'Troeltsch, Ernst
Vernunft tmd
Offenbarung
BT?
Vernunft und Offenbarung
bei
ohann Gerhard und Melanchthon.
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung der Licentiatenwürde
mit Genehmigung
Einer Hochwürdigen Theologischen Fakultät
der Georgia Angusta
herausgegeben von
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Ernst Troeltsch.
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3 1960
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Göttingen,
Druck der Univ.-Buchdruckerei von E. A. Huth.
1891.
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Die vollständige Arbeit erscheint gleichzeitig im Verlag von
Vandenhoeck & Euprecht in Göttingen.
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L DEC 61955
102783
In der Vorrede zum ersten Bande seiner Geschichte der
protestantischen Dogmatik^) hat es Gass als besonders not-
wendig bezeiclmet, „die enge Verbindung des mit ausgezeich-
neter Stetigkeit gebildeten und dennoch den allgemeinen
Wendungen der Geschichte nachgebenden orthodoxen Glaubens-
systems mit der religiösen und wissenschaftlichen Bildung des
Zeitalters so deutlich als möghch zur Anschauung zu bringen".
„Die alte Theologie war", so begründet er dieses Urteil speciell
in der zweiten Hinsicht, „bei aller äusseren Herrschaft nicht
so unabhängig, wie sie sein wollte, noch wie sie erscheint,
wenn ihre Gestalt lediglich aus ihr selbst und ihrer kirchlichen
Natur und Richtung hergeleitet wird. Vielmehr suchte auch
sie ein Gepräge rationaler Haltbarkeit, welches sie . . . dem herr-
schenden Gesetz der Wissenschaft unterwarf." Das ist jeden-
falls sehr viel richtiger als die Ansicht Tholucks, der „bei den
äusserst sporadischen Beispielen eines Einflusses der Philosophie
auf die Theologie" von der ersteren in seiner Darstellung des
akademischen Lebens fast ganz absehen zur dürfen glaubt 2).
Freilich handelte es sich für die orthodoxe Theologie nicht
um die direkte Verwendung philosophischer Konstruktionen,
aber eine das Ganze stützende und zugleich beherrschende
Fixirung des Verhältnisses der allgemeinen Bildung und ,der
Offenbarungslehre war für sie nicht weniger als für jede andere
Dogmatik der eigentliche Lebensnerv und die Grundlage ihres
„wissenschaftlichen" Charakters. Sie entsprang nicht dem
reinen Erkenntnistrieb und nicht dem Ideal der blossen Fixirung
des Glaubensinhaltes oder des kirchlichen Bewusstseins - — das
sind moderne Auffassungen vom Wesen der Dogmatik, auf
welche man sich erst wegen der unüberwindlichen Schwierig-
keiten der eigentlichen Aufgabe zurückgezogen hat — , sondern
sie entsprang, wie alle Dogmatik und das Dogma selbst, dem
apologetischen Bedürfnis einer Auseinandersetzung zwischen
1) Berlin 1854 I, p. VI ff.
^) A. Tholuck, Das akademische Leben des XVII. Jahrhunderts.
Halle 1853 II 3.
den positiven Religionsvorstellungen und dem übrigen Wissen
eines Culturvolkes ^). Sie folgt damit nur der ganz natürlichen
und selbstverständlichen Problemstellung, wie dies beim Beginn
der Entwickelung einer neuen Eehgionsgemeinschaft ja auch
am nächsten liegt. Denn die Bedeutung der Dogmatik liegt
nicht in der Förderung der allgemeinen Erkenntnis und der
Wissenschaft, sie pflegt sich vielmehr an eine bereits fertige
Bildung und an bereits möglichst anerkannte Philosopheme
anzuschliessen und will nur ihrem, niemals von aller Sprödig-
keit zu befreienden, Eigengut eine gesicherte Stellung in oder
neben ihnen sichern, wobei sie dieselben durch Adaptirung
für ihre Zwecke noch obendrein meist ihrem ursprünglichen
Sinn entfremdet. Ihre Bedeutung liegt auch nicht in der
Belebung und Vertiefung der Religion selbst, in der Erfassung des
eigentlichsten Inhaltes derselben ; dazu sind nur hervorragende
religiöse Ingenien im Stande, während die Dogmatik die
lebendige Phantasie der religiösen Vorstellung unvermeidlich
mit allerlei fremden Stoffen belastet und deren Energie durch
künstliche Auseinandersetzungen mit den konkurrirenden Grenz-
gebieten lähmt. Daher hat der Historiker, der die Entwicke-
lung der christlichen Dogmatik in ihrer wesentlichsten Eigen-
tümlichkeit verstehen will, nicht sowohl auf die philosophischen
Elemente und die tradirten Vorstellungsstoffe als solche zu
achten, sondern auf die Fugen und Nähte zwischen beiden,
auf die komplizirten Versuche beide zu vereinigen oder gegen
einander sicher zu stellen, auf die gequälten Bemühungen um
„Glauben und Wissen'', eine Forschung, die freilich nicht den
Genuss erhabener Grossthaten, aber den Einblick in eine der
mühevollsten Arbeiten des menschlichen Geistes gewährt. In
dieser Arbeit liegt die wahre Bedeutung der Dogmatik, eine
*) Dies ist auch der Grundgedanke, von dem Ad. Harnacks
grosses Werk über das Dogma ausgeht, den er aber selbst nicht zu
billigen scheint. Vgl. bes. Band II 48 ff. — Die erwähnten modernen
Auffassungen können übrigens doch auch ihren Zusammenhang mit
der apologetischen Wurzel aller Dogmatik nicht verleugnen, die erste,
indem sie bei ihrer Sublimirung des Christentums zum religiösen
Geiste und bei der Einordnung desselben in die allgemeine religiös-
metaphysische Spekulation doch in erster Linie nur die Conservirung
des Christentums in der Not der Zeit l)eabsichtigt, die andere, indem
sie durch dieselbe Not gedrängt den Beweis zu führen sucht, dass
eine Apologetik weder nötig noch in der Natur der Sache begründet
sei; das ist aber bereits eine — wenn auch sehr missliche — apolo-
getische Operation. — Wie sich der durch keine theologischen Schul-
erfahrungen niedergedrückte moderne Laienverstand die dogmatische
Aufgabe vorstellt, kann man in der interessantesten Weise studiren
an Henry Drummond, Das Naturgesetz in der Geisteswelt, Leipzig 1886.
Bedeutung, die so ausserordentlich ist für das Leben der Re-
ligion, dass sie trotz aller Misserfolge immer wieder aufge-
nommen werden muss. In diesem Sinne ist die Dogmatik
jeder Religion, die bis zum Weltende sich in der AVeit be-
haupten will, schlechthin unentbehrhch als Grundlage ihrer
Rehgionspädagogik, als der stille Koeffizient aller Predigt und
alles Unterrichts, der das Zusammenbestehen einer weltlichen
Bildung mit der religiösen Wahrheit ermöglicht und die aus
jeder solchen für die Religion erwachsenden Schwierigkeiten
von vorne herein zu beseitigen sucht, damit diese ihr eigent-
Hclies Werk thun kann ^). So notdürftig jene Regulirung auch
immer gelingen mag, die Frage, ob und wie beides zusammen
bestehen kann, ist die eigentliche Cardinalfrage der Dogmatik,
soweit sie Dogmatik und nicht etwa Bekenntnis ist, und die
jeweihge Beantwortung dieser Frage ist der Schlüssel zum
Verständnis ihrer einzelnen grossen Ausgestaltungen.
Ist daher der von Gass hervorgehobene Gesichtspunkt
durchaus zu bilhgen, so bedarf doch seine Durchführung des-
selben nach den verschiedenen Anregungen neuerer Forscher
einer mehrfachen Berichtigung und Ergänzung. Vor allem
müssen zwei Dinge mehr auseinander gehalten werden, als
es bei Gass geschieht, der aus allen noch so äusserlichen
Sätzen irgendwie den Kern einer inneren Wechselbeziehung
von Rationalität und Offenbarung herauszuschälen sucht 2),
nämlich das offizielle, rein äusserliche Verhältnis der
Theologie zu den übrigen akademischen Disziplinen, wie es
^) Die Dogmatik erscheint so als eine Art notwendiges Übel.
Wenn man aber daran nur das „Übel" hervorhebt und diesem Übel
dadurch zu entgehen sucht, dass man die Komplikation von lebendiger
Religion und reflektirender Theologie völlig' zu lösen sucht, wie .dies
besonders Bernh. Duhm in seinem hochinteressanten Vortrag „Über
Ziel und Methode der theologischen Wissenschaft" Basel 18S9 thut,
so unterschätzt man dabei das „notwendig". Denn die Religion ist doch
nicht blos eine Art mystischer Suggestion des göttlichen Lebens an die
Menschen durch Gott, sondern gerade die „lebendige Religion" ist niemals
ohne fides quae creditur, und jede solche fides führt unvermeidlich zu
einer Auseinandersetzung mit den übrigen Vorstellungen d. h. zu einer
Dogmatik. Hierin sind die Theologen nicht schlimmer daran als über-
haupt jeder nachdenkende Fromme. Wenn Duhm bei seinen eigen-
tümlichen Voraussetzungen sich dieser Notwendigkeit entziehen kann,
so gilt dies doch nicht von den meisten Übrigen, welche von der
Macht der Vorstellung in der ReHgion einen tieferen Eindruck haben
und die Selbsttätigkeit der Menschen an diesem Punkte für unum-
gänglicher halten.
2) Am bedenklichsten I 210, wo der ganz mechanische Satz von
der ^näßaaig dg cdlo yevog auf das Verhältnis von Wirkendem und
Gewirktem hinausgeführt wird.
4
von den Gelehrten der Zeit selbst behauptet und allein an-
erkannt worden ist, und zweitens das neben dem oder trotz-
dem stattfindende innere Verhältnis beider, wie es als un-
gefährlich oder nebensächhch von ihnen geduldet worden ist
oder unbewusst und rein tatsächlich ihre Gedankenwelt be-
einflusst hat. In ersterer Beziehung sind alle Aussagen genau
so äusserhch zu nehmen, als sie sich geben. Denn in der
blossen Äusserlichkeit der Beziehungen unter den verschiedenen
Disziplinen besteht der entscheidende Charakter des Zeitalters,
und auf sie vor allem ist die Abgrenzung derselben unter
einander, die Lehre von den Prinzipien der Wissenschaften,
begründet; mit ihr hängen ferner aufs engste die Stabilität und
die Gleichförmigkeit des Bildungswesens zusammen, die noch
dadm'ch befördert werden, dass die ganze gelehrte Bildung,
auf festen Institutionen beruhend und durch staatliche Aufsicht
stets im alten Geleise erhalten, sich auf eine bestimmte Anzahl
approbirter Disziplinen beschränkt und in dieser festen Form
den beiden Hauptaufgaben des Fürstentums, der poHtischen
und kirchlichen Regierung, zu dienen hat^). Es handelt sich
also in diesem Zusammenhang ledigHch um das Nebeneinander
der privilegirten DiszipHnen und deren Verhältnis zu der
obersten unter ihnen, der Theologie, d. h. um die Prinzipien-
lehre, um die Lehre von der Autorität. In der zweiten
Hinsicht kommt dagegen die theologische Doktrin nach ihrer
eigenen, inneren Ausgestaltung in Betracht, insoweit sie
ihrerseits einen Anknüpfungspunkt im natürlichen Bewusstsein
anerkennt und bedarf. Denn wie jede Lehre, auch bei der
schroffsten Betonung ihres supranaturalen Wesens, dennoch
stets einen solchen haben muss und auch stets bei einer der
') Vgl. Mor. Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegen-
reformation, Stuttgart 1889, p. 73 ff. und 114 ff., sowie das wichtige
Werk von F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Leipzig
1885. Auch Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation,
6. Aufl. Leipzig 1881, II 63 V 337 macht auf die innere Selbständig-
keit der beiden zusammenwirkenden Faktoren, der grossen Bildungs-
reform und der religiösen Reform, aufmerksam. Dazu kommt aber
als dritter Faktor noch die politische Umwälzung, in der das deutsche
Fürstentum zum absoluten Staat wird. Erst durch diesen dritten
haben die beiden ersten feste Form und die charakteristische Stabilität
erhalten. Vgl. F. v. Bezold, Geschichte der deutschen Reformation,
Berlin 1890, p. 30 ff. Wie die Reformation selbst nur eine Teil-
erscheinung der ungeheuren allgemeinen Umwälzung ist, so ist auch
ihr Ertrag, die lutherischen Kirchen, an allen treibenden Kräften der
Epoche wesentlich beteihgt. Das zeigen die erwähnten Werke von
Ritter und Bezold schlagend, in seiner Weise auch Janssen, Geschichte
des deutschen Volkes.
verschiedenen Seiten des menschlichen Geisteslebens gefunden
hat, so hat nicht minder die orthodoxe Lehre eine gewisse
Fühlung mit dem allgemeinen AVesen des Menschen, auf den
sie wirken will. Dieselbe findet sie natürlich in dem auch
von ihr schon vorausgesetzten religiösen Zustand des Menschen
oder, wie sie es nennt, in der natürlichen Gotteserkenntnis;
diese letztere ist ebenso selbstverständlich zugleich die Spitze
und die Einheit, in welche das Nebeneinander der philo-
sophischen Disziplinen ausläuft. Die theologia naturalis, von
der auch die Dogmatiker selbst an einem anderen Ort handeln
als vom allgemeinen usus rationis i), ist daher die Stelle, an
welcher gemäss üirer eigenen Behauptung und noch weit über
diese hinaus die innere Berührung von Vernunft und Offen-
barung allein wirklich ernsthaft stattfindet, während alle übrigen
Berührungen nur geringfügig und zufällig sind. Die Bedeutung
derselben wird um so einschneidender sein, als sie ihrer ganzen
Natur nach den Gottesbegriff stark beeinflussen muss.
AVenn daher im Folgenden versucht wird, die Darstellung
von Gass zu ergänzen, so wird in einem ersten Abschnitt von
der auf dieses offizielle Nebeneinander der Disziplinen ge-
gründeten Prinzipienlehre und in einem zweiten von der in
der theologia naturalis gegebenen inneren Wechselbeziehung
von Vernunft und Offenbarung die Bede sein.
Für die Behandlung der einzelnen Abschnitte selbst zeigt
ein weiterer Mangel der Gass'schen Darstellung den Weg.
Dieselbe verfährt nämlich etwas willkürlich und unsicher,
indem sie nur einige Beispiele aus der philosophischen und
theologischen Litteratur aufgreift, ohne eine Anschauung von der
Stellung und dem Wirkungsbereich der betreffenden Disziphnen
im akademischen Organismus zu gewähren und ohne die Con-
tinuität der ganzen Entwickelung seit dem Beginn des prote-
stantischen Gelehrtenwesens ins Auge zu fassen. Und doch
konzentrirt sich in diesem Zeitalter, wo es fast gar keine
schärfer bestimmte wissenschafthche Individualität gab und der
ganze Betrieb auf Vorschriften oder doch mindestens auf all-
gemeiner Sitte beruhte, fast alles Interesse auf die Grund-
legung und Weiterentwickelung des gelehrten Unterrichts, in
dessen von Anfang an festgelegtem Bahmen sich die Wissen-
schaften der „oberen Fakultäten'' langsam und gleichmässig
fortbewegten. Entsprechend den zwei Epochen, welche die
Geschichte der orthodoxen Kirche darbietet, der des unbe-
stimmteren und der des streng ubiquistisch bestimmten Luther-
^) H. Schmid, Die Dogmatik der ev.-luth. Kirche, 6. Aufl.
Frankfurt 1876, p. 13.
tums, lässt sich daher die Untersuchung der vorHegenden
Frage an zwei Namen heften, an den Melanchthons, der dieses
ganze Bildungswesen teils direkt teils indirekt begründet und
im Zusammenhang damit die Grundlage der protestantischen
Dogmatik geschaffen hat i), und an den Johann Gerhards, der
mit der ganzen Gelehrsamkeit seiner Zeit ausgerüstet zugleich
die Weiterbildung des A^ristotelismus aufnahm und so neben
dem Hutter'schen Compendium, dem neuen Lehr- und Text-
buch der Gymnasien und der akademischen Lektüren, sein
dogmatisches Riesenwerk als eine zeitgemässe Umformung der
wissenschaftlichen melanchthonischen und als Basis und Fund-
grube aller späteren Dogmatik aufrichtete. In diesem Sinn
hat schon der katholische Theologe Ellis du Pin mit dem
Scharfblick des räumlich und konfessionell Fernstehenden die
beiden Männer neben einander gestellt ^). Es scheint aber
zweckmässig, hiebei die geschichtliche Reihenfolge umzukehren.
Macht man nämlich den Anfang mit Melanchthon, so gewinnt
man bei dem ungeheuren Umfang seiner Arbeiten, bei der
schwankenden Entwickelung seiner Auffassung und bei dem
stets vorwiegenden Interesse für die sogenannten ursprünglichen
Ideen der Reformation keinen sicheren Ausgangspunkt und
namentlich keine Einsicht in die Continuität der geschicht-
lichen Entwickelung der lutherischen Kirche und Doktrin,
vielmehr erlahmt die Aufmerksamkeit gerade da, wo seine
Auffassung für das geschichtliche Verständnis der Folgezeit
entscheidend zu werden beginnt, und man endet nur zu leicht
mit dem an den Bedürfnissen moderner Theologie orientirten
Ergebnis, entweder dass er das Missverständnis der reforma-
torischen Ideen selbst eingeleitet und ein noch grösseres vor-
bereitet, oder dass er mit seinem bald getadelten bald gelobten
*) Das ist schon hervorgehoben von Ranke a. a. 0. I 287, be-
sonders aber ausgeführt von Ritschi, der den Zusammenhang der
melanchthonischen Theologie oder besser Formulirungsarbeit mit der
orthodoxen Dogmatik an die erste Stelle, den mit dem sog. Philip-
pismus an die zweite gerückt hat. Wie daher das über Gerhard zu
Sagende eine Ergänzung zu Gass ist, so bietet das über Melanchthon
zu Sagende eine solche zu Ritschi, doch so, dass auch hier das von
Gass bezeichnete Ziel eines Verständnisses der orthodoxen Wissen-
schaft der massgebende Gesichtspunkt bleibt.
^) Vgl. Cotta in seiner Ausgabe von Gerhards Loci (Tübingen 1762)1,
Vorrede XXXIV und die Elogien bei R. E. Fischer, Vita Gerhardi,
Leipzig 1723, p. 370 ff. Vgl. auch J. A. Dorner, Geschichte der pro-
testantischen Theologie. München 1867, p. 530 über die massgebende
Stellung J. Gerhards. Sam. Ben. Carpzov nennt ihn communis theolo-
gorum hoc saeculo praeceptor Fischer 863, F. U. Calixt communis
Saxonicorum theologorum magister ibid. 362.
Freisinn in den Gang der Dinge nicht recht hineingepasst
habei). Dem gegenüber ist es wohl am Platze, zuerst den
Tatbestand bei dem grossen orthodoxen Theologen zu erheben
und dann zu untersuchen, welche Anknüpfungspunkte sich
hiefür bei dem Schöpfer der protestantischen Dogmatik und
des protestantischen Unterrichtswesens darbieten. Dabei wird
sich die Untersuchung, was den letzteren anbetrifft, auf dessen
eigene, im Corpus Reformatorum gesammelte, Schriften be-
schränken dürfen ; für Gerhard, der die philosophische Bildung
seiner Zeit voraussetzt, nicht selbst entwickelt, wird auf die
philosophische Litteratur der Zeitgenossen Bezug genommen
werden müssen.
I.
Gerhard gibt seine Anschauung über den Vernunft-
gebrauch in der bekannten Formel vom triplex usus philo-
sophiae Loci I 76 ff., II 373, Conf. Cath. I 283, am ausführ-
lichsten Meth. 93 ff. 2). Diese Formel verhüllt aber durch ihre
scheinbare Gleichstellung der drei Arten die Sachlage mehr,
als sie dieselbe erklärt. Sie ist auch wohl aus diesem Grunde
von den Späteren, die sachlich ganz mit Gerhard überein-
stimmen, nicht wiederholt worden 3). Unter den dreien ist
nämlich der usus organicus derjenige, welcher allein das Ver-
hältnis von Vernunft und Offenbanmg adäquat und im vollen
Umfang bestimmt; er ist die Art des Gebrauchs, der zufolge
die philosophischen Disziplinen lediglich zur näheren Erklärung
^) Derselbe Untersebied der Betrachtungsweisen ist von Ad. Har-
nack angedeutet, wenn er Luthers doktrinäre Aussagen über die
8chrift ,, historisch höchst wichtig, sachlich aber gleichgiltig'' nennt.
Lehrbuch der Dogmengeschichte III, Freiburg 1890, p. 582. Mir
kommt es hier nur auf das historisch Wichtige an. Die Frage nach
dem tiefsten und allgemeinsten religionsgeschichtlichen Gehalt der
Refoimation ist eine andere als die nach dem geschichtlichen Zu-
sammenhang derselben mit ihrem nächsten Ertrag, jedenfalls darf
dieser, wie immer bestimmte, Gehalt nicht ohne Weiteres als ursprüng-
liche Idee der Reformation angesetzt und dann die weitere Ent-
wickeluug als Abfall oder Verschiebung geschildert werden,
'•^) Confessio catholica 1633. Methodus studii theologici, Jena 1620.
Die Darstellung in der Confessio ist aus letzterer entnommen.
3) H. Schmid a. a. 0. p. 16 ff'.
8
bei der Schriftauslegungj also zur Wort- und Sachexegese,
herangezogen werden. In diesem Sinne stellt er die eigentlich
offizielle Fixirung des in Frage stehenden Verhältnisses dar^).
Gerhard unterlässt es daher auch nicht, bei der näheren Be-
handlung diesen Umstand klar zu stellen. Usus organicus
latissime patet Meth. 93. Von ihm allein heisst es I 76: usum
hunc commendamus quam maxime, immo vero necessarium
esse dicimus. Atque huc referenda sunt encomia illa, quae
philosophiae (praesertim vero logicae) tribuuntur a veteiibus
satis honorifica ; im Vergleich mit ihm sind die beiden anderen
Arten, der usus catasceuasticus und anasceuasticus, nur
nebenbei „8k TtegLovalag", und „um der Gegner willen", sei
es in nachträglicher Bestätigung der eigenen Position, sei es
in sekundärer Bekämpfung der gegnerischen, geduldet und
auch so nur mit der äussersten Vorsicht zu handhaben, Meth.
103. Soweit sie es nicht mit mehr oder minder zufälligen
Kleinigkeiten zu thun haben, beschäftigen sie sich mit der
natürlichen Theologie, von der es sich ganz von selbst versteht,
dass sie vor allem sich zur philosophischen Apologetik den
Heiden und Ungläubigen gegenüber eignet. Die Frage nach
dem Verhältnis von Philosophie und Theologie hat sich also
in erster Linie an diesen usus organicus zu halten d. h. an
die Verwendung des gesammten philosophischen Stoffes im
Dienst der obersten Fakultät, während die beiden andern usus
mit der natürlichen Theologie zusammen erst im zweiten
Abschnitt zur Sprache kommen sollen. Aber auch der usus
organicus kann nicht ohne weiteres als Ganzes aufgefasst
werden, sondern derselbe zerfällt in zwei sehr verschiedene
Teile, die den zwei Gruppen entsprechen, in welche der phi-
losophische Betrieb selbst sich spaltet, der Instrumental- und
der Bealphilosophie, Meth. 93. Erstere umfasst Grammatik,
Rhetorik und vor allem die höchst wichtige Schullogik, letztere
beschäftigt sich mit der inhaltlichen Erkenntnis der Dinge.
Daher sagt auch Gerhard : de philosophiae partibus instrumen-
talibus distincte agendum, Meth. 99; denn sie stehen zur
Theologie in genau demselben Verhältnis wie zu allen übrigen
Wissenschaften als die den wissenschaftlichen Charakter aller
erst konstituirende, rein formale Denk- und Darstellungskunst
und sind in dieser Eigenschaft von der Theologie bedingungslos
approbirt, während die Realdisziplinen, an sich zunächst Selbst-
zweck, blos zur Theologie eine besondere Stellung einnehmen
und hier nur eine sehr bedingte, durch einen grossen Apparat
künstlicher Vorsichtsmassregeln bestimmte, Geltung haben.
^) So scheint auch Dorner ^t. 534 die Sache aufzufassen.
9
Es handelt sich also an erster Stelle um das Verhältnis der in
den Artistenfakultäten gelehrten RealdiszipHnen zur Wissenschaft
der obersten Fakultät, und erst nach dessen Klarstellung wird
der übrigens nicht minder wichtige Gebrauch der formalen
Vernunft zu erörtern sein.
Im Piinzip allerdings ist die Theologie völhg unabhängig.
Ihr ganzer Stoff ist ja von der Offenbarung gegeben, und an
sich bedürfte es nur der Anwendung der formalen Vernunft
auf diesen Stoff', um eine „wissenschaftliche" Glaubenslehre zu
geben. Daneben könnten die Realdisziphnen in allen Ehren
ihren eigenen Bestrebungen obliegen und der nützlichen Ein-
richtung des menschhchen Lebens dienen. Die Frage, ob
nicht eine philosophische Welt- und Lebensansicht auf ihrer
Grundlage sich erheben und der biblischen gefährliche Kon-
kurrenz machen könnte, sowie die Überlegung, ob nicht der
an einzelnen Stellen gegen sie hervortretende Widerspruch
Symptom einer allgemeineren Differenz sein könnte, bereitet
dem schriftgläubigen Zeitalter keine Sorge. Denn eine philo-
sophische Gesammtansicht gab es nicht, und im Falle eines
solchen Einzelkonffiktes kam es nur darauf an, die Entstehung
eines solchen Scheines aus Unkenntnis der wahren Prinzipien-
lehre oder aus atheistischem Hochmut nachzuweisen. Gleich-
wohl ergab sich die Notwendigkeit, auf die Philosophie Rück-
sicht zu nehmen. Insofern nämlich die Offenbarung eine
Menge von Bestandteilen enthält, welche auch dem natürlichen
Erkennen zugänglich sind, wie physikalische, psychologische,
geographische u. a. Ausdrücke, war es \\ünschenswert diese
„termini" näher zu erklären, und das geschah ganz natur-
gemäss in der Weise, dass man aus dem Kreis der literae,
linguae et disciplinae, quae ad encyclopaediam pertinent i), die-
jenige Disziplin heranzog, welcher der betreffende terminus
angehörte. Daher gibt Gerhard in seiner Methodus p. 93 ff.
folgende Schilderung vom usus organicus: De philosophiae
partibus realibus in specie dicimus, quod earum eruditio
inserviat theologiae in terminorum quorundam explicatione.
Z. B. tempus, locus, coelum, terra, mare, ignis, nix, grando,
pluvia, facultates animae etc. sunt physici (sc. termini); ideo
ex physicis illorum explicationem petit theologus. De profec-
tionibus Patriarcharum, Israelitarum in deserto, Apostolorum etc.
sine ahqua geographiae cognitione, de cursu stellarum, de
Orione, 'de Plejadibus sine astronomiae cognitione disserere
*) So nennt es Calixt im Apparatus theologicus, Helmstedt 1661,
p. 162. Der Apparatus ist überhaupt sehr lehrreich für die Kenntnis
der üblichen Disziplinen.
10
nequit theologus. De virtutibus, temperantia, liberalitate, forti-
tudine etc., de rebus politicis, magistratu, subditis, legibus,
suppliciis etc., de rebus oeconomicis, marito, uxore, liberis,
servis etc. disserturo practicae philosophiae cognitio adjumentum
aliquod praestat. Von der Metaphysik, die Grerhard ebenfalls
in diesem Zusammenhang behandelt, wird später die Rede
sein 1). Der usus organicus ist demnach einfach zu bezeichnen
als Eealerklärung biblischer Stoffe mit Hilfe der philosophischen
Disziplinen. Diese Realerklärung bildet den eigentlichen Kern,
die einzige offizielle Art des Verhältnisses von Philosophie und
Theologie ; dies ist auch der sehr einfache Sinn, welchen die
Formel von der Herrschaft der Theologie oder dem Magddienst
der Philosophie in sich schliesst^). Calixt erklärt den Satz
ancillari philosophiam theologiae geradezu mit den Worten:
recte dixero, philologiam proxime et proprio voces, philosophiam
vero adminiculo vocum res explicare (Appar. 45), und Gerhard
versichert demgemäss kurzweg: theologia nostra in hac vita
fere tota est grammatica (III 14). So mechanisch und äusser-
Hch dieser usus organicus aufgefasst ist, so stellt er doch nicht
etwa blos ein notdürftiges Kompromiss zwischen den beiden
Wissenschaften dar, neben dem die Philosophie ihre eigent-
liche Aufgabe erst noch zu erfüllen hätte, sondern diese Auf-
fassung enthält den Gesichtspunkt, der wesentlich und ent-
scheidend für die ganze Artistenfakultät überhaupt in Betracht
kommt, bezeichnet die Richtung, in welcher die Hauptmasse
der philosophischen Produktion sich bewegt. Auch nicht blos
von der Theologie aus angesehen erscheint die Philosophie in
dieser Stellung. Sie und ihre Disziplinen wurden von Haus
aus immer nur als die unentbehrliche Vorschule zu den oberen
Fakultäten angesehen und nur nach dem Nutzen beurteilt,
den sie für diese abwarfen 3). Ganz in diesem Geiste sind
bereits die Statuten der Wittenberger Artistenfakultät, das
*) Fast wörtlich hiemit übereinstimmend ist die Darstellung des
Verhältnisses von Philosophie und Theologie bei Balth. Meisner,
Philosophia sobria, Giessen 1613 ff., I p. 21 ff., nur dass die Bezeich-
nung als usus organicus nicht angewendet wird. Ebenso Calixt, Appa-
ratus 13 ff.
2) Dieser Sinn ist nicht einfach genug gefasst von Gass I 209 ff.
Die Sache ist genau so äusserlich gemeint, w^ie sie ausgesprochen ist.
Auch Baur, Vorlesungen über Dogmengeschichte, Leipzig 1865 — 67,
III 35 ff. und Kahnis, Lutherische Dogmatik, Leipzig 1861, I 80 ff.
sind nicht viel deutlicher.
^) Vgl. die Beurteilung der humaniora in der Leichenrede Calixts
auf Cornelius Martini bei E. Henke, Georg Calixtus und seine Zeit,
Halle 1853 ff., I 108 und das Urteil Henkes über diese Nützlichkeits-
theorie, I 30.
11
Vorbild aller übrigen Organisationen, von Melanchthon im
Jahre 1545 abgefasst^). JDort werden die zehn Lektoren der
Artistenfakultät festgestellt, drei Aristoteliker, einer für Dialektik
und Ehetorik, zwei für Physik, zwei Mathematiker, drei Lati-
nisten, ein Hebraist und ein Gräcist, deren Arbeitsteilung in
der Folge nur unwesentlich verändert worden ist. Eröffnet
werden die Statuten mit folgender charakteristischen Anpreisung
ihres Nutzens: Dens aeternus, pater domini nostri Jesu Christi
ostendit generi humano literas et numerorum, figurarum anni,
remediorum, legum de regendis civilibus moribus doctrinam et
historias et servat haec dona nobis non soluni, ut sint praesidia
hujus vitae communia omnibus gentibus, sed multo magis eo,
qiüa, cum Dens immensa bonitate se patefecerit, .... voluit
hanc suam patefactionem, dicta et testimonia mandari literis
per Patres, Prophetas et Apostolos et hac doctrina sibi eccle-
siam colhgi. . . Cum igitur necesse sit hunc librum a Deo nobis
commendatum cognoscere neque id sine cognitione literarum,
Hnguarum et multarum artium fieri possit, manifestum est in
primis ecclesiae Dei literarum studia necessaria esse. Der
zweite daneben zur Geltung kommende Gesichtspunkt ist dann:
has ipsas literas atque artes . . . etiam nervös esse salutaris
gubernationis X 1008 ff. Ebenso lehrreich sind die Statuten
von Helmstedt, welche von den Konkordisten Chemnitz und
Chyträus nach dem Vorbild der Wittenberger und Jenenser
1576 ausgearbeitet wurden ^). Auch in ihnen werden die radii
lucis, literae, linguae et artes, quas uno philosophiae ymI ey-
y.vy.lo7z<xLdeiag nomine usitate complectimur ^) auf die erwähnten
zehn Lektüren verteilt, und die Bewahrung dieses auf den
götthch inspirirten^) Autoritäten des Altertums begründeten
Schatzes den Dozenten derselben anvertraut zum Nutzen des
Reiches Gottes. Doch ist dies nur der Vorkursus für die
oberste Stufe, welche artes complectitur, quae ecclesiam et rem
publicam et totam hominum vitam gubernant et tuentur d. h.
Theologie, Jurisprudenz und Medizin s). So ist der usus or-
ganicus die Idee, welche von Anfang an durch ein Jahr-
hundert dem wissenschaftlichen Betrieb offiziell zu Grunde ge-
legen hat. In diesem Sinn hat er auch eine grosse Litteratur
1) C. R. X 1008-1024. Vgl. dazu Paulsen 155 ff. 150 ff.
2) Ausführliche Mitteilungen darüber bei Henke I 22 fi.
3) A. a. 0. 29.
■') A. a. 0. 29.
^) A. a. 0. 30. Die Medizin tritt übrigens überall sehr zurück.
Tatsächlich stehen Theologie und Jurisprudenz als die Vorschulen
für die kirchlichen und politischen Beamten des Fürstentums allein
im Vordergrund.
12
hervorgebracht, aus der Buddeus ^) eine stattliche Zahl von Bei-
spielen angegelDen hat, so (nach dem Vorbild des Hierozoicon
von dem Beformirten Bochart) eine brevis et accurata animalimn
in sacro cumprimis codice commemoratormn historia und eine
physiologia sacra von Mey, eine historia animalium sacra von
Franz, eine physica lobi von Scheuchzer, sodann Vogler de
rebus naturalibus ac medicis quarum in scriptura fit mentio,
Ursinus arboretus biblicus, phytologia sacra, herbarius sacer et
hortus aromaticus, Schriften de gemmis sacris u. s. w. Dem-
selben Zweck einer bequemen Darbietung des Stoffes sämmt-
licher Disziplinen dienen die grossen encyklopädischen Werke
vor allem das in dieser Beziehung bahnbrechende Werk des
H. Alstedt, das dann lutherisch ereeits von Calov, Bingelberg
und andern nachgeahmt wurde 2), desgleichen die „vielfältigen
logicae, ethicae, politicae etc. Christianae", welche Beimmann
erwähnt, und die ihre Barallele an ähnlichen juristischen Lo-
giken haben 3). Man sieht, bei aller Vorsicht steht doch die
Bhilosophie in den höchsten Ehren, und das Verhältnis zu ihr
ist in erster Linie ein freundliches. Sie wird mit Lobsprüchen
aller Art überhäuft und bildet eine Grundsäule des ganzen
bürgerlichen Lebens mit seinen Ordnungen und Literessen
(Meth. 5 ff.); wer sie in ihrem geordneten Bestand durch
Geringschätzung verletzt oder durch fremde und neue An-
sichten gefährdet, ist als staatsgefährlicher Neuerer und Be-
volutionär unschädlich zu machen ^). Kein Theologe darf in
das Heiligtum der Theologie eintreten, ohne in dieser heli-
konischen Quelle seine Hände gewaschen zu haben ^), und die
Heroen der theologischen Gelehrsamkeit selbst steigen lernend
^) Fr. Buddeus, Isagoge liistorico-theologica, LeijDzig 1730, p. 248.
2) A. a. 0., p. 97.
^) 3. F. Reimmann, Versuch einer Einleitung in die historiam
literariam der Teutscben, Hall 1708 ff., III p. 200 und 456, ein Werk,
das trotz der Herrschaft eines bereits stark veränderten Geistes
dennoch für die Stabilität des Betriebes noch nach 100 Jahren sehr
lehrreich ist. Sein Grundsatz ist, dass ,,jede Facultät ihr Wesen vor
sich und also ihre eigene encyclopaediam" habe I 17, und demnach
„der Vortrag sich nach denen Facultäten und Disciplinen" zu halten
habe III 2.
'^) Durch solche Vorstellungen führen die chursächsischen Ge-
lehrten das Verbot des Ramismus herbei. J. H. ab Eiswich, De varia
Aristotelis in scholis protestantium fortuna, Wittenberg 1720, p. 74.
Ganz die gleichen macht Corn. Martini gegen die Gegner seiner Logik,
Henke I 258. Vgl. die Verbote des . Cartesianismus und den Eid auf
Aristoteles bei Gust. Frank, Gesch. d. prot. Theol. II 84 ff,
^) Dieser Spruch des Gregor von Nazianz kehrt als stehende
Redensart immer wieder; bei Gerhard Meth. 39.
13
und lehrend erst durch die philosophische Fakultät empor in
die theologische i). Als die braunschweigischen Theologen sich
gegen ihre allzu humanistische Artistenfakultät erhoben und
etliche Ramisten sowie Mystiker sich ihrer Opposition an-
schlössen, da rührten sich allenthalben die lutherischen Ge-
lehrten zur Ehrenrettung des geschmähten Vernunftlichtes, das
doch auch von Gott gegeben und eine Grundlage der heihgen
Staatsordnung ist 2). Man sieht aber auch, diese Philosophie
ist keine das Welterkennen aus einem Prinzip und im vollen
Umfang umfassende Wissenschaft, sondern eine in verschiedene
Disziplinen zerfallende encyklopädische Bildung, die in gere-
gelter Tradition jede einzelne für sich bearbeitet und aus einem
Kompendium in das andre umgiesst, um den Zeitgenossen als
Reallexikon allgemeiner Eildung, als Nachschlagebuch für jeden
beliebigen „terminus" zu dienen 3). Die ganze „Wissenschaft"
hat einen stark lexikalischen Charakter, womit die ausser-
ordentliche Neigung zum gegenseitigen Ausschreiben *) und die
unglaubliche Rolle, welche Kollektaneen und Tabellen bei
dem Studium spielen, gut übereinstimmen ^). MögKch war dies
alles niu^ dadurch, dass zugleich die unbefangene Voraussetzung
einer völligen Deckung der biblischen Realien mit den philo-
sophischen herrschte. Man war überzeugt, dass das aristote-
Hsche Weltwissen als die einzige, seit fast zwei Jahrtausenden
herrschende, Kodifikation des natürlichen Erkennens ganz von
selbst mit den nicht-mysteriösen Bestandteilen der Bibel über-
einstimmen müsse, da es ja nur eine Vernunft gibt. Diese
Überzeugung w^iederum war dadurch ermöglicht, dass der
Aristotelismus selbst bereits chiistianisirt und in den Haupt-
diiferenzen der Weltlehre und der Unsterblichkeitslehre der
1) Tholuck, Ak. Leben, I 294 ff.
2) Henke I 70 ff. 221 ; die Gutachten der Wittenberger Fakultät
bei Eiswich p. 79ff. ; vor allem der hiegegen gerichtete Vernunft-
spiegel Jakob Martinis, Wittenberg 1618. — Auch Brucker IV 779 ff.
^) Ein starkes Beispiel ist Ph. Richter, Lexicon ethicum omnium
terrainorum usitatorum et ad philosophiam moralem pertinentium sig-
nificationes, etymologias, homonymias, distinctiones, differentias aliasque
observationes nervöse et perspicue ostendens, mit Tabellen, grossem
Index und mit Citaten aus variorum approbatorura autorum scriptia
et glossis, Nürnberg 1627.
*) Vgl. die ergötzliche Darstellung des Schuppius bei Tholuck,
Ak. Leben I 90, auch die Vorwürfe gegen Gerhards Patrologie Cotta
I p. XLVII, ferner den Spott Montfaucons über diesen billigen Prunk
mit Citaten bei Pf äff, Hist. lit. I 16.
^) Paulsen 241. Gass I 188. Vgl. das unten über Gerhard zu
Bemerkende sowie besonders die 26 Tabellen, die Calovs scripta philo-
sophica, Lübeck 1651 beigegeben sind und fast die ganze Philosophie
in einem bequemen Überblick der Benutzung darbieten.
14
Offenbarung konformirt war, sowie dass andrerseits die bibli-
schen Realien traditionell und selbstverständlich im Sinn des
„Aristotelismus" aufgefasst wurden. Daher bezeichnet Brucker
von einem Standpunkt aus, der die Differenz beider erkannt
hat, diese Bildung als syncretismus biblico-Aristotelicus i).
Jenes Zeitalter hatte aber noch keine solchen Zweifel,
und in dem beruhigenden Gefühl von der Selbstverständlich-
keit des usus organicus machte man von demselben den weit-
gehendsten Gebrauch, ohne allgemeine, sichere Grenzen
festzusetzen, l^ur für die eventuell im Einzelnen sich er-
eignenden Konflikte musste Vorsorge getroffen werden und
zwar in einer Weise, die es ermöglichte den Kompetenzstreit
von Philosophie und Theologie um den jeweiligen terminus
in vollkommen wissenschaftlicher Weise, aber doch natürlich
im Sinne der alleinigen Wahrheit des Dogmas zu schlichten.
Dazu bot z. B. besonderen Anlass die Polemik der Reformir-
ten, welche gegen die lutherische Ubiquität stets den liiebei
gebrauchten terminus der Lokalität urgirten. Um solcher
Fälle willen erörtern die Dogmatiker das an sich als selbst-
verständlich vorausgesetzte Verhältnis von Vernunft und
Offenbarung und entwickeln dabei eine Prinzipienlehre, die
zu gleicher Zeit eine Rechtfertigung des usus organicus und
ein System von Vorsichtsmassregeln bei der Ausübung des-
selben ist.
Daher behandelt auch Gerhard die Sache nur gelegent-
lich, so in dem sehr kurzen 11. Kapitel des locus de inter-
pretatione scripturae I 76 ff. und in dem ähnlichen 22. Kap.
der exegesis uberior, wo er einen diesbezüglichen Exkurs gegen
Socinianer und Calvinisten richtet 11 362 ff. und 371 ff., ferner
in den Einleitungen zur exegesis und zur Methodus, in der
protheoria zum locus de Trinitate II 214 ff., bes. 228 ff.,
speziell in einem Exkurs über den Satz vom Widerspruch
gegen die Reformirten Keckermann und Alstedt Meth. 119
— 132. Ausserdem sind natürlich die Aussagen über scriptura
und fides herbeizuziehen, sowie der locus de libero arbitrio,
der den ganzen natürlichen Menschen beschreibt, und die
eschatologischen loci, welche den idealen Zustand der Seelen-
vermögen schildern; dagegen kommen die Aussagen über die
natürliche Theologie I 93 ff. und III 40 ff. hier nur soweit
in Betracht, als sie von den Prinzipien handeln.
Da es sich fast an allen diesen Stellen um Verteidigung
*) Jak. Brucker, 'Historia critica philosophiae, Leipzig 1743, IV
p. 755 ff. ; er behandelt ihn unter der Rubrik der synkretistischen
Philosophie.
15
des Offenbarungsprinzips und Bekämpfung der Vernunftprin-
zipien iiandelt, so triiit man selten eine positive Darlegung
der letzteren. Doch lässt sich diese aus den polemischen
Erörterungen leicht herausziehen. Was sich dabei ergibt, ist
Folgendes.
Der grundlegende und für alles Übrige entscheidende
Satz ist der, dass das menschliche Erkennen in zwei toto coelo
verschiedene Sphären zerfällt, von denen die eine dem Ver-
nunfterkennen, die andere der Offenbarung angehört, die aber
beide in ihrer Art gleichberechtigt und gleich sehr in der
Natur der menschhchen Seele begründet sind. So wird II 371
mit Bestimmtheit für die ratio ausgeschieden eine sphaera
earum rerum, quae rationis judicio sunt subjecta, für die fides
eine sphaera earum rerum, quae sunt ultra omnem rationis
captum posita. Jede hat ihr bestimmt umschriebenes Gebiet,
terminos sui objecti II 372, erstere die Natur und den
menschlichen Geist, letztere die Offenbarung der Schrift; sie
sind gleichberechtigt und doch verschieden, wie jeder Staat
seine eigenen Gesetze hat, ohne dass dadurch die des andern
beeinträchtigt würden. II 372 ff.
Im grösseren Rahmten der Psychologie, also mit Einschluss
der Willensseite, erscheinen beide Sphären näher als eine
niedere weltliche und eine höhere geistliche unter-
schieden.' Objectum liberi arbitrii aut est mundanum seu
humile, quod subjacet sensibus et rationi humanae nee excedit
ejus captum nee opus habet lumine supernaturali, aut est
spirituale sive sublime, quod rationem superat et vires naturales
excedit et indiget illuminatione spiritus; zu ersterer Sphäre
gehören quae propria sunt hominum et ad vitam humanam
pertinent, uti artes omnes tarn mechanicae quam liberales,
virtutes morales, scientiae philosophicae etc., zu letzterer
Gottesdienst, Glaube an das Evangelium und Gotteserkenntnis
V 201. Noch schärfer in diesem Sinn durchgeführt ist die
Unterscheidung V 101, wo die beiden Gebiete direkt als in-
ferius und superius hemisphaerium bezeichnet werden. Die
Verbindung der betreffenden Erkenntnis mit den zugehörigen
W^illensakten innerhalb jeder Sphäre ist das eigentümliche
Merkmal dieser Anschauung. Nicht das Erkennen als solches
kommt jedesmal in Betracht, sondern das Erkennen im engsten
Zusammenhang mit dem ganzen zugehörigen Kreis von Lebens-
betätigungen. Die natürhche Vernunft und ihre Disziplinen
haben ihren Sinn allein darin, dass sie als Mittel zum Zweck
der vita animalis und der justitia civilis (V 201) mit diesen
zusammen die Sphäre des liberum arbitrium konstituiren.
Beliquae disciphnae (ausser der Theologie) de illis tractant,
16
ad quae mentis humanae acies potest pertingere, utpote de
rebus politicis, physicis etc. tradunt doctrinas ad hujiis vitae
cursum tranquille, honeste et commode traducendum utiles et
necessarias et hominem, quatenus in civili societate in hac vita
consideratur, objecti loco sibi propositum habent. Meth. 6.
Ebenso eng gehören in der andern Sphäre die Erkenntnis der
Mysterien und die neuen motus spirituales (VIII 5) sowie die
hierauf beruhenden opera spirituahter bona (V 101) als gleicher
Weise vom heiligen Geist gewirkte Correlata zusammen.
Theologiae Studium est ignorantiae in rebus spiritualibus nobis
connatae atque ccTa^iwg in affectibus haerentis remedium, ad
sanctitatis et pietatis culturam 6Qf.irjTii]Qiov, quotidie Deum in
verbo audiendi et cum Deo per preces coUoquendi medium
adeoque sanctissimae et beatissimae illius societatis, quam in
coelo expectamus, quoddam praeludium. Meth. 5. Der Glaube
ist cognitio Dei, und diese ist finis hominum, vita und salus;
ubi tamen notandum intelligi non nude historicam (sc. cogni-
tionem), sed practicam, non literalem, sed spiritualem, non
aegyov et otiosam^ sed efficacem et operosam, quae scilicet
veram in Christum fidem complectitur in corde interius et per
Studium bonorum operum se commendat exterius. (III 2). Der
Glaube ist eine von Gott geschaffene lux spiritualis, vergleich-
bar dem bei der ersten Schöpfung geschaffenen Licht,
Theoretisches und Praktisches gleich umfassend. (II 342) ^).
^) Vgl. dazu die ausführlichen Auseinandersetzungen in der pro-
oemialis protheoria de S. S. Trinitate, wo das Verhältnis von schola
sapientium hujus saeculi und schola superior Spiritus Sancti,
lumen naturae und lumen gratiae, scientia humana und sapientia
divina, axiomata philosophica und mysteria divina, sphaera sublunaris
und sphaera supercoelestis, votjTa und niara ausführlich und streng
technisch entwickelt wird II 229. 233, Dort werden auch ausdrück-
lich die beiden Merkmale der Vernunftsphäre, quantitative Beschränkt-
heit gegenüber der Offenbarungssphäre und fleischlich-irdische Sinnes-
art gegenüber dem Geist Gottes, zusammengestellt, p. 229. Ratio
humana . . non solum destituitur ^wauti divina plene et perfecte
cognoscendi, sed etiam contrario habitu errores et vitia sectandi est
corrupta 1 Cor. 2, 14. Illatio apostoli est talis: Spiritualia oportet
spirituahter judicari, id est, ad spiritualia mysteria percipienda et
judicanda requiritur intellectus Spiritus S. luce collustratus. Beide
Merkmale hängen derart zusammen, dass die Vernunft, welche die
Heilskraft der Offenbarungssphäre noch nicht erkannt hat, abgeneigt
ist, sich dem Prinzip der letzteren anzuvertrauen und sich daher lieber
auf die sicherer scheinenden Erkenntnisprinzipien ihrer eigenen Sphäre
verlässt ibid. Gleichwohl wird damit den princ. phil. an sich kein
Vorwurf gemacht p. 230. Sie dürfen nur nicht als generaiia be-
trachtet werden, wie der fleischliche Sinn zu tun geneigt ist, und wie
die Scholastik tat; in eua dumtaxat sphaera obtineant veritatem
p. 229 und 230.
17
Die Verschiedenheit und Gleichberechtigung beider Sphären
zeigt sich vollends in dem Verhältnis; das zwischen ihnen im
Uretand und im Stand der Wiedergeburt als Ideal der richti-
gen Verhältnisbestimmung obwaltet. Sie sind dann nämlich
nicht etwa weniger scharf, sondern noch viel klarer und
schärfer geschieden, insofern die Seele hier die Eigenart der
spiritualia erfahren und dadurch völlige Einsicht in die prin-
zipielle Verschiedenheit beider Sphären gewonnen hat. Die
rectitudo omnium facultatum animae im Urständ und die ratio
revelatione collustrata bedeuten nichts anderes, als dass hier
die Neigung des unwiedergeborenen, den Wert der spiritualia
nicht kennenden, Menschen völhg fehlt, in der er sonst die
niedere Sphäre mit der höheren zu vermischen und die letztere
nach der ersteren zu beurteilen versucht ist II 371 ff. I 79
III 229. Man erkennt deuthch das Bestreben, den Unter-
schied beider als einen qualitativen zu bestimmen; nur nach
der Seite des theoretischen Inhalts erscheint er lediglich als
ein quantitativer. Es sind zwei getrennte Reiche mit grund-
verschiedenen, nur innerhalb ihres Bereiches gültigen, Gesetzen,
aber geeinigt durch den gemeinsamen Oberbegriff der Wahrheit
II 372 ff., nur dass man über das Wesen dieses Oberbegriffes
und über sein Verhältnis zu den Unterarten nichts erfährt,
sondern sich ganz allgemein mit dem Eindruck zu begnügen
hat, es handle sich in beiden Sphären um gottgewollte Wahrheit.
Ist in dieser Weise der Unterschied beider Sphären klar
erkannt, so muss derselbe noch „w^issenschafthch" formulirt
werden. Das geschieht nach der Vorschrift des Meisters
Aristoteles: Quaehbet discipKna sua habet axiomata II 373,
d. h. jede Disziplin hat ihr Existenzrecht und ihren absoluten
Beweisgrund in einem letzten nicht weiter zu beweisenden
Prinzip, auf das immer schliesslich zurückgegangen werden
muss, wenn ihre Sätze streng bewiesen werden sollen i). Von
^) Von diesem Grundsatz bat daher die Darstellung der orthodoxen
Prinzipienlehre auszugehen, nicht von der erst später aufgenommenen
(Schmid p. 17) Unterscheidung der articuli puri et mixti, wie
Dorner p. 535 ff. thut. Wenn D. dann freilich p. 542 den oben be-
zeichneten Grundsatz nachholt, so geschieht es ohne Berücksichtigung
des allgemeinen, die Gesammtheit der Wissenschaften umfassenden,
Zusammenhangs der Prinzipienlehre. In dieser allein aber hat man
die eigentliche und offizielle Fixirung des Verhältnisses von Vernunft
und Offenbarung zu suchen; die Unterscheidung von artt. puri et
mixti ist erst eine entferntere Folge dieser Prinzipienlehre. Daher
kommt es auch bei Dorner zu keiner rechten Klarheit über die Sache,
sondern nur zu einer sehr allgemeinen Kritik. — Ganz in Dorners
Sinn gehalten ist Harries, De articulis puris et mixtis, Göttinger
Preisschrift 1857.
18
diesen Prinzipien aber gilt nach Aristoteles Metaph. I c. 2:
Principia in qualibet disciplina debent esse jtQCüTa xal a/nsoa^
dlrjO-rj, avvjtevO-vvay civxouLöTa, dvavTiQQrjza Aal dvan6d£i7.Ta
adeo, ut quidquid illis adversatm*, nihil eo fallacius Omnibus
recte judicantibus appareat et vicissini, quidquid illis congruit,
certum et firmum esse omnes statuant II 8; derselbe Grund-
satz ist ausgesprochen II 41 und II Sbl. Als ein Prinzip
in diesem Sinn die heilige Schrift für die Offenbarungssphäre
alles Ernstes zu erweisen, war der Zweck von Grerhards Avich-
tiger und für alle Folgenden vorbildlichen Neubearbeitung des
locus de scriptura. Principia in scientiis suam in se ac per se
autoritatem et certitudinem obtinent ac statini ut proferuntur,
approbatione digna censentur, quo respectu etiam axiomata
dicuntur. . . Sic scriptura, quia primi principii rationem obtinet,
ideo suam internam et immotam autoritatem in ecclesia obtinet,
quae non aliunde, ab ecclesiae scilicet autoritate, illi confertur
II 41, vgl. genau denselben Gedanken I 12. Andrerseits
erscheinen als Prinzipien der Vernunftsphäre die üblichen
„Axiome": notitiae communes (gewöhnlich xoival ewoiac
genannt), sensus, experientia, inductio I 79; zu der in ihr er-
reichbaren Erkenntnis erhebt sich der Intellekt per xoLvdg
hvolag et discursum ex inspectione creaturarum deductum
Conf. Catli. I 281. Werden diese „Prinzipien'^ auch bisweilen
verschieden aufgezählt, so handelt es sich doch stets um die-
selben Grössen, um Xoyog und rtelga, um die angeborenen Ideen
und die Gesetze der empirischen Reflexion (Meth. 6). Es
sind also beiderseits allen Anforderungen der Wissenschaft
entsprechende Prinzipien, auf denen jede Sphäre ruht, die
Theologie auf einem einzigen, alles umfassenden, die Philosophie
auf einer Mehrzahl, wie es ihrer Verteilung auf verschiedene
Disziplinen entspricht.
Als Prinzip qualifizirt sich ein derartiges Axiom durch
seine unmittelbare Selbstevidenz. Für die philosophischen
Prinzipien brauchte der Theologe diese letztere nicht nachzu-
weisen, sondern konnte sie aus den üblichen Lehrbüchern
voraussetzen, indem er es unternahm, nach ihrer Analogie das
Offenbarungsprinzip technisch streng zu bestimmen. Es kam
also darauf an, diese Selbstevidenz auch an der Schrift nach-
zuweisen, die Prädikate avTOTciOTog, d^iOTiLOTog, dvano-
öcLv-Tog etc. auch an ihr in concreto aufzuzeigen I 7 fP.,
II 36 ff. Diese Merkmale werden hier sämmtlich gefunden
in dem Begriff der efiicacia Spiritus Sancti in cordibus. Spi-
ritus S. in ipsorum cordibus testatur, quod spiritus sit veritas,
id est, quod doctrina a Spiritu S. profecta sit immota veritas
I 9. Quomodo de autoritate verbi divini in scripturis contenti
19
230ssiint qiuierere, qui vim et efticaciani verbi in cuixle siio
ipsimet sentiiint et per illiid ad vitam aeternam sese regenitos
esse agnoscinit? II 36. Quin immo testatur id cujusque pii
experientia ; ideo enini hoc ve] illud dogma firma fiele amplec-
tiniiir, qiiia in scripturis s. divinitus illud revelatum esse cog-
noscimus, non quia ecclesia illud proponit. Principimn primum
non habet aliquid prius et fundamentum non fundatur in alio
II 41. Diese Stellen, welclie sich noch stark vermehren
Hessen, begründen ausdrücklich und prinzipiell die gesuchte
Selbstevidenz auf das, was man heute technisch als „innere
Erfahrung" bezeichnet. Obwohl diese letztere Bezeichnung
nicht fehlt, so herrscht doch der Ausdruck testimonium Spiritus
S. internum vor II 37, mit welchem genau dasselbe gemeint
ist, nämlich die fromme Erfahrung als wissenschaftliche Grund-
lage für den Beweis der Selbstevidenz des theologischen
Prinzips. Nur wenn man es in diesem Zusammenhange auf-
fasst, wird das bekannte testimonium recht verstanden und
seine grundlegende Bedeutung für den „wissenschaftlichen"
Charakter des Systems genügend gewürdigt^).
Unter diesen Umständen ist es auch nur natürlich, dass
zugleich die innere Korrespondenz zwischen jedem Prinzip und
seiner zugehörigen Sphäre erkenntnistheoretisch klar gemacht
wird. Omnis notitia versatur inter rem cognoscendam et in-
tellectum cögnoscentem, „quia intellectio est speciei ab objecto
cognoscendo abstractae in intellectum receptio". Scalig. Ex.
307 sect. 21. Requiritur igitur inter intellectum cögnoscentem
et rem cognoscendam adaequatio, proinde ut in visione, quae
est intellectionis quasi umbra et 7iaQdöeiyf.ia. Das gilt von
den Prinzipien der natürlichen Sphäre, aber ganz analog gilt
dasselbe auch von denen der mysteriös-spiritualen. Quia ergo
mysteria fidei in scripturis proposita sunt divina ex immediata
Dei revelatione profecta, ideo intellectus nostri per peccatum
') So auch Kaftan, Wahrheit der christlichen Religion, Basel
1888 p. 155; auch Klaiber in der Abhandlung über das testimonium
Sp. S. in den Jahrbb. f. deutsche Theol. 1857, sowie Tholuck, Kirch-
liches Leben I 81 ff. Nur musste der Zusammenhang mit den aristo-
telischen Vorschriften mehr hervorgehoben weiden. Vgl. auch Dorner
540 ff. Von der inneren Erfahrung moderner Theologen unterscheidet
sich die der alten durch strengere und klarere Bestimmung des zu
Erfahrenden und durch nachdrücklichere supranaturale Motivirung.
Die alte verbürgte den klaren Schriftinhalt, die neue verbürgt zunächst
lediglich sich selbst, gestattet aber, durch die nötigen Folgerungen
einen Inhalt aus ihr zu entwickeln, der dann mit den unentbehrlichsten
Wahrheiten der Schrift und des kirchlichen Bewusstseins zusammen-
trifft. Die alte ist in Bezug auf Klarheit und Sicherheit bedeutend
im Vorteil.
9*
20
misere corrupti sphaeranij ut ita loquar, excedunt. 1 Cor. 2, 14.
Proinde praeter nativas intellectus nostri vires et piimaevas,
ut ita loquar. opes requiritur divini luminis irradiatio, alias
mysteria in scripturis proposita sunt liber clausus et signatus.
Das hat vor allem Luther, ex quo fönte distinctio inter noti-
tiam literae et spiritus promanavit, in massgebender Weise
gelehrt I 50 ff. In diesem Sinne wird die Forderung der
Mitteilung spiritualer Kräfte d. h. religiösen Verständnisses
unaufhörlich wiederholt und in einer stehenden Vergleichung
der ersten Schöpfung als dvccKtioig und dvaTtlaaig zur Seite
gestellt 1). So ist, wie zwischen den beiden Sphären selbst,
auch zwischen ihren Prinzipien ein quaUtativer Unterschied.
Wohl ist das Erkennen in beiden lediglich theoretisches Er-
kennen, nur durch das Mass der Tragweite unterschieden;
aber da der Gedanke eines „reinen Erkennens" völlig fern
liegt, so kommt es immer nur in der engen Verbindung mit
seinen Zweckbeziehungen in Betracht und geht dadurch ein
in den G-egensatz zwischen Weltlich und GeistUch, Profan und
ReUgiös. Wie misslich die Grenzscheidung nach der theore-
tischen Seite ist, zeigt die Nebeneinanderstellung folgender
Sätze: axiomata philosophiae sunt specialia et in sua dumta-
xat sphaera obtineant veritatem Meth. 115 und Sic theologiae
principia sunt simphciter prima et summa, quae nulla aliarum
disciphnarum principiis subordinantur, sed reliquarum sci-
entiarum principia non simpliciter, sed in suo dumtaxat genere
sunt prima ac theologiae principio subordinantur Meth. 8 ; d. h.
die Offenbarung darf ihrerseits in alle Disziphnen als gleich-
artige Grösse eingreifen, und die Getrenntheit der Sphären
wie der Prinzipien kommt eigentlich nur von der Vemunft-
sphäre aus in Betracht. Derselbe Übelstand zeigt sich in dem
bekannten absurden Satz, dass eine ganze Anzahl natürlich
schon bekannter Sätze trotzdem von der Offenbarung noch
einmal offenbart sei II 9 2). Auf der andern Seite bezeugen
aber die angeführten Aussagen und die grundlegende Tat-
sache, dass es bei allem Erkennen immer auf dessen Nutzen
und Betätigung ankommt, die bewusste Absicht beide Gebiete
quaUtativ zu scheiden als zwei Reiche mit eigenen Gesetzen,
die nur Provinzen eines beide umfassenden grösseren Reiches
sind II 372 ff.
^) II 342 344 IV 238 V 317 VII 163 u. öfter.
2) Von diesem letzten Satz geht besonders Kaftan p. 149 bei
seiner Beurteilung der orthodoxen Prinzipienlehre aus. Vgl. auch
C. F. Baur, Vorlesungen III 42. Doch ist er erst eine abgeleitete
Folge der Grundthese.
21
Vor allem muss man sich hüten, diese Gebietsteilmig und
ihre Zmiickführung auf ihre respektiven Prinzipien für etwas
blos Gelegentliches, Allgemeines und Ungefähres zu halten,
vielmehr soll sie im vollen Ernst eine durchaus wissenschaft-
hche, präzise, allen Ansprüchen des Aristotelismus glänzend
genügende, Fixirung der Gegensätze, ein Grundpfeiler des
Systems aller Wissenschaften sein. Moderne Beurteiler haben
hiebei leicht nur die Schwächen des Offenbarungsprinzips im
Auge^), wie dieselben nach unserer Meinung in „der Undeut-
hchkeit und Unselbständigkeit'' d. h. in der sehr äusserlichen
Begründung der Offenbarung auf blosse Autorität hervortreten,
und beachten nicht den ganzen Zusammenhang der Prinzipien-
lehre. Für die Betrachtungsweise jener Zeit aber war beides
vielmehr gerade ein eminenter Vorzug, insofern das Prinzip
der Schriftoffenbarung in seiner absoluten Irrtumslosigkeit und
seiner spiritualen Kraft gegenüber den auf sich selbst ver-
wiesenen, schwachen und auf die weltlichen Dinge beschränkten
Vernunftprinzipien eine unvergleichlich grössere Garantie gibt,
und gerade diesen Vorzug strebten sie im Zusammenhang
ihrer Prinzipienlehre technisch- wissenschaftlich zu iixiren.
Theologia reHquis omnibus (disciplinis) longissime antecellit
principiorum certitudine . . rehquarum piincipia sunt Aoyog /.al
TtsJga, lumen naturae et experientia, quae inferioris non solum
gradus sed etiam certitudinis sunt quam lumen scripturae et
gratiae Meth. 6. Ex principii conditione theologia innititur
divinae revelationi, quae est avTaXri^eia II 12; ganz ähnlich
Meth. 114; die Theologie macht im Gegensatz zur Philosophie
den Menschen aKivrjvog ymI a/naTccTthoTog Meth. 186. Daher
^) A Ritsch], Fides implicita p. 72 ff. und 95 ff. Kaftan 156. Es
ist doch sehr die Frage, ob der Dualismus von Vernunft und Autorität
etwas spezifisch Katholisches ist, wie Kaftan p. 168 will, oder ob
derselbe nicht irgendwie in dem Wesen jeder positiven Religion un-
vermeidlich begründet ist. Vgl. für den Unterschied des Verhältnisses
bei Gerhard und bei Thomas die Stelle VII 80. Fides non est talis
quaedam notitia, quae rationem et evidentiam rei sequitur, ex eo
autem non sequitur, quod nullo modo sit notitia (zu welcher Con-
sequenz die Jesuiten sie zu drängen suchten), quin potius per-
fectius cog noscimus, quae fide, qu am quae ratione cog no s-
cimus. Dazu führt er als katholisches Zeugnis an: Thomas 2, 2 qu.
•i, art. 8 concludit, quod fides certior sit aliis virtutibus intellectu-
alibus, cum innitatur divinae veritati, reliquae vero humanae rationi.
Aliaetamen certior es sunt quoad nos, quia intellectus
plenius eas assequitur. Das letztere hätte der protestantische
Theologe nie gesagt, und hierin scheint mir auch der wesentliche
Unterschied der scholastischen und der protestantisch-orthodoxen
Prinzipienlehre angedeutet zu sein. Zugleich ist diese Stelle ein
Beispiel für den Wert, den Citate aus Thomas bei Gerhard haben.
22
nimmt auch Gerhard für die theologische Fakultät den Vortritt
vor den andern in Anspruch propter principiorum certitudinem i).
Eine so präzis begründete und iormulirte Prinzipienlehre
gestattet daher auch vorzüglich dießegulirung aller Grenz-
streitigkeiten, die Aufstellung j enes oben erwähnten Systems
von Vorsichtsmassregeln, die beim Gebrauch der Realerklärung,
bei der Anwendung des usus organicus, befolgt werden müssen.
JDasselbe ist scheinbar künstlich, in der Tat aber einfach
genug. Es besteht nämlich nicht etwa in einer Umgrenzung
des Vernunftinhaltes und des Offenbarungsinhaltes, sondern
in der „wissenschaftlich" legitimirten Ausfertigung einer ganz
allgemeinen, inhaltlich völlig indifferenten, Vollmacht, der zu-
folge die Dogmatik in jedem Fall einer aus Vernunftprinzipien
gegen sie gerichteten Argumentation dieselbe ohne weiteres
niederzuschlagen berechtigt ist, sie sei welcher Art sie
wolle, sie sei bereits bekannt oder noch irgend einmal bevor-
stehend. Es hat sich nämlich Jedes Prinzip streng innerhalb
seiner Grenze zu halten. Quaelibet disciplina sua habet axio-
mata, quae non sunt trahenda in aliud forum, sed in sua
sphaera relinquenda, ne iiat fisTccßaaLg elg alXo ye'vog II 373.
Nach Arist. lib. I Anal. c. 7 gilt die Regel, ut sit terminorum
Gvyyh'SLa in apodixi nee hat uezaßaoig slg aXXo yivog. avdyKrj
Ix Tov avTOv yevovg xa axga yial ra /Lieoa uvai I 77 ff. ^). Prae-
posterum igitur est conclusionem ex öL/.eicüv ex proprio theologiae
principio videlicet ex verbo Dei deductam i§ dXloTouov ex
alieno principio oppugnare et hac ratione iisTaßaGiv slg dllo
yevog a philosophis ipsis improbatam committere II 10, d. h. die
Vernunftprinzipien gelten nur für solche Sätze (propositio,
thema, quaestio), in denen kein terminus, weder Subjekt noch
Prädikat, irgendwie mit der Oft^enbarung zu tun hat. Denn
usus rei non extendit se latius quam res ipsa, principia autem
philosophica sunt naturalia I 79. Auf der andern Seite sind
solche Sätze, deren termini sämmtlich aus der Offenbarung
stammen, ohne weiteres so hinzunehmen, wie sie sich geben,
und nicht etwa nach den Prinzipien der ganz fremden Vernunft-
*) Tholuck, Ak. Leben I 84. Eine Vermischung der diversa
disciplinarum genera et principia wäre auch schon an und für sich
im Interesse der Ordnung der Wissenschaft — ganz abgesehen von der
Schädigung der Offenbarung — zu beklagen III 230. — Vgl. ausserdem
die völlig ernst gemeinte, ausgeführte Vergleich ang des Erkenntnis-
prinzips der Medizin mit dem der Theologie in der Vorrede zu den
Meditationes sacrae, Jena IG 11.
■^) Dasselbe aristotelische Citat ist zu Grunde gelegt Meth. 303
bei Beurteilung der Scholastik; ebenso in der Trinitätslehre III 228;
hier der charakteristische Satz: Qui a natura ad mysteria, a sensu ad
fidem, ab oculo ad oraculum argumenta ducunt, ccTiaid^evaiKv commitiunt.
23
Sphäre zu kiitisiren, sie sind lediglich nach ihrem eigenen
Prinzip, nach dem der Offenbarung, zu verstehen d. h. für
wahr zu halten. So kann mit siegesgewisser Überlegenheit
jeder erdenkliche Angriff auf das lutherische Dogma als f-itTcc-
ßaaig elg allo ytvog, wie der zum Überdruss oft wiederholte
Ausdruck lautet, auf das allereinfachste abgewiesen werden,
und, wenn ein Unverständiger hierin die Anerkennung einer
doppelten Wahrheit sehen wollte, so wird er mit mitleidiger
Geringschätzung belehrt, dass die beiden Sphären nicht an
sich im Widerspruch stehen, sondern nur durch seine eigene
Torheit, durch falsche Anwendung der Prinzipien, ex accidenti
in scheinbaren AViderspruch geraten seien I 78 ff. II 372.
Etwas schwieriger lag die Sache, wenn ein philosophischer
und ein theologischer terminus in einem und demselben Satz
verbunden waren. Hier konnte leicht aus dem philosophischen
auf den theologischen hin argumentirt werden. Das war be-
sonders bei den die Ubiquität der menschlichen Natur betref-
fenden Sätzen der Fall, wo die Reforrnirten aus den termini
locus und homo stets gegen die lutherische Ubiquität argu-
mentirten i). Es ist das Gebiet der quaestiones mixtae, die
übrigens nicht mit den der natürlichen Theologie angehörigen
späteren articiili mixti zu verwechseln sind. Für jenes verweist
Gerhard auf Balth. Meisners philosophia sobria, wo sich die
Sache I p. 25 ff. erörtert findet Meth.114 2). Auch hier
hilft der Satz von der juszaßaoig elg allo yevog aus aller
Schwierigkeit. In einer solchen quaestio mixta kommt natürlich
alles auf die Verbindung der termini an, ob der philosophische
oder der theologische für den Sinn der Verknüpfung mass-
gebend sein soll, und es versteht sich ganz von selbst, dass in
einem solchen Fall der philosophische terminus nach dem
theologischen zu verstehen ist ^). Das Umgekehrte wäre eine
(.lexcißaGig e. a. y. Ea dumtaxat disciplina de connexione
rerum in controversis problematibus docere apta est, quae
causam (sc. connexionis) novit. Causa autem cohaesionis sub-
^) In diesen Angriffen gibt sich lediglich der Unterschied des
reforrnirten Dogmas vom lutherischen, nicht aber eine „dreistere
Rationalität der Reforrnirten" Gass I 214 kund.
2) Diese Verweisung ist später zum Gegenstand einer Polemik
zwischen dem Reforrnirten Vedel und Joh. Musäus geworden. Vgl.
Joh. Musäus, De usu principiorum rationis et philosophiae in contro-
versiis theologicis, Jena 1664 p. 186 ff., wo Musäus einen Unterschied
zwischen Gerhard und Meisner behauptet und ersterem die strengere
Ansicht zuschreibt. Die Differenz ist aber unwesentlich.
^) Ahnlich Gass I 212, der aber auch hier zu viel Tiefsinn in
dieser äusserst einfachen Manipulation findet und daher nicht recht
verständlich ist.
24
jecti praedicatique in conclusionibus theologicis non natura,
sed scriptura est . . ; haec principium unicum. Philos. sob. I 27.
Mit Rücksicht auf das syliogistische Beweisverfahren für eine
solche quaestio mixta lässt sich die Sache auch so ausdrücken,
dass der über die conclusio entscheidende terminus medius des
Schlusses der Theologie angehört, wie z. B. für die Frage „an
corpus Christi in pluribus locis praesenter dominetur" der Begriff
Christus ^edv^gcoycog der die beiden termini „corpus Christi" und
„locus" zusammenführende terminus medius ist; da aber der
terminus medius über die conclusio entscheidet, so hat die
Theologie, der er angehört, auch allein die Kompetenz, über
die Verbindung der Begriffe in der conclusio zu verfügen.
Trotz der hochwissenschaftlichen Form ist auch hier die Prin-
zipienlehre nichts als das denkbar einfachste Mittel, jeden
behebigen Satz der Dogmatik gegen die Vernunft sicher zu
stellen; es lässt sich nicht einsehen, welche dogmatische Be-
hauptung durch sie etwa nicht gerechtfertigt werden könnte i).
Wirkhch ins Gedränge kommt Gerhard erst bei jenen
allgemeinsten Denkgesetzen, wie z. B. beim Satz des Wider-
spmches, deren Geltung auch für Gott zu leugnen, die dop-
pelte Wahrheit statuiren hiesse XVIII 323 ff. III 154
und besonders Meth. 119 ff. Wurden in einer solchen quaestio
mixta zwei sich widersprechende Begriffe, wie z. B. mensch-
Hche Natur und Illokalität, durch die Offenbarung vereinigt,
so entstand die Frage, ob denn dann auch das Gesetz des
Widerspruches in der Offenbarungssphäre nicht gelte, und die
Beformirten verfehlten nicht, diese Konsequenz recht scharf zu
urgiren. Hier gibt nun Gerhard die Geltung des Satzes vom
Widerspruch auch für Gott zu, verwahrt sich aber gegen die
Anwendung des Satzes auf irgend eine dogmatische Aussage
mit folgendem Syllogismus: 1) Quae vere absolute et simpli-
citer sunt contradictoria , ea etiam absolute et simphciter
sunt impossibilia. 2) Atqui quae Dens in scriptura se fa-
cere posse asserit seque facturum promittit. ea non sunt ab-
solute et simphciter impossibilia. Alias periclitaretur veritas;
si enim absolute impossibilia essent, quomodo Deus vere pro-
mitteret se illa praestiturum ? 3) Ergo etiam ea quae Deus
in scripturis sacris se facere posse asserit, . . non sunt vere,
*) Die Dienste, welche diese Prinzipienlehre den alten Theologen
leistete, lassen sich daher ungefähr vergleichen mit denen, welche
manchen modernen Theologen das sog. „Gemeindebewusstsein" leistet,
nur dass die Leistungsfähigkeit des letzteren in seiner Nebelhaftigkeit
liegt und eine immerhin begrenzte ist, während die der ersteren in
ihrer entschlossenen Klarheit und Sicherheit liegt und für schlechter-
dings alle Bedürfnisse ausreicht.
25
absolute et simpliciter contradictoria XVIII 323; d. h. aus
der blossen Tatsache, dass etwas in der Schrift steht, folgt
um der Allmacht Gottes willen auch seine Widerspruchslosig-
keit, man mag sie einsehen oder nicht. Zur Unterstützung
dieses Beweises wird dann noch auf die Beschränktheit und
Endlichkeit der Vernunft kräftig hingewiesen Meth. 119 ff.
Das alles vermag freiHch nicht zu verhindern, dass hier der
wunde Punkt des gar zu bequemen und einfachen Systems
grell zum Voi'schein kommt ^). Ein Vernunftgesetz, das zu-
gleich gilt und doch auch nicht gilt, das, an sich durchaus
rationell, plötzlich nicht mehr verständhch werden soll, das ist
ein Ding, bei dem weder von Vernunft noch von Gesetz viel
übrig bleibt. Es zeigt sich hier, wie die Scheidung beider
Gebiete nach der theoretischen Seite rein quantitativ ist und
also un letzten Grund trotz alles wissenschafthchen Pompes
lediglich auf Willkür beruht. Es ist daher auch nur eine
Tat der Verzweiflung, wenn Gerhard seine Zuflucht zu der
Distinktion nimmt: Distinguendum inter contradictionem logicae
divinae seu Dei longe lateque captum nostrum transscendentis et
contradictionem logicae humanae seu hominis captum humanum
non transscendentis ; inter res vel effata, quae sunt supra terminos
logicae seu rationis nostrae, et ea, quae sunt intra terminos
logicae nostrae et a ratione nosti^a percipi possunt Meth. 123.
Werden die beiden Sphären nun im einzelnen be-
trachtet, so handelt es sich nach „aristotelischer" Lehre um
zweierlei, um das Objekt oder die materia derselben und um
den dieselbe subjektiv auffassenden habitus animae ^). Was
die erstere betrifft, so besteht sie für die theologische Sphäre,
wie bekannt, in dem grossen Wunderwerk des heiligen Geistes,
in dem mit nichts auf der Welt zu vergleichenden, unmittel-
bar von Gott selbst verfassten, heihgen Buch. Beachtet man
vorwiegend dessen Wirkung auf die Menschen, so erscheint
es als efficax conversionis et salutis Organum II 2843). Die
^) Die späteren Dograatiker trennen die principia philosophica
absolute universalia von den princ. limitate universalia und behandeln
die hier von Gerhard gestreifte Frage demgemäss principiell. Schmid
p. 12 fif. F. C. Baur, Vorlesungen III 38 hat mit Recht darauf auf-
merksam gemacht, dass an dieser Stelle die orthodoxe Prinzipienlehre
ihre ganze Willkür und Gebrechlichkeit offenbart, desgleichen D. F.
Strauss, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Ent-
wickelung, Tübingen 1840 I 316.
■2) Vgl. Melanchthon de anima CR XIII 143 und 166.
^) Vgl. ferner: Cumque finis legis et nucleus evangelii sit Christus,
ideo rekog Gy.ojiL^MxaTov, ultimus scopus adeoque centrum scripturae
... est Christus Jesus II 49. Christus est totius scripturae epitome
ac centrum, « et w, a quo omnia in scripturis incipiunt et in quo
26
Schrift hat kernen andern Zweck und keine andere Bedeu-
tung, als uns durch die Kraft des heihgen Geistes wieder-
zugebären zum ewigen Leben. Kommt hingegen mehr das-
jenige in Betracht, wodurch diese Wirkung hervorgebracht
wird, die götthch infalhble Lehre, so ist sie die Sammlung
der oracula divina, wie es unzählige Male heisst, summa
doctrinae coelestis et praecijDua illius capita II 331, das Kom-
pendium der dogmata fidei, quorum notitia omnibus ad salutem
necessaria est II 329, systema credendorum, faciendorum et
sperandorum zum Zweck der institutio hominum ad salutem
II 356, Sacrae tabulae ex Spiritus S. inspiratione conscriptae
I 43, divinus codex XX 2. Denn auf die absolute Wahr-
heit der Lehre kommt alles an, wenn man auf sie das Heil
der Seele gründen soll. Totus Christianismus nititur hoc fun-
damento, quod Spiritus S. per Prophetas et Apostolos ea, quae
in scripturis legimus, annotarit I 45. Dazu II 351 u. ö.
aoq^dXeLa vero locum habere nequit absque perfecta et suffi-
ciente necessariorum ad salutem explicatione II 295. Dabei
kommt es aber nicht auf die Vielheit der Artikel als solcher
an, sondern nur auf deren Irrtumslosigkeit, da ein auch noch
so kleiner Irrtum im Einzelnen die Wahrheit des Ganzen
gefährden würde. Die Artikel selbst aber müssen immer wieder
in ihrer Einheit und ihrer praktischen Bedeutung angesehen
werden. Alle sind uns nur dazu gegeben, ut in quotidiana
meditatione pie expendamus, und ultimus fidei nostrae arti-
culus .... est vita aeterna, ad quam reliqui omnes tamquam
ad TeXog Gy.oTCif.iwTaTov .... referuntur XX 232. Daher
setzt er, wie schon Chemnitz ermahnt hatte i), jedem Artikel
die doctrina de usu bei, welche in ihrer häufig rührend ein-
fachen und aufrichtigen Frömmigkeit allerdings Gerhards über
das zeitgenössische Theologengeschlecht weit hervorragende
Eigenart zeigt 2).
Man pflegt meistens die in der ersten Gruppe von Aus-
sagen bezeugte praktische Auffassung zu der in der zweiten
ausgesprochenen doktrinären in scharfen Gegensatz zu setzen
und die letztere als eine Korruption der ersteren anzusehen 3).
omnia desinunt II 50. Tota scriptura nihil aliud est, quam per-
petua consolatio piis sub cruce in hac vita ingemiscentibus proposita
XX 113. Ähnlich II 114 und 332. Diese Betraehtuna geht durch
das ganze Werk hindurch und verleiht ihm überall eine wohlthuende
Wärme.
^) In dem vierten Traktat, welcher der Ausgabe seiner Loci vor-
gedruckt ist. '"^) Vgl. Henke I 361. Gust. Frank, Gesch. der prot.
Theologie I 371 ff.
^) Dorner 548 ff., vorsichtiger Kaftan 166.
27
Das ist aber doch nur scheinbar der Fall. Schon aus der
bisherigen Darstellung tritt das beide verbindende Moment
scharf hervor, das Interesse an der Gewissheit und Sicherheit
der Lehre, von der unser Heil abhängt i). Vollkommenes
Vertrauen ist nicht möglich, wenn man nicht von der unfehl-
baren und allseitigen Wahrheit der religiösen Doktrin uner-
schütterlich überzeugt sein kann. Cum manna doctrinae con-
junctus est ros gratiae divinae et Spiritus S. efficacia VI 124.
Den Spruch Joh. 14, 6 „Ego sum via, veritas et vita" legt
Gerhard so aus: via ratione meriti, quod vera fide amplec-
tendum, veritas ratione doctrinae, quae fideli corde apprehen-
denda, vita ratione vitae, quae serio studio est imitanda;
die Gefahren, welche das Disputationswesen durch beständiges
hypothetisches Bezweifeln der Lehre mit sich bringt, glaubt
er um des Interesses an der Wahrheit willen nicht fürchten
zu dürfen 2). Es ist die Grundfrage aller positiven Religion,
die diesen Zusammenhang beherrscht, die Frage nach der
Wahrheit ihrer Doktrin II 347, 351, 356, und diese Frage
ist noch wichtiger als sonst in einer Kirche, welche, nicht
zufrieden mit der Poesie des Cultus und der treuen Verrich-
tung kirchlicher Pflichten, jeden Gläubigen vielmehr an die
sola fides verweist, Avelche daher ihren ganzen Cultus nahezu
aufgehen lässt in unaufhörhchem Predigen und beim Unterricht
blos das durch seine eigene göttliche Kraft wirksame Wort
zur Kenntnis zu bringen sucht. Das Luthertum hat von
Haus aus und seinem Wesen nach einen stark doktrinären
Zug, der seinem praktischen unmittelbar rehgiösen Charakter
durchaus nicht widerspricht, sondern vielmehr gerade durch
diesen hervorgerufen ist, insofern nicht mehr ein vermittelndes
Kircheninstitut, sondern die an jeden Gläubigen gerichteten
Worte Gottes selbst ihm die Garantie der Wahrheit geben.
Wenn gerade Gerhard durch seine Neubearbeitung der
^) Vgl. dazu noch weiter die Stellen : fides historica und f. salvi-
fica dürfen nicht in Gegensatz zu einander gestellt werden. Denn
media et finis sunt subordinata, ncquaquam igitur invicem oppouenda
VII 172. Yere credentium fides non est dubia quaedam et fallax
opinio, sed opus Spiritus S., donum Dei et notitia omni humanae
rationis ac sensuum indicio firmior, ex luce verbi in mente orta et
immoto verbi fundamento imnitens VII 180. Verbum evangelii non
solum est verbum veritatis sed etiam verbum gratiae et promissionis.
Priori modo respicit illud fides, quatenus est notitia et adsensus,
posteriori vero, quatenus est fiducia promissioni illi inhaerens VII 179.
■^) Aphorismi succincti, Jena 1611. Beides in der Vorrede. Aus
ihr geht auch hervor, dass er die Gefahren einer intellektualistischen
Behandlung des Glaubens sehr wohl kennt und persönlich empfindet.
28
Schriftlehre diesen Zug bis zur äussersten Konsequenz durch-
führte, so ist doch derselbe Gerhard auf der andern Seite
ausgezeichnet durch warme praktische Frömmigkeit; zu jener
Konsequenz drängte ihn der kirchliche Kampf, in welchem
die neue Kirche des reinen Gotteswortes mit der alten Kirche
der apostolischen Tradition und bischöflichen Succession stand.
Dieser Kampf hatte sich naturgemäss zu der Frage zugespitzt,
welche der beiden Kirchen die besseren Garantien für die
Wahrheit der religiösen Doktrin bieten könne. Das Regens-
burger Religionsgespräch 1601 ^) hatte die Frage „quis sit
norma et judex controversiarum" zur Parole gemacht und eine
ganze Litteratur über diese Frage hervorgerufen ^). Eine ent-
scheidende Tat in diesem Streit ist Gerhards Exegesis per-
spicua, wo er in dem Hauptkapitel XXI de norma dogmatum
et controversiarum ausdrücklich die hier aufgerollte Frage
beantwortet II 345 ff. (Die Bezugnahme auf das Religions-
gesjDräch II 355, schon früher I 32.) Auch er gibt zu:
regula ut sit una eaque certa, firma, invariabiUs requiritur I 58,
und diese Regel darf nicht blos tote Norm sein, sondern
muss lebendige Autorität sein nach Aristoteles inl xbv öi/.a-
OTYjv UvaL eoTLv fTvl To diiüaiov^ 6 yoQ ör/iaarrjg ßovXeTai uvau
Oiov öUaiov ejLnpi'xov I 31. Aber er erkennt auch scharf
den hier obwaltenden Gegensatz: Ecclesiae nomine Romanenses
intelligunt summum pontificem. Eo enim ultima analysis hujus
assertionis nos deducit II 357. Dem aber setzen die Evan-
gelischen die sich selbst auslegende, von der Kraft des heiligen
Geistes lebendig erfüllte, Schrift entgegen I 43. Qui scriptu-
rae autor, is supremus et authenticus ejusdem est interpres. Qui
condit legem, optimus et supremus legis est interpres ibid.
In der ausdrücklichen Absicht, den Gegensatz auf seine grund-
legenden Prinzipien zurückzuführen, prägt er ihn schliesslich
in den höchst charakteristischen Worten aus: Breviter
quod illis est pontifex ex cathedra pronuntians, id nobis Spiri-
tus S. in scripturis loquens I 56. Damit ist in der Tat
^) Hierüber Henke I 66; Gottfried Arnold, Kirchen- und Ketzer-
historie Frankfurt 1699 H 458. Von modernen Historikern wenig
beachtet (bei Janssen fehlt es ganz), hat dasselbe doch für die Zeit
grosse Bedeutung gehabt wegen der hier formulirten Streitfrage.
Vgl. Musäus de Principiis p. 10 ff.; Corn. Martini, Analysis logica,
Helmstedt 1619 p. 178 und 183 ff. Als entscheidend für die prote-
stantische Theologie erscheint dasselbe bei Eiswich 75; von Braun-
schweig aus war Cornelius Martini zu demselben gesandt Brucker
IV 320; vgl. auch Gust. Frank, Gesch. d. prot. Th. I 420.
■^) Verzeichnet bei Werner, Franz Suarez und die Scholastik der
letzten Jahrhunderte, Regensburg 1661 I p. 53.
29
die Situation scharf bezeichnet. Als Schriftkirche und Papst-
kirche stehen sich beide gegenüber. Was der einen die Lehre
von der Schrift leistet, das soll der andern die von Papst und
Kii'che leisten, die Garantie der AVahrheit, und es ist nur
natürlich, dass sich beide Lehren im Lauf des Streites ver-
schärfen. Die Analogie in der Entwicklung des jesuitischen
Papalsystems und der orthodoxen Lispirationsdoktrin ist unver-
kennbar und lässt sich weithin verfolgen. Ist es der Stolz
der Jesuiten, in der Entscheidung des ex cathedra redenden
Papstes eine lebendige, allen Bedürfnisfällen gewachsene,
Autorität gegenüber der toten, jeder Willkür der Auslegung
preisgegebenen, der Protestanten nachgewiesen zu haben i), so
sehen diese alle derartigen Anforderungen in noch viel höherem
Masse durch ihre Fassung der Autorität erfüllt, durch die
absolute Götthchkeit der Schrift, an der schlechterdings nichts
Menschliches haftet wie an der katholischen Tradition, durch
die genaue, allen Laien gleich einleuchtende, Deutlichkeit der
heilsnotwendigen Artikel, die den Gläubigen unabhängig macht
von aller priesterlich-menschlichen Vermittelung, durch die
innere bekehrende Gotteskraft, welche dem Wiedergeborenen
bei aller Anfechtung stets wieder die Wahrheit der Lehre im
Herzen versiegelt I 31 33. Stellen jene in der bekannten
ungeschichthchen Weise die hierarchisch-kirchliche Organisation
als direkte Fortsetzung des Werkes Christi und der Apostel,
als die Inhaberin der von diesen zurückgelassenen Traditionen
und Heilski'äfte, dar, so beschreiben die Lutheraner in der-
selben Weise die Schrift, deren geschichtliche Seite als materia
zu völhger Gleichgiltigkeit herabgesetzt wird II 50, während
der heihge Geist als forma und Gott als unmittelbare causa
efficiens ihr eigentliches Wesen als „Brief Gottes an die
Menschen" konstituiren II 17 I 31. Gilt jenen der Papst
als Stellvertreter Christi, der unter der Leitung des heiligen
Geistes jederzeit der grossen Kirche des Herrn die Wahrheit
in Sitte und Glaube vorschreiben kann, so ist diesen die
immerdar an sich vom heiligen Geist erfüllte Schrift gewisser-
massen eine zweite, dauernde Inkarnation Gottes 2), die jeder
in jeder Not als die in der Kirche tönende Stimme Gottes
befragen kann, und der allein es auch die Genossen der feind-
lichen Kirche zu danken haben, wenn etliche zur Seligkeit
der wahren Kirche gelangen I 18 ff. Hat schliesslich die
römische Auffassung ihre Ergänzung im kanonischen Recht
^) Werner, Suarez I 159. -) Vgl. II 7, wo der Xoyog Christus
als verbum internum und die Schrift als verbum externum in tempore
zusammenscestellt werden. Dazu I 31 und II 426 usus.
30
und der Lehre vom Staat, so hat die orthodoxe Schriftdoktrin
einen nicht minder wichtigen Unterbau in dem ordo triplex
hierarchicus, der die allgemeinen Lebensfunktionen der mensch-
lichen Gesellschaft in ihrer Beziehung auf das Erlösungswerk
der Schrift derart ordnet, dass der Hausstand als seminarium
ecclesiae für die „Vervielfältigung des menschlichen Ge-
schlechtes" sorgt, der politische Stand als vallum et propugna-
culum ecclesiae die reine Schriftlehre schützt sowie als Wächter
der disciplina externa die Individuen für die Einwirkung des
Wortes bereit stellt, und der kirchliche Stand endlich als
Diener am Wort dieselben hineinführt und überpflanzt in das
himmlische Paradies (XII zweiter Teil p. 2 ff., auch XIV 40 ff.).
Es handelt sich in beiden Fällen um dasselbe, um den Besitz
der Quelle, aus der alle religiöse Wahrheit fliesst, um die
Grundlage der kirchlichen Existenz, und in diesem Sinn ist die
Schrift für die Protestanten nicht blos principium cognoscendi,
sondern als medium gratiae zugleich das principium essendi ^).
lila (Script.) est ecclesia prior ejusque principium et causa,
illa nos instruit eum demum coetum pro ecclesia habendum
esse, qui normam et ductum verbi sequatur II 356.
Hier ist zugleich an den protestantischen Kanonbegritf zu
erinnern. Erst der Protestantismus hat einen streng ge-
schlossenen Kanon, wenigstens was das alte Testament betrifft.
Im neuen Testament lagen freilich Unklarheiten vor, die aus
der eigentümlichen Subjektivität der lutherischen Anschauung
oder genauer aus ihrer einseitig paulinischen Haltung ent-
sprangen, bald aber auch zu historisch-kritischen Bedenken
in Beziehung gesetzt wurden. Nachdem vor allem Chemnitz
sich um Klärung und Fixirung dieser Frage bemüht und durch
Abgrenzung und historisch-begriffliche Bestimmung einer
Gruppe „neutestamentlicher Apokryphen" die Gefahr der Un-
sicherheit vermindert hatte 2), nahm Gerhard in seiner bisher
geschilderten Neubearbeitung der Schriftlehre dieses Problem
in direkter Anknüpfung an Chemnitz wieder auf und beseitigte
^) Auf diese doppelte Stellung der Schrift macht Gass I 239 auf-
merksam, ohne auf die innere Beziehung beider Gesichtspunkte ein-
zugehen; mehr geschieht das bei Dorner 549, der die Schrift mit
Recht zum ,,materialen Prinzip" werden lässt. Vgl. 554, wo er die
Vergöttlichung der Schrift mit der katholischen Vergöttlichung der
Kirche zusammenstellt, auch die Ausführung bei Strauss, Glaubens-
lehre I 132 ff. und Holtzmann, Kanon und Tradition 1859 p. 49.
■^) Vgl. Holtzmann 33 ff. 152 ff. Nullum dogma ex istis libris
exstrui debet, quod non habet certa et manifesta fundamenta et testi-
monia in aliis canonici« libris. Das ist aber nichts anderes als die
Durchsetzung des strengen Kanonbegriffes gegen die Gefahren der
Subjektivität.
31
die Gefahr vollends, indem er den Unterschied protokanonischer
und deuterokanonischer Schriften, wie er sie Heber nannte,
auf den von Bekanntheit und Unbekanntheit des menschhchen,
sekundären Autors reduzirte und demgemäss die ganze Unter-
scheidung als eine rein äusserliche, nur docendi causa zu er-
wähnende, bezeichnete II 184 tf. Dabei ist es in der Folge
geblieben, wo nicht der Unterschied gänzhch geläugnet wurde.
JDas ist aber nur konseciuent. Gerhards Lehre vom Kanon ist
nur die Folge seiner Lehre von der Schrift, wie diese die
Folge der kirchlichen Lage ist. Liegt freihch einerseits der
Unmittelbarkeit und Innerlichkeit evangelischer Frömmigkeit
immer eine freiere Stellung zum Kanon nahe, so drängt an-
drerseits gerade der Mangel aller menschlich-kirchlichen
Wahrheitsgarantien zu einer rein supranaturalen und darum
bestimmt gegen alles Profane abgegrenzten Autorität. Der
Kanonbegriff der lutherischen Kirche befriedigt dieses Be-
dürfnis in unüberbietbarer Weise; die Schrift, welche der un-
mittelbar produzirendeEntstehungs- und Lebensgrund der Kirche
ist, muss ein inspirirter Kanon im strengsten Sinne sein. Wenn
man hierin gerne einen Rückfall der evangelischen Anschauuung
in katholische Tendenzen sieht, so ist doch zu beachten, dass
dieser Kanonbegriff gegenüber dem katholischen durchaus etwas
Neues ist. Der katholische Kanon ist stets ein Glied der
grossen kirchlichen Traditionskette, ein Stück des weltum-
fassenden, kirchlichen Rechtsinstitutes, fortzeugend und von
ähnlichen andern Stücken des Kircheninstitutes umgeben, das
Eigentum der Kirchenleitung, die allein diesen Reichtum zu
übersehen und zu verAvalten hat. Der protestantische Kanon
ist eine völlig isohrte, rein supranaturale, aus der obern Welt
in die profane hereinwirkende Grösse, weder nach vorwärts
noch nach rückwärts mit irgend etwas verbunden, der alleinige
und unmittelbar von Fall zu Fall wirkende Urheber der Kirche,
das unentbehrliche Requisit jedes einzelnen Christen, der nur
als treuer Bibelleser ein Mitghed der Kirche zu sein hoffen
darf. Das sind zwei grundverschiedene Dinge i). Eine Ähn-
lichkeit findet nur in Bezug auf die Motive statt, die in dem
einen Fall das infalhble Kircheninstitut, im andern die prote-
stantische Schriftlehre geschaffen haben, die aber immer und
überall jeder Religion eingeboren sind.
Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang durch einen
^) Dieser Unterschied wird auch stets von den Katholiken scharf
hervorgehoben. Vgl. Holtzmann p. 4 und 8. Wenn das Tridentinum
schärfer scheidet zwischen Kanon und Tradition, so ist das nur eine
Rückwirkung des Protestantismus ibid. 25 ff.
32
vergleichenden Blick auf den andern grossen Theologen des
Zeitalters, Georg Calixt. Mit vollem Kecht stellt Henke für
die Wendung, welche die Prinzipienlehre bei diesem scharfen
und hellen Geist genommen hat, ebenfalls den kirchlichen Kampf
als Ausgangspunkt fest^). Im Ganzen mit der allgemeinen
lutherischen Prinzipienlehre völlig einverstanden, erkennt er doch
die Unmöghchkeit, das angestrebte Ziel, die absolute Klarheit
und Sicherheit der Lehre, durch eine solche Kanonisirung des
ganzen biblischen Stoffes für erreicht zu halten, da auch dann noch
die Subjektivität der Auslegung und die Eigenart des patristischen
Dogmas unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten, und so das
Fundament der Kirche durch endlose Lehrstreitigkeiten ge-
fährdet ist. Zugleich erkannte er, dass damit die lutherische
Kirche in bedenkhcher Weise aus der geschichtlichen Conti-
nuität der grossen kirchlichen Entwickelung heraustrete. Er
suchte daher diesen Schwierigkeiten dadurch zu entgehen, dass
er aus der inspirirten Schrift ein von jedem zu verlangendes,
unerlässhches Minimum von gemein-kirchlicher Doktrin aus-
schied und das Übrige der gelehrten Controverse anheimgab;
für die Ausscheidung aber und Fixirung dieses Minimums zog
er die altkirchliche Tradition heran. Hieran ist deuthch, wie
das Bestreben, der Schrift die Qualitäten des Papstinstituts
zuzuwenden, um der Schwierigkeit der Durchführung willen
zu immer engerem Anschluss an das römische Vorbild nötigt ^).
Die Analogie beider Lehrbildungen mündet hier in direkte
Berührung aus, ein Beweis für die innere Verwandschaft der
beiderseitigen Ansätze. Dennoch wird man in all dem nicht
blos eine Bückwirkung spezifisch katholischer Eigentümlichkeiten
erkennen dürfen, sondern vielmehr die Wirkung eines allge-
meinen religionsgeschichtlichen Gesetzes, dem zufolge zwischen
den doktrinären Elementen einer Behgion und ihrem prak-
tischen Wesen als Lebensmacht und Heilsgut einerseits eine
unlösHch enge Verbindung, andererseits aber auch eine nie
ganz zu beseitigende Antinomie besteht. Die Papstkirche und
die Schriftkirche stellen diesen Zusammenhang und diese An-
tinomie nur in verschiedener Weise dar, jene in einem mäch-
tigen welthistorischen Institut, diese in einer Theorie. Den
engen Zusammenhang von Doktrin und Praxis gerade in der
letzteren bezeugt eben derselbe Calixt, der neben seinem ur-
doktrinären Gedanken von einem Lehrminimum zugleich ein
hervorragend lebhaftes Gefühl für die Eigenart der Religion
*) Henke I 442 ff. ^) Auch Calixt bezeichnet mit aller Schärfe
Papsttum und Schrift als die konkurrirenden Grössen Gass II 117,
Holtzmann 44 ff.
33
gegenüber dem Intellekt besass ^). Die beiden Häupter lutheri-
scher Gelehrsamkeit, Gerhard und Calixt. stimmen nach beiden
Richtungen völlig iiberein, weshalb Henke auch mit Recht
sie als „geistesverwandt" bezeichnet ^) ; nur die Beurteilung der
der lutherischen Schriftdoktrin entgegenstehenden Schwierig-
keiten ist verschieden.
Es ist daher nur selbstverständlich, dass die gleiche Doppel-
natur auch dem dies Objekt auffassenden habitus animae, der
fides, anhaftet. Die Definition derselben als notitia, assensus,
liducia ist bekannt; es kommt hier nur darauf an, diese De-
finition als technisch-wissenschaftliche nach den Regeln ..aristo-
telischer" Psychologie zu begreifen. Ganz allgemein fällt die
fides unter die Kategorie der apprehensio. Joh. I5 VII 234.
Näher aber unterscheidet sich die fides von allen andern Geistes-
tätigkeiten, insofern diese je einem Seelenvermögen, der potentia
intellectiva oder der p. voluntatis, angehören, die fides aber als
komplizirte Grösse beiden angehört^). Über die Bedeutung des
Intellekts hiebei geben folgende Stellen Auskunft: Flaoa
airdösi^Lg est ex frQOvn:aQxovot]g yvioaecog teste Aristotele in
frontispicio post. anal. Ergo fides ex praeexistente cognitione . . .
Fides est fiducia, ergo et notitia, quia in rem ignotam non potest
ferri fiducia. Fides nos in corde certos, pacatos et quietos
reddit, utique ergo requiritur, ut fundamentum, cui innititur,
perspectuni' atque cognitum habeat YII 77. Ebenso VII 97.
Die fides ist also eine aus den beiden Seelenvermögen, intel-
lectus und voluntas, zusammen konstruirte Grösse, und diese
teilweise Konstruktion aus dem Willen soll wohl ungefähr
dasselbe besagen, was wir in der Sprache moderner Psycho-
logie als Gefühl bezeichnen, wofür aber jene alte Psychologie
kein Wort darbot^). Der Zweck des Begriffes assensus ist
') Henke I 290 ff. ^^ Henke I 491.
^) Duplex ergo cum sit apprehensio, alia cognitionis in intellectu,
alia fiduciae in voluntate, utramque dicimus fidem ineludere VII
234. Respectii notitiae et assensus refertur (fides) ad intellectum
atque objecti loco habet omne et solum verbum Dei in scripturis . .
nobis revelatum, respectu fiduciae refertur ad cor sive voluntatera
atque objecti loco habet promissiones evangelicas de Christo mediatore
YII 75 ff.
■*) Die "Worte sensus und sentire werden oft gebraucht, sind aber
kein wissenschaftlicher Terminus. Daher ist die Bemerkung A. Ritschis,
Geschichte des Pietismus, Bonn 1880 I 93, dass der Doktrina-
rismus aus der mangelhaften Schätzunp^ des Gefühlslebens entsprungen
sei, wohl etwas einzuschränken. Auch die Beurteilung dieser Definition
Fides implicita p. 96 scheint mir das Gefühl Gerhards für die prak-
tische Eigenart des Glaubens doch zu unterschätzen. Vgl. Ex qua
sententia (Ebr. 6, 11) facili negotio colligi potest, nXriooq.>oQi(iv fidei non
34
hiebei der, ein Mittelglied zwischen den beiden Seelenvermögen
zu bilden 1). Durch diese künstlich zusammengesetzte Gestalt
erscheint die lides in einem scharfen Unterschied von den ein-
fachen Seelenfunktionen der Yernunftsphäre. AVie streng
wissenschaftlich aber diese Konstruktion gemeint ist, erhellt
aus der Antwort auf die katholischen Angriffe, die eine solche
aus zwei Seelen vermögen gemischte Funktion für ein wissen-
schaftliches Unding erklären VII 95 ff. ^j. Demgegenüber
wird ei-st allerdings auf die Schrift verwiesen, dann aber wird
die doppelte Konstruktion auch noch eingehend aus den philo-
sophischen Autoritäten, Scaliger und den Conimbricenses, und
sogar aus Thomas als Zeugen wider Willen gerechtfertigt.
Bei alledem ist die notitia nicht mehr als Mittel zum
Zweck, blosse Basis für die eigentlich religiöse Funktion. Forma
et quasi anima fidei justificantis est fiducialis Christi cum Om-
nibus beneficiis in verbo evangelii oblatis apprehensio VII 843).
Daher soll alle Theologie praktisch und einfach sein, nicht
intellektuaHstisch, wie es die Scholastik war III 217 223^).
Denn der Glaube ist lediglich notitia spiritus VIII 172
tantum ad meutern pertinere, sed etiam complecti illos motus animi,
qui ex certa persuasione consequuntur. Spem enim in voluntate esse
omnes fatentur VII 98.
*) Quinimmo iit fides captivat intellectum, ut assentiatur articulis
fidei, licet cum ratione humana pugnare videantur, ita quoque con-
vincit et captivat quasi voluntatem, ut superatis omnibus dubitationibus
promissiones evangelicas firma fiducia amplectatur, licet sensui carnis
nostrae videantur repugnare VII 100.
^) Vgl. auch die Anmerkung Cottas hiezu. Darnach folgt Gerhard
dem Meisner in der genauen Begründung dieser Konstruktion auf die
zwei subjecta perfectionis, intellectus und voluntas.
^) Vgl. ferner : Vere Deus cognoscitur ac nomen ejus glorificatur,
si divinam ipsius sapientiam, misericordiam, justitiam, potentiam ac
veritatem, quae sunt ipsa Dei essentia, in verbo evangelii relucentem
agnoscamus VI 131 ff. Vera fides Christum intuetur, ut propitiatorium
a Deo propositum, ut victorem mortis et ducem vitae, immo ut eum,
in quo est vita aeterna VII 180. Ähnlich VII 205 und 182. Christus
in verbo et sacramentis suara gratiam et animae nostrae medicinam
nobis adfert, illis sese quasi vestivit, in illis vult quaeri et inveniri
XVII 127. Solche Stellen liessen sich noch viele anführen. Aus den
Meditationen erhellt, dass sie ganz so warm und lebendig gemeint
sind, wie sie lauten.
*) Vgl. hiezu noch III 72 : Ut ergo practica Dei definitio a
charitate petitur, ita etiam practica ejus cognitio in charitate consistit.
Nihil quicquam prodest substantialem illam charitatem non amare.
Omnia Dei opera et beneficia generi humano exhibita eo unice spec-
tant, ut ad amandum Deum nos alliciant . . . Plus quam ferrea igitur
oportet esse corda, quae tanti amoris igne non molliuntur, ut Deum
creatorem, Deum reparatorem, Deum sanctificatorem diligant. Vgl.
auch die Vorrede zu den Meditationes sacrae, wo mit den Aus-
35
V 172, spiritualis oivsoig VII 150 79, er sieht nicht auf
das „AVie", sondern nur auf das „Dass" seines Gegenstandes
und unterscheidet sich gerade dadurch vom natürhchen Er-
kennen VII 78 ff. Er ist das Gegenteil des Zweifels und
des Misstrauens gegen Gott, die in der natürlichen Sphäre
herrschen, die Erfüllung der ersten Tafel des Gesetzes VII
115. Ubi non est dilectio nee mundi victoria nee cordis
puritas nee interior renovatio et cum Christo unio, ibi etiam
vera tides non habet locum. Monendum tamen haec omnia
inteUigenda esse adhibita distinctione inter notitiam literae ac
Spiritus, inter tidem consideratam ratione notitiae et ratione
üduciae etc. Meth. 21, und so kann es auch heissen vera theo-
logia in affectu potius quam in nuda cogitatione consistit
Meth. 20^). Daher ist der Glaube jene in der zweiten Schöpfung
geschaffene lux spiritualis, durch das AVort geschaffen wie einst
das erste Licht (II 342 und öfter), eine Geisteskraft, die aus
dem misstrauischen Feind Gottes (VIII 15) ein ihm bedingungslos
vertrauendes Kind m.acht V 102 197 ff.
Ist so der Glaube das Prinzip eines neuen geistlichen
Lebens, so ist er auch zugleich ein Vorspiel des ewigen Lebens
Meth. 5, er wird im Jenseits nicht aufgehoben, sondern vol-
lendet werden ^). AVie vom Glauben, so gilt von dieser vollen
Gotteserkenntnis Deum cognoscere est diligere XVIII 19, und
wie hier, so besteht auch dort der Glaube in gemeinsamer
Funktion von Intellekt und AVille s). Daher wird die wissen-
drücken der humanistischen Theologie wie bei Melanchthon und
in direkter Berufung auf Erasmus die spinosae quaestiones getadelt
■werden und die n^d^ig hervorgehoben wird. Non in verbis, sed in
factis res nostrae religionis consistunt. Multum ubique scientiae, con-
scientiae parum . . . Digladiamur sine fine, quid distinguat Patrem a
Filio et utrumque a Spiritu Sancto, res an relatio, et qui consistat
tres dici, quorum nullus sit qui alius, cum sint una essentia. Quanto
magis ad rem pertinet, hoc modis omnibus agere, ut Trinitatem illam,
cujus majestatem scrutari fas non est, pie sancteque colamus et ado-
remus etc. In dem pointirten Stil dieser Sätze gibt sich zugleich der
litterarische Charakter des Zeitalters zu erkennen, der überall, wo man
überhaupt dem Stil Aufmerksamkeit schenkt, als Nachhall des Huma-
nismus erscheint.
^) Dagegen aber auch andere Sätze wie: theologia est oraculorum
divinorum cognitio II 1. Beides verträgt sich durchaus in Gerhards Sinn.
2) Fidei sane, ut est cognitio in speculo, succedet manifesta visio
nee ami^lius occupata erit fides in apprehensione promissionis evan-
gelicae de peccatorum remissione, interim tamen lux notitiae et fiducia
in voluntate non abolebitur, sed perficietur VII 306. Vgl. VII 312.
^) Quo perfectior erit summi boni cognitio, eo etiam perfectior
erit ejusdem dilectio . . . Adde quod ex cumulatissima omnium bonorum
abundantia divinitus in se collata et ex intimo amoris sensu beati evi-
36
schaftlich-psychologische Bestimmung des ewigen Lebens mit
Hilfe Scaligers gegen Thomas dahin getroffen, quod utrius-
que potentiae, intellectus scilicet ac voluntatis, respectu beati-
tudo aeque principaliter et immediate electis competat, quia
iitriusque ratione Deum possidebunt, per claram scilicet visionem,
quae est intellectus, et per firmam adhaesionem ac fruitionem,
quae est voluntatis XX 460. Doch zeigen die bereits
angeführten Stellen, dass auch hier die intellektuelle Funktion
nur Mittel zum Zweck der rehgiösen ist. Daher heisst es
auch hier: Ergo in amore potius quam in visione summum
beatorum bonum consistit; die Hauptsache ist der himmlische
Hausfriede, wo Gott wie ein paterfamilias familiariter cum
suis in domo conversatur (XX 295), die Reinheit des Herzens
von aller Sünde (VII 312 VII 295), die suavissima con-
sociatio cum beatis (XX 447). Vigebunt inter sanctos per-
petua et jucundissima colloquia de passionis dominicae fructu,
aeterna scilicet beatorum glorilicatione, ac de aliis fidei nostrae
mysteriis, ad quorum perfectam agnitionem in hac vita adspirare
nondum potuerunt ibid. Diese Gespräche würde man sich
wohl in der Art der Gerhardschen Meditationen zu denken
haben, wie er solche auch dem locus de vita aeterna voll er-
greifender Wärme und Xaivetät beigegeben hat. Zeigt sich
hierin freilich die Eigenart Gerhards, des Schülers und Freundes
Job. Arndts, so wird man doch in den Ausführungen über
fides und vita aeterna als Ganzem das Ideal der Religion
finden dürfen, wie es in der eigentümlichen Verbindung des
doktrinären und praktischen Momentes von der orthodoxen
Schriftkirche überhaupt ausgebildet worden ist^).
denter cognituri sunt, se a Deo in siimmo gradu diligi, ideo ipsum
quoque in summo et perfeotissimo gradu amabunt, ex quo amore erga
Deum etiam amor erga proximum orietur, quem in Deo et sub Deo
diligent XX 413. Quia beatus nemo dici potest, nisi bona quibus
adfluit, intelligat cognoscat ac velit, ideo beatitudinis nomine intelli-
gitur, quod electi suam beatitudinem agnoscant per intellectum,
summe ament per voluntatem quiete et pacate in ea acquiescant per
cordis affectum. ex qua acquiescentia oritur summum illud et ineffabile
gaudium, quo Deo tamquam summo et infinito bono fruuntur XX
365. Ferner : Haec pax animarum non est iners otium vel veternus
aliquis, sed tranquillitas laetitia et p ax conscientiae inDeoexul-
tantis, ab omni dolore et pavore liberatae, Dei luce fruentis et Deum
celebrantis, ut infra plenius docebitur XVIII 8.
^) Die Belege sind so ausführlich mitgeteilt, da Kaftan a. a. 0.
in sehr bestechender Weise den Versuch gemacht hat, hierin das my-
stisch-rationalistische Religions- und Erkenntnisideal des Katholizismus
nachzuweisen. Es scheint mir das aber unmöglich, weil die praktische
Färbung nicht mystisch, die doktrinäre nicht rationalistisch ist, sondern
das ganze Interesse nur auf die volle Wahrheit der Glaubensobjekte
37
Als letzte Frage in Betreff der theologischen Sphäre ist
schliesshch noch zu untersuchen, durch welche Gründe etwa
diese isohrte Stellung der Offenbarung im Erkenntnisgebiet
und des Glaubens im Seelenleben gerechtfertigt oder etwa aus
einer obersten einheitlichen Anschauung abgeleitet wird. Allein
hierauf findet sich bei Gerhard so wenig als anderswo eine
Antwort; die Schrift und die Philosophie waren beide vor-
banden und brauchten nicht mehr abgeleitet zu werden, es
bedurfte nur einer die Dignität der Schrift erklärenden Inspi-
rationslehre 1) und ausserdem einer Prinzipienlehre, welche die
vorhandene Philosophie für die so bestimmte Offenbarung zu
gleicher Zeit nutzbar und doch auch unschädlich machte.
Was sich sonst etwa findet, sind nur gelegentliche Bemerkungen
ohne prinzipielle Bedeutung, wie z. B. die Ableitung der Offen-
barung aus dem Bedürfnis geistlicher Neubelebung (Meth. 5
und 24, II 283), oder die Anspielung, dass rationale Unbe-
greiflichkeit überhaupt zum Wesen der Offenbarung gehöre
{II 343 III 3), dass es der Natur Gottes entspreche, sich an
die vernünftigen Geschöpfe mitzuteilen (II 3), oder die An-
deutung, als ob der Trennung eine verborgene höhere Einheit
zu Grunde liege (XVII 29 ff'.). Man erkennt auch hier, dass
es gerade zu den Grundeigentümlichkeiten der ganzen bibliko-
aristotelischen Gelehrsamkeit gehört, keiner einheitlichen Ge-
sammtauffassung zu bedürfen, das isolirte Einzelne nach den
gerichtet ist, der Glaube und die Seligkeit selbst aber überall dem
Willen und Gewissen angehören. Dass daneben eine gewisse Freude
an der Erkenntnis der ,, göttlichen Geheimnisse" sich geltend macht,
ist bei der Voraussetzung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis nur
natürlich, nicht spezifisch scholastisch. Auch dass die Theologie als Weg
zur Seligkeit erscheint (Kaftan p. 161 ff.), ist unverfänglich, da diese
Theologie nicht in Erkenntnis der letzten Gründe des Seins, sondern
in Kenntnis der Glaubensobjekte besteht und so allerdings für Theo-
logen und Laien gleich nötig ist. — Auch der Dualismus der Er-
kenntnislehre oder das Autoritätsprinzip stammt lediglich aus dem Be-
dürfnis nach Sicherstellung der Glaubensobjekte, nicht aus dem nach
übernatürlicher Erkenntnis, ist daher gegen die scholastischen Theorien
indifferent. Der Thomismus wird als Rationalismus scharf verurteilt.
Die Ähnlichkeit, die Kaftan mit diesem konstatirt (p. 153), besteht nur
in der Festhaltung der Einheit der Erkenntnis; allein bei den Ortho-
doxen beruht diese Einheit ausschliesslich in der Coexistenz zweier
qualitaciv streng geschiedener Erkenntnissphären, nicht in der prin-
zipiellen, nur empirisch getrübten, Identität alles Erkennens. Im
übrigen ähnelt ihre Theorie am ehesten dem Nominalismus; doch
fehlen gerade die Eigentümlichkeiten desselben, seine erkenntnis-
theoretischen und besonders metaphysischen Voraussetzungen, völlig,
und durch den Satz vom verus usus philosophiae wird er direkt ab-
gewiesen.
») So auch Kaftan 149 ff.
38
erlernten Regeln zu verteidigen und so alle Konflikte ohne
ein inhaltlich bestimmtes Prinzip nur stets von Fall zu Fall
zu schlichteuj in allem übrigen sich aber der klaren, hellen
Gottesstimme des heihgen Buches zu getrösten, das in jeder
heilsnotwendigen Frage Auskunft gibt, ohne dass man deren
Wahrheit durch Ableitung oder durch Ausgleichung mit an-
derem zu erhärten brauchte.
Etwas kürzer fassen kann sich die Betrachtung der philo-
sophi sehen Sphäre, für die man sich von vornherein die
ganze Enzyklopaedie der Artistenfakultäten mit ihren Diszi-
plinen 1) und Kompendien, sowie einige einflussreiche Werke der
auswärtigen Litteratur zu vergegenwärtigen hat. Gerhard hat
sich dieselbe in vollem Umfang angeeignet, natürlich ohne jede
besondere Originalität. Es handelte sich ja in der Philosophie
nicht weniger als in der Theologie lediglich um kunstgerechte
Bearbeitung gegebener Stoffe, um Lernen und Lehren, nicht
um Produziren, und für Aristoteles sowie für andre Autoritäten
wagte man ebenfalls eine gewisse Inspiration anzunehmen 2).
Lmerhalb dieser Grenzen hat Gerhard dennoch sehr folgenreich
auch in die philosophische Entwickelung eingegriffen, insofern
er die neu aufkommende Metaphysik für die Theologie rezi-
pirte und somit die Weiterentwickelung der Philosophie theo-
logisch sanktionirte. Davon wird später die Bede sein. Hier
ist nur soviel zu sagen, dass auch seine philosophischen Studien
^) Ein Abriss derselben Meth. 93 ff., Meisner, Phil. sob. I 22 ff.
Keckermann, Systema Systematura, Hanau 1613 II 6 ff. Calixt, Appa-
ratus 15 — 34. Jakob Martini, Paedia seu prudentia in disciplinis gene-
ralis, Wittenberg 1631 p. 705 ff. und Vernunftspiegel Buch II.
Jakob Thomasius, Philosophia Instrumentalis et theoretica, Leipzig
1705. Buddeus, Isagoge, Abschnitt de propaedeumatibus theologicis
93 ff. Mit Vorsicht sind auch noch Morhofs Polyhistor, Lübeck 1705
und Reimmanns Einleitung zu benützen. Mit geringen, später zu
erwähnenden, Unterschieden ist der Bestand der Disziplinen in diesen,
fast ein Jahrhundert umfassenden, Darstellungen unverändert geblieben.
Von auswärtigen kommen besonders die italienischen Peripatetiker und
die jesuitischen Kommentatoren des Aristoteles in Betracht. — Für
Reiramann erscheinen als Früchte des Fakultätsbetriebes die bisher für
jede angefertigten Litteraturverzeichnisse, und was ihm als Krone des
Ganzen noch fehlt, das ist eine Enzyklopädie der Enzyklopädieen und
eine Litterargeschichte der Littet argeschichten ! I 17.
'^) Eiswich 82, der von einem berühmten Mann berichtet, er habe
das oQyccror des Aristoteles als dsonvavaiwg scriptum bezeichnet ;
ferner Henke I 29. Die Darstellung, w^elche Ranke, Deutsche Gesch.
V 338 ff. von der Wissenschaft des nachreformatorischen Zeitalters
gibt, sucht die spärlichen selbständigen Regungen auf und gewährt
insofern ein etwas anziehenderes Bild. Kepler, Jungius, Tassius, Arnos
Comenius sind allerdings nicht zu vergessen.
39
das gewöhnliche Mass übei-schritteii zu haben scheinen i). So
hat er vor Beginn der theologischen Semester in AVittenberg
den ganzen philosophischen Kursus absolvirt, totius philosophiae
encyclopaediam, lectiones, disputationes et collegia philosophica
gnaviter absolvit. wie sein Leichenredner Feuerborn sagt ^).
Zu den öffentlichen Kollegien fügte er eine grosse Anzahl
privater hinzu, Logik und Ethik hörte er mehrfach. Durch
eine pliysikalische und anthropologische Disputation bewies er
den glänzenden Erfolg seiner Studien, seinem Privatfleiss dankte
er ein starkes Kollektaneenheft, das er aus den berühmtesten
Commentatoren des Aristoteles zusammengestellt hatte, und von
dem uns wohl in seinen locis noch manches erhalten ist
(Fischer 17 fP.). Darauf machte er 1603 in Jena das Magister-
examen und las sofort collegium logicum Aristotelicum, drei
Monate darauf PoHtik, spater Metaphysik, wie üblich, nach
fremden Heften ^), während er daneben Theologie weiter studirte
(Fischer 27 ff.). Auch nachdem er seine theologischen Studien
nach Marburg verlegt hatte, fuhr er fort, zugleich als Magister
philosophische Lektm^en zu halten, und erteilte daneben 3^/^
Jahre lang seinem Schüler Rauchbar Unterricht im ganzen
philologisch-philosophischen Kursus mit Einschluss des systema
metaphysicum. Im Jahre 1605 wurde er Adjunkt der philoso-
phischen Fakultät in Jena und setzte in dieser Mittelstellung
zwischen Professor und Privatdozent ^) seine philosophische
Lehrtätigkeit fort, bis er 1606 als Prälat nach Heldburg be-
rufen wurde (Fischer 45 ff.).
Dieser Studiengang zeigt seine eingehende Beschäftigung
mit der Philosophie, er zeigt zugleich den ganzen Kreis der
philosophischen Sphäre. In Wittenberg hörte er Rhetorik und
Logik, Mathematik, Physik und Anthropologie, Ethik und
Historie. Ganz dementsprechend beschreibt er den Umkreis
der Disziplinen in seiner Methodus (p. 93) ^), wobei er den philo-
') Das gellt auch aus seinem interessanten Testament von 1603
hervor, wo er seine Kollegen um Verzeihung bittet, wenn er etwa
„zu viel speculationibus philosophicis indulgirt" hätte. Fischer Vita 35.
■^) Im Anhang zu Joh. Gerhardi Patrologia, Jena 1653 p. 27.
Das war keineswegs gewöhnlich Tholuck-, Ak. Leben I 231 fF.
^) Fischer 487. Fischer redet hier auch von Collegien, die er
in Wittenberg gehalten hätte; das ist aber wohl ein Irrtum für Jena,
da Gerhard in Wittenberg noch gar nicht gelesen hat. — Übrigens
müssen seine Leistungen in der Politik ziemlich schlimm gewesen sein
nach seinem eigenen Zeugnis (Fischer 381): ,,tumultuariscli und ohne
Urteil zusammengeflickt, da er sie eigentlich vorher nicht studirt, ja
nicht einmal einen Vortrag darüber gehört habe".
*) Tholuck, Ak. Leben I 50.
^) Hier ist nur noch die erst nach seiner Studienzeit an den
40
sophisclien Kursus in seine beiden grossen Teile zerlegt, die
Instrumentalphilosophie und die Realphilosophie, welche letztere
in eine theoretische und praktische zertällt. Das Objekt dieser
Sphäre ist die Natur und die angeborenen Ideen I 93 Ö'.
III 42. Die entsprechenden Geistesfunktionen, habitus intellec-
tuales, werden ungleich unterschieden, bald als sapientia und
prudentia II 4, bald als sinnliche Wahrnehmung und aprio-
risches Denken I 79 i). Mehr als auf diese schwierigen Fragen
kommt es Gerhard freilich auf die Autoritäten an, welchen
man bezüglich der Resultate zu folgen hat. An der Spitze
steht hier der Meister aller Wissenschaft, der uralte Aristoteles,
magnus ille in philosophia dictator XVIII 373, oder schlechtweg
der philosophus, wie er ihn sehr häufig zitirt. Er ist allen
Sekten bei weitem vorzuziehen. Unter den diesen Aristote-
lismus verarbeitenden Kompendien certus eligendus est auctor,
quem lectione quotidiana sibi aliquis reddat familiärem. Illum
prae reliquis perspicuum, nervosum, accuratum et fundamen-
talem esse oportere facile colligimus; und zwar kommt es
hiebei vor allem an auf die Ansammlung von terminorum
explicationes, utiles distinctiones et canones sub certis titulis
redacta in guten Kollektaneenheften (Meth. 137), wie Gerhard
selbst deren eine ganze Anzahl hinterlassen hat (Fischer 486 ff.).
Eine solche Anweisung charakterisirt besser als alles andere
dieses ganze philosophische Studium. Die zwei Kommenta-
toren, welche er selbst als die wichtigsten empfiehlt, sind Zaba-
rella und Scaliger. Von dem ersteren, dem Begründer der
Methodik, wird später die Rede sein; der letztere, der Vater
des berühmten Philologen, erscheint als acutissimus nostri saeculi
philosophus VII 96 und wird sehr häufig und stets als Auto-
rität ersten Ranges zitirt. Buddeus sagt von seinen Exercita-
tiones, dass sie viel enthielten, was der Naturkenntnis dient,
und damals so geschätzt gewesen seien, dass niemand für
philosophisch gebildet gegolten habe, der sie nicht gelesen
hatte (Isag. 239). Sie dienten vor allem als Lehrbuch der
Physik und kamen hier, wie die Vorrede des bekannten kaiser-
sächsisclien Universitäten rezipirte Metaphysik genannt. Von ihr wird
unten die Rede sein.
^) Eine genauere Schilderung der habitus intellectuales gibt Calixt
in seiner 1609 zu Jena gehaltenen Disputation bei Henke I 120, auch
Melanchthon im CR. XIII 166. Über das Verhältnis der nominalistisch-
empiristischen und realistisch-aprioristischen Elemente wurde eine
ziemlich lebhafte Kontroverse geführt, doch so, dass es sich immer
nur um verschiedene Arten der Mischung beider handelt. Zu Grunde
lagen hiebei nicht die scholastischen Theorien, sondern die aristote-
lischen Texte selbst. Hier kommen diese Differenzen nicht in Betracht.
41
liehen Leibarztes Crato von Crafftlieim zu der ersten in
Deutschland gedruckten Ausgabe ^) beweist, einem grossen
Bedürfnis entgegen, ausserdem empfahlen sie sich wohl durch
die aus Bosheit gegen Cardanus sehr kirchlich gehaltene Er-
kenntnislehre, ohne im übrigen an dem allgemeinen humanistisch-
peripatetischen Typus der Physik etwas Wesentliches zu ändern.
Der Höhepunkt des philosophischen Studiums war die schwierige
Lektüre der fontes Aristotelici selbst, die übrigens durch eine
grosse Litteratur aristotelischer Philologie, durch Kommentare
und Einleitungen ^), sehr erleichtert war (Meth. 136). Auch
Plato und Cicero werden stark herangezogen, vor allem in
den Fragen der natürlichen Religion. Ausserdem hat Gerhard
noch eine ganze Anzahl anderer Autoren benützt und zitirt,
besonders häufig und mit besonderer Achtung die Humanisten
Erasmus und Ludwig Vives, daneben aber auch die zeitge-
nössischen protestantischen und katholischen Peripatetiker mit
ziemlicher Vollständigkeit, doch mit weit geringerem Nach-
druck 2). Dieses alles zusammen, der Studiengang, die Schil-
derung und Aufzählung der Disziplinen und die von Gerhard
angeführte Litteratur geben ein hinreichendes Bild von dem
Umfang und Stoff der Vernunftsphäre und damit zugleich von
dem Material, das für den usus organicus in Anwendung kam.
Es ist noch übrig, von diesem d. h. also von der Wechsel-
wirkung beider Sphären an den wichtigsten Beispielen eine
Anschauung zu geben. Bei aller Vorsicht, zu der Gerhard
dringend ermahnt (Meth. 98), ist sein Einfluss auf das Ganze
der Anschauung naturgemäss doch sehr gross, da er ganz im
Stillen und unter dem Titel bibhscher Termini der Dogmatik
das Weltbild und die Anthropologie des „Aristotelismus" als
den Untergrund unterschiebt, auf dem sich die von ihr aufge-
^) Jul. Caes. Scaliger, Exotericae exercitationes de sublimitate
ad Cardanum, Frankfurt 1582, Weitere Ausgaben bei Buddeus. Ausser
diesem mehrfachen Druck bezeugt noch ein Schriftwechsel über den-
selben die Rolle, welche Sc. damals spielte. Vgl. Buddeus 238 ff.
-) Brucker IV 111. Paulsen 167.
^j Aristoteles ist circa lOOmal zitirt, Plato 42, Cicero 79mal, viel
seltener Seneca, Boetius, Xenophon u. a., Erasmus 104, Vives 60mal,
ganz vereinzelt sind die Zitate aus den Zeitgenossen Cäsalpin,
Cardan, Suarez, Fonseca, J. Martini, Meisner, Goclenius, Al-
stedt u. a. Antike und Humanismus überwiegen. Dem Geist des
letzteren entspringen auch die vielen klassischen Prunkzitate, die wohl
nicht immer direkt aus der Quelle entnommen sind. — Die Angaben
sind nach den Indices der Frankfurt-Hamburger Ausgabe der Loci
(1597) gemacht, da der von G. H. Müller zu Cottas Ausgabe gelieferte
Index sehr dürftig ist. Die neue Bearbeitung desselben durch
Gust. Frank ist mir nicht zugänglich gewesen.
42
rollte comoedia divina i) der Welterlösung abspielt. Alles Sein
zerfällt in drei Teile : Gott, der keinen Anfang und kein Ende
hat, Engel und Menschen als creaturae rationales, welche einen
Anfang, aber kein Ende haben, und substantiae corporeae
physicae, die einen Anfang und ein Ende haben (XX 6ß ff.).
Von diesen Teilen kommen hier jedoch nur die Menschen und
die physischen Substanzen in Betracht, welche zusammen das
totum systema universi coelestibus et elementaribus corporibus
constans (XX 42) ausmachen (XVIII 352). Dies ganze
System zerfällt in zwei Teile, die sublunarische Welt, welche
der Wohnplatz des Menschen ist, und die Sphären des
Himmels, welche diese Welt rund umgeben (XX 49). Erstere
besteht aus den verschiedenen Mischungen und Verdichtungen
der bekannten vier Elemente zu Körpern, wird durch das
Zusammenwirken von Form und Materie, Actus und Potenz
in ihrem Bestand und ihrer Entwickelung erhalten, ist dem
Menschen zu Liebe durch Differenzirung der generischen Ur-
bilder zu Arten und Individuen geschmückt, worunter Tiere
und Pflanzen als mit anima sensitiva und anima vegetativa
begabte Substanzen hervorragen, ohne aber dem Menschen
gegenüber mehr als die übrige Materie zu sein (XX 65 ff.
XVIII 336 ff. 352). Diese Welt der vier Elemente wird um-
geben und zusammengehalten, „wie das Eidotter von Eiweiss
und Schale", von den Sphären des Himmels, die aus Äther
zusammengesetzt sind d. h. aus einem viel leichteren Stoff be-
stehen als die sublunarische Natur (XIX 260 XX 49). Der
Erde zunächst liegt die sphaera ignis, dann kommen die orbes
planetarum ac firmamentum seu primum mobile, dann das
coelum cristallinum und schliesslich das coelum empyraeum
(XIX 152); unter diesen Sphären hat nun freilich der
„Glaubensgehorsam" nach Gen. 1 die an sich gar nicht hinein-
passenden aquae vttovqccviol noch unterzubringen (IV 17),
femer ist um der ubiquitas carnis Christi willen zu bemerken,
dass Christi Himmelfahrt sich nicht durch all diese Sphären
hindurchbewegt hat (XIX 152). In der Planetensphäre ist
der wichtigste Körper natürlich die Sonne, welche die Erde
mit Tageslicht versorgt, und um deren kreisender Bewegung
willen die Bede von der mitternächtigen Wiederkunft Christi
nur bildlich verstanden werden darf, da ja stets nur eine
Hälfte der Erde Nacht hat (XX 32 XIX 244). Ob die
Himmelskörper lebende Intelhgenzen sind, ist eine mit Sicher-
heit nicht zu entscheidende Frage (XIX 269), sicher hingegen
ist der influxus physicus, den die Gestirne auf die sublunarische
^) Diesen Vergleich gebraucht Gerhard selbst XX 59.
43
Welt ausüben, wobei nur die übrigen concausae, namentlich
aber die moralische Verantwortlichkeit, nicht zu gering geschätzt,
und besonders der Einfluss des Sterns der Weisen auf Christus
nicht übertrieben werden dürfen (IV 17 ff.). Überhaupt ist die
Bedeutung des Sphärensystems für die Elementarwelt die
denkbar grösste. Von der Rotation der äussersten Himmels-
sphäre geht der Bewegungsanstoss aus (XX 57), der sich dann
als Bewegung von der Potenz zum Actus jener mitteilt und
sie durch die generatio in beständigem Fluss des Werdens
hält (XX 2), um schhesshch auch die einzelnen Elemente und
deren Kombination, somit auch die vier Temperamente des
Menschen, zu beherrschen (XX 65 IV 18). Zugleich dienen
alle sphärischen Phänomene, besonders die Eklipsen, sie mögen
natürhch oder übernatürlich zu erklären sein, als fortwährende
Kundgebungen des göttlichen Willens (XIX 267). Nur über
die Dauer dieses Weltsystems hat der Heide Aristoteles sich
schwer geirrt; das ist aber begreiflich und zu entschuldigen,
da er von Sünde und Gnade nichts wusste (XX 30 XVIII
249 ff.).
Er konnte es nicht wissen, dass diese tota coeH terraeque
machina (XX 19) nichts Dauerndes, nichts um seiner selbst
willen Existirendes war, dass sie lediglich ein „vorübergehender
Wohnsitz des zur Ewigkeit wandernden Menschen^^ ist, ein
zeitweihger Aufenthaltsort dieses einzigen ewig dauernden
sublunarischen Geschöpfes (XX 24). Er hat die Ewigkeit der
Welt gelehrt, weil er nichts wusste von der Ewigkeit des
Menschen, der doch als ihr einziger Zweck und ihr wesent-
licher Inhalt in ihrem Kerne sitzt. Um seinetwillen allein ist
das ganze Weltsystem geschaffen (XX 24), und es dauert
nicht länger, als bis die Zahl der Erwählten voll ist; es ist
daher in der Sintflut nur mit Wasser d. h. teilweise zerstört
worden, während es nach Erfüllung der Zahl mit Feuer d. h.
gänzhch zerstört werden wuxl (XX 37). Der zur Ewigkeit
bestimmte Mensch ist somit der eigentliche Inbegriff der Welt,
{.li'KQO'/.oöfÄog, epitome reliquarum creaturarum omnium (IV 239),
das Abbild des f.iaAQ6y,0G(.iog (IV 18), diejenige Kreatur, welche
allein aus den sonst scharf getrennten Bestandteilen des Seins,
der natura rationalis und der natura corporalis, zusammen-
gesetzt ist (XVIII 369 ff.), die natura composita oder das
totum compositum, dessen Leib aus den vier Elementen gebaut,
vom humidum radicale und calor nativus zusammengehalten,
mit anima vegetativa und sensitiva begabt ist, und dessen Seele
als reine natura rationalis, als ewige Form und unvergängliche
Entelechie, der Actus des Leibes ist und seinen Zusammenhang
mit der Ewigkeit sowie seine Wirkungsfähigkeit auf das
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Irdische vermittelt i). Die Teilung der Seele in die potentiae
voluntatis et intellectus, welche zusammen die der sensitiven
Seele angehörigen Affekte regieren, und die Wichtigkeit dieser
Teilung für alle Definitionen sind schon erwähnt (V 87). Die
Fortpflanzung findet durch traducianische Erzeugung eines
totum compositum aus dem andern statt, bis dereinst die Zahl
erfüllt ist (IV 283). So ist der Mensch das unerhörte Beispiel
einer ewigen, aus Geist und Materie gemischten, Substanz, der
einzige Fall, wo die Elemente an der Ewigkeit des Geistes
teilnehmen (IV 239).
Nur vorübergehend ist durch die Sünde eine Disharmonie
beider Bestandteile eingetreten, und ebenso vorübergehend ist
die Trennung beider im Tode. Die Wiedervereinigung tritt prin-
zipiell ein in der Wiedergeburt, der zweiten Schöpfung (II 342) 2),
die zugleich die erste Auferstehung ist (XIX 69), und wird
vollendet in der Auferstehung des jüngsten Tages, die ja
nur eine Auferstehung des Fleisches ist. Dann findet die
Vertilgung der dem Leib inhärirenden Sündenpotenz, die Ver-
klärung des vom Leibe Christi genährten Körpers statt ^), dann
vergeht die irdische Welt, welche jetzt „keinen Zweck mehr
hat" (XX 24), und ein neuer Himmel und eine neue Erde
treten an deren Stelle, ein Zustand übersinnlicher Seligkeit
im göttlichen Hausfrieden. So hat das ganze Weitdrama durch
creatio und instauratio hindurch (IV 4) sein ewiges Ziel erreicht.
Diese Beispiele mögen genügen, um den Umfang zu ver-
anschaulichen, in welchem die Healerklärung der Termini
coelum, terra, homo, anima, mens, voluntas etc. auf das Ganze
der orthodoxen Anschauung einwirkte, und zu erklären, vae
man mit solchem Magddienst die Aufgabe der Philosophie
gegenüber der Theologie hinreichend bezeichnet zu haben
glauben konnte. Was unter diesen Titeln zur Verwendung
kommt, ist im Wesentlichen das Weltbild der alten Formphilo-
sophie, welche zerstreute empirische Beobachtungen mit der
') XVII 37 42 50 150 XVIII 28 369 ff. 373 ff. XIX 28 37.
2) Ein für Gerhard im Mittelpunkt stehender, stets wiederholter,
Gedanke IV 238 246 V 115 317 VI 12 V XVII 47 XIX 5 und öfter,
an dem man wohl den Schüler Arndts erkennen darf. Denselben Sinn
hat die häufige Parallelisirung der Medizin und Theologie. Vgl. Meth. p. 5
und besonders die schöne Vorrede zu den Meditationen: Ita quoque
verus theologiae finis est spiritualis illa interioris hominis regeneratio,
quam ex aqua et spiritu fieri testatur veritas.
^) Diese an Theosophie erinnernden Wendungen sind durchaus
nicht vermieden; ersteres XVII 19, wo der Eintritt des Todes aus dem
Gift der Paradiesesfrucht erklärt ist wie der Schlaf aus den ins Gehirn
strömenden Magendämpfen, und XVII 70, wo peccati radix durch die
Weltverbrennung aus dem Körper entfernt wird ; letzteres XVIII 335 343.
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Annahme unzählbarer geheimnisvoll wirkender Wesenheiten
und hypostasirter Kräfte verbindet und daher leicht im Stande
ist, sich mit rehgiösen Welttheorien zu verflechten; sie weiss
noch nichts von dem, w^as die eigentlichste Errungenschaft der
modernen Wissenschaft ist, und was der modernen Theologie
die schwerste Mühe macht, von dem Begriff des Naturgesetzes
und dem naturgesetzhchen Weltbild. So konnte es gelingen,
völhg prinziplos auf angebhch rein exegetischem Weg die not-
wendige naturphilosophische Grundlage in das Erlösungsdrama
hinein zu interpretiren, die erstere zu korrigiren oder zu igno-
riren, wo es nötig war, und doch beide aufs innigste mit ein-
ander zu verschmelzen, sodass eines das andere voraussetzt.
Die Wechselwirkung beider Sphären stellt sich somit im letzten
Grunde als die lose und sprunghafte Konstruktion eines „geist-
leiblichen" Weltdramas dar, zu welcher der usus organicus
ganz unter der Hand geführt hat. Darin ist aber nicht etwa
ein tiefer Sinn der Wechselbeziehung zwischen Vernunft und
Offenbarung enthalten, sondern es ist die ganz natürliche und
unvermeidhche Folge jedes usus organicus oder formalen Ver-
nunftgebrauches. Für das Verhältnis selbst hat man sich
lediglich an die Intentionen der Dogmatiker zu halten, und diese
sind mit vollem Bewusstsein rein äusserlich und mechanisch, ja
ihr ganzer Sinn und Schwerpunkt Hegt gerade in dieser
Äusserhchkeit. Sie wollten kein spekulatives Weltsystem ent-
wickeln wie die grossen Scholastiker, sondern nur den Text
der heihgen Schrift erklären. Sachhch freihch ist dieser usus
organicus von einschneidender Bedeutung und stellt die ortho-
doxe Dogmatik in scharfen Gegensatz zu unserem modernen
Denken. In klassischer Weise ist dieser Gegensatz bereits von
Melanchthon ausgesprochen, der die geschilderte Physik durch
sein Lehrbuch auf den deutschen Schulen heimisch gemacht
und als Hilfsmittel für den usus organicus dargeboten hat.
Nachdem er nämhch hier seine Schilderung des Weltgebäudes
mit einem Lobpreis Gottes geschlossen hat, der die ungeheure
Schöpfung nur um der winzigen Erde und diese wiederum
nur um der wenigen Auserwählten willen geschaffen habe^),
wendet er sich mit bitteren Vorwürfen gegen die Neuerungs-
sucht und Unfrömmigkeit derjenigen, welche die Erde aus
dieser Stellung im Zentrum der Welt entfernen und dadurch
die Annahme einer Mehrheit von Welten unabweisbar machen
d. h. gegen Kopernikus und damit gegen das moderne Welt-
bild. Schon aus der Philosophie folge für Verständige die
Ablehnung dieser ungeheuerhchen Meinung, ganz sicher aber
1) CR XIII 215.
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werde sie widerlegt durch ihre Unvereinbarkeit mit der Erlösungs-
lehre der Schrift und der Kirche : Sed nobis in ecclesia et facihus
et necessarium est asseverare, unicum esse mundum, quia coelestis
doctrina hunc mundum, in quo Dens se patefecit, in quo suam
doctrinam hominibus tradidit et in quo fihum generi humano
immisit, conditum esse adfirmat. . . Sciamus Deum nobiscum
tamquam civem hujus mundi esse, hujus mundi custodem et
servatorem esse . . non fingamus eum abesse in aho mundo
et aHos homines curare. Adjungatur ergo . . et haec confir-
matio, quae valde firma est: Unus est fihus Dei, Dominus
noster Jesus ChiistuSj qui cum in hunc mundum prodiisset,
tantum semel mortuus est et resuscitatus. Nee ahbi se ostendit
nee ahbi mortuus est. Non igitur imaginandum est plures
esse mundos, quia nee imaginandum est saepius Christum
mortuum et resuscitatum esse nee cogitandum est in ullo
aho mundo sine cognitione fihi Dei hominibus restitui vitam
aeternam^). Ganz dasselbe gilt auch für Gerhard und die
übrigen orthodoxen Theologen.
Damit dürfte die Prinzipienlehre, soweit sie das Verhältnis
zu den Realdisziplinen normirt, hinreichend entwickelt sein.
Die Analyse der einzelnen Sphären hat den Tatbestand be-
stätigt, der bei der Theorie als Ganzem zu Tage trat, dass es
sich nämlich um den Versuch einer qualitativen Scheidung
der Vernunft- und OfFenbarungssphäre handelt, wobei aber die
Grenzen nach der theoretischen Seite durch autoritative Macht-
sprüche festgestellt werden müssen.
^) CR. XIII 220.
BR
Troeltsch, Ernst
350
Vernunft und
G4T7
Offenbarung
1891
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