicht, 
wo anfangen — 

Mechaniſch nimmt er eine Zigarre, dreht 











— —ñ— — 


EE EE E Die Begegnung B<3332333333333S49 637 


ſie in den erfrorenen Fingern — kommt 
immer noch nicht zurecht. 

Ich muntere ihn auf: „Haben Sie etwas 
ausgefreſſen? Es wird ſchon nicht ſo ſchlimm 
ſein, und wenn's irgend geht: ich helfe Ihnen 
raus — !“ 

Da hebt er ſeinen Kopf und ſagt mit 
einem Male: „Herr Juſtizrat — ich bin 
nämlich Ihr Sohn —" 

Alfo: wenn mir einer jäh einen Kübel 
taltes Waller über den Kopf gegojjen hätte 
— nidt anders hätte mir gumute fein 
tónnen —! Ich weiß nod), daß mein eriter 
Gebanfe war: ‚So’n netter Kerl — und fo 
ein Schwein! — Und dem haft du raus: 
helfen wollen! —‘ Wher id muB bod) ein 
jehr entgeiftertes Geſicht gemacht haben, 
denn er wiederholt: „Sa — ich bin der Sohn 
vom Herrn Juftizrat — 

Set babe ich mich wieder. Sch richte 
mid) auf aus meinem Gejjel — empfinde 
plóflid) mit einer Art Erbitterung die Haus: 
ſchuhe und den fehlenden Kragen als üble 
argerlide Hemmungen und Blößen — und 
fage empört, mit aller Schärfe: „Mein lieber 
Herr — — Kramer — Gie jhheinen fih ba 
wirflid) an eine faljdje Adrejje zu wenden. 
Mit jofd)en Scherzen werden Gie bei mir 
feine Gejdafte machen! Oder haben Gie 
ernjthaft geglaubt, daß id) Ihnen auf diefe 
Behauptung bin meine Brieftalde anbieten 
werde ?“ 

Er ftebt auf, [djüttelt den Kopf und hebt 
abwebrend die Hand, in der er immer nod) 
die Zigarre hält, Jagt mit erregter aber bod) 
mertwiirdig fefter Stimme: „Ich bitte, Herr 
Juftizgrat, ich möchte das aufflären dürfen. 
Und id) veritebe bas Mißtrauen burdjaus — 
aber id) bin tein Betrüger —!” 

„Da bin id) bod) begierig —!” 

«dett Sultigrat haben bod) in Erfurt ge: 
lebt — 

In p Jawol — das fagt’ ich ja 
joeben: als ganz junger Menj — als Re: 
ferendar — 

„Und Herr Juftizrat haben damals bei 
einer Frau Laufhart gewohnt — 

„Zaufhart — ja, ftimmt —* Dabei 
fommt eine dumme llnjidjerbeit an mid) 
Beran. Durd feine ruhige Art — durd 
unklare und halb verwilchte Erinnerungen, 
bie mid ba plóblid) überfallen — weiß ich, 
wiejo — Und gugleid) — — Gott, willen 
Cie, Doktor: damals hatte mein alter Herr 
bod) bielen jchönen Ehrgeiz, mid) einmal 
irgendwie im Ctaatsbien[te zu [eben — Na 
— fam dann anders. Uber: Laufhart — 
natürlich, Die brave Witwe Laufhart! Und 
die filia Mtariedhen — ja, Mtariechen — Und 
— nicht wahr? — man war eben jung —. 


Aber das war ja der reine Unjinn — das 
war bod) hundert Jahre her —! : 

Sagt er in mein Guden und Gtöbern 
hinein: „Und ba war eine Tochter —" Gang 
ehrlid) unb offen fieht er mich dabei aus 
dem anftändigen Jungengefidte an. Nur 
erwartend — 

„Allerdings —" und während ich bas fage, ` 
ärgere ich mich wieder über meine unvolls 
ftändige Montur — fühle id) mich unlicher, 
beengt und unbehaglidh. „Allerdings, Herr 
Kramer — id) glaube: Marie hat [ie — —" 

Da nidt ber Junge, legt bie Zigarre vors 
fihtig auf ben Schreibtilch bin, ijt puterrot 
bis unter feinen blonden Schopf: „Mein Bater 
— eben der damalige Briefträger Friedrich 
Kramer — ber die Mutter bod) immer [Hon 
gern gehabt hat, der hat fie dann geheiratet. 
Gleich nahdem bas zu Ende war — id) 


meine: gleich nachdem der Herr Juftizrat 
abgereift find — —“ 
Alſo — mod) taum jemals in meinem 


Leben ift mir mein Gehirn fo lächerlich leer 
unb ausgenommen gewejen. Nach irgend» 
einem vernünftigen Wort juche ih — nichts! 
Aber alle möglihen Erinnerungen daran, 
wie bas damals gewejen ijt, fallen mir ein: 
Wie id) nad) einer albernen Gtreitlade un: 
erwartet ſchnell abreiſte — und daß ich auch 
dann noch ein paarmal Kartengrüße ſchickte, 
aber keine Antwort bekam — und es ſo ließ. 
Daß ich nie auch nur einen Augenblick daran 
gedacht hatte, es könnten da Folgen — — 

Endlich ſage ich, nur um etwas zu reden: 
„Tia — wollen wir uns nicht wieder ſetzen?“ 

Und wie wir figen, nach einer Weile: 
„Woher — wer hat Ihnen denn von diefen 
Dingen gelprodjen ?” 

„Die Mutter —“ 

„Alſo bat Ihre Mutter Cie zu mir ge: 
ſchickt ?^ 

„Rein — die Mutter ijt tot — 
drei Jahren [Hon —" 

„Dh —!^ Dabei höre ich, wie fremd und 
albern das Klingt. 

Er redet dabei wieder: „Sch habe aud) 
immer [Hon gebadjt: wenn du einmal nad) 
Berlin fommit, dann fudft du ihn auf. Und 
jebt, wo doch unjer Transport —“ 

Ic nice heftig. Und zugleich, wie ich ibn 
jo reden höre, vor bielem leijen Gingjang 
und Dialett, den ich aus bielen alten Jahren 
nod) in den Obren habe, wird mir das tlar: 
Alſo, das fol dein Sohn fein —. Sohn — 
Kind — Nahlomme —! Dein Blut —! 
Gang ftille halte ich, als ob ich irgend etwas 
erleben müßte und nicht verjäumen dürfte. — 
Obne Gentimentalitát — aber man hat dod) 
jo gewijje Überzeugungen: aus Herfommen 
oder Glauben oder Yberglauben —. Hits 


feit bald 





638 BS: P Karl Rosner: Die Begegnung 


— reinweg nidjts. Freude? WBatergefühle? 
Nee — feine Spur! Meine erte wejentliche 
Empfindung: Silflofigfeit und Unbehagen. 
Mein erfier Gedanfe — id) will ehrlich fein —: 
Das wird Geld fojten! Der Junge wird 
bid) jeBt gehörig hodnehmen! Gott ja, man 
ift Dod nun einmal Rriminalift und bat bod) 
wirklich allerhand erlebt —. Und ba babe 
id) mich auch wieder halbwegs. 

Ih fage alfo überlegt: „Tja — nun find 
Sie aljo bier. Gie werden ficher verjteben, 
daß mid) das alles jehr unerwartet und übers 
rajchend trifft. Ich möchte auch vermeiden, 
fogleich bindend Stellung dazu zu nehmen — 
aber, wenn wir den Standpunkt einnehmen, 
Ihre Angaben als wahr zu unterftellen — 
Cie werden mit Ihrem Beſuch bod) irgend» 
welche Gedanfen verknüpft haben — ? Irgend: 

welche Wünfche 2” 

Sicht er mid) erft ohne rechtes Berftänd« 
nis an, jagt dann: „Sch habe Cie nur feben 
wollen — das ijt doh ganz natürlich —" 

„Bewiß — gewiß — aber, nicht wahr? — 
Gie find im Feld — die Lóbnung: davon 
tann man Déi aud fein Rittergut taufen! — 
ift bod) fo. Und wenn man nichts zum Zu: 
legen bat — ?“ 

Da [tebt bod) ber Junge wieder auf, 
Ichüttelt den Kopf: „Ich babe Gie nicht an: 
pumpen wollen.“ 

Ich lahe: „Anpumpen. — Lieber Freund 
— iit bod) Unfinn! Ich frage Sie bod) — 
jpielt ja aud) gar feine Rolle —!^ Uber: 
nein — nidjt zu madjen. Bóllig ausgejdjlojjen. 
Na, was fol id) Ihnen Jagen: ein ganz 
famojer Zunge! Ein Rerlden, vor bem man 
fih jagt: Donnerwetter —! 

Aljo, ich fage: „Segt leben Sie fih mal ver: 
nünftig bin!” und id) laffe von meiner Emma 
Raffee bringen und Ruben — und wir plaus 
dern nun ganz friedlich und gebildet. Er 
erzählt, was er mitgemadt hat: bei Verdun 
und in den Karpathen und in Rumänien. — 
Verwundet ijf er auch ’nmal gewejen. Und 
Dann frage ich ihn nod) nad) dem und jenem 
von den ollen Kamellen — was er jo davon 
wußte, — Mfo, der Briefträger hatte das 
Mädchen geheiratet, fih aber ausgebeten, 
daß jede Verbindung mit „dem Herrn Re: 
ferendar” zu Ende fet. — Dn einer dummen 
Gilvefternabt war ber Klamauf, auf den 
bin id) damals von Erfurt abgezogen bin — 
im Frühjahr hat er fie geheiratet — und im 
Juni war der Junge da. — Das alles 
ftimmte [fon — und bas hatte ihm Die 
Mutter nad) und nad) erzählt — in einer 
Zeit, in ber er felbft [hon die Regeldetri 
der Schöpfungsgeichichte nachrechnen fonnte 
und neugierig war und fragte. — Ja, und 
damals [Hon und immer wieder hätte er fid 


das vorgenommen: wenn du einmal nad) 
Berlin fommft, dann juchlt du ihn mal auf! 
Und ber Bater — eben ber Brieftrager 
Kramer — ber jet bod) [Hon feit fieben Jahren 
tot, und bie Mutter fet zu Anfang Bierzebn 
geftorben — 

Bis gegen feds Uhr habe id) ihn bei mir 
gehabt, habe ihn mir beflopft und behordt 
von allen Geiten: wiljen Sie, Dottor, — ein 
ganz famojer Bengel! Einer, der wirklich 
nur gefommen ijt, um zu erfahren: Alſo fo 
fieht ber große Bruder aus, der daran [huld 
ift, daß du auf der Erde wandelft —! 

Für den Abend habe id) ihn mir dann 
zu Trarbad) binbejtellt, babe ihn gefüttert, 
unb wir haben aud) eine gute Flajche gee 
trunfen. Bon der Zukunft haben wir ge: 
redet, was er nad) dem Kriege machen wolle? 
In eine Druderei wollte er wieder als Geber 
geben. — Sage id: „Dann bitte id) mir 
aber aus, daß Sie vorher zu mir fommen!* 
Schüttelt er den Kopf und laht: „Ich werde 
es jhon ſchaffen!“ Ein richtiger Didtopf! 
„Menſch —" Habe ich ihm gejagt, „Menih, 
jest feien Sie fein Froſch — Ichließlich, nicht? 
wie wir nad) der natürlichen Schöpfungs: 
geldjidjte zueinander ftehen — 1^ Wher: nein 
— niht zu madjen. Na, id) habe ihm dann 
bod) ein paar Blaue in feine Zigaretten: 
ſchachtel estamotiert. — Aber, wollen Gie’s 
glauben, Dottor, — bas Glas in der Hand, 
habe ich bod) "ne ganze Weile daran herum: 
gedrudit, — ich hätte es fertiggebrabt, ihm 
zu fagen: Junge, auf du und du —!? Alo 
tidtig nicht 'rangetraut babe id) mid) — 
jenile Hemmung! — Berfall und Marasmus! 

Um elf mußte er jchon wieder bei feiner 
Sammelitelle fein. 

Nach der Adreffe habe ich ihn gefragt. — 
Feldpoftnummer. Wohin es im Weiten 
ginge? Bon der Somme hätten die Kame: 
raden etwas erzählt — aber darauf Tonne 
man nicht viel geben — 

Alſo Wbjdied. Zur Cleftrijden bringe 
id ibn nod, jage ihm, wie er fahren mub. 


Dann haben wir uns die Hand gegeben. 


Für die Einladung hat er jid) bedankt, und 
jdreiben wollte er aus dem Felde. Alles 
Gute habe ich ihm gewünjcht — 

Dann nad ein paar Tagen Dat er auch 
wirklich gejdrieben, bat fid) für bas Geld 
bedanft. Und fpáter find nod) zwei Karten 
gefommen. Sch babe fie nod) irgendwo zu 
Haufe. Dann war's aus. — Das war jo 
die Zeit, in ber unjere Frühjahrsoffenjive 
gewejen ift — id) babe oft an ihn gedadji 
und ich habe mir vorgemadt: jebt fann er 
gar nibts von fid hören laffen, jekt 
dürfen fie nicht jehreiben! Das ift wochen: 
lang fo gegangen. Na — dann ijt eines 


ee EE EECH Bedichte — — — 639 


Tages ein Brief von mir zurückgekommen: 
„Vermißt.“ 

Alſo, Doktor, ich weiß noch: als ob mich 
einer mit dem Knüttel vor den Kopf ges 
ichlagen hätte! — Und fomi[d) ijt bas: mand: 
mal will man’was partout nicht glauben, meint, 
das könnte bod) gar nicht möglich fein. An 
Jein Regiment habe ich damals gejchrieben, in 
feine Heimat und an alle möglichen Auskunfts⸗ 
Helen — nichts. Bermigt. Dann habe ich 
dur) Jahr und Tag geglaubt, vielleicht ift 
er gefangen — und eines Tages fommt er 
an. — Nein — nichts. Worbei und aus, —“ 

Vergrübelt fah der Juftizrat vor fih bin, 


die dide Unterlippe grimmig vorgefchoben, 
bie breite, turze Hand am Glaje. 
„Merkwürdig ift bas — merfwiirdig: ba 
Bat man nichts gewußt von all bem Kram 
unb ftößt bann fo für ein paar Stunden auf: 
einander — und dann ijt wieder alles aus —“ 
Er jchüttelte den Kopf und fpriibte bas von 
fid), griff nad) dem Glaje. Er hielt es vor 
lich bin, [ab in bas jdjmere Rot unb trant. 
Mad einer Weile rudte er bie Schulter 
unb fab mid) an: „Willen Sie, was mir 
nod) immer gar nidt in ben Kopf will? 
Daß id bem Jungen nicht bod) bu gejagt 
babe an dem Abend bei Trarbad drüben —“ 


Sall pl! | | em pen | pn een pn || | | en en | | ee || elt 


Sonnenfdein. 


Quill in meine tieffle Oruft, 
Liebes Licht, du Himmelsfegen ! 
Life leife, Füße Luft, 

Alle fot als warmer Regen! 
Dampfend wie ein Dlütenbain, 
Song id) deine Gottheit ein. 


Wie Sommerwind webte Sehnfudt auf, 
So leis wie ein Baud), der Fommt und 
verrinnt, 

So golden, wie der goldene Knauf 
Von Türmen leuchtet, die ferne find. 


Der Apfelbaum. Von Suftav v. Seftenberg-Dadifd) 


Du fhauft empor in lidjtes Blattgewirr, 
Durch das die Sonne tropfenweife fällt. 
Au deinen Häupten breitet fid) die Welt, 
Und Himmelsbläue lächelt hinter ihr. 


Ein Windhaud landet flüflernà über dir. 

Die Blätter beben, und ein Apfel fällt. 

Das Reifende verläßt die fd)óne Welt. 

Der Tod erfdredt, was frudhtlos blieb in ihr, 


Und Sonnentropfen fallen lautlos nieder, 
Ein Mittagstraum läßt fid) von Afi zu Aft 
ft. 


Die fhlanten Rifpen, die fo fdywer be: 

tauten, 

Erfianden wie aus filbergrauem Meere. 

Des Steppengütchens lange, niedre Bauten 

Sah’n mit ah intem in die 
eere, 


quen | | eens | | DAE | | presa | | mcum | an |) cc | | ucc | | a | ES) | cma Leen | | ec | | EA, | | coms |} sans j| DESSE) $ 


Von Julius Havemann 


Wie Sommerwind... Von Charlotte Bell 


Au dir herab und ladet did) zu Ga 


Der Schlummer [sft die Seffeln deiner Glieder, 
Die Welt, die fid) zu Häupten dir enthüllt, 
Hat did) mit tiefer Cruntenbeit erfüllt. 


Erinnerung. Von $rida Schanz 


Frühwache Schnitter — in Scha⸗ 


Du lebrft ſagen: liebe Not! 
Bade mein verfemtes Weſen 
hell wie junges Morgenrot, 

Bis es ganz vom Staub genefen. 
Erde, werde mir Gewinn, 

Wie id) dir gewonnen bin! 


Wie Sommerwind wehte Sehnfudt auf 
Und fhwang fif) hoffend zum Himmel 


empor 
und ſchwebte in S[hmerzlihem Wechfellauf, 
Bis fie fid) im Traume der Nacht verlor. 


Der Ruf des — er die flache 


Die Hirten bándigten die “Mlutterpferde 
Mit Worten, die wie Deilhenketten waren. 


I mm | mug | | mug | | ee ca] as pst | cs [ns || (ng [as [es [| / 


[er | | E | u | | E | | Bee (eessen | | castus | eem | | coat | | a || sang | | ar | | cn | (Fee 


E 


m Nachmittag des 12, April bieles 
Jahres war ber große Gaal des 
GE weltbefannten Beriteigerungshaus 
ou les von Frederik Muller in der 

Doelenftrake in Amiterdam, in 
der Rembrandt einige Jahre gewohnt hat, 
von einer Su|djauermenge dicht gefüllt, Die 
fid) aus den befannteften Perjdnlicdfetten 
der holländilchen Mtujeums-, Sammler: und 
Handlerfreije zujammenjegte. Cie waren 
gujammengefommen, eigentlich nur um der 
Berfteigerung eines einzigen Bildes beizus 
wohnen — trofbem fieben vorzüglidhe Bil- 
ber voraufgingen —, aber diejes Bild gee 
hörte denn auch zu der Heinen Zahl bes 
allerbód)iten Ranges. An diejem Tage follte 
entjchieden werden, ob die „Straße in Delft“ 
der Sammlung Six dem llr]prungss und 
Heimatlande erhalten bleiben, oder ob das 
Bild, fo mancher tojtlidjen Schöpfung bes 
Delftichen Vermeer folgend, den Weg über 
den Ozean würde antreten miijjen. 

Es wurde [till im Gaal, als der Aus: 
bieter mit einem Eloge feines Hammers 
begann. Mit 530000 Gulden wurde ber 
Anfang gemadt, aber nur aus dem Munde 
des Ausbieters folgten die Gteigerungen, 
jedesmal um 10000 Gulden, bis die Firma 
yrederit Muller felbft bei 680000 Gulden 
als Erjteigerin genannt wurde. Der url 
des Haujes erklärte, den wirklichen Käufer 
nicht nambaft madden zu fónnen, und bis 
zur Gegenwart jchweben darüber Bermu: 
tungen, deren wahrſcheinlichſte dabingebdt, 
daß ber frühere Beliker das Bild guriid: 
grant habe. Jedenfalls |djeint, für bem 

ugenblid wenigitens, die „amerikaniſche 
Gefahr” bejchworen und das unvergleid)s 
Cal: Werk nod) einmal für Europa gerettet 
zu fein. 

Wenn wir in anderen, rubigeren Zeiten 
lebten, als in einer Gegenwart, in der Die 
Ihidjalsjchweriten Entideidungen alltäglich 

eworden find, jo würde fid) die Öffentlich» 
eit wohl etwas mehr, als fie es getan hat, 
mit dem Cdid]al des Bildes befaßt haben, 
feit befannt wurde, daß fein Belißer es zu 
verfaufen entichlojjen war. Denn ob|don 
Privatbeji und nur einmal in neuerer Zeit 
in einer Ausjtellung in Amjterdam allgemein 
zugänglich gemadyt, war Diejes Bild dod 
von vielen in dem vornehmen Patrizierhaus 
des Jontheer Six van Hillegom, viele Jahre 
hindurd) an ber Heerengradt, neuerdings, 
leit Diejes einer CtraBenverbreiterung zum 
Opfer fiel, in dem vielleicht nod) [Hóneren 
Haus an der Binnen Amſtel bewundert 
worden, die beide ohne allzu große Schwierig: 


—— —— 
Cin? 
ju ie 3 





REES Que 


Das teuerite Bild der Welt 


d Jan Vermeers „Straße in Delft” 
_ Bon Dr. Georg Gronau, Direftor der Gemálde: Galerie zu Rajjel 


würde der Träger einer gro 










feiten den Runftliebhabern geöffnet werden. 
Co hatte man fih gewöhnt, es gleidjjam 
als Gemeingut angujeben und für unantajte 
bar zu wähnen, ob|djon mehr als ein Bild 
ber Derrlidjen Sammlung bereits verfauft 
worden war. Aber [o wenig wie den ftolzeften 
Beli bieles Haujes, Rembrandts Bürger: 
meilter Six, hatte man roe: gedacht, 
en Familien: 
überlieferung Ddiejes Gtüd je hergeben. 
Wie es Jcheint, hat bie Steuergejeggebung, 
bie in allen Ländern wahre BVerheerungen 
im überfommenen Kunſtbeſitz anrichtet (nicht 
nur im verarmten Deutjchland, wo es ſchließ— 
Hid) entſchuldbar ijt), es erreicht, Daß ber 
jebige Beliger, gewiß nicht leichten Herzens, 
jid) entichloß, gé diejes Gtiides zu entäußern. 
Bon dem, augejtanben einjeitigen, Stands 
punft des Runjtfreundes aus wage id) es, 
diejen Verlauf eine „europäijche Angelegen- 
beit” zu nennen. Gewiß, Europa ijt, gegen: 
über der Neuen Welt, unerhört rei an 
Kunſtſchätzen jeglicher Art, aber es gibt bod) 
eine gemwilje, nicht alzu große Zahl von 
Meijterwerfen, die es niemals. hergeben 
folte. Bu diejer gehört das Bild, bas den 
Ausgangspunkt bildet. Wenn es uns vers 
loren geht, |o ift die Alte Welt um etwas 
Unerjegliches ärmer geworden. Sch will 
nicht in Erörterungen darüber eintreten, ob 
Europa nod) wohlhabend genug ijt, fid) den 
Luxus diejes Bildes leilten zu Tonnen, das, 
wenn man feine bejdeidenen Abmejjungen 
in Betracht zieht — es ift 53 Zentimeter 
d, 34 breit — wohl das bidjt bezahlte 
ild der Welt fein dürfte; aber ich habe 
bas Gefühl, daß es eine Ehrenpflicht für 
Holland, bas feinen Schöpfer hervorgebracht 
bat, deffen alte Malkultur bier eine ihrer 
unpergleidjfidjen Taten hinterlajjen hat, fein 
müßte, bieles Werk fih felbft, uns allen zu 
erhalten. So gewiß der alte Pla im Haufe 
Six der an Stimmungswerten reichere ges 
melen tft, als es einer der nüchternen Ráume 
Des as bas „Reichsmuſeum“ 
beißt, fein würde: lieber fänden wir Die 
„Straße” von Bermeer dort wieder, als daß 
wir darauf verzichten müßten, fie jemals 
wiederzujehen, weil es einen amerifanijden 
Gelbmagnaten geliiftete, Das teuerite 
Bild der Welt jein Eigen zu nennen. 
Man könnte einwenden, daß Holland be: 
reits in der „Anlicht von Delft“ das bedeu- 
tendere von den beiden Bildern diejer Art, 
bie von Bermeer befannt find, befigt, bas 
feit beinahe genau hundert Jahren der 
Sammlung des Daurttshuis im Haag ge: 
hort. Das bedeutendere gewiß nad) dem 


mm 


Wu sm ER e vs vee 


= — 











Straße in Delft 
Gemälde von Jan Vermeer 


$0909090009000009009090909009090000900000000000900000 
v€90909009000009099000000000000829*9240000000009000€ 


— — — —— — 


THE LIBRARY 
OF TWE 
UNIVERSITY SF ILLINOIS 








Dir. Dr. Georg Gronau: Das teuerfte Bild der Welt 641 


Reichtum ber Rompofition, nad ben Abs 
meffungen; unvergeßlich in feinem farbigen 
Zauber. Aber die „Straße“ hat dafür die 
régere Intimität; was jeden, der bie alten 
Goländilgen Städte mit empfangliden 
ugen Durdwandert, an biejen entzüdt, bat 
die * eines Meiſters in glücklichſter 
Schaffensſtunde darin feſtgehalten. 

Der Vorwurf ijt jo einfach wie nur mög» 
lid) gewählt. Ein landláufiges Giebelhaus, 
von vorn geleben; links davon ein Stüd des 
Nachbarhauſes, oberhalb des Fenjters ganz 
von bláulid grünem Efeu bededt, zwilchen 
beiden ein Durchgang, durch ben man auf 
ein rüdwärtig gelegenes Haus blidt. Ein 
paar Dächer ragen über die niedrige Ver: 
bindungsmauer. Die Straße ijt mit holpe: 
rigen Steinen gepflaftert; am Haufe jelbit 
läuft ein aus Raros von | iefergrauen und 
weißen Fliejen gebildeter Fußſteig entlang; 
ein paar Bánte laden zum Siken ein. Das 
Rot bes Badíteins herricht vor, wie im Dol: 
fánbildjen Städtebild, warm und voll; und 
die feinen weißen Fugen, um die einzelnen 
Steine gezogen, — den Klang und 
mehr noch der Kalkbewurf, mit dem die 
untern Teile der Häuſer und die Toreins 
fajjung bededt find. Dies Weiß hat, gegen 
das Rot gefeben, eine Dok uniabrideinltdje 
Leudtfrajt. Die Fläche ber Fronten wird 
farbig noch durch die — belebt; 
ber geſchloſſene, matt olivgrün, Der zurück— 

eſchlagene, tief blutrot, iſt in der SEW 

irtung burd) das umgebende Weiß ge: 
fteigert. Der Laden am Madbarhaus [till 
rau; das geſchloſſene Hoftor war einjt 


chwarz (diefer Teil hat etwas. gelitten). ~ 


Vier Figuren beleben bie Kleinftadtgaffe. 
Mor der einen Bant fpielen am Boden 
hodend zwei Kinder wohl mit Murmeln; 
ihre Kleidung gibt einen bunfeln und einen 
grauen TFarbfleden ber. Objdon Harat: 
teriftijd) genug in ihrer Bewegung erfaßt, 
[deinen fie bod) nur da zu fein, um vorn 
etwas zu beleben und, die diskreten farbigen 
Werte ihrer Tracht der Kompolition mit: 
zuteilen. Um jo wichtiger die beiden ans 
deren Geftalten. Jn ber offenen Tür des 
green Haufes [ibt eine Frau, gebüdt, an 

á[de nábend. Man empfindet nur den 
— der Figur gegen das dunkle Innere 
des Hauſes, weil nur die weißen Flecken 
der Haube, der Jacke und des Wäſcheſtücks 
wirkſam werden, aber dieſe Stellung iſt ſo 
treffend beobachtet, daß man die Aufmerk— 
ſamkeit zu ſpüren meint, mit der ſie der 
Arbeit hingegeben iſt, obſchon das Geſicht 
nur als ein Flecken hingeſetzt erſcheint. End— 
lich im Durchgang eine Magd, die neben 
dem —— ſteht und gerade Waſſer aus» 
gane bat, das, ein filbriger Streifen, ber 

trakengojje zuläuft; fie [tebt, gebüdt, den 
Kopf vom weihen Tuche bebedt, in roter 
Jade und blauem Rod, und belebt, gegen 
den Raltbewurf des hintern Haujes gejehen, 
entzüdend den heimlichen Durdblid. 

Über den Dächern, neben dem Biebel ein 


Belbagen A Klafings Monatshefte. 35. Jahrg. 1920/1921 2. Bd, 


Stüd Himmel, bläßlihblau, und reid) mit 
hellgrauen Wollen überzogen; der echte 
Himmel Hollands, der nur ausnahmsweije 
rein und blant ift und ftrablend. 
Man fieht: ein einfacherer Vorwurf lief 
fid) fiir einen Maler nicht finden. Nicht das 
Befondere wählte er, wie wohl andere 
9rrdjitefturmaler, jonbern bas Typijche, bas, 
was man in jeder |tillen Straße feiner Baters 
abt Delft, wo bie fleinen Leute er Mie 
nden modte. Er aber jah es We nen 
ugen und jab an einem Gpätnachmittag 
ur Sommerzeit, es lag warm über den 
äufern, und fie ftrablten gleibfam das 
Connenlidjt wieder, bas fie tagsüber ein: 
gejogen batten, und die Stille wurde nur 
von den jpielenden Kindern und etwa von 
Schwalbenzwitſchern unterbrochen, er jah, 
wie wunderbar |djón das war, und ging 
heim ins 9[telier und malte das Bild, das 
er fid) ralh Eer hatte. 
Man fann das Cindrudsfunft nennen, 
ang gewiß, und wir wollen uns daran er: 
innern, daß feit der Blütezeit bes Imprejs 
fionismus unjerer Zeit erft die Tage großen 
Ruhmes für Vermeer anaeroben find. 
Uber id) glaube, nirgends fann man bie 
SE feit und Leere der Schlagworte, 
die jo viel Verwirrung anrichten, ei 
fallen, wie gerade angelichts bieles 
weris. Denn, weil der Maler mit 
Sauber diefer 
gehalt. dieſer 


er ers 
eijters 

dem 
arben auch den Stimmungss 
tunde jo tief und innerlich 


erfaßt‘ hatte, weil ber Augeneindrud zu ` 


einem jeelijchen Erlebnis geworden war (ob 
bewußt, ob unbewuft, ift etnerlet), wurde er 
fähig, das fo malen zu Tonnen, jo zart und 
o innig, dak damit bie Stunde feines Ers 
lebniffes, neuen Widerhall wedenb, über die 
Jahrhunderte bin fortlebt. Go ward hier 
Eindrudstunft zur höchſten Ausdrudstunft. 

Geltjam: vor faft genau 225 Jahren (am 
19. Mai 1696) ift bieles Bild [Hon einmal 
in Amfterdam verfteigert worden, in jener 
dentwiirdigen Berjteigerung, aufder 21 Bilder 
BWermeers verfaujt wurden, von denen uns 
nod) 15 befannt find, und deren Katalog 
eine der wichtigiten Grundlagen der Ver: 
meer-Forſchung bildet. Es bradte Damals 
75 Gulden 10 Stüwer (jet, wenn man das 
yes dDazurechnet, fajt genau bas zebn» 
taujendfade). Sm Jahr 1800, aud) im April, 
ijt es abermals in Amfterdam in öffent 
lider Verfteigerung verkauft worden und 
wohl bald hinterher in den Beliß der Familie 
Gix gelangt, bie es jebt hat hergeben wollen 
oder miijjen. 

Vielen erjcheint es banal oder [d)limmer 
als das, wenn angelihts von Runjtwerfen 
jo häufig von Preijen geredet wird. Die 
Sjeiligteit des großen Runjtwerfs jcheint ba: 
burd) entweiht zu werden. Wher man muß 

d bod) auch daran erinnern, daß fih in 
reijen bie Schätzung ausdrüdt, die ein 
linftler genießt, und unter diejem Gefidts: 
punft ijt nichts lehrreicher, als bie Preije zu 
verfolgen, bie Arbeiten eines Riinftlers zu 
42 


642 Leo Sternberg: Die Role BZZZZZZZZZKKZİ 


Derjchiedenen Zeiten erzielt haben. Es láBt 
fih Darin gradezu bie Gefdjid)te feines Nads 
rubms in ſcharfumriſſener Form erzählen, aber 
zugleich — und das ift wichtiger — ijt bier 
ein Kapitel aus dem lehrreihen Buch vom 
Wedjel des Kunſtgeſchmacks beſchloſſen. 
Und bei wenigen Riinjtlern bat fih diejer 
fo jeltjam - — wie gerade bei dem 
Delftſchen Vermeer ch und nicht van der 
Vieer, bat er fid) felbjt genannt). 
Bon den Zeitgenojjen wurde er hoch ges 
ſchätzt und ent|predjenb bezahlt. Ein fran: 
öfiicher Reijender, ber ibn in feiner Wert- 
at bejuchte, fand nichts von feinen Bildern 
arin vor; er [ab aber eine Anzahl bei 
einem Bäder und erfuhr mit Staunen, daß 
man für Stüde mit nureiner — — 
bezahlte, was ihn unbegreiflich dünkte. 
Trotzdem hinterließ der aler, der mit 
43 Jahren ſtarb, ſeiner Witwe nur Schulden 
und einen Wee der mit die Urſache 
ber zerrütteten Bermógensverbáltniffe fein 
modte. Mit Bildern des Gatten Juchte fie 
einen Teil der Schulden abzutragen. Es 
gab damals in Holland richtige Sammler 
ermeerjdjer Bilder, von denen einer, der 
Haarlemer Landſchafter Coclenbier 26, aller: 
dings wohl, um damit Bejchäfte zu madhen, 
ein anderer, ein Delfter Buchdruder Dilfius, 
19 in feinem Belit vereint hatte. Die Preije, 
die Je feine Bilder auf ber [hon genannten 
Berjteigerung des Jahres 1696 in Amfters 
dam erzielt wurden, waren für die Damalige 
Zeit nicht unbetrüdjtlid); für bie „Unficht 
von Delft“ wurden 3. B. 200 Bulden bezahlt. 
Sm 18. Jahrhundert verblaßt Vermeers 
Ruhm. Von den fiirftlidjen Sammlern, die 
damals jene ftolzen Sammlungen gejchaffen 
haben, bie heute namentlich unjere deutſchen 
Galerien bilden, haben mande femen Na: 
men offenbar taum nod gefannt; daher fehlt 
MBermeer a. 98. in München und in Gajjel. 
Als ber franzölilhe Runftichriftiteller Bürger, 
ber unter bem Namen Thore feine grund: 
legenden Bücher über bie hollandijden Ga: 
lerien jchrieb, sl EECH aufmerfjam wurde, 
hatte er bie größte Mühe, unter ben bie Wahr: 
heit entjtellenben Bezeichnungen den Maler 
wiederzuentdeden. Vermeer teilt das Los 
[o vieler Riinftler, bie im eigentlichen Sinn 
des Wortes Maler gewejen waren, wie Frans 





Die Rofe. 


Allein faf id), ber Kinderlofe, 

In bem bas Leben fid) zu Ende mindet, 

Das keinen Ausgang in bie Emigkeiten 
finbet 

— Da Offneft bu bid), mundervolle Rofe 

In meines Gartens Mitte, aufgekräufelt 

Rus (dywerer Knofpe, wie ein Haupt, bas 
finnt, 


tototototototototototototototototetotototoretotetorotototototetorotot 


Uon feo Sternberg 


Hals, Pieter be Hood) und im gewijjen Sinn 
jelbft Rembrandt. Aber als die Gegenwarts- 


tunft wieder fid) auf maleri|dje Werte ein- 
zuftellen begann, als die Glanggeit einer 
neuen Maltultur begann, war aud für Ver: 


meer der Tag neuen Ruhmes angebroden. 
Geine Bilder wurden überall aus dem Ver» 
borgenen aufgejpürt; es war bie Zeit, wo 
Entdedungen nod) móglid) waren: ein Herr 
des Tombe im Haag fonnte noch 1882 den 
wunderbaren Frauenkopf, ber heute zu den 
toftbarften Stüden des Mauritshuis 
net wird, für 2!/, Gulden erwerben. “Diele 
petet find für immer vorbei, und nur ein 

ejonderer Zufall brodte einmal, vor we: 
nigen Jahrzehnten, einen echten Vermeer 
für einen Iddjerlidjem Preis in ben Belis 
von Dr. Bredius im Haag, der das Bild 
als Leibgabe Dderjelben CStaatsjammlung 
überlafjen bat. 

Betannt find gegenwärtig 38 (oder 39) 
Bilder bes Dialers*). Davon befigt Holland, 
wenn id) recht zähle, 8, Deutjchland im öf- 
fentliden Befig 6 (dazu eine Oljtudie; ein 
weiteres Wert der Herzog von Arenberg, 
früher in Brüffel), 6 find in England, davon 
nur 2 in Staatsgalerien, je2 find in Belgien 
und Frankreich unb je 1 in Öfterreich und 
Ungarn — Amerita aber d nad) und nad) 
11 Bilder Vermeers an fih gebradjt, und 
es wey zu erwarten, daß bie — noch 
in Privatbeſitz befindlichen Bilder allmählich 
dorthin abwandern, wo unbegrenzte Geld- 
mittel den Liebhabern alter Runft zur Ber: 
fügung fteben. 

Wir wollen hoffen, daß die „Straße in 
Delft”, die den Ausgangspunkt unjerer Dar: 
legungen bildete, nicht auch nod) Europa 
verloren geht. Wenn jo oft von den Runjt: 
verlujten, die Deutjchland jebt erleidet, bie 
Rede ijt — und mit Schmerz zählen wir bat: 
unter bas jchöne Bild, bas Dr. James Simon 
in Berlin ein Jahrzehnt fein Eigen nannte —: 
bier handelt es fid) zwar um Holland, aber 
um eine — — Angelegenheit, die alle 
Kunſtfreunde in Europa wie eine Angelegen— 
heit ihres eigenen Landes anſehen ſollten. 


*) Die meiſten findet man in bem fein: 
finnigen Buch wiedergegeben, das E. Bliegich 
1911 über Vermeer veröffentlicht bat. 


Und fagft in jungem Duft: „Idh bin dein 
Ki bi 


n 

Und meine ganze Seele bebt durchſäuſelt 

Unb rinnt | 

hinüber... Und ber nirgends faufende 

Uerftrómt fid) felig, ba ibm die Jahr= 
taufenbe 

Aufbiühn in bir unb weiter find. 





Mun 


und Oe 
Hundartenforfchungs¥olksbunde 





eutſche Woltstunde und Deutjche 
Mundartenforihung find Teile 
ber deutſchen Philologie, b. D. Teile 
ber Wiljenjchaft von ber deutjchen 
Nationalität. Dieje deutjche Philo: 
logie ift jebt rund hundert sa re alt, GE 
Begründer waren vor allem die beiden Heffen 
Jacob und Wilhelm Grimm. Man tann dieje 
beiden daher auch als bie Begründer der deut: 
[Hen Boltstunde anjpreden, denn thre Kinder: 
unb Hausmarden von 1812, ihre deutjchen 
(agen von 1816/18, ihre Werte über deutjche 
Redtsaltertiimer, deutjche Heldenfage, deut: 
Ihe Mythologie gehören ganz in den volts: 
fundliden Zulammenhang. Aber bie Volts: 
tunde als bejonderer Wilfenjchaftszweig ijt 
dennod) Jungen Geht aud) bas Wort Volts: 
tunde“ bis auf Riehl, den Rulturbiftoriter, 
1852 zurüd, und lagern auch auf der Berliner 
Ctaatsbibliotbeft 50000 immer nod nicht 
ausgejchöpfte volfstunblidje Fragebogen, bte 
Mannhardt jhon in den fechziger Jahren 
des vorigen Jahrhunderts gujammengetragen 
at, fo datiert bie moderne deutfche Volts 

nde Dod) erft feit Weinhold, als er 1890 
den Berein für deutjche Volkskunde und zus 
gleich gl Zeitjehrift ins Leben rief. Aber 
Derjelbe Gelehrte hatte [Hon 1853 eine wert: 
volle Schrift „Über deutiche Dialektforihung“ 
er|djeinen laffen. Und diefe AA Dialekt⸗ 
forſchung iſt ungefähr ebenſo alt wie die 
deutſche Philologie überhaupt, wenn ſie auch 
nicht an die Brüder Grimm anzuknüpfen ift. 
Ihre Wiege ftand vielmehr in Bayern, wo 
von Schmeller 1821 eine grammatijde Be: 
handlung ber Mundarten des Königreichs 
unb 1827/37 ein bayrijches Wörterbuch ber, 
austam. Jnjofern ift aljo bie Mundarten: 
forldjung als Sonderwiſſenſchaft wejentlich 
älter als die Volkskunde, und in biejer ferb- 
ftändigen Entwidlung liegt gewiß der Grund, 
rae le von biejer etwas abgerüdt zu fein 

eint. 

Die beiden genannten Werke von Schmel: 
ler ftellten eine wijjenjchaftlidde Tat erften 
Ranges dar. Zum erftenmal war ber weits 
Hidtige einheimilche Sprachſchatz eines gro- 
en deutjchen Gebietes einer |yitematifchen 

ehandlung unterzogen, fowobl nad) Der 

rammatijden wie nach ber lexikaliſch⸗ſtatiſti— 
den Geite bin. Die Dialettgrammatit judte 
die bisher ungejchriebene Sprache des Bauern 
ebenjo nad ſprachwiſſenſchaftlichem Schema 
zur Darjtellung zu bringen, wie man Die 
ejchriebene Cpradje etwa des Lateinijden, 

ranzöſiſchen, aud) bes Deutjchen längſt bar: 
geítellt batte. Es war alfo etn Jyftematijdes 
oder jyitematilierendes, d. bh. ein rein ges 
lebrtes Sntere]]e. Und in biejer grammati- 
iden Analyje und Beichreibung der Mund: 
arten ijt Dann fpáter, bejonders feit den 
fiebziger Jahren, die Methode immer mehr 
verfeinert worden, namentlich jeitdem die 





junge Gonderdilziplin der Phonetit neue 
Hilfsmittel lieferte. Aber freilich je größer 
die Anfprühe wurden an eine möglidhit 
[harfe Beobabtung und Wiedergabe, um 
jo Heiner mußten bie Unterjuchungsgebiete 
werden, und jo EA bie durch Cdymels 
ler angeregte umfaffende-LandiMaftsgrammas 
til immer mehr gujammen, bis man bei ber 
einzelnen Ortsgrammatit angelangt war. 
Solde Ortsgrammatiten beherrichten ſchließ⸗ 
lich die Dialektforjcehung überhaupt und gaben 
bieler im legten Viertel bes vorigen Jahr» 
unberts ihr eigentliches Gepräge. Wir be: 
igen ihrer heute eine große Menge aus allen 
eilen des deutjchen Sprachgebietes. Aber 
je genauer und feiner bie Beobachtung ges 
worden ift, je Aeren Triumphe namentlich 
bie mundartliche Lautbeſchreibung und Pho: 
netif feiern durfte, um jo enger mußte fie 
fid) fpezialifieren, und über ber Feinheit 
mancher bieler dialektiſchen Lautlehren trat 
bie Frage ganz zurüd, wie weit eine folde 
örtlihe Grammatif als Typus der weiteren 
Gegend gelten durfte. Ja mitunter |djeint 
die vollendete Technik der Sprachbeichreibung 
das einzige Ziel, hinter dem bie Unjdauun 
vom KO en Werden ber Mundart [ta 
zurüdbleibt. Die Phonetik entwidelte fim 
wie bei den Taturwifienibaften die Runjt 
bes Mitroftopierens; aber Naturbejchreibung 
ijt nod) feine — asi feine Biologie. 
Und fo ift es fein Wunder, d von Ddiejer 
glänzend entwidelten neuzeitlichen Dialekt» 
rammatif recht wenig volfstümlid)e Wir: 
ngen — RE find, und daß die Grund: 
agen der Bollstunde, ber Vólterpiydo: 
elt nur felten etwas Nuten davon gehabt 
aben. 

Ahnlich war die Entwidlung in ber mund- 
artlichen — —— auf dem zweiten von 
Schmeller angebauten Felde. Seine nächſten 
Nachfolger — es ſind ihrer nicht viel — haben 
ihr Vorbild kaum je erreicht. Man ſammelte 
und buchte den Beſtand, beſonders denjeni— 

n, den bie Schriftſprache nicht fannte, und 
fo entitanden — nur dialektiſche Raritäten⸗ 
kammern, Sammlungen ohne höhere Gefidts: 
puntte. Oder es waren wieder vorwiegend 
ag philologtide Fragen, bie auf bie 

reitere Bolfsfunde, auf das eigentliche Heiz 
matsproblem wenig Rüdjicht nahmen, wenn 
man biejelben Votabeln in verjchiedenen Bes 
genden mit verjchiedener Bedeutung entbedte 
und verglid), wenn man auf Dialettwórter 
tie, die bisher nur in altdeutjchen Hand» 
dritten oder Urkunden früherer Gabrhun: 
derte bezeugt ſchienen ujw. Die vóltertunds 
lide Grundfrage aber, was ijt an folden, 
beijpielsweije lien Sammlungen nun 
ausge|proden bejjijd) und tann helfen, die 
Gigenbeit bejfijber Cpradje und heffifchen 
Volkscharakters zu erklären, joldje Fragen 
find im 19. Jahrhundert von den mund: 


42* 








Mundartenforſchung und Bollstunde 645 


aud) Win und nidjt Wein? [pridjt ein Dialett, 
der nicht Wasser, Jondern Water fennt, auch 
beter und nicht besser, auch laten und nicht 
lassen? jpricht ein Dialekt, der nicht brechen, 
jondern breken fennt, aud) Sake und nicht 
Sache, aud) ik und nicht ich? ufw. uw. Um 
bieler Frage, deren Bejahung bisher als 
jelbftverftändliches Dogma phar hatte, 
auf den Brund zu geben, ftellte Menter vierzig 
einfache teine Fibeljägchen zufammen, die 
ausgewählte Beilpiele für diefe Frage ents 
bielten, und ließ diefe durch Vermittlung 
der ee überall im Deutjchen 
Reihe unbefangen in bie ortsübliche Mund: 
art überjegen. Mit Hilfe der Behörden ges 
lang es, rund 46000 Fragebogen ſolcher Art 
aus ebenjoviel bent|den GSchulorten zus 
pm jie bilden das foftbare, 

feiner Art völlig einzigartige Material 
des großen Spracdhatlas, ber fih darauf auf: 
bauen follte. Bon jedem einzelnen Wort, 
das in den E, Gáben vorfommt und 
nunmehr für jeden Ort in mehr oder weniger 
einwandfreier Dialeftjorm — wird eine 
Karte gezeichnet, alfo eine dialektiſche Haus- 
Rarte, eine Wasser- farte, eineich - Karte ujw. 
— eine unendlich miibjelige Arbeit, für die 
feit nunmehr 34 Jahren vom Reid und vom 
perni] en Minijterium die nicht unerhebs 
ichen Mittel ¿ur Verfügung gejtellt werden. 
fiber 500 Wörter liegen bisher in jauberer 
und gege Kartenzeichnung vor. Auf 
dem großen Werke hat fid) im Laufe ber 
Jahre ein weitgreifendes Inftitut für bias 
lektologiſche Forſchung aufgebaut, das kürzlich 
vom Miniſterium als „Zentralftelle für den 
Cpradjatlas des Deutjchen Reichs und 
—— Mundartenforſchung“ anerkannt und 
den Marburger Univerjitätsinftituten ans 
gegliedert worden ift. 

Wie aber fteht es denn nun mit der oben 
eftellten Grundfrage: bedt fid bie i/ei- 
renze auf der Eis-Rarte mit der auf der 

Wcin- Karte, die t/ss- Grenze auf der Wasser- 
Rarte mit der auf der besser- Karte, die k/ch- 
Grenze auf ber ich-Rarte mit ber auf der 
brechen-Rarte ujw.? Die Antwort lautet: 
die Lantgrenzen deden fih bier und ba, 
feineswegs aber überall. eilt gilt vielmehr 
nicht eine fejte Grenglinie, fondern nur eine 
fhwantende Grenggone, die bald jchmaler, 
bald breiter, nur zu oft von bebentlidjer 
Breite ijt: es gibt in ber Tat Mundarten, 
wo man nicht in brunem Hus oder braunem 
Haus, jondern in brunem Haus wohnt, wo 
man nicht beter eten oder besser essen, 
fondern besser eten fann ujw. Wie aber 
ertláren Dé dieje jcheinbaren Unregelmäßig» 
feiten oder Widerjprühe? Mit Jolchen 
Problemen bejchäftigt fih bie Dialeftgeo: 
graphie. Gie vergleicht zunächſt bie fejten 
und einheitlichen Spradgrenzen mit ber 
politijden, kirchlichen und gejchichtlichen Ein» 
teilung des Landes und fommt da im alls 
gemeinen zu dem (Ergebnis, daß fie nicht 
älter find als rund fünfhundert Sabre: das 
ausgehende Mittelalter ober gar erft bie ans 


hebende Neuzeit haben die Bedingungen ge: 
Ihaffen, unter denen bie heutigen Dialekt: 
grenzen fih herausgebildet haben. Die da: 
maligen Territorialgrenzen, feltener aud) 
die alten Diózejan: und Kirchipielgrenzen Do: 
ben die Rahmen hergegeben, innerhalb deren 
ber Verkehr und mit ibm die Verkehrsſprache 
ich geregelt und geformt haben. Iſt Diejer 
ormungss und Ausgleichsprozeß fettoem 
nicht gejtórt worden, Jo haben fich in folden 
Bezirten im Laufe der folgenden jahr. 
hunderte allmählih jcharfe Sprachſcheiden 
ebildet, die nod) heute beitehen. urde er 
Kee unterbrochen durch politijche ober 
firchliche Grenganderung, fo find bie Sprad): 
rengen * heute noch nicht feſt und ein: 
eitlich, werden vielmehr durch [djmanfenbe 
Grenzzonen erjebt. Die Landesgeſchichte mit 
ihrem ganzen Berlauf und ihrem oft uns 
ruhigen Sinundber bedingt alfo auch bie 
Dialettentwidlung, und der Mundarten: 
forjder, der im 19. Jahrhundert einjeitig 
Ghonetifer und damit faft Phyliologe und 
Naturforscher geworden war, wird jet 
wieder zum Hiltorifer. Sprache und Mund» 
art verlangen genauefte Kenntnis von Land 
und Leuten. 

Damit hat eine Unjdauung einen harten 
Stoß erlitten, die früher immer als jelbit: 
verftandlid) galt, daß nämlich in unjern 
Mundarten in letter Reihe bie Eigenart der 
alten beut|djen Stämme weiterlebe, der alten 
Schwaben und Bayern, Franken und Gad): 
fen ufw. Sekt entpuppt es fih als gefähr:- 
liher 9Inadjyronismus, die Dialefte und 
Dialeftgebiete von anno 1900 ohne weiteres 
um taujend Jahre oder mehr als gejchichtliche 
Zeugen guriidguverlegen. Nur ausnabhms: 
weile fönnen [te auf ein fo hohes Alter gu: 
rüdbliden, wenn nämlich die einftigen Gren: 
zen ber alten Stammesherzogtümer oder 
ber altbeut|djet (aue bis in die Neuzeit 
unverändert fortbeftanden haben. Go bat 
3. B. die äußere Begrenzung und bie innere 
Gliederung des Elſaß fid) alle Jahrhunderte 
hindurd feft erhalten, mochte es zu Deutfd)- 
land oder zu Frankreich gehört db oder 
die heutige p itiſche Scheide zwilchen Rhein- 
[anb un eitfalen entjpridjt im wejent: 
lien nod) ber alten Ctammesgrenae zwi- 
[den Stieberiranfen und Cadjen. Die bor: 
tigen E grengen find daher bis heute 
[arf und geben tatjächlich uralte Hiftorijche 
3ujammenbánge wieder. Daß fie aber jo 
[bart geblieben find, ift dennoch nicht in 
brem hohen Alter begründet, fondern darin, 
daß bie ihnen zugrunde liegenden politijchen 
Sceiden eet as legte halbe Jabrtaujend 
hindurch nod) feit geblieben find; unb fie 
wären heute wahr EM nicht weniger 
Iharf, wenn jene nur biejes halbe Jabrs 
taujend beftänden, erft etwa vor fünfhundert 
Jahren neu gefdaffen worden wären. Und 
von der mundartlidjen Hauptideide zwilchen 
Mord: und Süddeutichland, von der Kaut: 
per|djiebungsgrenge, bie niederdeutiches ik 
unb Jüddeutjches ich, bie Water und Wasser, 





646 ESSI Prof. Dr. Ferdinand Wrede: Mtundartenforjdung und Bolfstunde BZZ 


slapen und schlafen trennt, wifjen wir jebt 
genau, daß fie in großen Teilen, fo nament: 
lih im Weiten am o gie nicht alte Stam: 
mesunterjchiede wider|piegelt, fondern daß 


jie feit dem ausgehenden Mittelalter fid) 


Itarf von Süden nach Norden, von den Eifel: | 


gegeben bis hinab nad Süjjelbor[, vorge: 
hoben Hat. Und ftimmt dieſes Alters: 
ergebnis nicht zu |o manden Beobabtungen 
ber allgemeinen Voltstunde, wo man ebenfo 
fier erfannt hat, daß 3. Y. bie hier und da 
in Deut|djen Landen nod) erhaltenen Volts: 
traten, bie man heute begt und pflegt als 
toftbares Erbgut der Väter, verhältnismäßig 
junge Üiberbleibjel ftädtiiher Moden vor 
wenig Jahrhunderten barjtellen? Mit fol: 
der Erkenntnis erledigen fih jelbftverjtänd: 
lid) aud) (s unb da nod) |pufenbe Mei— 
nungen, bap bie Unterjchiede heutiger Mund: 
. arten fogar nod auf vordeutichen oder 
porgermani|djen Verhältnijjen beruhen, daß 
etwa Die Unterid)jiede zwiſchen bayrifcher 
AR eet Spredweije an 
bte Unterfcheidung zweier keltijcher Stämme, 
ber Bojer und der Helvetier, antnüpfe. Die 
Bertreter folder Anjchauungen find heute 
faum noch ernit * nehmen und beweijen 
mit ihnen minbejtens, daß fie über Dinge 
urteilen, mit deren willenjchaftlicher und 
metbobild)er Entwidlung fie anjcheinend nicht 
haben Schritt halten können. 

Die Cprad): und Dialettentwidlung richtet 
fid alfo nad) ber politijden oder abmttni- 
jtrativen Landfarte, b. b. ber Verkehr ber 
Bevölkerung richtet fih nad) bieler und re: 

elt damit ben Ausgleich dialektifcher Ver: 
chiedenbeiten. Ein Beilpiel möge bas er: 
läutern. Zwei Landgebiete U unb B ftoßen 
im Jabre 1400 aneinander. Da wird 1410 
die Grenze zwilchen beiden durch Erbvertrag 
der regierenden Hdujer verfdoben, und 
wanzig Ortimaften, bie bisher zu 9I ges 
örten, fallen jebt an B. Diejes an B abs 
getretene Gebiet beige X. Es wird nun 
aus feinen bisherigen Bertehrsverbáltnifien 
herausgerijjen: während es bisher Tirchlich, 
gerichtlich ujw. auf A angewiejen war, ge» 
birt es jebt zu B und feiner Oberbobeit; 
allmählich heiratet man in X weniger nad) 
A als nad) B bin; jchließlich hört die Ver: 
fehrsgemeinjdaft mit A ganz auf. Die Folge 
if, daß aud) Ipradjlid) X jet von A nad) 
B herübergezogen wird: fprad man bisher 
in U, aljo aud) in X Hus, aber in B Haus, 
jo dringt nunmehr in X aud die Form Haus 
ein, und es folgt gunddjt eine Zeit der 
eg ber Doppeljpradigfeit, wo man 
im Dialett von X Hus neben Haus hören 
tann. Nach einigen Generationen [prechen 
in £ nur noch wenige alte Leute Hus, und 
Ihließlich jagt jedermann Haus: die Grenze 
wijdjen Hus und Haus hat fih damit im 
aufe ber Zeit um zwanzig Ortimaften, 
eben um bas Gebiet X, veriboben. Und 
nun male man jid) aus, wie oft und wie 
weitgreifend im Berlaufe ber deutjchen Ge: 
ſchichte |oIdje Brenzverjchiebungen, im großen 


wie im Kleinen, ftattgefunden haben, und die 
Folgerung ift unabweislih: bie beut|dje 
Dialeftgejtaltung und Dialeftveránderung 
ift gerade [o bunt und mannigfaltig wie bie 
Qelibidte und bie geihichtliche Geographie 
unjeres Baterlandes überhaupt! Wenn bie 
politiide Landkarte im Laufe der Jabr: 
hunderte ftändigem Wechjel in * Gliede⸗ 
rung unterworfen war, fo ijt es die Dialett- 
farte ebenjo gewejen. Die verwirrende Bunt: 
beit auf den Blättern bes Sprabatlas ift 
ein getreues Abbild ber vaterlandijden Ge: 


hidhte. 

Über die Zeitdauer, die die einzelne Mund» 
art brongt, um fid) den politijchen, adminis 
ſtrativen, kirchlichen Veränderungen angu- 

allen, ift wee zu urteilen. Cie wird von 
Fall zu gall, ganz nad) den örtlichen Ver: 
ältniffen, verfjchieden fein. Wher Jahr: 
unberte find immer dazu nötig. Außerdem 
gebrauchen bie ver|djiebenen Beltandteile ber 
mundartliden Rede eine verjchiedene Zeit 
gu ihrer btaleftgeograpbifd)en Entwidlung, 
bie Ronjonanten eine andere als bie Botale, 
bie unbetonten Endfilben eine andre als bie 
fener hae Hauptfilben der Wörter; jo 
chiebt fih etwa nod) heute zwilchen bas (Ge: 
biet bes fiidlidjen aus und bas bes nörd- 
lichen plattbeut|djen ut bier und ba eine 
eh — mit aut ein, alfo [Hon mit 
dem vokaliſchen Doppellaut bes Südens, 
aber nod) mit bem Ronjonanten des Nor: 
bens, ujw. Faßt man diefe ver|djtebenen 
Grjdeinungen auf den Dialeftfarten als 
Lautgeographie gujammen, fo tritt Deler 
weiterhin mit bejonderen Cigenbeiten Die 
Wortgeographie gegenüber. Mie ver: 
läuft die mundartliche Scheide zwilchen ſüd— 
beut|djem Samstag und norddeutjchem Sonn- 
abend? wie bie dg E nord: und oft: 
deutjchem Pferd und jüblidjerem Gaul und 
jiidlichftem Ross? wie bie gwijden Rahm 
und Sahne und Schmand? gwijden Boden 
und Speicher ? zwijchenFleischer undSchläch- 
ter und Metzger? gwijden Tischler und 
Schreiner? ujw. ujw. Und wenn alle diefe 
Brenzen das ` find, was haben fie für 
eine Geſchichte? 

Der genannte Sprabatlas bes Deutjchen 
Reihs dat es bisher vorwiegend mit der 
Lautgeographie zu tun gehabt. Zur Mort: 
—— — tragen alle die oben erwähnten 
dialektiſchen Wörterbuchunternehmungen nach 
und nach ein reiches Material zuſammen. 
Sie verſprechen eine neue wortgeographiſche 
Anſchauung, von der man bisher kaum eine 
Ahnung gehabt hat. Und alle ſolche Wort: 
farten wollen ebenjo gewürdigt und biftorijd) 

edentet werden, wie bie Lautfarten des 

pradatlas. Da gilt es, aus Urkunden und 
alten Texten nadjauweilen, ob ber Samstag 
in feinem heutigen Dialettbereihe immer 
ion gegolten oder ob er vielleicht im Laufe 
der Jahrhunderte den Sonnabend verdrängt 
hat, und dann ift den Gründen folder Ver: 
änderung nachzugehen. Der Weg folder 
Unterjudungen ijf von ber Lautgeograpbie 





Pessesseessa Ernft Ludwig Schellenberg: Bettina 647 


ewiefen: bie heutigen Berbreitungsgebiete 
older Idiotismen find mit ber politifchen 
und hiftorijchen Geographie in Beziehung zu 
eben. Es unterliegt faum einem Zweifel, 
daß fid) aus folder Wortgeographie heraus 
ein gutes Stüd Rulturgeograpbtite ent: 
wideln wird. Damit aber ift auch ber 
Voltstunde eine GER Methode 
nabegelegt, wie fie ihren gejammelten 
Cdüben hiſtoriſch am leichteften beitommen 
tann: fie verjuche eine Rulturgeograpbie in 
die Wege zu leiten! Trachtenmufeen und 
<radtenbilder allein tun es nicht: bas Ver: 
— der einzelnen Tracht und 
deſſen Verkehrsgeſchichte verſpricht hiſtoriſche 
Erkenntnis. Und neben einer ſolchen Trach— 
tengeograpbie darf aud) an eine Hausbau- 
geographie, an eine erer ge ge: 
dacht werden. Es follten etwa bie Verbrei: 
tungsgebiete ber verjihiedenen Formen ber 
Betreideitiegen auf den gemähten Feldern 
que Anihauung gebrabt; oder es folte 
artograpbild), bis aufs vai enau, Dar: 
geite t werden, wo man die GW auf dem 
opfe trägt, u. v. d. Ja, aud für die Zweige 
ber Bolfstunde, die fih mtt inneren oder 
eiltigen Zuftänden und —— be⸗ 
aſſen, wäre vielfach auf gleichem Wege 
wiſſenſchaftlich weiter zu kommen. Man denke 
etwa an eine Rechtsgeographie, die die Be— 
reiche von Rechtsgebräuchen, z. B. auf dem 
Gebiete des Erbrechts, geographiſch genau 
feftzulegen und danad gejchichtlich zu unter: 
Iden hatte. | 
les bas fegt freilich voraus, daß Die 
nötigen Sammlungen und Aufnahmen in 
weiteftem Maße erjt einmal vorhanden find. 
Deshalb unterjtiike jedermann die heimijchen 
und heimattundlichen Geſchichts-, Altertums:, 
Diufeumsvereine! Eile tut not! Denn ber 
Väter alte Gewohnheiten in Sprache und 
Gitte geben ftandig zurüd vor allerlei 
Steuerungen. Die Dialeftgeographie bat 
immer wieder den gewóbnliden Vorgang 
erfennen laffen: von den Kulturzentren geht 
das Neue aus und überſchwemmt immer 
weiter das flache Land. Wir willen jest, 
wie eine durdgreifende |pradjlidje Revolu: 
tion ber Rbeinlande, von Süden nad) Nor: 


sé eg Se Sei Sei Kai Sé Sei Set Sei Së Set 





den im Laufe der Jahrhunderte vordringend, 
ihren Brennpuntt in dem Rulturmittelpuntt 
Kur⸗Köln gehabt bat. Gleiches gilt im Kleinen 
aud) für bie entlegenfte Gegend, auch für 
unfer obiges Beijpiel von A unb B und X, 
wo etwa das Wefidenzftädtchen von B bie 
efährliche Diodernifierungsquelle für X bar: 
Het. Und was für die Mundart gilt, das 
trifft auch für bie Bolfsfunde und alle ihre 
jo verjchiedenen Teilgebiete zu. Deshalb 
tette man wenigjtens in Muſeen und Archiven, 
was nod) zu retten ijt. Denn die Volkskunde 
ift nun einmal zu einem guten Teil die Wil: 
ſenſchaft vom Altmodijchen, vom Unmodern: 
werdenden, und WMundartenforjhung wie 
Volkskunde beichäftigen fih mit einer Vias 
terie, bte ftetem Wandel unterworfen ijt. 
Jedes Ctüd deutſcher Erde ift, medjanijd) 
gemejjen, heute noch basjelbe wie vor taujend 
Jahren, aber das Leben darauf ijt ein an: 
deres geworden. Die taujendjährige Ge: 
Ihichte ijt Darüber bingegangen. Zahlreiche 
Zuzüge und Einflüjle von außen, alle mig: 
Itdjen Berfehrs-, Blut» und Beiltesmifchungen 
haben ee Arr und fortwährend große 
unb fleine Veränderungen, Ausgleichungen 
gut Folge ge aud) in Gprade und 
ebens rom eiten. Wir würden uns mit 
einem Vorfahren aus dem zehnten Jahr: 
hundert nicht verftándigen können und wiir: 
den uns in feinem alten Hauje taum behag: 
lid) fühlen. Die Bolfsfunde wurzelt ¿war 
legten Endes in ber Romantik vor hundert 
Jahren, und die Stärke bes nationalen Ge: 
banfens, der dahinter ftand, führte zu der 
nicht ungefährlichen Anſchauung, daß alles 
Voltstundliche uralt fei. Aber gerade ein 
Jacob Grimm bat uns gezeigt, wie die 
Volkskunde fid) von aller Centimentalitat 
EEN muß, um eine gejchichtliche 
illenidjaft zu fein. ud bei ck gilt es 
nicht, den Blid nur rüdwärts auf bie gute 
alte — zu richten, ſondern ſie will aus 
der Vergangenheit die Gegenwart verſtehen 
und auf die Zukunft vorbereiten. Ge— 
rade die wiſſenſchaftliche Boltstunde wird 
einen wertvollen Anteil zu leiſten haben an 
dem geiſtigen Wiederaufbau des deutjchen 
Baterlandes. 


OR 


So feb” ich dich, verfhwärmt und rätfelhaft: 


Im Weinberg, weiß vom Sommermonó umalajtet; 


Bettina. Von Ernit Ludwig Schellenbera 


Emporfaugt und ins glatte Nachtblau taftet. 
Und dann — aus ungewifjer Wanderfchaft 
Ein Lied, das zeitlos in fid) felber raftet. 
Und Mond und Lied und Rebe fügt fid) Leite 
In deiner £icbe ungebunóne Kreife. 


“| 
Der Rebe gleich, die fich am eignen Saft 


C 


SA 


82.8) 8.8 8 88 88 8 Set Ze At et Sei Set bei A Zei Set Eet et Fei Zeit et Kat Set Set Bet Set Sei O^ Set Set ei 


Neues bom Büchertiſch⸗ 
Bon Karl Ofrocfor 


GtttCCCCCeC Ce CCCOCCCCCCCCCCLEEUUUUUUUU UU E EA Ae 


Walter von Molo: Auswahlbände — Derjelbe: Das Volt wadt auf (Mün: 

den, Albert Langen) — ara] Birger Moerner: Shlok Bravalla (Münden, 

Georg Müller) — Carl Hauptmann: Drei Frauen (Hannover, Banas & Dette) — 

Wanda — AE onne ber Heimat (Seipzig, Bong & Go.) — Frant Thie: 

Der Tod von Falern (Stuttgart, Deutſche Verlags :Anftalt) — Artur Braufe- 
wetter: Mehr Liebe! (Leipzig, Max Rod) 







alter von Molo gehört zu den 
CUM (c eigenartigften Köpfen im deuts 
WU | Ihen Schrifttum der Gegenwart. 
RICO Unjere Monatshefte haben: ibm 
| [don früh Beabtung gejchentt; 
feine Romane Die törichte Welt und Der 
gezähmte Eros wurden hier als merfens: 
werte Talentproben eines Dreikigjährigen, 
eines „Icharfäugigen, energijden Sohnes des 
naturwiſſenſchaftlichen Zeitalters“ notiert. 
Aber beim großen Publifum fand Molo bod) 
erft Eingang durch feine Schillerromane, bie 
eine ungewöhnliche SNT — und 
bedeutende Au fajfung neben bem Geſchick 
lebendiger Darftellungstunft verrteten. Mir 
wurde Molo durd) diefe Romane lieb, Ein 
Befühl leifer Befremdung milchte fid) nur in 
bieles Gefühl literariicher Neigung: Molo 
nubte den ee] in einer Weile aus, die 
an bas reftloje Abholzen alter Waldbejtände 
u Nubzweden erinnerte: vier lange Romane 
Die er aus bielem Stoff: Ums Menſchen⸗ 
tum, Im Titanentampf, Die Freiheit, Den 
Gternen zu, obendrein noch ein Drama: 
Der Infant ber Menjchheit. Als dies (e: 
biet rejtlos erledigt war, wandte fid) Molo 
mit der gleichen Zähigfeit und Energie bem 
noch ergiebigeren Stoff ber preußilchen Ge: 
ichichte zu. Hier hat er es zu Drei Romanen 
gebracht, die fih durch beldjeibenere Titel 
auszeichnen (während die vorigen ein wenig 
an Herrn Stilgebauer unfeligen Angedentens 
erinnerten), fte Benes Ug AM Luiſe, 
Das Volk wacht auf. an darf erwarten, 
daß auch der Weltkrieg für Molo einige 
Romane und Dramen hergeben wird. Aber 
die Großzügigkeit ſeiner Unternehmungen iſt 
damit keineswegs am Ende. Vielmehr hat 
er (nur ſo nebenher) noch ein anderes, viel 
weiteres Gebiet entdeckt, und zu größeren 
literariſchen Induſtrieanlagen verwertet: die 
Weltliteratur. Seit Jahren betreibt Walter 
von Molo das ebenſo bequeme wie deg as 
Gei dft, mit erftaunlicher $yixigfeit Heine 
n 
herauszugeben, in denen er je den Extraft 
eines bedeutenden Dichters, den Auszug aus 
feinen beften Werten zu geben erflart. Diejem 
roßzügigen Gewerbebetrieb verdanfen wir 
isher folgende Erzeugnijje: Die [Hónften 
Geſchichten der Lagerlöf; Die [Hónften Aben: 
teuergejchichten von Gealsfield; ae | athe. 
Kofatengejchichten von Gogol; Die ſchönſten 
biftorijhen Erzählungen von Strindberg; 







en von durchſchnittlich fünfzehn Bogen: 





USOS OOO, 


Das Schönfte von Dauthendey; Das Schönfte 
von Ctorm; Die beiten Erzählungen von 
Tolftoj; Die jchönften Novellen unferer Ros 
mantit; Das KEN von Jens Peter Jas 
cobjen; Die [djóniten Erzählungen von 
Biórnfon; Die a bab Erzählungen von 
Hauff; aud Ludwig Thoma, Knut Hamjun 
fehlen nicht, andere werden folgen, denn es 
beißt in der Ankündigung: „Die Sammlung 
wird fortgelebt." 

Hm: Das Schönfte von Molo — — jdjeint 
mir diefe Ausichlachtung der Weltliteratur 
nun gerade nicht. Eine Heine Gejdjmadlofigs 
teit liegt [Hon in bielen entjeglichen Titeln. 
Das Ganze bedeutet eine Förderung der 
Oberfladhlidfeit, eine Hemmung des Strebens 
nach gediegener Kultur. Gewiß ift es, rein 
geichäftlich betrachtet, eine febr Huge Re: 
nung: gerade in jehiger Zeit, wo die Schein 
bildung an der Tagesordnung ift und wo 
aud) bie neuen Reichen fih allmählich bes 
mühen, „a Büldung“ zu zeigen, ijt es für 
diefe lieben Zeitgenoffen etn jehr bequemes 
Verfahren, fid) durch Erwerb eines Bändchens 
von 240 Geiten den Tolftoj, den Ctrinb: 
berg, ben Storm oder Björnjon angujdaffen 
und, was nod) billiger ift, ihre Schriften 
„tennen zu lernen“. „Nehmen Cie nur dies 
Bändchen,“ jagt ber gewandte Verkäufer, 
„da haben Cie bie Quinteſſenz bieles Dichters, 
das übrige brauden Gie nicht zu fennen, 
zumal in unferer jchnellebenden Bett, wo man 
gar nicht dazu kommt, einen ganzen Dichter 
zu lejen.” Mie der Broßhändler Auguft Prog 
aus Schieberhaufen einmal ein Wagnerfongert 
bejucbht, um jid) bann als Magnertenner 
aufipielen zu lónnnen, fo wird er and) ficher 
„Das Schönſte von Jacobjen” taufen, um 
behaupten au dürfen, er fenne den bewährten 
dänilchen Erzähler. Gerade das, was den 
Deutſchen bisher auszeichnete: Ernjt, Griind= 
lichkeit und Willen zu gediegener Geijtes: 
bildung wird dadurd qm. unb a 


leichte Abwege geleitet. Die Verführung + 
rop — und ſchlimm genug, daß es eine 
erführung ift. Man tann febr veridjiebener 


Meinung darüber fein, ob felbft ein jo dichte» 
tijd veranlagter, aljo berufener Auswähler 
wie Molo immer wirtlid das Schönfte des 
betreffenden Dichters darbietet und dDadurd) 
bas Melen feiner übrigen Werte überflüflig 
madt oder ob juft 240 Geiten bet allen das 
rehte Mak dafür find. Um bei bem ge: 
nannten Jacobjen zu bleiben, fo beftreite td) 


PE -—-— 


— — — — 


— — 





Bildnis meiner Tochter 
Gemälde von Prof. Alfred Sohn-Rethel 


THE LIBRARY 


OF 
UNIVERSITY 


THE 
jr ILLINOIS 


Karl Streder: Neues vom *Büdjerti[d) 649 


durchaus, dak dies Bändchen „das Schönfte” 
an ihm bietet. 

Co wenig wir alfo im allgemeinen diejem 
Unternehmen des geichäftigen Dichters zus 
timmen Tonnen — ohne zu vertennen, daß 

olos Einführungen in die Welt feiner 
Dichter met vortrefflid) find: um fo rüd: 
Balt[ojer Tonnen wir ben Abſchluß feiner 
MU i Romantrilogie als gelungen 
ezeichnen. Wieder bat Déi Molo feine 
eigene Form gewählt. Er bietet eigentlich 
ar fein Bud, jondern ein Bündel von 

ugenblidsbildern aus ber preußilchen 
Tranzojenzeit zu Anfang bes vorigen Jabrs 
bunderts. Oft its ein Bildchen von nur 
dreißig, vierzig Zeilen, oft von mehreren 
Geiten, aber immer mit erftaunlimer Ges 


al tate plaftifd) herausgearbeitet. Eine. 
0 


he Fülle von Gtizzen, daß fie eigentlich 
ber Theorie feiner Auswahlbände, bie immer 
nur wenige Ctüde zuläßt und das meijte 
für entbebrlid anfieht, wibderjpribt... 
Dennod: bier möchten wir nicht allzuviel 
entbebren. Der Lefer wird fortgerifjen von 
Bild zu Bild, weil er eine jeltiame innere 
Glut des Dichters |piirt, bie bas Ganze durch» 
ſtrömt, man fónnte auch jagen: eine innere 
Wut. Denn dies Bud hat der Zorn ge: 
Ichrieben. Oft jehen wir deutlich, daß diefe 
Menſchen nur das Rojtiim jener Zeit tragen, 
ihre Leiden und Gorgen und Wünjche find 
unvertennbar die unjeren. Gelten tft der 
freche Tibermut, bie Robeit und Eitelkeit des 
(tegreid)en Franzoſen auf jo unerbittlich Harer 
Spiegelflade aufgefangen worden wie hier; 
man glaubt dieje giftgejchwollenen Maul— 
helden vor fih zu jehen, genau wie [ie jest in 
Polen und am Rhein fid) aufjpielen, wte fie 
nichts unterlajjen, ein fultiviertes Bolt, bas 
webrlos ijt, durch blutige und durch ſchwarze 
Samad zu vernidten. Man láBt es fih 
gern gefallen, das, „was man fo den Get 
der Zeiten heißt“, als des „Herren eigenen 
Geift, in bem die Zeiten fih bejpiegeln” 
zu erfennen, denn dadurch gerade gewinnt 
dies Bud) an Bedeutung: daß es auf 1921 
jo vortrefflih paßt, daß es zeigt, wie wenig 
lid) bie Dienjchen ändern und die Charattere 
der Bólter. Mit Zorn und Grimm erkennen 
wir in biejen geiftigen Scherenjchnitten aus 
jener Beit, bie übrigens von einer erftaun- 
lichen Phantafiefüle Walter von Molos 
Zeugnis ablegen, alle Ausgeburten frangzó: 
ſiſchen Grbhalles und franzöſiſcher Dreiftigs 
feit wieder, die heute in jeder Zeitungs» 
nummer zu finden pe Ein tapferes Bud 
in jeder Hinlicht! Auch gegenüber den An: 
maßungen der ,Intelleftuellen” und Inter: 
nationalen, bie es für rüdjtändig halten, wenn 
ein eingeborener Deutjcher das Stiid Erde, 
auf dem feine Báter und Mütter gewirkt 
und ihre legte Bettftatt gefunden haben, 
heilig halt. Das, Ihr Nichts-als-Hirnmenſchen, 
hat mit bem ?Ber[tanbe nichts zu [djajfem, 
ilt von ibm nicht einmal zu erfajjen, jonbern 
ilt Sade bes Bluts. „Hier |djlug," fo ruft 
ein Zandeingejejjener bei Molo aus, „der 


große König feine Feinde, bier flog das Blut 
unferer Ahnen, Bier liegt mein Weib be: 
al aus bieler Erde. wurden wir; zu 
iejer Erde werden wir; wer diefe Erde 
ichändet, ſchändet uns”... „Es gibt Boden, 
der nur Meizen trägt, es gibt Boden, der 
nur Hafer treibt, unjer Boden trägt nur 
uns Deutjche.“ 

Dn ihrer ganzen Hiftorijchen Größe, bie 
an Peter Cornelius’ Monumentalität und 
Kraft bes Wusdruds erinnert, und bod) aud) 
wieder rein meniblid gejeben, ftehen die 

eiftigen Führer jener Zeit vor uns: Stein, 
Fichte, Gneifenau, Cdarnborit, Schleier: 
mader, Jahn, Schill. In einer von innerer 
Begeifterung glühenden Borlejung DK 
ruft er feinen Studenten zu: „Deutlich fein, 
beißt Charakter haben. Charakter wird 
nidt durch free Gebirnapothefer erzeugt, 
der Charakter ruht und wächſt allein in Der 
Gelbjttreue ber menj|djlidjen Seele ... Bes 
Ki wir Deutichen nicht feit je Menſchen— 
reundlichkeit, Yeutjeligfeit unb Edelmut?... 
Mie hat ber Deutiche von der AusnuBung 
fremder Vólter ‚gelebt! ... Laßt die an den 
Sieg glauben, die nur das Heute jehen. Wir 
leben bas Morgen!“ 

Aber bie großen und geſchichtlichen Szenen 
bilden in diefem wahrhaft. erlebten und ers 
littenen Bud) nicht die Mehrzahl. In der 
SHauptjache fommt es dem Dichter darauf an, 
ein Moſaik bes damaligen Leidens, Denkens 
und Fühlens in allen Volfstreijen zu geben, 
unb bie Ahnlichkeit mit bem Heute iit jicherlich 
mehr gejucht als vermieden. Go ijt es mit 
jeinem tiefgründigen Grimm ein vortreffliches 
Zejebud für unjere Zeit. Nachdem wir das 
Keid, die Not und den frehen Übermut ber 
Franzoſen gründlich durdgetoftet haben, bes - 
ginnt ganz leije bas Erwachen bes Voltes 
aus —— Gedrücktheit, fein Sich-Selber—⸗ 
ze unb das Dámmern eines neuen 

orgenrotes. Mit be gi Hand ift die 
Linie aufwärts geführt, das Reifen der 
Boltsbewegung, bte Ermannung zum Sturm, 
bis enblidj, als Napoleons Heer gejdlagen 
und aufgerieben aus Rußland zurüdwanft 
— in Deutichland die Gignalftangen auf: 
flammen, die Rirdengloden von Dorf zu 
Dorf láuten. 

Ein Roman in Aphorismen! Jedes 
Einzelbild ¿ujammengedrángt ‘auf Das 
Mejentliche und voll Beziehung zu dem ge: 
meinjamen Mittelpuntt. Bon jeinen — 
Abſonderlichkeiten beginnt Molo ſich nach 
und nach zu befreien: ſeine Geſtalten be— 
wegen ſich nicht mehr wie die Hampelmänner 
oder Veitstänzer in krampfhaft-ruckartigen 
Bewegungen, es iſt nur noch ein leiſer Nach— 
hall davon, wenn Fichte auf dem Katheder 
„bei geballten Fäuſten und vorgeſtellter Stirn“ 
ſpricht, und hier ſogar recht am Ort. Nur 
die unnötige Wiederholung des Namens iſt 
noch geblieben: „Erhobenen Hauptes ſchreitet 
gar in ben SHórjaal. Alte und junge 

enjchen erheben fih; Fichte erblidt auf 
der vorderiten Reihe ein Zeitungsblatt, 


650 Tse Karl Gtreder: Ve el 


Fihtes renger Blid verfinftert fih, gemolt, 
tätig ftredt Fihte die Hand.” Diejer Fichten» 
wald ift barum unfiinjtlerijd, weil ja gar 
fein Grund zu der Befürchtung vorliegt, die 
Gedanfen bes Lejers könnten abjchweifen 
von der Gejtalt, bie durchaus im Border- 
grunde bleibt. Aber das find Kleinigkeiten, 
die in feinem Verhältnis ftehen zu den Bor: 
nam bieles mit flammender Inbrunft und 
be ligem Zorn, aber auch mit künftlerijcher 

orgfalt und ftiliftijdem Filigran gejchaffenen 
Budo, das eler und pum tit. 

In geichichtliche Vergangenheit verjeßt uns 
aud) der Roman Schloß Bravalla vom 
Grafen Birger Moerner, freilid in eine 
Bergangenbeit, die nicht unfer Inneres fo 
tief aufrührt wie Molos Werk. Graf Mtoerner 
ijt Schwede, aber er fühlt und dentt fo ganz 
germanijd, daß er während des Weltkrieges 
zu den wenigen Ausländern gehörte, die ibre 
Stimme für uns Deutjche zu erheben wagten; 
er hat damals längere Zeit im Hauptquartier 
des Generals Liman von Sanders den Krieg 
aus nddjter Nähe tennen gelernt und feine 
Eindrüde in einem Bud ‚Mit Dem Volt bes 
Propheten‘ gejammelt, bas wahrhaft begeijtert 
von ber beut|den Tüchtigkeit fpridt. Der 
Roman Schloß Bravalla ijt eigentlich eine 
Ghronit, aber jo feffelnd und kunſtvoll erzählt, 
daß er den Untertitel vollauf verdient. Statt 
Schloß Bravalla würde das Bud eigentlich 
richtiger Schloß Mauritzberg heißen, denn dies, 
bem ?Berfajjer des Romans bis vor wenigen 
Sahren nod) gehörige —— iſt eigentlich 
damit gemeint. (Ich weiß das zufällig, weil 
ich im Frühſommer 1914, auf einer Strind— 
berg-Gtudienreije Durch Schweden, dort einige 
Tage verweilte.) Das Schloß ijt nahe der 
Brabudt in Oftra Husby gelegen und hat 
eine reiche gejchichtliche Vergangenheit, bie 
in diejem Bud ihr Epos gefunden hat. 

Maurig Birgersjon Grip, ben älteften 
Schloßherrn von Bravalla, lernen wir nur 
auf feinem Totenbett fennen, wie er den 
großen Schlüfjel, bas geheimnisvolle Erbe 
von Bravalla, mit erfalteter Hand nod) feft- 

alt. Diejes „Erbe der Greife", bas zu einer 

ruhe gehört, über deren Verbleib niemand 
etwas weiß, madt nun den eigentlichen Leit- 
faden der Erzählung aus; es geht von Hand 
zu Hand, von Gejdledht zu Gejdjled)t, und 
wir erfahren, indem wir jeine Wanderung 
begleiten, nicht nur bie ganze Familien: 
getihichte des alten Gejdledts, fondern auch 
ein gut Ctüd jchwedilcher Gejbidte. Alles 
bóbit anjchaulich mit befter epijdjer Kunſt 
erzählt; wir jehen bie djaratteri[tiid)en Typen 
des GBreifengejchlechts lebendig vor uns, und 
die ſchöne eigenartige Natur um Bravifen 
mit ihrem malerijchen Hiigelgelande, den 
alten Eichenbejtänden und bem auf alles 
blidenden blauen Auge ber in die Ditiee 
miündenden Bucht, fann nur ein Dichter jo 
verjtändnisvoll in allen Tages: und Nacht— 
ftimmungen belaujden. Die Chronik endet 
mit einer Iuftipielartigen Pointe, ber doch 
ein tieferer Sinn nicht fehlt. Um die lebte 


ahrhundertwende nämlich merft eine neue 

d)loBberrin, daß hinter bem alten Ölbildnis 
des Urahnen Mauritz Birgersjon, das wie 
burd) ein Wunder allen gefährlichen Schid= 
jalen bes Schloſſes, Brand und Plünderung 
itanbgebalten hat, bie Wand einen hohlen 
Klang bat. Man Ió|t das Bild von der 
Wand und findet tatjächlich eine feine Truhe, 
zu der jener durch Jahrhunderte jorglich 
gehütete Schlüffel paßt. Aber nicht die er: 
warteten Schäße entdedt man in dem Erbe 
ber Greifen, das bem Gejdledhte Glid 
bringen fol, wenn es richtig verwendet wird, 
jondern eine — Maurerfelle, zum Zeichen, 
dak es fein Blüd ohne Arbeit gibt. Der 
Verfaſſer gibt diefem Schluß des übrigens 
gut unterhaltenden Romans nod eine fym: 
ofilde Deutung, er verlegt die Zeit des 
Bundes in bie Neujahrsnacht 1899/1900 und 
üBt rechtzeitig die Uhr zwölfe Ichlagen, zum 
Zeichen, daß bas neue Jahrhundert ein Jahr: 
hundert der Arbeit jet. Das trifft für uns 
Deutſche nun freilich beftimmt zu... 

Einem verftorbenen beutjdjen Dichter fei 
ein Sträußchen aufs frijde Grab gelegt: 
Carl Hauptmann, dem Bruder des be: 
rühmteren und begabteren Gerhart. Auch wer 
nicht zu dem Häuflein übertreibender Ber: 
ehrer des älteren Hauptmann gehört, die 
ihn (unbegreiflih) über Gerhart ftellten, 
wird ibn lieben als einen ftillen, tiefange: 
legten Menjchen, den nur des Bruders Weg 
und Ruhm zum Drama verführte, das war 
fein Gebiet nicht, wenn er aud) in feinen 
Dialektjtüden (Ephraims Breite [tebt voran) 
die liebevolle SBeobadjtungsgabe des Natu- 
raliften befundete. an mußte ihn aber, 
namentlich nad) feinem „Tagebuch“, jchäßen 
als einen Lyrifer, bem ein jeltjames Suden 
und Träumen feine eigene Note gab. In 


dem vorliegenden Büchlein Drei Frauen 


verjudjt er fid) als Piychologe, er ftellt uns 
drei recht verſchiedene Frauencharaktere in Er: 
zählungsform vor, alle drei merfwiirdig und 
bezeichnend für den Hang zum Wunderlichen, 
ber fid) [hon in Carl Hauptmanns uberem, 
feiner NRübezahlfigur funbgab. Die erfte 
Gejdjidjte „Das Rátjel um Rebeffa Fum: 
fahr“, gibt das fcarfumrijjene und mit 
Mtaleraugen gejdaute Bildnis eines legten 
Sprojjes des altberühmten Schweizer Seiden: 
haujes Fumfabr & Co., ber ſchönen 9tebetta, 
bie in ihrem ganzen Welen ein Kind, zur 
argen Giinderin, fozujagen in aller Unjchuld, 
wird, ohne fic) babet etwas zu denten und 
ohne jedes Schuldgefühl. Die zweite, Slavina, 
ijt bie Tochter eines Malers, jehr begabt 
und von einer Joldjen Vorliebe für Dichtung 
und Willenichaft erfüllt, daß fie, als Burg: 
herrin von Elvershöh, über ihrer Laute und 
ihrem Tacitus die Welt ba brunten und 
namentlich) die begehrlichen Männer ganz 
vergibt, fo daß jchließlich alle Trümmer alter 
Weisheiten und neuer Gauteltiinfte über fie 
zujammenjtiirzen, fie eritiden und begraben. 
Die dritte Geſchichte ijt die feſſelndſte, fie 
halt uns eine Weile mit den Ranten feft, die 











ee) Neues vom Büchertifch seess 651 


fid um Mademoijelle Rutinelli [chlingen, die 
Erzieherin im Hauje des Barons Goldag, 
mit ihrem fanften Madonnengeficht voll ftiller 
Güte. ber als die Revolution ausbricht 
und das Schloß von einer Bande gejtürmt 
wird, da entpuppt fie fid) plößlich als eins 
gefleijchte und hartherzige Demofratin. Drei 
rote Rojen an der Bruft gieBt fie eine 
mädtige *Betroleumfanne über bie Prunt- 
möbel aus, das Schloß brennt nieder und 
einige Zeit darauf wird Mademoijelle Kuti- 
nelli in einem ziemlich a hectic grauen 
Gtráflingsanzug in einem faijerlichen Blei- 
bergwert untertrbi|d) bejchäftigt. Wie eine 
dunfle Heilige jchreitet fie aud) da, bis fie an 
Bleivergiftung eingeht. — Das Ganze bejtebt 
aus Heinen Charatterftudien, nicht ohne Reig, 
ijt aber bod) nicht geeignet, das Ddichterijche 
Charafterbild Carl Hauptmanns, gerade in 
dem, was wir an ihm jchäßen, zu vertiefen. 

Carl Hauptmann gehörte zu den Heimat: 
dichtern, im beiten Sinne bieles oft mip- 
brauchten Worts. Zu ihnen darf man aud) 
Wanda Scuss9totbe zählen, die in 


Sonne der Heimat febr innige Jugend» 


erinnerungen aus dem Hunsrüd bietet. Man 
darf feinen Vergleich e mit Clara Bie- 
bigs Eifel- Erzählungen; jo hoch Debt Wanda 
Scus:Rothe nicht, es fommt ihr aud) offen- 
bar nibt auf ſcharfe Gbaratterijtif Der 
Menſchen ihrer Heimat an, fondern darauf: 
ihre liebenswürdigen Geiten in der freund» 
lihen MVertlárung der (Erinnerung dar: 
ujtelen. Als Pfarrerfind hat fie Gelegen: 
ett, mit allen Schichten ber Berölferung in 
e Dn fommen, und jo werden wir 
bei den Bauern und Wchatjchleifern des 
Hunsrüd wie in einen Kreis alter Befannter 
eingeführt; man fühlt fid) fogleich heimijch 
unb bat feine Freude an ihrer urwüchligen 
Art und einem anbeimelnden natürlichen 
Humor. Die an fih belanglojen Beicheh: 
nijje find hübſch erzählt, man erlebt den Huns- 
rüd wirklich, aud) an rheinijdhem Dialeft 
fehlt es nicht, jo daß man ein paar freund: 
lide Stunden mit dem Bud) verlebt, das 
feine literarijden Anſprüche erhebt, aber 
das hält, was es verſpricht: es ijt ein wirt- 
liches Heimatbud, und bie helle Sonne rhei: 
nijdjen Frohſinns nes auf feinen Blättern. 
eiffig und fiinjtlerijd) erheblich höher 
Debt ein Roman, der nicht bas Leben, jonbern 
das Sterben einer Boltsgemeinjchaft jehildert: 
Der Tod von Falern. Gein Berfafler 
up anf T bieB bat fid) [Hon Durch äſthetiſche 
dritten befannt gemacht, er ijt ein feiner 
Menſch, ber eigentlich für bas robe Geſchehen 
des Kriegshandwerts, das in Ddiejem faft 
400 Geiten ftarten Buche febr eingehend ge: 
Ihildert wird, gar nicht gejchaffen jcheint. 
Aber vielleicht findet man gerade darin den 
Shlüjjel zu diejem Werk: augenjcheinlich 
haben bie Erlebnijje des Weltkrieges mit 
ihren Leiden und Schreden jo jchwer auf 
Diejer mujijden Seele gelaftet, daß [te fih 
davon befreien mußte durch Schreien, bird) 
Spreden von dem Entjeglichen. Und dabei 


bat denn Frank Thieß wohl feine Berufung 
jum Erzähler gefunden. Denn diejer Todes» 
ampf einer belagerten Stadt ijt mit einer 
a en Sebendigteit, Kraft und Phan- 
talie gejchildert. Man fühlt |d)meraba[t das 


-driidende Sinnbild: wenn hier, obwohl die 


Gebergabe des Dichters bas Ganze in nebels 
are Ferne rüdt, ein fraftiges unb tüchtiges 

olf nad) jahrelanger Cinjdjniirung jid) 
einem unbarmberzigen Feinde ergeben muß 
und von ihm erdenfelt wird. Wir erbliden 
nod) einmal, was wir während des Bers 
— „ſchon ſchaudernd er⸗ 
ebt“ haben: die wachſende Not, die auf die 
Gemüter der Menſchen unheilvoll wirkt, ſie 
ſelbſtſüchtig und neidiſch macht und ſo das 
Mißtrauen der niederen Bevölkerungsſchichten 
gegen die Machthaber und Führer ſchürt. 
Sart und febr gejcheit ijt der Gegenſatz 
zwilhen dem alten Feldherrn Marſos und 
dem ibeali[tijd)ert Demagogen Can gezeichnet 
— man glaubt befannte Geftalten zu feben 
— und mit ftarfem fünjtlerildem Griff bat 
Thieß diefe Parteitámpfe dem großen aben— 
teuerlihen Belagerungsbilde mit feinen Aus: 
fällen und Bertetdigungen, feinen auffladern« 
den Gefechten, mit ben Schredbildern der 
— und der Peſt organiſch eingefügt. 

t bediente ſich darſtelleriſcher Mittel, die 
an moderner Ausdruckskunſt geſchult find, 
ohne in ihre Vertracktheiten zu verfallen; 
ſo ſteigert Frank Thieß die Schlußabſchnitte 
zu einem wahrhaft dramatiſchen Tempo, er 
wabrt aber bis zulegt bie Größe der dich» 
terijden Vifion, indem er beim Hereinbreden 
ber Rataftropbe bie Sonet ihre helden: 
bafte Größe wiederfinden läßt —: da find 
alle Barteitämpfe, alle Heinlichen Gegenſätze 
vor ber Bröße bes Augenblides gejdwunden, 
Dpfermut Topert, Baterlanditols, Vaterland: 
liebe erwacdhen vor der Vernichtung nod) 
einmal und ftrablen wie eine untergehende 
Sonne über rauchende Trümmer. Gin bes 
achtenswertes Wert, bas wir lieber nod) als 
ein großes Werjpredjen denn als eine Er: 
füllung anjehen wollen. 

Wer, nod) jchmerzlich ergriffen, von der 
Erinnerung an den Todestampf einer tüch— 
tigen Bolfsgemeinjdajt ernft und betrübt 
— iſt, der greife zu einem roten 

üchlein, auf dem mit pomene Buchſtaben 
ber Weckruf Mehr Liebe! gejichrieben ftebt. 
Artur Branjewetter, der Geellorger und 
befannte Schriftiteller, gibt hier bas Befte, 
was id) von ihm fenne: jeine verlangende 
Geele, er gibt fie tn einer zujammengedrángten 
Beſchwörung unjerer Beat. einer eindrings 
lihen Mahnung, einem jehnjüchtigen Ruf 
nach mehr Liebe, mee Güte, mehr Menſch— 
lichfeit. Reine pazifiitiichen Phrajen bringt 
das. Heine CErbauungsbiidlein, auch feine 
vom Dogma ober gar von Starrglaubigfeit 
verjhnürten Predigten. Ein Menjch redet 
bier zum Dtenjchen, aber fo innig, fo eins 
bringlid) und durch die Kraft feiner Geele 
überzeugend, daß man wahrhaft erhoben 
und bejjer geworden das Büchlein jchließt. 


e Slluftrierte Runoͤſchau e 


OtCCeecccececceceeccececccececceccccccccccccececccccccccceocqc(coeoUuy233333333333333333333333333233233332323233333232333233250 


Karl Ernft Ofthaus, ber Gründer bes Folfwang-Mtufeums T — Oswald 
Herzogs abfolute Runft — Reitangiige für Damen — Tierbildhauer 
Emil Manz — Zu unfern Bildern 









DEOR EE 











ynbuftzieftdbte ftehen nicht in bem Ruf, 
einen günjtigen Nährboden für fünjtle: 
rijde Beltrebungen zu bieten. Um jo erftaun: 
licher war, was der im Frühjahr verjtorbene 
Karl Ernft Ofthaus in Hagen i. W. ge: 
leiftet bat. Mer fein Week Bildnis 
von Pantof betrachtet, ahnt freilich, Daß 
diefer Mann nicht bloß ein gejchmadvoller 
Magen und ein glüdlicher Sammler gewejen 
ift, Poner dak in ibm ein leidenjchaftliches 
Teuer glübte. Ihm war bie Runjt feine 
vornehme oder liebenswürdige Beichäftigung 
[ur nüglich zu verwertende Nebenftunden; 
ie war für ibn Mittel und Ziel gum Schaffen. 
Er Honn, ein Aſthet, mitten im tätigen 
Leben. Er jchuf feiner Vaterftadt eine Billen: 
tolonie, die der heiligen Schönheit der mütter: 
licen Erde würdig fein folte; er war ber 
unermüdliche Förderer bes auf feine An: 
regung entftandenen Deutſchen Mujeums für 
&unjt in Handel und Gewerbe. Die Krone 
jeiner Arbeit und feinen Ruhm bildet jedod) 
bas Folkwang-Muſeum, eine Galerie mo: 
derner Hunt, deren Reichtum und Schön: 
heit immer wieder wunderbar erjd)eint. Der 
Name des Mujeums ift ber nordijden Götter: 
lage entnommen. olfwang (Flur der Heer- 
dar) heißt Frenjas Gaal, in bem fie der 


SO 92,00, 00,09, 00,00, 00,00, 098,00, 09,09, 00,00, OMS OG OG OH OOOO OLD HOS OMO GOS 
ROSIE HITS OP. IG IRE PO IOI: LIEK oe CE EEE Nee Se” 
e i 





Toten Hälfte jammelt, während bie andre 
Ddin SE — bas fiimmt nicht recht für 
dies Miujeum. Denn Ofthaus hat Lebende 
gejammelt zu einer Zeit, wo fie noch nicht 
gonneg waren. Heute, wo es ftaatliche 


ammlungen mit ihren Erwerbungen oft 
übereilig Haben, erjdjeint bas als fein be: 
jonderes Berdienjt, und darum muß man 


inzufügen, daß Ofthaus einen erftaunlichen 

lid nicht nur für das Neue hatte, jondern 
aud) für Das, was dauernd wertvoll zu fein 
oder zu werden perjprad) Jn diefem Mus 
feum mit dem altgermanijchen Namen fanden 
auch die großen VE Meijter von 
Manet bis Viatijje eine —— Aber 
die fördernde Liebe des Sammlers galt den 
jungen deutſchen Künſtlern. Mochten ſie oft 
ungebärdig auftreten — wenn ſie nur eines 
lebendigen Willens und voll ſtrebender Kräfte 
waren. Es iſt ein ſchwerer Verluſt, daß ein 
Menſch, deſſen Seele mit heiliger Begeiſte— 
rung dem Kommenden aufgeſchloſſen war, 
gerade jetzt ſcheiden mußte, wo leidenſchaftlich 
um eine neue Geſtaltung von Kunſt und 
Leben gerungen wird. 


B & 
Diejes Neue ſucht aud) in den merfwiir- 
digen Zeichnungen von Oswald Herzog 


N EEE EC, nam, 





A Pferde. Gemälde von Franz Marc. Hagen, Follwang: Mujeum 




















Jluftrierte Rundſchau 653 


s “ — 
a o AS ^ 
E. UN gea hd 


Bildnis von Frau ©. Ofthaus. Gemälde von 
Augufte Renoir. Hagen, Follwang: Mufeum 


fih auszufprechen. Wir find überzeugt, daß 
die meitten Betrachter zunächſt den Kopf 
jchütteln werden, aber es will uns dod 
idjeinen, als lobne es fi), dem Künftler zu 
folgen. Zunächſt jet er mit ein paar Worten 
vorgeftellt: 1881 in Haynau in Sdlefien 
eboren, erlernte er in 
iegni& das Bildhauer: 
handwert in einem Gtud: 
geihäft, fam dann auf 
Berliner Runft: und Runft: 
gewerbejchulen, arbeitete in 
jetnem Beruf und ftudierte 
die Antifen des Alten 
Mufeums. Es find alfo, 
will uns [djeinen, alle Bor: 
bedingungen für einen ore 
dentliden Künftler geges 
ben. Aber Herzog geriet 
ins Grübeln. Es erjchien 
ihm — und er legte jeine 
Erlebnifje auch in. mehre: 
ren Schriften nieder —, als 
hätten wir bisher nod) nicht 
genügend bemerft, Daß 
alle jeeliihen Borgánge 
rhythmijch - dynamijcher 
Natur feien. Bisher hätten 
wir fie nur Durch bie Ver: 
mittlung von menſchlichen 
Gejtalten wahrgenommen. 
Es gäbe jebod) eine reine 
Runjt der Linie, genau jo 
wie eine abfolute Mufit, 
bie aud ohne Hilfe des 
Morts durch reine Form 
zum genießenden Herzen 
den Weg finde Diele 
Fähigkeit: feelijhe Bor: 
gänge in abjoluter Form - 








" Gelbitbildnis 
Gemälde von Paula Moderfohn 
Hagen, Foltwang: DPtujeum 


Bildnis von Dr. Karl Ernft Ofthaus, bert 
Begründer bes Foltwang: Mufeums zu Hagen 


unb unmittelbar zum Ausdrud zu bringen, ift 
nad) Herzogs Meinung bie höchſte Aufgabe 
der Hunt, Ganz jcheint er fie aud) nad) 
eigenem Urteil noch nicht gelöft zu haben. 
Er ftebt, wenn er feine Gefühlsausbrüdhe 
mit wegweijenden Unterjchriften verfiebt, 
ungefähr auf dem Stand: 
puntt ber Programmujif. 


88 ag 8 

Die hübſchen Bilder auf 
S. 655 zeigen moderne 
Reitanzüge für Da— 
men. Der Herrenſitz gilt 
ion lange nicht mehr als 
eine herausfordernde Red: 
heit, fondern bat fih aud 
in ber guten Gejellichaft 
fein Redt erworben. Die 
Mode freilich hat fid) bis 
vor furgem bemüht, den 
Anzug auch ber im Her: 
ren|i& reitenden Dame 
nad) Möglichkeit dem Der 
Sportgenojfin im Samen: 
jattel anzugleichen, vor 
allem legte fie auf Dunfle 
Farben Wert. JeBt find 
bie Breedes — ein eng: 
Dldes Wort für unjer ver: 
ihollenes Bruh, was Hofe 
bedeutet — bell wie Die 
der Herren, und auch Der 
langihößige Rod ijt nicht 
mehr unperbrüdjlidje Bor: 
Ihrift. Wenn die Dame Luft 
at, fann fie fid) in weißer 
luje zu Pferde zeigen. 


88 8 88 
Vol friiher Natürlich: 
feit find die Tierplaftiten 





Lee EE EE SS SNuftrierte 9tunbjdau sees 655 





ET 67 TIA Sen = 
a e D *y FA y 
y e Y s E 


Neuer Damenreitanzug. (Aufnahme Hünich) 
nif, die die Brundjäße bes Rupferdruds auf 
bie Schnellprefje überträgt — haben wir für 
das Gemälde „Abflauender Sturm” von Prof. 
$. Bohrdt angewandt (zw. ©. 568 u. 569). 
Auch diejes Bild ift mit bejondrer Umſicht 
gerade für Diele Art der Wiedergabe aus: 
gewählt worden, denn jo günjtige Ergebnilje 
der Tieforud jebt endlich zeitigt — er ilt 
burdjaus niht wahllos für jedes Gemälde 
oder jede Plaftit 
u verwenden. Dn: 
Fon Decheit ijt nicht 
daran zu denten, 
Dak er bem Far: 
bendrud Eintrag 
tut. Wie prächtig 
ijt Die „Hütte“ von 
dem Dijjeldorfer 
Sr. Pauly-Ha— 
en gelungen, 
an bat biejem 
Rúnjtler Monu— 
mentalität in der 
Farbe nadge: 
rühmt. Das fommt 
aud in unfrer 
Wiedergabe ber: 
aus (om. ©. 576 u. 
577). Und wie ftart 
ijt bie Vorjtellung 





bildnijjes ausjpricht (zw. ©. 648 u. 649). Ge: 
wiß, wer das Urbild vergleicht, wird unjre 
Abbildung nur als Gedádtnisitiize gelten 
laffen. Aber für fih betrachtet ift bie Wieder: 
on eine Augenweide Prof. Hermann 

radI, den Nürnberger, tennen bie Lejer 
feit bem vortreffliden Aufjag von Dr. Hein 
rid) Bingold, einem Beitrag, der den wejent: 
lichen Kern eines liebevollen, anjchaulichen 
Buches bildet, bas ber Verfaffer im Verlag 
von Walter Hädede in Stuttgart hat erjcheinen 
laffen. Mit unjrer inhaltlich und farbig über: 
ausanmutigen „Fröhlicden Gejellichaft“ jet auf 
des Meifters &unjt erneut hingewiejen, aber 
aud) auf bas jchöne, lejenswerte und aufs 
reichlichfte mit Bildern ausgeftattete Werf. 
Juſt in einer mannigfad) verworrenen trüben 
Zeit ift Grad! für viele ein herzlich will: 
lommener Gajt. Denn wer fih in feine Art 
verjentt, erfährt den Gegen einer fih fam: 
melnden und fid) aufs Wejentliche befinnenden 
Andacht. Ein gejundes Herz und die Natur 
in ihrer — Schönheit — das iſt's, 
worauf es ankommt. Im — mag ſein, 
was will. „Da draußen ſtets betrogen . . .“ 
on ijt Wahrheit und Güte und jehr viel 
Sonne. Gradl beweilt aufs troftlidfte, daß 
in unjrer Zeit neben ber weltgejchichtlichen 
Traaódie und Komödie aud) Raum bleibt 
für Die Idylle. Es find dod nicht bloß die 
Helden und Händler, die Heiligen und die 
Seuhler, die den Faden des großen Ge: 
ſchehens fpinnen, fondern neben ihnen. ftebt 
die uniiberjehbare Menge der fleinen Leute, 
die in barmlojer Geniigjamfeit ihr Ge: 
werbe treiben, wie es ihre Eltern getan 
‘at und ihre Entel tun werden; un: 
efiimmert um  politijde Umwälzungen 
de seh jie den fleinen Umtreis ihres Lebens 
ab. Der Alltag ijt ihr AH. In ihrem All: 
tag wurgelt Gradis Kunjt. Um ibn webt 


u A 
wen 





von fliifjigem Gold, 
in dem fid) Dos 
— — bes | 
obns Rethels ^7 = 
iden Mädchen: 





Neuer Damenreitangug. (Aufnahme Hiinid) 7 





656 PSssssesesssa 


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— — — " 
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z Spielende Bären. 


fie die goldenen Schleier ber Poefie. Aus 
ibm ift fie erwadjen. Und das will viel 
bedeuten. Denn jchließlich fängt alles Gliid, 
aud) bas pülferum|pannenbe, in der Enge 
des SE an. reili, wenn von mo: 


zen Diejelben 
bleiben, wird 
uns aufgeben, 





8 


REN nd A 


Franzöfiihe Bwergbulldogge 
Rleinplaftit Hp Eee von Emil Manz 


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B533333333333334 


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Bon Emil Manz 


daß ein Mann wie Gradl uns Tröftlicheres 
au Jagen bat als mancher wirr ftammelnde 


. Prophet. Womit allerdings nicht gejagt 


werden fol, daß man vor ihnen die Ohren 
GE jol. Wenn eine Zeitjchrift wie 


derner Malerei die Rede ift, wird Gradls die Mionatshefte das tate, würde fie bald 
Name nicht ' j ihren vor: 
genannt. Er nehmften Be: 
hat nichts mit ruf verleug: 
Krieg und nen: Den 
Revolution Dienft an der 
zu tun. Aber Gegenwart. 
wenn wir uns Darum bietet 
bejinnen, daß fie den Lefern 
das on künſtleriſche 
che Herz ſelbſt Verſuche wie 
durch die ge— die Herzog: 
waltigften Iden, darum 
Erſchütterun— jeiot jie Pro: 
gen ber Um: en aus dem 
welt nicht we: — 
ſentlich ver: uſeum und 
ändert wird, verſucht im— 
daß die ein— mer aufs 
fachſten Freu— neue, ihre Le— 
den d Die i Wi ! fon Ai 
nachhaltig: T Wu inert e mitten 
ften Schmer: Ke — Lac Y A in ber Dinge 


Entwidlung 
bineinzuver: 


83 leben. P.W. 





Herausgeber und verantwortliher Schriftleiter: Baul Osfar Hörer in Berlin 
Künftlerifhe Leitung: Rudolf Hofmann in Berlin — Verlag: Velhagen & Slafing in Berlin, Biele— 
feld, Leipzig, Wien — Drud: Fifer & Wittig in Leipzig — Für Öfterreich Herausgabe: Friefe & 
Lang in Wien I. Verantwortlidh: Grid) Friefein Wienl. Bräunergafie 3 — Nahdrud des Inhalts 
verboten. Alle Rechte vorbehalten. Bujdriften an bie Schriftleitung von Velbagen & Klajings 

Monatsheften in Berlin W 50 l | 


















Lag AN S 
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VELHAGENu.HLASINGS EXPORT ANZEIGER 


Verlag von Velhagen n.Klasing. 


—— 
ugspreis 
Inland M. 18.—. 


e Mai 1921 . 





u. Anzeigenannahme in Leipzig, Hospitalstr. 27. — pee. 
ür valutapfl. Ausland M. 36.— (zuzgl. M. 8.40 f. Porto u. Verp.), 
Anzeigen M. 1.50 für die einspaltige Millimeterzeile. 


— — — 


May Ss — 









Bielefeld u. Leipzig. / 
No. 9, X. Jahrg. 


Die Leipziger Frühjahrsmesse 
und das Ausland. 


Von Dr. Fritz Körner. 


A“ der diesjährigen Leipziger Frühjahrs- 
messe (6.—12. März) lasteten von vorn- 
herein nicht nur die Schatten der Weltwirt- 
schaftskrisis, sondern auch die Ungewissheit 
über den Ausgang der Londoner Konferenz 
stand als drohendes Gespenst im Hintergrund. 
Beide Tatsachen schienen der Messe nicht 
günstige Aussichten zu bieten, weil man wegen 
der Absatzstockung auf dem Weltmarkt nicht 
mit grossen Aufträgen rechnete und man von 
der Londoner Konferenz irgendeine neue Be- 
lastung des Weltexportverkehrs ' befürchtete. 
Erfreulicherweise erwiesen sich die wirtschaft- 
lichen Beziehungen zwischen den Nationen und 
der Drang des internationalen Exporthandels 
nach neuen Absatzmárkten weit stärker als 
die politischen Missstimmungen und Gewalt- 
drohungen. Der Ruf der Leipziger Messe als 
grösster Zentralmarkt für den internationalen 
Handel hat sich auch hier wieder bewährt, 
indem sie trotz aller Schwierigkeiten ihre be- 
währte Anziehungskraft auf alte und neue 
Besucher im In- und Ausland auszuüben ver- 
mochte. 

Ein Wertmesser für die einzig dastehende 


Internationalität der Leipziger Messe wird im- . 


mer die Teilnahme des Auslandes bleiben. 
Denn erst dann kann von einer wahren Inter- 
nationalität einer Messe gesprochen werden, 
wenn sie sich nicht aus protektionistischen 
Gründen gegen das Ausland verschliesst, 
sondern wenn sie das Prinzip des freien 
Wettbewerbs so grosszügig auffasst, dass sie 
auch ausländischen Ausstellern ihre Pforten 
öffnet. 

In dieser Beziehung steht die diesjährige 
Leipziger Frühjahrsmesse unter allen anderen 
Messen der Welt an der Spitze. Sie wies 


jetzt bereits drei nationale Messhäuser aus- 
ländischer Staaten auf: neben der österreichi- 
schen Messmusterschau das Haus der Tschecho- 
Slowakei und das Schweizerhaus. Diese bis- 
her einzigartige Neugestaltung ist ein Beweis 
für die zunehmende Bedeutung der Leipziger 
Messen für das allgemeine Wirtschaftsleben. 
Die Entwicklung der letzten Jahre führte mit 
innerer Notwendigkeit dazu, diese Einrichtungen 
auf breitere Grundlage zu stellen und zu in- 
ternationalisieren. War auch vor dem Krieg 
die Messe regelmässig von Käufern aus aller 
Welt beschickt, so kann sie einen wirklich 
internationalen Charakter erst dadurch erlangen, 
dass sie die Möglichkeit bietet, dass jeder 


Einkäufer hier auch fremde Waren erhalten 


kann. Wenn die beiden Messhäuser der letzt- 
genannten Länder auch teilweise noch im Ent- 
stehen waren, so boten sie doch schon einen 
interessanten Überblick über die Produktion 
ihrer Unternehmungen und regten zum Ver- 
gleich mit deutschen Waren an. Die Schwei- 
zer Firmen stellten neben den berühmten 
Schweizer Stickereien auch Uhren, Spielwaren, 
Seifen und Parfümerien, Milchprodukte und 
andere Exportwaren aus. Aus der Tschecho- 
Slowakei hatten sich in erster Linie deutsch- 
böhmische Firmen als Aussteller eingefunden, 
die ihre weltberühmten Kristallsachen und Glas- 
waren in altbekannter Güte und Qualität an- 
boten. Das österreichische Messhaus 
vereinigte über 200 österreichische Erzeuger 
und Aussteller, die vor allem Lederwaren, 
Modeneuheiten, Parfümerien, Stockwaren, Sil- 
berwaren, Bronzen, Schuhe. und Reiseartikel 
zeigten; die Qualität der Waren bewies, dass 
die Kurve der Entwicklung der österreichischen 
Produktion mächtig nach oben strebt. 


174 Die Leipziger Frühjahrsmesse und das Ausland. 


Voraussichtlich werden mit eigenen Mess- 
häusern bald die nordischen Staaten und Hol- 
land folgen. 
dass es auch wirtschaftlich den Wettbewerb 
der ausländischen Produktion ertragen kann, 
dass es die Beteiligung der ausländischen Aus- 
länder ansieht als gesunde Entwicklung und 
als eine weitere Etappe auf dem Wege, wie- 
der in den Weltwirtschaftsverkehr einzutreten. 

Der Internationalität der Ausstellerschaft 
war auch die grosse Zahl der ausländischen 
Einkäufer angepasst, die man bei einem Ge- 
samtbesuch der Messe von 118000 Menschen 
auf etwa 20000 Ausländer beziffern kann. 
Sehr stark war die Tschecho-Slowakei mit fast 
. 3000 Besuchern, Polen mit 1000, die Schweiz 
mit 1500, Holland mit 2000, Osterreich mit 
1700 vertreten. Aber auch die bisher feind- 
lichen Staaten hatten zahlreiche Besucher ent- 
sandt, so waren etwa 300 Amerikaner, gegen 
100 Engländer, ferner Franzosen, Italiener, 
Portugiesen anwesend, ferner Einkäufer aus 
Übersee und fast allen europäischen Ländern. 
Man konnte die Beobachtung machen, dass 
‘die Ausländer mit offenen Augen durch die 
Leipziger Messausstellungen gewandert sind 
und dass sie ihrem Erstaunen und ihrer Be- 
wunderung über die ideenreichen Muster, die 
neuen Erfindungen und die Güte der deut- 
schen Waren vielfach in beredten Worten Aus- 
druck gaben. Zweifellos war auf der dies- 
jährigen Frühjahrsmesse die Losung „Qua- 
lität“ wieder in der altbekannten Weise vor- 
herrschend. Auf allen Gebieten ist der Ersatz 
verschwunden oder er ist doch so veredelt 
worden, dass er als ein vollkommen neuer 
Rohstoff zu bewerten ist. Qualität wird nicht 


allein im Maschinenbau oder im Kuntgewerbe ` 


angestrebt, sondern jede Branche und jeder 
mit Veredelung beschäftigte Geschäftszweig ist 
bemüht, durch eine hervorragende Qualitäts- 
leistung neue Kunden zu gewinnen und die 
alten Kunden zu erhalten. Neue Kunden ? 
Gewiss, die Messe ist das grosse Mittel, um 
neue Auslandskundschaft zugewinnen. 
Auch hier hat die Frühjahrsmesse neue Wege 
gewiesen und die Unsicherheit der gegen- 
wärtigen Lage geklärt. Sie hat beispielsweise 
durch die grossartige Ausstellung der deut- 
schen Werkzeugmaschinen- und Armaturen- 
Industrie dem Ausland gezeigt, dass Deutsch- 
land ein hervorragendes Verarbeitungsland und 
vielfach leistungsfähiger ist, als die französische 
und selbst die englische Industrie. Auch un- 
sere ausgezeichnet vertretene Luxusporzellan- 
Industrie wird dem Ausland vor Augen ge- 
führt haben, dass es uns auf diesem Ge- 
biet immer wieder brauchen wird, denn nur 
Deutschland kann vorläufig infolge seiner ent- 
wickelten Farben - Industrie die herrlichen 


Deutschland beweist dadurch, - 





Tönungen und Färbungen auf den Markt 
bringen, welche an den diesjährigen Mess- 
mustern in einzigartiger Vollendung zu be- 
obachten waren. 

Gerade die erstklassigen deutschen Industrie- 
zweige haben aus allen diesen Gründen die 
grössten Auftráge vom Ausland erhalten. So 
haben Amerika und England zahlreiche Auf- 
träge für Werkzeugmaschinenfabriken gegeben, | 
ferner sind die Porzellanfabriken, die chemischen 
und pharmazeutischen Werke, die Elektrotechnik 
und die Spielwaren-Industrie mit ihrem Aus- 
landsgeschäft recht zufrieden. 

Natürlich drängt sich hier die sehr berech, 
tigte Frage auf: werden diese Aufträge infolge 
der neuen wirtschaftlichen Massnahmen der 
Entente überhaupt jemals ausgeführt werden, 
wird der deutsche Export nach den westlichen 
Staaten noch möglich sein? Zweifellos treten 
hier schon jetzt sehr starke Hemmungen zu- 
tage. Unter; Umständen wird es so weit 
kommen, dass der Export nach England und 
Frankreich ganz aufhören muss und wir uns 
auf andere Länder beschränken müssen, die 
sich in dieser Beziehung nicht dem Diktat der 
Entente unterwerfen. Hier werden die über- 
seeischen Länder, die Oststaaten und Südost- 
staaten vor allem, in’ Betracht kommen. Zum 
Schluss sei daher auf Unterredungen verwiesen, 
die wir anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse 
mit Einkäufern aus einigen dieser Länder hatten, 
die sich über die Beziehungen mit Deutschland 
im allgemeinen recht optimistisch geäussert 
haben. Ein aus Südamerika gekommener 
Einkäufer sprach sich über die dortigen Ge- 
schäftsaussichten für Deutschland folgender- 
massen aus: 

Zum erstenmal seit dem Weltkriege habe 
ich wieder die Leipziger Messe besucht und 
ich bin erstaunt über die beispiellose Ent- 
wicklung, die Deutschland trotz Krieg und 
Zusammenbruch genommen hat. Ganz Süd- 
amerika wartet auf die gute deutsche 
Ware, die man hier zu sehen bekommt, und 
es wäre ausserordentlich zu wünschen, dass 
sich der deutsche Export uns noch mehr zu- 
wendet, als es bisher geschehen ist. Unser 
allmählicher industrieller Aufschwung erfordert 
in erster Linie Maschinen allerart und Werk- 
zeuge. Daneben brauchen wir als stark agra- 
risches Land in immer steigendem Umfang 
landwirtschaftliche Maschinen, von der einfachen 
Hacke bis zum Motorpflug und Traktor. Ausser. 
dem werden Massenartikel guter Qualität immer 
grossen Absatz finden, ich denke dabei an 
Spielwaren, Stahlwaren, Glaswaren, Gebrauchs- 
gegenstánde allerart, wie man sie täglich 
benutzt. 

Ein Besucher aus den russischen Rand- 
staaten gab über den dortigen Bedarf folgendes 


Die Leipziger Frühjahrsmesse und das Ausland. — Die zweite Deutsche Ostmesse in Königsberg. 175 


Bild: Wir können nach Deutschland ausser 
Holz vor allem Flachs liefern, woran sich 
Lettland und Litauen beteiligen würden. In 
Deutschland suchen wir Automobile, Werk- 
zeuge, Porzellan, Klaviere und Musikinstru- 
mente. Wir hoffen, bei der neuen wirtschaft- 
lichen Bedrängnis Deutschlands im Westen 
jetzt in noch viel lebhaftere Handelsbe- 
ziehungen mit Deutschland zu kommen und 
ein Verbindungsland für den gesamten Osten 
zu werden. 

In ähnlicher Weise lauteten die Urteile von 
Besuchern aus Rumänien, Bulgarien, Südslawien, 
Holland nnd Italien, mit denen man sich frei 
und rein vom kaufmännischen Standpunkt aus- 
sprechen konnte. Sie alle betonten, dass die 


Leipziger Frühjahrsmesse dem Ausland neue 
Eindrücke von der Lebenskraft und der Pro- ` 
duktionstätigkeit der deutschen Industrie hinter- 
lassen hätte, dass man aber diese Kräfte durch 
neue Gewaltmassnahmen nicht unterbinden 
dürfte. Deutschland kann nur blühen im Zu- 
sammenwirken mit dem Ausland und es kann 
nur leben, wenn seine Ausfuhr in die Länder 
gelangt, die aus freien Stücken und aus Lebens- 
notwendigkeit die deutsche Ware wünschen 
und brauchen. Im allgemeinen war man der 
Ansicht, dass die Frühjahrsmesse trotz der 
neuen Missstimmung nicht vergeblich gewesen 
sei, sondern dass sie für das Ausland einen 
Anreiz geboten habe, Leipzig auch in Zukunft 
treu zu bleiben. 


Die zweite Deutsche Ostmesse 
in Königsberg. 


Naas man aus den zahlreichen Anmel- 
dungen aus der Provinz und aus den 
benachbarten Gebieten Ostpreussens entnehmen 
konnte, dass fiir die zweite Deutsche Ostmesse 
nicht nur bei den Ausstellern, sondern auch 
bei den Einkäufern grosses Interesse bestand, 
durfte man auf den Verlauf der Messe gespannt 
sein. Die drohende politische Lage wie der 
schlechte Geschäftsgang in den meisten auf 
der Messe vertretenen Branchen drückten die 
Hoffnungen hinsichtlich des geschäftlichen Er- 
folges auf ein Minimum herab. Der tatsäch- 
liche Verlauf der Messe gestaltete sich aber 
doch günstiger, als man in Anbetracht der 
Lage vorher anzunehmen wagte. Als Resultat 
der diesjährigen Frühjahrsmesse kann 
man buchen: Erstens, dass in den meisten 
Branchen, die zur Messe ausgestellt hatten, 
eine merkbare Belebung eingetreten ist; zwei- 
tens, dass sehr gute Beziehungen zum Aus- 
lande, insbesondere zu Litauen gewonnen 
wurden und drittens, dass der eindrucksvolle 
Aufbau der Messe eine weitgehende Propa- 
gandawirkung in den Randstaaten ausüben 
wird. Die zur Messe anwesenden ausländischen 
Regierungs- und Pressevertreter haben mit Be- 
friedigung festgestellt, dass die Qualität und 
die Preise der deutschen Waren den Einkauf 
in Deutschland vorteilhaft erscheinen lassen. 

Die zweite Deutsche Ostmesse wurde am 
Sonntag, den 13. März, in Gegenwart der 
Vertreter des Reiches, Preussens, der Provinz 
und der städtischen Behörden, der Handels- 
kammer sowie der Presse eröffnet. Die Aus- 
stellungsstände waren alle zur festgesetzten 
Zeit fertiggestellt und boten in ihrer geräu- 
migen Anlage in den weiten Hallen, in denen 


1050 Aussteller vertreten waren, ein über- 
sichtliches Bild. Das Messamt hatte den grössten 
Wert darauf gelegt, die Besucher auf ernst- 
hafte Interessenten zu beschränken und gab 
deshalb Abzeichen nur an solche ab, die sich 
als Einkäufer einer bestimmten Firma aus- 
weisen konnten.  Annáühernd elftausend Ein- 
käufer jeder Art haben sich zur Deutschen 
Ostmesse eingefunden — unter ihnen 600 Aus- 
länder — zum grössten Teile Litauer. 

Der geschäftliche Verkehr in den 
einzelnen Branchen war sehr verschieden, doch 
kann im allgemeinen bebauptet werden, dass 
das Geschäft zufriedenstellend ge- 
wesen ist. - 

Als günstiges Prognostikum für die Sta- 
bilisierung unseres Wirtschaftslebens darf der 
Umstand gelten, dass in allen Branchen haupt- 
sächlich gute und preiswerte Qualitäts- 
ware gefragt und auch angeboten war, wäh- 
rend ausgesprochene Luxusartikel stark 
zurücktraten. Was nun das Ausland 
anbetrifft, so kann gesagt werden, dass sich 
sehr rege Beziehungen entwickelt haben. In 
Anbetracht der noch immer schwierigen Zoll- 
bestimmungen (nur Lettland hatte noch in 
letzter Stunde erhebliche Erleichterungen ge- 
währt) war die Kauflust, setzt man die un- 
sichere Konjunktur auch in Rechnung, recht 
lebhaft. 

Alles in allem: Es war ein Erfolg, den 
die zweite Deutsche Ostmesse aufzuweisen 
hatte. Ein Erfolg sowohl für Aussteller als 
auch Einkäufer. Und nicht zum letzten dieser 
grösste Erfolg, dass wiederum ein Stück 
Ostland dem deutschen Handel er- 
schlossen ist. 


176 Der Wert deutscher Kraftpflüge für Süd-Afrika. 


Der Wert deutscher Kraitpilüge für Süd-Afrika. 


Von Ellis C. Frank’l. 


Va kurzer Zeit verliess ein mir seit vielen 
Jahren bekannter Südafrikaner, mit welchem 
ich vor dem Kriege in London fliegen lernte 
und mit dem ich auch später in Kapstadt eine 
Fliegerschule eröffnete, Bremen, nachdem er 
in der gastfreien Hansastadt nahezu 4 Monate 
zugebracht hatte. Er hat in verschiedenen 
Städten Deutschlands mit grossen Unterneh- 
mungen Beziehungen angeknüpft und geht nun 
hinunter nach Süd-Afrika, um den arg vernach- 
lässigten Handel mit Deutschland wieder auf 
die Beine zu helfen. ` 

„Was unsere zukünftigen Geschäfte mit 
Deutschland anbetrifft,“ sagte er bei seiner 
Abfahrt gegenüber den Pressevertretern, „so 
dürfen wir das Beste hoffen, wenn nur die 
Wahrheit gesagt werden könnte und der wahre 
Sachverhalt der Südafrikanischen Kommission 
vorgelegt würde. Der Wollmarkt allein schon 
würde einen ungeahnten Aufschwung erhalten, 
zum Vorteile Afrikas, wenn die Transaktionen 
mit deutschen und afrikanischen Gescháftsleuten 
direkt abgeschlossen” werden könnten. Der 
afrikanische Farmer braucht sehr nötig deutsche 
Erzeugnisse auf landwirtschaftlichem Gebiete 
und der beste Weg wäre doch gewiss der, 
afrikanische Wolle gegen deutsche Erzeugnisse 
einzutauschen. Ich persönlich bin mit falschen 
Eindrücken nach Deutschland gekommen und 
kann wohl mit Freuden sagen, dass ich während 
meines Aufenthaltes in Bremen und Süd- 
deutschland ganz das Gegenteil kennen gelernt 
habe, als das, was die alliierte Presse mir vor- 


gesetzt hat. Irgend etwas muss geschehen, 
damit diese Missstände aus dem Wege geschafft 
werden und so hoffe ich mit diesen Worten 
dazu beitragen zu können, dass endlich einmal 
die Wahrheit an das Tageslicht kommt.“ 

Schon vor dem Kriege war die Südafrika- 
nische Union ein gutes Absatzgebiet für deutsche 
Erzeugnisse. Während des langen Krieges 
haben die Amerikaner versucht, den deutschen 
Exporthandel an sich zu reissen, haben das 
Land mit Maschinen überschwemmt, bis der 
Farmer nichts mehr von amerikanischen Waren 
wissen wollte. Die Anfragen in landwirtschaft- 
lichen Maschinen haben in letzter Zeit mehr 
und mehr zugenommen und so liegt es bei 
den deutschen Maschinenfabriken, ihre Augen 
offen zu halten, um die einst besessenen Plätze 
auf dem afrikanischen Markte wieder zu erobern. 
Verschiedene Firmen haben hier schon einen 
Weg geebnet und so ging z. B. vor wenigen 
Wochen der erste deutsche Zugmaschinen- und 
Lastwagen-Transport nach Süd- Afrika ab. 

In allererster Linie kommen landwirtschaft- 
liche Maschinen, wie Motorpflüge, sogenannte 
Universalmaschinen in Frage, die nicht nur 
den Acker umpflügen, sondern auch bei den 
riesigen Entfernungen zwischen den verschie- 
denen Farmen und den Farmen und den Eisen- 
bahnenstationen, Lasten, die sonst von 20—30 
Büffelgespannen mit grossen Zeitverlusten trans- 
portiert werden mussten, in weit kürzerer Zeit 
an Ort und Stelle zu schaffen in der Lage sind. 

Erfolgreiche Bodenbearbeitung verlangt 
von vornherein ein ge- 
nauesStudium der physi- 





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kalischen Verhältnisse, 
denn erst dann können 
auftretende Schwierig- 
keiten leicht überwunden 
werden. Es gibt unter 
der Sonne keine zwei 
Länder, in welchen die 
Schwierigkeiten der Bo- 
denbearbeitung diesel- 
ben sind, daher sind die 
anzuwendenden Mittel 
und Wege in jedem 
Landstriche verschieden. 

In keinem Lande je- 
doch sind die Schwierig- 
keiten in der Landwirt- 
schaft grösser, als ge- 
rade in Süd- Afrika. 
Die bekanntesten von 
diesen sind wohl die, 
welche den Witterungs- 








— 








Der Wert deutscher Kraftpflüge für Süd- Afrika. 177 


einflüssen, dem Regen |^ — 
und der Verdunstung P^ 
unterworfen sind. Die 
Geschichte der afrika- 
nischen Erde ist kurz. 
Jahrhunderte hindurch 
wurde der Boden unter 
den Hufen unzähliger 
Wildbestände und Her- 
den zusammengetreten. 
Unwetter, Regen- und 
Hagelstürme jagten dar- 


über hinweg. Wald- 
brände und die heisse 
Sonne der  Tropen 


trockneten den Boden 
zu Stein. 

All dies zwingt den 
Mutterboden dazu, seine 
Oberflüche gegen atmo- 
sphärische Einflüsse zu 





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verschliessen. Nicht über- 
all herrscht dieser Boden 
vor, hier und dort zeigt 
er eine grössere Porosität als an anderen Stellen. 
Der grösste Teil der afrikanischen Erde jedoch 
hat eine harte Kruste über der eigentlichen 
fruchtbaren Erde, über welche Flüsse der 
Regenzeit der See zufliessen. Schnee, der den 
Boden in nördlicheren Zonen während der 
Winterzeit zersetzt, gibt es hier nicht. Fröste 
sind nicht stark genug, um die harte Kruste 
des Bodens zu durchbrechen. Es mangelt daher 
überall an durchgreifender Neulandgewinnung. 
Diese Neulandgewinnung kann nur mit 
Hilfe moderner Mittel geschehen, die den 
Boden durcharbeiten und Pflanzen die Mög- 
lichkeit des Wachstums geben. In den nörd- 
licheren Ländern ist der Regen ein grosser 
Faktor, der dem Farmer die grösste Hilfe für 
die Bodenbearbeitung leistet. Hier ist das 
Gegenteil der Fall, aber trotzdem hat Afrika 
ein Klima, unter welchem bei richtig angewandter 
Bodenbearbeitung alles gedeihen kann. 
Überall, wo Landwirtschaft betrieben wird, 
^wo Felder umgepflügt werden, ist die Arbeit 
von Ochsen gering bewertet worden und 
nirgends ist die Ochsenarbeit weniger bewertet 
wie gerade in Süd-Afrika. In der westlichen 
Provinz. der Kap-Kolonie, die augenblicklich 
die gróssten bebauten Strecken aufzuweisen 
hat, wird die Pflugarbeit schon seit Jahren 
von Pferden und Mauleseln geleistet. Der Ruf 
nach Erweiterung der Landwirtschaft, mehr 
Neuland für den Anbau zu gewinnen, kann 
nicht ungehórt vorübergehen. Meilenweite 
Strecken fruchtbaren Bodens liegen brach, die 
vielen Herden und Viehbestánde sprechen 
besser denn Worte. Ökonomie des Lebens 
kann nicht einfach beiseite geschoben werden, 


Abb. 29. Neulandgewinnung mit Hilfe des Motorpflugs. 


das Land, welches uns gegeben, muss dem 
zugeführt werden, für das es bestimmt ist, 
unseren Unterhalt und den unserer Tiere 
durch Getreide- und Futteranbau zu beschaffen. 
Die einzige Möglichkeit eines Landes, zu be- 
stehen, ist seine Produktion, wir sehen ja, 
welche Strafe Afrika für seine Nachlässigkeit be- 
zahlen musste. Somit ist dieser Ruf nach Kulti- 
vierung kein passiver, sondern ein aktiver und das 
Land wird diejenigen, die diesem Rufe nicht 
folgen, verdrängen und denen Platz machen, 
die sich mit Energie an die Arbeit begeben. 

Während der letzten Jahrzehnte hat man 
auf Grund reicher Erfahrungen, Forschungen 
und Versuche mehr getan auf dem Gebiete 
der Kultivation denn je, man hat gezeigt, was 
geleistet werden kann in der Landwirtschaft. 
Grosse Verdienste sind hierbei den Maschinen- 
pflügen, erstmalig dem Zwei-Dampfmaschinen- 
System zuzuschreiben, die aber nach dem 
Siegeszug des Benzinmotors mehr und mehr 
in den Hintergrund gedrängt wurden. Bei 
ersteren waren die Anschaffungskosten immer 
die doppelten und konnte der Dampfpflug 
auch immer nur im ebenen Gelände Verwen- 
dung finden. Die Frage nun, welches System 
und Modell der verschiedenen Maschinen- 
pflüge vorzuziehen sei, hat in neuester Zeit 
einen lebhaften Meinungsaustausch der ein- 
schlägigen Kreise hervorgerufen. Neben allen 
Arten von Seil-Schlepp-Tragpflügen oder Bo- 
denfräsern kommt für Süd-Afrika wohl einzig 
und allein der Trag- oder der Schlepppflug in 
Betracht. Ursprünglich amerikanischer Bauart ist 
der Schlepppflug durch die Schaffenskraft deut- 


scher Fabriken, wie Hansa-Lloyd, Gasmotoren- 





178 Der Wert deutscher Kraftpflüge für Süd - Afrika. 


fabrik Deutz, Stoewer-Werke u. a. in ein rein 


deutsches Erzeugnis umgewandelt worden. Der 
Tragpflug vereitelt eine gleichmässige Pflug- 
arbeit, hauptsächlich in geringer Furchentiefe 
von 15 cm, infolge der Schwingungen des 
Tragrahmens. Für koupiertes Gelände schei. 
det daher der Tragpflug von vornherein aus. 
Dieser. Mangel ist auch durch seine grossen 
Arbeitsleistungen auf ebenem Boden nicht 
wieder wettzumachen. Bei der Beurteilung 
eines Pflugsystems sind nicht vorübergehende 
Höchstleistungen, sondern seine Gesamtleistung 
und Lebensdauer von grösster Wichtigkeit. 


ist, der imstande ist, dem Landwirt alle tieri- 
schen Kräfte zu ersetzen. Ein Tier frisst, auch 
wenn es nicht arbeitet, diese Universalmaschine 
aber frisst nur, wenn sie arbeitet. 

Der afrikanische Farmer hat heute die Be- 
deutung der motorischen Kraft in der Land- 
wirtschaft vielleicht noch nicht erkannt, aber die 
wachsenden Anfragen nach Motorpflügen lassen 
es gerecht erscheinen, dass in Zukunft der Land- 
mann, der bisher allen Neuerungen auf diesem 
Gebiete ziemlich skeptisch gegenüberstand, sich 
mehr und mehr mit der Frage beschäftigt. 

In Afrika liegen die einzelnen Farmen mei- 

lenweit von der nächsten 








Abb. 30. Einst und jetzt. 


Der afrikanische Landwirt muss heute rechnen, 
wie viele Gespanne er ersparen und welchen 
Ernteüberschuss er durch die Anwendung mo- 
torischer Ackerbestellung erzielen kann. 

Die Zukunft liegt nicht nur in dem Motor- 
pfluge allein, sondern bei dem Motorpfluge 
mit vielseitiger Verwendbarkeit. Diese viel- 
seitige Verwendbarkeit kann aber nur ein 
Schlepppflug aufweisen, der dem Farmer auch 
nach der Bodenbestellung ein treuer Diener 











Eisenbahnstation _ent- 
fernt und der Transport 
ging nur unter den 
grösstenSchwierigkeiten 
vor sich. Der Schlepper 
ersetzt dem Landmann 
10-20 Ochsengespanne 
und schafft seine Pro- 
dukte in der halben 
Zeit an Ort und Stelle. 
Auf dem Hofe ist er 
als stationäre Kraftan- 
lage ein unersetzliches 
Hilfsmittel. Der Farmer 
kann mit dem Schlepper 
sein Getreide dreschen, 
er pumpt ihm das Wasser 
aus dem Brunnen, lie- 
fert ihm durch eine sinn- 
reiche Einrichtung das 
Licht für die ganze Farm. 
Wo mehrere Farmen 
dicht beieinander liegen, können die Besitzer, 
falls ihnen die Anschaffungskosten zu hoch 
erscheinen, zusammen solch eine Universal- 
maschine in ihre Dienste stellen. 

Was nun die Kosten der Anschaffung an- 
belangt, so sei hier eine Aufstellung beige- 
fügt, an Hand deren Interessenten sich leicht 
ein Bild machen können. Die Umrechnung 
erfolgte zu einem Kurse von 240 Mark für 
das Pfund Sterling, und zwar cif. Kapstadt. 














| | In Pfund 
Fabrikat PS. miteeltefert Mass 1] | Wars 
| gelieferte er er e 
Zahl der Pflüge ackung Fracht — sicherun Preis 
| P | | J— 
Alldays & Onions (engl.) 24 = 31.0.0 70.0.0 10.0.0 | 630.0.0 
Fowler (engl) . . e . 20—25 2 Schare 31.0.0 70.0.0 10.0.0 568.0.0 
British Wallace (engl.) . . 25 — 31.0.0 70.0.0 10.0.0 525.0.0 
Ein deutsches Fabrikat . 35 -4 Schare 15.0.0 70.0.0 10.0.0 512.0.0 
Ein Pflug zu den Fabrikaten von Alldays € Onions kostet 30.0.0 
Ein Pflug zu den Fabrikaten von British Wallace kostet 30.0.0 
Die Preise wären somit 
Alldays € Onions. 771 Pfund = Mk. 185040.— ' British Wallace . 666 Pfund Mk. 159 840.— 


Fowler . 


679 Pfund = Mk. 162 960.— 


Deutsches Fabrikat 512 Pfund = Mk. 122000. — 








Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie. i o ... M 





Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie. 


ass sich die deutsche Industrie überraschend 

schnell wieder zu hoher Leistungsfähigkeit 
emporgearbeitet hat und in der Lage ist, mit 
der ausländischen Konkurrenz erfolgreich in 
Wettbewerb zu treten, zeigt folgender inter- 
essanter Bericht, den wir „Siemens’ Wirtschaft- 
lichen Mitteilungen“ entnehmen. Es heißt 
dort u. a.: „In der Schweiz sollte wegen der 
bevorstehenden Volkerbundverhandlungen in 
3 Monaten ein Fernsprechkabel nach dem Pupin- 
System zwischen Genf und Lausanne verlegt 
werden. In dieser Zeit war das 60 km lange 
Kabel anzufertigen, zu versenden, in Kabel- 
kanäle einzuziehen und zu montieren, ausser- 
dem waren die erforderlichen Pupin-Spulen- 
kästen und die Garniturteile zu liefern. Für 
gewóhnlich hat man, um die Fabrikation ein- 
zuleiten, allein mindestens 6 Wochen nótig, 
10 Wochen muss man auf die Herstellung 
rechnen, 2 Wochen auf den Versand und 
4 Wochen auf die Verlegung. Diese Zeiten 
sind an sich schon recht knapp bemessen. 
Hier standen aber statt 22 Wochen nur 13 
zur Verfügung. 

Es kostete einen schweren Kampf, die 
Schweizer Behórde davon zu überzeugen, dass 
unsere Zusicherungen, wir seien in der Lage, 
den Auftrag rechtzeitig auszuführen, nicht nur 
Redensarten wären, um den Auftrag für unser 
Haus und damit für Deutschland hereinzuholen. 
Die Verzugsstrafen wurden demgemäss sehr 
hoch bemessen, bevor der Siemens & Halske 
A.-G. der Auftrag erteilt wurde. 

. Wir konnten die Verpflichtung eingehen, 
weil sich ein Teil der Pupin-Spulen im Werner- 


bm 


Last, 
kraftwagen 


meter. 
omnibusse 





E. Nacke, Coswig sachsen 
— Automobilfabrik ` — — 


werk auf Lager befand, auch die nötigen 
Maschinen bei richtiger Arbeitseinteilung im 
Kabelwerk frei waren. Freilich wären wir 
vielleicht trotz aller Bemühungen leer ausge- 
gangen, wenn der Behörde nicht bekannt ge- 
wesen wäre, dass wir neben gewissen Schutz- 
rechten die nötige Sachkenntnis besassen. So 
bot uns der hohe Stand der deutschen Tech- 
nik letzten Endes die Möglichkeit, dem deut- 
schen Arbeiter auf dem Weltmarkt Arbeit zu 
schaffen. 

Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, spätestens 
10 Tage vor dem festgesetzten Endzeitpunkt 
die Arbeiten durchzuführen. Es ist uns ge- 
lungen, bereits 14 Tage früher unsere Aufgabe 
abzuschliessen. i 

Auf Grund dieser Leistung in der Schweiz 
erhielten wir von Norwegen einen grossen 
Auftrag auf mehrere Pupin- Kabel; dabei 
wurden uns vertrauensvoll erhebliche Zuge- 
ständnisse in der Haftung gemacht.“ 

Sehr interessant sind ferner zwei japanische 
Urteile über Lieferungen der deutschen In- 
dustrie, die wir der L.- u. H.-Ztg. entnehmen. 
Es heisst dort: Die in Tokio erscheinende 
japanische Zeitung „Hochi Shimbun“ schreibt 
über die Qualität deutscher Waren folgendes: 
„Alle Welt hat sich gefragt, ob Deutsch- 
land sich wieder würde aufrichten können, 
aber mit dem Moment, wo der Krieg zu 
Ende war und die Grenzen sich . öffneten, 
hat Deutschland seine Ausfuhr wieder be- 
gonnen. Europa und vor allem Amerika kaufte 
für gewaltige Summen deutsche Waren auf. 
Man riss sich förmlich darum. Nur Japan 








ET 


180 Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie. — Kleine Nachrichten. 


führte nichts ein. Seit dem Jahre 1920 haben 
sich die deutschen Produzenten zusammenge- 
schlossen und eine völlige Einigung unter sich 
erzielt. Der Handel wird in englischer Wäh- 
rung betrieben und geht über London. Aber 
die deutschen chemischen Erzeugnisse 
und vor allem ärztliche Instrumente 
gehen über die ganze Welt und kommen auch 
in grosser Menge nach Japan. Die Ware ist 
über Erwarten gut, und man kann an 
ihnen den im Kriege auf diesem Gebiete ge- 
machten Fortschritt erkennen. Die Rönt- 
genbehandlung besonders hat sich ge- 
waltig verbessert. Während man in 
Japan Mikroskope bis zu 800facher Ver- 
grösserung herstellt, produziert Deutschland 
hervorragende Mikroskope bis zu 3000 facher 
Vergrösserung. Die bisher als gut be- 
trachteten englischen und anderen Produkte 
werden mit dem Erscheinen der deutschen 
Waren sofort vom Markte vertrieben. 
Die japanische Regierung hat als Entschädigung 
deutsche Farbstoffe erhalten und weiss 
jetzt nicht, was sie damit tun soll. Sie fürchtet, 
dass, wenn sie verkauft, der Markt überladen 
wird. Das Vorhandensein dieser Ware ver- 
hindert anderseits japanische Bestellungen in 


genommen. 


Deutschland. Wenn diese Frage einmal gelöst 
ist, werden wieder Bestellungen nach Deutsch- 
land gehen. Mit den japanischen Messinstru- 
menten kann man im allgemeinen auskommen, 
aber die Linsen der deutschen Instrumente sind 
besser, die Libellen empfindlicher, und vom 
technischen Standpunkt aus ist die Feinheit 
der deutschen Arbeit unerreicht. 
Auch die deutschen Toilettenartikel 
sind durchängig gut und dabei billig. Seit 
Juli 1920 hat ihre Einfuhr nach und nach zu- 
Im kommenden Frühling wird ein 
weiteres Änsteigen der deutschen 
Einfuhr erwartet.“ Im Zusammenhang hier- 
mit seien einige Bemerkungen wiedergegeben, 
die ein japanischer Professor der Volkswirtschaft 
unlängst in Tokio in einem öffentlichen Vor- 
trag über.die deutschen Wirtschafts- 
methoden machte. Er führte aus, dass alle 
Staaten, die aus dem Weltkrieg als Sieger 
hervorgegangen wären, gezwungen seien, zum 
Wiederaufbau ihres Handels die glänzend 
bewährten Methoden des besiegten 
Deutschlands sich zum Muster zu nehmen. 
Wolle ein Land wettbewerbsfähig bleiben, so 
müsse es heutzutage sein Wirtschaftsleben 


„germanisieren“ 


Kleine Nachrichten. 


Die Südafrikanische Union gegen die 
50 prozentige Ausfuhrabgabe. Es liegen Nach- 
richten vor, nach denen es die Regierung der Süd- 
afrikanischen Union abgelehnt hat, die auf der 
Londoner Konferenz beschlossene Ausfuhrabgabe von 
50 v. H. von deutschen Waren einzuführen. 

Beabsichtigte Kreditgewährung Uru- 
guays an Deutschland. Wie die Agence Havas 
meldet, liegen Nachrichten aus Montevideo vor,. wo- 
nach Uruguay Deutschland Kredit eröffnen 
will, damit es Wolle und andere Produkte kaufe. 
Uruguay will auch seine Ausfuhrsteuer auf Wolle 
aufgeben und erwägt die Schaffung einer staatlich 
gestützten Import- und Exportgesellschaft für Ver- 
sendung von Wolle aus Uruguay nach Deutsch- 
land, Frankreich, Antwerpen, der Tschecho-Slowakei, 





— — — -— — Es — * = — * 








nach anderen europäischen Ländern und selbst nach 
Japan. 

Deutscher Handelswettbewerb auf den 
südamerikanischen Märkten. Nach den 
„Commerce Reports“ Nr. 28 wird aus Argentinien 
gemeldet, dass die deutschen Preise für Eisenwaren 
viel niedriger sind als die für entsprechende amen- 
kanische Waren. In einzelnen Fällen beträgt der Un- 
terschied 15 oder 30 v. H. Ebenso sind die Preise 
für deutsche Maschinenwerkzeuge viel niedriger als 
die der entsprechenden amerikanischen Artikel. In 
Chile wird ein Anwachsen der Frachten aus Deutsch- 
land beobachtet, insbesondere werden angeboten: silber- 
platinierte, Nickel-, Töpferei- und Emaillewaren, billige 
Eisenwaren und elektrische Artikel. Die Preise 
sind viel niedriger als die der amerikanischen 








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Waren. Ebenso werden von deutscher Seite Maschinen 
zu niedrigen Preisen angeboten. — In Mexiko wer- 
den Metallwaren verschiedener Art, elektrische Artikel 
(Birnen, Drähte, Isolierungen, Rohre und kleine Dynamo- 
maschinen) deutscher Herkunft angeboten. Für den 
amerikanischen Fabrikanten ist es nicht möglich, mit 
den deutschen Preisen zu konkurrieren. — In Peru 
sind deutsche Eisenwaren zu einem Preise, der 
25 v. H. niedriger als der entsprechende ameri- 
kanische Preis ist, zu haben. Das deutsche Produkt 
ist ausserdem gut aufgenommen worden und wird 
vermutlich seinen Markt bald wieder erobern. 

Ein englisches Urteil über die deutsche 
chemische Industrie. Nach ‚The Chemical Age‘ 
hat sich ein englisches Parlamentsmitglied wie folgt ge- 
äussert: „Der stärkste Eindruck, den die britische Mis- 
sion bei der Besichtigung der chemischen Werke im 
besetzten Gebiet empfing, war der, dass die deutsche 
chemische Industrie eine grosse, wunderbare 


.181 


Organisation zur Nutzanwendung der Wissenschaft 
auf die Industrie ist. Alle Chemiker haben die Uni- 
versität oder ein Polytechnikum besucht und dort nicht 
nur studiert, um Kenntnisse zu erwerben, sondern mit 
dem Ziel vor Augen, die grossen Fragen der Wissen- 
schaft zu lósen. Über den deutschen Methoden schwebe 
kein Geheimnis. Es ist ganz einfach die Geschichte 
vierzigjähriger ehrlicher Arbeit und Ausdauer, ohne 
irgendwelche besondere Geschicklichkeit auf seiten der 
deutschen Chemiker gegenüber den Englündern, Die 
deutsche Überlegenheit bestand darin, dass sie es verstand, 
Zusammenarbeit und Massenherstellung zu verbinden. 
Nutzlose Kraftanstrengung gibt es nicht; ist der Welt- 
bedarf in einer Ware gering, so wird sie nur von ein 
oder zwei Werken hergestellt. Dadurch werden viel 
Unkosten gespart. Alle Kenntnisse und Erfahrungen 
werden gemeinsam ausgenutzt. Macht ein Chemiker 
eine neue Entdeckung, so wird sie zum Ausgangspunkt 
weiterer Untersuchungen für unzählige seiner Kollegen.‘ 








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Die deutsche Eisen- und Stahlwaren - Industrie. 


Bearbeitet von Hugo Merten, 
Pressedezernent des Eisen- und Stahlwaren-Industriebundes, Elberfeld. 


Nie deutsche Eisen- und Stahlwaren- 

KZA W Industrie ist eine alte deutsche In- 

KU A dustrie, die schon seit Jahrhunderten 

aai betrieben wird. Sie ist immer mehr 
and mehr ausgebaut worden und hat sich im 
deutschen Wirtschaftsleben eine ganz bedeutende 
Stellung errungen. Sie ist in der Hauptsache 
eine Ausfuhr-Industrie. In den Vorkriegszeiten 
nahm die deutsche Eisen- und Stahlwaren- 
Industrie 7°/, der gesamten deutschen Aus- 
fuhr ein. In der Nachkriegszeit muss sich die- 
ser Prozentsatz noch bedeutend erhöht haben, 
da infolge des Sinkens der Kaufkraft auf dem 
Inlandsmarkt und des völligen Daniederliegens 
der Bautätigkeit dieser Industriezweig zum aller- 
grössten Teil auf die Ausfuhr angewiesen war. 
So führt z.B. die wichtige Solinger Industrie 
neun Zehntel ihrer gesamten Erzeugung nach 
dem Ausland aus. In manchem andern In- 
dustriezweig wird es nicht wesentlich anders sein. 

Die deutsche Eisen- und Stahlwaren-Industrie 
hat ihren Hauptsitz im rheinisch - westfälischen 
Industriegebiet und dort wieder im bergisch- 
märkischen Lande. Weitere Konzentrations- 
punkte sind Thüringen, und zwar die Schmal- 
kaldener Gegend, Sachsen, Oberschlesien und 
Süddeutschland. Aber auch sonst finden sich 
Werke der Eisen- und Stahlwaren-Industrie in 
ganz Deutschland verbreitet, so dass man sagen 
kann, dass gerade diese Industrie in allen 
Gauen Deutschlands kraftvoll vertreten ist. 
Für den Ausländer, der in Deutschland weilt 
und auch die Eisen- und Stahlwaren-Industrie 
an Ort und Stelle besuchen will, dürfte in 
der Hauptsache das bergisch - märkische Land 
in Betracht kommen. Es ist ihm zu empfehlen, 
während seines Aufenthaltes in diesem Industrie- 
gebiet seinen Sitz in Elberfeld zu nehmen 
und von dort aus die einzelnen Hauptproduk- 





tionsorte der Eisen- und Stahlwaren- Industrie 
zu besuchen. So kommt vor allen Dingen in 
Frage Solingen mit seiner weltberühmten 
Stahlschneidewaren- Industrie, den sogenannten 
Solinger Artikeln, Remscheid, als Haupt- 
sitz der deutschen Werkzeug- Industrie, Vel- 
bert, der Hauptproduktionsort der deutschen 
Schloss- und Beschläge-Industrie, Hagen, 
der Hauptfabrikationssitz der sogenannten 
Kleineisenwaren. Aber auch sonst gibt es in 
dieser Gegend, vor allem nach Westfalen zu, 
zahlreiche Orte, in denen sich die Eisen- und 
Stahlwaren-Industrie konzentriert. In Elberfeld 
hat auch der Eisen- und Stahlwaren- 
Industriebund, als die Gesamtvertretung 
der deutschen Eisen- und Stahlwaren-Industrie, 
seinen Sitz. Er steht Interessenten mit Aus- 
künften jeder Art, soweit sie die Eisen- und 
Stahlwaren - Industrie betreffen, jederzeit gern 
zur Verfügung. 

Die Weltberühmtheit der Erzeugnisse der 
deutschen Eisen- und Stahlwaren-Industrie be- 
ruht vor allen Dingen auf der Güte und Billig- 
keit ihrer Produkte. Die deutsche Eisen- und 
Stahlwaren-Industrie hat es von jeher verstan- 
den, sich den besonderen Wünschen der Kund- 
schaft in bezug auf Ausführung und Qualität 
ihrer Erzeugnisse in jeder Weise anzupassen. 
Sie ist gerade jetzt mehr denn je dauernd 
bemüht, durch die Herstellung von bester 
Qualitätsware und billigster, fester Preisberech- 
nung bei kürzester Lieferfrist dieses alte An- 
sehen zu bewahren. In der Zeit kurz nach 
dem Kriege ist es leider so gewesen, dass 
sich viele Elemente in die Produktion und 
den Handel von Eisen- und Stahlwaren ge- 
drängt hatten, die von diesen nichts verstan- 
den und allein auf Gewinn ausgingen. Des- 
halb wurden viele Klagen über die Qualitäten 


Die deutsche Eisen- und Stahlwaren- Industrie. 


Diese werden wohl überall gleichartig herge- 
stellt mit ganz geringen unwesentlichen Ab- 
weichungen. Die Winde mit Stahlblechmantel 
gilt als Normalwinde der Staatsbahnen, wäh- 
rend diejenige mit Holzschaft meistens in Fa- 
briken, Hüttenwerken usw. gebraucht wird. 
Ferner werden noch unterschieden: Winden 
mit einfacher Übersetzung, die zum Heben 
von einfachen Lasten dienen, und solche mit 
doppelter Übersetzung, welche zum Heben 
von schweren und allerschwersten Lasten ge- 
braucht werden. Auf die Bearbeitung der 
Einzelteile wird ganz besondere Sorgfalt ver- 
wandt. Zahnstange, Räder und Getriebe wer- 
den aus bestem Material geschmiedet und alle 
Verzahnungen genau nach Teilscheibe auf Spe- 
zialmaschinen gefrást. Die der Reibung aus- 
gesetzten Teile werden sorgfältig im Einsatz 
gehärtet. Besondere Vorrichtungen gestatten 
bei allen Winden genaue Kontrolle und regel- 
mässige Schmierung des Triebwerkes. — Für 
bestimmte Exportländer wären dann noch 


Haumesser und Plantagengeräte, 


die letzteren in einer grossen Zahl der ver- 
schiedensten Sorten, zu erwähnen, für die es 
zahlreiche Spezialfabriken gibt. 

Sämtliche Artikel sind in den meisten Län- 
dern durch jahrzehntelange regelmässige Lie- 
ferungen eingeführt und halten dort einen 
Wettbewerb mit den gleichen Artikeln erfolg- 
reich aus, die von anderen Ländern, insbe- 
sondere Amerika und England, ebenfalls ge- 
liefert werden. Sie werden den besonderen 
Ansprüchen jedes einzelnen Marktes entspre- 
chend hergestellt, und die deutsche Ware hat 
sich gerade dadurch überall besonders beliebt 
gemacht, dass man stets auf die Wünsche der 
Abnehmer eingegangen ist und die Qualität 
und Ausführung so herausgebracht hat, wie es 
der Kunde gerade für seinen Platz beanspruchte. 
Bekanntlich ist dieses bei den ausländischen 
Fabriken, wie bei den amerikanischen und eng- 
lischen, nicht im gleichen Masse der Fall ge- 
wesen. Diese Werke halten sich meistens an 
bestimmte normale Qualitäten und Ausfüh- 
rungen, von denen sie in der Regel nicht ab- 
weichen und welche die Abnehmer auch nehmen 
müssen, wie sie nun einmal von den Fabriken 
geführt werden. Trotz dieser grossen Vielseitig- 
keit der deutschen Industrie erleidet die Liefe- 
rungsfáhigkeit mit Bezug auf Umfang und 
Schnelligkeit der Lieferung keine Einbusse ` sie 
ist vielmehr in der Lage, auch umfangreichsten 
Bedarf in ganz kurzer Frist zu decken. 


Die deutsche Gabel - Industrie 


war bereits vor dem Kriege in der Lage, 
nicht nur den Inlandsmarkt vollständig aus- 
reichend mit Heu-, Dünger-, Rüben-, Kartoffel- 


199 


gabeln, Koks- und Steingabeln zu versorgen, 
sondern auch grosse Mengen ins Ausland zu 
versenden. Während des Krieges stockte der 
Auslandsabsatz wie bei allen anderen Gewerbe- 


` zweigen, teils weil viele Bezirke nicht zu er- 


reichen waren, teils weil im Inlande Rohstoffe 
und Facharbeiter fehlten. Die deutschen Gabel- 
werke sind nun wieder voll in Betrieb und liefern 
für In- und Ausland die Werkzeuge, welche den 
besten Auslandswaren nicht nur ebenbürtig, 
sondern in vieler Beziehung auch überlegen sind. 
Auch die Stiele werden wieder in der alten 
Güte angefertigt, so dass sowohl Düllgabeln, 
wie auch Stielgabeln geliefert werden kónnen. 
Jede Auskunft wird von dem Verein der Gabel- 
fabrikanten in Hagen i. W. erteilt. 


Achsen aller Art 


werden für sámtliche landwirtschaftliche Fuhr- 
werke und Kutschwagen in allen Ausführungen, 
wie sie in den verschiedenen Ländern der 
Erde gebráuchlich sind, hergestellt. Lieferungs- 
fáhigkeit besteht in jeder Weise, auch die 
Lieferungsmóglichkeit in kurzer Zeit ganz nach 
Wunsch der Abnehmer. 


Die Amboss-Industrie 


ist wohl eine der uráltesten Industrien Deutsch- 
lands. Solange man denken kann, ist sie 
schon in Deutschland heimisch, und es wurden 
daher auch von jeher in Deutschland die besten 
und billigsten Ambosse hergestellt. Der ge- 
schmiedete Amboss ist den anderen Fabri- 
katen durch seine längere Lebensdauer und 
schóne Form immer vorgezogen worden. Durch 
den Krieg war naturgemäss die Fabrikation 
sowie die Güte aus dem einfachen Grunde 
zurückgegangen, weil es an den nótigen Roh- 
stoffen sowie an den geeigneten Arbeitskräften 
fehlte. Heute schon ist es der deutschen In- 
dustrie wieder móglich, einen guten Amboss 
auf den Markt zu bringen. Die grosse Be- 
liebtheit für den deutschen geschmiedeten Am- 
boss zeigt sich in der immer mehr zunehmen- 
den Ausfuhr nach anderen Ländern. Es ist 
daher zu hoffen, dass auch das übrige bis 
jetzt noch fernstehende Ausland dazu über- 
geht, den deutschen Amboss einzuführen und 
es ist nicht daran zu zweifeln, dass er auch 
dort ungeteilten Beifal finden wird. Die 
deutsche Amboss-Industrie wird es sich immer 
zur Aufgabe machen, einen guten Amboss zu 
liefern und somit auch am Wiederaufbau 


Deutschlands kräftig und freudig mithelfen. 


Bohrapparate. 


Unter diesen Artikel fallen transportable 
Hand. und Brustbohrapparate für Metall- 
bohrungen, Bohrwinden für Holzbohrungen, 
kleinere Tischbohrmaschinen für Handbetrieb 





für Löcher bis 16 mm, Schleifmaschinen für 
Handbetrieb, kleinere Parallelschraubstöcke zum 
Anschrauben an den Tisch usw. Es sind dies 
Fabrikationszweige, die besonders leistungs- 
fähig sind und die vor dem Kriege das euro- 
päische Ausland beherrscht haben. Auch das 
überseeische Ausland ist vorwiegend mit die- 
sen deutschen Artikeln bedient worden. Es 
ist ein Industriezweig, der vor etwa 50 Jahren 
geschaffen wurde, in dem sich also die Er- 
fahrungen einiger Jahrzehnte konzentrieren und 
der sich auch unter Benutzung der laufenden 
Fortschritte in der modernen Fabrikations- 
technik stets sowohl konstruktiv als auch in 
Ausführung auf der Höhe moderner Anfor- 
derungen gehalten hat. Es ist in einigen die- 
ser Artikel seit Jahren eine Konkurrenz einiger 
amerikanischer Fabrikanten eingetreten, die in- 
des in keiner Weise zu fürchten ist, weil trotz 
dieser amerikanischen Konkurrenz bislang die 
deutschen Artikel sowohl im europäischen Aus- 
land als auch in Übersee gern gekauft wurden, 
weil sie mit deutscher Gründlichkeit und deut- 
scher Gewissenhaftigkeit ausgeführt sind. Be- 
sonders leistungsfähig und ohne Konkurrenz 
seitens des Auslandes ist die deutsche Industrie 
intransportablen Tischbohrmaschi- 
nen für Handbetrieb, in denen stets 
das Vollkommenste in konstruktiver Hinsicht 
auf den Markt gebracht wurde, keine Aus- 
landskonkurrenz hat bisher hierin irgendwie 
etwas Gleichwertiges entgegensetzen können. 
Mit allen wünschenswerten Einzelheiten, Kata- 


logen usw. steht den Interessenten der Bohr- 


apparate-Verband, Hagen i. W. 6, gern zur 
Verfügung: Die Leistungsfähigkeit ist sehr 
gross und die benötigten Lieferzeiten kurz. 


Die Velberter Schloss- und Beschläge- 
Industrie 


umfasst eine grosse Reihe Firmen, die durch 
fortdauernde Verbesserung ihrer Betriebsein- 
richtungen zu grösster Leistungsfähigkeit em- 
porgewachsen sind und sich durch die Qualität 
ihrer Erzeugnisse vom Massenartikel bis zu 
den feinsten Spezialsorten Weltruf verschafft 
haben. Diese Industrie beschäftigt rund 15 000 
Arbeiter und ist in der Lage, jeden Auftrag 
in kürzester Frist zur Ausführung zu bringen. 
Schlösser, Möbelbeschläge und Bau- 
beschläge sind Artikel, die vor dem Kriege 
in grossen Massen für den Export hergestellt 
wurden und die auch heute zum grossen Teil 
ab Lager sofort und zu günstigen Bedingungen 
geliefert werden können. 


Die Industrie von Plettenberg 
und Umgegend. 


Die Erzeugnisse der Plettenberger Industrie 
werden seit Jahrzehnten mit wachsenden Er- 


Die deutsche Eisen- und Stahlwaren Industrie. 





folgen ins Ausland versandt, und zwar sind ` 
es sowohl Fertigwaren, wie auch Produkte 
der weiterverarbeitenden Industrien, 
die sich besonders in den letzten Jahren den 
Weltmarkt erobert haben. Das Spezialgebiet 
der Industrie von Plettenberg und Umgegend 
ist das der Kleineisen-, Stahl- und Metall- 
warenbranche. Vor allem sind besonders zu 
erwähnen leistungsfähige Gesenkschmie- 
dereien und Hammerwerke, in denen 
Exportartikel allerart hergestellt werden, haupt- 
sächlich für den Maschinenbau und Eisenbahn- 
oberbau, sowie für den Waggon- und Loko- 
motivenbau. Stanzwerke und Pressereien be- 
schäftigen sich mit der Anfertigung von Schrau- 
ben, Muttern, Bolzen, Nieten, Klemmplatten, 
Laschen usw. ` zahlreiche andere liefern Splinte, 
Unterlegscheiben, Betthaken, Schuhnägel und 
dergl. Ferner sind zu nennen: Drahtwerke 
für alle Sorten und Dimensionen von Draht 
und deren Erzeugnisse, wie Stimmnägel, Draht- 
stifte, ferner Kistengriffe, Riegel-, Hut- und 
Mantelhaken. Andere hochqualifizierte Spe- 
zialfabriken arbeiten für den Bedarf der Land- 
wirtschaft und stellen Gabeln, Rechen, Hacken, 
Schaufeln, Spaten usw. her und daneben auch 
Bügeleisenbolzen, Fitschen, Bau-, Möbel- und 
Fensterbeschläge, Kuppelungen und Röhren. 
Verschiedene Messingwarenfabriken decken den 
Bedarf des Exportgeschäfts durch die Fabri- 
kation aller bekannten Artikel dieser Branche, 
wie Armaturen, Lager, Türklinken, Bänder, 
Beschläge, Vorstosschienen und Leisten, Röhren 
und Stangen für, Fenster- und Schaufenster- 
dekorationen. Hierzu zählen auch die Betriebe 
für elektrotechnische Bedarfsartikel. Neuere 
Aluminiumfabriken befassen sich mit der 
Giesserei und Drückerei von Haushaltungs- 
gegenständen, wie Töpfe, Geschirre, Ess- 
bestecke usf. 

So ist sowohl die Fertigwaren- wie die 
Halbzeug-Industrie des Plettenberger Bezirks 
vornehmlich auf den Export eingestellt. Die 
bis ins kleinste durchgeführte Arbeitsteilung 
und Spezialisierung der etwa 100 Betriebe 
von Plettenberg und Umgegend mit ihren 
rund 5000 Arbeitern ermöglichen die hoch- 
qualifizierte, saubere Arbeit, die einwandfreie 
Herstellung” und die tadellose Beschaffenheit 
der Waren, durch die diese auf allen Märkten 
rühmlichst bekannt sind. Die durch Neubau 
vergrösserten und aufs praktischste eingerichteten 
Werke sind in der Lage, alle Aufträge auf 
dem schnellsten und billigsten Wege zu er- 
ledigen. Durch die technische Vervollkomm- 
nung der Maschinenanlagen ist die Leistungs- 
fähigkeit der Plettenberger Industrie gewaltig 
gesteigert und daher die Lieferungsmöglichkeit 
allen Anforderungen gewachsen. Aus diesen 
Gründen habeu sich die Exportartikel der 


Die deutsche Eisen- und Stahlwaren- Industrie. 201 


Kleineisenwaren-Industrie von Plettenberg schon 
längst den Weltmarkt erobert und die Kon- 


kurrenzfähigkeit sichert ihr dauernd den Platz, 


den sie auf Grund ihres guten Rufes einge- 
nommen hat und der ihr auch in Zukunft 
nicht streitig gemaeht werden kann. 


Erzeugnisse der deutschen Industrie 
für Massenspeisungen 


ist ein Gebiet, auf dem in dem letzten Jahr- 
zehnt ganz ausserordentliche Fortschritte, be- 
sonders in hygienischer Beziehung, gemacht 
worden sind. Die Aufschliessung ‘aller Nähr- 
werte in den Speisen durch langsames Kochen 
in wirtschaftlicher Weise zu erreichen, war das 
Ziel, das sich die Industrie der Kochapparate 
seit Jahren gestellt hat. In höchster Voll- 
kommenheit sind die Apparate dazu ausge- 
bildet. Der frühere Herd ist nur in beson- 
deren Fällen, insbesondere zum Braten er- 
forderlich. Im übrigen werden die sämtlichen 
Speisen in doppelwandigen Kochkesseln mit 
Wasserbadeinrichtung gekocht. Die Beheizung 
erfolgt durch Dampf, Gas und auch mit festen 
Brennstoffen. Den Kochkesseln, durch Dampf 
beheizt, Dampfkochkesseln, ist unbedingt der 
Vorzug zu geben, wo Dampf erzeugt werden 
kann, da gerade bei diesen alles Erreichte in 
hygienischer Beziehung vereinigt wird. Steht 
Dampf nicht zur Verfügung, wie das in Ka- 
sernen usw. der Fall ist, bleibt die Beheizung 
der Kochkessel mittels Gas, Öl oder mit festen 
Brennstoffen, Holz, Torf, Braunkohle, Stein- 
kohle. Um das Brennmaterial ergiebig aus- 
nutzen zu können, ist die Konstruktion des 
Feuertopfes den Brennmaterialverhältnissen 
entsprechend. Besondere Erfahrungen und 
Kenntnisse bedingt der Bau von Schiffsküchen 
wegen der hohen Ansprüche, welche unter 
schwierigen, räumlichen Verhältnissen an die 
Leistungsfähigkeit und Betriebssicherheit der 
Dampfkochkessel auf Schiffen gestellt wer- 
den müssen. Auch hierin können die Lie- 
ferungen der deutschen Industrie an die Han- 
dels- und Kriegsmarine des In- und Auslandes 
in jeder Beziehung als vorbildlich hingestellt 
werden. Da die durch den Krieg hervorge- 
rufenen Schwierigkeiten in der Beschaffung 
hochwertiger Materialien für die Herstellung 
von Grosskochapparaten beseitigt sind, so wer- 
den diese wieder, wie in der Vorkriegszeit, 
in alter, bewährter Friedensausführung geliefert. 


Ofenrohre. 


Hergestellt werden alle Sorten Ofenrohre, 
genietet und gefalzt in schwarzer, verzinkter 
und verbleiter Ausführung, sowie die dazu ge- 


Zelluloid-Imitationsware, 


hörigen Kniestiicke in gerippt und verstellbar. 
Verschiedene Werke haben in ihrem Fabri- 
kationsprogramm auch die Herstellung von 
anderen Blechwaren, wie Boiler, Kessel, Rohr- 
leitungen u. a. Unter Berücksichtigung der 
erhöhten Bautätigkeit, die der Not gehorchend 
in Deutschland einsetzen muss, wird der Ar- 
tikel Ofenrohre zum Herbst wieder stärker 
begehrt werden und es ist daher besonders 
auch dem Auslande zu empfehlen, die jetzt 
stille Zeit in der Branche zu benutzen, um 
die Läger der Saison zu vervollständigen. Für 
alle Anfragen steht die Vereinigung der Ofen- 
rohrfabrikanten, Weidenau-Sieg, Postfach 44, 
gern zur Verfügung. 


Schuhösen und Schuhhaken. 


Die Herstellung von Ösen für Schuhe und 
andere Zwecke ist bereits vor etwa 70 Jahren 
von deutschen Firmen aufgenommen worden. 
In den nachfolgenden Jahren ist man auch 
dazu übergegangen, Schuhhaken, die gewisser- 
massen nur eine Vollendung von Schuhösen 
darstellen, herzustellen. Die deutsche Metall- 
waren-Industrie war auf diesem Gebiet stets 
führend und hat vor ungefähr 15 Jahren, als 
auch nach billigeren Schuhösen und -haken 
Nachfrage einsetzte, es fertiggebracht, solche 
aus „Eisen“ herzustellen. Bis zu diesem 
Zeitpunkte wurde ausschliesslich für die Her- 
stellung dieser Artikel „Messing“ verwendet. 
Die ausländische Industrie, u. a. die englische, 
amerikanische, französische und italienische, hat 
dann lange Zeit Versuche gemacht, auch Schuh- 
ösen und -haken aus „Eisen“ herzustellen, ist 
aber heute auf diesem Gebiete noch nicht so 
bewandert, wie die deutschen entsprechenden 
Unternehmungen. Somit hat die deutsche 
Metallwaren-Industrie schon seit langen Jahren 
grosse Überseegeschäfte, besonders in „Eisen“- 
Schuhösen und -haken gemacht und waren 
ihre Erzeugnisse auch beliebt, was die vielen 
laufenden Orders bewiesen. Im Laufe der 
Jahre sind die verschiedenartigsten Ausfüh- 
rungen in Ösen und Agraffen. von der deut- 
schen Industrie auf den Markt gebracht wor- 
den, und zwar wurden solche hauptsächlich 
geliefert: 1. in feuerlackierter Ausfüh- 
rung, die für gewöhnliches Strassenschuhwerk 
und Arbeiterstiefel Verwendung finden, 2. in 
d. h. mit 
einer dünnen festfarbigen Lackschicht versehen, 
also für mittleres Schuhwerk verwendbar, 3. in 
emaillierter Ausführung, also durchaus 
festfarbig und massiven Zelluloid- Ösen und 
-Haken ebenbürtig und 4. mit massiver 
Zelluloid-Auflage, also in der voll- 
kommensten Ausführung, die überhaupt her- 
gestellt werden kann. 


202 


Nächst den Vereinigten Staaten, die in 
den letzten Jahren auch eine Verfeinerung 
der von ihnen auf den Markt gebrachten Ösen 
und Haken vorgenommen haben, marschierte 
diese deutsche Industrie stets an der Spitze. 
Es ist wohl kein Weltteil vorhanden, in dem 
nicht di?Se deutsche Ware mit Vorliebe ver- 
arbeitet worden ist. Dies beweist auch der 
Umstand, dass selbst aus den Entente-Übersee- 
ländern schon viele Anfragen nach Ösen und 
Haken wieder eingehen und auch schon ansehn- 
liche Orders, vor allen Dingen mit Japan, 
Mittelamerika und Südamerika, wieder zustande 
gekommen sind. 


Die Schmalkalder Eisen- und Metall- 


waren-Industrie 


nimmt eine gewisse Sonderstellung in der 
Gruppe „Deutsche Kleineisenwaren und Werk- 
zeuge“ ein. Weitab gelegen von den Ge- 
winnungsstätten von Kohle und Eisen, den 
Hauptfaktoren der Eisen-Industrie, hat sie sich 
trotzdem von altersher gegen die mächtigen, 
günstiger gelegenen Konkurrenten in Rhein- 
land-Westfalen, Sachsen und Oberschlesien zu 
behaupten gewusst. Es kamen ihr dabei in 
früheren Jahren billigere Arbeitslöhne zu Hilfe 
gegenüber dem Rheinland. Das war aller- 
dings schon vor dem Kriege anders geworden ; 
aber seit der Revolution hat der Schmalkalder 
Bezirk durch die gleichmachenden Tarifverträge 
so ziemlich dieselben Löhne wie alle anderen 
Gegenden Deutschlands. Trotz der dadurch 
ungünstigeren Lage hinsichtlich erfolgreichen 
Wettbewerbs haben die Thüringer Fabrikanten 
es doch verstanden, sich nicht nur zu behaup- 
ten, sondern es kann gesagt werden, dass die 
Kleineisen- und Werkzeug-Industrie des Schmal- 
kalder Bezirks langsam, aber stetig vorwärts 
kommt und sich neue Absatzgebiete im In- 
und Auslande erobert. Die Krisis, die seit 
Juli 1920 auf der ganzen deutschen Industrie 
lastet, ist natürlich auch hier schwer fühlbar. 
Es ist aber doch bisher zu keinem völligen 
Stilliegen eines Betriebes gekommen und auch 
die Arbeitseinschränkungen sind sehr mässig. 
Die Werkzeug - Industrie ist in ihren alten 
Spezialitäten: Bohrer und Zangen sehr 
gut bekannt. Hier ist, seit die Löhne so 
rapid in die Höhe gegangen sind, ganz er- 


sichtlich eine Wandlung in dem Sinn einge-. 


treten, dass die Fabrikanten viel mehr Wert 
auf erstklassige Qualitäten legen und 
ihre Fabrikate erheblich verbessert haben. 
Man sieht ein, dass unter den heutigen Ver- 
hältnissen, bei denen man auf ausserordentlich 
hohe Preise halten muss, nur wirkliche 


Die deutsche Eisen- und Stahlwaren- Industrie. 


Qualitätswaren Absatz finden und den 
Beifall der Käufer erringen können. Auch die 
altbekannten Fabriken für Schuhmacher- 
und Sattlerahlen und -werkzeuge 
wenden sich mehr den besten hochwertigsten 
Qualitäten und Ausführungen zu. Eine weltbe- 
kannteFirma, die ihreFabrikate: Löffel aller 
Art und Metallwaren, in alle Weltteile schickt, 
ist ziemlich gut beschäftigt; auch sie hat ihre 
Fabrikate in Qualität und bester Ausführung sehr 
verfeinert. Striegel, ein bekannter Schmal- 
kalder Artikel, liegt im Export noch etwas 
danieder, ebenso Schraubenzieher. Als 
neue Artikel erscheinen elektrische Be- 
darfsartikel: Fassungen, Schalter und alle 
sonstigen Artikel für Schwach- und Starkstrom. 
Gebläsemaschinen, Bohrmaschinen 
werden in ziemlichen Quantitäten hergestellt. 
Weltbekannt ist auch die Schmalkalder Fabrika- 
tion für alle Sorten Krane und Hebezeuge. 

Die Hausindustrie des Schmalkalder 
Bezirks erzeugt alle Arten Kleineisenwaren 
und Kleinwerkzeuge: Haushaltungsartikel aller- 
art, Brennscheren, Korkzieher, Drechslerwaren, 
Hämmer, Geschirrbeschläge usw. Auch hier 
ist in vielen Fällen das Bestreben, bessere, 
hochwertigere Ware zu liefern, unverkennbar. 
Da jetzt mit Schwierigkeiten in der Material- 
beschaffung nicht mehr zu rechnen ist, so 
liegen die Lieferungsmöglichkeiten aller hie- 
sigen Artikel für den Export gegenwärtig 
günstig. 

Es braucht am Schluss unserer Ausführungen 
nicht besonders betont zu werden, dass es 
natürlich ganz unmöglich ist, alle Erzeugnisse 
der deutschen Eisen- und Stahlwaren-Industrie 
in einem Aufsatz aufzuführen,‘ denn ihre Fa- 
brikation ist so umfassend, dass ihre Erzeug- 
nisse weit in die Tausende hineingehen dürf- 
ten. Wenn wir allein die auf der ganzen 
Welt bekannten | 


Solinger Stahlwaren 


herausgreifen würden, so umfassen diese eine 
ganz gewaltige Anzahl von Produkten. Auch 
die Solinger Industrie ist gleich der gesamten 
deutschen Eisen- und Stahlwaren-Industrie be- 
müht, nur beste Qualitátserzeugnisse auf den 
Weltmarkt zu bringen. Auch sie ist in der 
Lage, schnellstens, zum Teil vom Lager und 
zu festen Bedingungen zu liefern. 


* + 
* 


Anmerk. der Schriftl.: Für jede gewünschte nähere Aus- 
kunft steht die Vermittlungsstelle von Velhagen & Klasings Export- 
Anzeiger in Leipzig und der Eisen- und Stahlwaren-Industriebun 
in Elberfeld den ausländischen Interessenten jederzeit zur Ver 
fügung, um sie mit den gewünschten Fabrikationszweigen der deu! 
schen Eisen- und Stahlwaren - Industrie in Verbindung zu bringen 


eje mebelejeleiejgel9,Jjbejelerbejejelebeyreejeetejeg 


Die Sanktionen und ihre Konsequenzen. 





203 








Die Sanktionen und ihre Honsequenzen. 
Von E. Trott-Helge. 


s hat wirklich den Anschein, als gehe die 

Weltwirtschaft ähnlichen Zuständen entgegen, 

wie Blockade und Handel mit dem Feinde sie 

im Weltkriege zeitigten. Die Londoner Beschlüsse 

ziehen immer weitere Kreise, nicht nur in Deutsch- 
land, nein, in der ganzen Welt. 

Es konnte nicht überraschen, dass Deutsch- 
lands Handel und Industrie sich den Gewalts- 
massnahmen der Alliierten gegenüber wehren 
mussten. Denn eine Handhabe für ihre Durch- 
führung bietet der Friedensvertrag nicht. Und 
als dann die Reichsregierung wiederholt betonte, 
für sie könne weder von einer Ersatzleistung an 
deutsche Lieferanten für nach alliierten Ländern 
gesandte Ware- die Rede sein, noch eine Mit- 
arbeit deutscher Beamter bei Aufrichtung der 
Zollgrenze am Rhein in Betracht kommen, da 
mussten sich die Organisationen notwendigerweise 
zu Gegenmassnahmen rüsten. Sie gaben die 
Parole aus, dass es Ehrenpflicht des deutschen 
Kaufmannes sei, in jenen Ländern, welche die 
Ausfuhrabgabe einführten, nur das unbedingt 
Notwendigste zu kaufen, andererseits bei Liefe- 
rungen nach diesen Ländern auf Vorausbezahlung 
zu bestehen, damit der Geschäftsmann durch 
Einbehaltung eines wesentlichen Teils des Fak- 
turenwertes nicht nur seinen Nutzen, sondern 
auch noch einen beträchtlichen Teil des eigenen 
Gestehungswertes einbüsse. Damit wird natür- 
lich der Warenverkehr zwischen Deutschland, 
England, Belgien und Frankreich so gut wie lahm- 
gelegt, was vom weltwirtschaftlichen Standpunkte 
aus betrachtet aufs tiefste beklagt werden muss. 
Denn alle Völker der Erde sind in der Nach- 
kriegszeit auf die Belebung ihres Aussenhandels 
angewiesen, sie müssen danach trachten, die Be- 
ziehungen von Land zu Land zu heben und zu 
fördern, nachdem die langjährige Kriegszeit alle 
Gesetze von Angebot und "Nachft rage verschoben, 
hier Überfluss an entwerteten Rohstoffen, dort 
Absatzmangel für Fertigfabrikate und Arbeits- 
losigkeit und an dritter Stelle, in Mitteleuropa, 
infolge des Valutaelends, bitteren Rohstoffmangel 
und Kaufschwáche geschaffen hat. Alle hoffnungs- 
voll spriessenden Keime künftigen regen Güter- 
austausches haben die Londoner Sanktionen 
geknickt. Konnte der englische Handelsminister 
Hornes noch Mitte März dem Unterhause mit- 
teilen, dass die deutsche Einfuhr für 1920 
31 Millionen Pfund Wert betragen habe, während 
Deutschland von den vereinigten Königreichen 
21*/, Millionen Pfund Warenwert und aus den 
Kolonien 29,1 Millionen Pfund bezogen habe, so 
wird er seit dem 31. März, dem Tage des In- 
krafttretens der Ausfuhrabgabe, ein zwerghaftes 
Warenaustauschgescháft zwischen beiden Ländern 
festzustellen haben. Er erklärte, dass in den 
beiden ersten Monaten des laufenden Jahres die 
deutsche Einfuhr einen steigenden Charakter auf- 
gewiesen habe und hat vielleicht mit diesen 
Hinweisen dem Unterhause beweisen wollen, 
welchen hohen Nutzen die Einführung der Aus- 
fuhrabgabe für den Staatsschatz abwerfen werde. 
Aber die Kehrseite der Medaille war, dass in 
den ersten neun Tagen nach Einführung der 
50°/,igen Warenabgabe laut amtlicher Statistik nur 
81 Lstrl. eingingen, also gerade 9 Lstrl. auf den 
Tag. Davon gehen noch die Kosten der Er- 
hebung ab. Damit behält der italienische Be- 
vollmächtigte zur Londoner Konferenz, Grat 


Sforza, recht, der schon während der Verhand- 
lungen über die Sanktionen erklärte, dass diese 
wirtschaftliche Strafmassnahme unmöglich prakti- 
schen Erfolg haben werde. 

Trotzalledem haben Frankreich, Belgien und 
Südslavien ebenfalls fast gleichartige Gesetze ein- 
gebracht und angenommen. Sie werden voraus- 
sichtlich in ihrem Aussenhandelsgeschäfte mit 
Deutschland dieselben Erfahrungen machen. Es 
haben sich ferner Portugal, Siam: und Rumänien 
bereit erklärt, wenn auch nicht gleiche Mass- 
nahmen, so doch ähnliche zu treffen. Rumänien 
stützte sich dabei auf $ 18 des Friedensvertrages, 
den es bezüglich der "deutschen Ware in seinen 
vollen Wirkungen wieder eingeführt hat und 
damit den deutschen Kaufmann ebenfalls in die 
Zwangslage versetzt, zur Ausschaltung jedes 
Risikos der Beschlagnahme, nur gegen Voraus- 
bezahlung zu liefern. Luxemburg hat mit voller 
Deutlichkeit erklärt, es werde keine solchen 
Massnahmen treffen. Dass Japan daran denkt, 
scheint ausgeschlossen, trotzdem bei den Alliierten 
eine bestimmte Erklärung noch nicht eingegangen 
ist. Aber die japanische Politik ist bekanntlich 
stets eine zurückhaltende, ausserdem erkennt 
sie, dass Deutschland in seiner heutigen Notlage 
keine Gefahr für den Weltmarkt darstellt und 
für Japan im fernen Osten erst recht nicht. Ita- 
lien wird natürlich von seinen ehemals Verbün- 
deten arg bedrängt. Nach den bisherigen offi- 
ziellen Ausserungen und gelegentlichen Mittei- 
lungen der leitenden Männer, sieht man indessen 
die Notwendigkeit der Stärkung und Förderung 
der Wirtschaftsbezichungen zu Deutschland seit 
langem ein. Sie ist von vornherein einer der 
Programmpunkte des jetzigen Ministeriums ge- 
wesen. Möglich, dass man sich zu Massnahmen 
gegen das angebliche deutsche Dumping ent- 
schliesst, wahrscheinlicher, dass die Zollpolitik 
Italiens protektionistische Wege wandelt. Inter- -` 
essant ist auch, was sich zwischen Deutschland 
und Tschechoslowakien ereignet. Die Regierung 
in Prag befindet sich in einer Zwickmühle. Sic 
möchte ganz gerne eine Ausfuhrabgabe einführen, 
aber nur für bestimmte Waren, andererseits ihr 
hoffnungsvoll entwickeltes Geschäft mit dem 
deutschen Nachbar nicht zerstört sehen. So 
haben sich einige Regierungsvertreter nach Ber- 
lin begeben, um über die Sanktionen direkt zu 
verhandeln. Nach dem von der deutschen Reichs- 
regierung bisher cingenommenen Standpunkte 
wäre der Ausgang dieser Verhandlungen nicht 
zweifelhaft, sofern die Tschechoslowakei auf 
ihren Forderungen bestchen bliebe. Immerhin 
nimmt der tschechische Besuch in Berlin und 
das persönliche Verhandeln der Angelegenheit 
viel von ihrer ursprünglichen Schärfe. Eine Ver- 
ständigung ist deswegen nicht ausgeschlossen. 

Als weitestgehende und tiefstgreifende der 
Sanktionen muss die Zollgrenze gelten. Sie 
stellt ein trauriges Kapitel im wirtschaftlichen 
Leben der Völker dar und bedeutet für Deutsch- 
land eine Erschwerung auf allen Gebieten. In- 
dustrie, Handel, Verkehr leiden gleichmässig. 
Denn der Fabrikant im besetzten Gebiete hat 
den gróssten Teil seines Absatzgebietes jenseits 
der Zollgrenze. Um nach dorthin zu gelangen, 
unterliegt die Ware jedoch den Zóllen des deut- 
schen Tarifs, wenn auch ohne den Goldzuschlag. 
Der Fabrikant im nichtbesetzten Gebiete aber 


204 


muss seine Ware, mit 25%/, des Goldzolls be- 
lastet, nach dem besetzten Gebiete liefern, will 
er seine Kundschaft, die meist eine langjährige 
und treue ist, nicht im Stich lassen. Der Han- 
del diesseits und jenseits der Zollinie unterliegt 
den gleichen Schwierigkeiten. Und der Verkehr, 
ganz gleich, ob der der Güter- oder Personen- 
züge, wird durch die Revisionen an den Zoll- 
stellen mitunter stundenlang aufgehalten. Es ist 
ein schöner Beweis für das richtige Verstehen 
der Bedeutung unserer deutschen Wirtschafts- 
einheit, wenn kürzlich der Verband deutscher 
Teppich- und Möbelstoffabrikanten beschlossen 
hat, seiner Kundschaft im neuen Zollgebiete die 
Zölle für Waren gegen Vorlegung der Zollquittung 
zu vergúten. Dieses Beispiel sollte überall Nach: 
ahmung finden, damit jener letzte Endzweck der 
Alliierten, die Abtrennung des besetzen deutschen 
Gebietes vom deutschen Wirtschaftsleben, ver- 
eitelt wird. Es ist auch bereits festzustellen, 
dass die Zwangsmassnahmen der Zollgrenze und 
die erweiterte Besetzung deutschen Gebietes den 
Einheitsgedanken stärken; kam das doch in 
Kundgebungen jenseits der Zollgrenze wieder- 
holt in schönster Weise zum Ausdruck. Bei- 
spielsweise in einer Versammlung des Verbandes 
Kölner Grossfirmen betonte der Syndikus der 


dortigen Handelskammer, dass man sich mit . 


übermenschlicher Geduld wappnen müsse. „Der 
Rheinländer wisse: was er jetzt erträgt, muss er 
für sein geliebtes Vaterland tragen.“ 

Dass ähnlich dem deutschen Handel mit den 
Ländern der Ausfuhrabgabe auch der Handel 
mit Deutschland über das neue deutsche Zoll- 
gebiet leiden muss, ist selbstverständlich. Davon 
werden in erster Linie die Niederlande betroffen. 
Denn der Durchgangsverkehr über Amsterdam 
und Rotterdam, der in der Nachkriegszeit gegen 
früher einen starken Aufschwung nehmen konnte, 
wird dadurch so gut wie lahmgelegt. Kaufleute 
von solch ehrwürdiger Tradition und solchem 
weltwirtschaftlichen Weitblick wie die Hollän- 
der werden begreifen, dass die deutsche Han- 
delswelt gar nichts anderes tun kann, als den 
Weg über das ncue Zollgebiet zu vermeiden, 
weil im Durchgangsverkehr die Zölle den deut- 
schen Reichseinnahmen nicht mehr zugute kom- 
men können. Sind demnach andere Zufahrts- 
strassen vorhanden — und diese bestehen über 
die deutschen Häfen an der Nordsee —, so wird 
der Weg über Holland und das Rheinland ver- 
mieden werden. Es wird verständlich, wenn 
sich die Niederlande infolgedessen allen Ernstes 
mit der Frage befassen, wie den bereits deut- 
lich wahrzunehmenden Schäden, die sich im 
Laufe der Zeit immer mehr vergrössern werden, 
abzuhclfen ist. Die Alliierten aber werden diese 


Die Sanktionen und ihre Konsequenzen. — Rohöl- und Dieselmotoren. 


Notlage Hollands ausnutzen und es an Aufforde- 
rungen zur Ergreifung von Massnahmen gegen 
Deutschland nicht fehlen lassen. 

Zusammenfassend lässt sich von den Sank- 
tionen und ihren Folgeerscheinungen nur sagen, 
dass sie verfehlt sind. Wenigstens darf das mit 
Bezug aut die Ausfuhrabgabe schon jetzt als 
sicher gelten. Auf diesem Wege werden die 
Alliierten niemals grössere Reparationssummen 
einheimsen, dafür werden Erbitterung und Ent- 
täuschung sie, wie das bereits geschieht, neue 
Massnahmen gegen Deutschland ersinnen lassen. 
Fasst man doch bereits die Blockade Hamburgs 
ins Auge. Auch die Zollgrenze wird ähnliche 
Misserfolge bringen, vielleicht weniger in peku- 
niärer Beziehung, als bei der technischen Durch- 
führung. Denn der feste Wille der deutschen 
Handelswelt durch die Zollgrenze das deutsche 
Wirtschaftsgebiet nicht künstlich zerreissen zu 
lassen, wird den Warenverkehr von und nach 
dem besetzten Gebiete lebhaft bleiben lassen, 
trotzdem der Transitverkehr in Wegfall kommt. 
Und dadurch werden an die des deutschen 
Systems unkundigen alliierten Kommissionen An- 
forderungen gestellt werden, denen sie nicht ge- 
wachsen sein können. Man scheint zwar deut- 
sches Personal zwangsweise verpflichten zu wollen, 
aber was unwillig getan wird, das bringt keinen 
Erfolg. Auch besteht für den Beamten die Mög- 
lichkeit der passiven Resistenz. 

Vielleicht kommt nach alledem doch die 
bessere Einsicht bei der Reparationskommission. 
Anzeichen dafür sind in England vorhanden. 
Ausserdem muss mit allem Nachdruck betont 
werden, dass die deutsche Reichsregierung bereit 
ist, bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zu 
reparieren. Sie hat ihren guten Willen wieder- 
holt dargetan und wird ihn immer wieder be- 
tonen, so dass vielleicht doch einmal das Miss- 
trauen schwindet und die klare Vernunft siegt. 
Stellenweise ist sie vorhanden. Vielfach ist man 
sich auch auf der gegnerischen Seite klar dar- 
über, dass die Sanktionen sich nicht verewigen 
lassen. So hat beispielsweise der Handels- 
redakteur des „Manchester Guardian" anlässlich 
einer deutschen Aussenhandelstagung auf der 
Frankfurter Messe erklärt, seiner Überzeugung 
nach seien diese Sanktionen nicht länger als vier 
bis sechs Monate aufrechtzuerhalten. Hoffent- 
lich kommt die bessere Einsicht schon sehr viel 
früher. Vielleicht findet sich auch ein Vermitt- 
ler, der keinem Lande zuliebe und keinem zu- 
leide, nur von allgemein weltwirtschaftlichen 
Erwägungen ausgehend, den Versuch macht, die 
verblendeten Geister auf den rechten Weg zum 
Erfolg und zum Wohle der Vólker im allgemeinen 
zurückzuführen. 


Rohól- und Dieselmotoren. 


Von Ing. Constantin Redzich. 


"ins der vornehmsten Ziele deutscher 
Sex Technik tritt bei fast allen Neuerschei- 
1 nungen geistiger Produkte immer wieder 
. mit grósster Deutlichkeit hervor: diese 
Errungenschaften insbesondere auch dem Aus- 
lande dienstbar zu machen. — Wiewohl auch 
zunáchst die deutsche Industrie eifrigst bestrebt 
sein wird, die ihr von unseren Ertindergrössen 
gebotenen Vorteile in erster Linie selbst auszu- 
nutzen, um dadurch auf dem Weltmarkt konkur- 
rieren zu können, liegt doch die Selbstverständ- 





lichkeit klar zutage, durch Austausch gerade der 
wichtigsten technischen Erzeugnisse immer neu: 
Anregungen zum Wettbewerb zu erlangen. 

Ein neuerdings vielumworbenes deutsches 
Produkt von hoher Bedeutung wird sich in Kürze 
einen Weg in alle Länder der Erde bahnen, we: 
es durch seine unnachahmlichen Eigenschatter 
geradezu als eine dringende Notwendigkeit ar- 
gesprochen werden kann: es ist dies die Mo 
lichkeit der höchsten Ausnutzbarkeit de: 
im Brennstoff enthaltenen Wärme beim 























Rohöl- und Dieselmotoren. 


Rohölmotor, die beim Dieselmotor diejenige 
aller anderen Kraftmaschinensysteme 
bedeutend und bis zu 35°/, beträgt. 

Die zum Betrieb dieser Mo:oren verwendbaren 
Brennstoffe bedürfen keiner vorangehenden be- 
sonderen Bereitungsweise, sondern sind entweder 
in fast allen Weltteilen in genügend grossen 
Mengen als Naturprodukte vorhanden oder sie 
werden als Nebenprodukte aus der Stein- und 
Braunkohle bei der Teerverarbeitung gewonnen, 
können deshalb also an allen Industrieorten zu 
äusserst mässigen Preisen bezogen werden. Be- 
sonders sind es die für andere Zwecke kaum 
verwendbaren Rohöle, wie: Rohnaphtha, Masut, 
ferner Stein- und Braunkohlenteeröle und deren 
Destillate. Natürlich kann auch das gewöhnliche 
Petroleum Verwendung finden. Bei allen diesen 
Betriebsstoffen, die etwa 10000 Kalorien Heiz- 
wert besitzen, ist die Verbrennung eine voll- 
kommene, so dass der Auspuff fast unsichtbar 
und geruchlos ist. Der Brennstoffverbrauch be- 
trägt nämlich je. nach Grösse der Maschine 
180—200 Gramm (auf 10000 Kalorien Heizwert 
bezogen) bei normaler Belastung, und ist auch 
bei Unter- und Überlastung noch von höchster 
Wirtschaftlichkeit, Die Bedienungs- und Unter- 
haltungskosten sind ungefáhr die gleichen wie 
die der modernen Dampfmaschinen, ebenso ist 
der Schmieról- und Kühlwasscrverbrauch ein 
sehr geringer. 

Der Dieselmotor saugt reine atmosphärische 
Luft ohne Beimischung von Brennstoffen an und 
verdichtet dieselbe beim Rücklauf des Kolbens. 
Teerölbetrieb, trat die 
Dieselmaschine auch 
wirtschaftlich an die 
Spitze aller Wärme- 
kraftmaschinen. 

Ein besonderes Ver- 
dienst in der praktischen 
Konstruktionsweise der 
Dieselmotoren erwarb 
sich die „Oberurseler 
Motorenfabrik“ mit der 
liegenden Bauart, die 
gegenüber anderen Syste- 
men noch besonders be- 
achtenswerte Vorzüge auf- . 
weist. Diese sind nament- 
lich bei Aufstellung in be- 
schränkten Räumen so 
ausserordentlich grosse, 
dass es wirklich als eine 
Pflicht erscheint, an dieser 
Stelle empfehlend darauf 
hinzuweisen. Während 
selbst kleinere stehende 
Motoren hohe Maschinen- 
räume erfordern, kann 
Z. B. eine roo PS-Maschinc 
liegenderBauartbequem 
in einem 3 m hohen Raume untergebracht 
werden. Bei eventuell notwendigem Ausbau des 
Kolbens muss bei dem stehenden Motor der 
Zylinderkopf mit Steuerung und Regulierung 
demontiert werden, was nur in wenigen Fällen 
von einem Nichtfachmann vorgenommen werden 
kann. Beim liegenden Motor lásst sich der Kolben 
leicht von rückwárts herausnehmen und ebenso 
wieder einsetzen. Ein weiterer Vorzug liegt in 
den ausserordentlich einfachen, übersichtlich 
angeordneten Steuerungsorganen, welche sich 
aus nur wenigen Gliedern zusammensetzen ; 
ferner in den leicht zugänglichen Kurbellagern, 
das alles zusammengenommen eine Bedienung 


205 


In dem Augenblick nun, in dem der Kolben durch 
den Totpunkt geht, erfolgt die allmähliche Ein- 
führung des Brennstoffs in die verdichtete und 
dadurch stark erhitzte Luft. Der Brennstoff ver- 
bindet sich mit dieser und verbrennt allmählich 
ohne Explosion und ohne wesentliche Druck- 
steigerung. Nun läuft der Kolben arbeitverrich- 
tend vor und schiebt beim zweiten Rücklauf die 
Verbrennungsgase aus. 

Das Hauptpatent auf den Dieselmotor 
sicherte einer Fabrik mit wenigen Lizenzteil- 
nehmern ausschliessliche Fabrikation. Durch 
diesen wenig zweckmässigen Ausschluss jeglichen 
Wettbewerbs blieben denn auch fast alle Ver- 
suche zu Neuerungen und Verbesserungen der 
Bauart im Versuchsstadium stecken; der Diesel- 
motor wurde im Auslande recht einseitig be- 
urteilt und fand fast nur für Spezialzwecke Ver- 
wendung. Dabei blieb diestehende Form der 
Haupttypus. Den einzigen Fortschritt in den 
letzten Jahren vor Ablauf des Patents bildete 
die Bauweise zweier Arten: die Viertakt- und 
die Zweitaktmaschine, ausserdem noch die 
Rohölmaschine mit offener Düse, der sogenannte 
„Liezenmaiermotor“. 

Nach Ablauf des Patents setzte urplötzlich ein 
gewaltiger Aufschwung im Bau von Dieselmotoren 
ein, mit ihm eine unerwartet grosse Ausbreitung 
über den gesamten Kontinent durch Bau- und 
Ausführungsarten, die von der Stammform erheb- 
lich abwichen. Eine grosse Entwicklung nahm 
hierbei der Schifts-Dieselmotorenbau 
und, nach Konstruktion geeigneter Motoren für 





Abb. 31. Schiffs - Dieselmotor (Dreizylinder) der Gasmotoren - Fabrik Deutz, Köln - Deutz. 


der Maschine sehr vereinfacht, ganz abgeschen 
von dem Fortfall einer Bedienungsbühne, was 
ein ständiges Treppenlaufen unnötig macht. 
Nicht unbeachtlich ist ferner die Kühlung von 
Sitz und Führung des Auslassventils, die be- 
kanntlich bei stehenden Motoren Schwierigkeiten 
bereitet. Die Präzisionsregulierung erfolgt durch 
direkte Veränderung der Fördermenge der Brenn- 
stoffpumpe. Sie ist denkbar einfach, arbeitet 
ohne jeden Rückdruck auf den Regler und hat 
überhaupt keine wesentlicher Abnutzung unter- 
worfene Teile. Der Antrieb derselben erfolgt 
von der Steuerwelle aus mittels Exzenter. Die 
Arbeitsweise ist die bekannte mit gesteuertem 


206 


und vom Regulator beeinflussten Saugventil des 
Dieselmotors. 

Der beispiellos dastehende Siegeslauf des 
Dieselmotors seit Verwirklichung der Idee, ihn 
für alle Zwecke verwendbar zu machen, kam 
aber in erster Zeit fast nur der Grossindustrie 
zugute, da kleine Motoren unter 40 PS nur von 
wenigen Fabriken gebaut und zu so hohen Preisen 
auf den Markt gebracht wurden, dass ihre Ver- 
wendung als Kleinmotoren nicht in Frage kommen 
konnte. Deshalb kann der Entschluss, kleinere 
und billigere Maschinen zu bauen, die auch 
der Kleinindustrie, der Landwirtschaft, 
sowie dem Privatbesitz zugänglich wurden, 
nicht hoch genug veranschlagt werden, Von 
der Motorenfabrik Carl Kälble-Back- 
nang wird ein Suevia-Dieselmotor, dessen 
Neuerungen patentamtlich geschützt sind, an den 
Markt gebracht, der diesen Anforderungen in 
allen Teilen weitaus entspricht. Durch Ver- 
einfachung der Konstruktion nebst rationeller 
Herstellungsweise kann der Motor so billig ge- 
liefert werden, dass der Preis den guter Gas- 
motoren nicht mehr wesentlich übersteigt. Jahre- 
lange Versuche im eigenen Betriebe haben die 
zuverlässige Brauchbarkeit einwandfrei bewiesen. 
Der Suevia-Dieselmotor arbeitet nach dem 
Viertaktverfahren. Die Entzündung des nach 
der Kompression eingeführten Brennstoffs erfolgt 
durch die während der Kompression hoch er- 
hitzte Luft, also ohne jegliche Zündvorrichtung. 
Die Verbrennung des Brennstoffs erfolgt unter 
Gleichdruck ohne plötzliche Drucksteigerung, 
was den Gang der Maschine und die Dauerhaftig- 
keit der Triebwerksteile vorteilhaft beeinflusst. 
Der Brennstoffverbrauch ist sehr gering und be- 
trägt bei grösseren Motoren zirka 185 Gramm, 












— 
NN E 





INSBESONDERE 


SPIRITUS- MOTOREN 
X 











Rohöl- und Dieselmotoren. 


= drehkurbel, b 


m" YW ll 2777 rosen WEN 7// ATP T YY 777 


DEUTZER 
MOTOREN 


4 Vi 
INALLEN GROSSEN U,AUSEUHRUNGEN 


FURALLE BRENNSTOFFE 








BENZIN -BENZOL” PETROL 


NAPHTALIN-MOTOREN , | 


bei kleineren zirka 240 Gramm für die PS-Stunde. 
— Eine weitere Neuerung auf dem Gebicte der 
vereinfachten Systeme in Bauart und Antrieb 
bringt der von der Benz-Gesellschaft- 
Mannheim konstruierte Hochdruck-Rohöl- 
Motor, Modell R, bei welchem der Brennstoff 
ohne weitere Vorbereitung unmittelbar in der 
Maschine Verwendung findet. Deshalb kommen 
auch alle Nebenapparate, die Raum und Be- 
dienung beanspruchen und Anlass zu Betriebs- 
störungen, Schäden und Gefahren geben, völlig 
in Wegfall. Im Gegensatz zu den Dieselmotoren 
erfolgt die Brennstoffeinführung ohne Zuhilfe- 
nahme von Druckluft. Der Brennstoff wird von 
der Pumpe direkt in den Verbrennungsraum ge- 
drückt, wo er fein zerstäubt zur Verbrennung 
gelangt. 

Die Vorteile gegenüber den Benzol- und Ben- 
zinmotoren sind ausserordentlich beachtenswert: 
Fortfall der schr empfindlichen Zündapparate, 
Kabel, Zünder und Vergaser; ferner. geringer 
Brennstoffverbrauch und dadurch verminderte 
Kosten, keine Feuers- oder Explosionsgefahr. 
Auch zum Anlassen ist Benzin nicht notwendig, 
vielmehr erfolgt die Inbetriebsetzung mittels An- 
bei den grösseren Modellen bequem 
und sicher durch niedergespannte Druckluft. 
welche während des Betriebes dem Arbeitszylin- 
der entnommen und in einem Behälter aufgespei- 
chert wird. Aus diesem Grunde kommt auch 
ein besonderer Kompressor in Fortfall. Der 
Brennstoffverbrauch ist sehr gering und beträgt 
nur 210 Gramm pro PSjh, ist also wesentlich 
niedriger wie bei Glühkopfmotoren. Mit diesen 
in allen Grössen und zu allen Zwecken verwend- 
baren Hochdruck-Rohölmotoren ist also ein sehr 
wirtschaftlicher Betrieb gewährleistet. 





LY geg ⸗ A RER 
Geet BUON — 









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FREI d NSLS —E 


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21.8. 


Leger S 22. 
SAUGGAS-ANLAGEN > HEIZGAS-ANLAGEN 
MOTORLOKOMOTIVEN-MOTORTREKKER 

WASSERVERIORGUNGS:ANLAGEN $ 


SA TEE, Acal 


Ju 


GASMOTOREN FABRIK DEUTZ | 
KOLN- ‚DEUTZ 


OLLIE! mm 7 


5 
MULLET LA 
—— ds 2 
d GN 7, 
HA, 





a. d 











Rohöl- und Dieselmotoren. — Aus den Vereinigten Staaten. 207 


"T" 





VT TEE AAA 
— SS RS pos es Ke ` e , o ] neu? 


Abb. 32. Neuer liegender kompressorloser Dieselmotor Typ MK V der Gasmotoren- Fabrik Deutz, Köln - Deutz. 


Die angeführten Vorteile machen den Motor Motorenfabrik, Ludwigshafen, Kórting A.-G., 
daher besonders geeignet für den Betrieb in Motorenfabrik, Hannover. 
kleinen Werkstätten, kleinen elektri- Im allgemeinen werden von diesen Werken 
schen Zentralen, in der Landwirtschaft, die Dieselmaschinen in der ursprünglichen, 
für den Antrieb von Motorlastbooten und also derstehenden Bauart mit geringen Unter- 
überall da, wo einfache, im Betrieb billige und schieden ausgeführt. Besonderer Wert wird 
betriebssichere Maschinen gebraucht werden. jedoch von allen Firmen auf eine biszum äussersten 

Die Dieselmotoren der Gasmotoren-Fabrik vereinfachte Betriebsweise gelegt, um damit auch 
Deutz, Köln-Deutz, geniessen auf Grund eine bedeutungsvolle Kostenermässigung zu er- 
ihrer mustergültigen und allen Anforderungen zielen. Die jahrzehntelangen Versuche, verbunden 
entsprechenden Konstruktion, sowie der vorbild- mit der gewonnenen Erfahrung in der Praxis, 
lichen technischen Ausführung einen solchen Ruf führten denn auch zu einer derartigen Vervoll- 
in Fachkreisen, dass sich eine eingehende Schilde- kommnung in Arbeitsleistung und Wirtschaftlich- 
rung erübrigt. Wir bringen zwei Abbildungen keit, wie sie von ausländischen Nachahmungen 
von Motoren dieser Fabrik und möchten vor bei weitem nicht erreicht werden können. Nach 
allem auf den neuen kompressorlosen den Untersuchungen von Prof. Josse, E. Hoeltje 
Dieselmotor hinweisen. u. a. stellen sich daher die Gesamtbetriebskosten 

Als weitere Konstruktionswerkstätten für bei Dieselmotoranlagen zwischen 25 und 
Dieselmotoren sind zu nennen: Motoren- 500 PS günstiger wie bei allen anderen 
gesellschaft Güldner, Aschaffenburg, Gebr. Sulzer, Betriebsmaschinen. 


Aus den Vereinigten Staaten. 


Hinsichtlich. der Entwicklung, die der deutschen bestehen in Amerika grundverschiedene An- 
Ausfuhr nach den Vereinigten Staaten wäh- schauungen, von denen die Befürchtung der ame- 
rend der nächsten Zeit beschieden sein wird,  rikanischen Industrie, dass es Deutschland binnen 





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208 


kurzem möglich sein werde, den Weltmarkt mit 
billigem Angebot zu versehen, am schärfsten her- 
vortritt. Die für die neue Kongress - Session in 
Aussicht genommenen Massnahmen, um der so- 
genannten Dumpinggefahr zu begegnen, sind in 
allererster Linie von der Meinung diktiert, dass 
die deutsche Export-Industrie, sobald der Mangel 
an Rohmaterialien ausgeglichen ist, einen Kon- 
kurrenten darstellen wird, der nur mittels hoher 
Zölle bekämpft werden kann. Allerdings darf 
aber gesagt werden, dass dieser Standpunkt nicht 
von allen Industriezweigen geteilt wird: so haben 
sich beispielsweise die amerikanischen Automobil- 
fabrikanten mit Entschiedenheit für eine Neu- 
regulierung der Einfuhrzölle nach unten aus- 
gesprochen, da sie nicht mit Unrecht erwarten, 
dass ein Anziehen der amerikanischen Zollschrau- 
ben von Europa mit ähnlichen Massregeln be- 
antwortet werden würde. 

Die gegenwärtige Einfuhr aus Deutschland 
geht in der Hauptsache über Neuyork, Phila- 
delphia und Baltimore und hatte in Philadelphia 
Ende letzten Jahres bereits Ziffern erreicht, die 
sie zu einem sehr wesentlichen Bestandteile des 
dortigen Hafengeschäftes machten. Inzwischen 
ist freilich wieder ein merklicher Rückgang der 
deutschen Importe zu verzeichnen. Die Haupt- 
artikel der aus Deutschland eintreffenden Waren 
sind Chemikalien und Farbstoffe, Spielwaren, 
Porzellan und Topfwaren und Konfektionsartikel; 
vereinzelt werden auch deutsche Automobile — 
durchweg (ualitätsmarken — importiert. Für 
die Stellungnahme der amerikanischen Industrie 
zur Spielwareneinfuhr ist die Haltung ihrer Fach- 
zeitschriften bemerkenswert: der Inhaber eines 
grossen Hauses, das vorwiegend deutsche Spiel- 








— — — — — —— — — ——- 








Aus den Vereinigten Staaten. 


sachen einführt und zur vorigen Weihnachtssaison 
Millionenwerte importierte, teilte mir mit, dass 
es ihm unmöglich war, in den in Betracht kom- 
menden Fachblättern Anzeigenraum zu belegen; 
man wies ihn ab, weil „die Anpreisung des deut- 
schen Fabrikats das amerikanische Geschäft schä- 
digen“ würde. Dass die Firma trotzdem glän- 
zenden Absatz fand, braucht nur dem gesagt zu 
werden, der den Unterschied in der Güte und 
der Vielseitigkeit zwischen deutschen und ame- 
rikanischen Fabrikaten nicht kennt. 

Ob der von Importkreisen ausgeübte Druck 
stark genug sein wird, um den neuen Zolltarif 
innerhalb vernünftiger Grenzen zu halten, muss 
abgewartet werden. Einstweilen hat es den An- 
schein, als ob sie den Kampf verlieren sollten, 
zumal die amerikanische Tarifpolitik weniger von 
wirtschaftlichen Gründen, als von parteipolitischen 
Erwägungen abhängig ist. Es macht sich zwar 
eine kräftige Bewegung geltend, die mit dieser 
überlebten Tradition zu brechen sucht, aber an- 
gesichts des Bestrebens der Bundeslegislatur, der 
einheimischen Industrie gefällig zu sein und zu- 
gleich den Zolltarif als Melkkuh für die Staats- 
kasse zu benützen, ist es nicht angebracht, dar- 
auf zu hoffen, dass eine bessere Einsicht sich 
letzten Endes behaupten wird — es sei denn, 
dass es dem weiter blickenden Element gelingt, 
die Politiker davon zu überzeugen, dass ein hoher 
Schutzzoll sich als Boomerang erweisen muss 
und, indem er das schwer ringende Europa noch 
mehr schädigt, das amerikanische Wirtschafts- 
leben tödlich trifft. 


Neuvork, Ende März 1921. 
F.E. Julianos. 





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Die Solinger Stahlwaren - Industrie. 


Von W.P., Solingen. 






E „Aline der ältesten Eisen verarbeitenden In- 
D dustrien ist die Solinger Stahlwaren- 
N Ew Industrie, die im bergischen Land nord- 
östlich von Köln ihren Sitz hat. Der 
Name Solingen als Klingenstadt ist altbekannt 
und erfreut sich guten Rufs in der Welt 
Durch rastlosen Fleiss und vorwärtsdrängenden 
Unternehmungsgeist entwickelte sich die Industrie 
dauernd in aufsteigender Linie und zu der alten 
historischen Klingen-Industrie und der sich daraus 
entwickelten Messerfabrikation traten immer neue 


Erzeugnisse hinzu: Scheren, Taschenmesser, Tisch- 


messer, Gabeln, Rasiermesser, Nagelpflege-Instru- 
mente und andere Artikel wurden fabriziert. Die 
fortschreitende Technik half zusammen mit der 
steigenden Güte der Erzeugnisse die Weltmärkte 
zu gewinnen. Durch den Weltkrieg jäh unter- 
brochen, knüpft die Entwicklung nach Überwin- 
dung der durch Verwendung von Ersatzmaterialien 
entstandenen Rückschlägen an den Gedanken 
der Ausnutzung jedes technischen Fortschritts 
und der Beachtung der Güte der Erzeugnisse 
wieder an. Hat doch als bedeutsamen Schritt 
in dieser Richtung die Handelskammer Solingen 
im Jahre 1920 beschlossen, dass es verboten sein 
soll, gewisse Artikel, die von nicht erstklassigem 
Stahl hergestellt sind, mit dem Wortzeichen 
„Solingen“ zu versehen, so dass in Zukunft dies 
Wort schon eine gewisse Garantie für die Güte 
des Erzeugnisses bietet, um so mehr, wenn es 
ausserdem das Bildzeichen oder den Namen des 
Fabrikanten trägt. — 


W afíen-Industrie. 


Als áltestes Solinger Erzeugnis gilt die blanke 
Waffe. Vom Bajonett und schweren Reiter- 
säbel bis zum zierlichen Stilett und Theaterdegen 
werden alle Formen geschaffen. Manch edles 
Kunstwerk trug als Ehrengabe für Herrscher, 
Generäle und Minister den Ruf Solinger Schmiede- 
und Kleinkunst in alle Länder. Die Leistungs- 
fähigkeit der Industrie war fıüher vielen süd- 
amerikanischen und Balkan-Staaten wohlbekannt, 
die ihre Heeresausrüstungen von Solingen be- 
zogen. Zurzeit ist die Herstellung blanker Waffen 
durch die Entente untersagt und nur Luxus- und 
Theater: waffen werden erzeugt. Die Kunst, echte 
Damaszener Klingen mit den zierlichsten Zeich- 
nungen der Klingen zu schmieden, wurde von 
einem weissbärtigen Meister noch bis vor kurzem 


geübt. Jetzt hat die Technik Wege ersonnen, 
Klingen mit beliebiger Damastzeichnung zu ver- 
sehen. 


Messer-Industrie. 


Ein bedeutender Zweig der Solinger Industrie 
ist der Fabrikation von Schlacht- und Tisch- 
messern gewidmet. Die Schlachtmesser wer- 
den in zahlreichen Formen und Grössen herge- 
stellt, stets angepasst den Gewohnheiten des 
Fleischerhandwerks der verschiedenen Gegenden 
und Länder. Entsprechend den hohen Anforde- 
rungen werden Schlachtmesser nur aus la Stahl 
gefertigt. Manche dieser Messer, die häufig 
10—15 Zoll lang sind, stellen hohe Anforderungen 
an die Geschicklichkeit der Schmiede- und Schlei- 
fermeister. Einige Muster sind nach dem Heft 
zu verstärkt, um gleichzeitig als Knochenhauer 
verwandt werden zu können. Die Beschalung 
der Schlachtmesser besteht meist aus hartem 
Holz. 

Brotmesser und Papiermesser werden 
auch in mancherlei Form in jeweils ihrer Be- 
anspruchung am besten zusagenden Qualität ge- 
macht. Diese Messer sind nur für Handgebrauch. 
Messer zur Verwendung in Maschinen werden 
nicht in Solingen, sondern in der wesensver- 
wandten Remscheider Industrie gemacht. 

Die Zahl der Tischmessermuster ist sehr 
gross. Einfachste Ausführung von Klinge und 
Griff steigert sich bis zur feinsten Luxusausführung 
mit tiefschwarz polierter Klinge mit kostbarem 
Horn- oder Perlmuttgriff. Silberne Beschläge ver- 
mitteln den Übergang von Klinge zu Griff Die 
volle Leistungsfähigkeit in der Herstellung von 
Tischmessern und Stahlgabeln ist bisher 
selbst in Zeiten höchster Konjunktur noch nicht 
erreicht worden. Messer mit Stahlgriffen werden 
auch in Solingen geschmiedet, während für Messer 
mit silbernem Griff meist nur die Klinge aus 
Solingen stammt. Hierher gehóren auch Des- 
sert- und Obstmesser, letztere häufig mit 
Nickel- oder Bronzeklingen, um den Geschmack 
der Früchte nicht zu beeintráchtigen. 

Tranchiermesser und Gabeln mit den 
zugehórigen Wetzstáhlen werden in Gróssen 
von 5— 12 Zoll in verschiedenster Form und Aus- 
führung in Ia Qualität gemacht. 

Kleine Küchen- und Gemúsemesser in 
allen Qualitäten sind ein grosser Massenartikel 
der Industrie. 


228 


In letzter Zeit gewinnt die Herstellung von 
Bestecken aus rost-und fleckenfreiem 
(stainless) Stahl an Bedeutung. Nachdem die 
technischen Schwierigkeiten überwunden schei- 
nen, findet sich für diese an Sauberkeit unüber- 
trefflichen Messer, Gabeln. und Löflel ein zu- 
nehmender Absatz in Hotel und Haushalt. 

Eine besondere Fabrikationsgruppe bilden 
die Messer für technische Zwecke. 
Schuster-, Sattler-, Kürschnermesser, Gummi- 
reisser, Zuckerhauer und Plantagenmesser wer- 
den angefertigt. 

Ein ganz bedeutender Teil der Solinger In- 
dustrie befasst sich mit der Herstellung von 
Taschenmessern. Hier gibt es eine Unzahl 
von Mustern. Eine einzige grössere Taschen- 
messerfabrik verfügte vor dem Kriege über eine 
Sammlung von 3000—5000 verschiedener Modelle, 
für die alle Werkzeuge vorhanden und die jeder- 
zeit lieferbar waren. In dieser Linie kommt recht 
deutlich die deutsche Stärke — auf jeden Wunsch 
der Kundschaft einzugehen — zum Ausdruck. 
Jetzt macht sich überall mit mehr oder minder 
grosser Stärke der Wunsch nach Vereinheit- 
lichung und Vereinfachung der Modelle bemerk- 
bar und es wird durch diese Beschränkung eine 
vorteilhaftere Preisstellung erwartet. Immerhin 
wird eine grosse Zahl verschiedener Modelle, 
wie sie sich in den verschiedenen Ländern aus 
den Bedürfnissen der Kundschatt herausentwickelt 
haben, weiter fabriziert werden. Die einfachsten 
Messer — Kniepe genannt — sind die starken ein- 
klingigen Modelle, wie sie für Indien, Finnland, 
Russland, auch Kanada und Vereinigte Staaten 
gangbar sind. MUR s Holz-, Knochen- oder Horn- 
schalen dienen als Griff für die starke, nicht be- 
sonders fein polierte, aus gutem Stahlgeschmiedete 
Klinge. Ahnlich kráftige Messer werden mit zwei 
Klingen, oft auch mit Korkzieher, gefertigt. Kenn- 
zeichen für die Güte der äusseren Aufmachung 
eines Taschenmessers ist das Material der Unter- 
lage für die Beschalung. Allgemein ist bei den 
einfachsten Messern die Schale aus Eisen ge- 
.presst oder mit Ornamenten geprägt. Bei der 
nächsten Qualitätsstufe sind die Unterlagen der 
Schalen aus Eisen, bei besseren Messern aus 
Messing und bei ganz feinen aus Neusilber ge- 
fertigt. Nachdem man wegen Materialmangel 
und Teuerung von dieser traditionell gewordenen 
Unterscheidung abgekommen und während des 
Krieges nur Eisen verwendet hatte, werden jetzt 
alle Modelle wieder in Friedensgüte geliefert. 
Bei besseren Messern wird als Beschalung haupt- 
sächlich Holz-, Horn-, Zelluloid in Knochen- oder 
Elfenbein - Imitation, in schwarzer oder bunter 
Farbe, in Gold- und Silberton, in imitiert Perl- 
mutt, Perdrix und Hirschhorn, in Fibre, auch in 
Galalith verwandt. Bei der Wahl der Beschalung 
muss Rücksicht auf das Bezugsland genommen 
werden, da Hitze und Feuchtigkeit auf manche 
Materialien von nachteiligem Einfluss sind. Die 
feinen und feinsten Messer haben meist Elfen- 
bein-, Schildplatt- oder Perlmuttbeschalung. Die- 
ses Material muss leider aus England und Frank- 
reich bezogen werden und der Preis stellt sich 
infolge der Valutadifferenz ziemlich hoch. Für 
Liebhaber erfreuen sich Messer mit 10, 15- 20- 30 
Teilen noch immer eines gewissen Absatzes. 
Diese Kunstwerke der Feinmechanik kosten bis 
2u 2000 Mark per Stück. 

Eine besondere Gruppe unter den Taschen- 
messern nehmen die Werkzeugmesser ein, 
Messer, die in ihrer heutigen Form meist auf 
das Schweizer Militärmesser zurückzuführen sind. 
Schraubenzieher, Ahle, Büchsenöffner vereinigen 





Die Solinger Stahlwaren -Industrie. 


sich mit grosser und kleiner Klinge und kräftiger 
Korkzieher zu einem allgemein beliebten und in 
einer kräftigen Qualitätsausführung unübertrof- 
fenen Sportmesser. Zuweilen ist die Ausstattung 
noch durch eine kräftige Säge, Bohrer oder Huf- 
kratzer ergänzt, ähnliche Modelle sind besonders 
für Elektrotechniker und Monteure konstruiert 
und enthalten andere Spezialwerkzeuge. 

Durch ihre geschmackvolle Ausführung haben 
sich die Reklame- und Erinnerungsmesser die 
ganze Welt erobert. In plastischer Schärfe zeigen 
die Schalen öffentliche Gebäude, Stadtbilder, 
Porträts oder irgendwelche Gegenstände mit er- 
läuternder Schrift. | 

Von billigen Ausführungen in Eisen und Alu- 
minium an werden diese Messer bis zu den feinsten 
Qualitäten in Argentan und Silber gemacht. In 
diese Gruppe gehören auch die kleinen Messer- 
chen, die oft in sehr glücklicher Weise irgend- 
einer Form angepasst sind, z. B. einem Schuh, 
einer Flasche, einem Fisch, einem Auto, einer 
Lokomotive, einer Zigarre usw. 

Korkzieher in verschiedenster Ausführung 
werden ebenfalls in Solingen hergestellt. 

Die 

Rasiermesser-Industrie 

verfügt in Solingen und seiner näheren Umgebung 
über einige sehr leistungsfähige We:ke. Die Her- 
stellung von Rasiermessern ist Vertrauenssache. 
Dieses Messer sollte nur aus ganz erstklassigem 
Edelstahl geschmiedet sein und seine Weiter- 
verarbeitung stets von erfahrenen Fachleuten ge- 
schehen. Nur so ist eine Garantie dafür zu leisten, 
dass dies feinschneidige Werkzeug in stets gleicher 
Güte in den Handel kommt. Für Qualitätsmesser, 
die Fabrikmarke und Namen tragen, sind diese 
Bedingungen wohl auch in hohem Mass erfüllt und 
die Erzeugnisse den Sheffielder Produkten eben- 
bürtig oder gar überlegen, wie der grosse Absatz 
Solinger Messer in den Dominions beweist. Ausser 
der Güte des Stahls ist für die Qualität der Grad 
des Hohlschliffs wesentlich, d.h. mit wie kleinem 
Schleifstein das Messer geschliffen ist. Die üb- 
lichen Steine haben einen Durchmesser von 
3'/,—1 Zoll. Je stärker die Hohlung, um so feiner 
das Messer. Hohl geschliffene Messer geben einen 
feinen klingenden Ton, wenn man die Spitze der 
Schneide mit dem Fingernagel zur Seite drückt 
und plötzlich abschnellen lässt. Obwohl die 
Form des Messers im allgemeinen gegeben, so 
werden doch mancherlei Modelle gefertigt; sei 
es, dass der Kopf eckig, rund oder anders ver- 
ziert oder dass der sogenannte Erl —- das hintere 
käntige Ende des Messers — besonders geformt 
und in vergoldeter, oxydierter oder gehämmerter 
Ausführung erscheint. Feine Messer sind viel- 
fach mit kunstvollen Ornamenten auf dem Rücken 
versehen. Eine beliebte Zusammenstellung be- 
steht aus 7 Messern, die in geschmackvollem 
Lederetui nebeneinander angeordnet die Namen 
der Wochentage auf dem Rücken der Klinge ge- 
ätzt zeigen. Natürlich werden alle Messer in 
den üblichen Breiten von 5/,—*/, Zoll geliefert. 
Als Hefte werden meist Zelluloid in allen Farben 
und Kautschuk verwandt, doch findet man auch 
Holz, Presspapier, Elfenbein und Perlmutt in 
glatter Form oder künstlerischer Schnitzung. Die 
Messer werden gebrauchsfertig geliefert und vor 
Versand dadurch erprobt, dass die Schneide ein 
freischwebendes Frauenhaar schneiden muss. 
Wenn Barbiere trotzdem die Messer vor Gebrauch 
abziehen, so geschieht dies, um an ihrem Werk- 
zeug die Schneide so zu richten, wie es ihrer 
Gewohnheit und Handhaltung entspricht. 





Die Solinger Stahlwarer. : ¿..austrie. 


229 





Scheren-Industrie. 


Aus kleinen Anfängen hat sich in wenigen 
Jahren die Scheren-Industrie in Solingen zu sol- 
cher Bedeutung emporgeschwungen, dass sie jede 
ausländische Konkurrenz in bezug auf Leistungs- 
fähigkeit, Vielseitigkeit und gefällige Form der 
Musterübertrifft. Die Gegensätze in diesem Artikel 
sind sehr gross, umspannt der Begriff Schere doch 
die ganze Linie von der groben Baum- und 
Viehschere bis zur zierlichsten Stick- und Mani- 
cureschere. Es haben sich infolge dieser Ver- 
schiedenheit in der Herstellung besondere- Fa- 
briken gegründet, die eine gewisse Gruppe von 
Scheren als Spezialität herstellen. Man unter- 
scheidet gemeiniglich Baum- und Gartenscheren, 
Viehscheren, Schneiderscheren, Ladenscheren, 
Haarscheren, Taschenscheren, Stickscheren, Nagel- 
pflegescheren und chirurgische Scheren. Fast 
alle Scheren sind heute aus Stahl in Matrizen 
geschmiedet. Die gegossenen Scheren von ge- 
ringer Qualität sind, weil nicht schnitthaltig, fast 
ganz vom Markte verdrängt. 

Die Baum- und Gartenscheren werden 
in mancherlei Form je nach den Anforderungen 
der verschiedenen Märkte hergestellt. Bei grossen 
Scheren ist der schneidende Teil aus gehärtetem 
Stahl auf die gegossene Schere aufgeschraubt 
oder genietet, um nicht für die Schenkel das 
teure Material verwenden zu müssen. Die zier- 
lichsten Scheren dieser Gruppe sind die Rosen- 
und Blumenscheren, die in hübschen handlichen 
Formen bis zur Grösse einer Taschenschere oder 
gar als Zuschlagschere gemacht werden. 

Die Herstellung der Viehscheren ist durch 
die Einführung der Schermaschinen stark zu- 
rückgegangen und im wesentlichen kommen nur 
Fessel- und Viehzeichenscheren in Frage. 

Eine besondere Arbeiterklasse wird durch die 
Herstellung von Schneiderscheren und 
Scheren für gewerbliche Zwecke, als 
Schuster-, Leder-, Sack-, Linoleum- usw. Scheren, 
in Anspruch genommen.  Erstklassiger Stahl in 
Verbindung mit kräftiger Ausführung macht diese 
Schere zu einem Lebensgefährten für die Hand- 
werker. Die Griffe sind meist mit einem bei 
hoher Temperatur hart getrockneten, schwarzen 
Lack versehen. 

Ein beliebtes Tafelgerät ist die Geflügel- 
schere, die mit kräftiger, einseitig gerauhter 
Schneide das Zerlegen des Geflügels sehr er- 
leichtert. 

Die grösste Gruppe ist die der sogenannten 
Laden- oder Damenscheren, die in allen 
Grössen mit */, Zoll steigend von 4 bis 8 Zoll 
gefertigt werden. Die Formen der Modelle richten 
sich stark nach den verschiedenen Märkten. Ein- 
fuhrbestimmungen sind oft massgebend für die 
Ausführung der Schere, d. h. ob sie nur roh ge- 
schliffen, vernickelt oder vergoldet geliefert wird. 
Die meisten Scheren sind mit einem rostschützen- 
den Nickelüberzug versehen, der ihnen das schöne 
blanke Ansehen auch nach jahrelangem Gebrauch 
gibt. Nur die eigentliche Schneide der beiden 
Scherenhälften zeigt den Stahl. Die Verbindung 
der zwei Hälften erfolgt bei feinen Scheren durch 
eine Schraube, bei anderen mittels Niete. Da 
der Laie nur zu geneigt ist, eine im Gebrauch 
lose gewordene Schere durch einen Schlag mit 
dem Hammer neu zu befestigen, so ist .die Mei- 
nung geteilt, welche Verbindungsart auf die Dauer 
die zweckmässigere ist. Häufig geben hübsche 
Prägungen den Griffen der Scheren ein gefälliges 
Aussehen, besonderer Beliebtheit erfreut sich in 
vielen Gegenden eine Schere, die auf den Griffen 


den Christuskopf auf der einen und die Mutter 
Gottes auf der anderen in künstlerischer Aus- 
führung zeigt. 


Die Taschenscheren sind ähnlich in Form 
und Ausführung. Viele dieser zwischen 2 und 
5 Zoll gefertigten Muster haben einen Zigarren- 
abschneider oder sind nur als solcher zu ver- 
wenden. — Sogenannte Zuschlagscheren sind als 
Taschenscheren beliebt, da durch die zum Schutz 
über die Schneide gelegten Griffe der in An- 
spruch genommene Raum klein ist und die Tasche 
vor Beschädigung geschützt wird. 


Eine besonders aufmerksame Behandlung er- 
fordert die Haarschere in der Fabrikation. 
Meist aus einem besonders guten Stahl geschmie- 
det, wird bei der Härtung aufs sorgfältigste ver- 
fahren und beim Schleifen werden die zusammen 
gehörigen Hälften wiederholt zusammenge- 
schraubt, um zu erproben, ob der Schnitt voll- 
kommen und ob trotz der leichten Beweglich- 
keit der beiden Schenkel die Schneiden in rich- 
tiger Weise einander gegenüberstehen, so dass 
an jeder Stelle das feinste Härchen geschnitten 
wird.  Haarscheren werden meist nicht ver- 
nickelt oder nur auf den äusseren Flächen und 
Griffen. Besonderer Wert wird auf geringes Ge- 
wicht und handliche Stellung der Griffe gelegt. 
Die französische Konkurrenz, die sich früher 
durch gute Schnittfähigkeit ihrer Erzeugnisse 
auszeichnete, ist von der deutschen Industrie seit 
der Verwendung von Edelstahl zum Schmieden 
der Haarscheren übertroffen. 


Die feinsten und kleinsten Scheren sind die 
Stickscheren. Ihre zierliche Form hat zu 
mancherlei verschiedener Gestaltung Anlass ge- 
geben. Es sind einige Modelle von künstlerisch 
guter Form entstanden, die gleichzeitig ein glän- 
zendes Zeugnis der Handfertigkeit dem Solinger 
Facharbeiter ausstellen, der es versteht trotz 
Herstellung in Mengen die Feinheiten des Modells 
richtig und gleichmässig herauszuarbeiten und 
den Scheren die nadelfeine Spitze zu geben, 
wie sie von den Damen für Stickereien geliebt 
wird. 

Einige Scheren origineller Art bilden Tierge- 
stalten nach. Grosser Beliebtheit von Scheren 
dieser Art erfreut sich eigentlich nur die Storch- 
schere. Nickel- und Gold-, Präge- und Ziselier- 
arbeiten werden zur Verzierung der Stickscheren 
in reichem Mass verwendet. 


DieNagelpflegescheren (Manicurescheren) 
erfordern ein fast noch höheres Mass an Ge- 
schicklichkeit des Schleifers als die Stickscheren. 
Zur Feinheit der Form und der Spitze tritt hier 
noch die Rundung der Schneide nach oben. 
Nur langjährige Erfahrung ermöglicht die Her- 
stellung dieses neuerdings so beliebten Instru- 
ments. Einfachere Modelle dieser Scheren sind 
nicht gebogen, viele auch von kräftigerer Form 
und zum Schneiden von Nägeln usw. geeignet. 
Diese Art Scheren bildet den Übergang zu ähn- 
lich geformten chirurgischenScheren und 
Instrumenten, die in grosser Vielseitigkeit 
in bester Qualität gemacht werden. Besonderes 
Gewicht wird sowohl auf Verwendung von gutem 
Stahl als auf dauerhafte Vernickelung gelegt. 
Zahnärztliche und Operationszangen, Werkzeuge 
und grössere Operationszimmereinrichtungen 
werden geliefert. 

Einige leistungsfähige Fabriken stellen Haar- 
und Bartschneidemaschinen her, die in 
ihrer Güte die amerikanischen Fabrikate über- 
treffen. Für die Schneidplatten wird bei Quali- 
tätsware volle Garantie geleistet. 


> 


230 





Lederwaren-Fabrikation. 


In Verbindung mit der Stahlwaren - Industrie 
hat die Lederwaren-Fabrikation grosse 
Bedeutung gewonnen. Besonders die Nagelpfleg- 
Instrumente: Scheren, Haut- und Nagelzangen, 
die natürlich auch in Solingen gemacht werden, 
Feilen, Scalpellmesser, Hautdrücker, Nagelreiniger 
und Polierer mit Paste und Puder erfordern eine 
. geschmackvolle Aufmachung. Rollen, kleine und 
grosse Kästen in eigenartigster Form werden 
mit obigen Instrumenten gefüllt. Einfache Auf- 
machungen aus Papier, imitiertem Leder finden 
Käufer, weit beliebter sind aber die hochfeinen 
Etuis eus Schweins- oder Rindleder, mit Autolack 
oder Krokodilleder und in dem fein getönten 
Ecrasé. Innen werden nur feinste Seide und 
Sammet verwendet. Die verschiedenen Instru- 
mente sind häufig einheitlich mit Perlmutt, Schild- 
patt, Elfenbein oder buntfarbigem Galalith ver- 
sehen und wirken äusserst geschmackvoll und 
vornehm. In ähnlicher Weise gibt es Etuis für 
Scheren, von denen meist 3 oder 4, darunter eine 
Stick- und eine Knopflochschere, zu einem Satz 
gehören. Form und Material dieser Etuis sind 
stark der Mode und den Ansprüchen der ver- 
schiedenen Länder unterworfen. 

Das Etui in einfachster Form als Scheide 
vereinigt Papierschere und Brieföffner oder Radier- 
messer zu den beliebten Schreibtischgarnituren. 

Besondere Aufmerksamkeit wird von den 
Exporteuren der sauberen zweckdienlichen V er- 
packung der Ware gewidmet. Von der hoch- 
wertigen Markenware pflegt jedes einzelne Stück in 
Ol- oder Seidenpapier geschlagen zu sein. 6 oder 
ı2 Stück werden zusammen in kleine Schachteln 
verpackt und diese wiederum zu kleinen Paketen 

von 3, 6 oder 12 Dutzend vereinigt. Auf der 
Aussenseite der Pakete und Schachteln sind Art, 
Nummer, Grösse und Ausführung des Artikels 
bemerkt, so dass dem Ladenbesitzer übersicht- 
liche Lagerung seines Bestands ermöglicht wird, 
Viele Schachteln sind so eingerichtet, dass ein 
Stück des Inhalts von aussen sichtbar ist. Stahl- 
waren; welche in Länder südlich des Aquators 
geschickt werden, müssen der Witterungseinflüsse 
wegen gut eingefettet werden, auch wenn der 
Versand — wie üblich — in starken Holzkisten 
mit verlötetem Zinkeinsatz erfolgt. — Da die 
Schiffsfrachten nach Raummetern berechnet wer- 
den, so ist die Fracht für Stahlwaren im Ver- 
hältnis zum Wert gering. 

Die Leistungsfähigkeit der Solinger Industrie 
hat sich bei Gelegenheit der im Jahre 1920 auf- 
getretenen Hochkonjunktur gezeigt. Trotz der 
achtstündigeu Arbeitszeit und trotz der schäd- 
lichen Kriegsnachwirkungen auf Fleiss und Ge- 
schicklichkeit der Arbeiter sind ungeheure Mengen 
von Stahlwaren geschaffen worden. Mengen, wie 
sie vor dem Kriege niemals erzeugt wurden und 
auch wohl in nächster Zukunft nicht wieder ver- 
langt werden. Es soll nicht geleugnet werden, 
dass diese Massenerzeugung, bei der naturgemäss 
auch vicle ungeübte Kräfte mitwirkten, auf die 
Güte der Erzeugnisse einen nachteiligen Einfluss 
hatte. Diese Erscheinung ist jedoch jetzt voll- 
kommen überwunden, da sowohl die Gleich- 
mässigkeit des Stahls, als die äussere Aufmachung 
wieder der Vorkriegszeit entsprechen. Verstárkt 
wurde der nachteilige Einfluss verringerter Güte 
dadurch, dass viele dem Artikel fernstehende 
Gelegenheitskaufleute Solinger Ware kauften und 
in Unkenntnis der wahren Bedürfnisse auf Märkte 
brachten, die entweder andere Modelle oder an- 
dere Qualitäten und Aufmachungen verlangten. 





Die Solinger Stahlwaren - Industrie 





Es ist anzunehmen, dass diese das geregelte Ge- 
schäft störende Warenmengen inzwischen ver- 
schwunden sind. ° 

Die Preise der Solinger Erzeugnisse 
sind dem Rückgang, den die Preise der Roh- 
materialien erfahren haben, gefolgt und bewegen 
sich zurzeit wohl zwischen dem 15—20fachen 
des Friedenspreises, je nach Kursstand einem 
Aufschlag von o—30°/, auf die Goldmark- oder 
Auslandvaluta entsprechend. 

Als ausländische Konkurrenz für die So- 
linger Industrie kommen Sheffield in England, 
Thiers in Frankreich, Eskilstuna in Schweden, 
Bergamo in Italien und mehrere Fabriken in den 
Vereinigten Staaten und in Japan in Frage. Die 
englische und französische Konkurrenz hat wäh- 
rend des Krieges kaum an Ausdehnung gewonnen. 
Sie krankt in beiden Ländern an einer gewissen 
Schwerfälligkeit technischer Verbesserungen und 
steht Solingen an Lieferungsmöglichkeit und Preis- 
stellung weit nach. — In Schweden und den U.S. A. 
hat die Stahlwaren-Industrie wáhrend der langen 
Kriegsjahre einen erheblichen Aufschwung ge- 
nommen. Namentlich die Amerikaner haben sich 
auf einige Sorten Taschenmesser gut eingerichtet 
und liefern prompt. Über die Güte der Erzeug- 
nisse sind die Urteile je nach Anspruch geteilt. 
Rasiermesser- und Scherenfabriken sind wáhrend 
des Krieges ebenfalls entstanden oder vergróssert 
worden. Die grosse Nachfrage der Barbiere nach 
deutschen Messern und der Zustrom der Scheren 
stellt aber der Solinger Ware das beste Zeugnis 
aus. Japanische Ware scheint in Ostasien und Süd- 
amerika einen gewissen Markt gefunden zu haben, 
von dem sie nach dem Kriege allerdingsschon zum 
grössten Teil trotz der billigen Preise verdrängt ist. 

Um den vielfältigen Bedürfnissen der Solinger 
Industrie in Halbfabrikaten entsprechen zu kön- 
nen, haben sich mancherlei andere Industrie- 
zweige im Solinger Bezirk angesiedelt und sind 
zum Teil zu bedeutenden, das frühere Ziel weit 
überflügelnden Unternehmen geworden, die ihre 
Erzeugnisse im In- als Ausland absetzen. Andere 
Industrien fühlten sich durch den guten Arbeits- 
markt und die vielen geschickten Arbeitskräfte 
angezogen und gründeten ihre Werke in Solingen. 


Am nächsten steht der Industrie wohl die 


Erzeugung von Stahl 
und seine Verarbeitung in Walz- 
und Schmiedewerken. 


Stahl wird in verschiedener Güte für mancherlei 
Werkzeuge und in bester Qualität für Stahlwaren 
und als Edelstahl für Rasiermesser geschmolzen, 
geschmiedetundgewalzt. Diehiererzeugten Werk- 
zeugstähle geniessen Weltruf und sind auch zur 
Verwendung in manch anderer Industrie geeignet. 

Die meist in der Schwesterstadt Remscheid er- 
zeugten Werkzeuge werden zum Teil auch in So- 
lingen gemacht, wie z. B. Sensen, Sägen und Zangen. 

Nach dem Kriege ist die Herstellung von 
Alpakkabestecken in grösserm Umfang mit gutem 
Erfolg aufgenommen worden. Auch ns 
rasierapparate nach Art Gilette werden herge- 
stellt, zu denen die erforderlichen Klingen von 
anderen Solinger Spezialfabriken geliefert werden. 

In der Solinger Industrie sind etwa 30000 Ar- 
beiter beschäftigt, davon etwa 20000 in der 
Stahlwaren-Industrie. Arbeiter sowohl wie Fabri- 
kantenschaft sind beseelt von einem ungebrochenen 
Streben nach Tatigkeit, mach Arbeit, um den 
Ruf der alten Klingenstadt in der Welt zu halten 
und zu heben, und um ihr Teil zur Wiederauf- 
richtung Deutschlands beizutragen. 


Deutsch - amerikanische Gemeinschaftsarbeit im Überseeverkehr. 


231 


Deutsch-ameriKanische Gemeinschaftsarbeit 


im Überseeverkehr. 
Von Nauta. 


it der Wiederaufnahme des Passagierverkehrs 

Hamburg-New York durch den gemein- 
samen Dienst der Hamburg- Amerika - Linie und 
des Harriman-Konzerns hat dieses deutsch- 
amerikanische Schiffahrtsbündnis seine neueste 
weithin sichtbare Auswirkung erhalten. Sind es 
auch. vorerst allein amerikanische Schiffe, die 
den Verkehr auf der gemeinsamen Route ver- 
mitteln, so werden sich ihnen doch in Kürze 
deutsche Schiffe zugesellen. Ihr Hinzutreten, das 


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verharrender Staaten über alle politischen Hin- 
dernisse hinweg wieder die Hand zu gemein- 
samem Werk, zu gemeinsamem Wiederaufbau 
von Verkehrsbeziehungen, die die Grundlage 
einer neuen wirtschaftlichen Annäherung zwischen 
beiden Ländern zu werden bestimmt sind. 

Will man die Bedeutung des Hapag-Harriman- 
Vertrages für die deutsche wie die amerikanische 
Schiffahrt erkennen, so wird man sich zunächst 
die gewaltigen Veränderungen zu vergegenwárti- 


geg 


Abb. 33. Eröffnung des gemeinsamen Passagierdienstes der Hamburg - Amerika- Linie und der United American Lines. 
Die Ankunft des ersten Dampfers „Mount Clay“ in Cuxhaven. 


gegen Mitte des Jahres erfolgen dürfte, wird die 
Ausgestaltung des Dienstes zu einem Wochen- 
dienst möglich machen und die erste überseeische 
Passagierlinie schaffen, auf der deutsche und 
amerikanische Schiffe in gleicher Zahl und gleicher 
Tonnage in gemeinsamer, nach einheitlichem Plan 
sich vollziehender Verkehrsarbeit tätig sind. 
Ein Jahr etwa ist vergangen, seit sich die 
Vertreter der Hamburg- Amerika- Linie mit den 
leitenden Männern des Harriman-Konzerns zu- 
sammenfanden zu Verhandlungen, deren Ergebnis 
der zwischen beiden Gesellschaften heute be- 
stehende Vertrag war. In der Geschichte des 
Wiederaufbaues überseeischer Wirtschaftsbe- 
ziehungen nach dem Kriege wird dieser Vertrags- 
abschluss immer als ein erster erfreulicher Beweis 
wiedererwachenden wirtschaftlichen Solidaritäts- 
empfindens anerkannt und genannt werden. Zum 
ersten Male reichten sich hier private Reeder 
und Kaufleute zweier ehemals feindlicher und 
theoretisch noch im Kriegszustand zueinander 


en haben, die Krieg und Friedensvertrag in der 
Seegeltung beider Länder und in ihren Mitteln 
zur seewirtschaftlichen Betätigung herbeigeführt 
haben. Die deutsche Schiffahrt war durch den 
Krieg und mehr noch durch die Versailler Be- 
stimmungen aus dem Weltverkehr nahezu aus- 
geschaltet und vor die Notwendigkeit eines neuen 
Anfanges von Grund aus gestellt. Eine An- 
knüpfung an früheres war kaum möglich. Kein 
Seeschiff über 1600 Register-Tonnen brutto war 
ihr geblieben, ihre überseeischen Betriebsein- 
richtungen waren vom Feinde sequestriert, ihre 
Linien von fremden Flaggen befahren, ihre Ge- 
schäftsverbindungen im Auslande durch plan- 
mässige Verhetzungen zerstört. Einer Wieder- 
aufrichtung aus eigener Kraft standen nahezu 
unüberwindliche Hindernisse entgegen. Der 
Staat, der Hauptschuldner der Reedereien, war 
in seiner Finanzkraft durch ungeheure Schulden- 
last geschwächt und seiner politischen Macht- 
fúlle, an der die deutsche Schiffahrt ehemals 


232 


einen so wertvollen Rückhalt fand, beraubt. Die 
deutschen Werften waren durch Rohstoffmangel 
und die aus den innerpolitischen Kämpfen sich 
ergebenden Schwierigkeiten in ihrer Leistungs- 
fähigkeit beschränkt, ihre Lieferungsfähigkeit war 
durch drückende Bauverpflichtungen, die der 
Friedensvertrag vorsah, in Frage gestellt. Ob 
in absehbarer Zeit ein nennenswerter Ersatz des 
verlorenen Schiffsraumes zu erwarten war, blieb 
völlig ungewiss. Wollten die deutschen Gross- 
Reedereien nicht ihre unter schweren Opfern 
während der langen Kriegszeit erhaltenen heimi- 
schen Organisationen der Gefahr des Verfalles 
aussetzen und ihre Betriebseinrichtungen weiter 
ungenutzt lassen, so mussten sie nach Hilfe von 
aussen Umschau halten. 

Hier erschien eine Verbindung mit der jungen, 
wáhrend des Krieges emporgewachsenen Schiff- 
fahrt Amerikas als das Nächstliegende. Die 
riesige Entwicklung der amerikanischen Werft- 
industrie, der die Entente ihre Rettung aus lähmen- 
der Schiffsraumnot verdankte, hatte den Ver- 
einigten Staaten in wenigen Kriegsjahren die 
Seeschiff - Flotte gegeben, deren bisheriges Fehlen 
der Nationalstolz des Amerikaners stets als eine 
schmerzliche Lücke im Rüstzeug der heimischen 
Volkswirtschaft empfunden hatte. Ein gewaltiges 
Schiffsmaterial war geschaffen, aber zu seiner 
Verwertung in nutzbringender Friedensarbeit 
fehlte das, was der deutschen Schiffahrt als ein- 
ziger Besitz aus dem Zusammenbruch geblieben 
war, Reeder, die mit allen Forderungen des über- 
seeischen Verkehrs vertraut waren, und Betriebs- 
organisationen, die auf alle Bedürfnisse der Uber- 
seefahrt eingestellt waren. Der Einsicht des 
Amerikaners entging nicht, dass hier Ergánzungs- 
möglichkeiten waren, bei denen beide Parteien 
gewinnen mussten. Man trat an den New Yorker 
Vertreter der Hamburg-Amerika-Linie heran mit 
der Anfrage, ob ein Zusammenwirken moglich 
sei. ,Wir haben die Schiffe, ihr habt die Er- 
fahrung, lasst uns gemeinsam arbeiten.“ 

Die deutsche Gesellschaft erklärte ihre Be- 
reitwilligkeit. Ihre Anlehnung an den ausländi- 
schen Reedereikonzern konnte nur dann den 
deutschen Interessen entsprechen, wenn ihre 
Selbstándigkeit voll gewahrt blieb. Sie traf des- 
halb alle Massnahmen, die gegen ein Überwiegen 
fremden Einflusses Sicherheit gewähren konnten, 
Satzungsänderungen forderten für Aufsichtsrat 
und Vorstand die Vorbedingung deutscher Staats- 
angehörigkeit, und die Ausgabe von Vorzugs- 
aktien schuf den notwendigen Schutz gegen 
Überfremdung. Eine weitere unerlässliche Forde- 
rung war: voile Gleichberechtigung. Beide Par- 
teien hatten — diese Erkenntnis war hüben wie 
drüben vorhanden — Gleichwertiges zu bieten; 
der Amerikaner seinen Schiffsreichtum, seine 
finanzielle Stärke; der Deutsche seine Vertraut- 
heit mit der Mannigfaltigkeit des Überseeverkehrs, 
scine in mühevollem Aufstieg errungenen Erfah- 
rungen, seine weit verzweigte bewährte Geschäfts- 
organisation, seinen Stamm in jahrelanger Praxis 
geschulter Mitarbeiter. Gleichberechtigt sassen 
die beiden Parteien am Verhandlungstisch, und 
volle Gleichberechtigung wurde Grundlage und 
leitender Gedanke des zwischen ihnen verein- 
barten Vertrages. 

Das für die Dauer von 20 Jahren geschlossene 
Abkommen sieht die allmähliche Wiederbelebung 
des Verkehrs auf allen früheren Hapag-Routen 
— ausser den nach dem fernen Osten, für die 
damals bereits Vereinbarungen zwischen der 
Hamburg - Amerika-Linie und englischen Linien 
bestanden — durch einen gemeinsamen Dienst 


Deutsch - amerikanische Gemeinschaftsarbeit im Überseeverkehr. 


der beiden Vertragskontrahenten vor, in dem 
jede Partei eigenen oder gecharterten Schifis- 
raum bis zur Hälfte der erforderlichen Gesamt- 
tonnage einzustellen berechtigt ist. Damit ist 
eine Interessen- und Arbeitsgemeinschaft begrün- 
det, keine Kapitalgemeinschaft, durch die die 
Unabhängigkeit des finanziell schwächeren Part- 
ners vielleicht gefährdet werden könnte. Der 
Vertrag wurde so abgefasst, dass für den Fall, 
dass sich später in Einzelheiten die Notwendig- 
keit einer Revision herausstellen sollte, Ande- 
rungen vorgenommen werden können, die der 
Billigkeit entsprechen und die Gleichberechtigung 
beider Interessenten wahren. 

-Auf Grund des Abkommens konnten bis heute 
ausser der eingangs erwähnten Passagierlinie 
Hamburg-New York eine wöchentliche Fracht- 
linie Hamburg-New York, regelmässige Fahrten 
zwischen Hamburg, Philadelphia und Baltimore 
und ein 14taglicher Frachtdienst Hamburg- 
Südamerika eingerichtet werden. An diesen 
gemeinsamen Diensten nahm die Hamburg- 
Amerika-Linie zuerst nur mit Charterdampfern 
teil. — Jetzt hat sie begonnen, wieder eigene 
Schiffe in Fahrt zu setzen. In dem Masse, wie 
sich ihre Tonnage vergrössert, wird auch ihr 
Anteil schrittweise wachsen bis zur Ausnutzung 
ihrer vollen Verkehrsquote. 

Der Vertrag hat in der kurzen Zeit seincr 
Wirksamkeit seine Bedeutung für beide Vertrags- 
kontrahenten klar erwiesen. Er hat der Ham- 
burg-Amerika Linie die Möglichkeit gegeben, 
ihren Betrieb in grösserem Umfange und schneller 
als es ihr wohl sonst vergönnt gewesen wäre, 
wieder mit Arbeit zu erfüllen. Die weitverzweigte 
Geschäftsorganisation ist wieder in den Dienst 
des Weltverkehrs gestellt worden, und damit vor 
der Gefahr eines allmählichen Verfalles bewahrt 
geblieben. Für den amerikanischen Partner be- 
deutet das Bündnis mit der deutschen Gross- 
Reederei die mühelose Anteilnahme am deut- 
schen Seeverkehr; es erspart ihm die Missgriffe 
und Verluste, mit denen er hätte rechnen müssen, 
wenn er zu schrittweisem eigenen Aufbau seines 
Geschäftes genötigt gewesen wäre. Bei Eın- 
richtung und Ausgestaltung seines Betriebes stehen 
ihm die Erfahrungen eines Verbündeten, der auf 
eine fast 75jáhrige Tätigkeit im Uberseeverkehr 
zurückblicken kann, zur Seite, ein Umstand, der 
angesichts des sich verschärfenden Konkurrenz- 
kampfes in der Weltschiffahrt seinen besonderen 
Wert erhält. Vor allem aber — und das ist ein 
Vorteil, an dem beide Partner in gleichem Masse 
teilnehmen — sichert ihr Zusammengehen dem 
wieder aufgenommenen Verkehrsdienst das Inter- 
esse und das Vertrauen der Verlader diesseits 
und jenseits des Ozeans. Der amerikanische 
Reeder überlässt die Abfertigung der Schiffe, die 
er zum alten Kontinent herübersendet, dort der 
deutschen Gesellschaft, die wiederum ihm die 
Wahrnehmung ihrer amerikanischen Interessen 
überlässt. Und der deutsche Verlader, der mit 
amerikanischen Schiffen verfrachtet, lässt ebenso 
wie der amerikanische Verlader, der mit deut- 
schen Schiffen expediert, seine Güter durch die 
Hand der ihm bekannten und geschäftlich ver- 
bundenen heimischen Reederei gehen und über- 
trägt sein Vertrauen auch auf die neue Inter- 
essengemeinschaft. So trägt das Hapag-Harriman- 
Bündnis dazu bei, wieder eine Atmosphäre des 
Vertrauens zwischen zwei Völkern zu schaffen, 
die wirtschaftlich aufeinander angewiesen sind. 
Diese gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit 
ist heut stärker denn je. Nach der ungeheuren 
Steigerung, die Amerikas Produktionskräfte wäh- 











Deutsch - amerikanische Gemeinschaftsarbeit im Uberseeverkehr. — Ein neues Leichtmetall. 


rend des Krieges erfahren haben, wird der ameri- 
kanische Aussenhandel auf das deutsche Absatz- 
gebiet dauernd nicht verzichten wollenund können. 
Für Deutschland andererseits ist durch die er- 
neute Blockade, die die Entente zur Erzwingung 
unmöglicher Reparationsforderungen gegen uns 
aufzurichten im Begriff ist, eine Erweiterung seiner 
Wirtschaftsbeziehungen zu den Vereinigten Staa- 
ten unerlässlich geworden. So drängen die wirt- 
schaftlichen Interessen hier wie drüben gebiete- 
risch zu einem Abbau der Schranken, die einem 
Miteinanderarbeiten heute noch im Wege stehen. 


233 


Im Hapag-Harriman-Abkommen hat private 
Initiative diese Hindernisse beseitigt. Es ist eine 
deutsch-amerikanische Gemeinschaftsarbeit in 
der Schiffahrt geschaffen, die beiden Partnern 
zum Nutzen gereicht und ihre Stellung im Welt- 
verkehr stärkt. Je mehr sich ihr Wirkungskreis 
erweitern wird, desto erfolgreicher wird sie den 
konvergierenden Interessen der beiden Länder 
dienen, desto förderlicher die künftige Gestal- 
tung der wirtschaftlichen Zusammenhänge zwi- 
schen ihnen beeinflussen können. 


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Ein neues Leichtmetall. 
Von Ing. Constantin Redzich. 


as von der „Chemischen Fabrik Gries- 

heim-Elektron‘ in Frankfurt a. M. her- 
gestellte „Elektronmetall‘“, ein Sammelname 
für eine Reihe Magnesiumlegierungen (über 80%, 
Gewichtsteile Magnesium) mit geringen Zusátzen 
anderer Metalle, z. B. Zink, ist ein dem Aluminium 
ähnliches, silberweisses Legierungsprodukt, das 
sich infolge seines geringen Gewichts vorzugs- 
weise zur Herstellung solcher Gegenstände 
(Giessen und Pressen von Maschinenteilen u. dergl.) 
eignet, die bei hoher Widerstandsfähigkeit mög- 
lichst geringes Gewicht aufweisen sollen. 

„Elektronmetall‘ ist äusserlich dem Aluminium 
áhnlich, jedoch von mehr silberweisser Fárbung. 
Bei lángerem Liegen an der Luft überzieht es 
sich, etwa wie Zink, allmáhlich mit einer dünnen 
Oxydschicht, ist im übrigen aber, wie dieses, 
gegen Witterungseinflüsse vollkommen beständig. 
Im Gegensatz zu Aluminium ist Elektronmetall 
ganz unempfindlich gegen Alkalien und Laugen; 
von organischen und mineralischen Sáuren und 
Salzen und deren wässerigen Lösungen wird es 
jedoch angegriffen. Gegen Benzin, Petroleum, 
Oel und Fett bestándig, ist es nur für Gegen- 
stände, die dauernd mit Wasser in Berührung 
kommen, nicht empfehlenswert, da Gebrauchs- 
wasser fast immer Salze und organische Säuren 
enthält. 

Das mittlere spezifische Gewicht des Elektron- 
metalls ist 1,8 gegen 2,7 des Reinaluminiums; 
letzteres ist also noch um 50°), schwerer als 
jenes. Aluminiumguss, der allgemein aus legier- 
tem Aluminium hergestellt wird und durchweg 
ein spezifisches Gewicht von etwa 3,0 aufweist, 
ist demnach um etwa 66"|, schwerer als Elek- 
tronguss. 

Den verschiedenen Anforderungen an Zug- 
festigkeit, Dehnung und Härte entsprechend wird 
Elektronmetall in verschiedenen Legierungen her- 
gestellt. Die Zugfestigkeit des vergüteten Metalls 
beträgt zwischen 25—35 kg für i qmm bei25—10° , 
Dehnung. Die Zugfestigkeit gegossener Stücke 
etwa 12—14 kg bei 4— 2", Dehnung. 

Die Bearbeitung des Elektronmetalls mit schnei- 
denden Werkzeugen ist gegenüber dem Aluminium 
eine besonders vorzügliche, schon weil es die 
jenem eigene Eigenschaft des „Schmierens“ ent- 
behrt. Glatte, blanke Flächen nach dem Ab- 
drehen, scharfe, saubere Gewinde, Press-, Druck- 
und Walzbarkeit im warmen Zustande verleihen 
ihm eine Vielseitigkeit in der Verwendung, wie 
es kein anderes Metall aufzuweisen hat, zumal 
bei angewärmten Werkzeugen alle nur denkbaren 
Formen herzustellen sind, beispielsweise zieh- 


bare Bleche, allerdings nur auf beschränkte Tiefen. 
Infolge dieser Vorzuge kann Elektronmetall als 
vollwertiger Ersatz für Aluminium, Kupfer, Mes- 
sing, also zur Herstellung solcher Gegenstände 
betrachtet werden, die nicht mit ätzenden Flüssig- 
keiten oder Dämpfen in Berührung kommen. Ein 
sehr beachtenswerter Vorteil ist übrigens noch 
seine äusserst billige Bearbeitungsmöglichkeit, 
die fertige Werkstücke unter weit geringeren 
Kosten produzieren lässt als z.B. bei Eisen. Zum 
Vergleiche sei angeführt, dass Elektronmetall im 
Rohzustande wohl Eisen um das Vierzehnfache 
im Preise übersteigt, das Werkstück sich jedoch 
nach der vollendeten Bearbeitung um !/,, billiger 
stellt als der gleiche Eisenteil. 

Zurzeit werden folgende Legierungen herge- 

stellt: 

ı) CM-Sonderlegierung für 
zwecke; 

2) Z ı-Legierung mit verbesserten Fertigkeits- 
werten; meist verwendbares Metall für 
mechanische Bearbeitung; 

3) AZM-Legierung für solche Zwecke, bei 
denen es auf besonders hohe Festigkeit 
ankommt; 

4) Gusslegierung von hoher Dehnung. 


Stromleitungs- 


Reinaluminium ist etwa 50° , 


Aluminiumguss , ,„  65°,\schwerer als 
Eisen » "e 330%, ‘Elektron. 
Rotguss PETE y 


Der Schmelzpunkt des Elektronmetalls liegt 
zwischen 630 und 650° C, also etwa gleich hoch 
mit dem des Aluminiums. Eine Eigentümlich- 
keit besteht jedoch in der Tatsache, dass es 
zwar durch alkalische Flüssigkeiten nicht ange- 
griffen wird, aber gegen alle Säuren, auch gegen 
sehr schwache organische, ausserordentlich emp- 
findlich, gegen Witterungseinflüsse, atmosphä- 
rische Niederschläge usw. wiederum. beständig 
ist. In dieser Beziehung verhält es sich also 
günstiger als Eisen. 

Bisherige Versuche, Elektronmetalle zu löten, 
führten noch zu keinem günstigen Ergebnis, doch 
ist eine autogene Schweissung möglich unter Ver- 
wendung des eigens hierzu hergestellten Schweiss- 
pulvers „Autogal“. 

Die Festigkeitseigenschaften des Metalls sind 
jedoch so aussergewöhnliche, dass Risse und 
Brüche kaum denkbar erscheinen, denn was dem 
Elektronguss zugemutet werden kann, dürfte bei 
keinem anderen Gussmetall auch nur annähernd 
möglich sein. So z. B. lassen sich Röhren in 
kaltem Zustande zu Winkeln biegen, hohle Guss- 


234 


stücke gegeneinanderdrücken, Zylinderformen 
mit dem Hammer zusammenschlagen und Stäbe 
zu Spiralen drehen, wie man etwa mit Bleimassen 
umzugehen vermag, ohne ein Zerreissen be- 
fürchten zu müssen. Dagegen haben harte 
Elektronbleche wiederum eine gute Federkraft 
und das Stanzen bietet keine Schwierigkeiten. 

Temperaturen unter o? C haben keinen wesent- 
lichen Einfluss auf die Streck- und Bruchgrenze. 
Die maximale Erniedrigung der Streckgrenze be- 
trägt 3,6%/,, die der Bruchgrenze 5°,, und die 
der Bruchdehnung 4?/,. Die Versuche bei höheren 
Temperaturen sind noch nicht abgeschlossen, 
doch lásst sich heute bereits eine Minderung der 
Streck- und Bruchgrenze bei Temperaturen von 
-L 100° C mit 12%/,, bzw. 5 °;, voraussagen, bei 
starker Erhóhung von Dehnung und Kontraktion. 

Im frisch bearbeiteten Zustande stark silber- 
glänzend und leicht auf Hochglanz polierbar, 
überziehen sich die Einzelteile unter dem Einfluss 
freier Luft allmählich mit einer grauen Haut, die 
das Äussere unansehnlich erscheinen lässt. Aus 
diesem Grunde wird man sie mit einem Schutz- 
überzug versehen, der je nach seiner Widerstands- 
fáhigkeit das Metall gegen Witterungseinflüsse, 
Wasser oder selbst gegen vorübergehende Ein- 
wirkung stärkerer Säuren zu schützen vermag. 
Als bekannte Mittel hierzu werden empfohlen: 
Einfetten mit wasserfreier Vaseline, Uberziehen 
mit Leinölfirnis mit eventuellem nachträglichen 
Einbrennen, Anstreichen mit Ölfarbe, Asphalt- 
lack, ferner Erzeugen einer festhaftenden Schicht 
von Metalloxyden (Farbigbeizen). Spachteln, 
Lackieren, Emaillieren und Galvanisieren. 

Die Festigkeitseigenschaften des erwähnten 
Gusses hängen, wie bei anderem Metallguss, be- 


Ein neues Leichtmetall. 





sonders auch bei Aluminium, von der Wand- 
stärke, der Geschwindigkeit der Abkühlung und 
nicht zuletzt von der Reinheit des Metalls ab. 
Im Mittel weist Elektronmetallguss, hergestellt 
aus der sogenannten A Z-Legierung, eine Zer- 
reissfestigkeit von 12—15 kg/mm? und eine Deh- 
nung von 2—4"/, auf. Dickwandige und dem- 
nach langsamer abgekühlte Stücke haben eine 
um 2—3 komm" geringere Festigkeit bei etwa 
3°/, Dehnung. Die Querschnittskontraktion hat 
etwa die gleichen Werte, wie sie für die Dehnung 
ermittelt wurden. Die Proportionalitätsgrenze 
liegt bei 4 und 5, die Fliess- (Streck-) Grenze bei 
8—1o kgimm* Die Härteprüfung nach Shore 
ergab Werte zwischen 10%—152. 

Die elektrische Leitfähigkeit der Gusslegierung 
beträgt etwa 15—16 (Kupfer = 57), die Wärme- 
leitfähigkeit 0,32, die spezifische Wärme 0,24. 

Obwohl Elektronmetall zurzeit noch wenig 
bekannt ist, hat es sich in einer Reihe von In- 
dustriezweigen bereits eingeführt. Zu erwähnen 
ist die Kamerafabrikation, die Herstellung künst- 
licher Glieder, seine Verwendung im Kraftwagen- 
bau, in der Textil-Industrie, Kammfabrikation, 
Rechen- und Schreibmaschinenkonstruktion, als 
Ersatz für Horn- und Beinwaren, Spinnerei- 
maschinenteile, Webstühle, Reisekoffer und Sättel, 
ebenso im Baugewerbe zu Tür-, Fenstergriffen, 
Schlüsseln, Lampen, Möbelbeschlägen usf. 

In der Elektrotechnik dient es allen möglichen 
Zwecken, wie zur Herstellung von Bürstenhaltern, 
Kohlenklemmen, Wickelungsstutzen, Pressplatten 
für Transformatoren und sonstige Teile, die keine 
magnetischen Eigenschaften besitzen dürfen, ferner 
Gehäuse für tragbare Kleinmotoren, Teile für 
Strassenbahnwagen, Grundplatten für elektrische 











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, LOKOMOTIVEN 


III 


JEDER BAUART, 
GRÖSSE.SPURWEITE 














Ein neues Leichtmetall. — Das Ausland und die Leipziger Messe. 


Zähler, ferner als Pressteile für Ventilations- 
schaufeln, Klemmen, Schrauben, Schalterteile. 
An Stelle von Aluminium und Kupfer dienen 
Schienen aus, Elektronmetall, wegen seiner ge- 
ringeren Schwere, leichterer Bearbeitbarkeit und 
minder umständlicher Bezugsfähigkeit. 

Das elektrische Leitvermögen bewegt sich je 
nach der Legierung zwischen ı2 und 22 reziproken 
Ohm pro ccm (Kupfer = 56, Aluminium = 33), 
bei einem Temperaturkoeffizienten von 0,0038. 
Die für Stromleitungszwecke hauptsächlich in 
Betracht kommende Legierung CM hat also etwa 
70 ?/, der Leitfähigkeit von Reinaluminium; da 
aber das spezifische Gewicht um etwa 50°’, höher 
ist, als das der Legierung CM, so ist für eine 
bestimmte Stromstärke das erforderliche Lei- 
tungsgewicht bei Elektronmetall trotzdem etwas 
geringer als beim Aluminium. 

Noch günstiger liegen die Verhältnisse dem 
Kupfer gegenüber. Wenn auch bei Verwendung 
von Elektronmetall der 2,6fach grössere Quer- 
schnitt zu nehmen ist, als beim Kupfer, so ist 
die Elektronschiene dann doch nur halb so schwer 
wie eine Kupferschiene mit dem gleichen Leit- 
vermögen. Die Handhabung der Schienen beim 
Montieren ist hierdurch angenehmer; hinzu kommt 
als weiterer Vorteil das leichtere Bohren und 
Schneiden. 

Als Stromleiter hat sich Elektronmetall eben- 
falls bestens bewährt, denn es befinden sich auf 
einigen Werken Leitungen für Stromstärken bis 


239 


zu 20000 Amp. im Dauerbetriebe, ohne dass sich 
irgendwelche Anstände ergeben hätten. Diese 
Fähigkeit gewährleistet eine Verwendungsmög- 
lichkeit für Schleifbügel der Strassenbahnen, weil 
diese dem Aluminium gegenüber zufolge ihres 
geringeren Gewichts weniger dem Abschleudern 
ausgesetzt sind und somit die Oberleitung weniger 
beanspruchen, Brüche also seltener auftreten. 
Nicht geeignet’ ist dagegen Elektronmetall- 
draht als Ersatz des gewöhnlichen Schwach- 
stromdrahtes, zu Lichtkabeln und ähnlicher dün- 
ner, meist umsponnener Leitungsdrähte. 
Welche Verwendungsmöglichkeiten sich für 
das neue Leichtmetall im Baugewerbe bieten, 
liegt offenkundig zutage. Überall dort, wo schon 
lange nach einem Ersatz für das allzuschwere 
Eisen, bzw. des in gewissen Fällen ungeeigneten 
Aluminiums Umschau gehalten wurde, wird Elek- 
tronmetall schnellstens eingeführt werden können. 
Bei hochragenden Bauwerken, Türmen, Gitter- 


 masten für Überlandleitungen, Schwebebahnen, 


Kranbauten, Drehbrücken, ungezählten anderen 
Fällen wird man Elektronleichtmetall bevorzugen. 

Im speziellen steht aber auch dem Motoren- 
bau nicht nur für Luftschiffe und Flugzeuge eine 
grosse Zukunft bevor, sondern überhaupt der 
Fabrikation von Maschinen und Apparaten für 
solche Zwecke, bei denen neben geringstem Ge- 
wicht auf grösste Widerstandsfähigkeit beson- 
derer Wert gelegt wird. 


= i 1% 


Das Ausland und die Leipziger Messe. 


De Leipziger Frühjahrsmesse im März wies 13000 

Aussteller auf, während sich die Zahl der Ein- 
käufer auf etwa 130000 belief. Es sind das Rekord- 
ziffern, mit denen man im Hinblick auf die ungeklärte 
politische Lage — der Messbeginn fiel mit den Lon- 
doner Verhandlungen zusammen — kaum gerechnet 
hatte. Ganz besonders stark war das Ausland ver- 
treten. Mehr als 25000 Ausländer hatte die Messe 
nach Leipzig gezogen, eine Beteiligung, die noch auf 
keiner der bisherigen Messen erreicht worden ist. Die 
meisten Auslandsbesucher stammten naturgemäss aus 
den europäischen Ländern, insbesondere aus den ehe- 
mals verbündeten und den neutralen Staaten. Aber 
auch die Kaufleute aus den Ententestaaten, so aus 
England, Italien und Belgien, hatten den Weg zur 
Leipziger Messe zurückgefunden, was erhoffen lässt, 


dass auch in den früheren Feindstaaten die ernsthaften 
Kaufmannskreise eine Verständigung und wirtschaft- 
liche Annäherung anstreben. Dass auch aus Übersee, 
aus Nord- und Südamerika, Japan, China, Afrika usw. 
zahlreiche Besucher eingetroffen waren, ist besonders 
erfreulich, Man kann daraus schliessen, dass Leipzigs 
Stellung als Zentralmarkt des internationalen Handels 
noch immer in Geltung ist und dass diese grosse 
Musterschau mit ihrer einzigartigen Form des Geschäfts- 
verkehrs auch weiterhin die Einkäufer aus aller Welt 
anziehen wird, da diese sich bewusst sein werden, 
dass ihnen ein so vollkommener Überblick über die 
Marktlage in ihrem Geschäftszweig, über Neuheiten 
und Preise und damit die Gelegenheit, vorteilhaft ihren 
Bedarf zu decken, nirgends in gleicher Weise geboten 
wird. Die Auslandsbesucher begnügten sich auch nicht 












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236 Das Ausland und die Leipziger Messe. — Kleine Nachrichten. 


damit, sich zu vergewissein, dass die deutsche In- 
dustrie wieder qualitativ das Höchste zu leisten ver- 
mag, sondern tätigten auch beträchtliche Geschäfts- 
abschlüsse. Besondere Beachtung wurde von ihnen 
auch der seit diesem Frühjahr wieder in zeitlicher Ver- 
bindung mit der Allgemeinen Mustermesse stattfinden- 
den Technischen Messe entgegengebracht, auf der fast 





ale bedeutenderen deutschen Firmen als Aussteller 
vertreten waren, um hier das Neueste und Beste der 
Technik vorzuführen. Auf der Herbstmesse (28. August 
bis 3. September) dürfte das Interesse des Auslandes 
für die Leipziger Messe in noch verstürktem Masse ia 
Erscheinung treten. Pr. 


Kleine Nachrichten. 


Britische Anerkennung deutscher Han- 
delstátigkeit in Kamerun. Unter der Über- 
schrift , Handelsmoglichkeiten in Kamerun“ bringt die 
Zeitung ,Westafrica einen Artikel ihres Korrespon- 
denten, in dem für uns verschiedene Eingeständnisse 
über die Mängel der jetzigen Zustände von Interesse 
sind. Es wird zugegeben, dass seit dem Verschwinden 
der deutschen Handelsfirmen nur sehr wenig von seiten 
des britischen Mandators zur Erschliessung der Kolonie 
getan ist. Der Grund hierfür sei in der Ungewissheit 
der endgültigen Bestimmung über die Zugehörigkeit 
Kameruns zu suchen, Das Einziehen der Kopfsteuer 
sei mit den grössten Schwierigkeiten verbunden ge- 
wesen, da infolge Abwesenheit europäischer Nieder- 
lassungen keine Verdienstmöglichkeiten - bestanden. 
Die Eingeborenen erwarten mit Ungeduld die Wieder- 
kehr der europäischen Firmen. Sie hätten die 
alten deutschen Firmen, deren billige 
Warenvonihnen geschätzt waren, verloren 
und keinen Ersatz dafür bekommen, Es 
sei nur gerecht, festzustellen, dass der 
Kameruner Eingeborene jetzt einsieht, 
dass, obwohl der Deutsche ein strenger 
Lehrmeister gewesen sei, seine Handels- 








organisation den oberflächlichen und un- 
sicheren Methoden jetziger britischer Fir- 
men unendlich vorzuziehen sei. Es wird 
dann in dem Artikel der Vorschlag gemacht, man 
solle den Eingeborenen nicht nur als Arbeiter und 
Käufer von Waren benutzen, sondern ihn auch finanziell 
an der Entwicklung der Pflanzungen teilnehmen lassen. 
Interessant ist für uns dann noch die Feststellung, 
dass die deutsche Mark sich noch heute 
dort als Zahlungsmittel erhält und beson- 
ders der Eingeborene seinen Lohn noch 
immer in Markzahlung verlangt. In diesem 
Artikel hat die sonst nicht gerade deutschfreundliche 
»Westafrica^ uns unbewusst ein weiteres Kapitel zur 
Widerlegung der Behauptung der Unfähigkeit deut- 
scher Kolonisation geliefert. 

Ausfuhr von deutschem Schwerspat 
nach Amerika. Nach Berichten amerikanischer 
Farbenfabriken treffen jetzt regelmässig grosse Sen- 
dungen Schwerspat aus Deutschland im New Yorker 
Hafen ein, der fürdie Herstellungvon Farben 
dient. Die deutsche Ware ist billiger als das 
amerikanische Produkt, das grösstenteils aus dem 
Staate Missouri kommt. Die hohen Frachtsätze sowie 





LEIPZIGER MUSTERMESSE 


MIT TECHNISCHER MESSE LL BAUMESSE 
Der größte internationale Warenmarkt der Welt — 


BESUCH DER.LETZTEN FRÜHJAHRSMESSE: 


Uber 14 000 


ler- Über 150 ooo Einkäufer” 


Darunter etwa 25 ooo Ausländer 
HERBSTMESSE VOM 28. AUGUST BIS 3. SEPTEMBER 1921 
AUSKUNFT ERTEILT DAS MESSAMT FUR DIE MUSTERMESSEN IN LEIPZIG 








OM ANNES TISC"C"HOLD LEıIPrL'6© 











Kleine Nachrichten. — Bücherbesprechungen. 


die Arbeitslöhne in den einheimischen Gruben haben 
die Preise für Schwerspat so in die Höhe getrieben, 
dass deutsche Exporteure in der Lage sind, das gleiche 
Material zu einem um 5 bis 10 Dollar niedrigeren 
Preise für die Tonne als das amerikanische Erzeugnis 
zu liefern. 

Deutsche Zündmagnete in England. 
Von jeher standen die deutschen Zündmagnete für 
Explosionsmotoren in aller Welt in hohem Ansehen. 
Man geht nicht zu weit, wenn man sagt, dass Deutsch- 
land auf diesem Gebiete die Monopolisierung 
der ganzen Welt verwirklicht hatte. Mit dem 
Ausbruch des Krieges sahen sich vor allem die krieg- 
führenden Staaten vor die Notwendigkeit gestellt, die 
Erzeugung dieses ,,Massenartikels', der für jedes 
Flugzeug, für jeden Kraftwagen und viele Kleinmo- 
toren unerlässlich war, selbst in die Hand zu nehmen, 
Kurz nach Ausbruch des Krieges, als vornehmlich 
England den Mangel des guten deutschen Bosch- 
Magneten bitter fühlte, wollte Lord Kitchener der Not 
mit dem kurzen Befehl: ‚Rolls-Royce hat 10000 Stück 
zu bauen“ abhelfen, doch das ging nicht so leicht. 
Allerdings fertigte England im Kriege täglich 1000 Stück 
dieser wichtigen Hilfsmaschinen für Verbrennungs- 
motoren an, aber sie waren äusserst mangelhaft. 
Man musste eben für jeden deutschen Zündmagneten 
mehrere englische oder amerikanische in. Rechnung 
bringen. Mit Interesse kann man jetzt nach Beendi- 
gung des Krieges beobachten, wie die Nachfrage 
nach guten deutschen Zündmagneten sofort wieder 
schnell stieg. Natürlich berünstigt unser niedriger 
Geldwert die Einfuhr dieser wie aller industriellen 
Erzeugnisse, aber in letzter Zeit wird der Bedarf an 
Zündmagneten immer mehr aus Deutschland als aus 
dem eigenen Lande gedeckt, so dass die Regierung 
schon an ein Gesetz zur Einschränkung dieses Spezial- 
artikels denkt, da die englischen einschlügigen Firmen 
nicht mehr konkurrenzfähig bleiben können. 

Die deutsche Einfuhr nach Schweden. 
Das schwedische Kommerzkollegium veröffentlicht 
eine vergleichende Einfuhrstatistik für die Jahre 1913 
bis 1920 für die bedeutenderen Warengruppen unter 


d 


zeug, alkoholische Getränke und dergl. 


237 


Berücksichtigung der Herkunftslinder. Neben der 
kräftigen Einfuhr der Vereinigten Staaten ist nach 
„Svensk Handelstidning‘‘ bei dieser Statistik beson- 
ders die Entwicklung der deutschen Einfuhr von 
Interesse. In der Textilbranche sei der deutsche 
Import nicht. so erdrückend, wie man nach den Ausse- 
rungen der schwedischen Industriellen angenommen 
habe, wenn er auch in einzelnen Gruppen recht be- 
deutend sei. Beherrschend tritt die deutsche Einfuhr 
besonders für Lederwaren, wie Brieftaschen und Reise- 
utensilien hervor, ferner für Fensterglasfabrikate und 
ganz besonders für Produkte der Eisen- und Stahl- 
Industrie und in der Maschinenbianche. 
Verdrängung des japanischen Spiel- 
zeuges durch deutsches. Wie „Japan Chro- 
niçle berichtet, beginnt die während des Krieges 
hochentwickelte Spielzeugausfuhr Japans neuerdings 
empfindlich unter dem deutschen Wettbewerb 
zu leiden. Schon im Juli v. J. seien die Preise um etwa 
50 v. H. zurückgegangen, und vor der letzten Weih- 
nachtssaison habe Deutschland grosse Mengen 
Spielzeugs zu so niedrigen Preisen auf den eng- 
lischen und amerikanischen Markt geworfen, dass 
Japan damit nicht konkuriieren könne. Die Lage 
gestalte sich für die japanische Spielzeug - Industrie 
immer ungünstiger. 
ber den Wettbewerb zwischen iapa- 
nischen und deutschen Waren auf dem in- 
dischen Markt berichtet ,,Japan Chronicle": Der 
deutsche Handel habe vor dem Kriege in Indien eine 
einflussreiche Stellung innegehabt, aber man habe nicht 
damit gerechnet, dass schon wenige Jahre nach Be- 
endigung des Krieges deutsche Waren in solchem 
Umfange wieder in Indien erscheinen würden.  Be- 
sonders handele es sich um deutsche Eisenwaren, 
Lampen, Chemikalien und Arzeneien, Spiel- 
Der 
Markt in Calcutta sei bisher zum gróssten Teil von 
Japan mit Waren aller Art beliefert worden, aber 
allmählich treten an deren Stelle jetzt deutsche 
Erzeugnisse, “die billiger als englische seien und 
besser als die japanischen. 


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Dr. Adalbert Seitz. "Verlag des Seitzschen Werkes 
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kunde. Das Riesenwerk zerfällt in die beiden Abtei- 
lungen der paläarktischen und der exotischen Falter; 
letztere scheiden sich wieder in die Fauna americana, 
africana und indoaustralica. Jede der 4 Faunen um- 
fasst die 4 Doppelbände der Tagfalter, Schwärmer 
und Spinner, Eulen, Spanner, so dass das Gesamt- 


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Zolltarifgesetz, das Vereinszollgesetz und das Waren- 
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No. 12, X. Jahrg. 





J 
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Wettbewerb deutscher H raftpflüge. 


Von Ing. Constantin Redzich. 


en treffendsten Beweis für ihre unnachahmliche 
Leistungsfáhigkeit — trotz der schwierigen 


Lage, in der wir uns heute befinden — erbrachte 


die deutsche Industrie auf der 
Landwirtschaits- Ausstellung zu Leipzig. 


Sinngemáss, wie in verschárftem Masse an die 
Landwirtschaft fast der gesamten übrigen Welt 
die Frage herantritt, den infolge rapider Be- 
völkerungszunahme, dazu allüberall verteuerter 
Arbeits-, daher auch Lebensbedingungen noch 
zur Verfügung stehenden Ackerboden peinlichst 
rationell auszunutzen, sieht sich die Technik vor 
die kategorische Forderung gestellt, Hilfsmittel 
als Ersatz für physische Kraft (tierische und 
menschliche) bereitzustellen, um unter aller- 
günstigsten Bedingungen höchste Anforderungen 
zu erfüllen. 

Inwieweit deutsche Geistesarbeit ihren ge- 
wichtigen Anteil zum Gelingen grosszügiger Pläne 
in Hinsicht vervollkommneter Bodenbesibeitanps- 
möglichkeiten beiträgt, soll nachstehende Zu- 
sammenstellung veranschaulichen, eine Auslese 
derjenigen genial erdachten Produkte, wie sie 
sich den Fortschritten und Bedürfnissen einer 
schnellebigen Zeit in allen Teilen anzupassen 
verstanden haben. 

Die Landwirtschaft nimmt geradezu eine Son- 
derstellung auf dem Gebiete der Kraftversorgung 
ein und stellt Forderungen, wie sie in anderen 
Betrieben nicht gut möglich sind. Aus diesem 
Grunde bietet 
sich für den 
Spezialtechni- 
kerein weitaus- 
gedéhntes Ge- 
biet interessan- 
ter Betätigung 
seinerErfinder- 
gabe, dessen 
Resultate wir 
mit stolzer Ge- 
nugtuung den- 


jenigen der 
Wettbewerber 
anderer Län- 


der gegenüber- 
stellen. 

In erster 
Linie ist es der 
Kraftpflug 


.mobilen, 





Abb. 34. Wolfsche Heissdampf- Verbund - Pfluglokomotive. 


und die vielartigeVerwendungsweise seinerTrieb- 
maschine, die mit allen ihren Vorteilen und 
Vorzügen gegenüber tierischer Energie ein näheres 
Eingehen auf ihre Grundzüge erheischt. Deshalb 
eröffnen wir hier mit kurz gehaltenen technischen 
Beschreibungen an Hand zur Verfügung stehen- 
der Abbildungen die Reihe derjenigen Fabrikate, 
wie sie auf Grund von Güte und Brauchbarkeit 
unbedingt empfehlenswert erscheinen. 

Schon seit fast 60 Jahren beschäftigt sich un- 
sere Industrie mit dem Bau von Dampfloko- 
aus welcher die Dampfpflug- 
maschine entstand. Unter Verwendung der 
in der Praxis gesammelten Erfahrungen erreichte 
der Dampfpflugbau im Laufe der Zeit eine 
Stufe höchster Vollendung, wie sie in den Fabri- 
ken einer Anzahl Spezialfirmen technisch - erst- 
klassig zum Ausdruck kommen. Beispielsweise 
wird über die Wolfschen Heissdampfpflüge 
(Abb. 34) von berufener Seite in den ,,Mit- 
teilungen des Verbandes landwirtschaftlicher 
Priifungsanstalten“ im Jahre 1918 folgendes Ur- 
teil ausgesprochen: 

„Für tiefe und schwere Ackerungen auf 
ausgedehnten Feldgebieten ist der technisch 
vollkommenste, betriebssicherste und wirt- 
schaftlich vorteilhafteste Bodenbearbeitungs- 
apparat der Dampfpflug, ein Apparat, 
der für den angeführten Zweck von keinem 
Motorpflug erreicht wird oder gar noch über- 
troffen werden kann.“ 

Die Bauart : 
der Pflugloko- 
mobilen er- 
móglicht heute 
eine — Befeue- 
rung — neben 
allen Kohlen- 
sorten — auch 
mit Holz, Torf 
und sonstigen 

brennbaren 
Abfallstoffen, 
ohne in der 
Leistung be- 
schränkt zu 
werden; gleich- 
zeitig bringen 
E, e sie aber auch 
` S T E ae eine Brennstoft 
und Dampf- 


256 


Wettbewerb deutscher Kraftpflüge. 








ersparnis bis zu 30°], gegenüber Sattdampf- 
maschinen. 

Die modernste Bauart ist die Einzylinder- 
Lokomotive, welche bei den Fabrikaten der 
Maschinenbauanstalt Rudolf Sack, 
Leipzig-Plagwitz, mit stehender Seil- 
trommel ausgerüstet ist, unmittelbar von der 
Kurbelwelle aus angetrieben. Durch diese direkte 
Kraftübertragung wird gegenüber anderen Über- 
setzungen bedeutend an Energie gespart, wobei 
sich noch durch Fortfall des Zwischengetriebes 
Abnutzung und Schmierölverbrauch erheblich 
verringern. 

Um auch kleineren Betrieben, für die eine 
Anschaffung eigener Dampfpflüge zu teuer wird, 
die enormen Vorteile der Dampfpflugkultur 
zugänglich zu machen, empfiehlt sich tür diese 
die Benutzung der in der Lohnpflügerei zur Ver- 
fügung stehenden Apparate oder die Bildung von 
Dampfpflug-Genossenschaften. 

Die Arbeitsweise des Dampfpfluges dürfte 
allgemein bekannt sein: Auf jeder Seite des zu 
pflügenden Feldes fährt eine Pfluglokomotive. 
Der Pflug wird abwechselnd mit einem Drahtseil 
von einem Ende zum anderen und zurückgezogen, 
wobei man nach jedem Zuge die betreffende 
Pfluglokomotive um ein der doppelten Arbeits- 
breite des angewendeten Ackergeräts entsprechen- 
des Stück vorwärts rückt, während die gegen- 
überstehende Maschine das Gerät zu sich heran- 
zieht. 

Flachpflüge werden im allgemeinen mit Anti- 
balancevorrichtung, Tiefpflüge als Balancepflüge 
gebaut; beide zeichnen sich besonders dadurch 
aus, dass jeder einzelne Pflugkörper sowohl in 


der Neigung des Schars zur Bodenoberfláche, als. 


auch seitlich zur Furchenrichtung verstellbar 
ist. — 





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Als man vor einem Jahrzehnt die Verbren- 
nungs-Kraftmaschine als Antriebsmotor 
auch für Kraftpflüge zu benutzen begann, lag 
nichts näher, als das bei Dampfpflügen seit bei- 
nahe einem halben Jahrhundert bewährte Zwei- 
maschinensystem auch beim Motorpflug 
anzuwenden. Die Arbeitsweise ist genau dieselbe 
wie dort, nur mit dem Unterschiede, dass man 
sich von jeglicher Brennstoff- und Wasserzufuhr 
unabhängig gemacht hat (bis auf Benzin, Benzol 
oder Rohöß), wobei noch als gewichtiges Moment 
die einfachere Bedienungsweise hinzukommt. 
Letztere bereitet hauptsächlich dem landwirt- 
schaftlichen Arbeiter weniger Schwierig- 
keiten, wie die Erfahrung lehrt, abgesehen von 
der Vermeidung aller Feuersgefahr, grösserer 
Reinlichkeit und geringerer Instandhaltung gegen- 
über Dampfmaschinen. 

Unter der grossen Anzahl vorzüglicher Kon- 
struktionstypen tritt besonders der Kaulensche 
Ergomobilpflug hervor, dessen Motor bei 
Benzolbetrieb 40 PS leistet, bei einer mittleren 
Pfluggeschwindigkeit von 61—97 m. Das Fahr- 
getriebe gestattet die Einschaltung von je zwei 
Geschwindigkeiten, vorwärts und rückwärts zu 
1,3 bzw. 0,65 km/Std. (Abb. 35.) 

Von den mancherlei Vorteilen, die das Zwei- 
maschinensystem bietet, ist hauptsächlich 
die —— Ausnutzungsmöglichkeit gegenüber 
den Dampfpflügen (infolge der höheren Leıstungs- 
fähigkeit letzterer) hervorzuheben. Ferner er- 
möglicht er eine Bearbeitung des auch in schwie- 
rigem Gelände liegenden Ackerbodens, im Moor- 
grund, zwischen Baumstümpfen und Felsstücken, 
auf Abhängen und in schmalen Zwischenräumen 
befindlichen Streifen, die der Motorwagen nicht 
passieren kann. Sehr ins Gewicht fällt ferner 
die geringe Abnutzung der Maschinenteile mit- 


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Abb. 35. Ergomobilpflug der Firma Theodor Kaulen. 











Wettbewerb deutscher Kraftpflüge. 


samt dem Motorenmechanismus infolge kaum 
merkbarer Verstaubung beim Arbeiten. 

Der hohen Anschaffungskosten wegen wird 
das nen dagegen für kleinere 
Betriebe kaum in Betracht kommen, weshalb 
sich diese also gleichfalls der Lohnpflügerei 
— wie bei den Dampfpflügen — zuzuwenden 
gezwungen sehen werden. 

Fortschreitend im Bau von landwirtschaftlichen 
Maschinen setzte sich die Technik zum Ziel, 
tierische Kraft neben Handarbeit durch geeignete 
Mechanismen zu ersetzen, die Arbeitsweise der- 
selben solchen Bedingungen anzupassen, wie man 
sie im eigentlichen Sinne als vollgültigen Er- 
satz für Handarbeit anzusprechen vermóchte. 
In dieser Beziehung musste auch das Pfluggerät, 
unabhängig von allen Nebenbestimmungen, genau 
den Bewegungen 
des traditionellen 
Handpfluges ange- 
passt, durch eine 
Ersatzkraft betrie- 
ben werden können. 
Und dieser Gedanke 
leitete den Kon- 
strukteur beim Auf- 
bau einer dem 
Pflug vorausfah- 
renden Zugma- 
schine, dem Mo- 
tortrekker, dem 
es im Laufe der 
Jahre nicht nur ge- 
lang, sich einen 
ersten Platz unter 
seinen verwandten 
Kollegen zu sichern, 
sondern nicht ganz 
zu Unrecht den be- 
zeichnenden Namen 
einer Universal- 

triebmaschine 
errang. (Abbild. 36.) 

Der . Motor- 
schlepper zieht’ 
den angehängten 
Pflug glatt durch den schwersten Boden. 
Nacheinander können alle anderen Spezial- 
Bodenbearbeitungsmaschinen an ihn an- 
gehängt werden: Er zieht Eggen und Sä- 
maschinen, leistet bei der Ernte die Haupt- 
arbeit, indem er Mähmaschine und Ernte- 
wagen befördert, dient schliesslich zum Antrieb 
der Dreschmaschine und Schrotmühle, 
schafft das Getreide zum Müller, erforder- 
lichenfalls auch landwirtschaftliche Pro- 
dukte (Kartoffeln, Rüben, Dünger, Güter) von 
und zu Bahn und Markt, befördert sonstige 
schwere Lasten: Langholz, Kessel, 
Maschinen und deren Teile, Baumate- 
rialien und Steine zur Verwendungs- 
stelle, wobei er nicht nur 8—ıo Pferde er- 
setzt, sondern seine motorische Kraft 
auch zum Auf- und Abladen der Frach- 
ten spendet, also entsprechende Arbeiter- 
kräfte entbehrlich macht. Dazu ist er stets fahr- 
bereit: ob bei Tag oder Nacht, Kälte oder Hitze, 
Regen oder Sonnenschein, pünktlich und ge- 
wissenhaft regt er seine herkulischen Muskeln, 
dabei in erstaunlicher Anspruchslosigkeit oben- 
drein noch um das Zehnfache billiger als phy- 
sische Energie. 

Im allgemeinen dienten dem Schlepperbau 
die Grundsätze derjenigen des Lastkraft- 
wagens. In der Gesamtanordnung wirkt ein 


257 


Viertaktmotor, der mittels einer Kuppelung seine 
Antriebskraft auf ein Wechselgetriebe überträgt, 
wobei durch Kugelräder die Wirkung auf ein 
Vorgelege mit Differenzialausgleich weitergeleitet 
wird. ieses Vorgelege treibt sodann direkt 
durch Stirnrädergetriebe die Haupträder des 
Schleppers. 1 

Die einzelnen Trekkertypen weichen in 
Form und Konstruktionsart weit voneinander ab, 
gleichsam wie wenn jede Werkstatt eine eigene 
Idee zum Bau von Spezialsystemen verfolgte. 
Diese Spaltung im Verfolg gewisser Richtlinien 
brachte den wohldurchdachten Vorteil, dass je- 
der Landwirt in Berücksichtigung des Gelände- 
zustandes seines Ackerfeldes eine für seine Zwecke 
brauchbare Maschine auszuwählen in der Lage 
ist, wobei ihm diese, trotz ihrer abweichenden 


— — — — > a, = 
| 





Abb. 36. Hansa-Lloyd-Trekker beim Dreschen. 


Bauart genau dieselben allgemeinen Nebenvorteile 
der anderen bietet. 

Wo beispielsweise an Bedienungsleuten ge- 
spart werden soll, bewährt sich vorteilhaft das 
starre System, bei welchem das Pfluggerät, 
fest am Kraftwagen montiert, der Tragbalken der 
Schare parallel zur Oberfláche des Erdbodens 
liegt, also stets gleichmássig gezogene Furchen 
gewährleistet. Dieser Tragpflug (Abb. 37) kann 
durch nur einen Mann bedient werden, gestattet 
fast restlose Ausnutzung des Ackergeländes in- 
folge scharfer Wendungsmóglichkeit und Beweg- 
lichkeit, ist dieserhalb also auf beliebigem Ge- 


.làánde verwendbar und wegen seiner billigen An- 


schaffungskosten als Kleinpflug auch mittel- 
grossen Betrieben zugänglich. 

Dass bei der Anwendung nutzbringender Ma- 
schinenkraft eine bedeutend intensivere Boden- 
bearbeitung durchgeführt werden kann und sich 
damit auch die Bodenerträge bedeutend steigern 
lassen, ist eine durch Fachautoritäten hinlänglich 
erwiesene Tatsache. Aber auch die nur flüchtige 
Überlegung, dass ein gewichtiger Teil der Feld- 
erzeugnisse von den eigenen Gespannen im Laufe 
des Jahres wieder aufgezehrt werde, führt zu 
dem Schluss, durch Verkauf auch dieser Quanti- 
täten Summen zu erzielen, die gegebenenfalls 
praktischen Endes besser der Amortisation zu- 
geführt werden. 


258 


— moe d: 


— — — — — 





Wettbewerb deutscher Kraftpflüge. 








Abb. 37. „Pöhl“-Dreischar- Motorpflug beim Pflügen. 


Zur Auswahl des geeigneten Pfluges diene in 
jedem Einzelfalle als Richtschnur: die Grösse der 
Gutswirtschaft, d. h. der Umfang der zu pflügen- 
den Felder. Für eine Bebauungsfläche von 250 
bis 800 Morgen genügt ein dreischariger Pflug, 
der die Grössengrenze nach unten bilden soll. 
Von 800 Morgen an aufwärts wähle man ent- 
sprechend eine Schar mehr, doch muss dabei 
Rücksicht auf die Geländeverhältnisse, ebenso 
auf den Zustand des Ackerbodens genommen 
werden. — 

Beim halbstarren System ist das Pflug- 
gerät am hinteren Ende der Zugmaschine durch 
ein Gelenk fest verkuppelt, kann um dieses be- 
wegt, also jederzeit frei verstellt werden und er- 
möglicht dadurch ein kurzes, scharfes Wenden 
des Maschinenwagens, gleichzeitig also eine 
gleichmässige Ausnutzbarkeit auch der ungün- 





Abb. 38. Podeus-Raupenschlepper pflügt in bergigem Gelände. 


stigst gelegenen Ackerstücke. Dazu kommt, wie 
beim starren System, der billige Anschaf- 
fungspreis, die reduzierten Betriebskosten und 
die äusserst leichte Bauart des Motorwagens. 
Die zuträglichste Bearbeitung des Bodens 


"selbst muss der Eigenart desselben überlassen 


bleiben. Für solche Bodenarten, bei denen eine 
Tiefwendung der Ackererde nicht zu empfehlen 
ist, werden die Pflüge so gebaut, dass nur die 
obere Schicht gewendet wird, um Stoppeln und 
Unkraut zu unterwühlen, gleichzeitig aber auch 
der Untergrund tüchtig gelockert wird, ohne dass 
er an die Oberfläche gelangt. Die Wirkung des 
Stallmistes wird hierdurch in den meisten Böden 
sehr vorteilhaft beeinflusst und die Tätigkeit der 
nützlichen Bodenbakterien viel unmittelbarer und 
gründlicher bewirkt, als wenn bei der Tiefkultur 
die obere Schicht zu tief vergraben wird. In der 
alten Kulturschicht, d. h. dem 
oberen Humus, betätigt sich das 
Wachstum der mit feinen Keim- 
wurzeln ausgestatteten Pflanzen vie! 
lebhafter als in der folgenden Tief- 
schicht; wiederum ermöglicht aber 
die tiefe Bodenackerung eine 
bessere Ausnutzung der Boden- 
feuchtigkeit und lässt die Kultur- 
pflanzen sowohl längere Dürre- 
perioden als auch vorübergehende 
grosse Nässe gut überstehen. — 
Eine Sonderstellung unter den 
Motorpflügen beansprucht d: 
Lanzsche Bodenfrasma- 
schine. Der Grundgedanke dieser 
Konstruktion ist, entgegengesc:- 
dem Schollenauswurf, eine gleich- 
zeitige Zertrümmerung der auig«- 
wühlten Massen, was mittels schnei 
rotierender hackenartiger Stah'- 
schaufeln bewirkt wird (fräsen 
Die zu bearbeitende Ackerkrume 


Wettbewerb deutscher Kraftpflüge. 


259 












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Abb. 39. Büssing-Raupenschlepper beim Pflügen. 


wird bei dieser Prozedur auf gewünschte Tiefen 

hinein vollständig durcheinandergearbeitet und 

—— weshalb ein nachfolgendes Walzen und 
ggen zum Teil überflüssig wird. 

Gegenüber der Zugmaschine, als Räderfahr- 
zeug, bietet der Raupenschlepper den Vor- 
teil, dass durch eine grössere Auflagefläche der 
Raupenkette der spezifische Bodendruck ausser- 
ordentlich mässig ist und im Durchschnitt noch 
nicht 0,5 kg/qcm erreicht. Ein Einsinken des 
Fahr estells, wie bei den auf Rädern laufenden 
Maschinen, ist daher gänzlich ausgeschlossen, 
schon in Anbetracht dessen, dass auch der Druck 
des menschlichen Fusses annähernd or kg/qcm 
beträgt. Mithin ist der Raupenschlepper überall 
dort noch gebrauchsfähig, wo eine Benutzung von 
Räderfahrgestellen als unanwendbar gilt: in wei- 
chem Boden, Moorgrund, zum Reissen und Grub- 
bern, Roden und Schleppen von Baumstámmen 
in unwegsamen Waldgebieten, zwischen Stümpfen, 
sowie über Gräben und Stubbenlócher, unter un- 


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günstigen Witterungsverháltnissen auch auf húge- 
ligem Gelánde. (Abb. 38.) 


Eine besondere Bedeutung erlangte der Rau- 
penschlepper bei der maschinellen Rüben- 
rodung. Die Breite der Raupenkette wurde ent- 
sprechend dem Abstand der einzelnen Rüben- 
reihen angeordnet, so dass eine Beschädigung 
der Frucht durch den Schlepper also ausge- 
schlossen bleibt. In gleichem Sinne werden die 
Zugmaschinen auch zur Bearbeitung ähnlicher 
Fruchtfelder entsprechend eingerichtet. 


Im praktischen Betriebe ergibt beispielsweise 
der „Büssing-Raupenschlepper‘“ (Abb. 39) 
folgende Mittelleistungen : 


Schälpflügen 4—5 Morgen pro Stunde 
Saatpflügen . 1,5—2,5 "E Xa » 
Tiefpflügen. . . 1—2 i e 


Grubbern mit Eggen und Walzen oder 
Schleppen (in einem Arbeitsgang) 
4—6 Morgen pro Stunde 


"uno. 


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Abb. 40. Deutzer Trekker beim Anrücken von Baumstámmen mittels seiner Seilwinde. 


Wettbewerb deutscher Kraftpflüge. 





Erwähnung verdientnoch, dass der „Büssing- 
Raupenschlepper“ bei den Arbeitsversuchen, 
die von der „Deutschen Landwirtschafts - Ge- 
sellschaft“ im Anschluss an die letzte Wander- 
ausstellung in Magdeburg 1919 veranstaltet 
wurden, infolge vorzüglicher Leistungen vom 
Preisgericht mit der höchsten Auszeichnung ge- 
ehrt wurde. 

Gleichfalls in einem grossen Teile des Aus- 
landes eingeführt und verbreitet ist der „Podeus- 
Raupensehlepper“ (Abb. 38). In Finnland 
und Schweden laufen bereits je ein Dutzend 
dieser für die dortigen Verhältnisse vorzüglich 
ER Maschinen. Man benutzt sie dort zur 

eförderung mit Langholz beladener Lastschlitten, 
wobei sich der Schlepper seinen Weg durch 
riesige Schneemassen mittels eines ihm am Vor- 
derteil anmontierten Schneepfluges selbst 
bahnt. Auch überquert er mit Leichtigkeit, 
schwere Lasten ziehend, ausgedehnte Eisflächen, 
wobei ihm kurze Eissporen an den Raupenketten 
befestigt werden. In Südamerika, Chile und auf 
Java bietet er den amerikanischen Traktoren der 
mannigfaltigsten Systeme infolge seiner Über- 
legenheit scharfe Konkurrenz, gewinnt, ob seiner 
vielseitigen Verwendbarkeit zu allen nur mög- 
lichen Zwecken, leicht jegliche Bevorzugung bei 
Land- und Forstmann und erringt sich in allen 
in Frage kommenden Kreisen allmählich jene 
Beliebtheit, wie sie einer Maschine zugewendet 
wird, von deren Brauchbarkeit und Zuverlässig- 
keit man in jedem Fall voll und ganz über- 
zeugt ist. 

Ein von den namhaftesten deutschen Firmen 
konstruiertes Pflugsystem ist der Motor- 
trekker mit angehängtem Pfluggerät, 
das von dem vorausrollenden Motorwagen nach- 
gezogen wird. Zugmaschine und Pflug bil- 
den hier völlig getrennte Einheiten, sind nicht 
aufeinander angewiesen, also stets zu ander- 
weitigen Zwecken verfügbar. Die Fabrikate haupt- 
sächlich der Gasmotorenfabrik Deutz 
haben durch die Vorzüglichkeit ihrer Arbeitsweise 
einen gewissen Weltruf erlangt, weshalb eine 
Spezialisierung ihrer Eigenschaften im Grunde 
genommen überflüssig erscheint. Der Vollständig- 
keit halber sei jedoch erwähnt, dass der Trekk- 





Abb. 41. 


Hansa-Lloyd- Trekker beim Bindmähen. 


pflug sich als am geeignetsten zur Überwindung 
von Bodenunebenheiten erwiesen hat, und die 
Zugmaschine gegebenenfalls, genau wie beim 
Zweimaschinensystem, auch im stationären 
Betrieb sich bestens bewährte. Zu diesem Zweck, 
gleichfalls auch, um die motorische Kraft 
des Trekkers während der landwirtschattlichen 
Ruhemonate nutzbringend zu verwenden, wurde 
dem Motorenmechanismus eine Seil- 
trommel eingeführt, die zum Ziehen des Pfluges 
über nachgiebiges Gelände einerseits, dann aber 
in der Hauptsache zum Fortbewegen von Last- 
wagen ‚auf lockerem Boden oder zum Hindurch- 
ziehen von Baumstämmen im Forstbetrieb, zum 
Stubbenroden und allerlei sonstigen Verrichtungen 
dient. (Abb. 40.) 

Zum Aufbau der Maschine kommt nur edelstes 
Material zur Verwendung, genau wie beim Auto- 
mobilbau. Räder und ellen bestehen aus 
Chromnickelstahl und sind im Einsatz gehártet. 
Die Wellen ruhen in Kugellagern. Alle reiben- 
den Teile sind staubdicht abgeschlossen und 
laufen in Öl. Nur durch diese Anordnung wird 
unbedingte Dauerhaftigkeit und Zuverlässigkeit 
des Fahrzeuges gewährleistet. 

Zum Schutze gegen Einsinken und Gleiten 
beim Befahren von Feldwegen, hauptsächlich je- 
doch auf dem Ackergelände, werden die Trieb- 
räder mit Greiferplatten versehen, deren 
Ausführungsform und Befestigungsart wohl typisch 
voneinander abweicht, jedoch ein und dieselbe 
Richtung, Steigerung der Adhäsionskraft der Räder 
verfolgen. 

Beachtenswert ist die sinnreiche Anordnung 
des patentierten Greifers des Hansa- Lloyd- 
Motortrekkers (Abb. 36 und 41). Die Greifer 
werden hier nicht aufgeschraubt, sondern lassen 
sich in einem gewissen Winkel aufstellen, 
wodurch ein senkrechtes Ausziehen nach dem 
Umlauf der Räder erzielt wird, die schaufelnde 
Wirkung, wie bei anderen Greiferrädern also 
unterbleibt. 

Mit dem 35- PS-Motorpflug sind in ro Stun- 
den Leistungen von 14—16 Morgen bei 22—25 cm 
Tiefe, und von 25—30 Morgen bei 15 cm Tiefe 
in mittelschwerem Boden erzielt. worden. Als 
Zugmaschine bewegt der Trekker selbst 

bei leichten Stei- 
gungen eine Netto- 


pt Iu TD last bis zu 
e" 10 Tonnen. 
SS Eine Anzahl 
Kraftpflugbauan- 
stalten befassen 


sich mit der Her- 
stellung verschie- 
dener Typen in 
Hinsicht auf die 
zweckmássigeAus- 
KE a- 
rikationseinrich- 
tungen. Die Póh!- 
Werke, Göss- 
nitz (Abb. 37, 
liefern u. a. 
Dreischarpflüge 
von 40 PS-Leistung 
Vierscharpflüge 
von 50 PS-Leistung 
Sechsscharpflüge 
von8oPS-Leistung 
wobei auf ent- 
sprechende Di- 
mensionierung und 
gefällige Formen- 


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Wettbewerb deutscher Kraftpflüge. 261 


bildung besondere Rücksicht genommen ist. 
Ferner liefern dieselben Werke Seilpflüge 
nach dem Zweimaschinensystem in bekannter, 
solider Bauart unter Gewährleistung einer Vor- 
züglichkeit der Produkte infolge langjähriger 
Erfahrungen. 

Unter den Motoranhängepflügen, deren 
vielgestaltige Konstruktionsarten ein besonderes 
Kapitel benötigten, werden ‘insbesondere die- 
jenigen mit verstell- und aushebbaren Scharen 
bevorzugt. Bei diesen Pfluggeräten erfolgt 
das Ein- und Ausrücken der Schar vom Sitz 
des Motor- und Pflugführers aus, vermittels eines 
Handhebels mit Sperrvorrichtung. Die Maschi- 


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8E ETITETEENTTTOETITHUIT ELLE LLLLULULEELLLLELELLELLELULTELEECETELELETTETTEETTETETETLITETETITEITTTTTTTTTTTTTTTTTT TT TETTTTTTTTTTETTTTTTTETITETTTTTTTTTTTTETTTTTTTETTTTTTTTETTTTT 


In der ersten Zeit befasste sich unsere Mo- 
torpflug-Industrie einzig mit dem Bau starker 
Maschinen, die für grosse Geländeflächen berech- 
net waren und unter günstigen Bodenverhältnissen 
reichlich Gelegenheit zur Ausnutzung unter vor- 
teilhaften Bedingungen fanden. Nachdem aber 
der mittlere Besitz gleichfalls zur Beschaffung von 
Motorpflügen schritt, wurden an die älteren Kon- 
struktionen Anforderungen gestellt, wofür sie sich 
als nicht recht geeignet erwiesen. 

Aus diesem Grunde war die deutschePflug- 
technik bestrebt, die hin und wieder in der 
Praxis noch in Erscheinung tretenden Mängel 
nach Möglichkeit zu beseitigen, alle bedeutenden 


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Abb. 42. Einscharpflug Harras PE16. 


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EALETTHLELEEETETEELETEEETETTTITITETT 


nenfabrik Rud. Sack, Leipzig (Abb. 42) 
befasst sich mit dem Bau von Spezialpflügen, 
die ebenso originell wie beachtenswert erscheinen, 
da sie eine Reihe sonst wenig vereinigter Vor- 
züge in sich zusammenfassen. 

Der Vierscharpflug Harras PVtr2 
ermöglicht bei einem Gewicht von 760 kg einen 
Tiefgang bis zu 32 cm. arbeitet mit Vorschälern 
und ist mit einer Vorrichtung als Hilfsschaltwerk 
ausgerüstet, vermittels welcher der Tiefgang der 
Schare in der bequemsten Weise während des 
Ganges vom Sitz aus geregelt werden kann. Der 
letzte Scharkörper lässt sich vorkommendenfalls 
leicht abnehmen, um unter verminderter Arbeits- 
breite eine Entlastung des Motors in schwerem 
Boden zu ermöglichen. Die Wirkung der Aus- 
hebevorrichtung wird jedoch dadurch nicht be- 
einträchtigt. 
` Als Unikum unter den Pfluggeräten gilt zweifel- 
los der Stumpfsche Kraftpflug mit seiner 
Scharbewegung durch Druckluft. Diese 
wird selbsttátig vom Motor erzeugt und nach 
einem unter 25 jáhriger Erfahrung im Bahnbetriebe 
aufgestellten System der „Knorr-Bremse“ be- 
tätigt. Je eine, den Pflugscharen beigegebere 
Kolbenstange mit Gelenken bewirkt zu'olge der 
dem Zylinder zugeführten Druck- und Gegen- 
druckluft ein momentanes Heben und Senken, 
ohne dassirgendwelche Haltepausenbeim Furchen- 
wechsel nötig werden. Infolgedessen fällt auch 
das wiederholte Einkuppeln und Wiederanfahren 
an den Furchenenden fort, wodurch Motor, 
Kuppelung, Getriebe, auch der Pflug selbst, aufs 
Ausserste geschont werden. 








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Eigenschaften einheitlich zusammenzufassen, wenn- 
gleich ohne Überhebung behauptet werden kann, 
dass etwaige unerhebliche Nachteile durch die 
vielen ausserordentlichen Vorzüge der deutschen 
Fabrikate gegenüber ihren Auslandskonkurrenten 
in weit übersteigendem Masse aufgewogen werden, 
sich hier, gegenteilig, ein fertiges Ganzes prásen- 
tiert, das den Kulturerrungenschaften anderer 
Vëlker würdig angereiht werden darf, wenn nicht 
gar dieselben um ein bedeutendes überflügelt. 

Zur vollen Würdigung der letzten Behauptung 
sei nur an die vielfachen gescheiterten Arbeits- 
versuche der Ford-Traktoren erinnert. So fand 
z. B. am 25. Mai ds. Js. auf dem Gute Ganz, in 
der Mark, eine Vorführung dieser Pflüge auf un- 
gemein günstigem Sandboden statt, wobei das 
Resultat gegenüber deutschen Maschinen ein 
durchaus klägliches zu nennen war, denn schon 
nach kurzem Arbeiten mit nur 3 Scharen auf 
12 Zentimeter Tiefe kochte das Wasser in den 
Kühlern, indessen die Räder fortgesetzt 
glitten. Beim Tiefpflügen auf 25— 30 Zentimeter 
blieben die Pflüge sogar nach kurzem, scharfem 
Anlauf stecken, wohingegen ein deutscher Pflug 
mit Leichtigkeit die doppelte Leistung erzielte. 

Ähnlich erging es den Ford- Traktoren in 
Litauen und an anderen Vorführungsorten, u. a. 
auf der Internationalen Messe in Frankfurt a. M., 
wo die Bauart des gusseisernen Rahmengestells 
einer scharfen Kritik unterworfen war. Überall 
errangen die deutschen Maschinen leicht den 
Sieg, werden auch stets und allerorten Sieger 
bleiben, solange noch der unbezwingbare Geist 
werktätige deutsche Hände leitet und beeinflusst. 


— Je 


262 Die Maschinen auf der Ausstellung der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (D.L.G.) in Leipzig. | | 


Die Maschinen auf der Ausstellung der Deutschen 
Landwirtschaits - Gesellschaft (D.L.G.) in Leipzig. 


Von Ingenieur Fritz Brutschke. 


Ren äusserlich bot die Maschinenabteilung der nissen zu verbessern, weil er weiss, dass jeder 


Leipziger Ausstellung das gleiche Bild, wie 
die früheren Wanderausstellungen der Deutschen 
Landwirtschafts- Gesellschaft. Alle bekannten 
Firmen hatten in gewohnter Weise ihre Plätze 
schmuck hergerichtet, ihre Maschinen übersicht- 
lich gruppiert und die aufgewendeten Arbeiten 
und Geldopfer wurden belohnt durch eine grosse 
Zahl von ernsthaften Interessenten und schau- 
lustigen Besuchern, die in oft beängstigender 
Stauung die reichlich bemessenen Wege füllten. 
In der Beschickung mit 880 Nummern 
und in der Besucherzahl von 240000 Per- 
sonen ist die erste Ausstellung in der neuen 
Reihe zu den besten der D.L.G. zu zählen und 
hat alle berechtigten Hoffnungen auf das Gelingen 
dieser Veranstaltung ‚nach Massgabe der ersten 
Leipziger Ausstellung im Jahre 1909 restlos erfüllt. 

Dem Inhalte nach zeigte sie jedoch merkbare 
Veränderungen gegen früher, die Fortschritte und 
Verbesserungen waren leicht erkennbar. Hierin 
werden die jetzt wieder regelmässig folgenden 
Ausstellungen dieselbe Wirkung erzielen wie vor- 


dem, indem sie eine öffentliche Kritik über die . 


Entwicklung des landwirtschaftlichen Maschinen- 
: wesens ermöglichen und in dieser Form die besten 
Anregungen vermitteln. Jede Ausstellung dient 
dem Fortschritt in der Technik und allgemeinen 
Kultur, das ist eine Binsenwahrheit. Aber es ist 
ein Unterschied zu machen zwischen einer ver- 
einzelten Veranstaltung, nach deren Schluss Aus- 
steller und Publikum wieder auseinanderlaufen, 
und einer wiederholten Schau, auf der immer 
dieselben Käufer und Verkäufer sich treffen. Die 
Berührung ist inniger, die Belehrung tiefer und 
die Erfahrung nachhaltiger. Bemerkt ein Fabri- 
kant, dass die Käufer dauernd die Erzeugnisse 
des Konkurrenten bevorzugen, so wird er bald 
die Überzeugung seiner Rückständigkeit gewinnen, 
auch wenn er vorher noch so stolz auf seine 
alte angeblich bewährte Konstruktion war, und 
er auch innerhalb eines örtlichen Bezirkes bis- 
her einen sicheren Absatz gefunden hatte. Ge- 
fördert wird diese günstige Wirkung der jähr- 
lichen Wanderausstellungen durch die mit ihnen 
verbundenen 


Maschinenprüfungen, 


die sich in zwei Hauptgruppen teilen lassen, in die 
sogenannten Hauptprúfungen und in die Prüfung 
„Neuer Geräte‘. Für die ersteren werden die 
Maschinen bestimmter Klassen vorher festgelegt 
und ein spezielles Programm vereinbart. Für die 
Ausstellung in Leipzig waren bestimmt worden: 


die Düngerstreumaschinen, die Kartoffelsichter . 


und die Kleindrill- und Dibbelmaschinen. Bei 
diesen Prüfungen kommen die besten Maschinen 
der angesehensten Spezialfirmen zusammen, sie 
werden nach einheitlichen Grundsätzen geprüft, 
die Ergebnisse gegeneinander abgewogen und 
über dieselben ein ausführlicher Bericht veröffent- 
licht. Kein anderer Fabrikant hat ausser diesen 
Prüfungen cine ähnliche Gelegenheit, die Arbeit 
seiner cigenen Maschinen mit denen der Konkur- 
renz vergleichen zu können. Der Bericht legt die 
besten Ergebnisse fest und jeder Fabrikant wird 
gezwungen, seine Maschine nach diesen Ergeb- 


Käufer diese Höchstleistungen verlangt und sie 
auch nach den gleichen Grundsätzen nachprüfen 
kann. Welchen Einfluss diese Hauptprüfunge:: 
auf die weitere Entwicklung der geprüften Ma- 
schinen ausüben und welcher Anreiz in ihnen 
für den Fabrikanten zu Verbesserungen liegt. 
zeigt die Tatsache, dass in den nächsten Jahren 
aus diesen Maschinenklassen eine auffällig grosse 
Anzahl von Neuheiten für die kommenden Aus- 
stellungen angemeldet werden, die dann nach 
den gleichen Grundsätzen wieder einer Prüfung 
unterliegen. Hier ist jedem Fabrikanten die Ge- 
legenheit gegeben, einen früheren Misserfolg aus- 
zugleichen und den Beweis der Höchstleistungen 
zu erbringen. 

Die zweite Art der Prüfungen, die der „Neuen 
Geräte“, erstreckt sich über das gesamte Gebiet 
des landwirtschaftlichen Maschinenwesens. Jede 
an irgendeiner Maschine oder an einem Hand- 
gerät angebrachte Neuerung kann den Richter 
zur Beurteilung vorgeführt werden und diese ent- 
scheiden, ob eine beachtenswerte Verbesserung 
in ihr enthalten ist. Nichts kennzeichnet mehr 
den Einfluss der regelmässig wiederkehrenden 
Ausstellungen der D.L.G. auf die Entwicklung 
der landwirtschaftlichen Maschinen, als die stets 
steigende Zahl der Anmeldungen für die Prüfung 
„Neuer Geräte“, In dem zweiten Rundgang der 
Ausstellungen, umfassend die Jahre 1899— 1910. 
waren durchschnittlich jáhrlich 76 Anmeldungen 
eingegangen, bei deren Prüfung 30 Auszeich- 
nungen erteilt wurden, darunter je 3 bronzenc 
und 1 silberne Denkmünze. Im Jahre 1911 stieg 
die Zahl der Anmeldungen auf 199, von denen 
87 ausgezeichnet wurden, darunter 20 mit bron- 
zenen und 8 mit silbernen Denkmünzen, ein Zei- 
chen, wie das Bestreben nach Verbesserungen 
zugenommen hat und mit Erfolg auch durchge- 
führt wurde. Für Leipzig waren 166 Neuerungen 
erschienen, deren Prüfung noch nicht abge- 
schlossen ist. 

Wenn diese Entwicklung naturgemäss nur 
eine allmáhliche sein kann, und in dem Unter- 
schied zwischen zwei aufeinander folgenden Aus- 
stellungen nicht stark in Erscheinung tritt, so 
machte Leipzig hierin insoweit eine Ausnahme. 
als der Einfluss einer jahrelangen gänzlichen Ab- 
sperrung vom Auslandsverkehr einen plötzlichen 
Sprung in bestimmter Richtung erkennen Dess 
Nämlich der verstärkte Bau derjenigen Maschinen 
in Deutschland, die früher zum grössten Teile 
vom Auslande bezogen wurden, wozu in erster 
Linie die Erntemaschinen, Mähmaschinen, Heu- 
wender und Heurechen, sowie die Dampfpflüge 
zu zählen sind. Im Bau von 


Mähmaschinen 


ist Jetzt die Produktion in Deutschland soweit ge- 
fördert, dass wir nicht nur den Bezug vom Aus- 
lande entbehren können, sondern auch über din 
Inlandsbedarf hinaus für den Export liefern können. 
Alte Firmen auf diesem Spezialgebiet haben ihr: 
Produktion durch Angliederung an grössere Fır- 
men erweitert, wie Fahr-Gottmadingen mi 
Krupp-Essen, und Wery-Zweibrücken 
mit Lanz-Mannheim. Andere Firmen, deren 





Die Maschinen auf der Ausstellung der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (D. L. G.) in Leipzig. 263 


Umstellung auf andere Spezialitäten durch die 
veränderte politische und wirtschaftliche Lage 
notwendig wurde, haben den Bau der Mäh- 
maschinen neu aufgenommen, wie die Rheini- 
sche Metallwaren-Fabrik-Düsseldorf, 
die in den Deutschen Werken A.-G., ver- 
einigten früheren Heereswerkstätten mit dem 
. Sitz in Berlin, ebenso eine Reihe von Fabriken, 
die früher Flugzeuge herstellten, unter anderem 
die Allgemeine Elektrizitäts-Gesell- 
schaft-Berlin. Hierzu kommen weitere Fa- 
briken, die den Bau von Gras- und Getreide- 
Mähmaschinen sowie Bindern schon vorher be- 
trieben haben und aus sich heraus die Produktion 
erweiterten, wie Eckert-Berlin und Eyth- 
Lesser-Brandenburg a. H. Alle diese Fa- 
briken verfügen über eine unbegrenzte Möglich- 
keit in der Produktionsausdehnung, und da in 
dieser Maschinenklasse die Konstruktionsprinzi- 
pien schon lange feststehen und Gemeingut der 
Ingenieure geworden sind, wir auch eine begrenzte 
Zahl guter Muster und Modelle besitzen, so bietet 
die Fabrikation auch für neue Fabriken die Ge- 
währ tadellos brauchbarer Maschinen, die auch 
im Preise mit jedem Auslandserzeugnisse kon- 
kurrieren können. 
Ähnlich liegt die Sache mit den 


Dampfípiligen. 


Die stcigende Verwendung der maschinellen Kraft 
für die Bodenbearbeitung, vor allem zur Erzielung 
tieferer Lockerung des Ackers, hat das Interesse 
der Fabrikanten für die Dampf- und Motorpflüge 
gesteigert, das auch in Leipzig in Erscheinung 
trat. Neben den alten bekannten Fabriken auf 
diesem Spezialgebiete, wie Kemna-Breslau, 
Heucke-Gatersleben, Sack-Leipzig, 





Maschinenfabrik Heilbronn, sind andere 
gleichfalls bekannte Firmen mit neuen Dampf- 
fligen auf dem Platze erschienen, wie die Loko- 
mobilfabrik R. Wolf-Magdeburg-Buckau, 
Borsig-Berlin-Tegel,RheinischeMetall- 
warenfabrik - Düsseldorf, Komnick- 
Elbing, Krupp-Essen, von dem berichtet 
wird, dass er gleichfalls den Bau von Dampfpflug- 
Lokomotiven aufgenommen hat, war noch nicht 
mit diesem neuen Erzeugnis seiner Fabrikations- 
umstellung auf der Ausstellung. Die sämtlichen 
Dampfpflüge sind nach dem bewährten System 
des Seilpfluges, nach dem Zweimaschinensystem 
gebaut, nur zeigt sich eine bestimmt ausge- 
sprochene Neigung, die grossen und schweren 
Lokomotiven bis zu 20 Tonnen Betriebsgewicht 
zu verlassen, und mehr die mittleren und kleinen 
Ausführungen zu bevorzugen. Dieses Bestreben 
muss als richtig anerkannt werden, denn das 
hohe Gewicht der grossen Maschinen hatte doch 
viele Unbequemlichkeiten im Gefolge, die Ge- 
brauchszeit wurde vielfach durch Versinken ver- 
kürzt, und die schweren Ackergeräte stellten zu 
hohe Anforderungen an die Arbeitskraft der Be- 
dienungsmannschaften. Die kleineren Maschinen 
werden handlicher, und was sie an Tagesleistung 
einbüssen, können sie in den meisten Fällen 
durch Verlängerung der Betriebszeit wieder ein- 
holen. Die auf dem Gebiete der Dampfpflügerei 
so langjährig erfahrene Fabrik von Kemna- 
Breslau hat sogar einen besonderen Kleinpflug 
zur Ausstellung gebracht, dessen Lokomotiven 
ein Betriebsgewicht von 8,5 Tonnen haben, und 
mit diesem Gewichte unter die der Motorseil- 
pflüge gleicher Leistung heruntergehen. DieFirma 
widerlegt mit diesen Maschinen die so oft auf- 
gestellte Behauptung, die Verwendung der Dampf- 





Abb, 43. Blick auf die grosse Landwirtschaftliche Ausstellung in Leipzig (16.—21. Juni 1921). 


264 Die Maschinen auf der Ausstellung der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (D. L. G.) in 


kraft mache die Maschinen für den Gebrauch 
auf dem Acker zu schwer und unbeholfen, nur 
der Explosionsmotor vermag sie leichter und 
gebrauchsfähiger zu gestalten. Borsig-Tegel 
hat bei dem Kessel seines Dampfpfluges die bis- 
her allgemein gebräuchliche viereckige Feuer- 
buchse beseitigt, und sie durch eine runde ersetzt, 
die ohne Stehbolzen mit abschraubbaren Boden 
eine leichte Reinigung von Kesselstein ermóg. 
licht. Eine grössere Dauerhaftigkeit des Kessels 
ist der wirtschaftliche Vorteil dieser Anordnung. 

Besonders gross war die Zahl der Motor- 
pflüge, die sich in den verschiedensten Konstruk- 
tionen, Ausführungen und Grössen den Besuchern 
zur Beurteilung empfehlend präsentierten. Daüber 
diese ein besonderer Bericht veröffentlicht wird, 
so kann eine Besprechung hier unterbleiben. 

Eine weitere durch die gänzliche Absperrung 
veranlasste Änderung in dem Bau der Maschinen 
bezieht sich auf die Ausbildung von Einzelheiten. 
Es war uns der Bezug der vollwertigen Lager- 
metalle abgeschnitten, und wir mussten nach 
einem Ersatz suchen, der nach vielen Versuchen 
in zuverlässiger Form doch nur in den Kugel- 
lagern gefunden wurde. Es hat den Anschein, 
als ob dieser Ersatz eine dauernde Einrichtung 
bleiben sollte, denn die Maschinen auf der Leip- 
ziger Ausstellung waren in weit höherem Grade 
wie früher mit diesen Kugellagern ausgerüstet, 
Namentlich an den 


Dreschmaschinen 


waren sie überwiegend verwendet und nicht nur 
an den schnellaufenden Wellen der Trommeln und 
Ventilatoren, sondern auch an den mit geringerer 
Tourenzahl arbeitenden Nebenbetrieben. Ge- 
ringerer Kraftbedarf, der bei Dreschmaschinen 
besonders ins Gewicht fällt, sind die sich hieraus 
ee notwendigen Vorteile, Die besonders 
zahlreich ausgestellten Dreschmaschinen gaben 
überhaupt zu interessanten Vergleichen eine 
günstige Gelegenheit. Obgleich die Konstruk- 
tionsprinzipien dieser Maschinen festliegen, die 
bei deutschen Fabrikaten eine restlose Gewinnung 
aller Nebenprodukte und gute Sortierung des 
Kornes als das Endziel der Arbeit verlangen, 
so lässt die Ausführung in den Einzelheiten doch 
einen weiten Spielraum zur Auswirkung des Er- 
findergeistes, der sich auch in vorteilhafter Weise 
bemerkbar machte. Die Dreschmaschine muss 
sich den wirtschaftlichen Bedürfnissen der ein- 
zelnen Landwirte anpassen, sie muss deshalb so- 
wohl für den Gross- wie auch für den Kleinbesitz 
eine wirtschaftlich sichere Anwendung zulassen, 
Sie wurde deshalb schon immer in den ver- 
schiedensten Grössen ausgeführt von der kleinen 
Göpeldreschmaschine für ein Pferd bis zu den 
grössten Nummern mit täglich 20—40 Tonnen 
Körnerertrag. Aber früher kombinierte man nur 
die grossen und mittleren Nummern mit einer 
Reinigung, bei den kleinen Maschinen musste 
das Dreschgut in einem besonderen Arbeitsvor- 
gang mit Spezialmaschinen gereinigt und sortiert 
werden. Jetzt geht man in der Kombination mit 
der in Dreschmaschinen eingebauten Reinigung 
wesentlich weiter nach unten, indem auch kleine 
Göpelmaschinen mit dieser versehen werden, um 
an Arbeit zu ersparen. Diesen kleinen Maschinen 
werden sogar passende Strohpressen in Liliput- 
Form angehängt, die ohne Arbeitshilfe das Stroh 
pressen, binden und an den Lagerort transpor- 
tieren.“ Gefördert ist dieses Bestreben der Ar- 
beitsersparnis in Deutschland durch die Aus- 
dehnung der elektrischen Kraftübertragung in 
Überlandzentralen, die jedem Kleinbesitzer Kraft 


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in bequemer Anwendungsform liefern und bei ihm 
den Wunsch stärken, mit den ständigen Leuüten 
seines Hofes in ruhigen Wintertagen sein Getreide 
ausdreschen zu können, ohne aufden Lohndrescher 
mit seinem umständlichen Apparat warten zu 
müssen. Wie weit die Arbeitsersparnis getrieben 
werden kann, zeigt H. Lanz-Mannheim an sei- 
nem ausgestellten grossen Dreschapparat mit 
Strohpresse und sonstigen Förderungsmitteln. An 
jeder Seite der Dreschmaschine liegt je ein bis zur 
Erde reichender Garbentransporteur, denen von 
den anfahrenden Getreidewagen aus die Garben 
zugestakt werden. Die letzteren werden dem 
Selbsteinleger zugeführt, wobei nur 2 Mann die 
Garbenbänder autschneiden müssen. Das Stroh 
wird von der Presse gebunden und an den Lager- 
ort gedrückt. Die Spreu wird fortgeblasen. Das 
marktfähige Korn wird von einem Becherwerk 
in eine automatische Wage geschüttet, die mit 
einem selbsttätigen Zählwerk ausgerüstet ist. Die 
gefüllten Säcke werden wieder durch einen Ele- 
vator gehoben und auf den Wagen geworfen. 
Mit dieser Dreschmaschine sind stündlich bis zu 
4 Tonnen Korn auszudreschen und an Bedienung 
sind erforderlich 2 Mann zum Abstaken vom 
Wagen, 2 Mann zum Aufschneiden der Garben 
und ı Mann zum Einhängen der leeren Säcke 
unter der automatischen Wage. Naturgemäss 
ist eine solche Dreschmaschine nur für einen 
Grossbetrieb mit wirtschaftlichem Nutzen zu ver- 
wenden, wo besonderer Wert auf ein Ausdreschen 
vom Felde weg mit hohen Leistungen gelegt 
wird, Aber immerhin ist diese Maschine ein 
Zeichen, mit welcher Energie das Ziel der Arbeits- 
entlastung verfolgt wird. 

Ein weiteres Bild zielsicherer Ausbildung bo- 
ten die - 





Schrotmühlen, 


bei denen die Verwendung von Kunststeinen als 
Mahlflächen scheinbar die Oberhand gewinnt. 
Diese Mühlen werden jetzt auch in den kleineren 
Ausführungen mit einer Sichteinrichtung versehen, 
die gleich die Abscheidung von Backmehl ermög- 
licht. Naturgemäss können diese kleinen Mühlen 
keine hohe Ausbeute liefern, aber in Gegenden 
mangelnder Verkehrsverbindungen und weit ab- 
gelegenen Grossmühlen bieten sie dem Landwirt 
eine wertvolle Hilfe in der eigenen Herstellung 
des Brotmehles, wobei die nicht voll ausgemah- 
lenen Rückstände als Viehfutter mit hohem Nähr- 
wert verbleiben. Ihr Betrieb ist mit Klein- 
motoren wie auch mit Gópel durchzuführen. 
Über die allgemeinen Grundsätze im Bau der 
landwirtschaftlichen Maschinen in Deutschland 
ist schon in der Märznummer dieser Zeitschrift 
eingehend berichtet. Die ausgestellten Maschinen 


. in Leipzig zeigten ein Festhalten an diesen be- 


währten Grundsätzen. Es würde nur die Be- 
sprechung einiger wichtiger 


Neuerungen 


übrigbleiben. Bei den noch in der Hauptprüfung 
liegenden Düngerstreumaschinen kämpfen 
noch die Schlitzmaschinen mit einem Rührwerk 
gegen die Kettenstreuer um die Herrschaft, beide 
Systeme bestehen in verschiedenen Ausführungen 
nebeneinander. Sowohl Kuxmannin Biele- 
feld, der Erfinder dieser Kettenstreuer, wie auch 
die Firma Fricke in Bielefeld, die den 
Kettenstreuer zuerst nachbaute, haben je eine 
kombinierte Maschine zur Prüfung gebracht, mit 
der gleichzeitig zwei Düngerarten zu streuen sind 
In erster Linie sind dieselben für das Streuen 
von Kainit und Thomasmehl gedacht, deren Ge- 


Die Maschinen auf der Ausstellung der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (D. L. G.) in Leipzig. 265 


misch leicht erhärtet und dann schwer streubar 
wird. Die Ersparnis der Arbeit des Mischens 
dieser Düngerarten mit der Hand ist ein unleug- 
barer Vorteil dieser Kombination, der allerdings 
mit einem etwas höheren Anlagekapital erkauft 
werden muss. Die Pommersche Eisen- 
giessereiund Maschinenfabrik zu Barth 
in Pommern legt die Streukette ausserhalb des 


Kastens und führt das Streumaterial der Kette: 


durch eine unten liegende Walze zu. Die Kette 
ist dann frei zu tibersehen und der Diinger kann 
sich im Füllkasten nicht seitlich verschieben. 
Leichte Reinigung der Kette und längere Halt- 
barkeit derselben sind unleugbare Vorteile dieser 
Anordnung. Die Firma Gebr. Botsch in 
Rappenau-Baden hat eine kombinierte Ma- 
schine zur Prüfung gestellt, die zum Drillen und 
Düngerstreuen und nach Entfernung des Kastens 
auch als Hackmaschine benutzt werden soll. 
Diese Maschine würde eine grosse Ersparnis im 
Anlagekapital bringen, man darf deshalb auf 
das noch ausstehende Urteil des Preisgerichtes 
gespannt sein. 

. Bei den Kartoffelsichtern ist eine grössere 
Übereinstimmung in der Konstruktion erzielt, in- 
dem die Plansichter mit fünf Maschinen gegen 
einen Trommelsichter die Überlegenheit der 
ersteren zeigen. Allerdings liegen diese noch in 
zweifacher Ausführung im Wettbewerb gegen- 
einander, nämlich mit der Sieblage in einer Ebene 
und in doppelter Lage der Siebe untereinander. 
Unzweifelhaft haben die letzteren den Vorteil des 
besseren Ausgleiches der hin- und herschwingen- 
den Massen und des leichteren Ganges, aber dem 
steht der Nachteil gegenüber, dass die durch 
das obere Sieb durchfallenden Kartoffeln nicht 
mehr mit der Hand verlesen werden können, um 
die faulenden auszusuchen. DreyerinOsna- 
brúck will diesen Ubelstand beseitigen, indem 
er die abgesiebten Kartoffeln noch einmal über 
ein freiliegendes Gurtband laufen lässt. Eine 
gewiss zweckmässig erscheinende Anordnung, 
die nur mit einer Preiserhöhung bezahlt werden 
muss. Paul Klare in Markwitz-Sachsen 
verlegt die Handkurbel an die Auslaufseite der 
Maschine und schützt damit das Getriebe und 
den Arbeiter gegen den beim Einschütten ent- 
stehenden Staub. Eine Neuerung, die Beachtung 
verdient. | 

Die dritte Klasse der Maschinen für die Haupt- 
prüfung, die Kleindrillmaschinen, ist mit 
neun Exemplaren vertreten, die von den Preisrich- 
tern im allgemeinen günstig beurteilt worden sind. 
Diese Maschinen, ein- und zweireihig, zeigen eine 
reiche Kollektion gut durchdachter und ausge- 
bildeter Konstruktionen, die ein verdientes leb- 
haftes Interesse gefunden haben. Ihre Umstel- 
lungsfähigkeit mit Dippelapparat und ihre Ge- 
brauchsmöglichkeit zum Hacken sichern ihnen 
ein weites Anwendungsgebiet. 

Die zur Prüfung gebrachten „Neuen Geräte“ 
erreichen zwar nicht die Höchstzahlen früherer 
Ausstellungen, geben aber mit ihren 166 Nummern 
einen beachtenswerten Beweis für das ständige 
Bestreben nach Verbesserungen und Fortschritt. 
Es liegen nicht in allen Anmeldungen neue Wege 
zeigende Erfindungen, aber auch kleine die Ein- 
zelheiten berührende Änderungen verdienen An- 
erkennung. Leider konnte die Beurteilung sämt- 
licher Neuheiten auf der Ausstellung selbst nicht 
beendet werden, 48 mussten für einen Arbeits- 
versuch zurückgestellt werden, der erst im Laufe 
des nächsten Jahres durchzuführen ist. Jedoch 
weitere 49 Verbesserungen wurden als beachtens- 
wert anerkannt. Das bedeutet immerhin eine 


Auszeichnung von etwa 60°/, der ausgestellten 
Maschinen, denn auch in der Zurückstellung zum 
Arbeitsversuch liegt schon eine Anerkennung. 
An der Spitze stehen auch hier wieder die Mo- 
torpflüge, die mit 13 Neukonstruktionen und vier 
Anhängepflügen vertreten sind, über die, wie 
schon erwähnt, besonders berichtet wird. 

Leider ist es nicht möglich, alle Neuheiten 
eingehend zu schildern, weil die Beschreibung 
vieler Maschinenteile erforderlich wäre, die ohne 
technische Zeichnungen schwer zu geben ist; es 
können deshalb hier nur einige Maschinen kurz 
erwähnt werden, und es ist der Vorbehalt der 
Unvollständigkeit zu machen. Am meisten Inter- 
esse fand die Rübenköpf- und -ernte- 
maschine von Walter & Kuffer in 
Schweinfurt, die in einem Arbeitsvorgang die 
Rüben aushebt, nachdem vorher dieselben ge- 
köpft und das abgeschnittene Kraut beiseite ge- 
legt wird. F.L.Hentze Nachf.inSchmiede- 
berg, Bezirk Halle a/S., zeigt einen Krusten- 
und Unkrautschneider von neuen, eigenartigen 
Grundprinzipien. Eine wesentliche Verbesserung 
an Hackmaschinen hat W.Siedersleben & Co. 
in Bernburg ausgeführt, indem er an einer 
einspännigen Maschine ohne Vordersteuer den 
Ausschlag der Werkzeuge so erweitert hat, dass 
eine starke Abweichung des Pferdes von der ge- 
raden Linie noch ausgeglichen werden kann. An 
den Grasmähern bringt die Firma Gebr. Lotz 
in Rhina eine sinnige Vorrichtung an, um sie 
zum selbsttätigen Ablegen von Getreide benutzen 
zu können. Johannes Jörs in Görlitz hat 
eine kleine transportable Saatgutbeizeinrichtung 
gebaut, die auch für den Kleinbesitzer sich zu 
einem wertvollen Hilfsmittel gestalten kann, wenn 
sie bei der Prüfung die gehegten Erwartungen 
erfüllt. | 

Bei dem Bestreben, die landwirtschaftliche 
Produktion zu fördern, dürfen auch die Bereg- 
nungsanlagen nicht fehlen, die in zwei grossen 
Anlagen mit vielen Neuerungen den Besuchern 
in dauerndem Betriebe vorgeführt wurden. Die 
Wassergabe erfolgt nicht mehr durch einen auf 
die Erde geleiteten Wasserstrahl, sondern dieser 
ist in die Höhe gerichtet, und fällt als fein ver- 
teilter Regen nach unten, um hier die Wirkung 
des natürlichen Regens zuerzeugen. DieMannes- 
mann-Röhrenwerke in Düsseldorf liefern 
hierzu die sogenannte Krause-Kupplung im Kugel- 

elenk, die es gestattet, in fester Verbindung den 

öhren jede Neigung zueinander zu geben. Die 
Firma Sänger & Lanninger in Frankfurt 
a. Main liefert einen eigenartigen Berieselungs- 
wagen für solche Anlagen. 

Für Gegenden, in denen viel Buschholz als 
Brennmaterial verwendet wird, haben Siebrand 
Dreessen auf Bahnhof Gleschendorf, 
Bez. Lübeck, und dieSchönbergerlandwirt- 
schaftliche Maschinen-Ein- und Ver- 
kaufsgesellschaft in Schönberg, Meck- 
lenburg, Hackmaschinen gebaut, von denen 
nützliche Arbeit zu erhoffen ist. 

Unsere Futternot hat das Augenmerk in stär- 
kerem Grade auf die Lupine gelenkt, um ihren 
hochwertigen Nährstoffgehalt besser auszunutzen. 
Diesem Bestreben kommen 2 Anlagen zur 
Lupinenentbitterung entgegen, die von den 
Fabriken von Moritz Buschmann sowie von 
Gotthardt & Kühne, beideinLommatzsch 
in Sachsen, gebaut werden. Die Obstverwer- 
tung wird gefördert durch zwei Obst- und 
Weinpressen mit Kraftbetrieb, bei denen die 
Krafteinwirkung bei Erreichung eines bestimmten 
Druckes selbsttätig ausgerückt wird. Erbauer 


266 


sind die Fabriken von W. Stohrer in Leon- 
berg, Württemberg, und A. Zöllin jun., 
Badenweiler, Baden. Der Baunot soll abge- 
holfen werden durch eine Lehmsteinpresse 
für Handbetrieb von Ch. Groll in Nürnberg. 

Erhebliches Aufsehen erregte die von den 
Vereinigten Windturbinen- Werke 
G. m. b. H. in Dresden-Reick errichtete 


grosse Wind - Kraft- Anlage mit ihrer bekannten : 


„Herkules“-Windturbine, die eine Mühle 
und eine Spezial-Winddynamomaschine 
zur Erzeugung von grósseren Mengen elektrischen 
Stroms antrieb. Der vóllig automatische Betrieb 
zeichnete sich trotz der starken und unregel- 
mássigen Winde durch einen vollkommen ruhigen 
und gleichmássigen Gang aus, 

Eine interessante Kombination in kleinen 
Werkzeugmaschinen macht die Berlin- 
FúrstenwalderMaschinenfabrikG.m.b.H. 
in Charlottenburg, Fasanenstrasse 21, indem 
sie eine Bohrmaschine so ausbildet, dass sie auch 
als Drehbank für Metallbearbeitung zu verwenden 
ist. Die Kapitalersparnis ist nicht zu unterschätzen. 

Die schon zu einer hohen Stufe der Voll- 
kommenheit ausgebildeten 


Zur Wirtschaftslage in Finnland. 






Molkereimaschinen 
bieten wenig Gelegenheit und Veranlassung mehr : 
zu durchgreifenden Neuerungen. Die zur Prüfung 
gestellten 20 Maschinen zeigten deshalb nur in : 
den Einzelheiten einige beachtenswerte Ande- 
rungen. Erwähnenswert bliebe die Kleinkälte- 
maschine mit Milchkühlapparat der Süddeutschen 


Maschinen- und Metallwaren - Fabrik von 
W. Weckerle in Zuftenhausen, Würt- 
temberg. 


Trotz der ausgefallenen Tierabteilung hatte 
die Leipziger Ausstellung einen überaus starken 
Besuch, der beste Beweis, dass sie nach langer 
Unterbrechung einem entstandenen Bedürfnis ent- 
sprach und dass die D.L.G. für den schweren 
Entschluss Anerkennung und Dank verdient. 
Möge dieses bewiesene Interesse eine gute Vor- 
bedeutung für die jetzt regelmässig kommenden 
Ausstellungen sein und mögen die weiteren Aus- | 
stellungen eine Auswirkung zeigen in der gegen- 
seitigen Annäherung der Mitglieder der verschie- 
denen Völker, um in dem friedlichen Verkehr 
die jetzige schädliche Verhetzung zu bekämpfen. 
Dann werden diese Ausstellungen sich zu einem 
wichtigen Kulturfaktor ausbilden. 





Zur Wirtschaftslage in Finnland. 


Ds drückende russische Herrschaft, unter der 

Finnland über 100 Jahre geschmachtet hat, 
vermochte nicht die wirtschaftliche Entwicklung 
des klugen und tüchtigen finnischen Volkes zu 
hemmen. Des von Russland angezettelten bol- 
schewistischen Aufruhres ist Finnland im Laufe 
weniger Monate Herr geworden. Finnland hat 
sich seine Freiheit mit dem Blute seiner Söhne 
erkämpft. Fast völlig unbewaffnet zog das fin- 
nische Volk in den ungleichen Kampf gegen die 
russisch -bolschewistischen Banden, bemächtigte 
sich durch kühne Handstreiche der russischen 
Waffen und hat endlich mit Hilfe der deutschen 
Truppen, die dem bedrängten Freunde zu Hilfe 
eilten, nicht nur seine eigene Freiheit gerettet, 











fahrbare und tragbare Modelle. | .. Pr 
A fiir Gemüse- 
Geeignet fiir je- 
des Spritzmittel 










Pflanzen-Spritzen| Sámaschinen 


und Blumen- 
sámereien, fir Freiland- u. 


sondern vor allen Dingen der von Osten kom- 
menden bolschewistischen Flut, die Westeuropa 
zu überschwemmen drohte, Einhalt geboten. 
Durch den Bürgerkrieg hat Finnland schwer ge- 
litten, sämtliche Industrien wurden lahmgelegt, 
doch auch dieser schwere Schlag wurde über- 
standen. Industrie und Handel erholten sich 
wieder. Dem Freiheitskriege folgte glückliche 
wenn auch kurze Zeit wirtschaftlicher Hochkon- 
junktur. Der durch den Weltkrieg unterbrochene 
Handelsverkehr mit dem Auslande setzte ein, 
und die Beziehungen zu Deutschland, das vor dem 
Kriege den ersten Platz in der Reihe der Länder 
einnahm, die mit Finnland Handelsbeziehungen 
trieben, gestalteten sich besonders freundschaft- 




















Diingungs - Geräte |: 


für Jauche und sonstige flüssige 
Düngemittel. 


Fässer, Verteiler, Pumpen, 


























SCH E Schádi nos. | Kastensaaten geeignet. Spa-| Fahrzeuge usw. | 
— 0 ren Samen, Arbeit und Geld Flüssige Düngun bringt Rekord- 
— MEE? Vertilgung , cd ernten, wenn die Jauche mittels der 
ecc y» x und schaffen kräftige Pflan- Plath" - 
WK CH +4 
etki Weinstúcken, | en und hohe Schare 
Suus  Obstbáumen, | Erträge. apap: 
Hopfenpflanz., Erde ge- i; T 
Tabak, bracht ; 
| Baumwolle wird, 80 z 
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vy zur Unkraut- | yo. |SueksteT NER 
) Vertilgung ror tls Lk (205077 | füchtet, APS 4 
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AL Getreide. STEEN ` a | 





Liste Nr-254 von GUSTAV DRESCHER, 





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Fabrik für Land- u. 
Gartenbaugeräte, 


M——— 
Zur Wirtschaftslage in Finnland. — Kleine Nachrichten. 


lich und eng. Den deutschen Zusammenbruch 
benutzte die Entente, in erster Linie England, 
dazu, in Finnland, das ja die natürliche Brücke 
nach Russland bildet, festen Fuss zu fassen. 
Finnland musste es sich gefallen lassen, dass 
eine interalliierte Handelskommission in Helsing- 
fors die Zufuhr nach Finnland, das unter schwerem 
Nahrungs- und Rohstoffmangel litt, regelte. Das 
bestehende Lizenzsystem wurde nach Gutdünken 
der „Sieger“ gehandhabt, vor allen Dingen aber 
der deutschfinnische Handel ‘jah unterbrochen. 
Auch diese schweren Zeiten hat Finnland über- 
standen. 

Jetzt drohen dem Lande wieder Gefahren, 
diesmal nicht politische, sondern wirtschaftliche. 
Die allgemeine wirtschaftliche Depression, unter 
der heute ganz Europa leidet, übt auch in Finnland 
ihre verheerenden Wirkungen aus. Der Kurs der 
finnischen Mark, der seit 1918, dem Betreiungs- 
jahre Finnlands, beträchtlich gefallen war, aber 
bis zum vorigen Jahr gegenüber den neutralen 
Devisen noch eine gewisse Stabilitát behauptete, 
ist in diesem Jahr, besonders in den letzten Mo- 
naten, rapid gefallen. Während roo schwedische 
Kronen noch am r. Januar dieses Jahres 641 Fmk. 
kosteten, zahlte man am 1. Februar dafür bereits 
650 Fmk., am 1. März 787 Fmk., am 1. April goo F mk., 
am r. Mai 1080 Fmk., am r. Juni 1117 Fmk. und 
jetzt 1275 Fmk. Die Handelsbilanz hat sich so 
verschlechtert, dass das Verhältnis zwischen Ein- 
und Ausfuhr gegen 3,6 zu 2,9 im Jahre 1920, 
jetzt sogar 6,3 zu 2,1 geworden ist. Die haupt- 
sächlichsten Ausfuhrartikel Finnlands: Holzwaren 
und Erzeugnisse der Papier-Industrie sind heute 
so gut wie unverkäuflich, trotzdem die Preise um 
mehr als son, herabgesetzt wurden. Im Lauíe 
der ersten drei Monate dieses Jahres sind kaum 
einige Tausend Standard verkauft worden, und 
zwar mit absteigender Tendenz von 5 zu 3 zu 2. 


267 


Demgegenüber ist die Einfuhr geradezu rapid 
gestiegen. Die am r. April dieses Jahres erfolgte 
vollständige Freigabe des Handels hat der Ein- 
fuhr Tür und Tor geöffnet. Finnland wird ge- 
radezu überschwemmt mit Waren, unter denen 
die deutschen Erzeugnisse an erster Stelle stehen. 
Finnland kauft heute aber nicht nur deswegen 
in Deutschland, weil die deutschen Waren die 
billigsten sind, sondern vor allen Dingen, weil 
der deutsche Kaufmann und Fabrikant im Ver- 
kehr mit dem Auslande seine übernommenen 
Lieferungsbedingungen wieder einhält. Die stän- 
digen Preiserhöhungen und Terminüberschrei- 
tungen seitens der deutschen Fabriken, die gleich 
nach der deutschen Revolution in geradezu er- 
schreckendem Masse überhand genommen hatten 
und das Ansehen Deutschlands im Auslande ent- 
schieden zu gefährden drohten, haben aufgehört. 

Deutschland hat in Finnland vor allen Dingen 
mit einer scharfen schwedischen und englischen 
Konkurrenz zu kämpfen; aber wenn die deutsche 
Industrie jetzt die übernommenen Lieferungsver- 
pflichtungen einhält und vor allen Dingen wirk- 
lich nur Qualitätsware liefert, wird es ihr ge- 
lingen, ihre Stellung in Finnland zu behaupten. 
Die Hauptkonkurrenten Schweden und England 
haben durch ihre Politik in Finnland dem deut- 
schen Kaufmann und Fabrikanten zum Teil je- 
denfalls unfreiwillige Vorspanndienste geleistet. 
Schweden hat durch seine Stellungnahme in der 
Alandsfrage viel böses Blut in Finnland ge- 
macht und Englands „Verdienste“ um Finnland 
— die Ostseeblockade und das ewige Brotkorb- 
hóherhángen im Falle politischer Unbotmássig- 
keit — werden hier sobald nicht verwunden 
werden. 

Demgegenúber wird Deutschland als treuer 
Freund und Retter aus tiefster Not in Finnland 
nie vergessen und hoch in Ehren gehalten werden. 


Hleine Nachrichten. 


Steigerung des deutsch -finnischenVer- 
kehrs. Deutschland stand bekanntlich vor dem 
Kriege in der finnischen Ein- und Ausfuhr weitaus 


an erster Stelle. Im Kriege hat Deutschland diese 
Rolle an England abgegeben, das heute die lebhaf- 
testen Handelsbeziehungen mit Finnland unterhält. 
Es ist aber in letzter Zeit der Anteil Deutschlands 
am finnischen Aussenhandel beträchtlich gestiegen, 


die Einfuhr nicht mehr allzuweit von der 
Finnland bezog in den ersten 


so dass 
englischen entfernt ist. 


drei Monaten dieses Jahres von Deutschland für 
144,3 Mill. Fmk. Waren und führte nach Deutschland 
für 26,5 Mill. Fmk, aus. Im April allein kaufte Finn- 
land für 88,3 Mill. Fmk. deutsche Waren und führte 
für 14,9 Mill. Waren nach Deutschland aus, so dass 
die Gesamteinfuhr aus Deutschland in den ersten vier 
Monaten dieses Jahres 232,6 Mill. Fmk, und die Ge- 
samtausfuhr nach Deutschland 41,4 Mill. Fmk. beträgt. 
Die entsprechenden englischen Zahlen sind 266,6 und 
148,4 Mill. Fmk. 













EEL 


^ (Lot: He1z u. Kochapparate| 
i 4 Gusrav Barthel, Dresden Q. A:21 [pe 


/, Spezialfabrik für löt - Heiz-u. Kochapparate fúr chemische u technische Zeche. y 


n 






Petroleum Gaskocher 


268 


Rückgang des englischen Handels mit 
dem fernen Osten. Wie ‚The London a. China 
Telegraph‘‘ auf Grund eines amtlichen Berichtes fest- 
stellt, hat der englische Handel mit dem fernen Osten 
auch im Laufe des Monats Mai einen bedeutenden 
Rückgang aufzuweisen. Die Ausfuhr von Baum- 
wollgarn, wie überhaupt aller übrigen Baumwollwaren, 
nach China und den Straits Settlements hat erheblich 
nachgelassen. Auch die Ausfuhr von Woll- und 
Kammgarngeweben nach China und Japan ist wieder- 
um gesunken. Überhaupt weist die gesamte englische 
Ausfuhr nach dem fernen Osten, von wenigen Aus- 
nahmen abgesehen, einen erheblichen Abfall der 
Warenmengen im Vergleich mit dem Vorjahre auf. 
Als Hauptgrund dieses fortgesetzten Rückganges wird 
der englische Bergarbeiterstreik angegeben. — Was 
die Einfuhr anlangt, so hat die Tee-Einfuhr aus 
China zugenommen, während die Einfuhr von Tee 
aus Niederländisch-Indien bedeuteud gefallen ist. Ge- 
stiegen ist die Einfuhr von Rohseide aus China und 
die Einfuhr von Gummi aus Niederländisch - Indien, 
den Straits Settlements und den Malaienstaaten. 

Deutsche Tätigkeit in den Südsee-In- 
seln. Frühere deutsche Handelsunternehmungen in 
den Südsee -Inseln sind laut Bericht der chinesischen 
Presse im Begriff, ihre Tätigkeit auf breiter Grund- 
' lage wieder aufzunehmen. Es werden Fusionen und 
Kapitalerhöhungen geplant, und die amerikanische 
Hilfe soll angerufen werden. Zwischen zwei deutschen 
Konzernen ist schon eine Fusion gebildet worden, 
der eine arbeitete früher auf den Marschall- und Ka- 
rolinen-Inseln, der andere in Samoa. 

Deutsche Sachverständige für Ost- 
afrika. Der Oberkommissar von Mozambique 
telegraphierte laut , Financial Times“ an die portu- 
giesische Regierung, dass nichts einzuwenden sei gegen 
das Arbeiten qualifizierter deutscher Sachverständiger 
für portugiesische Gesellschaften in Ostafrika. 

Liberia und das deutsche Eigentum. 
Der Bund der Auslanddeutschen (Landesverband Nord- 
westdeutschland) gibt folgendes bekannt: Der von der 
Reichsregierung nach Liberia als Spezialkommissar 
entsandte Generalkonsul Büsing hat mit der dor- 
tigen Regierung wegen Freigabe des deutschen Eigen- 
tums bzw. Auskehrung der Liquidationserlöse verhan- 
delt, und es besteht Aussicht, dass seine Tätigkeit 
Erfolg haben wird. — Generalkonsul Büsing hat 
ferner mit der liberianischen Regierung ein Ab- 
kommen geschlossen, wonach Reichsangehörige frei 
und ohne dabei besonderen Formalitäten unterworfen 
zu werden, nach Liberia einreisen können. Die 
Deutschen in Liberia sollen nur den allgemeinen Ge- 
setzen dieser Republik unterstehen und gleiche Rechte 


Kleine Nachrichten. 


wie alle anderen Ausländer dort geniessen, Die 
Sicherheit des nun in Liberia erworbenen deut- 
schen Eigentums und etwaiger nach dem Kriege 
nach Liberia gebrachten deutschen Vermögenswerte 
gegen Zugriffe der liberianischen Regierung auf Grund 
des $ 18 der Anl. If Teil VIII des Friedensvertrages 
(„falls Deutschland vorsätzlich seinen Verpflichtungen 
nicht nachkommt“) wird gewährleistet. 

Schlechte Aussichten für die japanische 
Spielzeug- Ausfuhr. Die Zeitung ,,Asahi' be- 
klagt, dass die japanische Spielzeug-Ausfuhr, die sich 
während des Krieges ausserordentlich entwickelt hatte 
und insbesondere den amerikanischen Markt 
versorgte, in letzter Zeit, namentlich seit Anfang die- 
ses Jahres bedeutend zurückgegangen sei. Die amt- 
liche japanische Statistik bestätigt diese Tatsache. 
Es wurden im Januar und Februar d. J. ausgeführt 
Spielsachen aus Zelluloid für 156000 Yen, aus Kaut- 
schuk für 168000 Yen, aus Holz für 77000 Yen, 
andere für 336000 Yen, zusammen für 738000 Yen 
gegen 2420000 Yen in der gleichen Zeit des Vor- 
jahres. Wenn aber das japanische Blatt diesen Rück- 
gang hauptsächlich dem Wiederaufleben des 
deutschen Wettbewerbes zuschreibt, so geht es 
fehl, denn in erster Linie ist daran die in der ganzen 
Welt herrschende wirtschaftliche Notlage schuld, die 
insbesondere die Aufnahmefähigkeit des amerikanischen 
Marktes für derartige Luxusartikel stark beeinträchtigt. 
Daneben trägt auch schlechte Qualität und 
Mangel an Originalität bei dem japanischen 
Spielzeug dazu bei, dass die Nachfrage allmählich 
zurückgeht, und die ,Asahi'* ist auf dem rechten 
Wege, wenn sie den japanischen Fabrikanten rät, in 
dieser Hinsicht ihre Erzeugnisse zu vervollkommnen. 

Belebung des Transitverkehrs mit 
Sowiet-Rußland. Dem Revaler Blatt „Possl. 
Now.“ zufolge, wird der Transitverkehr mit Sowjet- 
Russland täglich lebhafter. Der Eisenbahnverkehr 
steigert sich derartig, dass die estnische Regierung 
den Anforderungen Russlands nur mit Mühe nach- 
kommen kann. Russische Transitwaren sollen, wie 
„Jaun. Sin." weiter berichtet, in Reval in solchen 
Mengen ankommen, dass sie auf der Eisenbahn nicht 
weiterbefördert werden können. 

Verweigerung deutscher Inserate in 
englischen Blättern. Der etwa 500 Angehörige 
des Presse- und Inseratendienstes als Mitglieder zählende 
Publicity Club of London hatlaut Manchester Guardian" 
auf einer kiirzlich abgehaltenen Sitzung beschlossen, 
Inserate von Deutschen nicht zu veröffent- 
lichen. Der von einem Mitglied eingebrachte Antrag, 
solche Inserate aufzunehmen, wurde mit 70 gegen 
47 Stimmen bei etwa 40 Stimmenthaltungen abgelehnt. 











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Bd. 54. Lagerverwaltung und Einkauf in Erzeuger- 
betrieben. Von Walter Rahm. 

Bd. 55/56. Deutsche Zoll- und Handelspolitik, Von 
Dr. W. Gerloff. 


Von Dr. 


und Scheckver- 


Praktische, Steuertechnik in kaufmännischen 
Betrieben. Von Dr. Franz Findeisen. 

Bd. 66/67. Systematische Selbstkostenrechnung. Von 
Friedrich Klemann. 

Bd. 69. Weltwirtschaftskampf der Nationen. 
Dr. Paul Leutwein. 


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Bd. 65. 


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Um dem Leser ein Bild von den weitgesteckten Zielen 
und der zweckmässigen Gliederung dieser umfangreichen und 
vielseitigen Sammlung zu geben, haben wir von den bisher 
erschienenen ungefähr 70 Bänden oben einige Titel angeführt. 

Diese Bücherei vermittelt nicht nur dem jungen Kauf- 
manne die Grundlage des sicheren Wissens und Könnens, sie 
gibt auch dem älteren erfahrenen Praktiker eine Fülle von An- 
regungen und eingehenden Aufschluss über die verwickelteren 
Vorgänge seiner Tätigkeit. Bei den wachsenden Anforderungen 
und der sich immer vielseitiger gestaltenden kaufmännischen 
Arbeit wird diese Sammlung vielen im In- und Auslande ein 
willkommener Führer und Berater sein. 





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7 gleiche stimmen gewöhnlich noch weniger als andere, aber bei 
diesen Versen denkt man an die besten Namen unserer r 
\) klassishen Lyrik, etwa an Eichendorff, Mörike, Storm. Der | 
- Dichter hat tief in sich hineingehorcht,- als seine Seele ( | 
d der klingende Brunnen war, in dem diese Verse schliefen. 5 
7 Durch alle Buchhandlungen 3 
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Deutsche Bücherschau (Fortsetzung von S. 276). 





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Norbert Jaques: Die Frau von Afrika 
Mit 3eidyn. von Ridhard o. Below. 6eh.15 M., in Pappbd. 23 mM. 
Ein moderner Mythos aus den Tropen! Die Kämpfe einer 
weißen frau, die von den Negern als Gottheit verehrt wird, 
in Urwäldern und Steppen, dargeitellt von einem Dichter, 

der damit fein fchónftes Werk gefchaffen hat. 


* 
Claude Farrére: Die Codgeweibten 
Deutfd) von fans Reifiger. — Mit 3eid)n. oon F. Wittlinger. 
Gehefiet 18 M., in Pappbanb 26 M. 

Der EE Romanerfolg des heutigen Srankreih! — Die 
ftärkite Geftaltung der iozialen Weltprobleme in einer 
Biesen Dichterphantalie. 

D 


Paul 6. Ehrhardt: Die letzte Macht 
Mit 3eidjn. von Heinrich Kley. Get). 18 M.,in Pappband 26 TII. 
€in ufopistifcher Roman aus unferer Zeit! Mit unerhörter 
Selbitveritändlichkeit werden Wunder der Technik glaub- 
haft gemacht, die zum ewigen Srieden führen. Das 

fpannendíte Buch der legten Jahre. 


* 
Bonoré de Balzac: Die tödlichen Wünsche 


(Ca peau de chagrin) 
Deut[d) von €. A. Rheinhardt. Mit 3eid)n. von Alfons Woelfie. 
6eh. 22 M., in Pappband 30 JT. 
Balzacs fchónfter Roman, das unübertroffene Meiftermerk 
des phantaftifhen Romans, in neuer, ausgezeichneter Uber- 
fetung und in neuer, würdiger Geftalt. 





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Geheftet M. 18.— ~ In Halbleinen gebunden M. 25.— 


Im Rahmen des Erlebens und der Liebe eines Deutschen 
zu einer Polin wächst sich die spannende Handlung aus zu 
einem Kulturbild der deutschen Einheitsfront gegen Bolsche- 
wismus und polnischer Irredenta. 


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277 





Deutiche Romane 


zeitgenöflifcher Dichter 


On diefer neuen Sammlung werden in einer freien Folge 
moderner Romane Ddichterifche Kräfte vereinigt, Die thr Ziel 
darin erbliden, eine im höchſten Sinne „fhöne Literatur” 
von bleibendem Werte hervorzubringen und dadurd) zum 
inneren Wiederaufbau des deutſchen Bolfeg beizutragen. 


Die zwei Nationen. a en e 207 9n. 


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Auf heiß umftrittener Erde, Coño von 
Bon den tiefen Nöten des Hans 
Schaffner Ein Berfónlí *feítéroman von Wilhelm Eds 
Ein humoriftifher Roman von Mar Burks 

hardt. Schön gebunden. . . . 21 Mark 

Der fremde Bogel. Merzenich. Shon geb. 27 M. 
Die Mauern von Stoftenberg. Tet comas 

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von Rabindranath Tagore 
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Das grosse Thema des Buches ist das Leben. Den Menschen 
des Ostens wie des Westens will der Dichter zeigen, wie man 
mit dem Leben fertig werden soll, auf dass man auch wirklich 


sagen könne: ich habe gelebt. . 


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Im Lande der Zog) 


Roman. 387 Seiten. Gebunden 22 ME. 


Seıder Unzeiger: Wer das Werk aus der Sand 
legt, wird das obne Zweifel mit oem /Einorud tun, 
ein Bud gelefen zu baben, wie man es von gleicher 
Gdónbeit in der neuen deutfcben Romanliteratur leider 
febr, febr felten finder! 


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Roman. 480 Seiten. 


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treibt nidt, wenn man den Roman aum Ullerbeften 
rechnet, was in neuerer Zeit fabuliert wurde. 


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kleine Lise, empfand ich dich, wie man Blumen empfindet 
und Baum und Strauch und Falter und Vögel und Wellen 
und Wind. .. So ganz köstlich ist deine Kunst, so ganz Natur, 
und nichts von Raffiniertem und Ausgeklügeltem dabei, .. Du 
bist dazu da, ganz Freude zu bringen. 

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Der deutschen Jugend erzählt auf Grund der 
Simrock’schen Uebertragung des Nibelungenliedes 


von ESTELLE du BOIS- REYMOND 


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Bezugsquellen (Fortsetzung von S. 279—282). 


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(Fortsetzung S. 254.) 


284 


Bezugsquellen (Fortsetzung von S. 279—283). 





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Ziel aber ist nur der geistig bedeutenden Individualität erreichbar, der Durch- 
schnittsmensch bleibt im Mittelmässigen stecken. Haben Sie den Mut, mehr 
zu ‚sein als ein Durchschnittsmensch, haben Sie den Willen zur Persönlich- 
keit! Steigern Sie Ihre geistigen Anlagen zur höchsten Leistungsfähigkeit, 
streben Sie nach ständiger Erweiterung Ihres Wissens, nach Stärkung Ihrer 
Willens- und Gedächtniskraft, Ihres Konzentrations- und Denkvermögens! 


Wählen Sie hierzu einzig und allein Poehlmanns Geistesschulung und Ge- ` 


dächtnislehre, der schon fast zweihunderttausend Vertreter aller Stände und Be- 
rufe, vom einfachen Tagelöhner bis zum mächtigen Staatsminister ihr Lebens- 
glück verdanken. Poehlmanns Geistesschulung ist keine hohle Phrasensamm- 
lung, die man flüchtig durchliest und gleich wieder enttäuscht beiseite legt, 
sondern ein Lehrkurs, bei welchem man mit dem Verfasserin ununterbrochener 
Verbindung steht und sich in allen Angelegenheiten Rat und Auskunft holen 
kann, bis die höchste geistige Selbständigkeit erreicht ist. Schon über ein 
Vierteljahrhundert übt Poehlmanns Geistesschulung ihre segensreiche Tätig- 
keit aus, und fortwährend ist die Zahl ihrer Schüler im Zunehmen begriffen, 
so dass von dieser Methode mit Recht das Goethe-Wort gilt: 


„Was 20 Jahre sich erhält und auch dann noch die Gunst 


des Publikums geniesst, daran muss schon etwas sein!“ 


Lassen Sie sich diese Worte als Wegweiser zum Glück dienen und schreiben 
Sie heute noch, ehe Sie die Adresse wieder vergessen, um den hochinteressanten 
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Nur wenn wir den Vorsprung, den der deutsche Kaufmann vor dem Kriege auf diesem Gebiete 
hatte, festhalten, können wir damit rechnen, den Niederbruch zu überwinden und einem neuen 
Aufstieg die Wege zu ebnen. — Wer nun heute Sprachen lernen will, hat nicht Zeit, jahrelang 
zu lernen, sondern er muss in wenig Monaten wenigstens so weit in die Geheimnisse der 
Fremdsprache eingedrungen sein, um sich verständigen zu können. Damit scheidet aber eine 
Reihe vorhandener Sprachlehrmethoden für ihn von vornherein aus. Nur Poehlmanns 
Sprachlehrkurse zum Selbstunterricht, aufgebaut auf Poehlmanns weltbekannter Gedächtnis- 
lehre, kommen für Sie in Frage! Sie lernen leicht, schnell und sicher, und vor allen Dingen 
behalten Sie das einmal Gelernte. Urteile von Schülern: „Ich habe bereits mehrfach Sprachen 
nach den verschiedenen Systemen studiert, ohne jedoch die gewünschten Resultate bisher zu 
erzielen, während nach Ihrer Methode tatsächlich ein wirkliches Beherrschen der Sprachen 
schnell und leicht erreicht wird. A. W.* — „Das Werk bietet die beste Gelegenheit, eine 
Sprache in möglichst kurzer Zeit und mit geringerer Mühe als nach den alten Methoden be- 
herrschen zu lernen. E. K.^ — „So laufen auch die auf Ihrer Gedächtnislehre aufgebauten 
Sprachlehrkurse selbst den bekanntesten, brieflichen wie mündlichen Lerntheorien mühelos den 
Rang ab. Der Zeitverlust ist ungleich geringer, der Erfolg aber ein doppelter. G. D.* — „Es 
eignen sich diese Lehrbücher, deren Studium in allen Teilen Interesse weckt und fördert, mit- 
hin für alle, die in kürzester Zeit eine moderne Sprache lernen wollen. Dr. phil. M. E., Rektor. 


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