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Full text of "Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon"

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'Troeltsch,  Ernst 

Vernunft  tmd 
Offenbarung 


BT? 


Vernunft  und  Offenbarung 


bei 


ohann  Gerhard  und  Melanchthon. 


Inaugural-Dissertation 


zur 


Erlangung  der  Licentiatenwürde 

mit  Genehmigung 

Einer  Hochwürdigen  Theologischen  Fakultät 
der  Georgia  Angusta 

herausgegeben  von 


# 


Ernst  Troeltsch. 


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"O^B  C?^ 


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3  1960 


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^V  nr  TreO\\'^ 


Göttingen, 

Druck  der  Univ.-Buchdruckerei  von  E.  A.  Huth. 
1891. 


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Die  vollständige  Arbeit  erscheint  gleichzeitig  im   Verlag  von 
Vandenhoeck  &  Euprecht  in  Göttingen. 


/^  B  R 


L  DEC    61955 

102783 


In  der  Vorrede  zum  ersten  Bande  seiner  Geschichte  der 
protestantischen  Dogmatik^)  hat  es  Gass  als  besonders  not- 
wendig bezeiclmet,  „die  enge  Verbindung  des  mit  ausgezeich- 
neter Stetigkeit  gebildeten  und  dennoch  den  allgemeinen 
Wendungen  der  Geschichte  nachgebenden  orthodoxen  Glaubens- 
systems mit  der  religiösen  und  wissenschaftlichen  Bildung  des 
Zeitalters  so  deutlich  als  möghch  zur  Anschauung  zu  bringen". 
„Die  alte  Theologie  war",  so  begründet  er  dieses  Urteil  speciell 
in  der  zweiten  Hinsicht,  „bei  aller  äusseren  Herrschaft  nicht 
so  unabhängig,  wie  sie  sein  wollte,  noch  wie  sie  erscheint, 
wenn  ihre  Gestalt  lediglich  aus  ihr  selbst  und  ihrer  kirchlichen 
Natur  und  Richtung  hergeleitet  wird.  Vielmehr  suchte  auch 
sie  ein  Gepräge  rationaler  Haltbarkeit,  welches  sie  . . .  dem  herr- 
schenden Gesetz  der  Wissenschaft  unterwarf."  Das  ist  jeden- 
falls sehr  viel  richtiger  als  die  Ansicht  Tholucks,  der  „bei  den 
äusserst  sporadischen  Beispielen  eines  Einflusses  der  Philosophie 
auf  die  Theologie"  von  der  ersteren  in  seiner  Darstellung  des 
akademischen  Lebens   fast    ganz   absehen  zur  dürfen  glaubt  2). 

Freilich  handelte  es  sich  für  die  orthodoxe  Theologie  nicht 
um  die  direkte  Verwendung  philosophischer  Konstruktionen, 
aber  eine  das  Ganze  stützende  und  zugleich  beherrschende 
Fixirung  des  Verhältnisses  der  allgemeinen  Bildung  und  ,der 
Offenbarungslehre  war  für  sie  nicht  weniger  als  für  jede  andere 
Dogmatik  der  eigentliche  Lebensnerv  und  die  Grundlage  ihres 
„wissenschaftlichen"  Charakters.  Sie  entsprang  nicht  dem 
reinen  Erkenntnistrieb  und  nicht  dem  Ideal  der  blossen  Fixirung 
des  Glaubensinhaltes  oder  des  kirchlichen  Bewusstseins  - —  das 
sind  moderne  Auffassungen  vom  Wesen  der  Dogmatik,  auf 
welche  man  sich  erst  wegen  der  unüberwindlichen  Schwierig- 
keiten der  eigentlichen  Aufgabe  zurückgezogen  hat  — ,  sondern 
sie  entsprang,  wie  alle  Dogmatik  und  das  Dogma  selbst,  dem 
apologetischen    Bedürfnis    einer  Auseinandersetzung    zwischen 

1)  Berlin  1854  I,  p.  VI  ff. 

^)  A.  Tholuck,  Das  akademische  Leben  des   XVII.   Jahrhunderts. 
Halle  1853  II  3. 


den  positiven  Religionsvorstellungen  und  dem  übrigen  Wissen 
eines  Culturvolkes  ^).  Sie  folgt  damit  nur  der  ganz  natürlichen 
und  selbstverständlichen  Problemstellung,  wie  dies  beim  Beginn 
der  Entwickelung  einer  neuen  Eehgionsgemeinschaft  ja  auch 
am  nächsten  liegt.  Denn  die  Bedeutung  der  Dogmatik  liegt 
nicht  in  der  Förderung  der  allgemeinen  Erkenntnis  und  der 
Wissenschaft,  sie  pflegt  sich  vielmehr  an  eine  bereits  fertige 
Bildung  und  an  bereits  möglichst  anerkannte  Philosopheme 
anzuschliessen  und  will  nur  ihrem,  niemals  von  aller  Sprödig- 
keit  zu  befreienden,  Eigengut  eine  gesicherte  Stellung  in  oder 
neben  ihnen  sichern,  wobei  sie  dieselben  durch  Adaptirung 
für  ihre  Zwecke  noch  obendrein  meist  ihrem  ursprünglichen 
Sinn  entfremdet.  Ihre  Bedeutung  liegt  auch  nicht  in  der 
Belebung  und  Vertiefung  der  Religion  selbst,  in  der  Erfassung  des 
eigentlichsten  Inhaltes  derselben ;  dazu  sind  nur  hervorragende 
religiöse  Ingenien  im  Stande,  während  die  Dogmatik  die 
lebendige  Phantasie  der  religiösen  Vorstellung  unvermeidlich 
mit  allerlei  fremden  Stoffen  belastet  und  deren  Energie  durch 
künstliche  Auseinandersetzungen  mit  den  konkurrirenden  Grenz- 
gebieten lähmt.  Daher  hat  der  Historiker,  der  die  Entwicke- 
lung der  christlichen  Dogmatik  in  ihrer  wesentlichsten  Eigen- 
tümlichkeit verstehen  will,  nicht  sowohl  auf  die  philosophischen 
Elemente  und  die  tradirten  Vorstellungsstoffe  als  solche  zu 
achten,  sondern  auf  die  Fugen  und  Nähte  zwischen  beiden, 
auf  die  komplizirten  Versuche  beide  zu  vereinigen  oder  gegen 
einander  sicher  zu  stellen,  auf  die  gequälten  Bemühungen  um 
„Glauben  und  Wissen'',  eine  Forschung,  die  freilich  nicht  den 
Genuss  erhabener  Grossthaten,  aber  den  Einblick  in  eine  der 
mühevollsten  Arbeiten  des  menschlichen  Geistes  gewährt.  In 
dieser  Arbeit  liegt  die  wahre  Bedeutung  der  Dogmatik,   eine 


*)  Dies  ist  auch  der  Grundgedanke,  von  dem  Ad.  Harnacks 
grosses  Werk  über  das  Dogma  ausgeht,  den  er  aber  selbst  nicht  zu 
billigen  scheint.  Vgl.  bes.  Band  II  48  ff.  —  Die  erwähnten  modernen 
Auffassungen  können  übrigens  doch  auch  ihren  Zusammenhang  mit 
der  apologetischen  Wurzel  aller  Dogmatik  nicht  verleugnen,  die  erste, 
indem  sie  bei  ihrer  Sublimirung  des  Christentums  zum  religiösen 
Geiste  und  bei  der  Einordnung  desselben  in  die  allgemeine  religiös- 
metaphysische Spekulation  doch  in  erster  Linie  nur  die  Conservirung 
des  Christentums  in  der  Not  der  Zeit  l)eabsichtigt,  die  andere,  indem 
sie  durch  dieselbe  Not  gedrängt  den  Beweis  zu  führen  sucht,  dass 
eine  Apologetik  weder  nötig  noch  in  der  Natur  der  Sache  begründet 
sei;  das  ist  aber  bereits  eine  —  wenn  auch  sehr  missliche  —  apolo- 
getische Operation.  —  Wie  sich  der  durch  keine  theologischen  Schul- 
erfahrungen niedergedrückte  moderne  Laienverstand  die  dogmatische 
Aufgabe  vorstellt,  kann  man  in  der  interessantesten  Weise  studiren 
an  Henry  Drummond,  Das  Naturgesetz  in  der  Geisteswelt,  Leipzig  1886. 


Bedeutung,  die  so  ausserordentlich  ist  für  das  Leben  der  Re- 
ligion, dass  sie  trotz  aller  Misserfolge  immer  wieder  aufge- 
nommen werden  muss.  In  diesem  Sinne  ist  die  Dogmatik 
jeder  Religion,  die  bis  zum  Weltende  sich  in  der  AVeit  be- 
haupten will,  schlechthin  unentbehrhch  als  Grundlage  ihrer 
Rehgionspädagogik,  als  der  stille  Koeffizient  aller  Predigt  und 
alles  Unterrichts,  der  das  Zusammenbestehen  einer  weltlichen 
Bildung  mit  der  religiösen  Wahrheit  ermöglicht  und  die  aus 
jeder  solchen  für  die  Religion  erwachsenden  Schwierigkeiten 
von  vorne  herein  zu  beseitigen  sucht,  damit  diese  ihr  eigent- 
Hclies  Werk  thun  kann  ^).  So  notdürftig  jene  Regulirung  auch 
immer  gelingen  mag,  die  Frage,  ob  und  wie  beides  zusammen 
bestehen  kann,  ist  die  eigentliche  Cardinalfrage  der  Dogmatik, 
soweit  sie  Dogmatik  und  nicht  etwa  Bekenntnis  ist,  und  die 
jeweihge  Beantwortung  dieser  Frage  ist  der  Schlüssel  zum 
Verständnis  ihrer  einzelnen  grossen  Ausgestaltungen. 

Ist  daher  der  von  Gass  hervorgehobene  Gesichtspunkt 
durchaus  zu  bilhgen,  so  bedarf  doch  seine  Durchführung  des- 
selben nach  den  verschiedenen  Anregungen  neuerer  Forscher 
einer  mehrfachen  Berichtigung  und  Ergänzung.  Vor  allem 
müssen  zwei  Dinge  mehr  auseinander  gehalten  werden,  als 
es  bei  Gass  geschieht,  der  aus  allen  noch  so  äusserlichen 
Sätzen  irgendwie  den  Kern  einer  inneren  Wechselbeziehung 
von  Rationalität  und  Offenbarung  herauszuschälen  sucht  2), 
nämlich  das  offizielle,  rein  äusserliche  Verhältnis  der 
Theologie   zu   den   übrigen   akademischen  Disziplinen,   wie  es 


^)  Die  Dogmatik  erscheint  so  als  eine  Art  notwendiges  Übel. 
Wenn  man  aber  daran  nur  das  „Übel"  hervorhebt  und  diesem  Übel 
dadurch  zu  entgehen  sucht,  dass  man  die  Komplikation  von  lebendiger 
Religion  und  reflektirender  Theologie  völlig'  zu  lösen  sucht,  wie  .dies 
besonders  Bernh.  Duhm  in  seinem  hochinteressanten  Vortrag  „Über 
Ziel  und  Methode  der  theologischen  Wissenschaft"  Basel  18S9  thut, 
so  unterschätzt  man  dabei  das  „notwendig".  Denn  die  Religion  ist  doch 
nicht  blos  eine  Art  mystischer  Suggestion  des  göttlichen  Lebens  an  die 
Menschen  durch  Gott,  sondern  gerade  die  „lebendige  Religion"  ist  niemals 
ohne  fides  quae  creditur,  und  jede  solche  fides  führt  unvermeidlich  zu 
einer  Auseinandersetzung  mit  den  übrigen  Vorstellungen  d.  h.  zu  einer 
Dogmatik.  Hierin  sind  die  Theologen  nicht  schlimmer  daran  als  über- 
haupt jeder  nachdenkende  Fromme.  Wenn  Duhm  bei  seinen  eigen- 
tümlichen Voraussetzungen  sich  dieser  Notwendigkeit  entziehen  kann, 
so  gilt  dies  doch  nicht  von  den  meisten  Übrigen,  welche  von  der 
Macht  der  Vorstellung  in  der  ReHgion  einen  tieferen  Eindruck  haben 
und  die  Selbsttätigkeit  der  Menschen  an  diesem  Punkte  für  unum- 
gänglicher halten. 

2)  Am  bedenklichsten  I  210,  wo  der  ganz  mechanische  Satz  von 
der  ^näßaaig  dg  cdlo  yevog  auf  das  Verhältnis  von  Wirkendem  und 
Gewirktem  hinausgeführt  wird. 


4 

von  den  Gelehrten  der  Zeit  selbst  behauptet  und  allein  an- 
erkannt worden  ist,  und  zweitens  das  neben  dem  oder  trotz- 
dem stattfindende  innere  Verhältnis  beider,  wie  es  als  un- 
gefährlich oder  nebensächhch  von  ihnen  geduldet  worden  ist 
oder  unbewusst  und  rein  tatsächlich  ihre  Gedankenwelt  be- 
einflusst  hat.  In  ersterer  Beziehung  sind  alle  Aussagen  genau 
so  äusserhch  zu  nehmen,  als  sie  sich  geben.  Denn  in  der 
blossen  Äusserlichkeit  der  Beziehungen  unter  den  verschiedenen 
Disziplinen  besteht  der  entscheidende  Charakter  des  Zeitalters, 
und  auf  sie  vor  allem  ist  die  Abgrenzung  derselben  unter 
einander,  die  Lehre  von  den  Prinzipien  der  Wissenschaften, 
begründet;  mit  ihr  hängen  ferner  aufs  engste  die  Stabilität  und 
die  Gleichförmigkeit  des  Bildungswesens  zusammen,  die  noch 
dadm'ch  befördert  werden,  dass  die  ganze  gelehrte  Bildung, 
auf  festen  Institutionen  beruhend  und  durch  staatliche  Aufsicht 
stets  im  alten  Geleise  erhalten,  sich  auf  eine  bestimmte  Anzahl 
approbirter  Disziplinen  beschränkt  und  in  dieser  festen  Form 
den  beiden  Hauptaufgaben  des  Fürstentums,  der  poHtischen 
und  kirchlichen  Regierung,  zu  dienen  hat^).  Es  handelt  sich 
also  in  diesem  Zusammenhang  ledigHch  um  das  Nebeneinander 
der  privilegirten  DiszipHnen  und  deren  Verhältnis  zu  der 
obersten  unter  ihnen,  der  Theologie,  d.  h.  um  die  Prinzipien- 
lehre, um  die  Lehre  von  der  Autorität.  In  der  zweiten 
Hinsicht  kommt  dagegen  die  theologische  Doktrin  nach  ihrer 
eigenen,  inneren  Ausgestaltung  in  Betracht,  insoweit  sie 
ihrerseits  einen  Anknüpfungspunkt  im  natürlichen  Bewusstsein 
anerkennt  und  bedarf.  Denn  wie  jede  Lehre,  auch  bei  der 
schroffsten  Betonung  ihres  supranaturalen  Wesens,  dennoch 
stets   einen  solchen  haben   muss  und  auch  stets  bei  einer  der 


')  Vgl.  Mor.  Ritter,  Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der  Gegen- 
reformation, Stuttgart  1889,  p.  73  ff.  und  114  ff.,  sowie  das  wichtige 
Werk  von  F.  Paulsen,  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts,  Leipzig 
1885.  Auch  Ranke,  Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der  Reformation, 
6.  Aufl.  Leipzig  1881,  II  63  V  337  macht  auf  die  innere  Selbständig- 
keit der  beiden  zusammenwirkenden  Faktoren,  der  grossen  Bildungs- 
reform und  der  religiösen  Reform,  aufmerksam.  Dazu  kommt  aber 
als  dritter  Faktor  noch  die  politische  Umwälzung,  in  der  das  deutsche 
Fürstentum  zum  absoluten  Staat  wird.  Erst  durch  diesen  dritten 
haben  die  beiden  ersten  feste  Form  und  die  charakteristische  Stabilität 
erhalten.  Vgl.  F.  v.  Bezold,  Geschichte  der  deutschen  Reformation, 
Berlin  1890,  p.  30  ff.  Wie  die  Reformation  selbst  nur  eine  Teil- 
erscheinung der  ungeheuren  allgemeinen  Umwälzung  ist,  so  ist  auch 
ihr  Ertrag,  die  lutherischen  Kirchen,  an  allen  treibenden  Kräften  der 
Epoche  wesentlich  beteihgt.  Das  zeigen  die  erwähnten  Werke  von 
Ritter  und  Bezold  schlagend,  in  seiner  Weise  auch  Janssen,  Geschichte 
des  deutschen  Volkes. 


verschiedenen  Seiten  des  menschlichen  Geisteslebens  gefunden 
hat,  so  hat  nicht  minder  die  orthodoxe  Lehre  eine  gewisse 
Fühlung  mit  dem  allgemeinen  AVesen  des  Menschen,  auf  den 
sie  wirken  will.  Dieselbe  findet  sie  natürlich  in  dem  auch 
von  ihr  schon  vorausgesetzten  religiösen  Zustand  des  Menschen 
oder,  wie  sie  es  nennt,  in  der  natürlichen  Gotteserkenntnis; 
diese  letztere  ist  ebenso  selbstverständlich  zugleich  die  Spitze 
und  die  Einheit,  in  welche  das  Nebeneinander  der  philo- 
sophischen Disziplinen  ausläuft.  Die  theologia  naturalis,  von 
der  auch  die  Dogmatiker  selbst  an  einem  anderen  Ort  handeln 
als  vom  allgemeinen  usus  rationis  i),  ist  daher  die  Stelle,  an 
welcher  gemäss  üirer  eigenen  Behauptung  und  noch  weit  über 
diese  hinaus  die  innere  Berührung  von  Vernunft  und  Offen- 
barung allein  wirklich  ernsthaft  stattfindet,  während  alle  übrigen 
Berührungen  nur  geringfügig  und  zufällig  sind.  Die  Bedeutung 
derselben  wird  um  so  einschneidender  sein,  als  sie  ihrer  ganzen 
Natur  nach  den  Gottesbegriff  stark  beeinflussen  muss. 

AVenn  daher  im  Folgenden  versucht  wird,  die  Darstellung 
von  Gass  zu  ergänzen,  so  wird  in  einem  ersten  Abschnitt  von 
der  auf  dieses  offizielle  Nebeneinander  der  Disziplinen  ge- 
gründeten Prinzipienlehre  und  in  einem  zweiten  von  der  in 
der  theologia  naturalis  gegebenen  inneren  Wechselbeziehung 
von  Vernunft  und  Offenbarung  die  Bede  sein. 

Für  die  Behandlung  der  einzelnen  Abschnitte  selbst  zeigt 
ein  weiterer  Mangel  der  Gass'schen  Darstellung  den  Weg. 
Dieselbe  verfährt  nämlich  etwas  willkürlich  und  unsicher, 
indem  sie  nur  einige  Beispiele  aus  der  philosophischen  und 
theologischen  Litteratur  aufgreift,  ohne  eine  Anschauung  von  der 
Stellung  und  dem  Wirkungsbereich  der  betreffenden  Disziphnen 
im  akademischen  Organismus  zu  gewähren  und  ohne  die  Con- 
tinuität  der  ganzen  Entwickelung  seit  dem  Beginn  des  prote- 
stantischen Gelehrtenwesens  ins  Auge  zu  fassen.  Und  doch 
konzentrirt  sich  in  diesem  Zeitalter,  wo  es  fast  gar  keine 
schärfer  bestimmte  wissenschafthche  Individualität  gab  und  der 
ganze  Betrieb  auf  Vorschriften  oder  doch  mindestens  auf  all- 
gemeiner Sitte  beruhte,  fast  alles  Interesse  auf  die  Grund- 
legung und  Weiterentwickelung  des  gelehrten  Unterrichts,  in 
dessen  von  Anfang  an  festgelegtem  Bahmen  sich  die  Wissen- 
schaften der  „oberen  Fakultäten''  langsam  und  gleichmässig 
fortbewegten.  Entsprechend  den  zwei  Epochen,  welche  die 
Geschichte  der  orthodoxen  Kirche  darbietet,  der  des  unbe- 
stimmteren und  der  des  streng  ubiquistisch  bestimmten  Luther- 


^)    H.   Schmid,     Die    Dogmatik    der    ev.-luth.    Kirche,     6.    Aufl. 
Frankfurt  1876,  p.   13. 


tums,  lässt  sich  daher  die  Untersuchung  der  vorHegenden 
Frage  an  zwei  Namen  heften,  an  den  Melanchthons,  der  dieses 
ganze  Bildungswesen  teils  direkt  teils  indirekt  begründet  und 
im  Zusammenhang  damit  die  Grundlage  der  protestantischen 
Dogmatik  geschaffen  hat  i),  und  an  den  Johann  Gerhards,  der 
mit  der  ganzen  Gelehrsamkeit  seiner  Zeit  ausgerüstet  zugleich 
die  Weiterbildung  des  A^ristotelismus  aufnahm  und  so  neben 
dem  Hutter'schen  Compendium,  dem  neuen  Lehr-  und  Text- 
buch der  Gymnasien  und  der  akademischen  Lektüren,  sein 
dogmatisches  Riesenwerk  als  eine  zeitgemässe  Umformung  der 
wissenschaftlichen  melanchthonischen  und  als  Basis  und  Fund- 
grube aller  späteren  Dogmatik  aufrichtete.  In  diesem  Sinn 
hat  schon  der  katholische  Theologe  Ellis  du  Pin  mit  dem 
Scharfblick  des  räumlich  und  konfessionell  Fernstehenden  die 
beiden  Männer  neben  einander  gestellt  ^).  Es  scheint  aber 
zweckmässig,  hiebei  die  geschichtliche  Reihenfolge  umzukehren. 
Macht  man  nämlich  den  Anfang  mit  Melanchthon,  so  gewinnt 
man  bei  dem  ungeheuren  Umfang  seiner  Arbeiten,  bei  der 
schwankenden  Entwickelung  seiner  Auffassung  und  bei  dem 
stets  vorwiegenden  Interesse  für  die  sogenannten  ursprünglichen 
Ideen  der  Reformation  keinen  sicheren  Ausgangspunkt  und 
namentlich  keine  Einsicht  in  die  Continuität  der  geschicht- 
lichen Entwickelung  der  lutherischen  Kirche  und  Doktrin, 
vielmehr  erlahmt  die  Aufmerksamkeit  gerade  da,  wo  seine 
Auffassung  für  das  geschichtliche  Verständnis  der  Folgezeit 
entscheidend  zu  werden  beginnt,  und  man  endet  nur  zu  leicht 
mit  dem  an  den  Bedürfnissen  moderner  Theologie  orientirten 
Ergebnis,  entweder  dass  er  das  Missverständnis  der  reforma- 
torischen Ideen  selbst  eingeleitet  und  ein  noch  grösseres  vor- 
bereitet, oder  dass  er  mit  seinem  bald  getadelten  bald  gelobten 


*)  Das  ist  schon  hervorgehoben  von  Ranke  a.  a.  0.  I  287,  be- 
sonders aber  ausgeführt  von  Ritschi,  der  den  Zusammenhang  der 
melanchthonischen  Theologie  oder  besser  Formulirungsarbeit  mit  der 
orthodoxen  Dogmatik  an  die  erste  Stelle,  den  mit  dem  sog.  Philip- 
pismus an  die  zweite  gerückt  hat.  Wie  daher  das  über  Gerhard  zu 
Sagende  eine  Ergänzung  zu  Gass  ist,  so  bietet  das  über  Melanchthon 
zu  Sagende  eine  solche  zu  Ritschi,  doch  so,  dass  auch  hier  das  von 
Gass  bezeichnete  Ziel  eines  Verständnisses  der  orthodoxen  Wissen- 
schaft der  massgebende  Gesichtspunkt  bleibt. 

^)  Vgl.  Cotta  in  seiner  Ausgabe  von  Gerhards  Loci  (Tübingen  1762)1, 
Vorrede  XXXIV  und  die  Elogien  bei  R.  E.  Fischer,  Vita  Gerhardi, 
Leipzig  1723,  p.  370  ff.  Vgl.  auch  J.  A.  Dorner,  Geschichte  der  pro- 
testantischen Theologie.  München  1867,  p.  530  über  die  massgebende 
Stellung  J.  Gerhards.  Sam.  Ben.  Carpzov  nennt  ihn  communis  theolo- 
gorum  hoc  saeculo  praeceptor  Fischer  863,  F.  U.  Calixt  communis 
Saxonicorum  theologorum  magister  ibid.  362. 


Freisinn  in  den  Gang  der  Dinge  nicht  recht  hineingepasst 
habei).  Dem  gegenüber  ist  es  wohl  am  Platze,  zuerst  den 
Tatbestand  bei  dem  grossen  orthodoxen  Theologen  zu  erheben 
und  dann  zu  untersuchen,  welche  Anknüpfungspunkte  sich 
hiefür  bei  dem  Schöpfer  der  protestantischen  Dogmatik  und 
des  protestantischen  Unterrichtswesens  darbieten.  Dabei  wird 
sich  die  Untersuchung,  was  den  letzteren  anbetrifft,  auf  dessen 
eigene,  im  Corpus  Reformatorum  gesammelte,  Schriften  be- 
schränken dürfen ;  für  Gerhard,  der  die  philosophische  Bildung 
seiner  Zeit  voraussetzt,  nicht  selbst  entwickelt,  wird  auf  die 
philosophische  Litteratur  der  Zeitgenossen  Bezug  genommen 
werden  müssen. 


I. 

Gerhard  gibt  seine  Anschauung  über  den  Vernunft- 
gebrauch in  der  bekannten  Formel  vom  triplex  usus  philo- 
sophiae  Loci  I  76  ff.,  II  373,  Conf.  Cath.  I  283,  am  ausführ- 
lichsten Meth.  93  ff.  2).  Diese  Formel  verhüllt  aber  durch  ihre 
scheinbare  Gleichstellung  der  drei  Arten  die  Sachlage  mehr, 
als  sie  dieselbe  erklärt.  Sie  ist  auch  wohl  aus  diesem  Grunde 
von  den  Späteren,  die  sachlich  ganz  mit  Gerhard  überein- 
stimmen, nicht  wiederholt  worden  3).  Unter  den  dreien  ist 
nämlich  der  usus  organicus  derjenige,  welcher  allein  das  Ver- 
hältnis von  Vernunft  und  Offenbanmg  adäquat  und  im  vollen 
Umfang  bestimmt;  er  ist  die  Art  des  Gebrauchs,  der  zufolge 
die  philosophischen  Disziplinen  lediglich  zur  näheren  Erklärung 


^)  Derselbe  Untersebied  der  Betrachtungsweisen  ist  von  Ad.  Har- 
nack  angedeutet,  wenn  er  Luthers  doktrinäre  Aussagen  über  die 
8chrift  ,, historisch  höchst  wichtig,  sachlich  aber  gleichgiltig''  nennt. 
Lehrbuch  der  Dogmengeschichte  III,  Freiburg  1890,  p.  582.  Mir 
kommt  es  hier  nur  auf  das  historisch  Wichtige  an.  Die  Frage  nach 
dem  tiefsten  und  allgemeinsten  religionsgeschichtlichen  Gehalt  der 
Refoimation  ist  eine  andere  als  die  nach  dem  geschichtlichen  Zu- 
sammenhang derselben  mit  ihrem  nächsten  Ertrag,  jedenfalls  darf 
dieser,  wie  immer  bestimmte,  Gehalt  nicht  ohne  Weiteres  als  ursprüng- 
liche Idee  der  Reformation  angesetzt  und  dann  die  weitere  Ent- 
wickeluug  als  Abfall  oder  Verschiebung  geschildert  werden, 

'•^)  Confessio  catholica  1633.  Methodus  studii  theologici,  Jena  1620. 
Die  Darstellung  in  der  Confessio  ist  aus  letzterer  entnommen. 

3)  H.  Schmid  a.  a.  0.  p.  16  ff'. 


8 

bei  der  Schriftauslegungj  also  zur  Wort-  und  Sachexegese, 
herangezogen  werden.  In  diesem  Sinne  stellt  er  die  eigentlich 
offizielle  Fixirung  des  in  Frage  stehenden  Verhältnisses  dar^). 
Gerhard  unterlässt  es  daher  auch  nicht,  bei  der  näheren  Be- 
handlung diesen  Umstand  klar  zu  stellen.  Usus  organicus 
latissime  patet  Meth.  93.  Von  ihm  allein  heisst  es  I  76:  usum 
hunc  commendamus  quam  maxime,  immo  vero  necessarium 
esse  dicimus.  Atque  huc  referenda  sunt  encomia  illa,  quae 
philosophiae  (praesertim  vero  logicae)  tribuuntur  a  veteiibus 
satis  honorifica ;  im  Vergleich  mit  ihm  sind  die  beiden  anderen 
Arten,  der  usus  catasceuasticus  und  anasceuasticus,  nur 
nebenbei  „8k  TtegLovalag",  und  „um  der  Gegner  willen",  sei 
es  in  nachträglicher  Bestätigung  der  eigenen  Position,  sei  es 
in  sekundärer  Bekämpfung  der  gegnerischen,  geduldet  und 
auch  so  nur  mit  der  äussersten  Vorsicht  zu  handhaben,  Meth. 
103.  Soweit  sie  es  nicht  mit  mehr  oder  minder  zufälligen 
Kleinigkeiten  zu  thun  haben,  beschäftigen  sie  sich  mit  der 
natürlichen  Theologie,  von  der  es  sich  ganz  von  selbst  versteht, 
dass  sie  vor  allem  sich  zur  philosophischen  Apologetik  den 
Heiden  und  Ungläubigen  gegenüber  eignet.  Die  Frage  nach 
dem  Verhältnis  von  Philosophie  und  Theologie  hat  sich  also 
in  erster  Linie  an  diesen  usus  organicus  zu  halten  d.  h.  an 
die  Verwendung  des  gesammten  philosophischen  Stoffes  im 
Dienst  der  obersten  Fakultät,  während  die  beiden  andern  usus 
mit  der  natürlichen  Theologie  zusammen  erst  im  zweiten 
Abschnitt  zur  Sprache  kommen  sollen.  Aber  auch  der  usus 
organicus  kann  nicht  ohne  weiteres  als  Ganzes  aufgefasst 
werden,  sondern  derselbe  zerfällt  in  zwei  sehr  verschiedene 
Teile,  die  den  zwei  Gruppen  entsprechen,  in  welche  der  phi- 
losophische Betrieb  selbst  sich  spaltet,  der  Instrumental-  und 
der  Bealphilosophie,  Meth.  93.  Erstere  umfasst  Grammatik, 
Rhetorik  und  vor  allem  die  höchst  wichtige  Schullogik,  letztere 
beschäftigt  sich  mit  der  inhaltlichen  Erkenntnis  der  Dinge. 
Daher  sagt  auch  Gerhard :  de  philosophiae  partibus  instrumen- 
talibus  distincte  agendum,  Meth.  99;  denn  sie  stehen  zur 
Theologie  in  genau  demselben  Verhältnis  wie  zu  allen  übrigen 
Wissenschaften  als  die  den  wissenschaftlichen  Charakter  aller 
erst  konstituirende,  rein  formale  Denk-  und  Darstellungskunst 
und  sind  in  dieser  Eigenschaft  von  der  Theologie  bedingungslos 
approbirt,  während  die  Realdisziplinen,  an  sich  zunächst  Selbst- 
zweck, blos  zur  Theologie  eine  besondere  Stellung  einnehmen 
und  hier  nur  eine  sehr  bedingte,  durch  einen  grossen  Apparat 
künstlicher   Vorsichtsmassregeln    bestimmte,     Geltung    haben. 

^)  So  scheint  auch  Dorner  ^t.  534  die  Sache  aufzufassen. 


9 

Es  handelt  sich  also  an  erster  Stelle  um  das  Verhältnis  der  in 
den  Artistenfakultäten  gelehrten  RealdiszipHnen  zur  Wissenschaft 
der  obersten  Fakultät,  und  erst  nach  dessen  Klarstellung  wird 
der  übrigens  nicht  minder  wichtige  Gebrauch  der  formalen 
Vernunft  zu  erörtern  sein. 

Im  Piinzip  allerdings  ist  die  Theologie  völhg  unabhängig. 
Ihr  ganzer  Stoff  ist  ja  von  der  Offenbarung  gegeben,  und  an 
sich  bedürfte  es  nur  der  Anwendung  der  formalen  Vernunft 
auf  diesen  Stoff',  um  eine  „wissenschaftliche"  Glaubenslehre  zu 
geben.  Daneben  könnten  die  Realdisziphnen  in  allen  Ehren 
ihren  eigenen  Bestrebungen  obliegen  und  der  nützlichen  Ein- 
richtung des  menschhchen  Lebens  dienen.  Die  Frage,  ob 
nicht  eine  philosophische  Welt-  und  Lebensansicht  auf  ihrer 
Grundlage  sich  erheben  und  der  biblischen  gefährliche  Kon- 
kurrenz machen  könnte,  sowie  die  Überlegung,  ob  nicht  der 
an  einzelnen  Stellen  gegen  sie  hervortretende  Widerspruch 
Symptom  einer  allgemeineren  Differenz  sein  könnte,  bereitet 
dem  schriftgläubigen  Zeitalter  keine  Sorge.  Denn  eine  philo- 
sophische Gesammtansicht  gab  es  nicht,  und  im  Falle  eines 
solchen  Einzelkonffiktes  kam  es  nur  darauf  an,  die  Entstehung 
eines  solchen  Scheines  aus  Unkenntnis  der  wahren  Prinzipien- 
lehre oder  aus  atheistischem  Hochmut  nachzuweisen.  Gleich- 
wohl ergab  sich  die  Notwendigkeit,  auf  die  Philosophie  Rück- 
sicht zu  nehmen.  Insofern  nämlich  die  Offenbarung  eine 
Menge  von  Bestandteilen  enthält,  welche  auch  dem  natürlichen 
Erkennen  zugänglich  sind,  wie  physikalische,  psychologische, 
geographische  u.  a.  Ausdrücke,  war  es  \\ünschenswert  diese 
„termini"  näher  zu  erklären,  und  das  geschah  ganz  natur- 
gemäss  in  der  Weise,  dass  man  aus  dem  Kreis  der  literae, 
linguae  et  disciplinae,  quae  ad  encyclopaediam  pertinent  i),  die- 
jenige Disziplin  heranzog,  welcher  der  betreffende  terminus 
angehörte.  Daher  gibt  Gerhard  in  seiner  Methodus  p.  93  ff. 
folgende  Schilderung  vom  usus  organicus:  De  philosophiae 
partibus  realibus  in  specie  dicimus,  quod  earum  eruditio 
inserviat  theologiae  in  terminorum  quorundam  explicatione. 
Z.  B.  tempus,  locus,  coelum,  terra,  mare,  ignis,  nix,  grando, 
pluvia,  facultates  animae  etc.  sunt  physici  (sc.  termini);  ideo 
ex  physicis  illorum  explicationem  petit  theologus.  De  profec- 
tionibus  Patriarcharum,  Israelitarum  in  deserto,  Apostolorum  etc. 
sine  ahqua  geographiae  cognitione,  de  cursu  stellarum,  de 
Orione,  'de   Plejadibus   sine   astronomiae   cognitione   disserere 

*)  So  nennt  es  Calixt  im  Apparatus  theologicus,  Helmstedt  1661, 
p.  162.  Der  Apparatus  ist  überhaupt  sehr  lehrreich  für  die  Kenntnis 
der  üblichen  Disziplinen. 


10 

nequit  theologus.  De  virtutibus,  temperantia,  liberalitate,  forti- 
tudine  etc.,  de  rebus  politicis,  magistratu,  subditis,  legibus, 
suppliciis  etc.,  de  rebus  oeconomicis,  marito,  uxore,  liberis, 
servis  etc.  disserturo  practicae  philosophiae  cognitio  adjumentum 
aliquod  praestat.  Von  der  Metaphysik,  die  Grerhard  ebenfalls 
in  diesem  Zusammenhang  behandelt,  wird  später  die  Rede 
sein  1).  Der  usus  organicus  ist  demnach  einfach  zu  bezeichnen 
als  Eealerklärung  biblischer  Stoffe  mit  Hilfe  der  philosophischen 
Disziplinen.  Diese  Realerklärung  bildet  den  eigentlichen  Kern, 
die  einzige  offizielle  Art  des  Verhältnisses  von  Philosophie  und 
Theologie ;  dies  ist  auch  der  sehr  einfache  Sinn,  welchen  die 
Formel  von  der  Herrschaft  der  Theologie  oder  dem  Magddienst 
der  Philosophie  in  sich  schliesst^).  Calixt  erklärt  den  Satz 
ancillari  philosophiam  theologiae  geradezu  mit  den  Worten: 
recte  dixero,  philologiam  proxime  et  proprio  voces,  philosophiam 
vero  adminiculo  vocum  res  explicare  (Appar.  45),  und  Gerhard 
versichert  demgemäss  kurzweg:  theologia  nostra  in  hac  vita 
fere  tota  est  grammatica  (III  14).  So  mechanisch  und  äusser- 
Hch  dieser  usus  organicus  aufgefasst  ist,  so  stellt  er  doch  nicht 
etwa  blos  ein  notdürftiges  Kompromiss  zwischen  den  beiden 
Wissenschaften  dar,  neben  dem  die  Philosophie  ihre  eigent- 
liche Aufgabe  erst  noch  zu  erfüllen  hätte,  sondern  diese  Auf- 
fassung enthält  den  Gesichtspunkt,  der  wesentlich  und  ent- 
scheidend für  die  ganze  Artistenfakultät  überhaupt  in  Betracht 
kommt,  bezeichnet  die  Richtung,  in  welcher  die  Hauptmasse 
der  philosophischen  Produktion  sich  bewegt.  Auch  nicht  blos 
von  der  Theologie  aus  angesehen  erscheint  die  Philosophie  in 
dieser  Stellung.  Sie  und  ihre  Disziplinen  wurden  von  Haus 
aus  immer  nur  als  die  unentbehrliche  Vorschule  zu  den  oberen 
Fakultäten  angesehen  und  nur  nach  dem  Nutzen  beurteilt, 
den  sie  für  diese  abwarfen  3).  Ganz  in  diesem  Geiste  sind 
bereits   die    Statuten   der   Wittenberger    Artistenfakultät,   das 


*)  Fast  wörtlich  hiemit  übereinstimmend  ist  die  Darstellung  des 
Verhältnisses  von  Philosophie  und  Theologie  bei  Balth.  Meisner, 
Philosophia  sobria,  Giessen  1613  ff.,  I  p.  21  ff.,  nur  dass  die  Bezeich- 
nung als  usus  organicus  nicht  angewendet  wird.  Ebenso  Calixt,  Appa- 
ratus  13  ff. 

2)  Dieser  Sinn  ist  nicht  einfach  genug  gefasst  von  Gass  I  209  ff. 
Die  Sache  ist  genau  so  äusserlich  gemeint,  w^ie  sie  ausgesprochen  ist. 
Auch  Baur,  Vorlesungen  über  Dogmengeschichte,  Leipzig  1865  —  67, 
III  35  ff.  und  Kahnis,  Lutherische  Dogmatik,  Leipzig  1861,  I  80  ff. 
sind  nicht  viel  deutlicher. 

^)  Vgl.  die  Beurteilung  der  humaniora  in  der  Leichenrede  Calixts 
auf  Cornelius  Martini  bei  E.  Henke,  Georg  Calixtus  und  seine  Zeit, 
Halle  1853  ff.,  I  108  und  das  Urteil  Henkes  über  diese  Nützlichkeits- 
theorie, I  30. 


11 

Vorbild  aller  übrigen  Organisationen,  von  Melanchthon  im 
Jahre  1545  abgefasst^).  JDort  werden  die  zehn  Lektoren  der 
Artistenfakultät  festgestellt,  drei  Aristoteliker,  einer  für  Dialektik 
und  Ehetorik,  zwei  für  Physik,  zwei  Mathematiker,  drei  Lati- 
nisten,  ein  Hebraist  und  ein  Gräcist,  deren  Arbeitsteilung  in 
der  Folge  nur  unwesentlich  verändert  worden  ist.  Eröffnet 
werden  die  Statuten  mit  folgender  charakteristischen  Anpreisung 
ihres  Nutzens:  Dens  aeternus,  pater  domini  nostri  Jesu  Christi 
ostendit  generi  humano  literas  et  numerorum,  figurarum  anni, 
remediorum,  legum  de  regendis  civilibus  moribus  doctrinam  et 
historias  et  servat  haec  dona  nobis  non  soluni,  ut  sint  praesidia 
hujus  vitae  communia  omnibus  gentibus,  sed  multo  magis  eo, 
qiüa,  cum  Dens  immensa  bonitate  se  patefecerit,  ....  voluit 
hanc  suam  patefactionem,  dicta  et  testimonia  mandari  literis 
per  Patres,  Prophetas  et  Apostolos  et  hac  doctrina  sibi  eccle- 
siam  colhgi.  . .  Cum  igitur  necesse  sit  hunc  librum  a  Deo  nobis 
commendatum  cognoscere  neque  id  sine  cognitione  literarum, 
Hnguarum  et  multarum  artium  fieri  possit,  manifestum  est  in 
primis  ecclesiae  Dei  literarum  studia  necessaria  esse.  Der 
zweite  daneben  zur  Geltung  kommende  Gesichtspunkt  ist  dann: 
has  ipsas  literas  atque  artes  . .  .  etiam  nervös  esse  salutaris 
gubernationis  X  1008  ff.  Ebenso  lehrreich  sind  die  Statuten 
von  Helmstedt,  welche  von  den  Konkordisten  Chemnitz  und 
Chyträus  nach  dem  Vorbild  der  Wittenberger  und  Jenenser 
1576  ausgearbeitet  wurden  ^).  Auch  in  ihnen  werden  die  radii 
lucis,  literae,  linguae  et  artes,  quas  uno  philosophiae  ymI  ey- 
y.vy.lo7z<xLdeiag  nomine  usitate  complectimur  ^)  auf  die  erwähnten 
zehn  Lektüren  verteilt,  und  die  Bewahrung  dieses  auf  den 
götthch  inspirirten^)  Autoritäten  des  Altertums  begründeten 
Schatzes  den  Dozenten  derselben  anvertraut  zum  Nutzen  des 
Reiches  Gottes.  Doch  ist  dies  nur  der  Vorkursus  für  die 
oberste  Stufe,  welche  artes  complectitur,  quae  ecclesiam  et  rem 
publicam  et  totam  hominum  vitam  gubernant  et  tuentur  d.  h. 
Theologie,  Jurisprudenz  und  Medizin  s).  So  ist  der  usus  or- 
ganicus  die  Idee,  welche  von  Anfang  an  durch  ein  Jahr- 
hundert dem  wissenschaftlichen  Betrieb  offiziell  zu  Grunde  ge- 
legen hat.     In  diesem  Sinn  hat  er  auch  eine  grosse  Litteratur 

1)  C.  R.  X  1008-1024.     Vgl.  dazu  Paulsen  155  ff.  150  ff. 

2)  Ausführliche  Mitteilungen  darüber  bei  Henke  I  22  fi. 

3)  A.  a.  0.  29. 
■')  A.  a.  0.  29. 

^)  A.  a.  0.  30.  Die  Medizin  tritt  übrigens  überall  sehr  zurück. 
Tatsächlich  stehen  Theologie  und  Jurisprudenz  als  die  Vorschulen 
für  die  kirchlichen  und  politischen  Beamten  des  Fürstentums  allein 
im  Vordergrund. 


12 

hervorgebracht,  aus  der  Buddeus  ^)  eine  stattliche  Zahl  von  Bei- 
spielen angegelDen  hat,  so  (nach  dem  Vorbild  des  Hierozoicon 
von  dem  Beformirten  Bochart)  eine  brevis  et  accurata  animalimn 
in  sacro  cumprimis  codice  commemoratormn  historia  und  eine 
physiologia  sacra  von  Mey,  eine  historia  animalium  sacra  von 
Franz,  eine  physica  lobi  von  Scheuchzer,  sodann  Vogler  de 
rebus  naturalibus  ac  medicis  quarum  in  scriptura  fit  mentio, 
Ursinus  arboretus  biblicus,  phytologia  sacra,  herbarius  sacer  et 
hortus  aromaticus,  Schriften  de  gemmis  sacris  u.  s.  w.  Dem- 
selben Zweck  einer  bequemen  Darbietung  des  Stoffes  sämmt- 
licher  Disziplinen  dienen  die  grossen  encyklopädischen  Werke 
vor  allem  das  in  dieser  Beziehung  bahnbrechende  Werk  des 
H.  Alstedt,  das  dann  lutherisch ereeits  von  Calov,  Bingelberg 
und  andern  nachgeahmt  wurde  2),  desgleichen  die  „vielfältigen 
logicae,  ethicae,  politicae  etc.  Christianae",  welche  Beimmann 
erwähnt,  und  die  ihre  Barallele  an  ähnlichen  juristischen  Lo- 
giken haben  3).  Man  sieht,  bei  aller  Vorsicht  steht  doch  die 
Bhilosophie  in  den  höchsten  Ehren,  und  das  Verhältnis  zu  ihr 
ist  in  erster  Linie  ein  freundliches.  Sie  wird  mit  Lobsprüchen 
aller  Art  überhäuft  und  bildet  eine  Grundsäule  des  ganzen 
bürgerlichen  Lebens  mit  seinen  Ordnungen  und  Literessen 
(Meth.  5  ff.);  wer  sie  in  ihrem  geordneten  Bestand  durch 
Geringschätzung  verletzt  oder  durch  fremde  und  neue  An- 
sichten gefährdet,  ist  als  staatsgefährlicher  Neuerer  und  Be- 
volutionär  unschädlich  zu  machen  ^).  Kein  Theologe  darf  in 
das  Heiligtum  der  Theologie  eintreten,  ohne  in  dieser  heli- 
konischen Quelle  seine  Hände  gewaschen  zu  haben  ^),  und  die 
Heroen  der  theologischen  Gelehrsamkeit  selbst  steigen  lernend 


^)  Fr.  Buddeus,  Isagoge  liistorico-theologica,  LeijDzig  1730,  p.  248. 

2)  A.  a.  0.,  p.  97. 

^)  3.  F.  Reimmann,  Versuch  einer  Einleitung  in  die  historiam 
literariam  der  Teutscben,  Hall  1708  ff.,  III  p.  200  und  456,  ein  Werk, 
das  trotz  der  Herrschaft  eines  bereits  stark  veränderten  Geistes 
dennoch  für  die  Stabilität  des  Betriebes  noch  nach  100  Jahren  sehr 
lehrreich  ist.  Sein  Grundsatz  ist,  dass  ,,jede  Facultät  ihr  Wesen  vor 
sich  und  also  ihre  eigene  encyclopaediam"  habe  I  17,  und  demnach 
„der  Vortrag  sich  nach  denen  Facultäten  und  Disciplinen"  zu  halten 
habe  III  2. 

'^)  Durch  solche  Vorstellungen  führen  die  chursächsischen  Ge- 
lehrten das  Verbot  des  Ramismus  herbei.  J.  H.  ab  Eiswich,  De  varia 
Aristotelis  in  scholis  protestantium  fortuna,  Wittenberg  1720,  p.  74. 
Ganz  die  gleichen  macht  Corn.  Martini  gegen  die  Gegner  seiner  Logik, 
Henke  I  258.  Vgl.  die  Verbote  des .  Cartesianismus  und  den  Eid  auf 
Aristoteles  bei  Gust.  Frank,  Gesch.  d.  prot.  Theol.  II  84  ff, 

^)  Dieser  Spruch  des  Gregor  von  Nazianz  kehrt  als  stehende 
Redensart  immer  wieder;  bei  Gerhard  Meth.  39. 


13 

und   lehrend   erst  durch  die  philosophische  Fakultät  empor  in 
die  theologische  i).     Als  die  braunschweigischen  Theologen  sich 
gegen   ihre    allzu   humanistische  Artistenfakultät   erhoben  und 
etliche    Ramisten   sowie    Mystiker    sich    ihrer   Opposition    an- 
schlössen,   da  rührten   sich    allenthalben   die  lutherischen  Ge- 
lehrten zur  Ehrenrettung  des  geschmähten  Vernunftlichtes,  das 
doch  auch  von  Gott  gegeben  und  eine  Grundlage  der  heihgen 
Staatsordnung  ist  2).     Man  sieht  aber  auch,   diese  Philosophie 
ist  keine  das  Welterkennen  aus  einem  Prinzip  und  im  vollen 
Umfang  umfassende  Wissenschaft,  sondern  eine  in  verschiedene 
Disziplinen   zerfallende   encyklopädische  Bildung,   die  in  gere- 
gelter Tradition  jede  einzelne  für  sich  bearbeitet  und  aus  einem 
Kompendium  in  das  andre  umgiesst,  um  den  Zeitgenossen  als 
Reallexikon  allgemeiner  Eildung,  als  Nachschlagebuch  für  jeden 
beliebigen  „terminus"  zu  dienen  3).     Die  ganze  „Wissenschaft" 
hat   einen   stark   lexikalischen   Charakter,    womit    die   ausser- 
ordentliche Neigung  zum  gegenseitigen  Ausschreiben  *)  und  die 
unglaubliche   Rolle,    welche    Kollektaneen    und   Tabellen  bei 
dem  Studium  spielen,  gut  übereinstimmen  ^).     MögKch  war  dies 
alles  niu^  dadurch,  dass  zugleich  die  unbefangene  Voraussetzung 
einer  völligen  Deckung  der  biblischen  Realien  mit  den  philo- 
sophischen  herrschte.     Man  war  überzeugt,    dass  das  aristote- 
Hsche  Weltwissen  als  die  einzige,  seit  fast  zwei  Jahrtausenden 
herrschende,  Kodifikation  des  natürlichen  Erkennens  ganz  von 
selbst  mit  den  nicht-mysteriösen  Bestandteilen  der  Bibel  über- 
einstimmen müsse,    da   es  ja  nur  eine  Vernunft  gibt.     Diese 
Überzeugung    w^iederum    war    dadurch    ermöglicht,    dass    der 
Aristotelismus   selbst   bereits   chiistianisirt  und  in  den  Haupt- 
diiferenzen   der  Weltlehre   und   der  Unsterblichkeitslehre   der 


1)  Tholuck,  Ak.  Leben,  I  294  ff. 

2)  Henke  I  70  ff.  221 ;  die  Gutachten  der  Wittenberger  Fakultät 
bei  Eiswich  p.  79ff. ;  vor  allem  der  hiegegen  gerichtete  Vernunft- 
spiegel Jakob  Martinis,  Wittenberg  1618.  —  Auch  Brucker  IV  779  ff. 

^)  Ein  starkes  Beispiel  ist  Ph.  Richter,  Lexicon  ethicum  omnium 
terrainorum  usitatorum  et  ad  philosophiam  moralem  pertinentium  sig- 
nificationes,  etymologias,  homonymias,  distinctiones,  differentias  aliasque 
observationes  nervöse  et  perspicue  ostendens,  mit  Tabellen,  grossem 
Index  und  mit  Citaten  aus  variorum  approbatorura  autorum  scriptia 
et  glossis,  Nürnberg  1627. 

*)  Vgl.  die  ergötzliche  Darstellung  des  Schuppius  bei  Tholuck, 
Ak.  Leben  I  90,  auch  die  Vorwürfe  gegen  Gerhards  Patrologie  Cotta 
I  p.  XLVII,  ferner  den  Spott  Montfaucons  über  diesen  billigen  Prunk 
mit  Citaten  bei  Pf  äff,  Hist.  lit.  I  16. 

^)  Paulsen  241.  Gass  I  188.  Vgl.  das  unten  über  Gerhard  zu 
Bemerkende  sowie  besonders  die  26  Tabellen,  die  Calovs  scripta  philo- 
sophica,  Lübeck  1651  beigegeben  sind  und  fast  die  ganze  Philosophie 
in  einem  bequemen  Überblick  der  Benutzung  darbieten. 


14 

Offenbarung  konformirt  war,  sowie  dass  andrerseits  die  bibli- 
schen Realien  traditionell  und  selbstverständlich  im  Sinn  des 
„Aristotelismus"  aufgefasst  wurden.  Daher  bezeichnet  Brucker 
von  einem  Standpunkt  aus,  der  die  Differenz  beider  erkannt 
hat,  diese  Bildung  als  syncretismus  biblico-Aristotelicus  i). 

Jenes  Zeitalter  hatte  aber  noch  keine  solchen  Zweifel, 
und  in  dem  beruhigenden  Gefühl  von  der  Selbstverständlich- 
keit des  usus  organicus  machte  man  von  demselben  den  weit- 
gehendsten Gebrauch,  ohne  allgemeine,  sichere  Grenzen 
festzusetzen,  l^ur  für  die  eventuell  im  Einzelnen  sich  er- 
eignenden Konflikte  musste  Vorsorge  getroffen  werden  und 
zwar  in  einer  Weise,  die  es  ermöglichte  den  Kompetenzstreit 
von  Philosophie  und  Theologie  um  den  jeweiligen  terminus 
in  vollkommen  wissenschaftlicher  Weise,  aber  doch  natürlich 
im  Sinne  der  alleinigen  Wahrheit  des  Dogmas  zu  schlichten. 
Dazu  bot  z.  B.  besonderen  Anlass  die  Polemik  der  Reformir- 
ten,  welche  gegen  die  lutherische  Ubiquität  stets  den  liiebei 
gebrauchten  terminus  der  Lokalität  urgirten.  Um  solcher 
Fälle  willen  erörtern  die  Dogmatiker  das  an  sich  als  selbst- 
verständlich vorausgesetzte  Verhältnis  von  Vernunft  und 
Offenbarung  und  entwickeln  dabei  eine  Prinzipienlehre,  die 
zu  gleicher  Zeit  eine  Rechtfertigung  des  usus  organicus  und 
ein  System  von  Vorsichtsmassregeln  bei  der  Ausübung  des- 
selben ist. 

Daher  behandelt  auch  Gerhard  die  Sache  nur  gelegent- 
lich, so  in  dem  sehr  kurzen  11.  Kapitel  des  locus  de  inter- 
pretatione  scripturae  I  76  ff.  und  in  dem  ähnlichen  22.  Kap. 
der  exegesis  uberior,  wo  er  einen  diesbezüglichen  Exkurs  gegen 
Socinianer  und  Calvinisten  richtet  11  362  ff.  und  371  ff.,  ferner 
in  den  Einleitungen  zur  exegesis  und  zur  Methodus,  in  der 
protheoria  zum  locus  de  Trinitate  II  214  ff.,  bes.  228  ff., 
speziell  in  einem  Exkurs  über  den  Satz  vom  Widerspruch 
gegen  die  Reformirten  Keckermann  und  Alstedt  Meth.  119 
— 132.  Ausserdem  sind  natürlich  die  Aussagen  über  scriptura 
und  fides  herbeizuziehen,  sowie  der  locus  de  libero  arbitrio, 
der  den  ganzen  natürlichen  Menschen  beschreibt,  und  die 
eschatologischen  loci,  welche  den  idealen  Zustand  der  Seelen- 
vermögen schildern;  dagegen  kommen  die  Aussagen  über  die 
natürliche  Theologie  I  93  ff.  und  III  40  ff.  hier  nur  soweit 
in  Betracht,  als  sie  von  den  Prinzipien  handeln. 

Da  es  sich  fast  an  allen  diesen  Stellen   um  Verteidigung 


*)  Jak.  Brucker, 'Historia  critica  philosophiae,  Leipzig  1743,  IV 
p.  755  ff. ;  er  behandelt  ihn  unter  der  Rubrik  der  synkretistischen 
Philosophie. 


15 

des  Offenbarungsprinzips  und  Bekämpfung  der  Vernunftprin- 
zipien iiandelt,  so  triiit  man  selten  eine  positive  Darlegung 
der  letzteren.  Doch  lässt  sich  diese  aus  den  polemischen 
Erörterungen  leicht  herausziehen.  Was  sich  dabei  ergibt,  ist 
Folgendes. 

Der  grundlegende  und  für  alles  Übrige  entscheidende 
Satz  ist  der,  dass  das  menschliche  Erkennen  in  zwei  toto  coelo 
verschiedene  Sphären  zerfällt,  von  denen  die  eine  dem  Ver- 
nunfterkennen, die  andere  der  Offenbarung  angehört,  die  aber 
beide  in  ihrer  Art  gleichberechtigt  und  gleich  sehr  in  der 
Natur  der  menschhchen  Seele  begründet  sind.  So  wird  II  371 
mit  Bestimmtheit  für  die  ratio  ausgeschieden  eine  sphaera 
earum  rerum,  quae  rationis  judicio  sunt  subjecta,  für  die  fides 
eine  sphaera  earum  rerum,  quae  sunt  ultra  omnem  rationis 
captum  posita.  Jede  hat  ihr  bestimmt  umschriebenes  Gebiet, 
terminos  sui  objecti  II  372,  erstere  die  Natur  und  den 
menschlichen  Geist,  letztere  die  Offenbarung  der  Schrift;  sie 
sind  gleichberechtigt  und  doch  verschieden,  wie  jeder  Staat 
seine  eigenen  Gesetze  hat,  ohne  dass  dadurch  die  des  andern 
beeinträchtigt  würden.     II  372  ff. 

Im  grösseren  Rahmten  der  Psychologie,  also  mit  Einschluss 
der  Willensseite,  erscheinen  beide  Sphären  näher  als  eine 
niedere  weltliche  und  eine  höhere  geistliche  unter- 
schieden.' Objectum  liberi  arbitrii  aut  est  mundanum  seu 
humile,  quod  subjacet  sensibus  et  rationi  humanae  nee  excedit 
ejus  captum  nee  opus  habet  lumine  supernaturali,  aut  est 
spirituale  sive  sublime,  quod  rationem  superat  et  vires  naturales 
excedit  et  indiget  illuminatione  spiritus;  zu  ersterer  Sphäre 
gehören  quae  propria  sunt  hominum  et  ad  vitam  humanam 
pertinent,  uti  artes  omnes  tarn  mechanicae  quam  liberales, 
virtutes  morales,  scientiae  philosophicae  etc.,  zu  letzterer 
Gottesdienst,  Glaube  an  das  Evangelium  und  Gotteserkenntnis 
V  201.  Noch  schärfer  in  diesem  Sinn  durchgeführt  ist  die 
Unterscheidung  V  101,  wo  die  beiden  Gebiete  direkt  als  in- 
ferius  und  superius  hemisphaerium  bezeichnet  werden.  Die 
Verbindung  der  betreffenden  Erkenntnis  mit  den  zugehörigen 
W^illensakten  innerhalb  jeder  Sphäre  ist  das  eigentümliche 
Merkmal  dieser  Anschauung.  Nicht  das  Erkennen  als  solches 
kommt  jedesmal  in  Betracht,  sondern  das  Erkennen  im  engsten 
Zusammenhang  mit  dem  ganzen  zugehörigen  Kreis  von  Lebens- 
betätigungen. Die  natürhche  Vernunft  und  ihre  Disziplinen 
haben  ihren  Sinn  allein  darin,  dass  sie  als  Mittel  zum  Zweck 
der  vita  animalis  und  der  justitia  civilis  (V  201)  mit  diesen 
zusammen  die  Sphäre  des  liberum  arbitrium  konstituiren. 
Beliquae   disciphnae   (ausser  der  Theologie)    de  illis   tractant, 


16 

ad  quae  mentis  humanae  acies  potest  pertingere,  utpote  de 
rebus  politicis,  physicis  etc.  tradunt  doctrinas  ad  hujiis  vitae 
cursum  tranquille,  honeste  et  commode  traducendum  utiles  et 
necessarias  et  hominem,  quatenus  in  civili  societate  in  hac  vita 
consideratur,  objecti  loco  sibi  propositum  habent.  Meth.  6. 
Ebenso  eng  gehören  in  der  andern  Sphäre  die  Erkenntnis  der 
Mysterien  und  die  neuen  motus  spirituales  (VIII  5)  sowie  die 
hierauf  beruhenden  opera  spirituahter  bona  (V  101)  als  gleicher 
Weise  vom  heiligen  Geist  gewirkte  Correlata  zusammen. 
Theologiae  Studium  est  ignorantiae  in  rebus  spiritualibus  nobis 
connatae  atque  ccTa^iwg  in  affectibus  haerentis  remedium,  ad 
sanctitatis  et  pietatis  culturam  6Qf.irjTii]Qiov,  quotidie  Deum  in 
verbo  audiendi  et  cum  Deo  per  preces  coUoquendi  medium 
adeoque  sanctissimae  et  beatissimae  illius  societatis,  quam  in 
coelo  expectamus,  quoddam  praeludium.  Meth.  5.  Der  Glaube 
ist  cognitio  Dei,  und  diese  ist  finis  hominum,  vita  und  salus; 
ubi  tamen  notandum  intelligi  non  nude  historicam  (sc.  cogni- 
tionem),  sed  practicam,  non  literalem,  sed  spiritualem,  non 
aegyov  et  otiosam^  sed  efficacem  et  operosam,  quae  scilicet 
veram  in  Christum  fidem  complectitur  in  corde  interius  et  per 
Studium  bonorum  operum  se  commendat  exterius.  (III  2).  Der 
Glaube  ist  eine  von  Gott  geschaffene  lux  spiritualis,  vergleich- 
bar dem  bei  der  ersten  Schöpfung  geschaffenen  Licht, 
Theoretisches  und  Praktisches  gleich  umfassend.     (II  342)  ^). 

^)  Vgl.  dazu  die  ausführlichen  Auseinandersetzungen  in  der  pro- 
oemialis  protheoria  de  S.  S.  Trinitate,  wo  das  Verhältnis  von  schola 
sapientium  hujus  saeculi  und  schola  superior  Spiritus  Sancti, 
lumen  naturae  und  lumen  gratiae,  scientia  humana  und  sapientia 
divina,  axiomata  philosophica  und  mysteria  divina,  sphaera  sublunaris 
und  sphaera  supercoelestis,  votjTa  und  niara  ausführlich  und  streng 
technisch  entwickelt  wird  II  229.  233,  Dort  werden  auch  ausdrück- 
lich die  beiden  Merkmale  der  Vernunftsphäre,  quantitative  Beschränkt- 
heit gegenüber  der  Offenbarungssphäre  und  fleischlich-irdische  Sinnes- 
art gegenüber  dem  Geist  Gottes,  zusammengestellt,  p.  229.  Ratio 
humana  .  .  non  solum  destituitur  ^wauti  divina  plene  et  perfecte 
cognoscendi,  sed  etiam  contrario  habitu  errores  et  vitia  sectandi  est 
corrupta  1  Cor.  2,  14.  Illatio  apostoli  est  talis:  Spiritualia  oportet 
spirituahter  judicari,  id  est,  ad  spiritualia  mysteria  percipienda  et 
judicanda  requiritur  intellectus  Spiritus  S.  luce  collustratus.  Beide 
Merkmale  hängen  derart  zusammen,  dass  die  Vernunft,  welche  die 
Heilskraft  der  Offenbarungssphäre  noch  nicht  erkannt  hat,  abgeneigt 
ist,  sich  dem  Prinzip  der  letzteren  anzuvertrauen  und  sich  daher  lieber 
auf  die  sicherer  scheinenden  Erkenntnisprinzipien  ihrer  eigenen  Sphäre 
verlässt  ibid.  Gleichwohl  wird  damit  den  princ.  phil.  an  sich  kein 
Vorwurf  gemacht  p.  230.  Sie  dürfen  nur  nicht  als  generaiia  be- 
trachtet werden,  wie  der  fleischliche  Sinn  zu  tun  geneigt  ist,  und  wie 
die  Scholastik  tat;  in  eua  dumtaxat  sphaera  obtineant  veritatem 
p.  229  und  230. 


17 

Die  Verschiedenheit  und  Gleichberechtigung  beider  Sphären 
zeigt  sich  vollends  in  dem  Verhältnis;  das  zwischen  ihnen  im 
Uretand  und  im  Stand  der  Wiedergeburt  als  Ideal  der  richti- 
gen Verhältnisbestimmung  obwaltet.  Sie  sind  dann  nämlich 
nicht  etwa  weniger  scharf,  sondern  noch  viel  klarer  und 
schärfer  geschieden,  insofern  die  Seele  hier  die  Eigenart  der 
spiritualia  erfahren  und  dadurch  völlige  Einsicht  in  die  prin- 
zipielle Verschiedenheit  beider  Sphären  gewonnen  hat.  Die 
rectitudo  omnium  facultatum  animae  im  Urständ  und  die  ratio 
revelatione  collustrata  bedeuten  nichts  anderes,  als  dass  hier 
die  Neigung  des  unwiedergeborenen,  den  Wert  der  spiritualia 
nicht  kennenden,  Menschen  völhg  fehlt,  in  der  er  sonst  die 
niedere  Sphäre  mit  der  höheren  zu  vermischen  und  die  letztere 
nach  der  ersteren  zu  beurteilen  versucht  ist  II  371  ff.  I  79 
III  229.  Man  erkennt  deuthch  das  Bestreben,  den  Unter- 
schied beider  als  einen  qualitativen  zu  bestimmen;  nur  nach 
der  Seite  des  theoretischen  Inhalts  erscheint  er  lediglich  als 
ein  quantitativer.  Es  sind  zwei  getrennte  Reiche  mit  grund- 
verschiedenen, nur  innerhalb  ihres  Bereiches  gültigen,  Gesetzen, 
aber  geeinigt  durch  den  gemeinsamen  Oberbegriff  der  Wahrheit 
II  372  ff.,  nur  dass  man  über  das  Wesen  dieses  Oberbegriffes 
und  über  sein  Verhältnis  zu  den  Unterarten  nichts  erfährt, 
sondern  sich  ganz  allgemein  mit  dem  Eindruck  zu  begnügen 
hat,  es  handle  sich  in  beiden  Sphären  um  gottgewollte  Wahrheit. 

Ist  in  dieser  Weise  der  Unterschied  beider  Sphären  klar 
erkannt,  so  muss  derselbe  noch  „w^issenschafthch"  formulirt 
werden.  Das  geschieht  nach  der  Vorschrift  des  Meisters 
Aristoteles:  Quaehbet  discipKna  sua  habet  axiomata  II  373, 
d.  h.  jede  Disziplin  hat  ihr  Existenzrecht  und  ihren  absoluten 
Beweisgrund  in  einem  letzten  nicht  weiter  zu  beweisenden 
Prinzip,  auf  das  immer  schliesslich  zurückgegangen  werden 
muss,  wenn  ihre  Sätze  streng  bewiesen  werden  sollen  i).     Von 


^)  Von  diesem  Grundsatz  bat  daher  die  Darstellung  der  orthodoxen 
Prinzipienlehre  auszugehen,  nicht  von  der  erst  später  aufgenommenen 
(Schmid  p.  17)  Unterscheidung  der  articuli  puri  et  mixti,  wie 
Dorner  p.  535  ff.  thut.  Wenn  D.  dann  freilich  p.  542  den  oben  be- 
zeichneten Grundsatz  nachholt,  so  geschieht  es  ohne  Berücksichtigung 
des  allgemeinen,  die  Gesammtheit  der  Wissenschaften  umfassenden, 
Zusammenhangs  der  Prinzipienlehre.  In  dieser  allein  aber  hat  man 
die  eigentliche  und  offizielle  Fixirung  des  Verhältnisses  von  Vernunft 
und  Offenbarung  zu  suchen;  die  Unterscheidung  von  artt.  puri  et 
mixti  ist  erst  eine  entferntere  Folge  dieser  Prinzipienlehre.  Daher 
kommt  es  auch  bei  Dorner  zu  keiner  rechten  Klarheit  über  die  Sache, 
sondern  nur  zu  einer  sehr  allgemeinen  Kritik.  —  Ganz  in  Dorners 
Sinn  gehalten  ist  Harries,  De  articulis  puris  et  mixtis,  Göttinger 
Preisschrift  1857. 


18 

diesen  Prinzipien  aber  gilt  nach  Aristoteles  Metaph.  I  c.  2: 
Principia  in  qualibet  disciplina  debent  esse  jtQCüTa  xal  a/nsoa^ 
dlrjO-rj,  avvjtevO-vvay  civxouLöTa,  dvavTiQQrjza  Aal  dvan6d£i7.Ta 
adeo,  ut  quidquid  illis  adversatm*,  nihil  eo  fallacius  Omnibus 
recte  judicantibus  appareat  et  vicissini,  quidquid  illis  congruit, 
certum  et  firmum  esse  omnes  statuant  II  8;  derselbe  Grund- 
satz ist  ausgesprochen  II  41  und  II  Sbl.  Als  ein  Prinzip 
in  diesem  Sinn  die  heilige  Schrift  für  die  Offenbarungssphäre 
alles  Ernstes  zu  erweisen,  war  der  Zweck  von  Grerhards  Avich- 
tiger  und  für  alle  Folgenden  vorbildlichen  Neubearbeitung  des 
locus  de  scriptura.  Principia  in  scientiis  suam  in  se  ac  per  se 
autoritatem  et  certitudinem  obtinent  ac  statini  ut  proferuntur, 
approbatione  digna  censentur,  quo  respectu  etiam  axiomata 
dicuntur.  .  .  Sic  scriptura,  quia  primi  principii  rationem  obtinet, 
ideo  suam  internam  et  immotam  autoritatem  in  ecclesia  obtinet, 
quae  non  aliunde,  ab  ecclesiae  scilicet  autoritate,  illi  confertur 
II  41,  vgl.  genau  denselben  Gedanken  I  12.  Andrerseits 
erscheinen  als  Prinzipien  der  Vernunftsphäre  die  üblichen 
„Axiome":  notitiae  communes  (gewöhnlich  xoival  ewoiac 
genannt),  sensus,  experientia,  inductio  I  79;  zu  der  in  ihr  er- 
reichbaren Erkenntnis  erhebt  sich  der  Intellekt  per  xoLvdg 
hvolag  et  discursum  ex  inspectione  creaturarum  deductum 
Conf.  Catli.  I  281.  Werden  diese  „Prinzipien'^  auch  bisweilen 
verschieden  aufgezählt,  so  handelt  es  sich  doch  stets  um  die- 
selben Grössen,  um  Xoyog  und  rtelga,  um  die  angeborenen  Ideen 
und  die  Gesetze  der  empirischen  Reflexion  (Meth.  6).  Es 
sind  also  beiderseits  allen  Anforderungen  der  Wissenschaft 
entsprechende  Prinzipien,  auf  denen  jede  Sphäre  ruht,  die 
Theologie  auf  einem  einzigen,  alles  umfassenden,  die  Philosophie 
auf  einer  Mehrzahl,  wie  es  ihrer  Verteilung  auf  verschiedene 
Disziplinen  entspricht. 

Als  Prinzip  qualifizirt  sich  ein  derartiges  Axiom  durch 
seine  unmittelbare  Selbstevidenz.  Für  die  philosophischen 
Prinzipien  brauchte  der  Theologe  diese  letztere  nicht  nachzu- 
weisen, sondern  konnte  sie  aus  den  üblichen  Lehrbüchern 
voraussetzen,  indem  er  es  unternahm,  nach  ihrer  Analogie  das 
Offenbarungsprinzip  technisch  streng  zu  bestimmen.  Es  kam 
also  darauf  an,  diese  Selbstevidenz  auch  an  der  Schrift  nach- 
zuweisen, die  Prädikate  avTOTciOTog,  d^iOTiLOTog,  dvano- 
öcLv-Tog  etc.  auch  an  ihr  in  concreto  aufzuzeigen  I  7  fP., 
II  36  ff.  Diese  Merkmale  werden  hier  sämmtlich  gefunden 
in  dem  Begriff  der  efiicacia  Spiritus  Sancti  in  cordibus.  Spi- 
ritus S.  in  ipsorum  cordibus  testatur,  quod  spiritus  sit  veritas, 
id  est,  quod  doctrina  a  Spiritu  S.  profecta  sit  immota  veritas 
I  9.     Quomodo  de  autoritate  verbi  divini  in  scripturis  contenti 


19 

230ssiint  qiuierere,  qui  vim  et  efticaciani  verbi  in  cuixle  siio 
ipsimet  sentiiint  et  per  illiid  ad  vitam  aeternam  sese  regenitos 
esse  agnoscinit?  II  36.  Quin  immo  testatur  id  cujusque  pii 
experientia ;  ideo  enini  hoc  ve]  illud  dogma  firma  fiele  amplec- 
tiniiir,  qiiia  in  scripturis  s.  divinitus  illud  revelatum  esse  cog- 
noscimus,  non  quia  ecclesia  illud  proponit.  Principimn  primum 
non  habet  aliquid  prius  et  fundamentum  non  fundatur  in  alio 
II  41.  Diese  Stellen,  welclie  sich  noch  stark  vermehren 
Hessen,  begründen  ausdrücklich  und  prinzipiell  die  gesuchte 
Selbstevidenz  auf  das,  was  man  heute  technisch  als  „innere 
Erfahrung"  bezeichnet.  Obwohl  diese  letztere  Bezeichnung 
nicht  fehlt,  so  herrscht  doch  der  Ausdruck  testimonium  Spiritus 
S.  internum  vor  II  37,  mit  welchem  genau  dasselbe  gemeint 
ist,  nämlich  die  fromme  Erfahrung  als  wissenschaftliche  Grund- 
lage für  den  Beweis  der  Selbstevidenz  des  theologischen 
Prinzips.  Nur  wenn  man  es  in  diesem  Zusammenhange  auf- 
fasst,  wird  das  bekannte  testimonium  recht  verstanden  und 
seine  grundlegende  Bedeutung  für  den  „wissenschaftlichen" 
Charakter  des  Systems  genügend  gewürdigt^). 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  auch  nur  natürlich,  dass 
zugleich  die  innere  Korrespondenz  zwischen  jedem  Prinzip  und 
seiner  zugehörigen  Sphäre  erkenntnistheoretisch  klar  gemacht 
wird.  Omnis  notitia  versatur  inter  rem  cognoscendam  et  in- 
tellectum  cögnoscentem,  „quia  intellectio  est  speciei  ab  objecto 
cognoscendo  abstractae  in  intellectum  receptio".  Scalig.  Ex. 
307  sect.  21.  Requiritur  igitur  inter  intellectum  cögnoscentem 
et  rem  cognoscendam  adaequatio,  proinde  ut  in  visione,  quae 
est  intellectionis  quasi  umbra  et  7iaQdöeiyf.ia.  Das  gilt  von 
den  Prinzipien  der  natürlichen  Sphäre,  aber  ganz  analog  gilt 
dasselbe  auch  von  denen  der  mysteriös-spiritualen.  Quia  ergo 
mysteria  fidei  in  scripturis  proposita  sunt  divina  ex  immediata 
Dei  revelatione  profecta,   ideo   intellectus  nostri  per  peccatum 


')  So  auch  Kaftan,  Wahrheit  der  christlichen  Religion,  Basel 
1888  p.  155;  auch  Klaiber  in  der  Abhandlung  über  das  testimonium 
Sp.  S.  in  den  Jahrbb.  f.  deutsche  Theol.  1857,  sowie  Tholuck,  Kirch- 
liches Leben  I  81  ff.  Nur  musste  der  Zusammenhang  mit  den  aristo- 
telischen Vorschriften  mehr  hervorgehoben  weiden.  Vgl.  auch  Dorner 
540  ff.  Von  der  inneren  Erfahrung  moderner  Theologen  unterscheidet 
sich  die  der  alten  durch  strengere  und  klarere  Bestimmung  des  zu 
Erfahrenden  und  durch  nachdrücklichere  supranaturale  Motivirung. 
Die  alte  verbürgte  den  klaren  Schriftinhalt,  die  neue  verbürgt  zunächst 
lediglich  sich  selbst,  gestattet  aber,  durch  die  nötigen  Folgerungen 
einen  Inhalt  aus  ihr  zu  entwickeln,  der  dann  mit  den  unentbehrlichsten 
Wahrheiten  der  Schrift  und  des  kirchlichen  Bewusstseins  zusammen- 
trifft. Die  alte  ist  in  Bezug  auf  Klarheit  und  Sicherheit  bedeutend 
im  Vorteil. 

9* 


20 

misere  corrupti  sphaeranij  ut  ita  loquar,  excedunt.  1  Cor.  2,  14. 
Proinde  praeter  nativas  intellectus  nostri  vires  et  piimaevas, 
ut  ita  loquar.  opes  requiritur  divini  luminis  irradiatio,  alias 
mysteria  in  scripturis  proposita  sunt  liber  clausus  et  signatus. 
Das  hat  vor  allem  Luther,  ex  quo  fönte  distinctio  inter  noti- 
tiam  literae  et  spiritus  promanavit,  in  massgebender  Weise 
gelehrt  I  50  ff.  In  diesem  Sinne  wird  die  Forderung  der 
Mitteilung  spiritualer  Kräfte  d.  h.  religiösen  Verständnisses 
unaufhörlich  wiederholt  und  in  einer  stehenden  Vergleichung 
der  ersten  Schöpfung  als  dvccKtioig  und  dvaTtlaaig  zur  Seite 
gestellt  1).  So  ist,  wie  zwischen  den  beiden  Sphären  selbst, 
auch  zwischen  ihren  Prinzipien  ein  quaUtativer  Unterschied. 
Wohl  ist  das  Erkennen  in  beiden  lediglich  theoretisches  Er- 
kennen, nur  durch  das  Mass  der  Tragweite  unterschieden; 
aber  da  der  Gedanke  eines  „reinen  Erkennens"  völlig  fern 
liegt,  so  kommt  es  immer  nur  in  der  engen  Verbindung  mit 
seinen  Zweckbeziehungen  in  Betracht  und  geht  dadurch  ein 
in  den  G-egensatz  zwischen  Weltlich  und  GeistUch,  Profan  und 
ReUgiös.  Wie  misslich  die  Grenzscheidung  nach  der  theore- 
tischen Seite  ist,  zeigt  die  Nebeneinanderstellung  folgender 
Sätze:  axiomata  philosophiae  sunt  specialia  et  in  sua  dumta- 
xat  sphaera  obtineant  veritatem  Meth.  115  und  Sic  theologiae 
principia  sunt  simphciter  prima  et  summa,  quae  nulla  aliarum 
disciphnarum  principiis  subordinantur,  sed  reliquarum  sci- 
entiarum  principia  non  simpliciter,  sed  in  suo  dumtaxat  genere 
sunt  prima  ac  theologiae  principio  subordinantur  Meth.  8 ;  d.  h. 
die  Offenbarung  darf  ihrerseits  in  alle  Disziphnen  als  gleich- 
artige Grösse  eingreifen,  und  die  Getrenntheit  der  Sphären 
wie  der  Prinzipien  kommt  eigentlich  nur  von  der  Vemunft- 
sphäre  aus  in  Betracht.  Derselbe  Übelstand  zeigt  sich  in  dem 
bekannten  absurden  Satz,  dass  eine  ganze  Anzahl  natürlich 
schon  bekannter  Sätze  trotzdem  von  der  Offenbarung  noch 
einmal  offenbart  sei  II  9  2).  Auf  der  andern  Seite  bezeugen 
aber  die  angeführten  Aussagen  und  die  grundlegende  Tat- 
sache, dass  es  bei  allem  Erkennen  immer  auf  dessen  Nutzen 
und  Betätigung  ankommt,  die  bewusste  Absicht  beide  Gebiete 
quaUtativ  zu  scheiden  als  zwei  Reiche  mit  eigenen  Gesetzen, 
die  nur  Provinzen  eines  beide  umfassenden  grösseren  Reiches 
sind  II  372  ff. 


^)  II  342  344   IV  238   V  317   VII  163  u.  öfter. 

2)  Von  diesem  letzten  Satz  geht  besonders  Kaftan  p.  149  bei 
seiner  Beurteilung  der  orthodoxen  Prinzipienlehre  aus.  Vgl.  auch 
C.  F.  Baur,  Vorlesungen  III  42.  Doch  ist  er  erst  eine  abgeleitete 
Folge  der  Grundthese. 


21 

Vor  allem  muss  man  sich  hüten,  diese  Gebietsteilmig  und 
ihre  Zmiickführung  auf  ihre  respektiven  Prinzipien  für  etwas 
blos  Gelegentliches,  Allgemeines  und  Ungefähres  zu  halten, 
vielmehr  soll  sie  im  vollen  Ernst  eine  durchaus  wissenschaft- 
hche,  präzise,  allen  Ansprüchen  des  Aristotelismus  glänzend 
genügende,  Fixirung  der  Gegensätze,  ein  Grundpfeiler  des 
Systems  aller  Wissenschaften  sein.  Moderne  Beurteiler  haben 
hiebei  leicht  nur  die  Schwächen  des  Offenbarungsprinzips  im 
Auge^),  wie  dieselben  nach  unserer  Meinung  in  „der  Undeut- 
hchkeit  und  Unselbständigkeit''  d.  h.  in  der  sehr  äusserlichen 
Begründung  der  Offenbarung  auf  blosse  Autorität  hervortreten, 
und  beachten  nicht  den  ganzen  Zusammenhang  der  Prinzipien- 
lehre. Für  die  Betrachtungsweise  jener  Zeit  aber  war  beides 
vielmehr  gerade  ein  eminenter  Vorzug,  insofern  das  Prinzip 
der  Schriftoffenbarung  in  seiner  absoluten  Irrtumslosigkeit  und 
seiner  spiritualen  Kraft  gegenüber  den  auf  sich  selbst  ver- 
wiesenen, schwachen  und  auf  die  weltlichen  Dinge  beschränkten 
Vernunftprinzipien  eine  unvergleichlich  grössere  Garantie  gibt, 
und  gerade  diesen  Vorzug  strebten  sie  im  Zusammenhang 
ihrer  Prinzipienlehre  technisch- wissenschaftlich  zu  iixiren. 
Theologia  reHquis  omnibus  (disciplinis)  longissime  antecellit 
principiorum  certitudine  .  .  rehquarum  piincipia  sunt  Aoyog  /.al 
TtsJga,  lumen  naturae  et  experientia,  quae  inferioris  non  solum 
gradus  sed  etiam  certitudinis  sunt  quam  lumen  scripturae  et 
gratiae  Meth.  6.  Ex  principii  conditione  theologia  innititur 
divinae  revelationi,  quae  est  avTaXri^eia  II  12;  ganz  ähnlich 
Meth.  114;  die  Theologie  macht  im  Gegensatz  zur  Philosophie 
den  Menschen  aKivrjvog  ymI  a/naTccTthoTog  Meth.  186.     Daher 


^)  A  Ritsch],  Fides  implicita  p.  72  ff.  und  95  ff.  Kaftan  156.  Es 
ist  doch  sehr  die  Frage,  ob  der  Dualismus  von  Vernunft  und  Autorität 
etwas  spezifisch  Katholisches  ist,  wie  Kaftan  p.  168  will,  oder  ob 
derselbe  nicht  irgendwie  in  dem  Wesen  jeder  positiven  Religion  un- 
vermeidlich begründet  ist.  Vgl.  für  den  Unterschied  des  Verhältnisses 
bei  Gerhard  und  bei  Thomas  die  Stelle  VII  80.  Fides  non  est  talis 
quaedam  notitia,  quae  rationem  et  evidentiam  rei  sequitur,  ex  eo 
autem  non  sequitur,  quod  nullo  modo  sit  notitia  (zu  welcher  Con- 
sequenz  die  Jesuiten  sie  zu  drängen  suchten),  quin  potius  per- 
fectius  cog  noscimus,  quae  fide,  qu  am  quae  ratione  cog  no  s- 
cimus.  Dazu  führt  er  als  katholisches  Zeugnis  an:  Thomas  2,  2  qu. 
•i,  art.  8  concludit,  quod  fides  certior  sit  aliis  virtutibus  intellectu- 
alibus,  cum  innitatur  divinae  veritati,  reliquae  vero  humanae  rationi. 
Aliaetamen  certior  es  sunt  quoad  nos,  quia  intellectus 
plenius  eas  assequitur.  Das  letztere  hätte  der  protestantische 
Theologe  nie  gesagt,  und  hierin  scheint  mir  auch  der  wesentliche 
Unterschied  der  scholastischen  und  der  protestantisch-orthodoxen 
Prinzipienlehre  angedeutet  zu  sein.  Zugleich  ist  diese  Stelle  ein 
Beispiel  für  den  Wert,  den  Citate  aus  Thomas  bei  Gerhard  haben. 


22 

nimmt  auch  Gerhard  für  die  theologische  Fakultät  den  Vortritt 
vor  den  andern  in  Anspruch  propter  principiorum  certitudinem  i). 
Eine  so  präzis  begründete  und  iormulirte  Prinzipienlehre 
gestattet  daher  auch  vorzüglich  dießegulirung  aller  Grenz- 
streitigkeiten, die  Aufstellung  j  enes  oben  erwähnten  Systems 
von  Vorsichtsmassregeln,  die  beim  Gebrauch  der  Realerklärung, 
bei  der  Anwendung  des  usus  organicus,  befolgt  werden  müssen. 
JDasselbe  ist  scheinbar  künstlich,  in  der  Tat  aber  einfach 
genug.  Es  besteht  nämlich  nicht  etwa  in  einer  Umgrenzung 
des  Vernunftinhaltes  und  des  Offenbarungsinhaltes,  sondern 
in  der  „wissenschaftlich"  legitimirten  Ausfertigung  einer  ganz 
allgemeinen,  inhaltlich  völlig  indifferenten,  Vollmacht,  der  zu- 
folge die  Dogmatik  in  jedem  Fall  einer  aus  Vernunftprinzipien 
gegen  sie  gerichteten  Argumentation  dieselbe  ohne  weiteres 
niederzuschlagen  berechtigt  ist,  sie  sei  welcher  Art  sie 
wolle,  sie  sei  bereits  bekannt  oder  noch  irgend  einmal  bevor- 
stehend. Es  hat  sich  nämlich  Jedes  Prinzip  streng  innerhalb 
seiner  Grenze  zu  halten.  Quaelibet  disciplina  sua  habet  axio- 
mata,  quae  non  sunt  trahenda  in  aliud  forum,  sed  in  sua 
sphaera  relinquenda,  ne  iiat  fisTccßaaLg  elg  alXo  ye'vog  II  373. 
Nach  Arist.  lib.  I  Anal.  c.  7  gilt  die  Regel,  ut  sit  terminorum 
Gvyyh'SLa  in  apodixi  nee  hat  uezaßaoig  slg  aXXo  yivog.  avdyKrj 
Ix  Tov  avTOv  yevovg  xa  axga  yial  ra  /Lieoa  uvai  I  77  ff.  ^).  Prae- 
posterum  igitur  est  conclusionem  ex  öL/.eicüv  ex  proprio  theologiae 
principio  videlicet  ex  verbo  Dei  deductam  i§  dXloTouov  ex 
alieno  principio  oppugnare  et  hac  ratione  iisTaßaGiv  slg  dllo 
yevog  a  philosophis  ipsis  improbatam  committere  II  10,  d.  h.  die 
Vernunftprinzipien  gelten  nur  für  solche  Sätze  (propositio, 
thema,  quaestio),  in  denen  kein  terminus,  weder  Subjekt  noch 
Prädikat,  irgendwie  mit  der  Oft^enbarung  zu  tun  hat.  Denn 
usus  rei  non  extendit  se  latius  quam  res  ipsa,  principia  autem 
philosophica  sunt  naturalia  I  79.  Auf  der  andern  Seite  sind 
solche  Sätze,  deren  termini  sämmtlich  aus  der  Offenbarung 
stammen,  ohne  weiteres  so  hinzunehmen,  wie  sie  sich  geben, 
und  nicht  etwa  nach  den  Prinzipien  der  ganz  fremden  Vernunft- 


*)  Tholuck,  Ak.  Leben  I  84.  Eine  Vermischung  der  diversa 
disciplinarum  genera  et  principia  wäre  auch  schon  an  und  für  sich 
im  Interesse  der  Ordnung  der  Wissenschaft  —  ganz  abgesehen  von  der 
Schädigung  der  Offenbarung  —  zu  beklagen  III  230.  —  Vgl.  ausserdem 
die  völlig  ernst  gemeinte,  ausgeführte  Vergleich ang  des  Erkenntnis- 
prinzips der  Medizin  mit  dem  der  Theologie  in  der  Vorrede  zu  den 
Meditationes  sacrae,  Jena  IG  11. 

■^)  Dasselbe  aristotelische  Citat  ist  zu  Grunde  gelegt  Meth.  303 
bei  Beurteilung  der  Scholastik;  ebenso  in  der  Trinitätslehre  III  228; 
hier  der  charakteristische  Satz:  Qui  a  natura  ad  mysteria,  a  sensu  ad 
fidem,  ab  oculo  ad  oraculum  argumenta  ducunt,  ccTiaid^evaiKv  commitiunt. 


23 

Sphäre  zu  kiitisiren,  sie  sind  lediglich  nach  ihrem  eigenen 
Prinzip,  nach  dem  der  Offenbarung,  zu  verstehen  d.  h.  für 
wahr  zu  halten.  So  kann  mit  siegesgewisser  Überlegenheit 
jeder  erdenkliche  Angriff  auf  das  lutherische  Dogma  als  f-itTcc- 
ßaaig  elg  allo  ytvog,  wie  der  zum  Überdruss  oft  wiederholte 
Ausdruck  lautet,  auf  das  allereinfachste  abgewiesen  werden, 
und,  wenn  ein  Unverständiger  hierin  die  Anerkennung  einer 
doppelten  Wahrheit  sehen  wollte,  so  wird  er  mit  mitleidiger 
Geringschätzung  belehrt,  dass  die  beiden  Sphären  nicht  an 
sich  im  Widerspruch  stehen,  sondern  nur  durch  seine  eigene 
Torheit,  durch  falsche  Anwendung  der  Prinzipien,  ex  accidenti 
in  scheinbaren  AViderspruch  geraten  seien  I  78  ff.    II  372. 

Etwas  schwieriger  lag  die  Sache,  wenn  ein  philosophischer 
und  ein  theologischer  terminus  in  einem  und  demselben  Satz 
verbunden  waren.  Hier  konnte  leicht  aus  dem  philosophischen 
auf  den  theologischen  hin  argumentirt  werden.  Das  war  be- 
sonders bei  den  die  Ubiquität  der  menschlichen  Natur  betref- 
fenden Sätzen  der  Fall,  wo  die  Reforrnirten  aus  den  termini 
locus  und  homo  stets  gegen  die  lutherische  Ubiquität  argu- 
mentirten  i).  Es  ist  das  Gebiet  der  quaestiones  mixtae,  die 
übrigens  nicht  mit  den  der  natürlichen  Theologie  angehörigen 
späteren  articiili  mixti  zu  verwechseln  sind.  Für  jenes  verweist 
Gerhard  auf  Balth.  Meisners  philosophia  sobria,  wo  sich  die 
Sache  I  p.  25  ff.  erörtert  findet  Meth.114  2).  Auch  hier 
hilft  der  Satz  von  der  juszaßaoig  elg  allo  yevog  aus  aller 
Schwierigkeit.  In  einer  solchen  quaestio  mixta  kommt  natürlich 
alles  auf  die  Verbindung  der  termini  an,  ob  der  philosophische 
oder  der  theologische  für  den  Sinn  der  Verknüpfung  mass- 
gebend sein  soll,  und  es  versteht  sich  ganz  von  selbst,  dass  in 
einem  solchen  Fall  der  philosophische  terminus  nach  dem 
theologischen  zu  verstehen  ist  ^).  Das  Umgekehrte  wäre  eine 
(.lexcißaGig  e.  a.  y.  Ea  dumtaxat  disciplina  de  connexione 
rerum  in  controversis  problematibus  docere  apta  est,  quae 
causam  (sc.  connexionis)  novit.     Causa  autem  cohaesionis  sub- 


^)  In  diesen  Angriffen  gibt  sich  lediglich  der  Unterschied  des 
reforrnirten  Dogmas  vom  lutherischen,  nicht  aber  eine  „dreistere 
Rationalität  der  Reforrnirten"  Gass  I  214  kund. 

2)  Diese  Verweisung  ist  später  zum  Gegenstand  einer  Polemik 
zwischen  dem  Reforrnirten  Vedel  und  Joh.  Musäus  geworden.  Vgl. 
Joh.  Musäus,  De  usu  principiorum  rationis  et  philosophiae  in  contro- 
versiis  theologicis,  Jena  1664  p.  186  ff.,  wo  Musäus  einen  Unterschied 
zwischen  Gerhard  und  Meisner  behauptet  und  ersterem  die  strengere 
Ansicht  zuschreibt.     Die  Differenz  ist  aber  unwesentlich. 

^)  Ahnlich  Gass  I  212,  der  aber  auch  hier  zu  viel  Tiefsinn  in 
dieser  äusserst  einfachen  Manipulation  findet  und  daher  nicht  recht 
verständlich  ist. 


24 

jecti  praedicatique  in  conclusionibus  theologicis  non  natura, 
sed  scriptura  est  .  . ;  haec  principium  unicum.  Philos.  sob.  I  27. 
Mit  Rücksicht  auf  das  syliogistische  Beweisverfahren  für  eine 
solche  quaestio  mixta  lässt  sich  die  Sache  auch  so  ausdrücken, 
dass  der  über  die  conclusio  entscheidende  terminus  medius  des 
Schlusses  der  Theologie  angehört,  wie  z.  B.  für  die  Frage  „an 
corpus  Christi  in  pluribus  locis  praesenter  dominetur"  der  Begriff 
Christus  ^edv^gcoycog  der  die  beiden  termini  „corpus  Christi"  und 
„locus"  zusammenführende  terminus  medius  ist;  da  aber  der 
terminus  medius  über  die  conclusio  entscheidet,  so  hat  die 
Theologie,  der  er  angehört,  auch  allein  die  Kompetenz,  über 
die  Verbindung  der  Begriffe  in  der  conclusio  zu  verfügen. 
Trotz  der  hochwissenschaftlichen  Form  ist  auch  hier  die  Prin- 
zipienlehre nichts  als  das  denkbar  einfachste  Mittel,  jeden 
behebigen  Satz  der  Dogmatik  gegen  die  Vernunft  sicher  zu 
stellen;  es  lässt  sich  nicht  einsehen,  welche  dogmatische  Be- 
hauptung durch  sie  etwa  nicht  gerechtfertigt  werden  könnte  i). 
Wirkhch  ins  Gedränge  kommt  Gerhard  erst  bei  jenen 
allgemeinsten  Denkgesetzen,  wie  z.  B.  beim  Satz  des  Wider- 
spmches,  deren  Geltung  auch  für  Gott  zu  leugnen,  die  dop- 
pelte Wahrheit  statuiren  hiesse  XVIII  323  ff.  III  154 
und  besonders  Meth.  119  ff.  Wurden  in  einer  solchen  quaestio 
mixta  zwei  sich  widersprechende  Begriffe,  wie  z.  B.  mensch- 
Hche  Natur  und  Illokalität,  durch  die  Offenbarung  vereinigt, 
so  entstand  die  Frage,  ob  denn  dann  auch  das  Gesetz  des 
Widerspruches  in  der  Offenbarungssphäre  nicht  gelte,  und  die 
Beformirten  verfehlten  nicht,  diese  Konsequenz  recht  scharf  zu 
urgiren.  Hier  gibt  nun  Gerhard  die  Geltung  des  Satzes  vom 
Widerspruch  auch  für  Gott  zu,  verwahrt  sich  aber  gegen  die 
Anwendung  des  Satzes  auf  irgend  eine  dogmatische  Aussage 
mit  folgendem  Syllogismus:  1)  Quae  vere  absolute  et  simpli- 
citer  sunt  contradictoria ,  ea  etiam  absolute  et  simphciter 
sunt  impossibilia.  2)  Atqui  quae  Dens  in  scriptura  se  fa- 
cere  posse  asserit  seque  facturum  promittit.  ea  non  sunt  ab- 
solute et  simphciter  impossibilia.  Alias  periclitaretur  veritas; 
si  enim  absolute  impossibilia  essent,  quomodo  Deus  vere  pro- 
mitteret  se  illa  praestiturum  ?  3)  Ergo  etiam  ea  quae  Deus 
in  scripturis  sacris   se   facere  posse  asserit,  .  .  non   sunt   vere, 


*)  Die  Dienste,  welche  diese  Prinzipienlehre  den  alten  Theologen 
leistete,  lassen  sich  daher  ungefähr  vergleichen  mit  denen,  welche 
manchen  modernen  Theologen  das  sog.  „Gemeindebewusstsein"  leistet, 
nur  dass  die  Leistungsfähigkeit  des  letzteren  in  seiner  Nebelhaftigkeit 
liegt  und  eine  immerhin  begrenzte  ist,  während  die  der  ersteren  in 
ihrer  entschlossenen  Klarheit  und  Sicherheit  liegt  und  für  schlechter- 
dings alle  Bedürfnisse  ausreicht. 


25 

absolute  et  simpliciter  contradictoria  XVIII  323;  d.  h.  aus 
der  blossen  Tatsache,  dass  etwas  in  der  Schrift  steht,  folgt 
um  der  Allmacht  Gottes  willen  auch  seine  Widerspruchslosig- 
keit,  man  mag  sie  einsehen  oder  nicht.  Zur  Unterstützung 
dieses  Beweises  wird  dann  noch  auf  die  Beschränktheit  und 
Endlichkeit  der  Vernunft  kräftig  hingewiesen  Meth.  119  ff. 
Das  alles  vermag  freiHch  nicht  zu  verhindern,  dass  hier  der 
wunde  Punkt  des  gar  zu  bequemen  und  einfachen  Systems 
grell  zum  Voi'schein  kommt  ^).  Ein  Vernunftgesetz,  das  zu- 
gleich gilt  und  doch  auch  nicht  gilt,  das,  an  sich  durchaus 
rationell,  plötzlich  nicht  mehr  verständhch  werden  soll,  das  ist 
ein  Ding,  bei  dem  weder  von  Vernunft  noch  von  Gesetz  viel 
übrig  bleibt.  Es  zeigt  sich  hier,  wie  die  Scheidung  beider 
Gebiete  nach  der  theoretischen  Seite  rein  quantitativ  ist  und 
also  un  letzten  Grund  trotz  alles  wissenschafthchen  Pompes 
lediglich  auf  Willkür  beruht.  Es  ist  daher  auch  nur  eine 
Tat  der  Verzweiflung,  wenn  Gerhard  seine  Zuflucht  zu  der 
Distinktion  nimmt:  Distinguendum  inter  contradictionem  logicae 
divinae  seu  Dei  longe  lateque  captum  nostrum  transscendentis  et 
contradictionem  logicae  humanae  seu  hominis  captum  humanum 
non  transscendentis ;  inter  res  vel  effata,  quae  sunt  supra  terminos 
logicae  seu  rationis  nostrae,  et  ea,  quae  sunt  intra  terminos 
logicae  nostrae  et  a  ratione  nosti^a  percipi  possunt  Meth.  123. 
Werden  die  beiden  Sphären  nun  im  einzelnen  be- 
trachtet, so  handelt  es  sich  nach  „aristotelischer"  Lehre  um 
zweierlei,  um  das  Objekt  oder  die  materia  derselben  und  um 
den  dieselbe  subjektiv  auffassenden  habitus  animae  ^).  Was 
die  erstere  betrifft,  so  besteht  sie  für  die  theologische  Sphäre, 
wie  bekannt,  in  dem  grossen  Wunderwerk  des  heiligen  Geistes, 
in  dem  mit  nichts  auf  der  Welt  zu  vergleichenden,  unmittel- 
bar von  Gott  selbst  verfassten,  heihgen  Buch.  Beachtet  man 
vorwiegend  dessen  Wirkung  auf  die  Menschen,  so  erscheint 
es   als    efficax  conversionis  et  salutis  Organum   II  2843).     Die 

^)  Die  späteren  Dograatiker  trennen  die  principia  philosophica 
absolute  universalia  von  den  princ.  limitate  universalia  und  behandeln 
die  hier  von  Gerhard  gestreifte  Frage  demgemäss  principiell.  Schmid 
p.  12  fif.  F.  C.  Baur,  Vorlesungen  III  38  hat  mit  Recht  darauf  auf- 
merksam gemacht,  dass  an  dieser  Stelle  die  orthodoxe  Prinzipienlehre 
ihre  ganze  Willkür  und  Gebrechlichkeit  offenbart,  desgleichen  D.  F. 
Strauss,  Die  christliche  Glaubenslehre  in  ihrer  geschichtlichen  Ent- 
wickelung,  Tübingen   1840  I  316. 

■2)  Vgl.  Melanchthon  de  anima  CR  XIII  143  und  166. 

^)  Vgl.  ferner:  Cumque  finis  legis  et  nucleus  evangelii  sit  Christus, 
ideo  rekog  Gy.ojiL^MxaTov,  ultimus  scopus  adeoque  centrum  scripturae 
...  est  Christus  Jesus  II  49.  Christus  est  totius  scripturae  epitome 
ac  centrum,  «  et  w,    a  quo    omnia   in   scripturis   incipiunt    et   in   quo 


26 

Schrift  hat  kernen  andern  Zweck  und  keine  andere  Bedeu- 
tung, als  uns  durch  die  Kraft  des  heihgen  Geistes  wieder- 
zugebären  zum  ewigen  Leben.  Kommt  hingegen  mehr  das- 
jenige in  Betracht,  wodurch  diese  Wirkung  hervorgebracht 
wird,  die  götthch  infalhble  Lehre,  so  ist  sie  die  Sammlung 
der  oracula  divina,  wie  es  unzählige  Male  heisst,  summa 
doctrinae  coelestis  et  praecijDua  illius  capita  II  331,  das  Kom- 
pendium der  dogmata  fidei,  quorum  notitia  omnibus  ad  salutem 
necessaria  est  II  329,  systema  credendorum,  faciendorum  et 
sperandorum  zum  Zweck  der  institutio  hominum  ad  salutem 
II  356,  Sacrae  tabulae  ex  Spiritus  S.  inspiratione  conscriptae 
I  43,  divinus  codex  XX  2.  Denn  auf  die  absolute  Wahr- 
heit der  Lehre  kommt  alles  an,  wenn  man  auf  sie  das  Heil 
der  Seele  gründen  soll.  Totus  Christianismus  nititur  hoc  fun- 
damento,  quod  Spiritus  S.  per  Prophetas  et  Apostolos  ea,  quae 
in  scripturis  legimus,  annotarit  I  45.  Dazu  II  351  u.  ö. 
aoq^dXeLa  vero  locum  habere  nequit  absque  perfecta  et  suffi- 
ciente  necessariorum  ad  salutem  explicatione  II  295.  Dabei 
kommt  es  aber  nicht  auf  die  Vielheit  der  Artikel  als  solcher 
an,  sondern  nur  auf  deren  Irrtumslosigkeit,  da  ein  auch  noch 
so  kleiner  Irrtum  im  Einzelnen  die  Wahrheit  des  Ganzen 
gefährden  würde.  Die  Artikel  selbst  aber  müssen  immer  wieder 
in  ihrer  Einheit  und  ihrer  praktischen  Bedeutung  angesehen 
werden.  Alle  sind  uns  nur  dazu  gegeben,  ut  in  quotidiana 
meditatione  pie  expendamus,  und  ultimus  fidei  nostrae  arti- 
culus  ....  est  vita  aeterna,  ad  quam  reliqui  omnes  tamquam 
ad  TeXog  Gy.oTCif.iwTaTov  ....  referuntur  XX  232.  Daher 
setzt  er,  wie  schon  Chemnitz  ermahnt  hatte  i),  jedem  Artikel 
die  doctrina  de  usu  bei,  welche  in  ihrer  häufig  rührend  ein- 
fachen und  aufrichtigen  Frömmigkeit  allerdings  Gerhards  über 
das  zeitgenössische  Theologengeschlecht  weit  hervorragende 
Eigenart  zeigt  2). 

Man  pflegt  meistens  die  in  der  ersten  Gruppe  von  Aus- 
sagen bezeugte  praktische  Auffassung  zu  der  in  der  zweiten 
ausgesprochenen  doktrinären  in  scharfen  Gegensatz  zu  setzen 
und  die  letztere  als  eine  Korruption  der  ersteren  anzusehen  3). 


omnia  desinunt  II  50.  Tota  scriptura  nihil  aliud  est,  quam  per- 
petua  consolatio  piis  sub  cruce  in  hac  vita  ingemiscentibus  proposita 
XX  113.  Ähnlich  II  114  und  332.  Diese  Betraehtuna  geht  durch 
das  ganze  Werk  hindurch  und  verleiht  ihm  überall  eine  wohlthuende 
Wärme. 

^)  In  dem  vierten  Traktat,  welcher  der  Ausgabe  seiner  Loci  vor- 
gedruckt ist.  '"^)  Vgl.  Henke  I  361.  Gust.  Frank,  Gesch.  der  prot. 
Theologie  I  371  ff. 

^)  Dorner  548  ff.,  vorsichtiger  Kaftan   166. 


27 

Das  ist  aber  doch  nur  scheinbar  der  Fall.  Schon  aus  der 
bisherigen  Darstellung  tritt  das  beide  verbindende  Moment 
scharf  hervor,  das  Interesse  an  der  Gewissheit  und  Sicherheit 
der  Lehre,  von  der  unser  Heil  abhängt  i).  Vollkommenes 
Vertrauen  ist  nicht  möglich,  wenn  man  nicht  von  der  unfehl- 
baren und  allseitigen  Wahrheit  der  religiösen  Doktrin  uner- 
schütterlich überzeugt  sein  kann.  Cum  manna  doctrinae  con- 
junctus  est  ros  gratiae  divinae  et  Spiritus  S.  efficacia  VI  124. 
Den  Spruch  Joh.  14,  6  „Ego  sum  via,  veritas  et  vita"  legt 
Gerhard  so  aus:  via  ratione  meriti,  quod  vera  fide  amplec- 
tendum,  veritas  ratione  doctrinae,  quae  fideli  corde  apprehen- 
denda,  vita  ratione  vitae,  quae  serio  studio  est  imitanda; 
die  Gefahren,  welche  das  Disputationswesen  durch  beständiges 
hypothetisches  Bezweifeln  der  Lehre  mit  sich  bringt,  glaubt 
er  um  des  Interesses  an  der  Wahrheit  willen  nicht  fürchten 
zu  dürfen  2).  Es  ist  die  Grundfrage  aller  positiven  Religion, 
die  diesen  Zusammenhang  beherrscht,  die  Frage  nach  der 
Wahrheit  ihrer  Doktrin  II  347,  351,  356,  und  diese  Frage 
ist  noch  wichtiger  als  sonst  in  einer  Kirche,  welche,  nicht 
zufrieden  mit  der  Poesie  des  Cultus  und  der  treuen  Verrich- 
tung kirchlicher  Pflichten,  jeden  Gläubigen  vielmehr  an  die 
sola  fides  verweist,  Avelche  daher  ihren  ganzen  Cultus  nahezu 
aufgehen  lässt  in  unaufhörhchem  Predigen  und  beim  Unterricht 
blos  das  durch  seine  eigene  göttliche  Kraft  wirksame  Wort 
zur  Kenntnis  zu  bringen  sucht.  Das  Luthertum  hat  von 
Haus  aus  und  seinem  Wesen  nach  einen  stark  doktrinären 
Zug,  der  seinem  praktischen  unmittelbar  rehgiösen  Charakter 
durchaus  nicht  widerspricht,  sondern  vielmehr  gerade  durch 
diesen  hervorgerufen  ist,  insofern  nicht  mehr  ein  vermittelndes 
Kircheninstitut,  sondern  die  an  jeden  Gläubigen  gerichteten 
Worte  Gottes  selbst  ihm  die  Garantie  der  Wahrheit  geben. 
Wenn   gerade  Gerhard   durch   seine  Neubearbeitung   der 


^)  Vgl.  dazu  noch  weiter  die  Stellen :  fides  historica  und  f.  salvi- 
fica  dürfen  nicht  in  Gegensatz  zu  einander  gestellt  werden.  Denn 
media  et  finis  sunt  subordinata,  ncquaquam  igitur  invicem  oppouenda 
VII  172.  Yere  credentium  fides  non  est  dubia  quaedam  et  fallax 
opinio,  sed  opus  Spiritus  S.,  donum  Dei  et  notitia  omni  humanae 
rationis  ac  sensuum  indicio  firmior,  ex  luce  verbi  in  mente  orta  et 
immoto  verbi  fundamento  imnitens  VII  180.  Verbum  evangelii  non 
solum  est  verbum  veritatis  sed  etiam  verbum  gratiae  et  promissionis. 
Priori  modo  respicit  illud  fides,  quatenus  est  notitia  et  adsensus, 
posteriori  vero,  quatenus  est  fiducia  promissioni  illi  inhaerens  VII   179. 

■^)  Aphorismi  succincti,  Jena  1611.  Beides  in  der  Vorrede.  Aus 
ihr  geht  auch  hervor,  dass  er  die  Gefahren  einer  intellektualistischen 
Behandlung  des  Glaubens  sehr  wohl  kennt  und  persönlich  empfindet. 


28 

Schriftlehre  diesen  Zug  bis  zur  äussersten  Konsequenz  durch- 
führte, so  ist  doch  derselbe  Gerhard  auf  der  andern  Seite 
ausgezeichnet  durch  warme  praktische  Frömmigkeit;  zu  jener 
Konsequenz  drängte  ihn  der  kirchliche  Kampf,  in  welchem 
die  neue  Kirche  des  reinen  Gotteswortes  mit  der  alten  Kirche 
der  apostolischen  Tradition  und  bischöflichen  Succession  stand. 
Dieser  Kampf  hatte  sich  naturgemäss  zu  der  Frage  zugespitzt, 
welche  der  beiden  Kirchen  die  besseren  Garantien  für  die 
Wahrheit  der  religiösen  Doktrin  bieten  könne.  Das  Regens- 
burger Religionsgespräch  1601  ^)  hatte  die  Frage  „quis  sit 
norma  et  judex  controversiarum"  zur  Parole  gemacht  und  eine 
ganze  Litteratur  über  diese  Frage  hervorgerufen  ^).  Eine  ent- 
scheidende Tat  in  diesem  Streit  ist  Gerhards  Exegesis  per- 
spicua,  wo  er  in  dem  Hauptkapitel  XXI  de  norma  dogmatum 
et  controversiarum  ausdrücklich  die  hier  aufgerollte  Frage 
beantwortet  II  345  ff.  (Die  Bezugnahme  auf  das  Religions- 
gesjDräch  II  355,  schon  früher  I  32.)  Auch  er  gibt  zu: 
regula  ut  sit  una  eaque  certa,  firma,  invariabiUs  requiritur  I  58, 
und  diese  Regel  darf  nicht  blos  tote  Norm  sein,  sondern 
muss  lebendige  Autorität  sein  nach  Aristoteles  inl  xbv  öi/.a- 
OTYjv  UvaL  eoTLv  fTvl  To  diiüaiov^  6  yoQ  ör/iaarrjg  ßovXeTai  uvau 
Oiov  öUaiov  ejLnpi'xov  I  31.  Aber  er  erkennt  auch  scharf 
den  hier  obwaltenden  Gegensatz:  Ecclesiae  nomine  Romanenses 
intelligunt  summum  pontificem.  Eo  enim  ultima  analysis  hujus 
assertionis  nos  deducit  II  357.  Dem  aber  setzen  die  Evan- 
gelischen die  sich  selbst  auslegende,  von  der  Kraft  des  heiligen 
Geistes  lebendig  erfüllte,  Schrift  entgegen  I  43.  Qui  scriptu- 
rae  autor,  is  supremus  et  authenticus  ejusdem  est  interpres.  Qui 
condit  legem,  optimus  et  supremus  legis  est  interpres  ibid. 
In  der  ausdrücklichen  Absicht,  den  Gegensatz  auf  seine  grund- 
legenden Prinzipien  zurückzuführen,  prägt  er  ihn  schliesslich 
in  den  höchst  charakteristischen  Worten  aus:  Breviter 
quod  illis  est  pontifex  ex  cathedra  pronuntians,  id  nobis  Spiri- 
tus S.   in  scripturis   loquens    I    56.     Damit    ist   in    der   Tat 


^)  Hierüber  Henke  I  66;  Gottfried  Arnold,  Kirchen-  und  Ketzer- 
historie Frankfurt  1699  H  458.  Von  modernen  Historikern  wenig 
beachtet  (bei  Janssen  fehlt  es  ganz),  hat  dasselbe  doch  für  die  Zeit 
grosse  Bedeutung  gehabt  wegen  der  hier  formulirten  Streitfrage. 
Vgl.  Musäus  de  Principiis  p.  10  ff.;  Corn.  Martini,  Analysis  logica, 
Helmstedt  1619  p.  178  und  183  ff.  Als  entscheidend  für  die  prote- 
stantische Theologie  erscheint  dasselbe  bei  Eiswich  75;  von  Braun- 
schweig aus  war  Cornelius  Martini  zu  demselben  gesandt  Brucker 
IV  320;  vgl.  auch  Gust.  Frank,  Gesch.  d.  prot.  Th.  I  420. 

■^)  Verzeichnet  bei  Werner,  Franz  Suarez  und  die  Scholastik  der 
letzten  Jahrhunderte,  Regensburg  1661  I  p.  53. 


29 

die  Situation  scharf  bezeichnet.  Als  Schriftkirche  und  Papst- 
kirche stehen  sich  beide  gegenüber.  Was  der  einen  die  Lehre 
von  der  Schrift  leistet,  das  soll  der  andern  die  von  Papst  und 
Kii'che  leisten,  die  Garantie  der  AVahrheit,  und  es  ist  nur 
natürlich,  dass  sich  beide  Lehren  im  Lauf  des  Streites  ver- 
schärfen. Die  Analogie  in  der  Entwicklung  des  jesuitischen 
Papalsystems  und  der  orthodoxen  Lispirationsdoktrin  ist  unver- 
kennbar und  lässt  sich  weithin  verfolgen.  Ist  es  der  Stolz 
der  Jesuiten,  in  der  Entscheidung  des  ex  cathedra  redenden 
Papstes  eine  lebendige,  allen  Bedürfnisfällen  gewachsene, 
Autorität  gegenüber  der  toten,  jeder  Willkür  der  Auslegung 
preisgegebenen,  der  Protestanten  nachgewiesen  zu  haben  i),  so 
sehen  diese  alle  derartigen  Anforderungen  in  noch  viel  höherem 
Masse  durch  ihre  Fassung  der  Autorität  erfüllt,  durch  die 
absolute  Götthchkeit  der  Schrift,  an  der  schlechterdings  nichts 
Menschliches  haftet  wie  an  der  katholischen  Tradition,  durch 
die  genaue,  allen  Laien  gleich  einleuchtende,  Deutlichkeit  der 
heilsnotwendigen  Artikel,  die  den  Gläubigen  unabhängig  macht 
von  aller  priesterlich-menschlichen  Vermittelung,  durch  die 
innere  bekehrende  Gotteskraft,  welche  dem  Wiedergeborenen 
bei  aller  Anfechtung  stets  wieder  die  Wahrheit  der  Lehre  im 
Herzen  versiegelt  I  31  33.  Stellen  jene  in  der  bekannten 
ungeschichthchen  Weise  die  hierarchisch-kirchliche  Organisation 
als  direkte  Fortsetzung  des  Werkes  Christi  und  der  Apostel, 
als  die  Inhaberin  der  von  diesen  zurückgelassenen  Traditionen 
und  Heilski'äfte,  dar,  so  beschreiben  die  Lutheraner  in  der- 
selben Weise  die  Schrift,  deren  geschichtliche  Seite  als  materia 
zu  völhger  Gleichgiltigkeit  herabgesetzt  wird  II  50,  während 
der  heihge  Geist  als  forma  und  Gott  als  unmittelbare  causa 
efficiens  ihr  eigentliches  Wesen  als  „Brief  Gottes  an  die 
Menschen"  konstituiren  II  17  I  31.  Gilt  jenen  der  Papst 
als  Stellvertreter  Christi,  der  unter  der  Leitung  des  heiligen 
Geistes  jederzeit  der  grossen  Kirche  des  Herrn  die  Wahrheit 
in  Sitte  und  Glaube  vorschreiben  kann,  so  ist  diesen  die 
immerdar  an  sich  vom  heiligen  Geist  erfüllte  Schrift  gewisser- 
massen  eine  zweite,  dauernde  Inkarnation  Gottes  2),  die  jeder 
in  jeder  Not  als  die  in  der  Kirche  tönende  Stimme  Gottes 
befragen  kann,  und  der  allein  es  auch  die  Genossen  der  feind- 
lichen Kirche  zu  danken  haben,  wenn  etliche  zur  Seligkeit 
der  wahren  Kirche  gelangen  I  18  ff.  Hat  schliesslich  die 
römische  Auffassung   ihre   Ergänzung   im   kanonischen   Recht 


^)  Werner,  Suarez  I  159.  -)  Vgl.  II  7,   wo   der  Xoyog  Christus 

als  verbum  internum  und  die  Schrift  als  verbum  externum  in  tempore 
zusammenscestellt  werden.     Dazu  I  31  und  II  426  usus. 


30 

und  der  Lehre  vom  Staat,  so  hat  die  orthodoxe  Schriftdoktrin 
einen  nicht  minder  wichtigen  Unterbau  in  dem  ordo  triplex 
hierarchicus,  der  die  allgemeinen  Lebensfunktionen  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  in  ihrer  Beziehung  auf  das  Erlösungswerk 
der  Schrift  derart  ordnet,  dass  der  Hausstand  als  seminarium 
ecclesiae  für  die  „Vervielfältigung  des  menschlichen  Ge- 
schlechtes" sorgt,  der  politische  Stand  als  vallum  et  propugna- 
culum  ecclesiae  die  reine  Schriftlehre  schützt  sowie  als  Wächter 
der  disciplina  externa  die  Individuen  für  die  Einwirkung  des 
Wortes  bereit  stellt,  und  der  kirchliche  Stand  endlich  als 
Diener  am  Wort  dieselben  hineinführt  und  überpflanzt  in  das 
himmlische  Paradies  (XII  zweiter  Teil  p.  2  ff.,  auch  XIV  40  ff.). 
Es  handelt  sich  in  beiden  Fällen  um  dasselbe,  um  den  Besitz 
der  Quelle,  aus  der  alle  religiöse  Wahrheit  fliesst,  um  die 
Grundlage  der  kirchlichen  Existenz,  und  in  diesem  Sinn  ist  die 
Schrift  für  die  Protestanten  nicht  blos  principium  cognoscendi, 
sondern  als  medium  gratiae  zugleich  das  principium  essendi  ^). 
lila  (Script.)  est  ecclesia  prior  ejusque  principium  et  causa, 
illa  nos  instruit  eum  demum  coetum  pro  ecclesia  habendum 
esse,  qui  normam  et  ductum  verbi  sequatur  II  356. 

Hier  ist  zugleich  an  den  protestantischen  Kanonbegritf  zu 
erinnern.  Erst  der  Protestantismus  hat  einen  streng  ge- 
schlossenen Kanon,  wenigstens  was  das  alte  Testament  betrifft. 
Im  neuen  Testament  lagen  freilich  Unklarheiten  vor,  die  aus 
der  eigentümlichen  Subjektivität  der  lutherischen  Anschauung 
oder  genauer  aus  ihrer  einseitig  paulinischen  Haltung  ent- 
sprangen, bald  aber  auch  zu  historisch-kritischen  Bedenken 
in  Beziehung  gesetzt  wurden.  Nachdem  vor  allem  Chemnitz 
sich  um  Klärung  und  Fixirung  dieser  Frage  bemüht  und  durch 
Abgrenzung  und  historisch-begriffliche  Bestimmung  einer 
Gruppe  „neutestamentlicher  Apokryphen"  die  Gefahr  der  Un- 
sicherheit vermindert  hatte  2),  nahm  Gerhard  in  seiner  bisher 
geschilderten  Neubearbeitung  der  Schriftlehre  dieses  Problem 
in  direkter  Anknüpfung  an  Chemnitz  wieder  auf  und  beseitigte 


^)  Auf  diese  doppelte  Stellung  der  Schrift  macht  Gass  I  239  auf- 
merksam, ohne  auf  die  innere  Beziehung  beider  Gesichtspunkte  ein- 
zugehen; mehr  geschieht  das  bei  Dorner  549,  der  die  Schrift  mit 
Recht  zum  ,,materialen  Prinzip"  werden  lässt.  Vgl.  554,  wo  er  die 
Vergöttlichung  der  Schrift  mit  der  katholischen  Vergöttlichung  der 
Kirche  zusammenstellt,  auch  die  Ausführung  bei  Strauss,  Glaubens- 
lehre I  132  ff.  und  Holtzmann,  Kanon  und  Tradition  1859  p.  49. 

■^)  Vgl.  Holtzmann  33  ff.  152  ff.  Nullum  dogma  ex  istis  libris 
exstrui  debet,  quod  non  habet  certa  et  manifesta  fundamenta  et  testi- 
monia  in  aliis  canonici«  libris.  Das  ist  aber  nichts  anderes  als  die 
Durchsetzung  des  strengen  Kanonbegriffes  gegen  die  Gefahren  der 
Subjektivität. 


31 

die  Gefahr  vollends,  indem  er  den  Unterschied  protokanonischer 
und  deuterokanonischer  Schriften,  wie  er  sie  Heber  nannte, 
auf  den  von  Bekanntheit  und  Unbekanntheit  des  menschhchen, 
sekundären  Autors  reduzirte  und  demgemäss  die  ganze  Unter- 
scheidung als  eine  rein  äusserliche,  nur  docendi  causa  zu  er- 
wähnende, bezeichnete  II  184  tf.  Dabei  ist  es  in  der  Folge 
geblieben,  wo  nicht  der  Unterschied  gänzhch  geläugnet  wurde. 
JDas  ist  aber  nur  konseciuent.  Gerhards  Lehre  vom  Kanon  ist 
nur  die  Folge  seiner  Lehre  von  der  Schrift,  wie  diese  die 
Folge  der  kirchlichen  Lage  ist.  Liegt  freihch  einerseits  der 
Unmittelbarkeit  und  Innerlichkeit  evangelischer  Frömmigkeit 
immer  eine  freiere  Stellung  zum  Kanon  nahe,  so  drängt  an- 
drerseits gerade  der  Mangel  aller  menschlich-kirchlichen 
Wahrheitsgarantien  zu  einer  rein  supranaturalen  und  darum 
bestimmt  gegen  alles  Profane  abgegrenzten  Autorität.  Der 
Kanonbegriff  der  lutherischen  Kirche  befriedigt  dieses  Be- 
dürfnis in  unüberbietbarer  Weise;  die  Schrift,  welche  der  un- 
mittelbar produzirendeEntstehungs-  und  Lebensgrund  der  Kirche 
ist,  muss  ein  inspirirter  Kanon  im  strengsten  Sinne  sein.  Wenn 
man  hierin  gerne  einen  Rückfall  der  evangelischen  Anschauuung 
in  katholische  Tendenzen  sieht,  so  ist  doch  zu  beachten,  dass 
dieser  Kanonbegriff  gegenüber  dem  katholischen  durchaus  etwas 
Neues  ist.  Der  katholische  Kanon  ist  stets  ein  Glied  der 
grossen  kirchlichen  Traditionskette,  ein  Stück  des  weltum- 
fassenden, kirchlichen  Rechtsinstitutes,  fortzeugend  und  von 
ähnlichen  andern  Stücken  des  Kircheninstitutes  umgeben,  das 
Eigentum  der  Kirchenleitung,  die  allein  diesen  Reichtum  zu 
übersehen  und  zu  verAvalten  hat.  Der  protestantische  Kanon 
ist  eine  völlig  isohrte,  rein  supranaturale,  aus  der  obern  Welt 
in  die  profane  hereinwirkende  Grösse,  weder  nach  vorwärts 
noch  nach  rückwärts  mit  irgend  etwas  verbunden,  der  alleinige 
und  unmittelbar  von  Fall  zu  Fall  wirkende  Urheber  der  Kirche, 
das  unentbehrliche  Requisit  jedes  einzelnen  Christen,  der  nur 
als  treuer  Bibelleser  ein  Mitghed  der  Kirche  zu  sein  hoffen 
darf.  Das  sind  zwei  grundverschiedene  Dinge  i).  Eine  Ähn- 
lichkeit findet  nur  in  Bezug  auf  die  Motive  statt,  die  in  dem 
einen  Fall  das  infalhble  Kircheninstitut,  im  andern  die  prote- 
stantische Schriftlehre  geschaffen  haben,  die  aber  immer  und 
überall  jeder  Religion  eingeboren  sind. 

Besonders  deutlich  wird  dieser  Zusammenhang  durch  einen 


^)  Dieser  Unterschied  wird  auch  stets  von  den  Katholiken  scharf 
hervorgehoben.  Vgl.  Holtzmann  p.  4  und  8.  Wenn  das  Tridentinum 
schärfer  scheidet  zwischen  Kanon  und  Tradition,  so  ist  das  nur  eine 
Rückwirkung  des  Protestantismus   ibid.  25  ff. 


32 

vergleichenden  Blick  auf  den  andern  grossen  Theologen  des 
Zeitalters,  Georg  Calixt.  Mit  vollem  Kecht  stellt  Henke  für 
die  Wendung,  welche  die  Prinzipienlehre  bei  diesem  scharfen 
und  hellen  Geist  genommen  hat,  ebenfalls  den  kirchlichen  Kampf 
als  Ausgangspunkt  fest^).  Im  Ganzen  mit  der  allgemeinen 
lutherischen  Prinzipienlehre  völlig  einverstanden,  erkennt  er  doch 
die  Unmöghchkeit,  das  angestrebte  Ziel,  die  absolute  Klarheit 
und  Sicherheit  der  Lehre,  durch  eine  solche  Kanonisirung  des 
ganzen  biblischen  Stoffes  für  erreicht  zu  halten,  da  auch  dann  noch 
die  Subjektivität  der  Auslegung  und  die  Eigenart  des  patristischen 
Dogmas  unüberwindliche  Schwierigkeiten  bereiten,  und  so  das 
Fundament  der  Kirche  durch  endlose  Lehrstreitigkeiten  ge- 
fährdet ist.  Zugleich  erkannte  er,  dass  damit  die  lutherische 
Kirche  in  bedenkhcher  Weise  aus  der  geschichtlichen  Conti- 
nuität  der  grossen  kirchlichen  Entwickelung  heraustrete.  Er 
suchte  daher  diesen  Schwierigkeiten  dadurch  zu  entgehen,  dass 
er  aus  der  inspirirten  Schrift  ein  von  jedem  zu  verlangendes, 
unerlässhches  Minimum  von  gemein-kirchlicher  Doktrin  aus- 
schied und  das  Übrige  der  gelehrten  Controverse  anheimgab; 
für  die  Ausscheidung  aber  und  Fixirung  dieses  Minimums  zog 
er  die  altkirchliche  Tradition  heran.  Hieran  ist  deuthch,  wie 
das  Bestreben,  der  Schrift  die  Qualitäten  des  Papstinstituts 
zuzuwenden,  um  der  Schwierigkeit  der  Durchführung  willen 
zu  immer  engerem  Anschluss  an  das  römische  Vorbild  nötigt  ^). 
Die  Analogie  beider  Lehrbildungen  mündet  hier  in  direkte 
Berührung  aus,  ein  Beweis  für  die  innere  Verwandschaft  der 
beiderseitigen  Ansätze.  Dennoch  wird  man  in  all  dem  nicht 
blos  eine  Bückwirkung  spezifisch  katholischer  Eigentümlichkeiten 
erkennen  dürfen,  sondern  vielmehr  die  Wirkung  eines  allge- 
meinen religionsgeschichtlichen  Gesetzes,  dem  zufolge  zwischen 
den  doktrinären  Elementen  einer  Behgion  und  ihrem  prak- 
tischen Wesen  als  Lebensmacht  und  Heilsgut  einerseits  eine 
unlösHch  enge  Verbindung,  andererseits  aber  auch  eine  nie 
ganz  zu  beseitigende  Antinomie  besteht.  Die  Papstkirche  und 
die  Schriftkirche  stellen  diesen  Zusammenhang  und  diese  An- 
tinomie nur  in  verschiedener  Weise  dar,  jene  in  einem  mäch- 
tigen welthistorischen  Institut,  diese  in  einer  Theorie.  Den 
engen  Zusammenhang  von  Doktrin  und  Praxis  gerade  in  der 
letzteren  bezeugt  eben  derselbe  Calixt,  der  neben  seinem  ur- 
doktrinären Gedanken  von  einem  Lehrminimum  zugleich  ein 
hervorragend   lebhaftes  Gefühl    für  die  Eigenart  der  Religion 


*)  Henke  I  442  ff.  ^)  Auch  Calixt  bezeichnet  mit  aller  Schärfe 

Papsttum   und   Schrift   als    die   konkurrirenden    Grössen    Gass  II  117, 
Holtzmann  44  ff. 


33 

gegenüber  dem  Intellekt  besass  ^).  Die  beiden  Häupter  lutheri- 
scher Gelehrsamkeit,  Gerhard  und  Calixt.  stimmen  nach  beiden 
Richtungen  völlig  iiberein,  weshalb  Henke  auch  mit  Recht 
sie  als  „geistesverwandt"  bezeichnet  ^) ;  nur  die  Beurteilung  der 
der  lutherischen  Schriftdoktrin  entgegenstehenden  Schwierig- 
keiten ist  verschieden. 

Es  ist  daher  nur  selbstverständlich,  dass  die  gleiche  Doppel- 
natur auch  dem  dies  Objekt  auffassenden  habitus  animae,  der 
fides,  anhaftet.  Die  Definition  derselben  als  notitia,  assensus, 
liducia  ist  bekannt;  es  kommt  hier  nur  darauf  an,  diese  De- 
finition als  technisch-wissenschaftliche  nach  den  Regeln  ..aristo- 
telischer" Psychologie  zu  begreifen.  Ganz  allgemein  fällt  die 
fides  unter  die  Kategorie  der  apprehensio.  Joh.  I5  VII  234. 
Näher  aber  unterscheidet  sich  die  fides  von  allen  andern  Geistes- 
tätigkeiten, insofern  diese  je  einem  Seelenvermögen,  der  potentia 
intellectiva  oder  der  p.  voluntatis,  angehören,  die  fides  aber  als 
komplizirte  Grösse  beiden  angehört^).  Über  die  Bedeutung  des 
Intellekts  hiebei  geben  folgende  Stellen  Auskunft:  Flaoa 
airdösi^Lg  est  ex  frQOvn:aQxovot]g  yvioaecog  teste  Aristotele  in 
frontispicio  post.  anal.  Ergo  fides  ex  praeexistente  cognitione  .  .  . 
Fides  est  fiducia,  ergo  et  notitia,  quia  in  rem  ignotam  non  potest 
ferri  fiducia.  Fides  nos  in  corde  certos,  pacatos  et  quietos 
reddit,  utique  ergo  requiritur,  ut  fundamentum,  cui  innititur, 
perspectuni'  atque  cognitum  habeat  YII  77.  Ebenso  VII  97. 
Die  fides  ist  also  eine  aus  den  beiden  Seelenvermögen,  intel- 
lectus  und  voluntas,  zusammen  konstruirte  Grösse,  und  diese 
teilweise  Konstruktion  aus  dem  Willen  soll  wohl  ungefähr 
dasselbe  besagen,  was  wir  in  der  Sprache  moderner  Psycho- 
logie als  Gefühl  bezeichnen,  wofür  aber  jene  alte  Psychologie 
kein  Wort  darbot^).     Der   Zweck   des  Begriffes   assensus  ist 


')  Henke  I  290  ff.  ^^  Henke  I  491. 

^)  Duplex  ergo  cum  sit  apprehensio,  alia  cognitionis  in  intellectu, 
alia  fiduciae  in  voluntate,  utramque  dicimus  fidem  ineludere  VII 
234.  Respectii  notitiae  et  assensus  refertur  (fides)  ad  intellectum 
atque  objecti  loco  habet  omne  et  solum  verbum  Dei  in  scripturis  .  . 
nobis  revelatum,  respectu  fiduciae  refertur  ad  cor  sive  voluntatera 
atque  objecti  loco  habet  promissiones  evangelicas  de  Christo  mediatore 
YII  75  ff. 

■*)  Die  "Worte  sensus  und  sentire  werden  oft  gebraucht,  sind  aber 
kein  wissenschaftlicher  Terminus.  Daher  ist  die  Bemerkung  A.  Ritschis, 
Geschichte  des  Pietismus,  Bonn  1880  I  93,  dass  der  Doktrina- 
rismus aus  der  mangelhaften  Schätzunp^  des  Gefühlslebens  entsprungen 
sei,  wohl  etwas  einzuschränken.  Auch  die  Beurteilung  dieser  Definition 
Fides  implicita  p.  96  scheint  mir  das  Gefühl  Gerhards  für  die  prak- 
tische Eigenart  des  Glaubens  doch  zu  unterschätzen.  Vgl.  Ex  qua 
sententia  (Ebr.  6,  11)  facili  negotio  colligi  potest,  nXriooq.>oQi(iv  fidei  non 


34 

hiebei  der,  ein  Mittelglied  zwischen  den  beiden  Seelenvermögen 
zu  bilden  1).  Durch  diese  künstlich  zusammengesetzte  Gestalt 
erscheint  die  lides  in  einem  scharfen  Unterschied  von  den  ein- 
fachen Seelenfunktionen  der  Yernunftsphäre.  AVie  streng 
wissenschaftlich  aber  diese  Konstruktion  gemeint  ist,  erhellt 
aus  der  Antwort  auf  die  katholischen  Angriffe,  die  eine  solche 
aus  zwei  Seelen  vermögen  gemischte  Funktion  für  ein  wissen- 
schaftliches Unding  erklären  VII  95  ff.  ^j.  Demgegenüber 
wird  ei-st  allerdings  auf  die  Schrift  verwiesen,  dann  aber  wird 
die  doppelte  Konstruktion  auch  noch  eingehend  aus  den  philo- 
sophischen Autoritäten,  Scaliger  und  den  Conimbricenses,  und 
sogar  aus  Thomas  als  Zeugen  wider  Willen  gerechtfertigt. 

Bei  alledem  ist  die  notitia  nicht  mehr  als  Mittel  zum 
Zweck,  blosse  Basis  für  die  eigentlich  religiöse  Funktion.  Forma 
et  quasi  anima  fidei  justificantis  est  fiducialis  Christi  cum  Om- 
nibus beneficiis  in  verbo  evangelii  oblatis  apprehensio  VII  843). 
Daher  soll  alle  Theologie  praktisch  und  einfach  sein,  nicht 
intellektuaHstisch,  wie  es  die  Scholastik  war  III  217  223^). 
Denn    der    Glaube    ist    lediglich    notitia    spiritus    VIII    172 


tantum  ad  meutern  pertinere,  sed  etiam  complecti  illos  motus  animi, 
qui  ex  certa  persuasione  consequuntur.  Spem  enim  in  voluntate  esse 
omnes  fatentur  VII  98. 

*)  Quinimmo  iit  fides  captivat  intellectum,  ut  assentiatur  articulis 
fidei,  licet  cum  ratione  humana  pugnare  videantur,  ita  quoque  con- 
vincit  et  captivat  quasi  voluntatem,  ut  superatis  omnibus  dubitationibus 
promissiones  evangelicas  firma  fiducia  amplectatur,  licet  sensui  carnis 
nostrae  videantur  repugnare  VII  100. 

^)  Vgl.  auch  die  Anmerkung  Cottas  hiezu.  Darnach  folgt  Gerhard 
dem  Meisner  in  der  genauen  Begründung  dieser  Konstruktion  auf  die 
zwei  subjecta  perfectionis,  intellectus  und  voluntas. 

^)  Vgl.  ferner :  Vere  Deus  cognoscitur  ac  nomen  ejus  glorificatur, 
si  divinam  ipsius  sapientiam,  misericordiam,  justitiam,  potentiam  ac 
veritatem,  quae  sunt  ipsa  Dei  essentia,  in  verbo  evangelii  relucentem 
agnoscamus  VI  131  ff.  Vera  fides  Christum  intuetur,  ut  propitiatorium 
a  Deo  propositum,  ut  victorem  mortis  et  ducem  vitae,  immo  ut  eum, 
in  quo  est  vita  aeterna  VII  180.  Ähnlich  VII  205  und  182.  Christus 
in  verbo  et  sacramentis  suara  gratiam  et  animae  nostrae  medicinam 
nobis  adfert,  illis  sese  quasi  vestivit,  in  illis  vult  quaeri  et  inveniri 
XVII  127.  Solche  Stellen  liessen  sich  noch  viele  anführen.  Aus  den 
Meditationen  erhellt,  dass  sie  ganz  so  warm  und  lebendig  gemeint 
sind,  wie  sie  lauten. 

*)  Vgl.  hiezu  noch  III  72 :  Ut  ergo  practica  Dei  definitio  a 
charitate  petitur,  ita  etiam  practica  ejus  cognitio  in  charitate  consistit. 
Nihil  quicquam  prodest  substantialem  illam  charitatem  non  amare. 
Omnia  Dei  opera  et  beneficia  generi  humano  exhibita  eo  unice  spec- 
tant,  ut  ad  amandum  Deum  nos  alliciant  .  .  .  Plus  quam  ferrea  igitur 
oportet  esse  corda,  quae  tanti  amoris  igne  non  molliuntur,  ut  Deum 
creatorem,  Deum  reparatorem,  Deum  sanctificatorem  diligant.  Vgl. 
auch    die    Vorrede    zu    den    Meditationes    sacrae,    wo    mit    den    Aus- 


35 

V  172,  spiritualis  oivsoig  VII  150  79,  er  sieht  nicht  auf 
das  „AVie",  sondern  nur  auf  das  „Dass"  seines  Gegenstandes 
und  unterscheidet  sich  gerade  dadurch  vom  natürhchen  Er- 
kennen VII  78  ff.  Er  ist  das  Gegenteil  des  Zweifels  und 
des  Misstrauens  gegen  Gott,  die  in  der  natürlichen  Sphäre 
herrschen,  die  Erfüllung  der  ersten  Tafel  des  Gesetzes  VII 
115.  Ubi  non  est  dilectio  nee  mundi  victoria  nee  cordis 
puritas  nee  interior  renovatio  et  cum  Christo  unio,  ibi  etiam 
vera  tides  non  habet  locum.  Monendum  tamen  haec  omnia 
inteUigenda  esse  adhibita  distinctione  inter  notitiam  literae  ac 
Spiritus,  inter  tidem  consideratam  ratione  notitiae  et  ratione 
üduciae  etc.  Meth.  21,  und  so  kann  es  auch  heissen  vera  theo- 
logia  in  affectu  potius  quam  in  nuda  cogitatione  consistit 
Meth.  20^).  Daher  ist  der  Glaube  jene  in  der  zweiten  Schöpfung 
geschaffene  lux  spiritualis,  durch  das  AVort  geschaffen  wie  einst 
das  erste  Licht  (II  342  und  öfter),  eine  Geisteskraft,  die  aus 
dem  misstrauischen  Feind  Gottes  (VIII 15)  ein  ihm  bedingungslos 
vertrauendes  Kind  m.acht  V  102  197  ff. 

Ist  so  der  Glaube  das  Prinzip  eines  neuen  geistlichen 
Lebens,  so  ist  er  auch  zugleich  ein  Vorspiel  des  ewigen  Lebens 
Meth.  5,  er  wird  im  Jenseits  nicht  aufgehoben,  sondern  vol- 
lendet werden  ^).  AVie  vom  Glauben,  so  gilt  von  dieser  vollen 
Gotteserkenntnis  Deum  cognoscere  est  diligere  XVIII  19,  und 
wie  hier,  so  besteht  auch  dort  der  Glaube  in  gemeinsamer 
Funktion  von  Intellekt  und  AVille  s).    Daher  wird  die  wissen- 


drücken der  humanistischen  Theologie  wie  bei  Melanchthon  und 
in  direkter  Berufung  auf  Erasmus  die  spinosae  quaestiones  getadelt 
■werden  und  die  n^d^ig  hervorgehoben  wird.  Non  in  verbis,  sed  in 
factis  res  nostrae  religionis  consistunt.  Multum  ubique  scientiae,  con- 
scientiae  parum  .  . .  Digladiamur  sine  fine,  quid  distinguat  Patrem  a 
Filio  et  utrumque  a  Spiritu  Sancto,  res  an  relatio,  et  qui  consistat 
tres  dici,  quorum  nullus  sit  qui  alius,  cum  sint  una  essentia.  Quanto 
magis  ad  rem  pertinet,  hoc  modis  omnibus  agere,  ut  Trinitatem  illam, 
cujus  majestatem  scrutari  fas  non  est,  pie  sancteque  colamus  et  ado- 
remus  etc.  In  dem  pointirten  Stil  dieser  Sätze  gibt  sich  zugleich  der 
litterarische  Charakter  des  Zeitalters  zu  erkennen,  der  überall,  wo  man 
überhaupt  dem  Stil  Aufmerksamkeit  schenkt,  als  Nachhall  des  Huma- 
nismus erscheint. 

^)  Dagegen  aber  auch  andere  Sätze  wie:  theologia  est  oraculorum 
divinorum  cognitio  II 1.   Beides  verträgt  sich  durchaus  in  Gerhards  Sinn. 

2)  Fidei  sane,  ut  est  cognitio  in  speculo,  succedet  manifesta  visio 
nee  ami^lius  occupata  erit  fides  in  apprehensione  promissionis  evan- 
gelicae  de  peccatorum  remissione,  interim  tamen  lux  notitiae  et  fiducia 
in  voluntate  non  abolebitur,  sed  perficietur  VII  306.     Vgl.  VII  312. 

^)  Quo  perfectior  erit  summi  boni  cognitio,  eo  etiam  perfectior 
erit  ejusdem  dilectio  .  .  .  Adde  quod  ex  cumulatissima  omnium  bonorum 
abundantia  divinitus  in  se  collata  et  ex  intimo  amoris  sensu  beati  evi- 


36 

schaftlich-psychologische  Bestimmung  des  ewigen  Lebens  mit 
Hilfe  Scaligers  gegen  Thomas  dahin  getroffen,  quod  utrius- 
que  potentiae,  intellectus  scilicet  ac  voluntatis,  respectu  beati- 
tudo  aeque  principaliter  et  immediate  electis  competat,  quia 
iitriusque  ratione  Deum  possidebunt,  per  claram  scilicet  visionem, 
quae  est  intellectus,  et  per  firmam  adhaesionem  ac  fruitionem, 
quae  est  voluntatis  XX  460.  Doch  zeigen  die  bereits 
angeführten  Stellen,  dass  auch  hier  die  intellektuelle  Funktion 
nur  Mittel  zum  Zweck  der  rehgiösen  ist.  Daher  heisst  es 
auch  hier:  Ergo  in  amore  potius  quam  in  visione  summum 
beatorum  bonum  consistit;  die  Hauptsache  ist  der  himmlische 
Hausfriede,  wo  Gott  wie  ein  paterfamilias  familiariter  cum 
suis  in  domo  conversatur  (XX  295),  die  Reinheit  des  Herzens 
von  aller  Sünde  (VII  312  VII  295),  die  suavissima  con- 
sociatio  cum  beatis  (XX  447).  Vigebunt  inter  sanctos  per- 
petua  et  jucundissima  colloquia  de  passionis  dominicae  fructu, 
aeterna  scilicet  beatorum  glorilicatione,  ac  de  aliis  fidei  nostrae 
mysteriis,  ad  quorum  perfectam  agnitionem  in  hac  vita  adspirare 
nondum  potuerunt  ibid.  Diese  Gespräche  würde  man  sich 
wohl  in  der  Art  der  Gerhardschen  Meditationen  zu  denken 
haben,  wie  er  solche  auch  dem  locus  de  vita  aeterna  voll  er- 
greifender Wärme  und  Xaivetät  beigegeben  hat.  Zeigt  sich 
hierin  freilich  die  Eigenart  Gerhards,  des  Schülers  und  Freundes 
Job.  Arndts,  so  wird  man  doch  in  den  Ausführungen  über 
fides  und  vita  aeterna  als  Ganzem  das  Ideal  der  Religion 
finden  dürfen,  wie  es  in  der  eigentümlichen  Verbindung  des 
doktrinären  und  praktischen  Momentes  von  der  orthodoxen 
Schriftkirche  überhaupt  ausgebildet  worden  ist^). 


denter  cognituri  sunt,  se  a  Deo  in  siimmo  gradu  diligi,  ideo  ipsum 
quoque  in  summo  et  perfeotissimo  gradu  amabunt,  ex  quo  amore  erga 
Deum  etiam  amor  erga  proximum  orietur,  quem  in  Deo  et  sub  Deo 
diligent  XX  413.  Quia  beatus  nemo  dici  potest,  nisi  bona  quibus 
adfluit,  intelligat  cognoscat  ac  velit,  ideo  beatitudinis  nomine  intelli- 
gitur,  quod  electi  suam  beatitudinem  agnoscant  per  intellectum, 
summe  ament  per  voluntatem  quiete  et  pacate  in  ea  acquiescant  per 
cordis  affectum.  ex  qua  acquiescentia  oritur  summum  illud  et  ineffabile 
gaudium,  quo  Deo  tamquam  summo  et  infinito  bono  fruuntur  XX 
365.  Ferner :  Haec  pax  animarum  non  est  iners  otium  vel  veternus 
aliquis,  sed  tranquillitas  laetitia  et  p  ax  conscientiae  inDeoexul- 
tantis,  ab  omni  dolore  et  pavore  liberatae,  Dei  luce  fruentis  et  Deum 
celebrantis,  ut  infra  plenius  docebitur  XVIII  8. 

^)  Die  Belege  sind  so  ausführlich  mitgeteilt,  da  Kaftan  a.  a.  0. 
in  sehr  bestechender  Weise  den  Versuch  gemacht  hat,  hierin  das  my- 
stisch-rationalistische Religions-  und  Erkenntnisideal  des  Katholizismus 
nachzuweisen.  Es  scheint  mir  das  aber  unmöglich,  weil  die  praktische 
Färbung  nicht  mystisch,  die  doktrinäre  nicht  rationalistisch  ist,  sondern 
das  ganze  Interesse    nur   auf  die  volle  Wahrheit  der  Glaubensobjekte 


37 

Als  letzte  Frage  in  Betreff  der  theologischen  Sphäre  ist 
schliesshch  noch  zu  untersuchen,  durch  welche  Gründe  etwa 
diese  isohrte  Stellung  der  Offenbarung  im  Erkenntnisgebiet 
und  des  Glaubens  im  Seelenleben  gerechtfertigt  oder  etwa  aus 
einer  obersten  einheitlichen  Anschauung  abgeleitet  wird.  Allein 
hierauf  findet  sich  bei  Gerhard  so  wenig  als  anderswo  eine 
Antwort;  die  Schrift  und  die  Philosophie  waren  beide  vor- 
banden  und  brauchten  nicht  mehr  abgeleitet  zu  werden,  es 
bedurfte  nur  einer  die  Dignität  der  Schrift  erklärenden  Inspi- 
rationslehre 1)  und  ausserdem  einer  Prinzipienlehre,  welche  die 
vorhandene  Philosophie  für  die  so  bestimmte  Offenbarung  zu 
gleicher  Zeit  nutzbar  und  doch  auch  unschädlich  machte. 
Was  sich  sonst  etwa  findet,  sind  nur  gelegentliche  Bemerkungen 
ohne  prinzipielle  Bedeutung,  wie  z.  B.  die  Ableitung  der  Offen- 
barung aus  dem  Bedürfnis  geistlicher  Neubelebung  (Meth.  5 
und  24,  II  283),  oder  die  Anspielung,  dass  rationale  Unbe- 
greiflichkeit überhaupt  zum  Wesen  der  Offenbarung  gehöre 
{II  343  III  3),  dass  es  der  Natur  Gottes  entspreche,  sich  an 
die  vernünftigen  Geschöpfe  mitzuteilen  (II  3),  oder  die  An- 
deutung, als  ob  der  Trennung  eine  verborgene  höhere  Einheit 
zu  Grunde  liege  (XVII  29  ff'.).  Man  erkennt  auch  hier,  dass 
es  gerade  zu  den  Grundeigentümlichkeiten  der  ganzen  bibliko- 
aristotelischen  Gelehrsamkeit  gehört,  keiner  einheitlichen  Ge- 
sammtauffassung zu  bedürfen,  das  isolirte  Einzelne  nach  den 


gerichtet  ist,  der  Glaube  und  die  Seligkeit  selbst  aber  überall  dem 
Willen  und  Gewissen  angehören.  Dass  daneben  eine  gewisse  Freude 
an  der  Erkenntnis  der  ,, göttlichen  Geheimnisse"  sich  geltend  macht, 
ist  bei  der  Voraussetzung  der  Möglichkeit  objektiver  Erkenntnis  nur 
natürlich,  nicht  spezifisch  scholastisch.  Auch  dass  die  Theologie  als  Weg 
zur  Seligkeit  erscheint  (Kaftan  p.  161  ff.),  ist  unverfänglich,  da  diese 
Theologie  nicht  in  Erkenntnis  der  letzten  Gründe  des  Seins,  sondern 
in  Kenntnis  der  Glaubensobjekte  besteht  und  so  allerdings  für  Theo- 
logen und  Laien  gleich  nötig  ist.  —  Auch  der  Dualismus  der  Er- 
kenntnislehre oder  das  Autoritätsprinzip  stammt  lediglich  aus  dem  Be- 
dürfnis nach  Sicherstellung  der  Glaubensobjekte,  nicht  aus  dem  nach 
übernatürlicher  Erkenntnis,  ist  daher  gegen  die  scholastischen  Theorien 
indifferent.  Der  Thomismus  wird  als  Rationalismus  scharf  verurteilt. 
Die  Ähnlichkeit,  die  Kaftan  mit  diesem  konstatirt  (p.  153),  besteht  nur 
in  der  Festhaltung  der  Einheit  der  Erkenntnis;  allein  bei  den  Ortho- 
doxen beruht  diese  Einheit  ausschliesslich  in  der  Coexistenz  zweier 
qualitaciv  streng  geschiedener  Erkenntnissphären,  nicht  in  der  prin- 
zipiellen, nur  empirisch  getrübten,  Identität  alles  Erkennens.  Im 
übrigen  ähnelt  ihre  Theorie  am  ehesten  dem  Nominalismus;  doch 
fehlen  gerade  die  Eigentümlichkeiten  desselben,  seine  erkenntnis- 
theoretischen und  besonders  metaphysischen  Voraussetzungen,  völlig, 
und  durch  den  Satz  vom  verus  usus  philosophiae  wird  er  direkt  ab- 
gewiesen. 

»)  So  auch  Kaftan  149  ff. 


38 

erlernten  Regeln  zu  verteidigen  und  so  alle  Konflikte  ohne 
ein  inhaltlich  bestimmtes  Prinzip  nur  stets  von  Fall  zu  Fall 
zu  schlichteuj  in  allem  übrigen  sich  aber  der  klaren,  hellen 
Gottesstimme  des  heihgen  Buches  zu  getrösten,  das  in  jeder 
heilsnotwendigen  Frage  Auskunft  gibt,  ohne  dass  man  deren 
Wahrheit  durch  Ableitung  oder  durch  Ausgleichung  mit  an- 
derem zu  erhärten  brauchte. 

Etwas  kürzer  fassen  kann  sich  die  Betrachtung  der  philo- 
sophi sehen  Sphäre,  für  die  man  sich  von  vornherein  die 
ganze  Enzyklopaedie  der  Artistenfakultäten  mit  ihren  Diszi- 
plinen 1)  und  Kompendien,  sowie  einige  einflussreiche  Werke  der 
auswärtigen  Litteratur  zu  vergegenwärtigen  hat.  Gerhard  hat 
sich  dieselbe  in  vollem  Umfang  angeeignet,  natürlich  ohne  jede 
besondere  Originalität.  Es  handelte  sich  ja  in  der  Philosophie 
nicht  weniger  als  in  der  Theologie  lediglich  um  kunstgerechte 
Bearbeitung  gegebener  Stoffe,  um  Lernen  und  Lehren,  nicht 
um  Produziren,  und  für  Aristoteles  sowie  für  andre  Autoritäten 
wagte  man  ebenfalls  eine  gewisse  Inspiration  anzunehmen  2). 
Lmerhalb  dieser  Grenzen  hat  Gerhard  dennoch  sehr  folgenreich 
auch  in  die  philosophische  Entwickelung  eingegriffen,  insofern 
er  die  neu  aufkommende  Metaphysik  für  die  Theologie  rezi- 
pirte  und  somit  die  Weiterentwickelung  der  Philosophie  theo- 
logisch sanktionirte.  Davon  wird  später  die  Bede  sein.  Hier 
ist  nur  soviel  zu  sagen,  dass  auch  seine  philosophischen  Studien 


^)  Ein  Abriss  derselben  Meth.  93  ff.,  Meisner,  Phil.  sob.  I  22  ff. 
Keckermann,  Systema  Systematura,  Hanau  1613  II  6  ff.  Calixt,  Appa- 
ratus  15 — 34.  Jakob  Martini,  Paedia  seu  prudentia  in  disciplinis  gene- 
ralis, Wittenberg  1631  p.  705  ff.  und  Vernunftspiegel  Buch  II. 
Jakob  Thomasius,  Philosophia  Instrumentalis  et  theoretica,  Leipzig 
1705.  Buddeus,  Isagoge,  Abschnitt  de  propaedeumatibus  theologicis 
93  ff.  Mit  Vorsicht  sind  auch  noch  Morhofs  Polyhistor,  Lübeck  1705 
und  Reimmanns  Einleitung  zu  benützen.  Mit  geringen,  später  zu 
erwähnenden,  Unterschieden  ist  der  Bestand  der  Disziplinen  in  diesen, 
fast  ein  Jahrhundert  umfassenden,  Darstellungen  unverändert  geblieben. 
Von  auswärtigen  kommen  besonders  die  italienischen  Peripatetiker  und 
die  jesuitischen  Kommentatoren  des  Aristoteles  in  Betracht.  —  Für 
Reiramann  erscheinen  als  Früchte  des  Fakultätsbetriebes  die  bisher  für 
jede  angefertigten  Litteraturverzeichnisse,  und  was  ihm  als  Krone  des 
Ganzen  noch  fehlt,  das  ist  eine  Enzyklopädie  der  Enzyklopädieen  und 
eine  Litterargeschichte  der  Littet  argeschichten !     I  17. 

'^)  Eiswich  82,  der  von  einem  berühmten  Mann  berichtet,  er  habe 
das  oQyccror  des  Aristoteles  als  dsonvavaiwg  scriptum  bezeichnet ; 
ferner  Henke  I  29.  Die  Darstellung,  w^elche  Ranke,  Deutsche  Gesch. 
V  338  ff.  von  der  Wissenschaft  des  nachreformatorischen  Zeitalters 
gibt,  sucht  die  spärlichen  selbständigen  Regungen  auf  und  gewährt 
insofern  ein  etwas  anziehenderes  Bild.  Kepler,  Jungius,  Tassius,  Arnos 
Comenius  sind  allerdings  nicht  zu  vergessen. 


39 

das  gewöhnliche  Mass  übei-schritteii  zu  haben  scheinen  i).  So 
hat  er  vor  Beginn  der  theologischen  Semester  in  AVittenberg 
den  ganzen  philosophischen  Kursus  absolvirt,  totius  philosophiae 
encyclopaediam,  lectiones,  disputationes  et  collegia  philosophica 
gnaviter  absolvit.  wie  sein  Leichenredner  Feuerborn  sagt  ^). 
Zu  den  öffentlichen  Kollegien  fügte  er  eine  grosse  Anzahl 
privater  hinzu,  Logik  und  Ethik  hörte  er  mehrfach.  Durch 
eine  pliysikalische  und  anthropologische  Disputation  bewies  er 
den  glänzenden  Erfolg  seiner  Studien,  seinem  Privatfleiss  dankte 
er  ein  starkes  Kollektaneenheft,  das  er  aus  den  berühmtesten 
Commentatoren  des  Aristoteles  zusammengestellt  hatte,  und  von 
dem  uns  wohl  in  seinen  locis  noch  manches  erhalten  ist 
(Fischer  17  fP.).  Darauf  machte  er  1603  in  Jena  das  Magister- 
examen und  las  sofort  collegium  logicum  Aristotelicum,  drei 
Monate  darauf  PoHtik,  spater  Metaphysik,  wie  üblich,  nach 
fremden  Heften  ^),  während  er  daneben  Theologie  weiter  studirte 
(Fischer  27  ff.).  Auch  nachdem  er  seine  theologischen  Studien 
nach  Marburg  verlegt  hatte,  fuhr  er  fort,  zugleich  als  Magister 
philosophische  Lektm^en  zu  halten,  und  erteilte  daneben  3^/^ 
Jahre  lang  seinem  Schüler  Rauchbar  Unterricht  im  ganzen 
philologisch-philosophischen  Kursus  mit  Einschluss  des  systema 
metaphysicum.  Im  Jahre  1605  wurde  er  Adjunkt  der  philoso- 
phischen Fakultät  in  Jena  und  setzte  in  dieser  Mittelstellung 
zwischen  Professor  und  Privatdozent  ^)  seine  philosophische 
Lehrtätigkeit  fort,  bis  er  1606  als  Prälat  nach  Heldburg  be- 
rufen wurde  (Fischer  45  ff.). 

Dieser  Studiengang  zeigt  seine  eingehende  Beschäftigung 
mit  der  Philosophie,  er  zeigt  zugleich  den  ganzen  Kreis  der 
philosophischen  Sphäre.  In  Wittenberg  hörte  er  Rhetorik  und 
Logik,  Mathematik,  Physik  und  Anthropologie,  Ethik  und 
Historie.  Ganz  dementsprechend  beschreibt  er  den  Umkreis 
der  Disziplinen  in  seiner  Methodus  (p.  93)  ^),  wobei  er  den  philo- 


')  Das  gellt  auch  aus  seinem  interessanten  Testament  von  1603 
hervor,  wo  er  seine  Kollegen  um  Verzeihung  bittet,  wenn  er  etwa 
„zu  viel  speculationibus  philosophicis  indulgirt"  hätte.     Fischer  Vita  35. 

■^)  Im  Anhang  zu  Joh.  Gerhardi  Patrologia,  Jena  1653  p.  27. 
Das  war  keineswegs  gewöhnlich  Tholuck-,  Ak.  Leben  I  231  fF. 

^)  Fischer  487.  Fischer  redet  hier  auch  von  Collegien,  die  er 
in  Wittenberg  gehalten  hätte;  das  ist  aber  wohl  ein  Irrtum  für  Jena, 
da  Gerhard  in  Wittenberg  noch  gar  nicht  gelesen  hat.  —  Übrigens 
müssen  seine  Leistungen  in  der  Politik  ziemlich  schlimm  gewesen  sein 
nach  seinem  eigenen  Zeugnis  (Fischer  381):  ,,tumultuariscli  und  ohne 
Urteil  zusammengeflickt,  da  er  sie  eigentlich  vorher  nicht  studirt,  ja 
nicht  einmal  einen  Vortrag  darüber  gehört  habe". 

*)  Tholuck,  Ak.  Leben  I  50. 

^)  Hier   ist   nur   noch   die   erst    nach   seiner   Studienzeit    an   den 


40 

sophisclien  Kursus  in  seine  beiden  grossen  Teile  zerlegt,  die 
Instrumentalphilosophie  und  die  Realphilosophie,  welche  letztere 
in  eine  theoretische  und  praktische  zertällt.  Das  Objekt  dieser 
Sphäre  ist  die  Natur  und  die  angeborenen  Ideen  I  93  Ö'. 
III  42.  Die  entsprechenden  Geistesfunktionen,  habitus  intellec- 
tuales,  werden  ungleich  unterschieden,  bald  als  sapientia  und 
prudentia  II  4,  bald  als  sinnliche  Wahrnehmung  und  aprio- 
risches Denken  I  79  i).  Mehr  als  auf  diese  schwierigen  Fragen 
kommt  es  Gerhard  freilich  auf  die  Autoritäten  an,  welchen 
man  bezüglich  der  Resultate  zu  folgen  hat.  An  der  Spitze 
steht  hier  der  Meister  aller  Wissenschaft,  der  uralte  Aristoteles, 
magnus  ille  in  philosophia  dictator  XVIII  373,  oder  schlechtweg 
der  philosophus,  wie  er  ihn  sehr  häufig  zitirt.  Er  ist  allen 
Sekten  bei  weitem  vorzuziehen.  Unter  den  diesen  Aristote- 
lismus  verarbeitenden  Kompendien  certus  eligendus  est  auctor, 
quem  lectione  quotidiana  sibi  aliquis  reddat  familiärem.  Illum 
prae  reliquis  perspicuum,  nervosum,  accuratum  et  fundamen- 
talem esse  oportere  facile  colligimus;  und  zwar  kommt  es 
hiebei  vor  allem  an  auf  die  Ansammlung  von  terminorum 
explicationes,  utiles  distinctiones  et  canones  sub  certis  titulis 
redacta  in  guten  Kollektaneenheften  (Meth.  137),  wie  Gerhard 
selbst  deren  eine  ganze  Anzahl  hinterlassen  hat  (Fischer  486 ff.). 
Eine  solche  Anweisung  charakterisirt  besser  als  alles  andere 
dieses  ganze  philosophische  Studium.  Die  zwei  Kommenta- 
toren, welche  er  selbst  als  die  wichtigsten  empfiehlt,  sind  Zaba- 
rella  und  Scaliger.  Von  dem  ersteren,  dem  Begründer  der 
Methodik,  wird  später  die  Rede  sein;  der  letztere,  der  Vater 
des  berühmten  Philologen,  erscheint  als  acutissimus  nostri  saeculi 
philosophus  VII  96  und  wird  sehr  häufig  und  stets  als  Auto- 
rität ersten  Ranges  zitirt.  Buddeus  sagt  von  seinen  Exercita- 
tiones,  dass  sie  viel  enthielten,  was  der  Naturkenntnis  dient, 
und  damals  so  geschätzt  gewesen  seien,  dass  niemand  für 
philosophisch  gebildet  gegolten  habe,  der  sie  nicht  gelesen 
hatte  (Isag.  239).  Sie  dienten  vor  allem  als  Lehrbuch  der 
Physik  und  kamen  hier,  wie  die  Vorrede  des  bekannten  kaiser- 


sächsisclien  Universitäten  rezipirte  Metaphysik  genannt.     Von  ihr  wird 
unten  die  Rede  sein. 

^)  Eine  genauere  Schilderung  der  habitus  intellectuales  gibt  Calixt 
in  seiner  1609  zu  Jena  gehaltenen  Disputation  bei  Henke  I  120,  auch 
Melanchthon  im  CR.  XIII  166.  Über  das  Verhältnis  der  nominalistisch- 
empiristischen  und  realistisch-aprioristischen  Elemente  wurde  eine 
ziemlich  lebhafte  Kontroverse  geführt,  doch  so,  dass  es  sich  immer 
nur  um  verschiedene  Arten  der  Mischung  beider  handelt.  Zu  Grunde 
lagen  hiebei  nicht  die  scholastischen  Theorien,  sondern  die  aristote- 
lischen Texte  selbst.     Hier  kommen  diese  Differenzen  nicht  in  Betracht. 


41 

liehen  Leibarztes  Crato  von  Crafftlieim  zu  der  ersten  in 
Deutschland  gedruckten  Ausgabe  ^)  beweist,  einem  grossen 
Bedürfnis  entgegen,  ausserdem  empfahlen  sie  sich  wohl  durch 
die  aus  Bosheit  gegen  Cardanus  sehr  kirchlich  gehaltene  Er- 
kenntnislehre, ohne  im  übrigen  an  dem  allgemeinen  humanistisch- 
peripatetischen  Typus  der  Physik  etwas  Wesentliches  zu  ändern. 
Der  Höhepunkt  des  philosophischen  Studiums  war  die  schwierige 
Lektüre  der  fontes  Aristotelici  selbst,  die  übrigens  durch  eine 
grosse  Litteratur  aristotelischer  Philologie,  durch  Kommentare 
und  Einleitungen  ^),  sehr  erleichtert  war  (Meth.  136).  Auch 
Plato  und  Cicero  werden  stark  herangezogen,  vor  allem  in 
den  Fragen  der  natürlichen  Religion.  Ausserdem  hat  Gerhard 
noch  eine  ganze  Anzahl  anderer  Autoren  benützt  und  zitirt, 
besonders  häufig  und  mit  besonderer  Achtung  die  Humanisten 
Erasmus  und  Ludwig  Vives,  daneben  aber  auch  die  zeitge- 
nössischen protestantischen  und  katholischen  Peripatetiker  mit 
ziemlicher  Vollständigkeit,  doch  mit  weit  geringerem  Nach- 
druck 2).  Dieses  alles  zusammen,  der  Studiengang,  die  Schil- 
derung und  Aufzählung  der  Disziplinen  und  die  von  Gerhard 
angeführte  Litteratur  geben  ein  hinreichendes  Bild  von  dem 
Umfang  und  Stoff  der  Vernunftsphäre  und  damit  zugleich  von 
dem  Material,  das  für  den  usus  organicus  in  Anwendung  kam. 
Es  ist  noch  übrig,  von  diesem  d.  h.  also  von  der  Wechsel- 
wirkung beider  Sphären  an  den  wichtigsten  Beispielen  eine 
Anschauung  zu  geben.  Bei  aller  Vorsicht,  zu  der  Gerhard 
dringend  ermahnt  (Meth.  98),  ist  sein  Einfluss  auf  das  Ganze 
der  Anschauung  naturgemäss  doch  sehr  gross,  da  er  ganz  im 
Stillen  und  unter  dem  Titel  bibhscher  Termini  der  Dogmatik 
das  Weltbild  und  die  Anthropologie  des  „Aristotelismus"  als 
den  Untergrund  unterschiebt,  auf  dem  sich  die  von  ihr  aufge- 


^)  Jul.  Caes.  Scaliger,  Exotericae  exercitationes  de  sublimitate 
ad  Cardanum,  Frankfurt  1582,  Weitere  Ausgaben  bei  Buddeus.  Ausser 
diesem  mehrfachen  Druck  bezeugt  noch  ein  Schriftwechsel  über  den- 
selben die  Rolle,  welche  Sc.  damals  spielte.     Vgl.  Buddeus  238  ff. 

-)  Brucker  IV  111.     Paulsen  167. 

^j  Aristoteles  ist  circa  lOOmal  zitirt,  Plato  42,  Cicero  79mal,  viel 
seltener  Seneca,  Boetius,  Xenophon  u.  a.,  Erasmus  104,  Vives  60mal, 
ganz  vereinzelt  sind  die  Zitate  aus  den  Zeitgenossen  Cäsalpin, 
Cardan,  Suarez,  Fonseca,  J.  Martini,  Meisner,  Goclenius,  Al- 
stedt  u.  a.  Antike  und  Humanismus  überwiegen.  Dem  Geist  des 
letzteren  entspringen  auch  die  vielen  klassischen  Prunkzitate,  die  wohl 
nicht  immer  direkt  aus  der  Quelle  entnommen  sind.  —  Die  Angaben 
sind  nach  den  Indices  der  Frankfurt-Hamburger  Ausgabe  der  Loci 
(1597)  gemacht,  da  der  von  G.  H.  Müller  zu  Cottas  Ausgabe  gelieferte 
Index  sehr  dürftig  ist.  Die  neue  Bearbeitung  desselben  durch 
Gust.  Frank  ist  mir  nicht  zugänglich  gewesen. 


42 

rollte  comoedia  divina  i)  der  Welterlösung  abspielt.  Alles  Sein 
zerfällt  in  drei  Teile :  Gott,  der  keinen  Anfang  und  kein  Ende 
hat,  Engel  und  Menschen  als  creaturae  rationales,  welche  einen 
Anfang,  aber  kein  Ende  haben,  und  substantiae  corporeae 
physicae,  die  einen  Anfang  und  ein  Ende  haben  (XX  6ß  ff.). 
Von  diesen  Teilen  kommen  hier  jedoch  nur  die  Menschen  und 
die  physischen  Substanzen  in  Betracht,  welche  zusammen  das 
totum  systema  universi  coelestibus  et  elementaribus  corporibus 
constans  (XX  42)  ausmachen  (XVIII  352).  Dies  ganze 
System  zerfällt  in  zwei  Teile,  die  sublunarische  Welt,  welche 
der  Wohnplatz  des  Menschen  ist,  und  die  Sphären  des 
Himmels,  welche  diese  Welt  rund  umgeben  (XX  49).  Erstere 
besteht  aus  den  verschiedenen  Mischungen  und  Verdichtungen 
der  bekannten  vier  Elemente  zu  Körpern,  wird  durch  das 
Zusammenwirken  von  Form  und  Materie,  Actus  und  Potenz 
in  ihrem  Bestand  und  ihrer  Entwickelung  erhalten,  ist  dem 
Menschen  zu  Liebe  durch  Differenzirung  der  generischen  Ur- 
bilder zu  Arten  und  Individuen  geschmückt,  worunter  Tiere 
und  Pflanzen  als  mit  anima  sensitiva  und  anima  vegetativa 
begabte  Substanzen  hervorragen,  ohne  aber  dem  Menschen 
gegenüber  mehr  als  die  übrige  Materie  zu  sein  (XX  65  ff. 
XVIII  336  ff.  352).  Diese  Welt  der  vier  Elemente  wird  um- 
geben und  zusammengehalten,  „wie  das  Eidotter  von  Eiweiss 
und  Schale",  von  den  Sphären  des  Himmels,  die  aus  Äther 
zusammengesetzt  sind  d.  h.  aus  einem  viel  leichteren  Stoff  be- 
stehen als  die  sublunarische  Natur  (XIX  260  XX  49).  Der 
Erde  zunächst  liegt  die  sphaera  ignis,  dann  kommen  die  orbes 
planetarum  ac  firmamentum  seu  primum  mobile,  dann  das 
coelum  cristallinum  und  schliesslich  das  coelum  empyraeum 
(XIX  152);  unter  diesen  Sphären  hat  nun  freilich  der 
„Glaubensgehorsam"  nach  Gen.  1  die  an  sich  gar  nicht  hinein- 
passenden aquae  vttovqccviol  noch  unterzubringen  (IV  17), 
femer  ist  um  der  ubiquitas  carnis  Christi  willen  zu  bemerken, 
dass  Christi  Himmelfahrt  sich  nicht  durch  all  diese  Sphären 
hindurchbewegt  hat  (XIX  152).  In  der  Planetensphäre  ist 
der  wichtigste  Körper  natürlich  die  Sonne,  welche  die  Erde 
mit  Tageslicht  versorgt,  und  um  deren  kreisender  Bewegung 
willen  die  Bede  von  der  mitternächtigen  Wiederkunft  Christi 
nur  bildlich  verstanden  werden  darf,  da  ja  stets  nur  eine 
Hälfte  der  Erde  Nacht  hat  (XX  32  XIX  244).  Ob  die 
Himmelskörper  lebende  Intelhgenzen  sind,  ist  eine  mit  Sicher- 
heit nicht  zu  entscheidende  Frage  (XIX  269),  sicher  hingegen 
ist  der  influxus  physicus,  den  die  Gestirne  auf  die  sublunarische 

^)  Diesen  Vergleich  gebraucht  Gerhard  selbst  XX  59. 


43 

Welt  ausüben,  wobei  nur  die  übrigen  concausae,  namentlich 
aber  die  moralische  Verantwortlichkeit,  nicht  zu  gering  geschätzt, 
und  besonders  der  Einfluss  des  Sterns  der  Weisen  auf  Christus 
nicht  übertrieben  werden  dürfen  (IV  17  ff.).  Überhaupt  ist  die 
Bedeutung  des  Sphärensystems  für  die  Elementarwelt  die 
denkbar  grösste.  Von  der  Rotation  der  äussersten  Himmels- 
sphäre geht  der  Bewegungsanstoss  aus  (XX  57),  der  sich  dann 
als  Bewegung  von  der  Potenz  zum  Actus  jener  mitteilt  und 
sie  durch  die  generatio  in  beständigem  Fluss  des  Werdens 
hält  (XX  2),  um  schhesshch  auch  die  einzelnen  Elemente  und 
deren  Kombination,  somit  auch  die  vier  Temperamente  des 
Menschen,  zu  beherrschen  (XX  65  IV  18).  Zugleich  dienen 
alle  sphärischen  Phänomene,  besonders  die  Eklipsen,  sie  mögen 
natürhch  oder  übernatürlich  zu  erklären  sein,  als  fortwährende 
Kundgebungen  des  göttlichen  Willens  (XIX  267).  Nur  über 
die  Dauer  dieses  Weltsystems  hat  der  Heide  Aristoteles  sich 
schwer  geirrt;  das  ist  aber  begreiflich  und  zu  entschuldigen, 
da  er  von  Sünde  und  Gnade  nichts  wusste  (XX  30  XVIII 
249  ff.). 

Er  konnte  es  nicht  wissen,  dass  diese  tota  coeH  terraeque 
machina  (XX  19)  nichts  Dauerndes,  nichts  um  seiner  selbst 
willen  Existirendes  war,  dass  sie  lediglich  ein  „vorübergehender 
Wohnsitz  des  zur  Ewigkeit  wandernden  Menschen^^  ist,  ein 
zeitweihger  Aufenthaltsort  dieses  einzigen  ewig  dauernden 
sublunarischen  Geschöpfes  (XX  24).  Er  hat  die  Ewigkeit  der 
Welt  gelehrt,  weil  er  nichts  wusste  von  der  Ewigkeit  des 
Menschen,  der  doch  als  ihr  einziger  Zweck  und  ihr  wesent- 
licher Inhalt  in  ihrem  Kerne  sitzt.  Um  seinetwillen  allein  ist 
das  ganze  Weltsystem  geschaffen  (XX  24),  und  es  dauert 
nicht  länger,  als  bis  die  Zahl  der  Erwählten  voll  ist;  es  ist 
daher  in  der  Sintflut  nur  mit  Wasser  d.  h.  teilweise  zerstört 
worden,  während  es  nach  Erfüllung  der  Zahl  mit  Feuer  d.  h. 
gänzhch  zerstört  werden  wuxl  (XX  37).  Der  zur  Ewigkeit 
bestimmte  Mensch  ist  somit  der  eigentliche  Inbegriff  der  Welt, 
{.li'KQO'/.oöfÄog,  epitome  reliquarum  creaturarum  omnium  (IV  239), 
das  Abbild  des  f.iaAQ6y,0G(.iog  (IV  18),  diejenige  Kreatur,  welche 
allein  aus  den  sonst  scharf  getrennten  Bestandteilen  des  Seins, 
der  natura  rationalis  und  der  natura  corporalis,  zusammen- 
gesetzt ist  (XVIII  369  ff.),  die  natura  composita  oder  das 
totum  compositum,  dessen  Leib  aus  den  vier  Elementen  gebaut, 
vom  humidum  radicale  und  calor  nativus  zusammengehalten, 
mit  anima  vegetativa  und  sensitiva  begabt  ist,  und  dessen  Seele 
als  reine  natura  rationalis,  als  ewige  Form  und  unvergängliche 
Entelechie,  der  Actus  des  Leibes  ist  und  seinen  Zusammenhang 
mit    der    Ewigkeit    sowie    seine    Wirkungsfähigkeit    auf    das 


44 

Irdische  vermittelt  i).  Die  Teilung  der  Seele  in  die  potentiae 
voluntatis  et  intellectus,  welche  zusammen  die  der  sensitiven 
Seele  angehörigen  Affekte  regieren,  und  die  Wichtigkeit  dieser 
Teilung  für  alle  Definitionen  sind  schon  erwähnt  (V  87).  Die 
Fortpflanzung  findet  durch  traducianische  Erzeugung  eines 
totum  compositum  aus  dem  andern  statt,  bis  dereinst  die  Zahl 
erfüllt  ist  (IV  283).  So  ist  der  Mensch  das  unerhörte  Beispiel 
einer  ewigen,  aus  Geist  und  Materie  gemischten,  Substanz,  der 
einzige  Fall,  wo  die  Elemente  an  der  Ewigkeit  des  Geistes 
teilnehmen  (IV  239). 

Nur  vorübergehend  ist  durch  die  Sünde  eine  Disharmonie 
beider  Bestandteile  eingetreten,  und  ebenso  vorübergehend  ist 
die  Trennung  beider  im  Tode.  Die  Wiedervereinigung  tritt  prin- 
zipiell ein  in  der  Wiedergeburt,  der  zweiten  Schöpfung  (II  342)  2), 
die  zugleich  die  erste  Auferstehung  ist  (XIX  69),  und  wird 
vollendet  in  der  Auferstehung  des  jüngsten  Tages,  die  ja 
nur  eine  Auferstehung  des  Fleisches  ist.  Dann  findet  die 
Vertilgung  der  dem  Leib  inhärirenden  Sündenpotenz,  die  Ver- 
klärung des  vom  Leibe  Christi  genährten  Körpers  statt  ^),  dann 
vergeht  die  irdische  Welt,  welche  jetzt  „keinen  Zweck  mehr 
hat"  (XX  24),  und  ein  neuer  Himmel  und  eine  neue  Erde 
treten  an  deren  Stelle,  ein  Zustand  übersinnlicher  Seligkeit 
im  göttlichen  Hausfrieden.  So  hat  das  ganze  Weitdrama  durch 
creatio  und  instauratio  hindurch  (IV  4)  sein  ewiges  Ziel  erreicht. 

Diese  Beispiele  mögen  genügen,  um  den  Umfang  zu  ver- 
anschaulichen, in  welchem  die  Healerklärung  der  Termini 
coelum,  terra,  homo,  anima,  mens,  voluntas  etc.  auf  das  Ganze 
der  orthodoxen  Anschauung  einwirkte,  und  zu  erklären,  vae 
man  mit  solchem  Magddienst  die  Aufgabe  der  Philosophie 
gegenüber  der  Theologie  hinreichend  bezeichnet  zu  haben 
glauben  konnte.  Was  unter  diesen  Titeln  zur  Verwendung 
kommt,  ist  im  Wesentlichen  das  Weltbild  der  alten  Formphilo- 
sophie,  welche   zerstreute    empirische   Beobachtungen   mit  der 


')  XVII  37  42  50  150  XVIII  28  369  ff.  373  ff.  XIX  28  37. 

2)  Ein  für  Gerhard  im  Mittelpunkt  stehender,  stets  wiederholter, 
Gedanke  IV  238  246  V  115  317  VI  12  V  XVII  47  XIX  5  und  öfter, 
an  dem  man  wohl  den  Schüler  Arndts  erkennen  darf.  Denselben  Sinn 
hat  die  häufige  Parallelisirung  der  Medizin  und  Theologie.  Vgl.  Meth.  p.  5 
und  besonders  die  schöne  Vorrede  zu  den  Meditationen:  Ita  quoque 
verus  theologiae  finis  est  spiritualis  illa  interioris  hominis  regeneratio, 
quam  ex  aqua  et  spiritu  fieri  testatur  veritas. 

^)  Diese  an  Theosophie  erinnernden  Wendungen  sind  durchaus 
nicht  vermieden;  ersteres  XVII  19,  wo  der  Eintritt  des  Todes  aus  dem 
Gift  der  Paradiesesfrucht  erklärt  ist  wie  der  Schlaf  aus  den  ins  Gehirn 
strömenden  Magendämpfen,  und  XVII  70,  wo  peccati  radix  durch  die 
Weltverbrennung  aus  dem  Körper  entfernt  wird ;   letzteres  XVIII 335  343. 


45 

Annahme  unzählbarer  geheimnisvoll  wirkender  Wesenheiten 
und  hypostasirter  Kräfte  verbindet  und  daher  leicht  im  Stande 
ist,  sich  mit  rehgiösen  Welttheorien  zu  verflechten;  sie  weiss 
noch  nichts  von  dem,  w^as  die  eigentlichste  Errungenschaft  der 
modernen  Wissenschaft  ist,  und  was  der  modernen  Theologie 
die  schwerste  Mühe  macht,  von  dem  Begriff  des  Naturgesetzes 
und  dem  naturgesetzhchen  Weltbild.  So  konnte  es  gelingen, 
völhg  prinziplos  auf  angebhch  rein  exegetischem  Weg  die  not- 
wendige naturphilosophische  Grundlage  in  das  Erlösungsdrama 
hinein  zu  interpretiren,  die  erstere  zu  korrigiren  oder  zu  igno- 
riren,  wo  es  nötig  war,  und  doch  beide  aufs  innigste  mit  ein- 
ander zu  verschmelzen,  sodass  eines  das  andere  voraussetzt. 
Die  Wechselwirkung  beider  Sphären  stellt  sich  somit  im  letzten 
Grunde  als  die  lose  und  sprunghafte  Konstruktion  eines  „geist- 
leiblichen" Weltdramas  dar,  zu  welcher  der  usus  organicus 
ganz  unter  der  Hand  geführt  hat.  Darin  ist  aber  nicht  etwa 
ein  tiefer  Sinn  der  Wechselbeziehung  zwischen  Vernunft  und 
Offenbarung  enthalten,  sondern  es  ist  die  ganz  natürliche  und 
unvermeidhche  Folge  jedes  usus  organicus  oder  formalen  Ver- 
nunftgebrauches. Für  das  Verhältnis  selbst  hat  man  sich 
lediglich  an  die  Intentionen  der  Dogmatiker  zu  halten,  und  diese 
sind  mit  vollem  Bewusstsein  rein  äusserlich  und  mechanisch,  ja 
ihr  ganzer  Sinn  und  Schwerpunkt  Hegt  gerade  in  dieser 
Äusserhchkeit.  Sie  wollten  kein  spekulatives  Weltsystem  ent- 
wickeln wie  die  grossen  Scholastiker,  sondern  nur  den  Text 
der  heihgen  Schrift  erklären.  Sachhch  freihch  ist  dieser  usus 
organicus  von  einschneidender  Bedeutung  und  stellt  die  ortho- 
doxe Dogmatik  in  scharfen  Gegensatz  zu  unserem  modernen 
Denken.  In  klassischer  Weise  ist  dieser  Gegensatz  bereits  von 
Melanchthon  ausgesprochen,  der  die  geschilderte  Physik  durch 
sein  Lehrbuch  auf  den  deutschen  Schulen  heimisch  gemacht 
und  als  Hilfsmittel  für  den  usus  organicus  dargeboten  hat. 
Nachdem  er  nämhch  hier  seine  Schilderung  des  Weltgebäudes 
mit  einem  Lobpreis  Gottes  geschlossen  hat,  der  die  ungeheure 
Schöpfung  nur  um  der  winzigen  Erde  und  diese  wiederum 
nur  um  der  wenigen  Auserwählten  willen  geschaffen  habe^), 
wendet  er  sich  mit  bitteren  Vorwürfen  gegen  die  Neuerungs- 
sucht und  Unfrömmigkeit  derjenigen,  welche  die  Erde  aus 
dieser  Stellung  im  Zentrum  der  Welt  entfernen  und  dadurch 
die  Annahme  einer  Mehrheit  von  Welten  unabweisbar  machen 
d.  h.  gegen  Kopernikus  und  damit  gegen  das  moderne  Welt- 
bild. Schon  aus  der  Philosophie  folge  für  Verständige  die 
Ablehnung  dieser  ungeheuerhchen  Meinung,  ganz  sicher  aber 

1)  CR  XIII  215. 


46 

werde  sie  widerlegt  durch  ihre  Unvereinbarkeit  mit  der  Erlösungs- 
lehre  der  Schrift  und  der  Kirche :  Sed  nobis  in  ecclesia  et  facihus 
et  necessarium  est  asseverare,  unicum  esse  mundum,  quia  coelestis 
doctrina  hunc  mundum,  in  quo  Dens  se  patefecit,  in  quo  suam 
doctrinam  hominibus  tradidit  et  in  quo  fihum  generi  humano 
immisit,  conditum  esse  adfirmat.  .  .  Sciamus  Deum  nobiscum 
tamquam  civem  hujus  mundi  esse,  hujus  mundi  custodem  et 
servatorem  esse  .  .  non  fingamus  eum  abesse  in  aho  mundo 
et  aHos  homines  curare.  Adjungatur  ergo  .  .  et  haec  confir- 
matio,  quae  valde  firma  est:  Unus  est  fihus  Dei,  Dominus 
noster  Jesus  ChiistuSj  qui  cum  in  hunc  mundum  prodiisset, 
tantum  semel  mortuus  est  et  resuscitatus.  Nee  ahbi  se  ostendit 
nee  ahbi  mortuus  est.  Non  igitur  imaginandum  est  plures 
esse  mundos,  quia  nee  imaginandum  est  saepius  Christum 
mortuum  et  resuscitatum  esse  nee  cogitandum  est  in  ullo 
aho  mundo  sine  cognitione  fihi  Dei  hominibus  restitui  vitam 
aeternam^).  Ganz  dasselbe  gilt  auch  für  Gerhard  und  die 
übrigen  orthodoxen  Theologen. 

Damit  dürfte  die  Prinzipienlehre,  soweit  sie  das  Verhältnis 
zu  den  Realdisziplinen  normirt,  hinreichend  entwickelt  sein. 
Die  Analyse  der  einzelnen  Sphären  hat  den  Tatbestand  be- 
stätigt, der  bei  der  Theorie  als  Ganzem  zu  Tage  trat,  dass  es 
sich  nämlich  um  den  Versuch  einer  qualitativen  Scheidung 
der  Vernunft-  und  OfFenbarungssphäre  handelt,  wobei  aber  die 
Grenzen  nach  der  theoretischen  Seite  durch  autoritative  Macht- 
sprüche  festgestellt  werden   müssen. 


^)  CR.  XIII  220. 


BR 

Troeltsch,  Ernst 

350 

Vernunft  und 

G4T7 

Offenbarung 

1891 

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