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Full text of "Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte"

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VlERTEUAHßSCHßlFT 


FÜR 


LITTERATÜRGESCHICHTE 


UNTER  HITWIBKUNO  VON 


ERICH  SCHMIDT  UND  BERNHARD  SUPHAN 


UEBAUSOEOEBEN  VON 


BERNHARD  SEUFFERT 


DRITTER  BAND 


'•• 


WEIMAR 

HERMANN  BÖHLAU 
1890 


•  •  • 

•  •  • 

•     « 


WIIMAR.  -  HOF-BUCHORUCKMtL 


^Sl^K-*-**^ 


INHALT 


Seite 

Max  Herrmann,  Die  lateinische  'Marina' 1 

Victor  Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters 

im  16.  Jahrhundert  (vgl.  615) 28 

Alois  Brandl,  Zu  Lillo's  Kaufmann  von  London     ....  47 
August  Sauer,   Aus    dem  Briefwechsel    zwischen   Bürger 

und  Goeckingk  (vgl.  416) 62 

Ludwig  Hirzel,  Briefe  des  Herzogs  Carl  August  an  Karl 

Ferdinand  von  Sinner  in  Bern 113 

Gustav   Eettner,    Die   Anordnung   der   Schillerschen    Ge- 
dichte        128 

Anton  E.  Schönbach,  Zur  Volkslitteratur 173 

Johann  Mayerhofer,  Faust  beim  Fürstbischof  von  Bamberg  177 
Alexander  von  Weilen,  Gerstenberg  und  J.  G.  Jacobi     .     .     .  178 
Hubert  Roetteken,   Goethes  'Amine'  und  'Laune  des  Ver- 
liebten'   184 

Otto  Behaghel,  Zu  Heinse 186 

Erich  Schmidt,  Kleists  'heilige  Cäcilie'  in  ursprünglicher 

Gestalt 191 

Albert  Leitzmann,  Zur  Entstehungsgeschichte  des 'Julius 

von  Tarent' 195 

Otto  Hofhuann,  Notiz  zu  Lessing 199 

Carl  Schüddekopf,  Anspielungen  auf  die  Faustsage   .    .    .  199 


Jacob  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'  201 
Alfred  Puls,    Römische  Vorbilder    für    Schwiegers    'Ge- 

harnschte  Venus' 236 

Georg  Witkowski,  Ein  Gedicht  Ewald  von  Klein ts     .    .     .  251 

August  Sauer,  Neue  Mittheilungen  über  Ewald  von  Kleist  254 


IV 

Seite 

Loui»  Bobe,    Ewald  von  Kleist  in  dänischen  Diensten     .  295 

Richard  M.  Meyer,  Lesaings  Theater 298 

Ägid  Raiz,  Goethe's  Faustredaction  1790 323 

Anton  £.  Schönbach,     Sprüche    und    Spruchartiges    aus 

Handschriften 359 

John  Meier,  Zur  Entstehungsgeschichte  der  Genovefa- 

Legende 363 

Alexander  Tille,  Ansjsielungen  auf  die  Faustsage     .     .    .  365 

Ludwig  Geiger,  Ein  Brief  von  Chr.  Mylius  an  Haller    .     .  367 
Otto   Harnack,    Notizen    aus    dem    Nachlasse    Heinrich 

Meyers 373 

Bernhard  Suphan,  Ein  ungedruckter  Brief  von  Friedrich 

Rückert  an  Goethe 378 

Robert  Philippsthal,  Mattre  Jacques 380 


Adolf  Hauffen,  Fischarts  'Eulenspiegel  Reimensweiss*      .  381 
Theodor  Distel,  Ein  Jahrmarktslied   aus  dem  Jahre  1685  394 
Alexander  von  Weilen,   Lessings  Beziehungen  zur  Ham- 
burgischen Neuen  Zeitung 398 

Erich  Schmidt,  Beilage  dazu 412 

August  Sauer,   Aus  dem   Briefwechsel  zwischen  Bürger 

und  Goeckingk  (Schluss) 416 

C.  A.  H.  Burkhardt,  Dichter  und  Dichterhonorare  am  Wei- 
marer Hoftheater  während  Goethes  Leitung     .    .  476 

Richard  Maria  Werner,  Klefsts  Novelle  *Die  Marquise  von 

O...; 483 

Derselbe,  Tugendprobe 500 

Alexander  Tille,  Eulens'piegels  Grab 501 

Ludwig  Geiger,  Wirkung  einer  Lessingschen  Correctur  .  502 
Bernhard  Suphan,   Zu   den   Blättern  'Von  Deutscher  Art 

und  Kunst' 503 

Albert  Leitzmann,  Zu  Goethes  Briefen  an  Frau  von  Stein  505 

Derselbe,  Zu  'Schiller  und  Lotte' 506 

Julius  Elias,  Ein  Brief  Schillers  an  Gotta 506 

Bernhard  Seuffert,  Nachtrag  zu  Pfeiffer,  Elingers  Faust  506 


Georg  Witkowski,  *Pastor-Amor'  und  *So  ist  der  Held,  der 

mir  gefällt'.  Mit  einem  Nachwort  von  Bernhard  Seuffert  509 

Georg  Ransohoff,  Untersuchungen  über  Wielands  *Geron'  530 

Eugen  Wolff,  Eutiner  Findlinge 541 

Gustav  Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  'Fiesko' 556 


V 

Seite 

Beinhold  Steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder 573 

Bernhard  Seufferfc,  Heines  'Heimkehr' f)89 

Max  Hemnann,  Die  letzte  Fahrt  Oswalds  von  Wolkenstein  602 
Richard  Maria  Werner,   Abraham  a  Sta.  Clara   als  Kanzel- 
redner       608 

Bernhard  Saphan,  Aus  Carl  Augusts  Frühzeit 611 

Nachträge. 

Victor  Michels,  Zu  3,  42  iF.  *Dic  27  Spil' 615 

E.  Goetze,  Zu  3,  187—189 616 

Berichtigungen 616 

Register,  bearbeitet  von  Justus  Lunzer .    .  617 


I 


Die  lateinlBche  ^Marina'. 

Man  weiss  längst,  dass  der  werthyollste  Abschnitt  der 
^Unterhaltungen  deutscher  Ausgewanderten',  die  Procurator- 
novelle,  nicht  Qoethes  eigenste  Schöpfung  ist;  die  reizvolle 
Geschichte  von  der  jungen  Eaufmannsfrau  und  ihrem  weisen 
Liebhaber  begegnet  uns  vielmehr  schon  im  fünfzehnten, 
sechzehnten  und  siebzehnten  Jahrhundert  in  deutschen, 
französischen,  lateinischen  und  italienischen  Bearbeitungen, 
und  der  Verfasser  der  ^Unterhaltungen'  hat  nichts  gethan, 
als  dass  er  eine  der  älteren  Fassungen  mit  leise  bessernder 
Hand  ins  Goethesche  übersetzte.  Längst  weiss  man  auch 
in  der  Hauptsache,  wie  die  Verzweigung  sich  gestaltet  hat, 
in  der  die  Erzählung  sich  durch  die  verschiedenen  Littera- 
turen  verbreitete,  wenngleich  in  letzter  Zeit  Strehlke  in  der 
Einleitung  zum  16.  Bd.  der  Hempelschen  Goetheausgabe 
ohne  jeden  Grund  die  von  Guhrauer  sorgsam  ausgeführte 
und  von  Düntzer  wenigstens  an  einer  Stelle  ergänzte  Stamm- 
baumzeichnung völlig  verwischt  hat.  Des  Baumes  Wurzel 
aber  war  bisher  nicht  bekannt,  so  eifrig  von  verschiedenen 
Seiten  danach  gegraben  worden  ist. 

Im  folgenden  veröffentliche  ich  nun  die  älteste  latei- 
nische  Fassung  der  Novelle,  die  ich  mit  Strauch  (Zeitschrift 
f.  deutsches  Alterthum  29,  325)  ^Marina'  überschreibe.  Dem 
Abdruck  zu  Grunde  liegt  eine  Aufzeichnung,  die  sich  der 
bedeutendste  unter  den  älteren  deutschen  Bearbeitern,  Al- 
brecht von  Eyb,  in  den  einst  zu  seiner  Büchersammlung 
gehörigen  Cod.  120  der  Augsburger  Kreis-  und  Stadtbiblio- 
thek auf  fol.  105^ — 112»  eingetragen  hat.  Der  Nürnberger 
Humanistenschreiber  Hartmann  Schedel  hat  Eybs  Abschrift 
in  dem  jetzigen  Cod.  lat.  Mon.  650  fol.  266^—276^  copirt. 

Vierte^jabischiift  fOr  Litteratnii^chichte  m  1 


2  Herrmann,  Die  lateinische  'Marina*. 

[105^]  [roth]  Argumentum  fabule  incipit.^) 

Arouus  fenex  amore  procreande  fobolis  Marinam  virginem 
duxit  vxorem ;  priusquam  in  Alexandriam  nauiget,  illam  rogat,  vt 
quando  iuuentute  preuenta  pudicitiam  feruare  non  poterit,  cum 
prudente  viro  agat,  qui  negotium  celet.  lila  promittit  amatque 
Dagianum^)  iuuenem,  quem  prudentem  putat.  Ille  fingit  votum 
ieiunii,  quod  rumpere  vel  breuiare  non  liceat.  Cum  Marina 
ieiunium  diuidit  et  exinde  in  eam  abftinentia  caftigat  luxum. 
[roth]  fabula  fequitur. 

ERat  lanuenfis  vrbs  multum  copiofa  ciuibus,  diuitiis  autem 
et  victualibus  habundans  et  fertilis  valde  mercimoniorum ;  ciues 
grandia  (tudia,  et  nauale  exercitium  cottidiano  ufu  folicitam  reddebat 
plebem.  Horum  arti  induflrieque  Aronus  quidam,  in  Sicenis ')  vir, 
cum  multos  annos  tum  mentis  (tudio  alque  exercitio  corporis 
vacalTet  et  iam  diuili  ruppellectili  habundaret,  in  domo  poHeritatis 
Tue  curam  tacita  concepit  mente.  Cumque  matrimonio  liber  filiis 
orbam  vitam  duceret,  quedam  puerilis  acies  more  patrie  per  plateas 
ciuitatis,  loca  late  diftracta,  ßmulacra  belli  coufingens  tum  forte 
feftum  cälebrauerat  diem,  pueri  iuuenefque  leti,  qui  faltu,  qui 
curfu,  qui  denique  certabant  fuga:  hos  videre  parentes  atquc 
affines  populique  magna  multitudo;  conuenientes  ßnguli  modos, 
gefta,  habitus  virtutemque  fuorum  notabant,  gaudioque  et  letitia 
ftrepitus  refonabat  in  altum  et  fortis  clamor.  Aronus  tarnen  in- 
terius  concepto  dolore  fecumque  triftatus  cubiculi  fui  tectum  fecreto 
intrans  fibi  ipfimet  loquens  bis  verbis  vfus  efl:  'Infelix,  o  iam 
infelix  fenex,  infelix  femper  et  o  acerbum  fatum  et  dura  fors! 
Arone  terra  marique  et  laboribus  feüel  Arone  diues  gazis  et 
pauper  mente  I  quam  duris  caßbus,  quot  pericuHs  quantifque  fu- 
doribus  gazas  et  diuitem  Aruxifti  domum  libique  femper  impro- 
uidus  pofteritatis  tue  neglegis  curam!  Guinam  fortunas  tuas  relin- 
quendas  putafti?    quis   ßlius    fublato    te  tui   memoriam   feruabit? 


^)  In  dem  nachfolgenden  Abdruck  der  Eybachen  Aufzeichnung 
sind  nur  die  störendsten  Unregelmässigkeiten  der  Eybschen  Ortho- 
graphie, vor  allem  die  willkürliche  Schreibung  des  j  fiir  i  und  des  ci 
für  ti  bezw.  des  ti  für  ci  beseitigt;  auch  die  Interpunction  ist  mo- 
demisirt.  Eybs  Vorlage  war  offenbar  sehr  fehlerhaft ;  einen  Theil  der 
in  den  Noten  gemachten  Vorschläge  für  die  Besserung  des  Textes  ver- 
danke ich  B.  Seuffert. 

*)  Der  einzige  Fall,  in  dem  der  Liebhaber  hier  nicht  Dagmanus 
heisst.  Trotzdem  wird  die  Ursprünglichkeit  dieser  Form  dadurch  ver- 
dächtig, denn  auch  Strauchs  deutsche  'Marina'  enthält  neben  der  17  mal 
wiederholten  Form  'Dagrianus'  im  Anfange  3  mal  die  Form  'Dagianus'. 
Vgl.  Strauchs  Anmerkung  S.  335  zu  28 ;  flüchtig  ist  Nohl,  Die  Sprache 
des  Niclans  v.  Wyle  S.  8. 

')  in  Sicenis?  vielleicht  aus:  inßgnis  verderbt? 


Herrmann,  Die  lateinische  'Maiina*.  3 

Tu  femper  vilafti  coniugia  et  pro-[106*]  creande  prolis  dulcifque 
fobolis  fana  femper  confilia  fugifti.  0  beatos  patres,  qui  prudentes 
filios  heredes  linquunt!  0  quot  hodie  natorum  fuorum  parentes 
infpexi,  qui  fe  arbitrarentur  felices  elTe,  ß  fortunarum,  quas  pof- 
fides,  pars,  in  qua  nati  fuccederent,  illis  fato  contingeret!  Nunc 
vero  quinquagenario  mihi,  quid  mentis  folamen?  que  fama  pod 
mortem?  quis  mei  memoriam  dulcis  feruabit  natus?  felices  femper 
hymeneos  et  leta  connubia,  quorum  hereditas  et  memoria  in 
prudentes  natos  illata  eil!'  Atque  cum  his  argumentis  pectus 
anxium  tunderet,  ipfe  ßbimet  his  fermonibus  abfolutionem  dedit: 
'Ammodo  mecum  tantis  anguftiis  opus  non  Ht:  meliufque  fuilTe 
quid  fecerim,  eftimari  volo^),  vt  quemadmodum  aues  parandi 
domum  et  nidos  primo  follicitat  cura,  priufquam  ouis  impoßtis  illis 
infedeant  et  feius  alant.  Idem  et  me  fecilTe  arbitrabor.  fam  enim 
gazas  decentes  et  mihi  fulureque  vxori  et  procreandis  natis  confeci 
nee  adeo  fenex  effectus  fum,  quin  robultum  mihi  iterum  efferueat 
pectus.  Hac  igilur  fola  cura  et  hoc  exercitio  me  vacare  oportet, 
vt  querende  coniugis  foliciludinem  geram/  Neque  plura  efifatus 
cubiculum  egrelTus  e(t  curamque  illam  Zani  et  Galiotto,  viris 
cgregtis,  quos  ßbi  femper  ßdeles  inuenerat,  in  domum  fuam 
accitis  exprefßt.  Aflentiunt  hi  laudantque  propoßtum  et  habituros 
fe  querende  vxoris  curam  fpondent.  Aronus  interim  opinione  fua 
folicitus  de  puellis  pubefcentibus  et  maturis  viro  inueftigandis 
operam  dedit,  vt  animo  fuo  acceptam  virginem  ßbi  vxorem  iun- 
geret.  Erat  igitur  in  hac  vrbe  puella  quedam ,  nobilibus  orta 
natalibus,  Marina  nomine,  virgo  forma  corporis  et  pulcerrima  et 
fpeciofa  valde.  Huius  enim  formofam  imaginem,  quicunque  vide- 
rant,  mirabantur  adeo,  vt  iela  virginis  facies  et  ardenti  oculo  mollis 
forme*)  iuuenum  mentibus  amoris  inducerent  flammam  et  libi- 
dinis  in  eam  prouocarent  affectum.  In  eam  itaque  virginem  po(l 
aliquot  dies  cum  Aronus  in  propoßtis  fagax  non  luxu  damnabili, 
fed  forma  corporis  et  maritali  afifectione  deductus  oculos  intuitum- 
que  ßxiffet,  cum  hac  vna  coniugii  nexum  optauit  et  eam  ßbi 
vxorem  iungere  ardenti  ßtiuit  in  pectore.  Affectum  igitur  hunc 
fuum  Aronus  puelle  parentibus  captato  tempore  [106^]  quodam 
referauit  die,  vt  ab  eis  refponfum  haberet,  ß  generum  eum  vellent 
ßbi  Marina  eorum  ßlia  in  matrimonium  data;  paruaque  inter  eos 
difceptatione  fedata  ßmul  aüentiunt  Marinamque  eorum  natam 
Arono coniugem  futuram  fpondent:  iunguntque  fe^)  dextraset  federa 
tutis  cautionibus  ßrmant.    Aronus  interea  pro  folemnibus  parandis 

*)  Eine  offenbar  verderbte  Stelle;  für  das  folgende  vt  ist  viel- 
leicht ac  zn  setzen  und  dann  der  Punkt  hinter  idem  mit  einem  Komma 
zu  vertaaschen. 

*)  Besser  vielleicht :  ardentes  ocnli  et  mollis  forma;  vgl.  Zeitschrift 
f.  deutsches  Alterthum  29,  327  Z.  20  f. 

")  Davor  fehlt  wohl:  inter,  oder  es  ist:  dextris  zu  lesen. 


4  Herrmann,  Die  lateinische  *Marina\ 

nuptiis  plurlma  folicitudine  vexatus  omne  genus  ornamenti  pro 
celeritate  nuptiarum  neceilarium  preparari  fecit.  Cum  vero  datuta 
fulßt  dies,  Aroüus  Marinam  duxit  vxorem  tantoque  gaudio  et 
letitia  ac  magDificentiffimo  apparatu  triduo  nuptie  celebrate  funt, 
vt  nihil  aut  de  necefTariis  fiue  de  contingeDtibus  omüTum  eile 
videatur.  Erat  quidem  fpeciofa  fponfa  pre  ceteris  puellis  virginibus 
et  matronis  conuiuentibus ,  veftimentis  vero,  ornamentis  et  moni- 
libus  pretiofa  valde,  famulorumque  frequens  acies  longo  ordine 
ftrauerat  menfas,  et  vinum  multum  et  omnis  generis  ferculum  in 
aureis  fplendebat  vafis,  ingentique  apparatu  vniuerfa  fremebat 
domus ;  Mula,  pfalterium,  harpa  omnefque  muflcorum  artes  fonitu 
et  carmine  plurimaque  ?ocuni  confonantia  dulce  melos  modula- 
bantur.  His  itaque  ordinamentis ''j  et  raagnifico  apparatu  nuptiis 
factis  Aronus  pulcra  letatus  coniuge  iocundos  plurimos  dies  cum 
plaufu  et  hilaritate  quadam  celebres  duxit.  Cum  igitur  annum 
vixifTet  Aronus  cum  Marina  vxore  fua,  qui  domi  otio  vacauerat, 
iterum  mercimoniorum  vfus  et  nauigandi  exercitium  in  mentem 
venit,  vt  ille  fepe  cogitaret  in  animo,  quomodo  Alexandriam  more 
folito  nauigio  peteret.  Tantam  quidem  ille  nauigandi  exercitio 
yfque  a  teneris  confuetudinem  fecerat,  vt  ab  ea  ne  quidem  ceiTare 
difficile,  verum  impoflibile  abftinere  fe  poiTe  putaret.  Diflimulabat 
Aronus  eam  habere  mentem,  ne  forte  fieret  id  moleftum  vxori. 
Nouerat  quidem  animum  et  igne  iuuenili  calentem  etatem  eins 
flammamque  medullas  vorantem  et  teneras  lambentem  genas,  vt 
11  quando  a  domo  et  cubili  fe  abfentare  contingeret,  impatiens 
illa  forfan  non  caflum  feruaret  thorum.  Vagum  quidem  videbat 
mulieris  muliebre  propofitum,  fragilem  vxoris  etatem  cernens  time- 
bat,  ne  adulefcentes  iuuenes,  [107^]  qui  ad  vifeudam  fepe  ante 
domum  frequentare  folebant,  ea  in  ciuitate  manente  forte  amplius 
fe  abfente  eiTent  inueftigaturi  illam  inter  fecreta  cubiculi.  hunc 
igitur  aculeum  animi  dum  perplexus  in  mente  et  tacitus  pertu- 
lillet  diuque  fe  femifepultum  vocet,  tanta  letitia  olim  celebratas 
nuptias  horamque,  que  illas  in  mentem  tulit,  execrare  cepit  et 
longis  argumentis  et  rationibus  fecum  agens  multa  tandem  in 
animo  difputatione  perfecta  conclußt  fue  difceptationis  finem. 
'Melius',  inquit,  'eft,  vt  viuam  ipfe  quam  moriar.  Nam  nifi  infra 
breues  dies  abiero,  video,  quod  profecto  cito  moriturus  sum.  hanc 
itaque  ßc  relinques  vxorem?  Relinquam  quidem.  habeat  ipfa  modo 
fui  curam,  ß  velit!  Quid  etiam  ß  caftum  non  seruatura  ßt  thorum? 
Viuere[I]  tamen  mihi,  defperandum  non  eft.  Abfit,  abßt,  Arone, 
quod  in  vnius  mulieris  veutrem  poßta  tarn  atrox  cura  et  corpus 
et  totam  trucidet  mentem !  Abfint  hi  rancores  et  anguftie  mentis, 
quibus  quidem  nil  crudelius  et  noftro  animo  moleftius  elTepoteft! 
Abßt  hac    re   vlterius    triflitiam    gererel     Nunc  vero  mihi  mens 

'')  ordinamentum  s=  mandatum,  consÜtntio,  statütum,  s.  Du  Gange 
VI  57. 


Herrmann,  Die  lateinische  *Marina\  5 

liberior  fiat ;  hodie  focios  petam,  quos  longus  mercimoniorum  vfus 
dedit  fideles  quofque  nauigandi  exercitium  domeflicos  fecit,  hoc 
die  in  iam  diu  pofitis  operam  dare.'  ®)  Poflquam  Aronus  propoßti 
fui  modum  accepit,  Zanem  et  Galiottum,  inßgnes  viros,  cum 
quibus  nauigandi  vfum  et  artem  perfepe  tractauerat,  accefßt  nihil- 
que  de  fue  nientis  perturbationibus  exprimens  letam  faciem  et 
folitos  oftendit  mores  illifque  faciende  nauigationis  proponit  tempus 
aduifatque*)  follicitat  et  promptos  reddit;  initifque  nouis  federibus 
et  pactionibus  inuicem  naues  aptari  et  inftrui  neceitariis  faciunt 
illafque  vario  mercimoniorum  genere  complent.  Geleres  interim 
tempus  affert  et  arripit  dies,  donec  nauigandi  tempus  ^®)  et  aure  in 
altum  Volant.  Aronus  igitur  domi  dimilTurus  vxorem,  in  propoßtis 
ßrmus,  ante  diem,  quo  receETurus  erat,  cena  facta,  cum  fölus  ipfe 
et  vxor  eins  in  thalamo  confedilTet,  iilam  ad  fe  vocans  in  vuitum 
eins  parumper  afpexit  et  leto  ore  ßclifque  fermonibus  locutus  hec 
dixit:  'Cara  coniunx  et  luce  ac  vita  ccurior  mea  Marina,  afflicti 
animi  requies  et  mee  folamen  mentisl  letam  obsecro  [107^]  mentem 
et  hilarem  faciem  habe  hifque  nauigationibus  meis  nuUam  precor 
difplicentiam  fume!  hec  quidem  femper  artes  et  exercitia  mea 
fuere,  bis  fortunam,  gazas,  domum,  nomen  et  famam  ac  multorum 
amicorum  notitiam  ^  *)  et  familiaritatem  inueni,  bis  etiam  ornamenta, 
Coronas,  anulos,  veftes  ceteraque  pretiofa  ornamenta,  quibus 
plurimis  pre  ceteris  mulieribus  lanuenßbus  habundare  te  nofcis, 
et  emi,  et  lucris  mercimoniorum  meorum  ea  omnia  acceHere.  Non 
itaque  trifteris  hac  via,  hac  nauigatione  ne  doleas!  Nam  et 
preflo  erit  reditus  meus,  et  ß  hac  vice,  vt  puto,  fors  fuerit  felix, 
bis  Omnibus  nauigationibus  ßnem  dabo,  nunc  itaque  virilem  ani- 
mum  decet  alTumas;  nam  omnium,  que  hie  pofßdeo,  difpoßtionem 
et  curam  tibi  relinquo,  nee  quitquam  medio  tempore,  quo  carere 
pofßs,  agnofco.  primum  igitur  oro,  quod  leta  remaneas;  quod  cum 
intellexero,  mihi  etiam  letum  iter  et  nauigationem  letiflimam  dabis. 
poftremura  autem  eil,  quod  fumma  prece  et  maximo  rogatu  a  te 
impetrare  vellem,  et  quidem  nobifcum  nihil  celandum  est,  cum 
alterius  noflrum  honor  aut  vtißtas  ßue  et  fama  nobis  ambobus 
communis  ßt  nee  vnius  decus  ßne  alterius  gloria  ßcut  et  dedecus 
abfque  amborum  vituperio^^)  60*6  non  poteft.  Nee  quidem  adeo 
amens  fum,  quin  cogitem,  qualem  te  et  quomodo  robußam  adu- 
Jefcentulam,  fpeciofam,  mollem  et  delicatam,  multis  procacibus 
amatoribus  affectatam   abfque  viro  et  abfque  folatio  me  abfente 

')  dare?  vielleicht:  dabo:  *ich  werde  mich  mit  den  lange  bei 
Seite  gelegten  Geschäften  befassen*. 

*)  advisare  =  deliberare,  s.  Dn  Gange  I  93  f. 

")  Hier  fehlt  etwa:  adeft. 

")  Hs:  naturam;  vgl.  aber  unten  in  der  Bede  der  Marina  an 
Dagmanns  die  gleiche  Verbindung:  notitiam  et  familiaritatem. 

'*)  vituperinm  =  vitnperatio,  s.  Du  Gange  VIII  361. 


Q  Herrmann,  Die  lateinische  'Marina\ 

relinquam.  Et  puto  equidem,  coniimx  cara,  omnem  nunc  te 
callum  mentis  conceptum  et  appetitum  habere  pudicum.  Verum 
autem  cum  cognofco,  quid  etas  tua,  quid  forma  et  inclufus  appetit 
calor,  tibi  impoflibile  futurum  fcio,  vt  medio  tempore,  quo  extra 
manfurus  fum,  cum  alio  viro  coniungi  necelTe  habeas.  Nee  tamen 
hac  re  turbatum  animum  fero :  volo  quidem,  quitquid  tibi  et  nature 
tue  confentaneum  fit,  cum  id  fciam  te  nequaquam  vitare  poITe. 
EU  igitur  iflud,  quod  maximis  rogationibus  obfecro:  vt,  quoad 
poteris,  noilrum  pudicum  ferues  thorum.  Nulli  vero  lui  aut  pu- 
dicitie  tue  curam  relinquam.  Tu  ipfa  tuimet  aderis  cuRos.  Nulla 
quidem  tam  arta  custodia,  que  inuitam  mulierem  pudicam  feruare 
poffit.  ^')  Cum  vero  fanguinem  in  furias  expreffit  calor  [108*]  nee 
iam  vltra  poHit  effe  conlinentie  locus,  tunc  cara  deprecor  coniunx: 
in  agendo  aftuta  et  cauta  fis,  ne,  quid  feceris,  publicetur  in  vulgo, 
quod  tibi  mibique  in  perpetuam  infamiam  et  inabolibilem  igno- 
miniam  futurum  foret  mariti  natorumque,  quos  ex  me  fufceptura 
es ;  faltem  nomine  et  fama  Vi  minus  re  pudicitiam  ferua !  Modum 
autem ,  qui  tibi  in  hac  re  feruandus  erit,  docere  te  volo.  Scls 
quidem  hanc  vrbem  noilram  quam  plurimis  adulefcentulis  et 
fortiffimis  habundare  iuuenibus.  Ex  omnibus  igitur,  quos  nofces, 
fufifecerit  tibi  vnum  eligere,  cum  quo  ludere  poffis.  Vagum  autem 
vel  varium  et  difcolum  ^*)  inhonellumue  nullo  modo  eligendum  pu- 
labis.  Is  enim  crimen  ftatim  panderet  vento,  cum  fecretum  nihil 
tales  et  horum  fimiles  habere  confueuerunt.  Tu  itaque  caute 
ages  et  illum  eliges,  quem  fapientem  effe  cognoueris,  vt*  cum 
factum  fuerit,  ipfe  non  minus  ocultum  teneat  quam  tu  ipfa.  Hoc 
igitur  illud  eft,  quod  ex  te  peto,  quodque  £i  mihi  promiferis  et 
obferuaturam  te  fpoponderis,  profecto  hodie  in  animo  mihi  fum- 
mam  letitiam  dabis.  Nee  volo  mihi  refpondeas,  quemadmodum 
cetere  mulieres  in  fimilibus  folent.  Cum  enim  fimilia  proponuntur, 
quedam  hec  verba  refpondent:  'Quis  tristis  animus  hie  videtur? 
que  tam  dira  opinio  perturbat  fenfum?  quomodo  enim  hoc  mihi 
in  mentem  accedere  possit?  noni  non!  abfint  promifliones  hec 
omninol  Non  equidem  vnquam  me  illa  lux  videat,  in  qua  id 
nedum  agam,  verum  neque  folum  modo  cogitem.  Has  igitur 
Marina,  refponfiones  adduxi,  vt  eas  omnino  exciudas;  firmiter 
quidem  credo  tuum  Optimum  nunc  ede  propofitum,  in  quo  hortor 
vt  maneas  quam  diu  tamen  potes.  Nolo  etiam  illud  facias,  quod 
premifi,  nifi  dumtaxat  in  cafu,  quo  aliter  te  appetitui  et  iuuentuti 
tue  videas  non  poffe  refillere:  promittas.*  Aronus  vt  dixit,  rubere 
multo  vxoris  facies  tegebatur,  et  tremulum  muliebre  cor  editis 
rationibus  extinctum  refponfionis  modum  equidem  anxietate  que- 
rebat.    Post  pufillum  vero  rubere  dimilTo  palenti  facie  Marina  et 


1*)  Vgl.  Aeneas  Sylvius,  Euryalus  und  Lucretia  (Opera  Basel  1571 

S.  631) :  ^ . .  tam  facile  est  inuitam  cuftodire  mulierem  quam \ 

**)  difcolus  =  difficilis,  morofus,  s.  Du  Gange  III  131. 


i 


Herrmann,  Die  lateinische  ^Marina".  7 

tremula  voce  locuta  elt:  'Dulcis\  inquit,  'et  amate  coniunx!  multum 
quidem  et  intellectuni  et  roentem  tuis  terruilli  fermonibus,  vt  ea 
nunc  a  te  audiuerim,  que  nunquam  aut  didici  aut  omnino  ex- 
cogitare  prefumpfi.  Puellam  et  iuuenem  me  his  fermonibus  temptare 
[108^]  et  talibus  propoßtionibus  vexare  quafi  impium  rear^^),  neque 
enini  fcelus  aut  facere  aut  excogitare  etatis  mee  est.  Cum  vero 
pudicitiam  abfente  te  non  poüe  me  feruare  tibi  notifßmum  dicis, 
id  maxime  affligit  mentem;  vnde  tota  tremifco,  et  quid  loquar 
quidue  refpondeam,  ignara  loquendi  et  argumentis  tuis  et  rationibus 
nefcio.  Illud  tarnen  quod  nunc  dixero  non  fecus  in  corde  quam 
in  ore  locutam^®)  puta:  potius  vtinam  cruenta  necatam  motte  et 
pede  dira  extinctam,  fepultum  caput  et  obruta  membra  operiat 
tellus,  quam  dies  vnquam  continentie  mee  et  matrimonii  noflri 
violauerit  thorum;  quod  quomodo  aut  accidere  aut  in  mentem 
venire  polfit,  nequaquam  excogitare  fcio.  Verum  quia  has  refpon- 
ßones  propoßtis  tuis  fermonibus  declinafli  et  hec  elTe,  que  mulieres 
diffugia  facere  folent,  vt  tue  menti  quietem  et  animo  folamen 
afiferami  iuxta  opinionis  tue  fermonem^''),  ne  quid  ex  me,  in  quibus 
iuiTeris,  defuturum  putes,  firmo  animo  et  valenti  opinione  tui  ad- 
uentus  diem  cum  corporis  mei  pudicitia^^)  expectaturam  promitto. 
Et  ß  (quod  abßt  et  femper  auertat  deus !)  quodcunque  contrarium 
acciderit  menti,  illa  quecunque  faciam,  que  dixifli,  nee  in  aliquo 
a  data  a  te  regula  excedam  modum  idque  ita  promitto  et  ßr- 
miter  fpondeo.  Et  ß  quid  vlterius  tuam  agrauat  mentem,  illud 
ofiferas  exoro;  et  precipe  que  pro  uotis  acturam  me  cupis!  Nil 
equidem  ampHus  cupio  niß  vt  meum  cum  tuo  volle  coniungam, 
et  quod  tu  vis  id  efficiam,  non  quod  ego/  Talibus  igitur  vxoris 
refponfionibus  exillaratus  Aronus  pre  gaudio  vix  tenuit  lacrimas 
et  'Quodcunque^  ait,  'cara  coniunx,  ex  te  poftulaui,  totum  accepi, 
modo  promifTa  ita  ferues :  in  animam  claude  et  (labili  mente  con- 
firma!'  Vt  itaque  noctem  alba  exciußt  dies,  Aronus  et  focii 
zephiris  vocati  caras  domos  et  dulcem  patriam  linquunt  et  in 
nauibus  fedentes  extenßs  velis  alTuetam  viam  et  tranquillum  con- 
uolant  mare,  litora  patrie,  turres,  atque  domorum  tecla  celeri  fuga 
pretereunt,  Aronus  vero  vxoris  et  eins  verborum  non  immemor, 
fed  ea  continuo  in  mentem  reuoluens  numquam  a  litoribus  in- 
tuitum  flectit,  donec  nauis  longa  protracta  diftantia  altifßma  in 
turibus  faftigia  etiam  omnia  exceüerat.  Optate  itaque  adeo  per- 
feuerant  atque  crebrefcunt  aure,  quoad  [109^]  modicos  nauigantes 
dies  quefitos  portus  atque  litora  optata  contingunt.  Marina  interim 
domus  cuftos  cum  paruula  adulefcentula  feruitrice  remanßt  con- 
iugisque    fui  verborumque  atque  federis   memor  honefte  viuendi 

*•)  Doch  wohl  für:  reor. 

**)  Ergänze:  me. 

")  Richtiger  gewiss:  opinionem  tui  fermonis. 

")  Hier  fehlt  wohl:  me. 


g  Hemnann,  Die  lateinische  ^Marina". 

cafte  atque  pudice  feruabat  modum.  Quindenos  forfan  iila  anDOs 
peregerat:  vnde  in  tarn  iuueDÜi  pectore  paruus  verfari  poterat 
dolus,  vt  potius  fexui  fragilique  etati  quam  malitie  afcribi  polßt, 
ß  impudicum  quid  illi  in  procelTu  contigilTe  videatur.  Vt  igitur 
plurimos  a  difcelTu  nauium  puella  manferat  annos^^),  Aronus  qua- 
liter  illius  ab  oculis  aberat,  ita  et  paulatim  aboleri  cepit.  Puelle 
quidem  fpecioßtas  iam  dudum  omni  ciuitati  fuerat  nota;  quare 
abfente  marito  frequens  iuuenum  folicitatio  ante  eius  domum  ßn- 
gula  die  conuenerat,  qui  ludis,  qui  carmine  et  fonitu  pedeftres 
equedrerque  muitis  copiis  die  nocteque  ftrepebant.  Ea  vero  pru- 
denter  et  honede  in  domum  [!]  manens  nulli  videri  poterat.  Verum 
quoniam  ad  feneftrarum  paruas  fcilTuras  illos  intuebatur,  qui  illam 
videre  non  poterant,  delicatos  iuuenes,  robuftas  Facies,  voces, 
fufpiria  modofque  ßngulos  amoris  notans  plerumque  titilabat  in 
mentem,  et  inclufus  teneris  ofßbus  calor  comprimere  ignem  et 
continere  ampiius  iam  non  poterat,  verum  captis  viribus  quafi 
lignorum  incenßo  extra  cinerum  velamen  fcintillare  cepit.  Marina 
muitis  inuoluitur  amoris  curis  dumque  folam  cum  puella  in  do- 
mum [!]  fe  confpicit,  aptitudinem  loci  tempufque  nullo  impeditum 
cuftode  cognofcit.  In  eam  itaque  amoris  cogitatio,  etas,  otium, 
et  folitudo  libidinis  inftigant  flammas,  delinquendique  aptitudo  in- 
animat  et  audaciam  prebet.  Amor  ergo  et  pudicitia  ßmul  certant; 
in  quorum  contentione,  ßquando  aptitudo  producatur  in  tellem, 
plurimum  contra  pudicitiam  iudicium  fertur.  Dum  igitur  per- 
plexo  animo  muliebre  pectus  diu  vexalum  foret,  illud  tandem, 
quod  marito  promiferat,  in  mentem  venit,  cogitatque  puella  eius 
maritum  fapientillimum  fuiUe,  qui  impoflibilem  ei  continentiam 
dixerat.  'Mariti  conßlii  [!]  vtamur!\  ait.  'In  hoc  en im  ne  quidem 
licentiam  mihi  dedit:  quin  immo  ne  aliter  facerem,  ego  ipfa  eo 
rogante  iureiurando  ßrmaui.  Nulla  hie  culpa,  nullus  hie  elTe 
error  [109**]  poterit,  ß  modo  formam  promilTionis  attendam:  ne 
vagum  aut  difcolum  eligam,  iuuenem  vero,  qui  prouidus  et  fapiens 
reputetur:  ita  profecto  agam  in  hoc,  cum  fufßcit  conßlio  parere 
mariti,  ß  fapiens  ßt.  Iuuenem  vero,  qui  cum  fene  in  pari  fapientie 
reputatione  ßt,  multo  potius  eligendum  puto\  Ulis  autem  diebus 
a  cafu  ^®)  venerat  lanuam  Dagmanus  quidam  iuuenis  iurifperitillßmus, 
qui  plurimos  annos  ßononie  (tudiis  difciplinifque  fcolailicis  vacauerat 
adeo,  vt  elegantifßmi  et  ßngularis  viri  nomen  adeptus  eüet  atque 
inter  bonos  ciues  et  graues  viros  multe  reputationis  vir  haberi 
ceperat.  Is  ergo  cum  ßngulis  diebus  frequentaret  forum  elTetque 
via  eius,  cum  a  domo  illuc  pergeret,  tranßtum  facere  ante  hoftium, 
vbi  habitabat  Marina,  illa  fepius  hunc  tranfeuntem  per  cancellum 
domus  afpexerat  et  robuftam   faciem  iuuenilemque  etatem  in  illo 

^*)  Wohl  irrthumlich  für:  dies,  vgl.  Zeitschrift  f.  deutsches  AI ter- 
thum  29,  382  Z.  21 :  'vil  tag\ 

**)  a  cafu  =  fortuito,  s.  Du  Gange  II  216. 


Herrmann,  Die  lateinische  ^Marina'.  9 

cognouerat  notaueratque  illius  inceJDTuni  grauem  habitumque  ho- 
nellum  modofque^*)  mores  et  gefta.  Eum  autem  ipfa  iam  diu 
prudentiffimum  iuuenem  nominari  animaduerterat ;  vnde  totum 
animi  fui  votum  cum  eo  confumare  defiderare  cepit.  Quomodo 
vero  illud  incipiendum  foret,  conlinuo  mentis  Rudio  tractabat. 
Gumque  horam,  qua  folitus  erat  ille  tranfire,  notaHet,  fubilo  foli- 
citudinem  gefTit,  vt  fempcr  co  tempore  leta  facie  comptaque  coma 
et  muiiebribus  ornamentis  decora  illius  aduentum  expectaret  ante 
cancellum,  vt  ß  forte  intueretur  eam,  caperetur  amore,  cum  parata 
efifet  Uli  amoris  figna  atque  indicia  pandere.  Ea  tamen  nihil  adui- 
famento  hoc  confecuta  eil.  Nam  grauis  iuuenis  gressus  erat  mode- 
siique  oculi,  ne  vnquam  in  canceDum  afpiceret,  vbi  ilia  fedebat. 
Pluribus  vero  fic  labentibus  diebus  et  noctibus  deßderio  fuo  puella 
fe  frufirari  cernebat.  Quadam  autem  die  dum  amoris  illa  impa- 
tiens  Dagmanum  iuuenem  venientem  a  foro  domumque  ambulantem 
vidifTet  a  certa  feruitrice  adulefcentula^^):  'Vade*,  inquit,  'Anthonia, 
et  Dagmani  nostri  periti  inquirito  domum,  ad  quam  ingressa 
'Rogat\  dicens  [!]^^),  'Manna,  Aroni  coniunx,  vt  nulla  protracta 
mora  ardua  et  vrgenti  ex  caufa  ad  eam  feitines^;  cui,  ß  caufam 
interrogauerit,  ignorare  te  dices,  fciturum^*)  eam  tamen  [110*], 
cum  primum  ad  me  venerit,  habitationem  locumque  indicabis  ei.' 
Adulefcentula  itaque  (tatim  obtemperans  abiit  inuentumque  iUum 
in  menfa  cum  amicis  eins  conuiuentem  alloquitur  audienlibus  ßn- 
gulis  exequiturque  mandatum.  Dagmanus  enim,  qui  et  Aronum 
et  domum  eins  a  longo  tempore  nouerat,  quamquam  huius  vxoris 
Tue  nullam  notitiam  haberet,  fciens  tamen  abede  Aronum  arbi- 
tratus  eil  feu  alicuius  litis  caufa  feu  controuerße  vocari,  vt  forte 
ins  pro  ea  in  foro  diceret,  qualiter  pro  multis  confueuerat  facere. 
'Vade*,  inquit,  'adulefcentula,  et  domine  tue  refer:  fumptis  epulis 
ad  eam  me  ßatim  accefiTurumP  Ex  hiis  etiam,  qui  intererant,  nemo 
aliter  putauerat,  quam  Dagmanus  imaginaius  efl:  nulla  rei  fufpicio. 
Anthona  redit  in  domum  refertque  refponfa.  Marina  vero  opinionis 
fue  confcia  quaß  tremebat  ardenti  deßderio,  quod  optabat.  Cubi- 
culum  (Irauerat  et  tapetas  compleuerat;  thalamum,  fe  ipfam  etiam, 
quamquam  formofißima  foret,  quantum  ßeri  poterat,  aptauerat 
ornamentis,  vt  adeo  fpecioßißma  videretur,  vt  nihil  supra.  Et  licet 
breuis  hora  tranßß'et,  illa  tarnen  expectare  tantum  erat  impatiens, 
vt  a  puclle  reditu  eßimaret  fluxilTe  longum  temporis  fpatium.  Tan- 
dem Dagmanus  cum  apparet  in  via,  illa  vt  venientem  afpexit, 
exillarata  toto  manet  in  thalamo  hie  illic  ßngula  ordinale  compo- 
nens.  Anthona  in  hostio  eins  aduentum  expectabat  venientemque 
fufcepit  et  in  domum  inducit  feruis  extra  manentibus.    Marina  vero 

•*)  vielleicht:  modicofqne? 

**)  doch  wohl:  ad  certam  feruitricem  adulefcentulam. 

'*)  wohl  statt:  dices? 

**)  Ergänze:  enm. 


10  Herrmann,  Die  lateinische  ^Marina*. 

in  primo  ipßus  domus  veRibulo  illi  fe  obuiam  confert  et  reuerenter 
fufceptum  molli  apprehendit  manu  et  *Precedam',  inquit,  *vt  mon- 
Urem  viani*.  Dagmanus  tanta  formofitate  et  pulcritudine  mulieris 
miratus  obllupuit  fequenfque  illam  in  thalamum  eins,  quam  iili 
celebri  folemnitate  parauerat;  llatimque  ante  cubiculum  illa  con- 
fedit  rogauitque  eum,  vt  apud  eam  federet;  fecitque  Dagmanus 
et  fedit  folus  cum  ea  in  thaiamo  hofliis  claußs  mirabaturque  eam 
modumque  et  circumdantias  ßngulas.  lila  quidem  inflammata  facie 
in  illum  inßxerat  vifum,  et  cum  sermonem  diflereret''^^),  Dagmanus 
aliquid  fufpicatus.  Tandem  vero  illa  bis  verbis  incepit:  'Dagmane 
prudentinime  [110^]  iuuenis,  caufam,  qua  vocari  te  fecerim,  bre- 
uiter  pandam.  Aroni,  coniugis  mei,  habere  te  et  notitiam  et  famili- 
aritatem  puto.  llle  me  qualem  vides  relicta  suis  mercimoniis  Ale- 
xandriam  petiit;  prudentemque  illum  maxime  exiftimare  volo,  qui 
etatem  et  complexionem  meam  contemplatus  nequaquam  posse  me 
ait  cubiculum  hoc  abfque  alterius  viri  conuersatione  feruare;  quod 
tunc  impofßbile  arbiträrer,  nunc  verissimum  reor:  nee  equidem 
patitur  etas  mea,  forma  et  dulces  animi  inane  hoc  et  vacuum  mihi 
ßc  labi  tempus.  Aliud  quidem  natura  expetit  mea  et  quaß  primi 
flores,  qui  veris  tempore  fponte  sua  odorem  et  colores^*),  fi  quando 
a  naturali  indinctu  impediantur,  facile  arefcunt:  ßc  mecum[?]  ille  sub- 
tiliter  perfpicatus  eil.  nee  letum  fe  habiturum  animum  de  me  dixit, 
niß  ßbi  iuramento  promitterem,  cum  inclinarer  ad  hanc  rem,  elec- 
turam  me  quem  fapientem  arbiträrer,  qui  cautus  et  tacitus  nostram 
feruaret  famam ;  et  quidem  ipfa  te  in  tota  vrbe  hac  re  aptifßmum 
putaui,  qui  letus  et  iuuenis  necnon  prudentifßmus  es.  Neque  puto 
dedignaberis  me:  qualis  enim  fum,  vides  et  in  hoc  poteris  ab- 
fentem  maritum  fuplere.  Quod  ita  sit,  et  cum  id  vis,  facias!  ad- 
sumus,  nee  hoc  vlli  preter  nos  notum  ßet.'  In  optimo  negotio 
Dagmanus  ita  preuentus  manum  mulieris  apprehendit  oRenditque 
letam  faciem  et  maxime  exillaritatum  pectus  fermonibus  bis  et 
iloridis  verbis:  '0*,  inquit,  'expetite  dies,  conßmilem  femper  optaui; 
numquam  amplius  infortunatum  me  dicam.  cui  tam  pinguis  fe  ob- 
tulerit  cafus.  Hodie  felicifßmum  me  fecifli,  Marina  dulcifßma: 
quam  feßos,  quamque  placidos  iocundofue  iam  concepi  nos  acturos 
dies,  quos  nullus  alius  a  nobis  feiet!  Omnium  hodie  fortunatifß- 
mus  et  nostra  quecunque  et  in  hoc  abfque  impedimento  concerno.^^) 
Sola  re  autem  fcandalifor  in  mentem,  que  tamen  paruo  tempore 
fedari  potest.  Marina,  quedam  cordis  mei  fecreta  iam  tibi  aper- 
turus  fum,  quibus  non  mirabere,  ß  hoc  negotium,  quod  cuique 
abfque  mora  tractandum  foret,  prolixis  fermonibus  protraho  et  in 
tempus,  quo  nil  mihi  moleftius  eft,  differo.  Et  quidem,  dum  Bononie 
Iludiis  vacarem,    orta  feditione   in  populo   cum  quibusdam    fociis 

*')  Wohl  statt:  difi'erret.   Hinter:  fufpicatus  fehlt  wenigstens :  ed. 

*•)  hier  fehlt  etwa:  dant. 

S7)  £in  gewiss  ganz  verderbter  Satz. 


Hernnann,  Die  lateinische  ^Marina".  {{ 

artis  carceribus  mancipatus  fui  quaß  confcius  feditionis  et  muta- 
tionis  flatus;  dum  fuifTem,  timui[lll'^J  profecto  difpendium  vite, 
atque  cum  infontem  me  penitus  efTe  cognofcerem,  valenti  animo  et 
puro  corde  voui  promifique  illi,  qui  innocentiam  nouerat,  deus*®) 
ß  ab  accusatione  folutum  incolumem  et  in  patriam  in  partes ^^) 
et  amicos  redderet^^),  per  integrum  annum  vnico  cibo  vnica  hora 
fumendo  contentus  efficerer  ita  tamen,  vt  nullis  cibariis  vterer  quam 
folo  pane  et  fluuiali  aqua.  Jamque  fere  totum  annum  vota^^) 
perfeci  et  hoc  tempore  impollutum  feruaui  corpus.  Oro  itaque^ 
dulcis  Marina,  alium  quam  me  nullum  velis  eligere,  neque  te  tedeat 
modicos  dies  fufferre,  donec  lolius  voti  annum  euafero.  Omnes 
namque  fepius  dies  computo,  qui  fuperfunt,  quos  etiam  breuiare 
non  podum,  nifi  efTet  qui  partem  horum  dierum  pro  me  fimili 
ieiunio  cuftodiret.  Abfoluerer  quidem,  fi  alius  pro  me  faceret,  quod 
ipfe  facturus  Tum.  Sed  quoniam  permaxime  dubitaui  cuiquam 
hoc  adiumentum  committere,  ne  forte  deciperer,  ipfe  folus  totius 
anni  pondus  accepi.  Quia  vero  fiduciam  quam  in  me  fumpfifli 
amoremque  tuum  ad  me  iam  manifeHe  concipio,  in  te  vna  fiduciam 
ponam,  quam  in  fratres  et  confanguineos  recufaui,  vt  dies,  qui 
mihi  ex  voti  promiffione  fuperfunt,  tecum  diuidam,  (i  modo  id  tu 
abfquc  fraude  facturam  te  fpoponderis,  vt  ieiunes,  quemadmodum 
dixi.  Tanta  enim  afTectione  ad  opus  tuum  iam  moueri  incipio,  vt 
fexaginta  dies,  qui  reftant,  plus  me  grauent,  quam  fecerit  totius 
anni  reflduum.  Nos  igitur  breuiemus,  ß  placeti  Tu  pro  me  tri- 
ginta,  ßcut  et  ego,  ßmih'  abdinentia  obferuabis :  quibus  exactis  erimus 
illares  et  alterius  amore  confruemur.  Tu  vero  non  aiiter  promittas, 
niß  feruatura  ßs,  ne  quem  ad  me  monflras  amorem  deceptio  ßt. 
Hi  quidem  breues  cito  tranßbunt  dies,  tu  modo  ß  hoc  futuram 
tu  velis  facere*.^^)  Doluit  puella  tarn  longum  tempus;  auditis  tarnen 
dulcibus  verbis,  fperabat  cito  lapfuros  dies:  cum  in  eius  amorem 
muUum  bachata  foret,  fe  id  facturam  animo  leto  fpopondit.  'Nee 
me*,  inquit,  'ßerile  ieiunium  quantum  lemporis  longitudo  perturbat. 
Verum  post  diem  dies  cito  labitur!  Ita',  inquit,  'ipfa  contenta  fum: 
poß  itaque  hos  dies  erimus  ßmuP.  Dagmanus  igitur  in  fua  ßmu- 
latione  [Hl**]  iam  victor,  *Ego',  inquit,  'cum  hec  mea  via  in  trän- 
ßtu  ad  forum  ßt,  ad  te  vifendam  in  domum  frequenter  accedam*; 
liuquitque  eam  et  egreHus  cum  feruis,  qui  extra  portam  iam  reman- 
ferant,  in  domum  propriam  reuerfus  eft.  Manßt  illa  fecum  cogi- 
tans,   quecunque  ad   inuicem   dixerant,    et  horum   triginla  dierum 

*•)  Für:  deo,  vtV 

*•)  wohl  für:  ad  parentes. 

•®)  es  fehlt  wohl:  me. 

'^)  Die  Handschrifb  hat:  vola. 

•*)  Sollte  diese  Stelle  nicht  aus:  facturam  te  velis  fatere  verderbt 
sein?  Die  deutsche  ^Marina'  wenigstens  hat  337  Z.  32:  *wiltu  es  thun, 
so  verjehe'. 


12  Herrmann,  Die  laieiniscbe  'Marina*. 

finem  magna  deuotione  fcrutatur  incipitque  leiunium  aquametpanem 
dumtaxat  fumens  post  folis  occafum.  Dagmanus  poRridie  ad  vi- 
fendam  eam  in  donium  eius  ingreditur,  quem  illa  ardenter  ama- 
bat.  Et  poft  mutuas  inuicem  confabulationes  ^Seruas\  inquit  Dag- 
manus, *mecum  abftinentiam  voti'?  'Vlique',  ait,  *nec  vlla  deceplio 
eft*.  'Facito  ita,  precor,  mi  duiciflima,  quia  cito  hos  modicos  va- 
cuabimus  dies* ;  abienfque  receffit.  Puella  autem  fidelis  cum  inte- 
grilate  ieiunium  obferuabat  nee  aliqua  grauabatur  nioleftia  propter 
amoris  fui  folatium,  quod  fpectabat  in  fme.  Jamque  feptem  ie- 
iunauerat  dies,  cum  calor  in  muliere  debilitari  cepit,  vt  que  in  domo 
fubtili  vefte  ßndonis  vtebatur,  nunc  hiemalibus  vteretur  vestimentis, 
quibus  neque  calefieri  poterat.  Caufamque  illa  neque  rei  perpen- 
debat  adutiam.  Quindecimus  itaque  Fe  abllulerat  dies,  cum  fere  per 
domum  puella  ambulare  poüet,  illique  Anthona  nuntiat  in  domum 
veniiTe  Dagmanum.  Audiens  igitur  illum  ade(Te  iterum  amore  aniroi 
velocius  fe  illi  obuiam  offert,  vt  nil  debilitata  videri  poffef).  Cui 
Dagmanus:  'Quenam  facies  et  quis  grelTus?  video  profecto  te  tenu- 
ilTe  ieiunium.  0  amata  dulcis!  Hodie  medium  euaßmus  tempus. 
Rogo  conftans  ßs  et  vince  naturam,  ne  in  hoc  mihi  deseras  fidem! 
fuperfunt  breues  quindecim  dies,  quos  in  gaudium  et  celebre  ter- 
minabimus  feftum!*  mulcetque  verbis  et  blanditiis  confolatur  bonum- 
que  dat  animum  mulieri.  Cum  vero  vigefimura  fextum  feruafTet 
diem,  amifTo  viuaci  colore  et  formosa  facie  puella  omnem  libidinis 
voluntatem  amiferat  Ilabatque  continue  in  cubiculo  iacens,  nee  iam 
aderat  tantus  ardoris  calor;  penfabatque  illa  adutiam,  quam  cum 
ea  Dagmanus  habuerat,  cepitque  cognofcere  hoc  fapientis  opus  fuilTe, 
vt  abltinentia  [112*]  corporis  luxum  extingueret.  Cum  itaque  pen- 
ultimo  menßs  die  Dagmanus  ad  vifendam  eam  venilTet,  illum  ad 
fe  in  cubiculum  vocari  iubet.  Jacentemque  illamut  in  cubiculum[!] 
vidit:  'Quomodo'?,  inquit,  'amata  mi:  hecne  facies  folita,  quam 
mihi  mondrafti?  folus  fuperefl  paruus  dies'.  Illa  vero  blandienti 
fermonem  abrupit:  'Amafli  me\  inquit,  'Dagmane,  amore  perfccto, 
non  turpi  aut  inhonesto,  qualiter  infelix  ipfa  prefumpferam,  carum- 
que  et  femper  caridimum  te  pura  dilectione  fauebo,  qui  pudicitiara 
meam  et  honeftatem  famamque  coniugis  atque  parentum  meorum 
et  Feruasti  et  feruare  docuifti.  Sapientis  coniugis  Aifficit  obtem* 
peralTe  mandato,  vt  prudentem  elegerim  virum,  cum  prudens  im- 
prudentiam  caftiget.  I  semper  felix  femperque  fofpes,  prudentif- 
ßme  iuuenis,  cui  nedum  ego  neque  coniunx  et  omnis  domus 
meorum  tante  rei  vnquam  dignas  poterit  foluere  gratias'.  Dagmanus 
igitur  vt  vidit  fe  quod  propofuerat  perfecilTe,  illam  dulcibus  verbis 
monet,  caRigat  et  docet  folatamque  relinquens  illius  pudicitiam  cum 
ieiunio  abdinentiaque  feruauit.    Finis.    Laus  deo. 

Es  fragt  sich  nun  zunächst:  ist  diese  lateinische 'Marina^ 

auf  die  zweifellos  der  grössere  Theil  der  ältesten  Bearbei- 

")  aus:  point  verbessert. 


Hemnann,  Die  lateinische  ^Marina*.  13 

hingen  zurückgeht,  wirklich  die  Grundlage  aller  Bear- 
beitungen, d.  h.  ist  die  Erzählung  ursprünglich  in  lateinischer, 
nicht  in  italienischer  Sprache  abgefasst  worden?  An  sich 
ist  die  Bejahung  der  Frage  durchaus  nicht  unmöglich:  ein 
Beispiel  für  eine  von  vornherein  lateinisch  geschriebene  No- 
velle ist  des  Aeneas  Sylvius  ^Euryalus  und  Lucretia'. 

Zweifellos  liegt  die  lateinische  Fassung  der  Erzählung 
Eybs  im 'Ehebüchlein'  (o.  O.u.  J.  =  Nürnberg,  Koberger  1472 
fol.  33^—38*)  zu  Orunde;  denn  nicht  nur  besass  der  Autor 
die  lateinische  Marina,  sondern  er  bezeugt  auch  selbst  im 
Anfange  der  Novelle,  dass  er  sie  'auiF  das  kürtzt  auss  latein 
in  teutsche'  bringen  will.  Das  Gleiche  gilt  von  der  Über- 
tragung, die  Strauch  (Zeitschr.  f.  deutsch.  Alterthum  29, 325  if.) 
veröffentlicht  hat  und  die  unmöglich  auf  Eyb  zurückgeht; 
dass  sie  nicht  einem  italienischen,  sondern  unserm  lateini- 
schen Texte  nachgebildet  ist,  beweist  schon  das  erste  Wort ; 
denn  die  unverständliche  Ortsbezeichnung  '  Januensis  was  ein 
stat'  ist  nur  durch  die  lateinischen  Worte  'Januensis  erat 
urbs'  zu  erklären. 

Für  die  Annahme  einer  noch  älteren  italienischen  Fas- 
sung scheint  vor  allem  die  bekannte  Stelle  aus  der  zweiten 
Translation  des  Niclas  von  Wyle  zu  sprechen,  wo  es  heisst 
(hg.  V.  Keller,  S.  79  Z.  5  ff.):  'Vsz  dem  buch  bochacy, 
das  in  welcher  zungen  vil  hüpscher  historien  ....  begryffet, 
hat  vor  vil  Jären  der  hochgelert  man  Franciscus  petrarcha 
die  history  von  griselde  lutend  vsser  dem  welchen  zu  latin 
verkert .  .  .  Sidher  ist  durch  den  hochgelerten  man  leonar- 
dum  aretinum  vsser  dem  obgemelten  buch  die  histori  von 
sigismunda  sagende,  vnd  aber  von  aim  andern  gelerten 
die  histori  von  marina  lutend  euch  zu  latin  gebrächt  worden.' 
Mir  scheint  indessen,  dass  dieses  Zeugnis  durchaus  keinen 
Anspruch  auf  urkundlichen  Werth  hat.  Wenn  Niclas 
von  Wyle  gut  unterrichtet  wäre,  würde  er  nicht  die  Marina 
dem  Boccaccio  zuschreiben  und  sonderbarer  Weise  so  in 
denselben  Fehler  verfallen,  den  bekanntlich  Schiller  in 
seinen  Briefen  an  Goethe  beging.  Wir  haben  es  offenbar 
nur  mit  einer  Wyleschen  Combination  zu  thun;  er  glaubte 
aus  den  Übertragungen  der  Griseldis  und  der  Guiscard- 
Sigismunda-Novelle  auch  von  der  ihm  bekannten  lateinischen 


14  Herrmann,  Die  lateinische  ^Marina". 

Marina   auf   ein  italienisches   Original  zurückschliessen  zu 
dürfen. 

Die  Entscheidung  der  Frage,  ob  unsre  Passung  selbst 
stilistische  Eigenthümlichkeiten  zeigt,  die  sich  nur  durch 
die  Annahme  einer  Übertragung  aus  dem  Italienischen  er- 
klären Hessen ,  sei  dem  Romanisten  überlassen ;  dem  Laien 
scheint  manches  darauf  hinzudeuten,  und  auffallend  wäre 
es  jedenfalls,  wenn  ein  humanistischer  Verfasser  seinen 
Personen  Namen  wie  Aronus,  Marina,  Dagmanus,  Antonia 
gegeben,  —  ja,  die  beiden  in  allen  späteren  Fassungen 
namenlos  gebliebenen  Freunde  des  Kaufmanns  Zani  und 
Qaliotto  genannt  hätte.  Aeneas  Sylvius  wenigstens  hat 
mit  ein  paar  verschwindenden  Ausnahmen  in  ^Euryalus  und 
Lucretia'  nur  Namen  des  klassischen  Alterthums  verwendet.^*) 

Es  bleibt  endlich  als  letzte  Aufgabe  eine  Yergleichung 
der  lateinischen  Novelle  mit  der  ältesten  französischen  Be- 
arbeitung, der  hundertsten  Erzählung  der  Cent  nouvelles 
nouvelles    (zuerst    1486    gedruckt).     Aber   auch  hier  wird  l 

der  Romanist   das   letzte   Wort  zu   sprechen    haben.     Der  | 

Verfasser  der  genannten  Sammlung  benutzt  sowohl  italie- 
nische wie  lateinische  Vorbilder,  vor  allem  Boccaccio  und  i 
Poggio,  und  während  er  im  ganzen  ungemein  frei  bearbeitet, 
scheint  er  doch  den  Grundsatz  zu  haben,  die  directen  Reden 
seiner  Originale  mit  grösserer  Treue  wiederzugeben  (vgl. 
z.  B.  die  Nov.  96  und  ihr  Vorbild  in  Poggios  Facetien,  Opp. 
omn.  1538,  S.  43t).  So  kommt  es,  dass  im  Gegensatz  zu 
den  allermeisten  Nummern,  die  ihren  Vorbildern  nur  noch 
inhaltlich,  aber  nicht  mehr  formal  ähnlich  sehen,  die  Marina- 
novelle, die  zum  grössten  Theil  aus  Monologen  und  Dia- 
logen besteht,  dem  Sachverständigen  eine  Einzelvergleichung 
mit  dem  lateinischen  Text  gestatten  wird.  Der  erzählende 
Eingang  ist  eine  sehr  freie  Wiedergabe  der  entsprechenden 
Stellen  der  Urnovelle,  aber  in  den  langen  Reden  entspricht 
sich  fast  Satz  für  Satz,  und  manche  Stellen  möchte  man 


•*)  Wenn  wir  von  den  ans  historischen  Gründen  beibehaltenen 
Namen  Sigiamundus  nnd  Catbarina  Petrusci  absehen,  stehen  die  Namen 
Beccarus,  Bertus  und  Pandalus  der  klassischen  Gruppe  Achates,  Aga- 
memnon, Dromo,  Eurjalus,  Lucretia,  Menelaus,  Nisus  und  Sosias 
gegenüber. 


Hemnann,  Die  lateinische  *Marina\  15 

als  eine  geradezu  wortgetreue  Übersetzung  des  Lateinischen 
auffassen.  Bedenklich  scheint  mir  dagegen  und  mehr  für 
eine  Übertragung  aus  dem  Italienischen  zu  sprechen  der 
Gebrauch  der  italienischen  Fremdwörter  *muthemathe'  und 
'muthematherie'^')  (S.  506  der  Ausgabe  Paris  1858),  wofern 
nicht  dieses  Wort  damals  allgemein  im  Französischen  ein- 
gebürgert und  sein  Gebrauch  bei  einem  italienischen  StoiFe 
dem  Bearbeiter  besonders  nahe  gelegt  war.  Ferner  kann  für 
das  Zurückgehen  der  französischen  auf  eine  andere  als  unsere 
lateinische  ^Marina'  angeführt  werden,  dass  in  dieser  Dag- 
manus  nur  ein  Fasten-,  nicht  auch  ein  für  die  Erzählung 
gleich  wichtiges  Keuschheitsgelübde  vorgibt,  während  der 
Doctor  im  Französischen  genauer  sagt:  'je  jeusneroye  ....  ung 
an  entier,  chascun  jour,  au  pain  et  a  Teau,  et  durant  ceste 
abstinence,  ne  feroye  pech6  de  mon  corps'  (a.a.O. 
S.  505).  Dass  dies  zweite  Gelöbnis  nicht  zufällig  in  der 
Eybschen  Aufzeichnung  ausfiel,  beweist  Strauchs  deutsche 
'Marina',  in  der  es  ebenso  fehlt.  Trotz  dieser  TJndeutlich- 
keit  seiner  Vorlage  sagt  aber  auch  Eyb:  ...  'das  ich  ein 
gantz  iar  keufch  beleiben  vnd  mit  brott  vnd  waffer 
vaften  wolt'  (a.a.O.  fol.  37*).  Schon  die  andere  Reihen- 
folge der  Gelübde  verräth,  dass  der  Franzose  und  Eyb 
nicht  etwa  eine  gleiche  vollständigere  Fassung  vor  sich 
hatten,  sondern  selbst  ergänzten,  und  zwar  aus  den  in 
nächster  Nähe  stehenden  Worten :  'hoc  tempore  impollutum 
feruaui  corpus',  die  sie  beide  darum  unübersetzt  lassen. 

Ein  immerhin  bemerkenswerthes  Zusammentreffen  ist 
es,  dass  die  Abfassungszeit  der  Cent  nouvelles  nouvelles  in 
die  Jahre  1456  bis  1461  gesetzt  wird,  und  dass  Eybs  Nieder- 
schrift der  lateinischen  'Marina',  wie  ich  in  meiner  Mono- 
graphie über  den  genannten  Autor  zeigen  werde,  zwischen 
1453  und  1459  entstanden  ist.  Man  wird  danach  geneigt 
sein,  die  Zeit,  in  der  das  Original  verfasst  ist,  nicht  lange 
vor  der  Mitte  des  Jahrhunderts  zu  suchen. 

Einige  Bemerkungen  über  die  verschiedenen  Bearbei- 
tungen der  Novelle  mögen  hier  ihre  Stelle  finden.  Die 
Filiation  ist  die  folgende: 


'')  Der  lateinische  Text  bietet  dafür:  mutatio  status. 


15  Hemnann,  Die  lateinische  'Marina'. 

Marina 


Latein  Latein  oder  Italienisch? 

I 


Anonymus  (Zoitschr.  f.  d.  Alterth.»)  Eyb  Cent.  nouv.  nouv.  100 


Speculom  exemplomm     Hans  Sachs     Malespini  Goethe 

Die  drei  Gruppen  unterscheiden  sich  von  einander 
ganz  deutlich.  Ziemlich  treu  im  Anschluss  an  das  oben 
veröffentlichte  Original  übersetzt  der  Verfasser  der  von 
Strauch  herausgegebenen  Bearbeitung.  Ich  bezeichnete  ihn 
in  der  Tabelle  als  Anonymus  und  befinde  mich  damit  im 
Widerspruch  gegen  Strauch,  der  a.  a.  0.  S.  340  diese  deutsche 
^Marina'  dem  Niclas  von  Wyle  zuschreibt,  weil  dieser  an 
der  oben  angeführten  Stelle  die  Erzählung  einer  deutschen 
Übertragung  für  würdig  erklärt.  Aber  so  glänzend  Strauch 
die  Yerfasserbestimmung  bei  der  zweiten  von  ihm  heraus- 
gegebenen Prosanovelle  des  15.  Jahrhunderts,  bei  Eybs 
^Grisardis',  gelungen  ist,  so  bedenklich  scheint  mir  der 
Vorschlag,  den  er  betreffs  des  Autors  der  Marina  macht. 
Denn  die  Treue  dieses  Bearbeiters  gegenüber  dem  Original 
ist  zwar  nicht  gering,  aber  sie  ist  doch,  wie  auch  schon 
Baechtold  (Geschichte  d.  deutschen  Litteratur  in  der  Schweiz, 
Anm.  S.  55  f.)  bemerkte ,  keineswegs  mit  Niclas  von  Wyles 
Sklaventreue  zu  vergleichen.  Gewiss  wäre  das  jetzt,  wo 
wir  die  lateinische  ^Marina'  besitzen,  ohne  weiteres  auf- 
zuzeigen, wenn  wir  eine  vollständige  Untersuchung  der 
Sprache  des  N.  v.  Wyle  besässen.  Aber  das  Buch  von 
Nohl  (Heidelberg  1887)*«),  das  unter  dieser  Flagge  segelt, 
beschränkt  sich  leider  auf  Laut-  und  Formenlehre,  und  so 
muss  die  genauere  Prüfung  der  Marinanovelle  dem  über- 
lassen werden,  der  sich  endlich  einmal  der  wichtigen  Unter- 
suchung des  Wyleschen  Stils  unterzieht.  Ich  greife  nur 
ein  einzelnes  Kriterium  heraus  und  wähle  natürlich  die 
Behandlung  der  lateinischen  Accusativi    cum  Infinitive  in 


»•)  Nohl  bespricht  S.  7—8  die  von  Strauch  edirte  Marinahand- 
schrift,  er  kommt  auch  zu  der  Vermuthung,  dass  hier  Wyles  Über- 
setzung vorliegen  könne,  hat  aber  1887  noch  keine  Ahnung  davon, 
dass  die  Handschrift  seit  1885  bereits  in  der  Zeitschrift  f.  deutsches 
Alterthum  gedruckt  vorliegt!  Zwingende  Gründe  für  die  Richtigkeit 
seiner  Vermuthung  bringt  er  nicht  vor. 


Herrmann,  Die  lateinische  *Marina\ 


17 


der  deutschen  Marina  einerseits,  in  Wyles  Übersetzung  der 
Boccaccio -Aretinusschen  Guiscard  und  Sigismunda- Novelle 
andrerseits.^'')  Es  liegen  dabei  folgende  Möglichkeiten  vor: 
Wiedergabe  des  lateinischen  Acc.  c.  Inf.  1.  durch  deutschen 
Acc.  c.  Inf.,  2.  durch  blossen  Infinitiv,  3.  durch  einen  Haupt- 
satz (indirecte  Rede) ,  4.  durch  einen  Nebensatz  (mit  ^dass' 
oder  ^wie') ,  5.  durch  nominale  Umschreibung,  6.  gänzlicher 
Fortfall  der  Umschreibungsnothwendigkeit.  Diese  Fälle 
vertheilen  sich  in  folgender  Weise: 


Acc.  c. 
Inf. 


Wyle 
Anonymus 


16 


Inf.       Hptstz. 


Nbstz. 


0 


5 


16 


10 


Nom. 
Umschr. 


Wegfall       Samma 


1      ")     24 


17     »•)    55 


oder  nach  Procenten  ausgedrückt: 


Wyle 

67 

4 

0 

21          4 

4 

Anonymus 

2 

16 

29 

18          4 

31 

Diese  eine  Probe  gibt  so  ungeheure  Verschiedenheiten, 
dass  man  schon  danach  schwerlich  geneigt  sein  wird,  in 
beiden  Fällen  an  denselben  Stilisten  zu  denken.  Dazu 
kommt  ein  Weiteres.  N.  v.  Wyle  ist  ein  feingebildeter 
Schüler  des  Humanismus,  und  böse  Fehler  und  Missver- 
ständnisse werden  ihm  nicht  häufig  begegnen.  Unserm  Ano- 
nymus dagegen  lassen  sich  jetzt  mit  Hülfe  der  lateinischen 

*'')  Das  Original  dieser  lateinischen  Bearbeitung  ist,  wie  ich  hier 
bemerken  will,  nicht  nur  in  seltenen  Incunabeldrucken  zu  finden,  es 
steht  vielmehr  auch  in  der  überhaupt  unsagbar  liederlich  hergestellten 
Gesammtausgabe  der  Werke  des  Aeneas  Sylvius  unter  dessen  Briefen 
(z.  B.  Basel  1571  S. 955  ff.);  der  Index  schreibt  die  Übersetzung  dem 
Aeneas  Sylvius,  die  Überschrift  des  Briefes  dagegen  ganz  richtig  dem 
Leon.  Aretinus  zu. 

••)  Acc.  c.  Inf.  Translation  hg.  v.  Keller:  81, 5.  lo.  la  f.  84,  33.  85, 14. 
2lf.  86,20f.85ff.  87, 7  f.  20  f.  21.  32  f.  88,15f.  89,6f.  90,  5  f.  14  f.  Inf.88,2f. 
Hptstz.  —  Nbstz.  82,  6f.  84, 6f.  86,  ißf.  87,33.  90,  lof.  Nom.  Ums. 
86, 6 f.    Wegfall  90,  i6. 

••)  Acc.  c.  Inf.  (Zeitschrift  f.  dtsch.  Alterth.  29)  339,7  (noch  dazu 
ist  dies  'hiesz  sie  ine  zu  ir  komen').  Inf.  326, 24.  327,  6.  12.  S4.  328, 15. 
330,30.  334,6.  337,23.  36.  Hptstz.  328,  i5.  329,  38  f.  330, 37  f.  331,  i4. 
333, 17.  334, 23.  29.  335,  i.  6.  i6. 35.  336,  i  f.  3.  337, 34.  338, 25  f.  29.  Nbstz. 
3äO,2of.  331, 14 f.  26ff.  334,19.  336, 9f.  11.24.  339,4.  21.  Nom.Ums.326,29. 
333,  i6f.   Wegfall  327, 2.  4.  328,  is.  26.  329,  sf.  22f.  330, 7.  23 f.  26.  331,i8f. 

35.  32.  333,  26  f.  335,  34.  336,  4  f.  37.  338,  26. 

Viorteljahrschrift  fQr  Litteratnigeschichte  III  2 


lg  Herrmann,  Die  lateinische  *Marina\ 

Vorlage  arge  Dinge  nachweisen.  Schon  das  oben  angeführte 
'Januensis'  wirft  kein  günstiges  Licht  auf  seine  Kenntnisse, 
und  mit  dem  Worte  ^Janua'  ist  ihm  weiter  unten  noch 
einmal  ein  grosses  Missgeschick  begegnet:  333,28  wird 
^venerat  lanuam'  ganz  sinnwidrig  mit  ^kam  für  ire  thür' 
wiedergegeben.  Ahnliche  mehr  oder  minder  hässliche  Ver- 
stösse finden  sich  auch  327, 4.  328, 4. 31  f.  329,1  (huselich!). 
14 f.  31  f.  330,  37 f.  331,  22 ff.  (ganz  verkehrt!).  332,  14.  35 f. 
335,12.  vgl.  19.  26.38.  336,  30  ff.  337,  31  f.  36  f.  338,  If.  13. 
Entschuldbar  ist  die  sinnlose  Übersetzung  338,  29  'du 
forchtest  das  fasten':  hier  hat  der  Anonymus  offenbar 
Himuisse'  statt  des  richtigen  'tenuisse'  gelesen.  —  Es  bleiben 
endlich  ein  paar  Berichtigungen  und  Sicherstellungen ,  die 
sich  aus  der  Vergleichung  des  deutschen  Textes  mit  der 
Vorlage  ergeben.  326, 12  (vgl.  die  Anm.)  ist  'vetter  v  n  d 
mutter'  der  Handschrift  correct  (lat.  parentes).  329, 21  ist  das 
letzte  'vnd'  zu  streichen:  'gesellschaft  vil  gutter  frunde' 
(==  multorum  amicorum  notitiam  et  familiaritatem).  329,  25 
ist  bestimmt,  wie  Strauchs  Anm.  vermuthet,  'liphabem'  für 
'liphern'  zu  setzen  (lat.  amatoribus).  330, 19  ist  hinter  'wise 
vnd  fromme'  das  Komma  zu  tilgen:  die  Worte  sind  nicht, 
wie  der  Herausgeber  will,  Anrede,  sondern  Object  zu  leren', 
entsprechend  dem  lat.  'modum',  also  'Verhaltungsmassregel 
und  vortheilhaftes  Benehmen'.  332, 1  ^verstanden'  für  lat. 
'accepi'  ?  vielleicht  'erstanden'  ?  332, 32  f.  ist  hinter  'Knaben' 
wohl  ein  Komma  zu  setzen:  nur  soweit  reicht  das  Object 
von  'sach';  'singen,  suffzen'  gehört  mit  'wise  und  geberde' 
zu  'merckt'.  332,34  möchte  ich  die  unverständliche  Stelle 
'off  staczken  in  iren  mutt'  nicht  mit  Strauch  in  'uff  sie 
strecken  iren  mutt',  sondern  auf  Grund  des  lateinischen 
'plerumque  titillabat  in  meutern'  in  'oft  statzen  in  irem  mut' 
verbessern  (statzen  =  sich  brüsten).  333, 14  'frolich'  =  frau- 
lich (lat.  muliebre).  333, 19  (Anm.)  Strauch  ergänzt  richtig 
'dem'  vor  'rat',  hält  aber  auch  dann  noch  die  Stelle  für  ver- 
derbt; 'Mariti  consilio  utamur'  zeigt  aber  die  Kichtigkeit 
der  Überlieferung.  334, 16  Anm.  'swer'  erklärt  sich  einfach 
durch  das  lateinische  'gravis'.  334, 34  ist  in  dem  unsinnigen 
'huszfrau',  wie  das  lat.  'domus'  zeigt,  die  zweite  Silbe  zu 
streichen.     Zweifelhafter  steht  es  um  329,  23  und  330, 5 :  im 


i 


Hemnann,  Die  lateinische  'Marina*.  19 

ersten  Falle  ist  (ygl.  lat.  accessere)  das  verkehrte  'kann' 
durch  'hab'  zu  ersetzen,  im  zweiten  das  unsinnige  'nit'  zu 
streichen;  aber  es  fragt  sich,  ob  wir  da  nicht  der  Hand- 
schrift zur  Last  legen,  was  yielleicht  schon  der  Bearbeiter 
gesündigt  hatte. 

über  Eybs  Bearbeitung  will  ich  an  dieser  Stelle  nicht 
sprechen;  nur  auf  die  Eigenthümlichkeit  sei  hier  verwiesen, 
welche  die  ganze  von  Eybs  Fassung  beherrschte  Gruppe 
charakterisirt.  Eyb  hat  —  wie  mir  scheint,  mit  feinem 
künstlerischem  Takte  —  im  ersten  Theil  der  Novelle  die 
unbarmherzigsten  Streichungen  vorgenommen:  er  hat  das 
breit  angelegte  und  doch  nachher  im  Sande  verlaufende 
Motiv  von  dem  ^Mann  von  fünfzig  Jahren',  der  sich  noch 
so  spät  zur  Ehe  entschliesst ,  so  gut  wie  ganz  beseitigt. 
Wir  werden  nur  ganz  kurz  in  die  Situation  eingeführt,  und 
erst  bei  der  Abschiedsrede  des  Aronus  an  die  Gattin  be- 
ginnt Eyb  sich  der  Ausführlichkeit  des  Originals  anzu- 
schliessen. 

Mit  dieser  Scene  eröffnet  daher  auch  Hans  Sachs  seine 
^Comedia  mit  5  personen  zu  agiern:  Die  schön  Marina  mit 
dem  doctor  Dagmano  unnd  hat  3  actus'  (Keller -Goetze 
Bd.  13  S.  84—109)  vom  1.  September  1556.  Die  Unter- 
redung zwischen  Mann  und  Frau  füllt  den  ersten  Act;  Hans 
Sachs  schliesst  sich  dabei  sehr  genau,  oft  fast  wörtlich  an 
Eyb  ^®)  an.  Als  echter  Dramatiker  hat  er  indessen  die  un- 
geeignete Dialogvertheilung  des  Vorbilds,  das  nur  zwei- 
malige Rede  des  Aronus,  einmalige  der  Marina  aufweist, 
so  gestaltet,  dass  Marina  zehnmal,  Aranus  neunmal  das 
Wort  ergreift.  Freier  ist  der  zweite  Act  gearbeitet,  der 
uns  verschiedene  Monologe  des  Doctors  bringt,  ehe  Marina 
sich  an  ihn  wendet.  Der  Held  hat  sich  hier  als  Jurist 
und  als  Ehrenmann  zu  charakterisiren.  In  der  ersten 
dieser  Einzelscenen  hat  Hans  Sachs  übrigens  auch  Stellen 


*^)  Wieso  Hans  Sachs  den  Kaufmann  Aronus  und  nicht  Aronus, 
wie  Eyb,  nennt,  weiss  ich  nicht  zu  sagen.  Nur  eine  Ausgabe  des  Ehe- 
buchs: o.  0.  u.  J.  =  Augsburg  Günther  Zainer  1472  und  zwei  ihrer 
Nachdrucke,  Augsburg  Bämler  1474  und  (Augsburg)  Hans  Schobsser 
1495,  haben  an  einer  Stelle  (fol.  39 »>  bezw.  40»  und  fe»)  den  Druck- 
fehler Aranus. 

2* 


20 


Herrmann,  Die  lateinische  *Marina\ 


des   Ejbschen   Ehebüchleins   benutzt,    die    nicht   zu    der 
Marinanoyelle  gehören;  man  vergleiche: 


Eyb 

Ehebuch,  Kobergef  fol.  38  ^ 

Wann  die  vnkeuscheit,  alsAm- 
brosius  schreibt,  ist  ein  pittere 
sawre  frucht  mar  dann  die  galle: 
wer  sie  versucht,  den  raitzt 
sie,  vnd  wer  sie  trincket,  den 
tödt  sie.  Si  ist  scherpffer  vnd 
schedlicher  dann  ein  schwert, 
nympt  die  genad,  versert  den 
leymut,  macht  trawrig  die  engel, 
schendel  den  nechsten,  erzürnet 
got  vnd  erfreut  den  teufel,  mag 
nit  güttig  gesein  vnd  sucht  räch- 
sale,  den  reichtum  [38*]  ver- 
zeret  sie  vnd  kürtzet  das  leben 
des  menschen,  sie  schadt  dem 
gesiebt  vnd  myndert  die  synne, 
zerpricht  vnd  krenckt  den  gantzen 
leichnam  vnd  verdömet  die  sele 
in  ewigkeit. 

Das  lob  der  Ee. 

und  wohl  auch: 

Eyb  fol.  i\ 

So  sich  aber  dyse  dinck  seilen 
alle  begeben,  ist  einem  weysen 
kein  weyb  zunemen.  Wann 
durch  ein  weyb  wirt  gehindert 
die  lernung  der  geschrifTt  vnd 
die  weysheit,  vnd  mag  keiner 
wol  gedinen  den  kunsten  vnd 
dem  weybe,  der  weißheit  vnd 


Hans  Sachs 

13,  92  V.  17-30. 

Unkeuschheit  ist  ein  bitter  gall 
Schedlich  für  ander  laster  all. 
Wer  sie  versucht,  den  reitzet  sie, 
Wer  sich  drein  gibt,  den  würgt 

sie  hie, 
Schadet  dem  gsicht,  schwecht 

die  Vernunft 
Und  kürtzt  das  leben  in  zukunflft, 
Den  gutten  leumunt  sie  versert. 
Ehr  und  reichtumb  sie  verzert. 
Krenckt  den  leib,  bringt  die  seel 

in  nobt, 
Erfrewdt  den  teuffel,  erzürnet 

gott. 
Derhalben  ich  ir  müssig  geh, 
Biß  ich  einmal  kumb  in  die  eh. 
Da  lieb  billich  und  ehrlich  ist. 
Wie  man  beim  philosophum  list. 


Hans  Sachs 

Ebenda  V.  10—14. 

Aber  solich  laster  vnd  dant 
Mich  warlich  nicht  verfüren  soll, 
Gott  mich  darfür   behüten  wöll 
Weil  frawenlieb,  bulschafft  und 

gunst 
Acht  weder  weißheit  oder 

kunst.  .  .  . 


dem  pette. 

Zwischen  solchen  Monologen  des  Dagmanus  liegen  die 
Scenen,  die  zum  grössten  Theil  wieder  fast  mit  Ejbschen 
Worten  Marinas  Umwandlung  vorführen;  dabei  ist  aber  die 
in  der  Novelle  auf  eine  blosse  Melderolle  beschränkte 
Dienerin,  die,  bei  Eyb  ohne  Namen,  von  Hans  Sachs 
Bylpha  genannt  ist,  zur  eigentlichen  Verführerin  geworden. 
In  einer  späteren,  nur  zum  Theil  erhaltenen  Bearbeitung 
des  Stuckes  hat  der  Dichter  recht  unglücklich  die  Zofe  in 


Hemnann,  Die  lateinische  'Marina'.  21 

einen  Narren  Jockle  verwandelt.  Der  Act  schliesst  mit  der 
Scene  zwischen  Magd  und  Doctor,  die  aber  nicht,  wie  in 
der  Novelle,  im  Speisezimmer,  sondern  offenbar  in  des  Doc- 
tors  'Museum'  spielt.  Act  III,  1  gibt  ganz  genau  nach  Eyb 
die  Boudoirscene  und  dann  zwei  Besuche  des  Doctors  bei 
der  fastenden  Schönen;  aber  auch  hier  spielt  die  Magd 
eine  nicht  unbedeutende  Bolle,  und  zum  unterschiede  von 
der  Novelle  ist  sie  es  schliesslich  auch ,  die  das  Verfahren 
des  Doctors  begreift,  von  ihr  wird  die  Herrin  belehrt.  Die 
grosse  Dankrede  der  Marina  schliesst  sich  ganz  an  Eyb 
an;  aber  während  dort  wie  sonst  Dagmanus  etwas  unzart 
das  letzte  Wort  behält,  überlässt  Hans  Sachs  die  Schluss- 
worte der  Marina  und  trifft  darin  eigenartiger  Weise  mit 
einer  der  Änderungen  Goethes  zusammen. 

Auf  Eybs  deutscher  Erzählung  beruht  auch  eine  latei- 
nische Fassung,  die  der  Bearbeiter  des  'Speculum  exemplo- 
rum'  (erste  Ausgabe  Deventer  1481**),  Dist.  X,  14)  unter 
seine  frommen  Geschichtchen  aufgenommen  hat:  das  be- 
weist ohne  weiteres  der  stark  gekürzte  Eingang,  die  Namen 
Aronus,  Marina,  Dagmanus  und  zum  Uberfluss  die  directe 
Angabe  des  Übersetzers,  dass  er  die  Geschichte  4n  Teu- 
tonicali  libro'  gelesen  habe.  Er  ist  abgesehen  von  seinem 
nicht  üblen  Latein  ein  Stümper,  der  uns  nicht  nur  durch 
seine  fortwährende  Moralschreierei  ärgerlich  macht:  denn 
er  hat  Eybs  Kürzungen  noch  weiter  ausgedehnt  und  dabei 
ein  wichtiges,  die  ganze  Erzählung  eigenartig  beherrschen- 
des Motiv  ganz  vernichtet.  In  der  hier  berichteten  Ab- 
schiedsunterhaltung zwischen  Mann  und  Frau  äussert  näm- 
lich der  erstere  zwar  ebenfalls  Bedenken,  ob   ihm  Marina 


*^)  Zu  den  bei  Goedeke  2',  125  genannten  Ausgaben  füge  ich 
noch:  Magnnm  specnlum  exemplorum  Venedig  1605  (Berlin  K.  Bibl. 
£q  9278);  dem  Titelblatt  nach  ist  diese  Edition  reich  vermehrt  und 
verbessert  *per  qnendam  Patrem  e  Societate  Jesu*  (ist  das  der  J.  Maior 
8.  J.  der  Ausgabe  Duaci  1608?)  und  jetzt  herausgegeben  *per  P.  Fr. 
Augustinum  Petretum  de  Begis".  Auch  den  ursprünglichen  Sammler 
behauptet  das  Titelblatt  zu  kennen,  er  heisst  dort  Henricus  Gran 
Germanus;  die  beigefugte  Jahreszahl  *circa  annum  1480'  ist  richtig. 
Die  Sammlung  ist  jedenfalls  in  Holland  entstanden:  denn  der  erste 
Druck  stammt  aus  Deventer,  und  ein  unverhältnissmässig  grosser  Theil 
der  Geschichten  zeigt  niederländisches  Local. 


22  Herrmann,  Die  lateinische  ^Marina". 

auch  die  Treue  wahren  werde,  er  ist  aber  mit  ihrer  feier- 
lichen Yersicherung  bereits  zufrieden  und  fährt  beruhigt 
aus  dem  Hafen.  So  hat  der  Übersetzer  die  Hauptsache 
getilgt:  die  Forderung  des  Aronus,  dass  seine  Gattin  im 
Falle  der  Untreue  nur  einen  weisen  Mann  wählen  solle, 
und  die  moralische  Herrschaft,  die  Aronus  durch  dieses  Gebot, 
ohne  selbst  wieder  aufzutreten,  über  den  ganzen  Verlauf 
der  Ereignisse  ausübt.  Marina  sucht  sich  hier  den  Dag- 
manus  nur  aus,  weil  sie  gern  einen  Doctor  beider  Rechte 
zum  Liebhaber  hätte ;  der  Gatte  hat  auf  diese  Weise  seine 
künstlerische  Daseinsberechtigung  eigentlich  überhaupt  ein- 
gebüsst.  Sonderbar  ist  es,  dass  Goedekes  Grundriss  (2^, 
125)  grade  diese  am  meisten  yerballhornte  aller  Marina- 
bearbeitungen als  die  Quelle  für  Goethes  Procurator  be- 
zeichnet. Auf  diese  Fassung  der  Erzählung  hingewiesen 
zu  haben,  ist  das  einzige  Verdienst  der  Düntzerschen  Be- 
trachtungen über  die  Procuratornovelle  (Herrigs  Archiv  3 
(1847),  275  fr.  =  Zu  Goethes  Jubelfeier,  Elberfeld  1849, 
S.  27—30). 

Über  die  französische  ^Marina'  sind  schon  oben  einige 
Worte  gesagt  worden.  Die  von  ihr  eingeleitete  Gruppe 
hat  zum  äusseren  Kennzeichen  den  Umstand,  dass  alle 
Personennamen  getilgt  sind;  wenn  in  einigen  Ausgaben 
unser  Doctor  Dagmanus  als  4e  saige  Nicaise'  bezeichnet  ist, 
so  geht  das  nicht  über  die  Überschrift  hinaus.  Längst  war 
es  bekannt,  dass  mit  nicht  wenigen  andern  Nummern  der 
Cent  Nouv.  Nouvelles  auch  die  'Marina'  in  die  Ducento 
Novelle  des  Gelio  Malespini  (Venedig  1609,  Nr.  12  des 
zweiten  Theils)  übernommen  worden  ist.  Was  Düntzer 
neu  vorbringt,  bezieht  sich  auf  die  Quelle,  die  Goethe  für 
seine  Bearbeitung  benutzt  hat,  und  hier  wendet  er  sich 
gegen  eine  Abhandlung  Guhrauers  in  den  Wiener  Jahr- 
büchern der  Litteratur,  Bd.  116  (1846),  Anzeigeblatt  S.  80. 

Auf  vollständiger  Willkür  beruht  es  zunächst,  wenn 
Düntzer  (S.  30)  gegen  Guhrauer  leugnet,  dass  Goethe  bei 
der  Abfassung  des  Procurators  die  Originalnovelle  vor  sich 
gehabt  habe.  Ein  flüchtiger  Vergleich  entscheidet  zu 
Gunsten  Guhrauers:  ganze  Seiten  fast  wörtlicher  Überein- 
stimmungen liessen  sich  abdrucken.     Wohl  aber  scheint  es, 


Herrmann,  Die  lateinische  *Marina\  23 

als  ob  Düntzer  bei  dem  Vergleich  der  Goetheschen  Novelle 
mit  den  älteren  Bearbeitungen  die  Fassung  nicht  vor  sich 
gehabt  hat,  die  er  für  Goethes  Vorbild  hält.  Guhrauer 
hatte  nämlich,  auf  ältere  Beobachtungen  gestützt,  in  grossen 
Zügen  gezeigt,  dass  Goethes  Bearbeitung  mit  der  franzö- 
sischen Fassung  durchaus  übereinstimme  und  also  wohl 
auf  sie  zurückgehe.  Dagegen  erhebt  sich  nun  Düntzer 
und  erklärt  (S.  28}  die  italienische  Nacherzählung  der 
Malespinischen  Ducento  Novelle,  die  Guhrauer  nur  gelegent- 
lich in  einer  Anmerkung  erwähnt,  für  Goethes  Quelle. 
^Dass  Goethe  aus  dieser  letzteren  Sammlung  geschöpft 
habe\  heisst  es  dort,  'möchte  ich  theils  wegen  der  leichten 
Verwechselung  mit  Boccaccio,  theils  aus  dem  Namen  'Pro- 
curator'  schliessen,  wofür  in  den  Cent  nouvelles  nouvelles 
sich  die  Bezeichnung  'ung  tr^s  saige  clerc'  findet.  Gewiss 
wäre  der  letztgenannte  Umstand  fast  entscheidend.  Ich 
setze  nun  die  betreffenden  Stellen  aus  den  Cent  nouvelles 
nouvelles,  Goethe  und  Malespini  nebeneinander,  um  dem 
Leser  eine  genaue  Prüfung  zu  ermöglichen. 

C.  N.  N.  Goethe  Malespini 

Ausg.  1858  S.  500  f.       Hempel  16,  73.  fol  36\ 

Es  mesmes  jours ....  In  solchem  Zustande che  vn  pru- 

UDg  tr^  saige  jeune  befand   sie  sich ,    als  dente  e  saggio  Dottore 

clercarriva ....  Tant  sie  .  .  .  vernahm,  es  ritornö    ....  atten- 

avoit  vacqu^  et  donn^  sei  ein  junger  Rechts-  dendo  sempre  alle  sci- 

son  entente  k  Testude,  gelehrter  .  .  .  zurück-  ence ,    per    le    quali 

qu^en  tout  le  pays  n^y  gekommen.   .  .  .  Als  haueua  acquistato  no 

avoit   clerc    de    plus  Procurator    hatte    er  poca    fama    e    ripu- 

grant   renomm6    par  bald  das  Zutrauen  der  tazione ;  interuendo  in 

les  magistraux  de  la  Bürger  und  die  Ach-  tutti  i  Magistrat!  .... 
cit^  .  .  .                         tung  der  Richter  ge- 
wonnen. 

Was  soll  man  also  von  Düntzers  Verhalten  denken? 
Weder  an  dieser  Hauptstelle  noch  sonst  bei  Malespini  heisst 
Dagmanus  ^procuratore',  sondern  stets  41  Dottore';  ich  weiss 
keine  andere  Erklärung  als  die :  Düntzer  hat  den  Malespini 
überhaupt  nicht  gesehen  und  einfach  angenommen,  dass 
dieser  das  französische  'clerc'  mit  dem  naheliegenden  'pro- 
curatore'  wiedergegeben  habe.  Hinfällig  ist  auch  Düntzers 
zweiter  Grund.    Schillers  irrthümliche  Annahme,   die  Ge- 


24  Hemnann,  Die  lateinische  *Marina\ 

schichte  sei  aus  dem  Boccaccio  ^^),  eine  Annahme,  die,  wie 
wir  oben  bei  Wyle  sahen,  überhaupt  nicht  fern  lag,  scheint 
mir  nicht  weniger  erklärlich,  wenn  vrir  in  den  Cent  nou- 
velles  nouyelles,  als  wenn  wir  in  Malespinis  Sammlung  die 
Quelle  suchen.  Letzterer  hat  freilich  die  Nationalität  mit 
Boccaccio  gemein;  dafür  ist  aber  die  Ähnlichkeit  sonst  nicht 
gross:  sein  Werk  ist  eine  blosse  Aneinanderreihung  von 
200  Novellen;  dagegen  geben  die  Cent  nouv.  nouv.  ganz 
nach  dem  Vorbilde  des  Decamerone  im  Gewände  einer 
Rahmenerzählung  hundert  Novellen,  die  von  den  einzelnen 
Mitgliedern  einer  Gesellschaft  vorgetragen  werden. 

Sollte  aber  auch  Düntzer  trotz  der  Unerklärlichkeit  jener 
Trocurator'-behauptung  den  Malespini  in  der  Hand  gehabt 
haben.  —  genau  verglichen  hat  er  seine  Bearbeitung  mit 
Goethes  Novelle  jedenfalls  nicht.  Die  Durchführung  einer 
solchen  Yergleichung  ergibt  nämlich  mit  Sicherheit,  dass 
Goethe  die  französische  und  nicht  die  italienische  Fassung 
benutzt  hat:  Malespinis  Übertragung  ist  durchaus  nicht  wort- 
getreu, sondern  hat  mancherlei  kleine  Züge  geändert  oder 
getilgt,  die  wir  in  den  Cent  nouv.  nouv.  und  bei  Goethe 
finden.    Einige  Beispiele  werden  genügen. 

G.  N.  N.  S.  489.  Goethe  S.  65.  Malespini  fol.  33^ 

. . .  les  jeunes  etpe-  .  • .  eben  an  einem  ...  sopra  uenne  ü 
tits  enfans,  apres  jährlichen  Feste,  Garnefciale;  ilche 
quUlz  avoient  solen-  das  besonders  der  uedendo  egli  tutta  la 
niz^  aulcune  feste  Kinder  wegen  ge-  Gittä  festosa  e  allegra 
accou  stumme  entre  feiert  wurde.  Knaben  intenta  a  belliflime 
eulz  pour  chascun  und  Mädchen  pfleg-  mascherate,  in  suoni, 
an,  habillez  et  des-  ten  nach  dem  Gottes-  balli  e  canti,  huo- 
guisez  diversement . . .  dienste  in  allerlei  Ver-  mini  e  donne... 

kleidungen     sich    zu 

zeigen . . . 

S.  492.  S.  67.  fol.  3l\ 

la  premiere  ann^e  Auf  diese  Weise  lebte  . .  nonduröciö  lungo 
evant  qu*elle  feust  das   Paar    fast    ein  tempo  . . . 
axpir^e  .  .  .  Jahr  lang. 


*^)  Vgl.  auch  den  Aufsatas  von  Landau  in  der  Beilage  zur  All- 
gemeinen Zeitung  1882  Nr.  328. 


Hemnann,  Die  lateinische  ^Marina'.  25 

C.  N.  N.  S.  493.  Goethe  S.  69.  Malespini  fol.  34*». 

il  se  trouva  avec  ses  .  .  und  Hess  seine  .  .  fe  n'ando  fubito 
compaignons  ma-  Schiffsgesellen  ru-  a  trouare  alcuni 
riniers..  fen  .  .  mercatanti       fuoi 

amici . . . 

S.  501.  S.  73.  fol.  37». 

.  .    ä  laquelle   pleut  .  .    und    wenn    seine  fehlt, 

tr^    bien    sa    doulce  schöne    Gestalt     und 
maniöre  .  .  seine  Jugend  sie  noth- 

wendig  reizen  mussten 

S.  501.  S.  74.  fol.  37». 

. .  paree  le  plus  gen-  Sie  kleidete  sich  mit  . .  vestita  piü  las- 
tement..  Sorgfalt..  ciuamente.. 

S.  501.  S.  74.  fol.  37». 

.  .  car  il  marchoit  si  . .  auf  das  Zierlich-  . .  imperoche  canii- 
gracieusement . . .  ste  seines  Weges  vor-  nando     egli    graue- 

beiging.  mentc... 

S.  501.  S.  74.  fol.  37». 

.  .  que,  en  marchant  . .    ohne   die    Augen   . .    non    rimiriua    in 
ne  gettoit  sa  veue  ne  aufzuschlagen  oder  da  luogo  alcuni.. 
qk  ne  lä  . .  und     dorthin      zu 

wenden. 

S.  506.  S.  78.  fol.  38^. 

..  ne  vous  vueille  en-  Lassen  Sie  sich  die  n^  che  le  dispiaccia 
nuyer  lepetitdelay..  Zeit     nicht     lang  del  picciola  travaglio . . 

werden 

S.  509.  S.  80.  fol.  39». 

Et  eile,  entrerompant  . .  unterbrach  sie  ihn   .  .  risposa  eile  . . . 
saparole,  luy  respondit  mit  Lächeln  und  sagte: 

Bestimmt  behaupten  lässt  sich  nun  freilich  nicht,  dass 
Goethe  diese  sicher  von  ihm  bearbeitete  Fassung  nun  auch 
wirklich  in  der  Sammlung  der  Cent  nouvelles  nouvelles  und 
nicht  in  einem  andern  NoTellenschatz  benutzt  habe,  der  die 
'Marina'  Ton  dorther  übernommen  hat.  So  lange  uns  in- 
dessen ein  solcher  unbekannt  ist,  spricht  nichts  gegen  die 
Annahme,  dass  Ooethe  die  Cent  nouvelles  nouvelles,  z.  B. 
in  dem  1786  erschienenen  Neudruck,  in  der  Hand  gehabt  hat. 

Die  kleinen  Veränderungen,  die  G-oethe  der  Vorlage 
gegenüber  vornahm,  bestehen  nicht  nur,   wie  Düntzer  an- 


26  Herrmann,  Die  lateinische  'Marina*. 

gibt,  in  der  Fortlassung  des  Namens  Genua  und  in  der 
Angabe  einer  anderen  Veranlassung  für  das  Fastgelübde 
des  Procurators.  Goethe  hat  z.  B.  ähnlich  wie  Hans  Sachs 
den  Dialog  zwischen  Mann  und  Frau  lebendiger  gestaltet, 
ein  paar  ähnliche  Kunstgriffe  auch  in  der  Yerführungsscene 
angewendet  und  die  letzten  Worte  des  Procurators  ge- 
strichen; vor  allem  hat  er  auch  den  Ausdruck,  namentlich 
in  den  Gesprächen,  häufig  schärfer  zuzuspitzen  gesucht. 
Die  wichtigste  Veränderung  indessen  sieht  Düntzer  in  einer 
moralischen  Schlusswendung,  die  Goethe  der  letzten  Rede 
der  Marina  eingefügt  hat.  ^Sie  haben  mich',  sagt  die  ge*^ 
heilte  Dame,  4n  diese  Schule  durch  Irrthum  und  Hoffnung 
geführt;  aber  beide  sind  nicht  mehr  nöthig,  wenn  wir  uns 
erst  mit  dem  mächtigen  Ich  bekannt  gemacht  haben,  das 
so  still  und  ruhig  in  uns  wohnt,  und  so  lange,  bis  es  die 
Herrschaft  im  Hause  gewinnt,  wenigstens  durch  zarte  Er- 
innerungen seine  Gegenwart  unaufhörlich  merken  lässt'. 
Aber  Düntzer  scheint  mir  zu  irren,  wenn  er  meint,  dass 
Goethe  nun  bloss  durch  diesen  Zusatz  ^der  Erzählung  eine 
moralischere  Wendung  gegeben  hat' ;  ich  glaube  sogar,  dass 
es  ganz  sinnlos  gewesen  wäre,  die  Erzählung  im  übrigen 
unverändert  zu  lassen  und  ihr  nur  diesen  Schluss  anzu- 
hängen. Denn  die  Marina  der  Vorlage  ist  überhaupt  kein 
Wesen,  das  einer  moralischen  Entwicklung  eigentlich 
fähig  ist.  Sie  ist  nichts  als  ein  vollständig  willenloses,  fast 
nur  physisch  lebendes  Weib :  sie  gehorcht  völlig  dem  Willen 
des  Mannes,  leistet  ihm,  weil  er  es  befiehlt,  das  eigentlich 
ungeheuerliche  Versprechen,  einen  weisen  Buhlen  zu  wählen, 
sie  folgt  dann  gleich  willenlos  ihrem  sinnlichen  Triebe  und 
geht  schliesslich  ebenso  blindlings  auf  alle  Anordnungen 
des  Liebhabers  ein.  Dieses  Weib  ist  moralisch  überhaupt 
nicht  verantwortlich  und  ihre  Heilung  kann  daher  auch  nur 
physischer  Art  sein;  aus  dem  Munde  dieser  Frau  würden 
jene  Goetheschen  Worte  wenig  glaubhaft  klingen.  Um  so 
merkwürdiger  ist  es,  dass  Düntzer  des  Dichters  Haupfcver- 
änderung  nicht  bemerkt  hat:  Goethe  hat  den  Charakter 
der  Eaufmannsfrau  ganz  entschieden  umgestaltet.  Das 
zeigt  sich  vor  allem  in  der  Unterhaltung  zwischen  ihr  und 
dem    Gatten.    Im  Original  führt  der  Kaufmann  im  Laufe 


Hemnann,  Die  lateinisclie  *Marina\  27 

seiner  langen  Ansprache  die  Redensarten  an,  die  die  Durch- 
schnittsfrauen  bei  Eeuscbheitsroahnungen  der  Männer  im 
Munde  zu  führen  pflegen,  um  Marina  zu  bitten,  solche 
Antwort  zu  unterlassen.  Goethe  dagegen  legt  diese  Eedens- 
arten  wirklich  der  Gattin  in  den  Mund,  als  der  Kaufmann 
kaum  geäussert  hat,  dass  er  noch  etwas  Peinliches  auf  dem 
Herzen  habe.  Vor  allem  aber:  dass  Goethe  seine  Heldin 
nicht  so  willenlos  zeichnen  will  wie  der  Dichter  des  Origi- 
nals, zeigt  sich  darin,  dass  bei  ihm  die  Schöne  vor  der  Ab- 
reise des  Gatten  nur  noch  einmal  Treue  gelobt,  das  von 
ihm  geforderte  Yersprechen  dagegen  nicht  leistet. 
Und  auch  nach  der  Abfahrt  des  Kaufmanns  hat  Goethe 
frei  erfindend  der  jungen  Frau  Worte  in  den  Mund  gelegt 
(Hempel  t6,  72,  Z.  25 iF.),  welche  deutlich  zeigen,  dass  diese 
Marina  allen  Yorgängen  viel  kühler,  verstandesmässiger 
gegenübersteht,  dass  sie  entschieden  auch  moralischer  Er- 
wägungen fähig  ist  und  ihnen  eigentlich  folgen  müsste. 
Auf  diese  Frau  kann  also  das  charakterfeste  Verhalten  des 
weisen  Jünglings  auch  einen  moralischen  Eindruck 
machen,  in  ihrem  Munde  klingen  uns  die  oben  angeführten 
Worte  verständlich.  Ohne  Frage  hat  die  Novelle  durch 
diese  leichte  Änderung  Goethes  das  Eecht  auf  den  Titel 
einer  moralischen  Erzählung  gewonnen;  ich  wage  nicht  zu 
entscheiden,  ob  sie  nicht  dafür  einiges  von  ihrem  ursprüng- 
lichen Reiz  verloren  hat.**) 

Berlin.  Max  Herrmann. 


^')  Ich  weise  hier  noch  auf  zwei  Erzählungen  hin,  in  denen  die 
Heilung  einer  Ehefrau  von  unkeuschen  Begierden  ebenfalls  auf  phy- 
sischem Wege  vor  sich  geht:  die  yierte  Meistergeschichte  der  ^Sieben 
weisen  Meister'  (vgl.  z.  B.  Keller,  Altdeutsche  Gedichte  S.  104  ff. ,  bes. 
118 f.),  wo  die  Heilung  durch  Blutabzapfung  erfolgt,  und  Poggios 
Facetie  De  muliere  phrenetica  (Opp.  Basil.  1538  S.  428f.),  wo  ein  un- 
freiwilliges Bad  im  Arno  die  erwünschte  Wirkung  thut. 


28       Michels,  Zur  Gescbichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh. 


Zur  Geschiehte  des  Nürnberger  Theaters 

Im  16.  Jahrhundert. 

1.    Archivaliscbe  Mittheilungen  aus  den  Jahren 

1549_1576. 

Seit  längerer  Zeit  mit  umfassenderen  Arbeiten  über 
Leben  und  Werke  des  Hans  Sachs  beschäftigt,  fand  ich 
bei  Durchforschung  der  Nürnberger  ^Rathsverlässe',  d.  h.  der 
bei  den  Sitzungen  des  Raths  über  dessen  Beschlüsse  ge- 
führten Protocolle,  die  gegenwärtig  im  Egl.  bair.  Ereis- 
archiv  aufbewahrt  werden,  seit  dem  Jahre  1549  eine  Reihe 
Yon  Genehmigungen  yon  Fastnachtspielen,  die  ein  inter- 
essantes Licht  auf  die  damaligen  Nürnberger  Theaterver- 
hältnisse  werfen.  Ich  beabsichtige,  an  anderer  Stelle  darauf 
zurückzukommen,  und  kann  mich  füglich  hier  eines  ausführ- 
lichen Gommentars  enthalten.  Dass  die  Rathsverlässe  ge- 
rade um  diese  Zeit  beginnen,  sich  mit  Fastnachtaufführungen 
zu  beschäftigen,  darf  nicht  Wunder  nehmen.  Die  Ereignisse 
der  vorhergehenden  Jahre,  der  Schmalkaldische  Erleg  und 
das  Interim  veranlassten  den  Rath,  die  Censur  äusserst 
straff  zu  handhaben  und  nicht  bloss  mehr  auf  wirkliche 
Streitschriften  anzuwenden.  Immer  wieder  wird  den  Druckern 
eingeschärft,  jedes  Werk  dem  Rath  vorzulegen,  immer  wieder 
werden  Schmählieder,  aufreizende  Eanzelreden  verboten. 
Vom  22.  December  1548  datirt  die  bekannte  Verordnung 
über  die  Umänderung  des  Liedes  'Erhalt  uns,  Herr,  bei 
deinem  Wort'.  Die  jährlich  wiederholten  Verfügungen,  das 
Schembartlaufen  betreffend,  sprechen  vom  Fastnachtspiel 
nicht,  weder  vorher  noch  später,  ein  Beweis,  dass  ein  Zu- 
sammenhang zwischen  Schembart-  und  Fastnachtspiel  nicht 
empfunden  wurde.  Vereinzelte  Genehmigungen  von  Auf- 
führungen finden  sich  allerdings  auch  früher,  namentlich 
von  Schulkomödien  und  von  Schaustellungen  fremder  Spiel- 
leute. So  wird  etwa  am  26.  December  1547  den  jungen 
Enaben  beim  Rappolt  ^)  vergönnt,  'heut  jr  Comedj  lateinisch 

^)  Vgl.  Goedeke  §  148;  252  k. 


Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh.       29 

in  der  Regimentstub  zu  spilen',  aber  mit  dem  Vermerke 
Yorzusehn,  ^das  nit  vil  frömbds  gesinds  berauf  komme\ 
(R.  V.  1547.  10.  S.  6.)  Wo  Yom  Spielhalten  fremder  Spiel- 
leute die  Bede  ist,  ist  immer  fraglich,  ob  wir  nicht  viel- 
mehr an  ^Himmelreicher'  zu  denken  haben,  die  ihr  ^Spring- 
spieP,  Seiltanzen  und  Tliegen'  oder  'Spektakel  mit  selt- 
samen Tieren'  trieben.  Übrigens  waren  es  wohl  meist 
Italiener,  wenigstens  wird  einmal  ein  Hieronymus  von  Venedig 
genannt  (6.  März  1545.  R.V.  1545.  l.  S.  53^).  —Vgl.  unten. 
Zwei  Punkte  aber  möchte  ich  hervorheben.  Einmal, 
dass  es  sich  bei  den  Fastenaufführungen  dieser  Zeit  keines- 
wegs ausschliesslich  oder  auch  nur  vorzugsweise  um  jene 
kleineren  Dramen  handelt,  die  xar  c^o^^v  sogenannten 
Pastnachtspiele.  Waren  diese  etwa  mehr  für  Aufführungen 
im  engeren  Kreise  der  Meistersinger  bestimmt?^)  Hiermit 
zusammen  hängt  die  zweite  Erscheinung,  auf  die  ich  be- 
sonders hinweisen  will.  Am  13.  August  1546  findet  sich, 
soweit  ich  die  Rathsverlässe  durchgesehen  habe,  zum  letzten 
Mal  von  zahlreichen  früherer  Jahre  die  Notiz,  dass  den 
Meistersingern  auf  Sonntag  eine  Singschule  erlaubt  sei. 
Für  die  unmittelbar  folgenden  Jahre  mag  sich  diese  Erschei- 
nung aus  der  Ungunst  der  Zeitverhältnisse  erklären.  Dennoch 
ist  sie  höchst  bemerkenswerth.  Zunächst  darf  wohl  an- 
genommen werden,  dass  nur  für  das  Auftreten  vor  ge- 
ladenem Publicum  in  der  Predigerkirche,  der  Frauenkirche 
oder  im  Spital  —  beiläufig  bemerkt  noch  nicht  in  der 
Eatharinenkirche ,  wie  (trotz  Archiv  f.  Litteraturgeschichte 
3,  51)  auf  Wagenseils  Autorität  hin  stets  behauptet  zu 
werden  pflegt  —  die  Genehmigung  eines  ehrbarn  Raths 
oder  des  einen  Bürgermeisters,  der  nach  Verfügung  vom 

')  Von  ^Fastnachtspielen'  glaube  ich  hier  deshalb  sprechen  zu 
sollen,  weil  ihre  Aufführung  regelmässig  in  derselben  Zeit  wiederkehrt, 
in  der  sich  die  längst  über  ihre  ursprünglichen  Grenzen  erweiterte 
Fastnachtlust  geltend  machte.  Genau  in  denselben  Monaten  und  oft 
in  unmittelbarer  Nachbarschaft  zu  den  hier  mitgetheilten  Protocollen 
begegnen  fort  und  fort  Verbote  gegen  das  'vermummt  Fassuachtgehn' 
und  *Bursensitzen\  Bestimmungen  über  das  Krapfenholen  der  Metzger 
und  Fleischhackertänze.  Alles  das  heisst  der  Zeit  im  weitesten  Sinn 
des  Worts  'fassnachtspil'.  Auf  das  Verhältniss  von  Fastnachtdramen 
und  Weihnachtsdramen  beabsichtige  ich  zurückzukommen. 


30       Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh. 

26.  Juli  1527  Singschulen  der  geistlichen  Lieder  ohne  weiteres 
genehmigen  durfte,  einzuholen  war.  Übungen  und  Auf- 
führungen im  engeren  Kreise  (bis  1540  in  der  'Poeten- 
schul'?  vgl.  Verlass  vom  13.  Januar  1528.  R.  V.  1527.  10. 
S.  14)  fanden  sicherlich  auch  femer  statt.  Nun  könnte  man 
ja  meinen,  dass  von  1546  an  die  Meistersinger  die  fast 
stets  ertheilte  Erlaubniss  für  das  Abhalten  einer  Singschule 
vor  grösserem  Publicum  nicht  mehr  eingeholt  hätten,  oder 
dass  die  Bürgermeister  dieselbe  als  etwas  Selbstverständ- 
liches nicht  mehr  in  die  Protocolle  hätten  aufnehmen  lassen. 
Die  berührten  Zeitverhältnisse  machen  diese  Annahme  völlig 
unwahrscheinlich.  (Die  letzte  Genehmigung  schärft  auch 
den  Meistersingern  ausdrücklich  ein,  'dass  sie  niemand 
schmehen  sollen'.)  Man  wird  also  das  Factum  so  zu  deuten 
haben,  dass  das  Interesse  des  Publicums  an  den  Sing- 
schulen erlahmt  war  und  die  Meistersinger,  hauptsächlich 
offenbar  auf  Hans  Sachs'  Veranlassung,  sich  ein  anderes 
Feld  für  ihre  Thätigkeit  aussuchen  mussten,  auf  das  sie, 
wie  es  scheint,  auch  durch  die  Erfolge  Jörg  Frölichs  hin- 
gewiesen wurden,  der  schliesslich  geradezu  der  'Comedi- 
spieler'  heisst  und  wohl  als  der  erste  regelrechte  Theater- 
director  gelten  darf.  Hier  finde  ich  auch  die  wahre  Er- 
klärung dafür,  'dass  Hans  Sachs  gerade  auf  der  Höhe  seines 
Wirkens  von  1546 — 1555  einen  neuen  Ton  nicht  mehr  er- 
funden   hat'.')     Übrigens   scheinen    die    letzten    der   mit- 

»)  Hans  Sachs' Werke  hg.  v.  Arnold  1,  XXIL 

Es  ist  nicht  unmöglich,  dass  man  auch  eine  Mittheilung  Baa- 
ders (Anzeige  f.  die  Kunde  deutscher  Vorzeit  1862  Sp.  8  f.)  hier  heran- 
ziehen darf.  Am  20.  December  1580  wird  den  Meistern  das  Singen  an 
hohen  Festtagen  nach  alter  Gewohnheit  wieder  gestattet.  Daraus 
folgt,  dass  es  eine  Zeit  lang  abgekommen  war.  Wie  lange  und  wes- 
halb, wissen  wir  nicht;  eine  ausgedehntere  Eenntniss  der  Rathsacten, 
als  ich  besitze,  würde  yielleicht  Klarheit  schaffen.  Baader  macht  dazu 
nun  allerdings  folgende  Vorbemerkung :  'Noch  zu  Lebzeiten  des  H.Sachs 
und  namentlich  nach  seinem  Tode,  durchbrach  der  Meistergesang  nicht 
selten  die  engen  Schranken,  in  denen  ihn  der  Zeitgeist  (?),  Zucht,  Sitte 
und  Gewohnheit  festgehalten  hatte.  Er  verliess  die  bisherigen  Pfade 
und  ergoss  sich  in  weltlichen  Liedern,  die  bei  einem  hochweisen  Rathe 
nicht  selten  Anstoss  und  grosses  Ärgern iss  erregten.  Dieser  warnte 
und  mahnte,  und  als  er  damit  nichts  ausrichtete,  wurde  das  Abhalten 
der  Singschule  und  der  Meistergesang  gänzlich  verboten.    Veit  Fessel- 


Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh.       3  t 

getheilten  Yerordnungen  darauf  hinzuweisen,  dass  die 
komödie spielenden  Meistersinger  ihre  Stücke  durch  Oesänge 
etwa  einleiteten  oder  beschlossen.  Und  dass  später  wieder 
regelrechte  Singschulen  gehalten  wurden  (^jedoch  der  Zeiten 
gar  selten  und  fast  nur  um  die  Hohen  Fest'),  wissen  wir 
durch  WagenselL  Ist  man  geneigt  unsere  Annahmen  und 
Folgerungen  gelten  zu  lassen,  so  darf  man  die  Sache  auch 
umkehren  und  fragen,  ob  nicht  auch  schon  früher  in  den 
Singschulen  neben  den  musikalischen  auch  dramatische 
Productionen  zum  Besten  gegeben  wurden.  Das  nimmt 
auch  Schnorr  von  Carolsfeld  (Zur  Geschichte  des  deutschen 
Meistergesangs  S.  12)  an,  indem  er  sich,  wie  mir  scheint 
mit  Recht,  auf  ein  Gedicht  von  Hans  Sachs  stützt.  Hans 
Sachsens  Meistergesang  in  Betzens  Verschränktem'  Ton  vom 
3.  December  1550,  betitelt  ^Das  Neue  Jahr',  bildet  eine 
feierliche  Einladung  zur  grossen  öffentlichen  Singschule 
und  gibt  zugleich  eine  Art  Übersicht  über  die  Thätigkeit 
der  Meistersinger.  Es  soll  vor  allem  Gottes  heiliges  Wort 
alten  und  neuen  Testamentes  gesungen  werden;  es  soll 
auch  (Vor  dem  Anfang  der  Schul,  nach  Art  der  Künste') 
weltlicher  Meistergesang  gepflegt  werden ;  Schulkünste  man- 
cherlei Art  sollen  folgen;  Poetrey,  gute  Fabeln,  Schwanke 
und  Stampaney,  lächerliche  Possen  werden  zur  Erheiterung, 
philosophische  und  sittliche  Lehre,  schöne  und  wahrhaftige 
Historien  zur  Ermahnung  dienen  —  man  sieht:  das  ganze 
meistersingerische  Repertoir.  Dann  aber  heisst  es  in  der 
dritten  Strophe  weiter:  'Auch  wollen  wir  wie  andere 
Jahr  da  ein  Comedi  halten.'  Das  kann  doch  nurheissen, 
dass  seit  Jahren  (um  die  Zeit  zwischen  Neujahr  und  Fast- 
nacht?) die  Komödie  als  dritter  Theil  mit  zum  Programm 
der  öffentlichen  Singschule  gehörte.  War  sie  ursprünglich 
Nebensache,  allmählich  bei  mangelndem  Interesse  für  den 


mann,  Weber  und  andre  Meistersänger  der  Stadt  richteten  später  eine 
Vorgtellung  an  den  Rath'  u.  s.  w.  Ich  erlaube  mir  indessen  einstweilen 
zQ  bezweifeln,  dass  sich  von  alledem,  das  Decret  vom  20.  December 
1580  und  vielleicht  auch  die  Petition  des  Fesselmann  und  Genossen 
ausgenommen,  irgend  etwas  bei  den  Rathsacten  findet.  Zu  vergleichen 
sind  auch  die  Bemerkungen  Trautmanns  über  die  Meistersinger  in 
Kördlingen,  Archiv  f.  Litteraturgeschichte  13, 39  ff. 


32       Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh. 

musikalischen  Theil  derartig  zur  Hauptsache  geworden,  dass 
die  Meistergesänge  von  den  Zuschauern  als  eine  Art  Ouver- 
türe, wohl  auch  gelegentlich  als  Zwischenactsmusik  hin- 
genommen wurden?^)  Dass  zu  Hans  Sachs'  Zeit  jemals  all- 
sonntäglich öfFentliche  Schule  gehalten  wurde,  wie  Wagenseil 
behauptet,  trifft  nach  Ausweis  der  Rathsprotokolle  nicht  zu ;  es 
wurde  vielmehr  nur  ein  paar  Mal  im  Jahr  öffentlich  gesungen, 
meist  an  Festen,  bald  häufiger,  bald  seltener^).  So  kann 
man  vermuthen,  dass  allmählich  nur  in  der  Zeit  zwischen 
Lichtmess  und  Fastnacht  die  Singschule  sich  eines  lebhaf- 
teren Zuspruchs  zu  erfreuen  hatte.  Der  Rath  mochte  darin 
nichts  anderes  als  ein  >Spielhalten'  sehen,  wie  es  Jörg 
Frölich  und  andre  auch  trieben.  Wie  das  angeführte  Gedicht 
zeigt,  gehörte  dazu  etwa  auch  eine  feierliche  Einladung  am 
Neujahrstage.  Was  die  Meistersinger  sonst  trieben,  kann 
während  dieses  Zeitraums  unmöglich  in  öffentlichen  Ge- 
bäuden statt  gefunden  haben  und  muss  übrigens  viel  zu 
unbedeutend  gewesen  sein,  um  die  Behörden  zu  inter- 
essiren. 

Im  Yorbeigehen  mag  daran  erinnert  werden,  dass  nicht 
nur  in  Nürnberg  Meistersinger  als  dramatische  Dichter  und 
Schauspieler  auftreten,  wie  Hans  Folz,  Hans  Sachs,  Peter 
Probst,  Ambrosius  Österreicher,  Georg  Hager,  Veit  Fessel- 
mann u.  a.,  dass  uns  vielmehr  Ähnliches  ja  auch  aus  andern 
Städten  Oberdeutschlands  bezeugt  wird.  Dazu  ist  ferner 
Schröers  Bemerkung  zu  nehmen,  dass  in  Ungarn  ^diejenigen. 


*)  Im  5.  Sprachbach  des  H.  Sachs  in  der  Kgl.  Bibliothek  za 
Berlin  finden  sich  ein  paar  Strophen  nebst  Noten,  daza  die  Bemerkung: 
'Diese  nachfolgenden  Saphica  gehören  in  die  tragedi  gismunda  im 
161  plat  zwischen  den  Actus  zw  Singen*  (fol.  274«}.  Es  sind  aller- 
dings nicht  Meistergesänge  im  engeren  Sinne.  —  Adam  Paschmann 
verfügt  für  sein  Spiel  Jacob,  Joseph  und  seine  Brüder:  'Nach  Ausgang 
der  Actus  ist  auch  verzeichnet  Instrumentum,  das  ist  man  soll 
so  lange  schlagen  als  es  die  Notdurft  erfordert.  Oder  anstatt  des  In- 
struments, wofern  Meistersinger  diese  Comödia  agierten,  mag  man  die 
Gesänge  singen,  welche  zu  dieser  Comödie  sind  componieret  worden/ 
Hoifmann  y.  Fallersleben,  Spenden  zur  deutsch.  Litteraturgeschichte2,l4. 

'^)  'Jährlich  alle  drei  Wochen'  heisst  es  in  H.  Sachsens  'Schul- 
zetteP  Str.  3.  MG.  XV  fol.  65.  (Hertel,  Ausführliche  Mittheilung  u.  s.  w. 
S.  32). 


Michels,  Znr  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh.       33 

die  YolksmäsBige  Weihnachtsspiele  spielten  und  noch  spielen, 
eine  Singschule  bilden'.*) 

Übrigens  bietet  die  dritte  Strophe  von  Hans  Sachs* 
Heistergesang  'Das  Neue  Jahr'  auch  sonst  in  gewissem  Sinne 
eine  Ergänzung  zu  den  Angaben  der  Rathsprotocolle.  Ich 
schicke  deshalb  deren  Mittheilung  voraus,  obwohl  sie  bereits 
bei  Schnorr  zu  finden  ist.'') 

[MG.  XII 27**]    Auch  wellen  wir  wie  andre  jar 

Da  ein  Comedj  halten, 
Auch  aus  gotlicher  fchrifte  dar: 
Von  Ifaac,  dem  alten, 
••>    Wie  das  er  kein  leibs  -erben  het 
Vnd  Sein  gepet  zw  got  auf  thet; 
Da  got  Sein  guet  lies  Sehen. 

Da  wart  im  Efaw  vnd  Jacob 
Von  Rebecka  geporen; 
10    Doch  Efaw,  wild,  vnzem  vnd  grob, 
Den  Segen  hab  verloren; 
Jacob  Sey  worden  auferwelt, 
Vnd  im  der  Segen  zwgeftelt  — - 
Aus  gottes  gnad  gefchehen. 

15    Welches  i(t  ein  schone  figur; 

Daraus  man  mercket  dar  vnd  pur, 

Das  got  die  Seinen  Stet  helt  in  memorj 

Vnd  helt  ganz  gnedidichen,  ob 

In  lell  fein  guete  walten. 
20    Wer  die  Comedj  Sehen  wil. 

Der  thw  Sich  fein,  zuchtig  vnd  (til 

Bis  famftag  hieher  neben. 

Anno  Salutis  1550  am  3.  December. 


*)  E.  J.  ScJiröer  in  Germanistische  Studien  2, 202.  Zeugnisse  für 
das  Meistersingerdrama  in  Augshurg,  Memmingen,  Freibnrg,  Nürnberg, 
Strassburg,  Ulm,  Esslingen  und  Nördb'ngen  bei  P.  v.  Stetten,  Kunst- 
geschichte Augsburgs  (1779)  S.  530.  Greiff,  Beitrftge  z.  Geschichte  der 
deutschen  Schulen  Augsburgs  (18.58)  S.  152  f.  Morgenblatt  f&r  gebildete 
Stande  1814  Nr.  21  S.  84;  1815  Nr.  57  S.  225;  1852  S.  225.  Schreiber 
in  Mones  Badischem  Archiv  2  (1827),  204.  Schnorr  v.  Carolsfeld  a.  a.  0. 
S.  21f.    Martin  in  Strassburger  Studien  1,82  ff.    Trantmann  a.  a.  0. 

^)  Ich  citire  nach  dem  Zwickauer  Handexemplar,  MG.  XII,  fol.27^, 
das  ich  durch  die  überaus  liebenswürdige  Vermittlung  des  H.  Prof. 
Dr.  E.  Goetze  in  Dresden  benutzen  kann.  Die  Orthographie  ist  na- 
türlich gewahrt  bis  auf  die  grossen  Anfangsbuchstaben,  die  ich  bei 
Viffirtoyahxaehiift  für  litterAtnigeachichte  HI  3 


34       Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh. 

Gemeint  ist  natürlich  die  ^Comedia  von  Jacob  und 
seinem  Bruder  Esau'  vom  31.  Januar  1550. 

Über  die  Schauspieler  und  ihren  Wettbewerb,  die  Stücke 
und  die  Censurthätigkeit  des  Eaths,  Ort  und  Zeit  der  Auf- 
führung mögen  nun  die  Bathsprotocolle  selber  reden.  ^) 

1549 
1 1 .  Februar.    Den    MelTerern,    fo    die  Jofephisch   hiftorien  •) 
zufpilen  furgenomen,  folichs  vergönnen,  doch  Tagen,  mit  denfelben 
klaydern  nit  vber  dj  gafTen  zugeen. 
(R.  V.  1 548.  1 2.  S.  9»>) 
21.  März.    Dweil   ein  Zeither   allerley  Sprüchfpil  von   Schul- 
maidern  vnd  andern  leuten  gehalten  worden,   fols  nun  alfo  dabey 
pleiben,  vnd  diefelben  füran  mer  zehalten  [nit?]  abgeßellt  werden. 
(R.  V.  1548.  12.  S.  20»>) 
14.  November.    Den  Sechs  ytalianer  walhen   oder  Spilleuten 
jr  begern,    vmb  vergunnftigung  jrs  Spilhaltens  auß   ainer    alten 
Römischen  hiflorj  vom  hercules,  weil  der  tag  yetz  kurtz  vnd  aller- 
ley gefahr  dabey  ill,  mit  guten  Worten  ablaynen  vnd  fy  mit  4  f1. 
vereern  vnd  damit  hinwegk  weyfen.  ^®) 
(R.  V.  1549.  8.  S.  14) 

1550 

20.  Februar.  Die  Burfchen  folln  noch  biß  Sontag  zehalten 
geduldet,  doch  aber  jnen  angfagt  werden,  befcheiden  zefein  vnd 
bey  zeit  heimzugeen.  Daneben  aber  dweil  jn  folchen  Burfchen 
auch  fond  hin  vnd  wider  dife  vergangen  faßnacht  treffliche  grolTe 
fpil  gfchehen,  folln  die  derhalben  hieuor  gemachten  gefetz  zur  hanndt 
gefucht  vnd  widerpracht  werden. 

Dweils  auch  vur  [?]  laut,  als  folten  dergleichen  grofle  fpil 
neben  vilfeltigen  Gaftungen  ein  zeither  aufm  RathauH  gfchehen 
fein,  folls  dem  Quicklperger  vnd  seiner  Ehwirtin  vnterfagt  vnd  be- 
uolhen  werden  folhs  abzuHellen  —  auderhalb  was  Rathsperfonn, 
Doctors  vnd  Cantzley  betriflt  [Nachtrag].  Daneben  aber  jnen  vnd 
jrm  kellner  auch  verpieten,   den  haußknechten,  so  auf  jre  herrn 

den  Eigenoamen  und  im  Anfang  der  Verse  durchgeführt  habe.  Vers  14 
^gottes*  für  'gotts'  des  Metrums  wegen.  Der  Text  des  Cod.  56  aus  der 
Solgerschen  Bibliothek  in  Nürnberg  fol.  35/35^  bietet  im  letzten  Vera 
die  vielleicht  sachlich  beachtenswerthe  Variante  'bis  8untag\ 

*)  Die  zahlreichen  Abkürzungen  sind  aufgelöst,  unbedeutende 
Schreibfehler  stillschweigend  verbessert.  Die  stets  wechselnden  Namen 
der  Bathsherren,  denen  die  Verantwortung  für  die  Ausführung  der 
einzelnen  Rathsbeschlüsse  oblag,  konnten  füglich  wegbleiben. 

*)  Von  den  erhaltenen  Josephdramen  liegt  wohl  der  Gedanke  an 
das  Sizt  Bircks  (Augsburg  1539)  am  nächsten.  (Vgl.  v.  Weilen  S.  39). 
^^)  Bezieht  sich  nicht  gerade  auf  eine  Fastnachtaufführung. 


I 


Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh.       35 

warten,    gar  keinen  wein  zugeben  noch   jnen  jm  pütlftüblin  zu- 
zechen  zugestaten,  bey  meiner  herrn  (traf. 
(R.  V.  1549.11.  S.  28^») 

21.  Februar  find  '2  alte  gefetz  des  verpoten  Spilens  halben' 
verlefen  worden.    Es  soll  nach  neueren  gesucht  werden. 

(R.  V.  1549.  11.  S.  29»>) 

22.  Februar.  Auf  abermals  verleßne  allte  gefetz  des  verpotten 
Spilens  halben,  fol  weiter  nachgefucht  werden,  ob  nit  newere 
gefetz  vorhannden,  wo  fich  dan  nichs  findt,  fol  ein  newes  gefetz 
bedacht  werden,  wie  die  groden  vnnd  winckirpil  zufurkomm  fein 
mögen  als  dan  widerpringen.  ^^) 

(R.  V.  1549.  11.  S.  32) 

1551 
15.  Januar.    Den  frembden  Spilleuten  jr  begern  jnen  jr  Spiel 
vnd  fpringen  etlich  tag  treyben  zulaCTcn  ablaynen. 

Daneben  erkundigung  thun  was  Hanns  Sachs  für  ain  fpyl 
hab.    follichs  widerpringen. 

(R.  V.  1550.  11.  S.  l'') 
19.  Januar.    Hanns  Sachfen  auf  die    befchehen  erkundigung 
fein  Spil  vom  Abbt  vnd  ainem  Edelman,  der  jn  gefanngen,  ^^)  weils 
daulTen  allerlay  nachred  geperen  vnd  mein  herrn  zu  nachtayl  kumen 
möcht,  weitter  zetreyben  mit  guten  Worten  ablaynen. 
(R.  V.  1550.  11.  S.  9) 

1552 

25.  Januar.  Nachdem  der  elter  herr  Burgermaider  herrn 
hannfen  voyten  Caplan  zu  fanndt  Lorentzen  geder  vergönnt  hat 
die  Commedj  vom  Reichen  Mann  ^^)  mit  feinen  Schülern  auf  nech- 
(ten  Mitwoch  zuhalten,  fols  jn  bedacht  dasesvnschedlich.  alfo  dabey 
pleiben. 

Weyl  aber  von  Hanns  Sachfen  vnd  anndern  etlich  mer  Spyl 
vnd  Commedj  voraugen  feyen,  fol  man  fich  derhalb  erkundigen, 
wers  mer  treyb,  vnd  was  es  für  materj  oder  hiftorj  feyen,  vnd 
widerpringen.  denfelben  auch  verpieten.  föUiche  Commedj  nit  zu- 
halten biß  auf  ains  Erbem  Raths  weittern  beschaid. 
(R.  V.  1551.  11.  S.  29) 


^')  Ich  würde  annehmen,  dass  sich  diese  Verordnungen  vielmehr 
auf  Karten-  und  Würfelspiele  beziehen,  wenn  nicht  das  Suchen  nach 
Gesetzen  auffällig  wäre.  Finden  sich  doch  auf  beinahe  jeder  Seite  der 
R.  y.  Verbote  gegen  derartige  Spiele. 

1*)  Fastnachtspiel.  Goetze  Nr.  27  (17.  December  1550). 

")  Vermuthlich  entweder  H.  Sachs*  Coroödie  *Von  dem  reichen 
sterbenden  Menschen,  der  Hecastus  genannt'  (6.  September  1549)  Tüb. 
Ausg.  6, 137  oder  Lorenz  Rappolts  Bearbeitung  des  Hekastus ,  zuerst 
aufgeföhrt  1549,  gedruckt  1552. 

3* 


36       Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh. 

8.  Februar.    Hanns  Sachfen  die  new  Tragedj  von  ainer  kay- 
ferin  die  des  Eepruchs  halb  ynrchuldig  jns  eilendtverwyfen worden.^*) 
weils  nyemandts  fchedlich,  auch  wie  man  jm  die  anndern  fpil  zu- 
gelaHeni  zu  halten  vergönnen. 
(R.  V.  1551.  12.  S.  8) 

23.  Februar.    Dem  Rappolt  foU  vergönnt  werden,    feine  la- 
teynifche  Gommedj  morgen  nach  tifch  auffm  Rathauß  zuhalten. 
Doch  Verordnung  thun,  damit  man  nit  yederman  hinein  laß,  vnnd 
nichts  befchwerlichs  gehaundelt  werde. 
(R.  V.  1551.  12.  S.  31) 

4.  November.  Lorentzen  Rappolt  auf  fein  bitlich  anlanngen. 
vergönnen  die  Gommedj  oder  Tragedj  von  der  hiftorj  des  Sam- 
sons  mit  feinen  Schulknaben  nach  weyhennachten  teütfch  zu 
agiren. 

(R.  V.  1552.  8.  S.  3) 

1553 

8.  December.  Hanns  Sachfen  fol  vergönnt  werden,  die  vor- 
habendt  Römifch  hiltorj  von  auffgelegter  fchatzung.  ^'^)  weil  vyl 
guter  argument  vnd  vrfachen  wider  die  befchwerungen  dergleichen 
auflagen,  darjnn  auff  die  pan  gepracht  werden,  die  allen  Ober- 
kaiten  zu  guten  gedeutet  werden  mügen.  alhie  zu  agiren,  wie  er 
gebetten  hat. 

(R.  V.  1553.  9.  S.  Iß^) 

1555 
30.  December.  Jörgen  Frölich  MeiTerer.  vnd  hannfen  Adam 
Briefmaler  vnnd  jren  mituerwannten  jrer  begerten  Gommedien 
halben,  jnen  diefelbe  zu  recidiren  zu  uergönnen,  widerfagen,  fy 
mügen  über  drey  wochen.  wider  anfuchen.  wöU  man  jnen  weiter 
gepürlich  anntwurt  geben. 

(R.  V.  1555.  10.  S.  5'») 

1556 
18.  Januar.  Hanns  Sachfen  vnnd  den  anndern  anfuchenden 
perfonen  fol  man  vergönnen,  jre  Gommedien  zwifchen  hie  vnnd 
faßnacht  zu  recidiren,  doch  das  fy  es  in  der  wochen  nur  zwen 
tag  thun,  vnd  die  leüt  nit  vbernemen,  also  dz  ain  perfon  auffs 
mayd  vber  3^  nit  geben  dörff. 
(R.  V.  1555.  10.  S.  29) 

^*)  Gemeint  ist  wohl  die  Comedi  *Die  nnschnldig  Kaiserin  von 
Rom'  (im  General -Register  *Die  Kaiserin  mit  den  Aussätzigen*  ge- 
nannt) vom  31.  August  1551.    Tüb.  Ausg.  8, 131. 

^*)  Unter  H.  Sachsens  Stocken  bis  1553  weiss  ich  keines,  auf 
das  sich  diese  Bezeichnung  beziehen  könnte.  £.  Goetze  denkt,  freund- 
licher Mittheilung  zufolge,  an  die  *Comedi  von  dem  ehrnvesten  hauptr 
man  Camillo\  Tüb.  Ausg.  12, 227.  Sie  trägt  dasselbe  Datum  wie  der 
Rathsverlass.    ^Schätzung*  gleich  *Strafe\ 


I 


Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh.       37 

29.  Februar.  Den  Supplicierenden  des  Briefmaler  hanndt- 
werckbs.  Soli  mann  jr  begem.  die  hiftorj  vonn  der  Zerftorung 
jerufalem.  ^')  noch  drej  wochen  Spielen  zu  laden,  ablainen,  vnnd 
jnen  folliche  Spiel  nit  lennger  dann  noch  morgen  zu  halten  ver- 
gönnen. 

(R.  V.  1555.  12.  S.  13) 

31.  December.    Jörgen   Frolich    vnnd    anndern    anfuchenden 
Meflerern,  jnen  zuuergönnen.    das  ße  jre  Spiel  halten  mögen.  Tagen, 
es  fey  noch  zu  frue  vnnd  Sy  vmb  lichtmeß.  herwider  weifen. 
(R.  V.  1556.  10.  S.  11) 

1557 

25.  Januar.  Vff  Hanns  Sachfen  bitten  vnnd  anhalten,  jme  zu 
uergönnen,  das  er  feine  gemachte  Spiel  halten  möge,  Soll  mann 
diefelben  Spiel  von  jme  nemen  vnd  beßchtigen^  ob  fie  dem  ge- 
meinen volckh  nit  ergerlich  feyen  vnnd  widerpringen. 

(R.  V.  1556.  11.  S.  9) 

26.  Januar.  Den  anfuchennden  Briefmalern  vnnd  Mederern 
Soll  mann  jre  Spiel  biß  kumfftigen  Sonntag  bey  Sannt  Martha  zu- 
halten zuladen. 

(R.  V.  1556.  11.  S.  11) 

27.  Januar.  Hannfen  Sachfen  foll  mann  feine  Spiel  zuhalten 
zu  laden. 

(R.V.  1556.  11.  S.  11»») 

6.  Februar.  Hanns  Sachfen  Soll  vonn  Ratswegen  ernndlich 
angefagt,  vnnd  bey  eins  Rats  (traff  aufferlegt  werden,  ainich  Spiel, 
jm  Prediger  Qofler  zuuor  vnnd  ehe  die  predig  gar  aus  i(t.  zu 
halten  noch  yemanndt  hinein  zuladen.  Dergleichen  foll  auch  Johann 
Lottern  beuolhen  werden,  darob  zufein  [so !],  das  alle  feyrtag,  fo 
lanng  diefe  Spiel  wehrn,  biß  nach  vollendter  mittagspredig,  zu- 
gehalten vnnd  verfchloden  bleib,  vnnd  zum  Spiel  gar  nyemanndt 
hinein  geladen,  damit  die  predig  dardurch  nit  verhindert  werd. 

Vnnd  obwol  vff  folchen  angefagten  befchaidt,  gedachter  Sachs, 
der  Erbern  frauen  vnnd  jungkfrauen.  fo  zeitlich  zum  Spiel  komen 
ynnd  jren  platz  einnemen  lufftung  begert.  So  iR  jme  doch  daf- 
felb  abzulainen  beuolhen. 

(R.V.  1556.  11.  S.  19^20) 

1558 

1 1 .  Januar.    Den  anfuchennden  Maister  Singern.  Soll  mann 

vff  jr  bit.  vergönnen  vnnd  zfiladen.  des  Sachfen  gedelte  Tragedj. 

vonn  der  kindheit  Chrifli  ^'')  zufpielen.  doch  das  fie  nit  ehe.  dann 

vff  [jichtmes  fchierift  anfahen.  jnen  aber  die  annder  Gomedj  vonn 


!•)  Hans  Sachs.    Tab.  Ansg.  11,  312  (21.  October  1555). 

'^)  *Die  Empftngnis  und  Gebart  Johannis  und  Christi'  (Gen.-Reg. 
*Die  Kindheit  Christi').   16.  Juni  1557.   Tüb.  Ausg.  11, 162. 


38       Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16,  Jh. 

der  kunigin   zu  Frannckreich  ^®).    vmb  ergernus  willen,  zufpielen. 
ableinen. 

(R.  V.  1557.  10.  S.  12^) 
14.  Januar.    Hanns  Sachfen  jH  vfT  fein  bit  vergonndt  worden 
feine  zwo  gemachte  Tragedien,  vom  Konig  Dauidt  ^*)  vnndt  Konig 
Cyro  zufpieln^**).  doch  das  er  erften  vff  lichtraeß  damit  anfah. 
(R.  V.  1557.   10.  S.  16) 

29.  December.    Hanns  Saxen    vergönnen ,    feine  zway  Spiel 
nachm  Neuen  jar  an.  biß  vfT  den  weilten  Sonntag,  zufpieln. 
(R.  V.  1558.  10.  S.  8^) 

31.  December.  Den  anföchenden  Mefferem  jre  zwo  Comedias 
jtzt  nachm  Neuen  jar.  biß  vff  den  Weiffen  Sonntag,  bej  S.  Martha 
züagiren  vergönnen. 

(R.  V.  1558.  10.  S.  10^) 

1559 
13.  Februar.  Jörgen  Frölichs  MelTerers  vnnd  feiner  gefellfchaflft 
zway  Spiel,  befichtigen,  vnnd  wo  fich  nichts  vngefchickts  oder  vn- 
zuchtigs  darjnnen  befindet,   Soll  mann  jnen    folche  Comedias  biß 
kumfiftigen  Sonntag  vnd  Montag  zufpielen  vergönnen. 
(R.  V.  1558.  11.  S.  34^) 

29.  December.  Hannfen  Sachfen  vff  fein  anfuchen  feine  ge- 
machte fpiel  zuagiern  vergönnen,  doch  das  Er  eher  nit  dann  vff 
Lichtmeß  fchierift  anfach. 

(R.  V.  1559.  10.  S.  28) 

1560 
1 8.  Januar.  Jörgen  Frölich  vnnd  feinen  Mitgefellen  vff  jr  an- 
fuchen. jre  Spiel  zw  S.  Martha  zufpielen  vergönnen,  doch  das  ße 
erfi  vff  Lichtmeß  anfahen.  Daneben  aber  Hanns  Sachfen  warnen, 
mit  machung  derfelben  Spiel  etwas  behutfam  zu  fein,  vnnd  was 
ainiche  ergernus  verurfachen  möcht  zuumbgehen. 
(R.  V.  1559.  11.  S.  23) 

1561 
2.  Januar.    Georgen  Frolich  auf  fein  bitt.  des  Sachfen  Spiel 


**)  Wohl:  *Die  Königin  aus  Frankreich  mit  dem  falschen Marfchalk'. 
12.  December  1549.  Tüb.  Ausg.  8,  54.  Die  Staatsgefährlichkeit  ist  schwer 
einzusehen. 

^*)  Von  den  verschiedenen  Daviddramen  kommen  wohl  zunächst 
in  Betracht:  *Tragödia  König  Sauls  mit  Verfolgung  König  Davids* 
(7  Acte).  28.  August  1557.  Tüb.  Ausg.  15,  31 ;  *Die  Verfolgung  König 
David  von  dem  König  SauF  (5  Acte).  6.  September  1557.  Tüb.  Ausg. 
10,  262;   'Der  Mephibofet'  (1  Act).  6.  Oktober  1557.   Tüb.  Ausg.  10,308. 

*^)  'Des  Königs  Giri  Geburt ,  Leben  und  End*  (7  Acte).  30.  Juni 
1557.   Tüb.  Ausg.  13, 289. 


Michels,  Zur  GeBchichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh.       39 

bej  S.  Martha  zufpieln  zulaHen.  vnnd  damit  acht  tag  vor  lichtmeß 
antzufahen. 

(R.  V.  1560.  10.  S.  7^) 

1562 
3.  Januar.    Des  Sachfen  Gomedien  vnnd  Spiel.  Toll  mann  be- 
richtigen, vnnd  foferrn  nichts  ergerlichs  darjnnen  ifTt.  der  anfuchen- 
den  gefeirchafTt  zulafTen.    folche  Commedien.  biß  morgen  vber  acht 
tag  zufpieln  anzüfahen. 

(R.  V.  1561.  10.  S.  25) 

15.  Januar.  Nachdem  sich  die  sterbsleuft  zimblich  ereugen. 
alfo  das  zubeforgen,  es  werde  ßch  inn  kurtz  einreiffen,  Derwegen 
fo]!  mann  die  verfamblungen  vnnd  Spiel,  fo  am  jungHen  zu  halten 
erlaubt  bej  eins  E.  Rats  (IrafT  widerumb  abfchaffen. 

(R.  V.  1561.  11.  S.  1^) 
1 7.  Januar.    Jörgen   Frölich  Mefferem    vnnd    feinen  Mituer- 
wanndten.  jr  Supplicierends  begern  vonv^egen  der  Spiel,  ablainen. 
(R.  V.  1561.  11.  S.  8) 

1563 
28.  December.    Jörgen  Frolichs  MelTerers.  vnd  Hannfen  Saxen 
Gomedien    alle  vberfehen.    ob   nichs  verweißlichs    darjnn  wider- 
pringen. 

(R.  V.  1563.  10.  S.  7^) 

1564 
3.  Januar.    Veiten  Veflman*^)  dem  Weber,  vnd  Jörgen  Frölich 
dem  MelTerer.  zu  laden,  jre  Comedias.  fo  lie  vom  SachHen  haben 
recitirn  laden. 

(R.  V.  1563.  10.  S.  14) 

1565 

1 6.  Januar.  Dem  Supplicierenden  Veiten  hafelman  [so !]  fol 
man  zuladen.  die  angezeigten  des  hanns  Saxen  Gomedien  zu  fpieln. 
doch  erst  auf  lichtmes  anzüfahen. 

(R.  V.  1564.  11.  S.  8»») 

17.  Januar.  Jörgen  Frölich  fol  man  zulafTen  feine  6  Gomedien 
bei  S.  Marta  zufpieln.  doch  erst  nach  lichtmes  anzüfahen. 

(R.  V.  1564.  11.  S.  10) 
12.  März.    Jörgen  Frölich    sein  begern    feine  Gomedien   biß 
mit  fallen  zu  fpilen  ableinen,  vnd  es  bei  den  andern  auch  durch- 
aus abfchaffen. 

(R.V.  1564.   13.  S.  4*) 

1566 
14.  Januar.    V^eil  sich  befindt  das  etliche  Perfonen  on  beuelch 


'^)  So  im  Index;  im  Text  undeutlich.  Vgl.  unten  und  Archiv 
f.  LitteratuTgeschichte  3,41;  Baader,  Anzeiger  f.  die  Kunde  deutscher 
Vorzeit  1862   Sp.  8  f. 


40       Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh. 

gellem  jtn  prediger  Clofter  [Spiel]  gehalten.  Fol  man  denfelben 
allen  yerpieten,  dies  jhar  weder  an  difem  noch  andern  orten  kein 
fpiel  mehr  zuhalten.  Aber  Jörgen  Frolich  vnd  feinen  mitgefellen 
Fol  man  zulafen  jre  Gomedias  bei  S.  Martha  zufpilen.  doch  das 
fie  erft  nach  lichtmeß  anfahen. 
(R.  V.  1565.  10.  S.  U^) 

25.  Januar.  Dem  Supplicierenden  Veiten  hefelman  [sol],  vnd 
feine  mit  verwandten  Meisterfinger  fol  man  jr  begern  jre  Tra- 
gedias jm  prediger  Clofter  fpilen  zulafen  ableinen,  vnd  bei  jung- 
(tem  befcheidt  pleiben  laCTen. 

(R.  V.  1565.  10.  S.  24^) 

1567 
2.  Januar.    Jörgen  Frolich.  Auch  Veiten  FefTelman  [so!]  vnd 
Michel  Vogel  ^^)  fol  man  zu  lafTen  bei  S.  Martha  vnd  bei  den  Pre- 
digern  auferhalb  der   fchöpfung  der  weldt.^*)  vnd  des  Paffion**) 
jre  verzeichnet  Gomedias  zuagirn. 
(R.  V.  1566.  10.  S.  10) 

1568 
10.  Januar.    Ambrofi  Öfterreicher.**)  Jörgen   Frolich  Veiten 
FelTelmann  vnd  Michel  Vogel,   fol  man  zulafen    etliche  Ghriftllche 
Gomedias  zufpielen.  doch   nichs   leichtfertigs.  vnd  erft  nach  licht- 
meß  anzufahen. 

(R.  V.  1567.  11.  S.  4^) 

22.  März.  Die  Gomedias.  vnd  T^utfche  fpiel  fol  man  allent- 
halben abfchaffen 

(R.  V.  1567.  13.  S.23) 

23.  December.  Jörgen  Frolich  fol  man  fein  fupplicirendt 
begern  vmb  S.  Glara  oder  Auguftiner  Glofter  zu  feinen  Gomedijs 
ableinen,  vnd  es  hinfuro  bei  den  beden  kirchen  bej  den  Predigern 
vnd  Marta  pleiben  lallen. 

(R.  V.  1568.  9.  S.  22»>) 

31.  December.   Veiten  FelTelman  vnd  feinen  gefellen  fol  man 


'*)  Meistersinger.  *Michel  Fogel,  ein  Steinmetz'  M  9,  S.  1075. 
Schnorr  a.a.  0.  8. 16.  Steirer  Meistersingerhandschrift  bei  Schröer  a.a.O. 
S.  224;  *Michel  Vogel  pierprei  zu  Nfimberg'  ebda.  S.  232. 

•»)  Schwerlich  H.  Sachsens  Drama  *Von  SchOpfung,  Fall  und  Aus- 
treibung Ade  aus  dem  Paradiefe'  (3  Acte).  17.  October  1548.  Tüb. 
Ausg.  1, 19. 

**)  Hans  Sachs?  ('Der  gantz  Pafßo  nach  dem  Text  der  vier 
Evangeliaen*  (10  Acte).  12.  April  1558.  Tüb.  Ausg.  11,  256.)  Auch  an 
Sebastian  Wilds  Passionsspiel  wäre  zu  denken  (gedruckt  1566). 

*^)  'Ambrofius  Auftrianus,  der  poet  und  philofophus*  M  210 
(Dresden).    Vgl.  Qoedeke  §  139.  41. 


Michels,  Zur  Qeechichie  des  Nürnberger  Theaters  iin  16.  Jh.      41 

zulafTen  jre  Comedias   bei  den  Predigern  zufpielen.   doch  das   fie 
erfl  fontags  vor  Lichtmes  anfahen.  vnd  Jnuocauit  wider  aufhören. 
(R.  V.  1568.  10.  S.  2^  3) 

1569 
4.  Januar.    Die  jenigen  Spilleut  fo  jre  Comedias  beim  gülden 
Schwann  agirt  fol  man  befchicken  vnd  vernemen.  wer  jns  erlaubt. 
(R.  V.  1568.  10.  S.  6) 

11.  Januar.    Dem  Supplicirenden  Jörgen  Frolich  vnd   feinen 
mitgefellen  fol  man  jr  begem  vmb  ein  Platz  zu  jren  fpielen  ab- 
leinen, vnd  jn  acht  haben  künftig  dergleichen   fpU  mehr  nit  zu- 
uergonnen.  dann  zu  den  Predigern  vnd  zu  S.  Martha. 
(R.  V.  1568.  10.  S.  11^) 

21.  October.    Dem  Supplicirenden  Michel  Schleiffer  vnd  feinen 
gefellen.  fol  man  jr  begern  jnen  die  kirchen  zu  S.  Martha  zu  jren 
Tragedien    zuuergunnen    ableinen,   vnd    andere  anfuchende    zum 
Neuen  jhar  herwieder  weilTen. 
(R.  V.  1569.  7.  S.  36) 

10.  November.    Dem  Supplicirenden  Jörgen  Frolich  fol  man 
zu  feinen  Comedien  die  kirchen  zu  S.  Marta  verleihen,    doch  das 
Er  die  felbs  gebrauche,   vnd  niemand  andern  verlaß,    auch  mein 
herrn  feine  Comedien  verzeichnet  zu  geben. 
(R.  V.  1569.  8.  S.  18b.  19) 

19.  December.  Jörgen  Frolich  fol  man  zulalTen.  feine  Tra- 
gedien zu  agirn.  doch  fagen  die  mit  der  fchlacht  von  Pauia  nicht 
zufpieln. 

(R.  V.  1569.  9.  S.  46^) 

27.  December.  Veit  FeiTelman  zulaiTen  etliche  Tragedia  zu- 
fpielen jm  predigerClofter.  doch  den  Theurdannck  vmbgeen,  vnnd 
yetzt  zu  Oberften  anzufahen. 

(R.  V.  1569.   10.  S.  6) 

1570 

21.  Februar.  Den  Spielleuten  bei  Predigern,  vnd  S.  Martha, 
fol  man  die  Spiel  gentzlich  abftellen.  zu  difem  mahl. 

(R.  V.  1569.  12.  S.  7) 

1571 
H.Januar.    Auf  Jörgen  Frölichs  vnd  hanns  langen  fupplicirn 
jnen  zu  vergönnen,  jre  Comedias  jm  Prediger  Clofler.  vnd  S.  Marta 
zu  agirn.  fol  man  jre  Spiel  beßchtigen. 
(R.  V.  1570.  11.  S.  13»») 

1572 
4.  März.    Jörgen  Frolich  vnd  feiner  gefelfchafft  zulaiTen.  jre 

Comedias  noch  vf  den  Suntag  Oculj  das  letzter  mahl  zuhalten 

(R.  V.  1571.  12.  S.  15»») 

22.  December.    Jörgen  Frölichs  Comedien  fol  man  befichtigen. 


42      Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh. 

Do  nichs  befchwerlichs  darjnn,  jme  zulalTen  Trium  Regum  anzu- 
fahen  diefelben  zu  agirn.  weil  faßnacbt  heur  fo  kurtz. 
(R.  V.  1572.  10.  8.6^) 

1574 
4.  Januar.    Michel  Vogels  ?nd  Sixten  Ludeis  vberreichte  Tra- 
gedias beßchtigen. 

(R.  V.  1573.  11.  S.  5»») 
18.  Januar.    Die  Comedias  zu  agirn  foi  man  diß  jhar  gentz- 
licb  abdellen. 

(R.  V.  1573.  11.  S.  24»>) 

1575 
3.  Januar.    Die  Spielleut  mit  jren  Tragedijs  vf  lichtmeß  her- 
wieder  weifen. 

(R.  V.  1574.  10.  8.18»») 
17.  Januar.    Die  Mummereien.  Spil.   Tragedien  vnd  Meifter- 
gefang  diß  jhar  ghar  abftellen 

1576 

10.  Januar.  Jörgen  Frölich  dem  Comedifpiler,  deßgleichen 
Michel  Vogel,  vnd  8ixten  Ludel  den  beden  Maifterfingern.  foll  man 
auf  jr  anfuchen  verftatten  vnd  erlauben,  jre  Comedi  vnd  Meifler- 
gefang  an  zweien  orten  jn  der  8tat  als  bei  den  predigern  vnd  zu 
8.  Martha  zu  halten  vnd  zu  ßngen.  doch  das  ße  auf  Lichtmeffen 
erlt  anfahen,  vnd  auf  Inuocauit  widerumb  aufhören.  Auch  die 
Comedj  vnd  gefang  zuuor  vberfehen,  damit  nichts  vngepurlichs 
oder  vnuerantwortlichs  darynn  begriffen  fei. 
(R.  V.1575.  10.  8.46»») 

1 6.  Januar.  Auf  den  widergebrachten  bericht.  was  die  Come- 
dien  jn  ßch  halten,  die  Jörg  Frolich  vnd  feine  mitgefellen  zufpilen 
Vorhabens  [so!],  foll  man  jnen  die  jenigen  Comedien  fo  von  den 
handlungen  jn  Franckreich  vnd  Niderlandt  gedieht,  zufpiln  ab- 
ftellen.  die  andern  aber  zulalTen.  doch  darneben  fagen.  wo  ße  jm 
Rebenter  bei  den  predigern  an  den  fenftern  oder  foniten  ein  fcha- 
den  thun  wurden,  wie  zu  andern  jaren  gefchehen.  denfelben  auf 
jren  coiten  wider  zumachen. 

(R.  V.  1575.  11.  8.  7) 

2.  Hans  Sachs  als  Schauspieler  (1534 — 1551). 

Dass  Hans  Sachs  nicht  nur  als  Dichter  und  Regisseur 
lange  Jahre  die  Nürnberger  Bühne  beherrschte,  sondern 
zugleich  als  Schauspieler  seine  Stücke  'den  meisten  theil 
felb  hab  agieren  vnd  fpielen  helffen',  wussten  wir  aus  der 
Vorrede  zum  dritten  Bande  seiner  Werke.  Ein  Theil  der 
Dramen,  in  denen  er  zweifellos  aufgetreten  ist,  in  der  zweiten 


MichelSf  Zur  Qescliichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jb.       43 

Hälfte  des  t6.  Jahrhunderts,  ist  oben  bekannt  geworden. 
Yielleicht  wird  es  als  eine  dankensw^erthe  Ergänzung  er- 
scheinen, wenn  hier  ein  Gedicht  mitgetheilt  wird,  aus  dem 
wir  die  Stücke,  die  in  den  Jahren  1534 — 1551  aufgeführt 
wurden,  und  zugleich  die  Rollen  kennen  lernen,  in  denen 
der  Dichter  auftrat.  Die  simple  Aufzählung  dieser  kleinen 
schauspielerischen  Metamorphosen  gibt  er  mit  so  viel  gutem 
Humor,  dass  das  Gedicht  auch  für  seine  poetische  Begabung 
neues  Zeugniss  ablegt.  Da  er  sich  der  Reihe  nach  in  seine 
eigenen  Geschöpfe,  seine  Kinder,  verwandelt  hat,  so  kann 
er  zum  Schluss  drollig  genug  als  eines  derselben  von 
seinem  Vater  Hans  Sachs  sprechen.  So  spielt  er  auch 
hier  noch  seine  Rolle.  Natürlich  findet  sich  das  Gedicht 
unter  den  Meistergesängen,  die  leider  wohl  noch  lange  ein 
Buch  mit  sieben  Siegeln  bleiben  werden  und  doch  sehr  viel 
mehr  bieten,  als  man  gewöhnlich  annimmt.  Im  Zwickauer 
Handexemplar  steht  es  Bd.  XII  fol.  58. 

In  des  Römers  gesanckweis. 

Die  27  Spil. 

[A]ch  got,  wie  oft  hat  Sich  nur  mein  person  verkerl ! 
Als  ob  ich  het  der  gottin  Circes  kund  gelert, 
Det  doch  in  kainer  gflalt  zw  lang  verharren. 

Erftlich  war  ich  mit  meinem  pofen  weib  ain  mon, 
&    Wart  darnach  Jupiter  vnd  trueg  zepter  vnd  krön; 
Das  nechft  jar  darnach  war  ich  zw  aim  narren. 

Nach  dem  wart  ich  ain  druncken  polcz 

Mit  grofem  pawch,  ein  grfilczer  vnd  ain  koczer; 

Nach  dem  fchnit  man   den  narren  (lolcz 
io    Mir;  nach  dem  wurt  ich  des  Franczen  Schroaroczer. 

Nach  dem  wart  ich  der  Dolpen  Fricz, 

Ein  pawer;  darnach  wart  ich  der  Haincz  Flegel; 

Nach  dem  wart  ich  auch  der  Vurwicz; 

Nach  dem  wart  der  milt  nach  Sant  Marteins  regel. 
i&    Nach  dem  ich  ain  zigeuner  war, 
[fol.  58^]  Dort  in  der  rockenltueben ; 

Nach  dem  wart  ich,  das  ander  jar, 

Der  dewffel  gar 

Vnd  truege  in  die  hele  dar. 
30    Ein  jungen  pfifen  pueben. 


44       Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh. 

2. 

Nach  dem  wart  ich  am  furftlichen  hof  ain  trabant. 
Nach  dem  aber  wart  ich  der  hewchler,  weit  erkant; 
Wurt  darnach  der  dewfTel  mit  der  vnhuelden. 

Nach  dem  wurt  ichUaincz,  der  verfchlagen  pawren  knecht; 
35    Nach  dem  wurt  ich  Vrban,   des  fchwangern,    nachtpaur 

fchlecht 
(Kunt  wir  nachpaurn  Sein  kargheit  gar  nit  duelden). 

Wart  wider  ein  trabant  zw  ftünd; 

Nach  dem  ein  knecht  vnd  ain  duerck  paidefander, 

Da  ich  den  falfchen  pofwicht  fchund; 
30    Wart  ein  rewter  vnd  hencker  mit  einander, 

Hawt  aus  ein  jungen  zv  dem  dot, 

Der  dem  riter  Sein  dochter  het  pefchlafen; 

Wart  auch  ein  jeger  vnd  poftpot 

Vnd  ein  hencker  vnd  Solt  die  kungin  (trafen. 
35    Nach  dem  wart  ich  der  dewifel  gancz, 

MuH  mich  der  weiber  weren. 

Nach  dem  ich  an  dem  nafentancz 

Erlangt  den  krancz, 

Wart  kung  (die  pawren  vmb  die  fchancz 
40    Detten  einander  perenl). 

3. 

Nach  dem  wart  ich  Marcolfus  pey  kung  Salomon, 
Die  weiber  ich  pald  auf  den  kunig  hezet  on, 
Erzelt  ir  duegent  in  manigen  dingen. 

Nach  dem  wart  ich  auch  ein  farender  fchueler  weis, 
45    Da  mich  ein  pewrin  fchicket  in  das  paradeis, 
Dem  gltorben  man  gelt  vnd  klaider  zu  pringen. 

Nach  dem  ich  erft  ein  rewter  wuer 
Vnd  halfif  ein  abt  Selb  fangen  vnd  auch  paden. 
Nach  dem  wart  ich  ein  marfchalck  nur 
[fol.  59]  Vnd  ein  hofffchmaichler,  pracht  herfchaft  zw  fchaden. 
Alfo  her  auf  Achzehen  jar 
Hab  Spilen  helffen  neun  fch&ner  Gomedj 
Vnd  Sechze  fafnacht  Spil,  vurwar, 
Vnd  darzw  auch  zwo  trawriger  tragedj, 
55    Aus  den  1er,  frewd  vnd  kurzweil  vil 
Den  lewten  id  erwachfen: 
Got  geh  noch  lenger,  ilts  Sein  wil, 
Nach  difem  zil, 


Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnberger  Theaters  im  16.  Jh.       45 

Das  ich  helff  halten  noch  mer  Spil  — 
60    Mit  meim  vater  Hans  Sachfen. 

Anno  Salutis  155  t 
am  6  tag  marcj.  ^*) 

Die  folgenden  Stücke  lassen  sich  aus  dem  Gedicht  er- 
kennen : 

V.  4:  (1)  Pastnachtspiel,  Goetze  Nr.  4.  8.  October  1533. 

Y.  5:  (2)  ^Comedia  oder  Eampfgesprech  zwischen  Jupiter 
und  Juno'.  30.  April  1534  (Tüb.  Ausg.  4,  3)  oder  Komödie 
Judicium  Paridis'.     9.  Januar  1532  (Tüb.  Ausg.  7,41). 

y.  6:  (3)  Da  die  16  Pastnachtspiele  vertheilt  sind,  lässt 
sich  am  besten  an  die  Komödie  ^Die  Stultitia  mit  ihrem 
Hofgesind'  denken.  1.  Pebruar  1532  (Tüb.  Ausg.  7,  17). 
Das  Datum  bei  Keller  ist  falsch. 

V.  7:  (4)  'Buhler,  Spieler  und  Trinker'.  Fastnachtspiel 
Nr.  5,  undatirt,  zwischen  20.  Pebruar  und  23.  Mai  1535  ent- 
standen. 

V.  9:  (5)  'Das  Narrenschneiden'.  Pastnachtspiel  Nr.  11. 
Das  überlieferte  Datum  3.  October  1557  ist  falsch;  auch 
Munckers  Yermuthung  (Literaturblatt  f.  germanische  und 
romanische  Philologie  1884  Sp.  383)  3.  October  1537  trifft 
nicht  zu.  Nach  dem  Begister  des  5.  Spruchbuchs  (Berlin) 
stand  das  Stück  im  verlornen  3.  Spruchbuch,  das,  den  An- 
fang ausgenonunen,  chronologisch  geordnet  war  wie  alle 
folgenden,  auf  Seite 3 10.  Danach  lässt  sich  bestimmen:  zwi- 
schen dem  24.  September  und  8.  October  1536,  also  viel- 
leicht am  3.  October  1536  entstanden. 

V.  10:  (6)  'Der  ungerathen  Sohn'.  Pastnachtspiel  Nr.  6. 
Es  stand  im  3.  Spruchbuch  vor  Pastnachtspiel  Nr.  11,  fallt 
also  zwischen  24.  September  und  3.  October  1536. 

V.  10:  (7)  'Das  Krapfenholen'.  Pastnachtspiel  Nr.  15. 
31.  December  1540. 


••)  Vielleicht  ist  V.  u  für  *wart'  zu  lesen  *aach\  Im  übrigen 
bot  sich,  abgesehen  von  der  Dnrchfiihrung  grosser  Buchstaben  im  An- 
ÜEing  der  Verse  und  in  Eigennamen  kein  Anlass  zu  Änderungen.  Die 
Auflösung  der  Endung  -n  in  -en ,  wo  das  Metrum  es  erforderte  (V.  40 
Dettn,  V.  43  dingn ,  V.  46  gstorbn ,  pringn  u.  a.),  kann  als  solche  nicht 
gelten. 


46       Michels,  Zur  Geschichte  des  Nürnber^^er  Theaters  im  16.  Jh. 

V.  11:  (8)  'Das  Bachenholen'.  Pastnachtspiel  Nr.  12. 
21.  November  1539. 

V.  13:  (9)  Fastnachtspiel  Nr.  8.  12.  Juli  1538. 

V.  14:  (10)  'Der  Karge  und  der  Milde'.  Fastnachtspiel 
Nr.  7.  Undatirt,  zwischen  2.  August  1537  und  8.  März  1538. 

V.  15:  (11)  Fastnachtspiel  Nr.  10.    28.  December  1536. 

V.  18:  (12)  Beziehung  mir  zweifelhaft. 

V.  21:  (13)  Beziehung  zweifelhaft.  Etwa  die  Komödie 
'Die  ganze  Historie  von  der  Hester'.  8.  October  1536  (Tüb. 
Ausg.  1,  111). 

V.  22:  (14)  Fastnachtspiel  Nr.  14.  30.  December  1540. 

V.  23:  (15)  Fastnachtspiel  Nr.  18.  19.  November  1545. 

V.  24:  (16)  Vielleicht  istderDromo  in  der  Bearbeitung 
des  Reuchlinschen  Henno  gemeint.  9.  Januar  1531  (Tüb. 
Ausg.  7,124).  Ein  Knecht  Heinz  begegnet  auch  in  der  Be- 
arbeitung der  Menaechrai.  17.  Januar  1548  (Tüb.  Ausg.  7, 
98),  aber  die  Bezeichnung  'der  verfchlagen  Bauernknecht' 
passt  nicht  auf  ihn. 

V.  25:  (17)  Fastnachtspiel  Nr.  16.  25.  November  1544. 

V.  27:  (18)  Komödie  'Griselda'.  15.  April  1546  (Tüb. 
Ausg.  2,  40)  ? 

V.  28:  (19)  Komödie  'Die  unschuldige  Frau  Genura'. 
6.  März  1548  (Tüb.  Ausg.  12,  40). 

V.  30:  (20)  Bezieht  sich  wohl  auf  die  Komödie  'Vio- 
lanta'.  27.  November  1545  (Tüb.  Ausg.  8,  340),  obgleich  das 
Urtheil  nicht  wirklich  vollstreckt  wird. 

V.  33:  (21)  Komödie  'Die  Königin  aus  Franckreich 
mit  dem  falschen  Marschalk'.  12.  December  1549  (Tüb. 
Ausg.  8,  54). 

V.  35 :  (22)  'Der  Kaufmann  mit  dem  Teufel'.  Fastnacht- 
spiel Nr.  19.  27.  November  1549.  vgl.  V.  288. 

V.  37:  (23)  Fastnachtspiel  Nr.  20.  4.  Februar  1550. 

y.  41:  (24)  Komödie 'Judicium  Salomonis'.  6.  März  1550. 

V.  44:  (25)  Fastnachtspiel  Nr.  22.  8.  October  1550. 

V.  47:  (26)  'Der  Abt  im  Wildbad'.  Fastnachtspiel  Nr.  27. 
17.  December  1550.  Vgl.  oben. 

y.  49 :  (27)  Tragödie  'Die  unglückhaftige  Königin  Jo- 
casta'.    19.  April  1550  (Tüb.  Ausg.  8,  29). 

Berlin.  Victor  Michels. 


Brandl,  Zu  Lillo^s  Kaufmann  von  London.  47 


Zu  Llllo's  Kaufmann  yon  London. 

Lillo  fallt  in  eine  Zeit,  wo  jedes  Blatt  der  englischen 
Litteraturgeschichte  eine  fruchtbare  Neuerung  aufweist, 
welche  alsbald  bei  uns  anflog  und  in  die  Halme  schoss.  In 
den  Londoner  Strassen  ringsum  sassen  die  Poeten  und  Pro- 
saiker, welche  die  bürgerliche  Richtung  zur  herrschenden 
emporschrieben  für  ihre  Insel  und  für  Europa.  Er  selbst 
erschloss  dem  Drama  eine  bisher  ungewohnte  Art,  in  das 
Leben,  und  zwar  in  das  private,  einzugreifen.  Dennoch 
scheint  er  einsam  und  wie  ohne  Wurzeln  aus  der  Masse 
aufzutauchen.  Die  dürftigste  Litteraturgeschichte  nennt  ihn, 
und  die  ausführlichste  thut  ihn  mit  einigen  dürftigen  Sätzen 
ab.  Das  psychologische  Gesetz,  wornach  keine  bedeutende 
Leistung  von  einem  einzeln  dastehenden  Manne  ohne  Vor- 
gänger und  ohne  ausgeprägte  Individualität  geschaffen  wird, 
ist  an  ihm  wenigstens  noch  nicht  nachgewiesen.  Hiezu 
einige  Ansätze. 

Das  äussere  Leben  Lillo^s  ist  nicht  erschöpft,  wenn  man 
ihn  als  wohlhabenden,  kinderlosen,  philiströsen  Geschäfts- 
mann sich  vorstellt,  wie  er  in  Moorgate,  City,  seine  Juwelen 
verkauft  und  nebenbei  ein  Trauerspiel  schreibt,  um  Handels- 
lehrlinge vor  Mätressen  und  Veruntreuungen  zu  warnen. 
Er  war  einmal  wohlhabend,  starb  aber  in  Armuth.  'Deprest 
by  want,  dying  he  wrote',  sagt  der  Epilog  zu  seinem  nach- 
gelassenen Drama  ^Elmerick'  1740.  Das  ist  allerdings  be- 
stritten worden.  Davies,  der  Biograph  von  1775,  der,  wie 
es  scheint,  in  seinen  Stücken  spielte  und  die  Theatertradi- 
tionen der  nächsten  Generation  vertritt,  wollte  dies  Gerede 
bereits  wegerklären,  als  hätte  Lillo  sich  bloss  einmal  arm 
gestellt,  um  seinen  Neffen  und  Erben  zu  erproben.  Wie 
zur  Entlastung  versichert  er,  sogar  das  freigebige  Testament 
gesehen  zu  haben;  denn  ein  gefallener  Kaufmann  ist  ein 
dem  Londoner  nicht  angenehmer  Begriff.    Hoffmann  ^)  theilt 

>)  Leopold  Hoffmann,  George  Lillo,  1693—1739  (Marburg  1888). 
Diese  Dissertation,  welche  allerdings  nur  auf  das  Bedürfniss  einer  der- 


48  Brandl,  Zu  Lillo's  Kaufmann  von  London. 

seine  Zweifel.  Aber  die  moralische  Anekdote,  die  ja  ganz 
dem  Wesen  und  der  Zeit  Lillo's  entspricht,  und  das  Testa- 
ment mögen  ihre  Richtigkeit  haben  und  zugleich  die  Notiz 
im  zeitgenössischen  Epilog.  Letztere  wird  überdies  durch 
eine  davon  unabhängige  Nachricht  aus  demselben  Jahre  be- 
stätigt. Geneste,  Some  Account  of  the  English  Stage  1832 
(3,  608),  das  wenig  bekannte  Quellenwerk  für  die  drei 
Haupttheater  von  London  und  das  von  Bath,  verzeichnet 
nämlich  eine  Aufführung  von  'Elmerick'  unter  dem  26.  Fe- 
bruar 1740  'for  the  benefit  of  the  author's  poor  relations'. 
Lille  hat  also  eine  Tragödie  auch  erlebt. 

Es  ist  bezeichnend,  dass  ausser  den  kurzen  Abrissen  von 
Davies  und  Cibber  so  gut  wie  nichts  Biographisches  über 
Lille  vorliegt.  In  den  Briefwechseln  und  Memoiren,  die 
sonst  im  achtzehnten  Jahrhundert  ebenso  zahlreich  als  mit- 
theilsam werden,  kommt  sein  Name  kaum  je  vor.  Sein  Tod 
regte  zu  keinem  Zeitungsartikel  an.  Er  verbrachte  seine 
Tage  offenbar  abseits  von  den  litterarischen  Kreisen,  verkehrte 
und  empfand  mit  anderen  Eaufleuten  und  hatte  nicht  ein- 
mal, wie  der  Romane  schreibende  Buchhändler  Richardson 
neben  ihm,  das  Bedürfniss,  sich  von  Damen  huldigen  zu 
lassen.  Der  mercantile  Stand  gelangt  mit  Lille  zum  Wort, 
und  so  ist  es  nicht  unwichtig  zu  erfahren,  wie  sich  dieser 
fühlte.  Als  Beispiel  sei  eine  Stelle  aus  ^London  in  1731' 
angeführt,  angeblich  von  Don  Manuel  Gonzales,  thatsächlich 
von  einem  Londoner  verfasst  und  gerade  aus  dem  Jahre 
datirt,  in  welchem  der  ^Kaufmann  von  London'  erschien.  Be- 
kanntlich äussert  sich  Thorowgood,  der  Musterprincipal  des 
unglücklichen  George  Barn  well,  gleich  zu  Anfang  der  Tra- 
gödie mit  kräftigem  Selbstbewusstsein  über  seinen  Stand: 
^the  name  of  merchant  never  degrades  the  gentleman,  so 
by  no  means  does  it  exclude  him'  (I,  104).  Es  brauchte 
auch  Stolz,  um  den  heroischen  Hauptpersonen  der  trag^die 
einen  Kaufmann,  und  zwar  nicht  einen  Kaufmann  von  Ve- 
nedig, sondern  von  London,  an  die  Seite  zu  rücken.  Da 
ist  es  denn  bezeichnend,  wie  Gonzales  das  adelige  Treiben 

artigen  Monographie  aufmerksam  macht  und  im  übrigen  sich  in  trau- 
rigen Auszügen  und  Inhaltsangaben  ergeht,  hat  die  folgenden  Be- 
merkungen veranlasst. 


Brand],  Zu  Lillo^s  Kaufmann  von  London.  49 

der  Londoner  Handels  weit  betont:  'In  this  they  differ  from 
the  merchants  of  other  countries,  that  they  know  when  they 
have  enough,  for  they  retire  to  their  estates  .  .  .  they  become 
gentlemen  and  magistrates  in  the  counties  where  their 
estates  lie,  and  as  they  are  frequently  the  younger  brothers 
of  good  families,  it  is  not  uneommon  to  see  them  purchase 
those  estates  that  the  eldest  branches  of  their  respective 
families  have  been  obliged  to  part  with'.  An  diese  specifisch 
englischen  Verhältnisse  mag  man  denken ,  wenn  man  sich 
fragt,  warum  die  bürgerliche  Litteratur  überhaupt  von  London 
ausging.  Die  Fortgeschrittenheit  der  Bourgeoisie  an  der 
Themse  aber  steht  bekanntlich  mit  dem  Whig-Regiment 
seit  1688  in  engem  Zusammenhang. 

Das  führt  auf  einen  andern  Punkt  in  Lillo's  Leben,  der, 
wie  mich  dünkt,  noch  wichtiger  ist :  auf  seine  Beziehungen 
zum  Hof.  Am  22.  Juni  1731  debutirte  der  ^Kaufmann  von 
London',  und  bereits  am  2.  Juli  sandte  die  Königin  Carolina 
in  das  Drury-Lane-Theater,  um  sich  das  Manuscript  zum 
Lesen  zu  borgen.  Die  feinen  Journale  berichteten  davon 
an  hervorragender  Stelle  und  widmeten  dem  Stücke  jetzt 
auch  ihre  besondere  Aufmerksamkeit.  Weekly  Register 
rühmte  am  2t.  August,  anlässlich  der  siebzehnten  Auffüh- 
rung, 'the  taste  of  the  few  in  town  for  distinguishing  so  well' ; 
man  habe  es  hier  mit  einer  neuen  Art  von  Tragödie  zu 
thun;  die  Charaktere  seien  aus  einer  niedrigen  Sphäre,  aber 
nicht  die  Handlung;  4t  is  the  finest  Lesson  to  Youth,  and 
what  is  calculated  for  their  Use,  is  made  their  Entertain- 
ment'. Gentleman's  Magazine,  eben  1731  entstanden,  druckte 
diesen  Artikel  noch  in  demselben  Monat  ab  und  fügte  den 
Ausspruch  einer  ^Lady'  hinzu,  welche  den  Abgang  aristo- 
kratischer Figuren  hinreichend  ersetzt  fand  durch  die  kunst- 
reiche Zartheit  (delicate  texture)  der  Composition.  Im  näch- 
sten Winter  wohnte  einmal  die  ganze  königliche  Familie 
einer  Vorstellung  bei.  Auch  später  sehen  wir  Lille,  obwohl 
Dissenter,  in  Verkehr  mit  dem  Hof.  Er  feierte  die  Ver- 
mählung einer  Prinzess  Royal  mit  Wilhelm  von  Oranien 
1734  in  der  Maske  ^Britannia  and  Batavia'.  Dabei  mag  er 
zum  Theil  an  seine  eigene  Herkunft  gedacht  haben,  denn 
sein  Vater  war  ein  Holländer  und  nur  die  Mutter  englisch. 

Vierteljahnohrift  für  Litteratargeechichte  III  4 


50  Örandl,  Zu  Lillo^s  Kaufmann  von  London. 

Hauptsächlich  betont  aber  hat  er  das  whiggistische  Pro- 
gramm des  königlichen  Hauses,  welches  dem  hochmüthigen 
Spanien  und  dem  blutigen  Rom,  der  Tyrannei  und  dem 
Aberglauben  gewehrt  habe.  Der  Held  Liberto  erscheint 
auf  einer  Flotte,  um  die  gebundene  Kirche  zu  befreien,  was 
deutlich  auf  die  Ankunft  Wilhelms  von  Oranien  abzielt;  die 
'glorreiche  Revolution'  von  1688,  welche  nicht  einmal  Blut 
gekostet  habe,  wird  von  Leuten  aus  dem  Volke  in  arbeits- 
frohen Arien  besungen.  Dass  dies  Festspiel  je  aufgeführt 
wurde,  ist  nicht  bekannt;  vermuthlich  aber  hat  es  Lille 
irgendwie  zur  Eenntniss  der  hohen  Kreise  gebracht,  für 
deren  Augen  es  ja  direct  bestimmt  war.  Dabei  darf  man 
Lille  ja  nicht  eine  Bettelei  zumuthen,  sondern  nur  einen 
Ausdruck  ernster  Überzeugung.  Noch  ein  zweites  Stück 
schrieb  er  für  den  Hof,  und  zwar,  wie  ausdrücklich  bezeugt 
ist,  für  den  Prinzen  Ton  Wales,  den  späteren  König  Georg  HL: 
das  Drama  ^Elmerick  or  Justice  triumphant'.  Ein  muster- 
hafter König  und  eine  buhlerische  Königin,  bei  welcher 
man  an  Maria  Stuart  denken  mag,  stehen  einander  gegen- 
über; letztere  wird  auf  Befehl  eines  gerechten  Richters  in 
Stücke  gehauen.  Da  Lille  den  Druck  nicht  mehr  erlebte  — 
er  starb  im  September  1739  —  band  er  es  einem  Freunde 
feierlich  auf  das  Herz,  das  Drama  dem  Prinzen  zu  widmen. 
So  zu  lesen  in  der  ^Dedication'.  Lille  verehrte  also  das 
königliche  Haus  bis  über  das  Grab  hinaus.  Ebenso  setzte 
auch  dieses  seine  freundliche  Haltung  bis  über  den  Tod 
des  Dichters  fort;  denn  nachdem  'Elmerick'  am  23.  Februar 
1740  die  Bühnenprobe  mit  massigem  Erfolge  bestanden 
hatte,  wurde  es  am  26.  ^by  command  of  the  Prince  and  the 
Princess  of  Wales'  zum  zweiten  Male  wiederholt  (Geneste 
3,  608).  Seltsam:  der  kleine  dicke  Juwelier  mit  dem  einen 
Auge  und  der  schlichten  Haltung;  der  Nonconformist;  der 
unromantischste  unter  den  Tragikern,  der  die  Bühne  betrat, 
um  vor  frivolen  Adeligen  und  geputzten  Courtisanen  zu 
warnen ;  der  bescheidene  Bürger,  der  selbst  bei  den  Proben 
seiner  Stücke  den  Mund  nur  aufthat,  wenn  man  ihn  fragte ; 
dieser  Krämerdichter  — -  in  so  weitgehender  Weise  der 
Freund  und  Schützling  eines  Hofes,  wo  König  und  Minister 
ihre  Mätressen  hielten. 


Brandl,  Zu  Lillo's  Eau^ann  von  London.  51 

Seltsam  und  doch  kein  Zufall.  Aus  Politik  hat  die 
Krone  von  der  Vertreibung  James'  II.  1688  an  durch  ein 
Jahrhundert  die  bürgerliche  Neuerung  der  Litteratur  deut- 
lich begünstigt ;  sowie  auch  die  Vorkämpfer  der  Bürgerlich- 
keit ihr  ehrliche  Sympathien  entgegenzubringen  pflegten. 
Das  erklärt  sich  in  jenen  Zeiten,  wo  stets  der  Stuart-Prä- 
tendent, verbündet  mit  den  heimischen  Hochtories,  vor  den 
Häfen  Englands  lag,  einfach  aus  dem  Selbsterhaltungstriebe 
beider  Theile.  Die  erste  Schwenkung  des  ausgelassenen 
Stuart-Lustspiels  zu  einem  moralischeren  Ton,  welche  durch 
Cibbers  Erstlingskomödie  'Love's  Last  Stift'  1694  markirt 
ist,  entsprach  einer  Aufforderung  der  Königin  Mary  an  die 
Friedensrichter,  dem  üppigen  Wachsthum  des  Lasters,  das 
durch  den  früheren  Hof  gefördert  worden  sei,  zu  steuern. 
Einer  ähnlichen  Prociamation  König  Williams  1697  folgte 
Colliers  berühmte  Schrift  'Short  View  of  the  Immorality  and 
Profaneness  of  the  English  Stage'  1698  (vgl.  Anz.  f.  deutsches 
Alterthum  8,  34).  ^The  Tatler',  die  erste  moralische  Wochen- 
schrift, begründet,  um  gegenüber  den  aristokratischen  Un- 
sitten eine  allgemeine  Einfachheit  in  Kleidung,  Leben  und 
Denken  zu  lehren,  blühte,  solange  Marlbourough  die  Re- 
gierung lenkte,  erlag  aber  nach  dessen  Sturz  1710  den  An- 
griffen der  Tories.  Steele  und  Addison,  der  Herausgeber 
des  ^Spectator^  erfuhren  in  glänzender  Weise  die  Fürsorge 
der  Krone.  Addisons  'Cato\  fast  schon  eine  bürgerliche 
Tragödie,  wenn  auch  in  römischer  Verkleidung,  und  voll 
Whig-Politik,  sollte  der  Königin  Anna  auf  ihren  allerhöch- 
sten  Wunsch  zugeeignet  werden.  Die  erste  Übersetzung 
von  Gessners  tugendhaften  Idyllen  1761,  womit  nach  langer 
Pause  wieder  deutsche  Einflüsse  über  den  Canal  kamen, 
erschien  unter  der  Protection  der  Königin,  der  deutschen 
Gattin  des  eben  zum  Throne  gelangten  Georgs  III.  Dr.  Johnson, 
der  derbsolide  Satiriker  des  high  lifo  in  Vers  und  Prosa, 
bekam  von  Georg  III.  nicht  bloss  eine  Pension,  sondern 
auch  die  persönliche  Aufforderung,  mehr  zu  schreiben,  weil 
er  so  gut  geschrieben  habe.  So  wussten  sich  die  Geister, 
welche  seit  1688  die  Demokratisirung  der  englischen  Litte- 
ratur bewirkten,  in  Übereinstimmung  mit  dem  Herrscher- 
haus, als  Träger  einer  loyalen  Revolution,  frei  und  gehoben, 

4* 


52  Brandl,  Zu  Lillo's  Kaufmann  von  London. 

und  der  fordernde  Einflass  dieser  Stimmung  kam  ihnen 
allen  zu  gute,  nicht  am  wenigsten  unserem  Lille.  Erst  die 
franzosische  Revolution  warf  einen  Zankapfel  dazwischen, 
der  Einfluss  des  deutschen  Sturmes  und  Dranges  über- 
schwemmte in  den  Neunziger  Jahren  England  mit  republi- 
canischen  Poesien,  und  Wordsworth  mit  seiner  Verklärung 
der  ländlichen  Arbeiter,  als  unverbildeter  Naturwesen,  ver- 
suchte seit  1798  direct  eine  poetische  Herrschaft  des  vierten 
Standes  aufzurichten. 

Trotz  dieser  günstigen  Verhältnisse  trat  Lille  nicht 
sofort  als  fertiger  Bürgertragöde  auf.  Sein  erstes  Stück  ist 
nicht  der  'Kaufmann  von  London',  sondern  ein  Singspiel 
'Silvia  or  the  Country  Burial',  aufgeführt  am  10.  November 
1730  inLincolnsInnFields  (vgl.  Geneste  3,  302f.),  von  welchem 
ich  bereits  Anzeiger  f.  deutsches  Alterthum  8,  48—50  zu 
zeigen  suchte,  dass  es  wesentlich  auf  der  1 728  erschienenen 
Bettleroper  fiisst.  Lille  hat  nämlich  den  komischen  Figuren, 
die  ihm  da  vorlagen,  pathetische  Doppelgänger  an  die  Seite 
gestellt:  der  leichtfertigen  Liebhaberin  die  tugendhafte  Sil- 
via, dem  nichtsnutzigen  Vater  den  würdevollen  Welford,  und 
der  ehefeindliche  Galan  Sir  John  Freeman  muss  sich  we- 
nigstens am  Schluss  bekehren  und  Silvia  zur  Frau  nehmen. 
Neben  der  moralischen  Tendenz,  die  Ehe  zu  vertheidigen, 
verräth  sich  in  der  Fabel  noch  stark  die  Sittenrohheit  der 
alten  Komödie.  Die  Beerdigung,  nach  der  das  Spiel  sich 
nennt,  ist  nur  vorhanden,  um  Sir  John  Freeman  Gelegenheit  zu 
geben,  seinen  Don  Juan-Charakter  zu  entfalten,  die  Tochter 
der  (angeblich)  Verstorbenen  auf  dem  Friedhof  zu  treffen 
und  hier,  am  Grabe  ihrer  Mutter,  zu  verführen.  Und  nicht 
dieses  Mädchen  braucht  der  edle  Herr  später  zu  heiraten, 
sondern  da  er  schon  mehrfach  verpflichtet  ist,  bekommt  er 
die  reiche,  vornehme,  tugendhafte  Silvia,  die  einzige  fast, 
die  ihm  noch  nicht  zu  Willen  gewesen  ist!  —  Auch  in  tech- 
nischer Hinsicht  verräth  sich  Lille  da  noch  sehr  als  An- 
fanger. Die  eben  beschriebene  Friedhofscene  z.  B.  scheint 
der  Gefangnisscene  in  der  Bettleroper  nachgebildet,  wo  der 
Liebhaber  ebenfalls  im  Anblick  des  Todes  noch  eine  junge 
Person,  die  Tochter  eines  nichtsnutzigen  Vaters,  leicht  für 
sich  gewinnt;    nur  dass  in  der  Bettleroper  der  erfolgreiche 


Brandl,  Zu  Lillo^s  Kaufmann  von  London.  53 

Spitzbube  selbst  vor  dem  Galgen  steht,  während  bei  Lille 
die  Mutter  der  Verführten  bereits  für  todt  gilt:  eine  be- 
denkliche Yergröberung  der  ohnehin  grotesken  Situation. 
Um  den  Fehler  zu  mildem,  lässt  Lille  die  begrabene  Mutter 
nur  scheintodt  sein  und  heil  davongehen.  Vielleicht  borgte 
er  dies  Motiv  des  Scheintodes  aus  Steele's  Tuneral  or  Grief 
ä  la  Mode^  1702,  worin  auch  die  erste  Moralrednerin  der 
englischen  Komödie  begegnet.  Jedenfalls  ist  die  Combi- 
nation  recht  ungeschickt.  Lille  hatte  nicht  den  Humor  für 
das  heitere  Drama,  obwohl  er  von  diesem  ausging.  Er  kam 
erst  in  sein  Element,  als  er  die  ernsten  Personen  dieses 
Stückes  mit  dem  Inhalt  einer  Ballade  zu  einem  durchaus 
pathetischen  Trauerspiel  verband. 

Über  die  erste  Aufführung  des  'Kaufmann  von  London' 
sind  aus  Geneste  3,  295  interessante  Details  zu  entnehmen. 
Am  22.  Juni  1731  stand  auf  dem  Theaterzettel  von  Drury 
Lane :  'Never  acted.  The  Merchant  (sie)  or  the  true  History 
of  George  Barnwell'.  Der  Lehrling-Titelheld  wurde  gegeben 
von  Cibber  jun.,  welcher  bisher  im  Trauerspiel  nur  Per- 
sonen dritten  Ranges  dargestellt  hatte:  Osrick  im  Hamlet, 
den  Gentleman  TJsher  im  Lear,  Roderigo  im  Othello.  Er 
war  mehr  für  die  Komödie  veranlagt.  Mit  Pistol  in  Hein- 
rich lY.  hatte  er  vor  einem  Jahre  seinen  besten  Erfolg  er- 
rungen; da  wusste  er  eine  köstliche  Gravität  anzunehmen, 
mit  ungeheuer  langen  Schritten,  bizarren  Grimassen  und 
dem  ^sonorous  cant  of  the  old  Tragedizers'  (Geneste  4,  538). 
Wenn  daher  berichtet  wird,  die  Zuschauer  seien  zum  Theil 
mit  übermüthiger  Spottsucht  ins  Theater  gekommen,  galt 
sie  vielleicht  nicht  weniger  der  Besetzung  als  dem  Stück. 
Cibber  führte  aber  die  Rolle  vermuthlich  gerade  weil  sie 
eine  plebejische  war,  so  vorzüglich  durch,  dass  die  Witz- 
bolde vor  Rührung   die  Sacktücher  herausziehen  mussten. 

Drei  Tage  später  folgte  die  zweite  Aufführung,  am 
20.  August  schon  die  siebzehnte,  womit  die  Saison  1730/1 
schloss  (Geneste  3, 298).  Die  Behauptung  von  Davies  S.XIII, 
dass  die  Tragödie  etwa  zwanzig  Mal  in  der  heissesten  Zeit 
des  Jahres  vor  gefülltem  Hause  gegeben  worden  sei,  er- 
weist sich  demnach  als  leidlich  richtig.  Die  Schlusscene 
mit  dem  Galgen  im  Hintergrund  wurde  erst  nach  dem  ersten 


f 


54  Brandl,  Zu  Lillo's  Kanfinann  von  London. 

Abend  von  Lillo  eingefügt.  Geneste,  der  dies  3,  295  be- 
richtet, drückt  sein  Bedauern  aus,  dass  sie  nach  einigen 
Jahren  wieder  ausgelassen  wurde.  Die  Zugkraft  des  Stückes 
hielt  sich  auch  im  nächsten  Jahre  1731/2,  am  9.  December 
wurde  es  für  den  Autor  gespielt,  am  27.  Mai  hatte  es  die 
Wintersaison  zu  schliessen.  Zugleich  finden  wir  es  am 
22.  Mai  1732  in  einem  anderen  Londoner  Theater,  in  Lin- 
colns Inn  Fields.  Dann  wieder  in  Drury  Lane  am  26.  Oc- 
tober  1732,  am  10.  October  1733  und  am  1.  Juli  1735  zur 
Eröffnung  der  Sommersaison  (Geneste  3,  362.  407.  453). 
Auch  während  der  glänzenden  Shakespearereprisen  von 
Garrick  ward  es  nicht  vergessen:  vgl.  1.  October  1743 
Drury  Lane,  16.  Mai  1744  Covent  Garden.  ISoQh  in  diesem 
Jahrzehnt  erinnere  ich  mich  an  eine  Aufführung  in  einem 
Londoner  Theater,  wo  es  natürlich  nur  den  Eindruck  einer 
)lS%  Curiosität  machte.  E,  Moore^8_'Gamester',  die  beste  Nach- 
ahmung, lief  fleissig  daneben  her.  Yon  einer  dramatischen 
Schule,  welche  der  ^Kaufmann  von  London'  hervorgerufen 
hätte,  kann  man  nicht  eigentlich  sprechen;  aber  vielleicht 
wirkte  er  auf  das  Aufkommen  des  bürgerlichen  Romans 
(Pamela  1741),  welcher  sich  ja  ebenfalls  gerne  in  Ver- 
fnhrungssituationen  bewegt. 

Die  Frage  nach  dem  Ursprung  dieses  derb  wirksamen 
Abschreckungsdramas  thut  man  nicht  ab,  wenn  man  auf  die 
Ballade  von  George  Barnwell  verweist  (am  bequemsten  zu- 
gänglich in  Percy's  Reliques  3,  3.  2).  Schon  dass  Lillo 
einen  solchen  Stoff  wählte,  gibt  zu  denken.  Seine  Tendenz, 
Lotterleben  und  solide  Ehe  einander  lehrhaft  gegenüberzu- 
stellen, knüpft  offenbar  an  das  vorgenannte  Singspiel  ^Silvia' 
an.  Auch  fügte  er  zu  der  Courtisane  und  dem  gefallenen 
Jüngling  der  Ballade  zwei  tugendhafte  Personen,  welche 
bereits  in  ^Silvia'  vorkommen:  die  brave  Maria,  welche  der 
Silvia  selbst  entspricht,  und  ihren  würdigen  Vater  Thorow- 
good,  das  Abbild  von  Welford  (Anzeiger  f.  deutsches  Alter- 
thum  8,  50).  —  Eine  andere  Figur,  welche  erst  Lillo  an- 
brachte, ist  Bamwells  treuer  Freund  Trueman.  Der  Name 
desselben  erinnert  an  den  Truemann  in  Farquhars  'The 
Rivals'  1702,  welcher  ebenfalls  seinen  Yertrauten  zu  ehren- 
hafter Liebe  mahnt,  die  Dirne  persönlich  gefangen  nimmt 


Brandl,  Zu  LiUo's  Kaufmann  von  London.  55 

und  der  Tugend  bei  einem  Geföngnissbesuch  zur  Seite  steht 
wie  bei  Lille.  Nur  hat  Lille  jede  Spur  von  Humor  ver- 
loren und  jede  Gelegenheit  zum  Predigen  nach  Gewohnheit 
ausgenützt.  —  Yen  den  hinzugekommenen  Situationen 
scheint  zunächst  der  traurige  Besuch,  welchen  Bamwell 
im  Armesünderstübchen  von  Trueman  und  Maria  erhält, 
auf  den  humoristischen  Besuch  PoUys  bei  dem  verurtheilten 
Macheath  am  Schluss  der  Bettleroper  zurückzugehen;  hatte 
ihn  doch  Lillo  schon  in  ^Silvia'  nachgeahmt.  Aus  dem 
Newgate-Pastoral  wurde  eine  Newgate-Tragödie.  —  Noch 
weiter  zurück,  auf  das  elisabethinische  Buhlschafts-  und 
Morddrama  ^Arden  of  Feversham'  (gedruckt  1592,  1599, 
1633),  deutet  die  Art,  wie  Lillo  den  in  der  Ballade  nur 
flüchtig  erwähnten  Mord  des  Onkels  inscenirte,  der  ja 
gleichfalls  durch  ein  buhlerisches  Liebespaar  erfolgt:  hier 
wie  dort  hat  das  Opfer  vorher  eine  Ahnung  und  wird  bei 
der  Erholung  überfallen ;  hier  wie  dort  hält  der  Frevler  vor 
der  Unthat  einen  Monolog  voll  moralischer  Selbstanklagen ; 
noch  in  der  letzten  Minute  scheint  es  möglich,  dass  das 
Gewissen  siegt ;  es  wird  durch  eine  wilde  Energie  momentan 
unterdrückt,  um  unmittelbar  nach  dem  Morde  mit  ergreifen- 
der Wucht  hervorzubrechen.  Da  Lillo  jenes  Stück  nicht 
bloss  gekannt,  sondern  später  auch  neu  bearbeitet  hat  und 
zwar  mit  starker  Ausweitung  der  gemeinsamen  Züge,  ist 
die  Yermuthung  um  so  begründeter,  dass  es  ihm  bereits 
beim  ^Kaufmann  von  London'  vorschwebte.  Hiermit  wäre 
zwischen  der  bürgerlichen  Tragödie  der  elisabethinischen 
Ära  und  Lillo  in  einem  wichtigen  Punkte  ein  unmittelbarer 
Zusammenhang  hergestellt.  Hauptsächlich  aber  entsprang 
nach  dem  Gesagten  der  ^Kaufmann  von  London'  aus  dem 
neueren  moralisirenden  Lust-  und  Singspiel,  wozu  es  auch 
stimmt,  dass  der  Ton  des  gewöhnlichen  Lebens  so  kräftig  fest- 
gehalten, die  Redeweise  nicht  rhythmisch,  sondern  prosaisch 
und  die  Titelrolle  durch  einen  Eomödienspieler  mit  so  viel 
Glück  creirt  worden  ist.  Schon  anderthalb  Jahrhunderte 
vorher  hatte  einmal  das  Lustspiel  befreiend  und  befruchtend 
auf  das  Trauerspiel  gewirkt,  um  1570—80,  als  es  galt,  die 
Starrheit  der  Seneca-Form  durch  die  Tragi -Komödie  zu 
durchbrechen.    Das  geschah  jetzt  zum  zweiten  Male  und 


56  Brandl,  Zu  Lillo's  Eaufimann  von  London. 

sollte  noch  ein  drittes  Mal  sich  ereignen,  als  um  1800  das 
Melodrama  emporkam,  eine  missachtete  Gattung,  die  aber 
doch  alsbald  mit  Byrons  ^Manfred'  in  die  Weltlitteratur 
eintrat. 

Was  die  Verwendung  der  Prosa  in  der  Tragödie  be- 
trifft, welche  zu  den  hervorstechendsten  Neuerungen  des 
^Kaufmann  von  London'  gehört,  kann  auf  die  39.  Nummer 
des  'Spectator'  verwiesen  werden,  wo  Addison  glaubt,  der 
unnatürlichen  Rhetorik  der  englischen  Tragödie  wäre  am 
besten  zu  steuern,  4f  the  Writer  laid  down  the  whole  Con- 
texture  of  his  Dialogue  in  piain  English,  before  he  tumed 
it  into  Blank  Yerse'.  Die  Moralischen  Wochenschriften 
haben  mehrfach  Anregungen  gegeben,  welche  auf  den  la- 
byrinthischen Pfaden  der  Popularität  in  die  Massen  geriethen, 
um  plötzlich  irgendwo  eine  fertige  Consequenz  emporzu- 
treiben. 

Lillo  ruhte  nicht  lange  auf  seinen  Lorbeeren,  sondern 
begann  alsbald  ein  neues  Drama:  ^The  Christian  Hero'. 
Wann  es  erschien,  findet  sich  bei  Davies  etwas  ungenau 
verzeichnet :  'about  three  or  four  years  after  (the  Merchant 
of  London)'.  Hoffmann  sagt:  4743  (soll  heissen  1734)  ge- 
druckt und  in  demselben  Jahre  im  Drury  Lane  Theater  mit 
sehr  geringem  Erfolge  gegeben.'  Genauere,  authentische 
Auskunft  gibt  wieder  Geneste  (4,  443):  am  13.  Januar  1734 
zum  ersten  Mal  gespielt  und  dann  dreimal  wiederholt;  4t 
is  on  the  whole  a  good  play  and  deserved  a  much  better 
fate.'  Als  Abfassungszeit  ist  daher  nicht  1734  anzusetzen, 
sondern  spätestens  1733.  In  Folge  dessen  wird  in  der 
chronologischen  Liste  von  Lillo's  Dramen  (bei  Hoffinann 
S.  37)  einerseits  die  relativ  lange  Pause  zwischen  dem 
^Kaufmann  von  London'  1731  und  dem  'Christian  Hero' 
verkleinert,  andererseits  eine  Cumulirung  des  'Christian 
Hero'  mit  dem  darauf  folgenden  Festspiel  'Britannia  and 
Batavia',  welches  nur  als  actuelle  Huldigung  im  Jahre  des 
Festes  1734  einen  Sinn  hat,  beseitigt.  Resultat:  Lillo  hat 
mit  bezeichnender  Pünktlichkeit  alle  ein  bis  zwei  Jahre 
sein  Stück  geliefert,  von  seinem  35.-36.  Jahre  bis  zu 
seinem  Tode  (1739). 

Über  die  Entstehung  dieses  Dramas  mögen  hier   noch 


Brandl,  Zu  Lillo's  Eaufinanii  von  London.  57 

einige  Bemerkungen  folgen,  um  wenigstens  die  nächste 
Entwickelungsstufe  zu  bestimmen,  welche  bei  Lille  auf  sein 
Hauptwerk  folgte. 

Der  christliche  Held,  nach  welchem  das  Stück  heisst, 
ist  eine  historische  Persönlichkeit,  Scanderbeg,  der  albane- 
sische  König  des  15.  Jahrhunderts,  der  sich  gegen  den 
Sultan  Amurath  und  dessen  Sohn  Mahomed  den  Grossen 
erfolgreich  vertheidigte  und  schon  im  16.  Jahrhundert  bei 
italienischen  und  französischen  Geschichtschreibern  in  sagen- 
hafter Ausschmückung  erscheint.  Dass  Lille  den  Stoff  aus 
der  Türkengeschichte  wählte,  ist  in  jenen  Zeiten  der  Türken- 
kämpfe ohne  weiteres  begreiflich.  Dass  er  aber  gerade 
auf  Scanderbeg  verfiel,  bedarf  einer  Erklärung.  Der  tapfere 
Albanese  war  den  Engländern  im  allgemeinen  so  wenig 
bekannt,  dass  dem  Drama  ein  ^Brief  Account  of  the  Life 
and  Character  of  Scanderbeg'  vorausgesandt  wurde,  als  ein 
historischer  Commentar,  um  das  Publicum  auf  die  erste 
Aufführung  vorzubereiten,  und  der  Eingang  dieser  Prosa- 
erzählung bezeugt  noch  ausdrücklich  die  bisherige  Unbe- 
rühmtheit  des  Helden.  Yermuthlich  war  der  Anstoss,  wel- 
cher Lille  zu  diesem  Stoff  brachte,  ein  öffentlicher;  denn 
gleichzeitig  mit  ihm  ergriffen  ihn  noch  zwei  Dramatiker: 
Harward,  'Scanderbeg  a  tragedy',  gedruckt  von  Watts  im 
März  1733  (Gentleman  Magazin  3,  163),  und  Whincop, 
'Scanderbeg  or  Love  and  Liberty',  im  Manuscript  abgefasst 
1733  (vgl.  Davies  S.  XIV  ff.),  gedruckt  1747.  War  vielleicht 
eine  Biographie  Scanderbegs  erschienen  ?  Nicht  in  England. 
Der  obgenannte  'Brief  Account'  wurde,  wie  bereits  ange- 
deutet, nicht  vor  dem  Drama,  sondern  erst  während  der 
Proben  compilirt  ('coUected  from  the  best  authorities' ;  vgl. 
Davies  1,  193).  Wenn  er  mit  dem  Drama  gemeinsame  Irr- 
thümer  hat,  so  beweist  das  nur,  dass  er  auf  dieselben  Ge- 
schichtswerke zurückgeht.  Auch  darf  man  nicht  glauben, 
Lillo  habe  ihn  selbst  geschrieben,  etwa  als  Ergebniss 
historischer  Lieblingsstudien,  und  dann  die  eigene  Abhand- 
lung in  ein  Drama  umgegossen.  Gleich  zu  Eingang  der 
Abhandlung  sagt  nämlich  der  Yerfasser,  er  habe  aus  ver- 
lässlicher Quelle  erfahren  ('we  have  been  credibly  informed'), 
dass   der  'Christian  Hero'  gegenwärtig  geprobt  werde;  im 


58  Brandl,  Zu  LiJlo's  Kaufmann  von  London. 

Munde  Lillo's,  der  in  der  Nähe  des  Theaters  wohnte  und, 
wie  ausdrücklich  berichtet  wird,  an  den  Proben  seiner 
Stücke  sich  betheiligte,  wäre  das  schlechterdings  eine  Lüge 
gewesen,  noch  dazu  eine  recht  überflüssige.  Ebenso  schlecht 
würde  auf  derselben  Seite  die  Bemerkung  des  Prosaisten, 
Scanderbegs  Unberühmtheit  erkläre  sich  nur  aus  dem  bis- 
herigen Mangel  eines  ^elegant  poet',  zu  der  Bescheidenheit 
und  Moraltendenz  Lillo's  passen.  Wollen  wir  die  nächst 
vorhergehende  englische  Biographie  Scanderbegs  finden,  so 
müssen  wir  bis  ins  Jahr  1596  zurückgehen,  wo  in  London 
eine  Übersetzung  von  Lavadins  Histoire  de  Scanderbeg  er- 
schien. Die  letzte  englische  Geschichte  der  Türken,  die 
von  R.  Knowles,  welche  im  'Brief  Account'  S.  205  citirt 
wird,  hatte  1700  ihre  jüngste  Neuauflage  erlebt.  Aber  ein 
Franzose,  Chevilly,  hatte  gerade  1732  ein  etwas  romanhaftes 
Werk  herausgegeben,  'Scanderbeg  ou  les  Aventures  du 
Prince  d'Albanie',  und  dies  belehrte  offenbar  die  eng- 
lischen Dramatiker.  —  Auch  im  Gentleman  Magazine  für 
September  1731  S.  371,  also  ein  halbes  Jahr  nach  dem 
Erfolg  des  ^Kaufmann  von  London',  kommt  eine  Stelle  vor 
(abgedruckt  aus  Applebee's  Journal  4.  September),  welche 
durch  Zeit  und  Ort  des  Erscheinens  und  durch  ihre  Fassung 
sehr  beachtenswerth  ist.  Unter  dem  Titel  'Power  of  example' 
heisst  es  da :  'Scanderbeg,  Prince  of  Epirus,  shot  as  it  were 
his  own  Yirtues  into  his  Subjects,  and  rais'd  their  Passion 
for  Liberty  and  Religion  so  high,  that  with  their  own  little 
strength,  they  successfully  oppos'd  the  numerous  Armies 
often  raised  against  them  in  the  Turkish  Empire.'  Also 
Tugend,  Freiheit  und  Religion  —  genau  das  Programm 
Lillo's,  welches  dieser  auch  im  Drama  stark  hervorgekehrt 
hat;  denn  Scanderbeg  als  christlicher  Yolkskönig  steht 
durchaus  im  Gegensatz  zu  dem  Tyrannen  Amurath  und 
wird  am  Schluss  noch  ausdrücklich  als  frommer,  patriotischer 
König  vollständig  freier  Unterthanen  verherrlicht.  Aber- 
mals macht  sich  die  Whig-Tendenz  fühlbar,  stärker  noch 
als  im  'Kaufmann  von  London',  so  dass  es  nicht  überraschen 
dürfte,  wenn  ihm  ein  Whig-Blatt,  wie  das  Gentleman 
Magazine,  den  Anstoss  zum  Werke  gegeben  hätte.  Nicht 
ein  psychologisches  oder  künstlerisches  Interesse,  sondern 


Brandl,  Zu  Lillo*8  Kaufmann  von  London.  59 

die  politisch-religiöse  Deutbarkeit  in  Verbindung  mit  einem 
Tagesgespräch  hat  Lille  auf  diesen -StoiF  gebracht. 

Die  Behandlung  des  Stoffes  ist  nicht  weniger  charak- 
teristisch. Zunächst  fällt  auf,  dass  Lille  vom  ganzen  Leben 
Scanderbegs  nur  eine  Episode  behandelt  hat,  die  Belagerung 
Yon  Croia,  und  auch  diese  in  ungemein  freier  Weise.  Zu- 
gleich haben  litterarische  Einflüsse  die  historische  Über- 
lieferung durchkreuzt.  Ein  guter  Hinweis  der  Art,  den 
Hoffmann  freilich  todtschweigt,  steht  bereits  bei  Davies 
S.  XIY:  die  Scene  im  zweiten  Act,  wo  sich  Scanderbeg 
und  Amurath  an  der  Spitze  ihrer  Truppen  ein  Wortgefecht 
liefern,  wird  da  zurückverfolgt  auf  die  Unterredung  des 
christlichen  und  saracenischen  Führers  in  der  Tragödie 
'Belagerung  von  Damascus'  von  Hughes,  zuerst  gespielt  am 
17.  Februar  1720,  das  jüngste  Türkendrama,  das  in  London 
einen  Erfolg  errungen  hatte.  Lille  war  damals  siebenund- 
zwanzig Jahre  alt  und  scheint  einen  starken  Eindruck  em- 
pfangen zu  haben;  denn  sein  ^Christlicher  Held^  bewegt 
sich  wesentlich  im  Fahrwasser  von  Hughes.  Ihm  schloss 
sich  Lillo  an,  indem  er  bloss  eine  Belagerung  herausgriff, 
sammt  den  daran  haftenden  bequemen  Localitätsverhält- 
nissen.  Ihm  folgte  er  im  exponirenden  Dialog  zwischen 
Scanderbeg  und  Sultan,  indem  er  dem  Muselmann  nicht 
nur  confessionelle  Gemeinplätze,  sondern  auch  das  Bestreben 
zuschrieb,  den  Christen  moralisch  ins  Unrecht  zu  setzen. 
Nach  Hughes  sind  ferner  die  Rollen  der  Liebhaberinnen 
erfunden,  zu  welchen  die  Geschichte  keinen  Anhaltspunkt 
bot  ausser  die  flüchtige  Bemerkung,  Scanderbeg  sei  mit 
einer  sehr  schönen  und  tugendhaften  Frau,  Tochter  des 
Aranthes,  Fürsten  von  Durazzo,  vermählt  gewesen  (Brief 
Account  S.  214).  Der  Christenheld  des  Hughes  wird  von 
der  Tochter  des  Stadtgouverneurs,  Lillo 's  Scanderbeg  von 
der  Tochter  des  Sultans  (Helena)  geliebt.  In  beiden  Fällen 
haben  die  Yäter  bereits  anderweitig  verfügt.  Die  Damen 
sind  aber  heroisch  genug,  in  männlicher  Yerkleidung  den 
Geliebten  vor  die  Thore  der  Stadt  nachzugehen.  Bei 
Hughes  entkommt  sie  dabei  mühsam  der  Gefangenschaft, 
bei  Lillo  wird  sie  erschlagen;  denn  da  sie  bei  Lillo  muha- 
medanisch  ist,  wusste  er  mit  ihr  nichts  weiter  anzufangen, 


60  Brandl,  Zu  Lillo's  Kaufmann  von  London. 

als  ihre  Liebe  zum  Schmucke  seines  Musterkönigs  zu  ver- 
wenden. Dafür  hat  Lille  noch  eine  zweite  Dame  ange- 
bracht, Scanderbegs  christliche  Braut  (Ceranthes),  in  welcher 
die  zweite,  glückliche  Lebenshälfte  der  Hughes  -  Geliebten 
sich  wiederholt.  Nur  wird  bei  Hughes  der  Held,  bei  Lille 
die  Braut  von  den  Muselmännern  gefangen,  worauf  sich  in 
beiden  Dramen  der  Conflict  darum  dreht,  ob  der  Held,  um 
die  Geliebte  zu  retten,  die  bekannten  Anerbietungen  der 
Glaubensfeinde  annimmt,  oder  ob  ihm  die  Christenpflicht 
über  die  Privatliebe  geht  Hier  wie  dort  erhöht  eine  Be- 
denkzeit die  Spannung.  In  der  verschiedenen  Art,  die 
Entscheidung  herbeizuführen,  verräth  sich  der  Hauptunter- 
schied der  beiden  Dichter.  Hughes  wollte  eine  Liebes- 
tragödie mit  heroischem  Hintergrund  schreiben ;  er  wetteiferte 
mit  Otway,  dessen  'Venice  Preserved'  ihm  besonders  vor- 
schwebte; er  suchte  es  Shakespeare  nachzuthun  und  erlaubte 
sich  einmal  geradezu  eine  Paraphrase  von  Hamlets  Selbst- 
mordmonolog (HI,  5) ;  seine  Zwecke  waren  in  erster  Linie 
künstlerische.  Darum  durfte  sich  sein  Held  zu  einem 
halben  und  scheinbaren  Renegatenthum  verstehen,  wird 
aber  deshalb  von  der  pflichtbegeisterten  Geliebten,  obwohl 
er  sie  vor  Schande  und  Tod  rettet,  zurückgewiesen  und 
endet  tragisch.  Lille  dagegen  lässt  seinen  Scanderbeg  nicht 
die  geringste  Concession  machen  und  dennoch  die  Braut 
vor  Schande  und  Tod  retten,  so  dass  der  Ausgang  ein 
Triumph  der  guten  Sache  ist.  Die  Tendenz  liegt  wieder 
auf  der  Hand.  —  Auch  einige  selbsterfundene  Züge  hat 
Lille  angebracht,  um  seinen  'christlichen  Helden'  zu  ver- 
herrlichen. Sein  Scanderbeg  nimmt  den  Sultan  gefangen 
und  lässt  ihn  aus  lauter  Grossmuth  frei,  ohne  dass  im 
'Brief  Account',  geschweige  in  "Wirklichkeit  ein  Wort  davon 
bezeugt  wäre.  Er  hat  die  rohe  Nebenhandlung  von  einem 
Mitbewerber  um  die  Geliebte,  der  ihr  Gewalt  anthun  will, 
viel  ausführlicher  entwickelt  als  Hughes,  weil  dadurch 
Scanderbeg  in  ein  um  so  helleres  Licht  tritt.  Den  warnen- 
den YerführungsBcenen  im  'Kaufmann  von  London'  wird 
hiermit  ein  positives  Tugendbeispiel  gegenübergestellt.  Die 
Moral  trompetet.  Aber  die  erhabene  Gonsequenz  der  Tra- 
gödie geht  darüber  in  Trümmer,   ein  Missbegriff  von  poe- 


Brandl,  Zu  Lillo^s  Ranfmann  von  London.  gl 

tischer  Gerechtigkeit  erschlägt  die  höhere  dramatische 
Schönheit,  und  im  Gefolge  dieser  zaghaften  Aftertragödie 
dringt  das  lehrhaft  larmoyante  Lustspiel  ein,  welches  eine 
Generation  später  von  Goldsmith  mit  so  harter  Mühe  wieder 
bekämpft  wurde.  Hatte  Lille  die  Tragödie  im  ^Kaufmann 
von  London'  inhaltlich  zu  popularisiren  vermocht,  so  hat 
er  im  ^Christlichen  Held'  ein  gefahrliches  Signal  gegeben, 
sie  künstlerisch  zu  vulgarisiren. 

Die  vorstehenden  Untersuchungen,  so  wenig  Anspruch 
auf  Yollständigkeit  sie  erheben,  erlauben  doch,  über  Lillo's 
Bildungsgrad  ein  annäherndes  Urtheil  zu  fallen  und  hiermit 
eine  Lücke  in  seinen  Biographien  zu  ergänzen.  Er  las  die 
Zeitung  und  Französisch,  verfolgte  die  Politik,  kannte  das 
Repertoir  der  Londoner  Theater  und  die  elisabethinischen 
Dramatiker;  aber  von  den  Formidealen  der  Antike  und  von 
feinerem,  philosophisch  geschultem  Denken  findet  sich  bei 
ihm  nichts.  Er  war  so  recht  der  intelligente  Kaufmann 
einer  Weltstadt,  nur  mit  ausgesprochener  Moralenergie  und 
Theateranlage.  Er  stand  nicht  wesentlich  über  dem  Niveau 
der  Zuschauer,  für  die  er  schrieb,  und  so  besteht  auch  der 
litterarische  Werth  seiner  Stücke  wesentlich  nicht  in  einem 
Fortschritt  von  Schönheit  und  Gedankenhaftigkeit,  sondern 
darin,  dass  er  die  Empfindungen  und  Bestrebungen  der 
durch  die  moralischen  Wochenschriften  aufgeklärteren 
Massen  in  den  Rahmen  der  bereits  vorhandenen  Bühnen- 
technik wirksam  einfügte.  Nicht  einmal  die  Sittlichkeit  hat 
er  gehoben,  obwohl  er  sie  stets  auf  das  gewissenhafteste 
im  Munde  führte,  sie  durch  alle  seine  Figuren  zu  fordern 
suchte  und  ihr  in  der  That  viele  Advocaten  gewann;  denn 
seine  Sittlichkeit  ist  die  des  Philisters,  der  nur  das  Äusserste 
stets  im  Auge  hat  und  auch  vor  diesem  nur  aus  handgreif- 
lichen Nützlichkeitsrücksichten  warnt. 

Was  seine  späteren  Stücke  betrifft,  sei  nur  auf  zwei 
Richtungen,  welche  darin  hervortreten,  kurz  verwiesen. 
Einerseits  zog  es  ihn  mit  begreiflicher  Macht  in  den  Bann 
von  Shakespeare  und  dessen  Zeitgenossen.  Sein  ^Arden 
of  Feversham'  ist,  wie  gesagt,  eine  Bearbeitung  des  gleich- 
namigen elisabethinischen  Stückes;  'Fatal  Curiosity'  (1736) 
als    Darstellung    eines   grässlichen    Familienmordes    streift 


62     Sauer,  Aus  dem  BiieiVechsel  zwisclien  Bürger  nnd  GoecHngk. 

nahe  an  die  'Yorkshire  Tragedy';  'Marina'  (1738)  ist  eine 
Bearbeitung  des  Tericles' ;  'Elmerick  or  Justice  triumphant* 
(1739)  behandelt  einen  historischen  Stoff,  aber  in  ent- 
schiedener Anlehnung  an  'Measure  for  Measure'  oder  ver- 
wandte Stücke.  Andererseits  lernte  er  mehr  den  Theater- 
effect  pflegen  und  scheint  z.  B.  die  Rolle  des  Elmerick  dem 
Schauspieler  Quin  auf  den  Leib  geschrieben  zu  haben 
(Qeneste  4,  608).  Wenn  das  englische  Drama  im  Laufe 
des  18.  Jahrhunderts  bei  dem  vielen  Talent,  Interesse  und 
Qeld,  das  ihm  zugeführt  wurde,  keine  höheren  Schöpfungen 
hervorbrachte,  liegt  der  Orund  wohl  darin,  dass  einerseits 
der  Rückblick  auf  den  Riesen  Shakespeare  die  Originalität 
hemmte  —  und  wie  sehr  eine  übergrosse  Tradition  schaden 
kann,  ist  auf  jedem  Blatte  der  spätrömischen  Geschichte 
zu  lesen  —  und  andererseits  in  einer  bis  zum  Raffinement 
entwickelten  Theatertechnik,  welche  zu  glänzenden  Augen- 
blickserfolgen oder  zu  tendenziöser  Ausnützung  einlud.  Für 
beides  bietet  Lille  eine  typische  Illustration. 

Oöttingen.  Alois  Bran^l. 


Aus  dem  Briefweebsel  zwlsehen  BOrger  und 

GoecUngk. 

In  der  Sammlung  des  Bürgerschen  Briefwechsels  theilte 
Strodtmann  65  Briefe  Goeckingks  an  Bürger  aus  den  in  des 
letzteren  Nachlass  vorhandenen  Originalen  mit ;  ferner  zwei 
Briefe  Burgers  an  Goeckingk  und  den  Anfang  eines  dritten 
sowie  dessen  Promemoria  an  Goeckingk  und  Voss  in  Ange- 
legenheit des  Göttinger  Musenalmanachs  nach  dem  Concepte. 
Der  Güte  des  königlichen  Eammerherm  von  Goeckingk  in 
Wiesbaden,  eines  Urenkels  des  Dichters,  der  das  v.  Goeckingk- 
sehe  Familienarchiv  in  musterhafter  Weise  verwaltet  und 
mit  grösster  Liberalität  der  Forschung  eröffnet,  verdanke  ich 
die  Erlaubniss,  die  folgenden  werthvollen  Ergänzungen  zu 
Strodtmanns  Sammlung  publiciren  zu  dürfen.  Strodtmann 
selbst  wurden  sie  erst  nach  Abschluss  seines  Werkes  zu- 


/ 


#; 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Borger  und  Goeckingk.     63 

gänglich,  er  machte  nur  einige  herausgerissene  Stellen  ohne 
Angabe  des  Briefdatums  in  seinem  Aufsatze  ^Bürgers  poli- 
tische Ansichten^  bekannt  (Neue  Monatshefte  für  Dichtkunst 
und  Kritik  13  S.  216  ff.  vgl.  Vierteljahrschrift  1,  260).  Es 
sind  77  Briefe,  die  ich  mit  fortlaufenden  Ziffern  bezeichne: 
64  Briefe  von  Bürger,  4  von  seiner  ersten  Frau,  9  von 
Goeckingk ;  Nr.  7  lag  mir  in  einer  Abschrift,  alle  übrigen  im 
Original  vor. 

Drei  Perioden  lassen  sich  in  dem  freundschaftlichen 
Verkehre  der  beiden  Dichter,  abgesehen  von  ihrer  Schul- 
zeit, deutlich  unterscheiden.  In  der  ersten  Periode  April 
1775  —  März  1778  stehen  die  litterarischen  Interessen,  die 
Herausgabe  des  Musenalmanachs  im  Vordergrunde  und  die 
letztere  führt  eine  zeitweilige  Erkaltung  im  Jahre  1778  her- 
bei. In  der  zweiten  Periode  Mai  1778  —  Juli  1784  gewährt 
uns  der  Briefwechsel  tiefen  Einblick  in  die  traurigen  Fa- 
milienverhältnisse beider  Freunde  und  der  Tod  von  Bürgers 
erster  Frau  bildet  den  Abschluss.  In  der  letzten  Periode 
Juli  1788  —  Juli  1793  ziehen  die  politischen  Ereignisse  beide 
vom  litterarischen  Leben  ab  und  täuschen  sie  über  die  per- 
sönlichen Schmerzen  hinweg.  Für  die  ersten  beiden  Perioden 
liefern  unsere  Mittheilungen  Bürgers  Antworten  auf  die  bei 
Strodtmann  gedruckten  Briefe  Goeckingks;  aus  der  dritten 
Periode  stehen  auch  mir  fast  nur  Schreiben  des  letzteren 
zur  Verfügung;  dienen  die  ersten  beiden  Gruppen  von  Briefen 
vorwiegend  der  Charakteristik  Bürgers,  so  soll  die  dritte 
hauptsächlich  Beiträge  zur  Biographie  Goeckingks  darbringen. 
Die  Zwischenbemerkungen  sollen  die  Benützung  der  Briefe 
im  Anschluss  an  Strodtmann  erleichtern  (auf  dessen  Brief- 
bände mit  ^Nr.  .  .  .'  ohne  weiteren  Zusatz  verwiesen  ist) ;  ge- 
legentlich durfte  ich  auch  andere  ungedruckte  Papiere  aus 
dem  V.  Goeckingkschen  Nachlasse  zur  Erläuterung  heran- 
ziehen. 

I.    April  1775  -März  1778. 

Nachdem  Goeckingk  die  Redaction  des  Göttinger  Musen- 
almanachs übernommen  hatte,  wandte  er  sich  am  21.  April 
1775  auch  an  Bürger  (Nr.  167)  mit  der  Bitte  um  Beiträge 
dazu  und  warf  in  dem  Briefe  die  Frage  auf,    ob  sie  nicht 


64     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

gemeinsam  auf  dem  Pädagogium   zu  Halle  studirt  hätten; 

darauf  antwortet  Bürger: 

1.   Bürger  an  Goeckingk. 

Wohlgebohrner  Herr 
Insonders  Hochzuefarender  Herr  Ganzley  Director 

Sonderbar  genug,  dass  wir  uns  in  den  Jahren  1759  bis  1763 
auf  dem  Pädagogium  zu  Halle  kannten,  hernach  in  den  Hainen 
des  Parnasses  wieder  begegneten,  von  vorn  und  hinten  beschauten 
und  doch  bis  hieher  zweiffelten,  ob  wir  Jene  wären,  oder  nicht? 
Ich,  der  ich  dies  schreibe,  bin  jener,  und  da  Ihr  angenehmer  Brief 
vom  21^®^  v.M.  mich  versichert,  dass  Sie  jener  ebenfalls  sind,  so 
lassen  Sie  uns  nur  auf  einander  losspringen  und  die  alte  ße- 
kanntschafin  zur  Freundschafft  erneuern  und  erheben. 

Die  gütige  Einladung,  an  Ihrem  Musen-Almanach  Antheil  zu 
nehmen,  ist  mir  um  so  schmeichelhafter,  als  er  einen  so  feinen 
Kenner  und  Dichter  zum  Herausgeber  in  Ihnen  gefunden  hat. 
Sollte  mein  bischen  Dichterlaune,  welches  durch  AmtsGeschäffte 
und  meine  kürzliche  Verheurathung  ziemlich  unterdrückt  worden 
ist,  die  Oberhand  wieder  gewinnen,  so  werd'  ichs  für  die  gröste 
Ehre  schätzen,  ein  Plätzchen  in  demselben  einnehmen  zu  dürfen. 
Von  meinen  wenigen  bis  hieher  verfertigten  noch  ungedruckten 
Kleinigkeiten  ist  Herr  Voss,  der  in  Hamburg  oder  Wandsbeck 
auch  einen  Musen-Almanach  herausgeben  will,  schon  seit  einigen 
Monathen  im  Besitz.    — 

Mir  deucht,  ich  hätte  noch  recht  viel  mit  meinem  wieder- 
gefundenen alten  Schulfreunde  zu  plaudern.  Da  aber  die  erneuerte 
mir  höchstschätzbare  Verbindung  hoffentlich  öfter  Gelegenheit  dar- 
bieten wird,  so  verspahre  ich  solches  auf  ein  baldiges  Andermal. 
Von  Herzen  freue  ich  mich  übrigens  der  Hoffnung,  Ihnen  bald 
mündlich  versichern  zu  können,  dass  ich  mit  der  wärmsten  Hoch- 
achtung sey 

Ew.  Wohlgebohren 

Wöllmershausen  gehorsamster  Diener  und  Verehrer 

den  18*önMay  1775.  GA  Bürger. 

Goeckingk  antwortete  jubelnd  am  25.  May  (Nr.  168)  und 
verabredete  eine  Zusammenkunft  in  Göttingen,  aus  der  aber 
ein  kurzer  Besuch  in  Niedeck  selbst  wurde,  für  den  3.  Juni ; 
an  demselben  Tage  noch  begann  Bürger  einen  langen  Brief, 
Yon  dem  bisher  nur  der  Anfang,  falschlich  Yom  5.  Juni 
datirt,  aus  einem  schlechten  Concepte  bekannt  war  Nr.  169: 

2.  Bürger  an  Goeckingk. 

Niedeck,  d.  S^n  Junii  1775. 
Für  dies  Hei  von  Freude,  werd*  ich  wohl  tagelangen  Unmuth 
wiederkäuen  müssen.    Schier  möcht*  ich  wünschen,  dass  Sie  gar 


Saneri  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     65 

nicht  gekommen,  oder  doch  länger  hier  geblieben  wären.  Hun- 
derttausend Dinge  fallen  mir  jetzt  erst  ein,  die  ich  Ihnen  hätte 
sagen  wollen.  Wahrhaftig?  in  zehn  oder  zwölf  langen  Jahren  sich 
nicht  gesehn  —  nicht  gesprochen  zu  haben,  dann  einmal  wieder 
voreinander  vorbeyzuhuschen   und  weiter   nichts  als:   guten  Tag! 

und  Adio! Das  ist  zu  arg!  Mein  Seel!  wenn  ich  nicht 

wiegen  muste,  so  nahm'  ich  leicht  Courier  Pferde  und  höhlte  Sie 
noch  vor  Ellrich  wieder  ein. 

Wie  sehr  Ihr  treuherziger  Besuch  mich  vom  Haupt  bis  zum 
Zeh  mit  Vergnügen  durch  kitzelt  habe,  davon  will  ich  weiter  nicht 
ein  Wörtchen  sagen,  weil  Erinnerung  die  schnelle  Flucht  der 
schönsten  Stunde  nur  unangenehmer  mir  machen  würde.  Besser, 
dass  ich  auf  Ihren  letzten  Brief  antworte,  und  über  die  reizende 
Epistel  *)  ein  wenig  mit  Ihn^n  plaudere.  Fast  möcht*  ich  Sie  um 
den  leichten  scherzenden  Ton  der  guten  Gesellschafft,  der,  wie  in 
allen  Ihren  Gedichten,  so  auch  in  dieser  Epistel  herscht,  beneiden. 
Die  Versification  ist  gröstentheils  meisterhaft,  nur  wünscht*  ich, 
dass  die  männlichen  und  weiblichen  Reime  an  manchen  Stellen 
mehr  abwechselten,  wodurch  —  so  dünkt  es  wenigstens  meinem 
Ohr  —  die  Harmonie  mehr  Fülle  und  Nachschwung  erhalten 
würde.  Sie  werden  doch  nicht  böse,  dass  ich  Sie  so  keck  ins  An« 
gesiebt  tadle?  —  Zum  Trost  und  im  Vertraun  kann  ich  Ihnen 
sagen,  dass  der  oberwähnte  Neid  wohl  ein  wenig  dran  Schuld 
seyn  mag.  Überdem  bin  ich  einmal  ein  Theologe  gewesen,  und 
von  der  Zeit  hängt  mir  illud  TheoJogorum  decantatissimum:  Die  et 
servasti  animaml  immer  noch  an. 

Damit  ich  Sie  so  geschwind  als  möglich  überzeuge,  dass  ich 
so  wenig  an  des  Herrn  Voss,  noch  an  irgend  einen  andern  AU 
manach  der  Christenheit  allein  mich  gebunden  habe,  so  über- 
schick* ich  hier  einstweilen  nur  eine  Kleinigkeit^),  die  ich  kaum 
zwey  Stunden  vor  Ihrem  Besuch,  auf  Anhalten  des  Doctor  Weiss, 
den  Sie  hier  gesehen,  und  welcher  dazu  eine  gar  liebliche  Me- 
lodie gesetzt  hat,  verfertigt  hatte.  Sie  sehen  also  meinen  guten 
Willen  und  sollen  ihn,  wenn  ihm  anders  das  träge  Fleisch  keinen 
Einhalt  thut,  bald  möglichst  ferner  sehen. 

Wenn  ich  Ihnen  bey  der  künftigen  Einrichtung  des  Musen- 
Almanach  einen  Rath  geben  darf,  so  wählen  Sie  mehr  die  Ge* 
dichte  von  der  leichtern  —  als  die  von  der  höhern  Gattung.  Wenn 
auch  die  Vortrefflichkeit  eines  Stücks  von  der  höhern  lyrischen 
Poesie  die  vollkommenste  Bewunderung  der  Kenner  verdienen 
sollte,  so  müssen  Sie  doch  dergleichen  nur  wenige  nehmen.  Ein 
Musen- Almanach  ist  das  rechte  Vehiculum   nicht,   dergleichen  in 


0  An  Benzler,  in  Lemgo.   An  seinem  Hochzeitstage,  den  1.  May 
1775, 

*)  Robert.    Ein  Gegenstück  zu  Claudius  Romanze:  Phidile.   Göt- 
tinger Musenalmanach  1776  S.  77  f. 

Yierteljahnchrift  fUr  Litteratoigeschichte  III  5 


66     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

die  Welt  zu  schaffen.  Das  Almanachs  -  Publicum  gafift  sie  an, 
wie  ausländische  Thiere,  und  weiss  ihren  wahren  Wehrt  nicht 
zu  schätzen.  Die  höhere  lyrische  Poesie  verliehrt  hierdurch  mehr 
als  sie  gewinnen  sollte.  Vor  den  übrigen  rappelnden ,  klappern- 
den, brummenden,  summsenden,  sausenden,  brausenden  und  don- 
nernden Oden,  die  der  verzuckte  Unsinn,  mit  verdrehten  Halse 
und  verkehrten  Augen  hervorröchelt  und  orgelt,  werden  Sie  sich 
ohnehin  zu  hüten  wissen.  Populäre,  aber  doch  wahre,  ächte 
Poesie  —  nicht  blos  leichtzuverstehende  matte  Verse  und  Reime 
—  gehört  absonderlich  in  einen  Musen  Almanach.  Ich,  für  mein 
Theii,  bin  beynah  überzeugt,  das  der  Dichter  oniue  tulit  punc- 
tum, den  der  Pöbel  mit  Wohlbehagen  versteht  und  der  Kenner  be- 
wundert. Wenn  man  dieses  Ziel  genau  aufs  Rom  nimmt,  so  kann 
man  die  verachtete  Gattung  der  Roms^nze  und  Ballade  zur  Wichtig- 
keit der  epischen  und  dramatischen  Gattung  in  der  Poetik  erlieben. 

Dass  ich  mich  so  frey  über  die  jetzigen  poetischen  Zeitläufe 
expectorire,  sey  Ihnen  ein  Zeichen  meiner  treuen  Freundschafil 
und  Hochachtung.  Wollte  der  Himmel!  wir  könnten  in  persön- 
licher Verbindung,  alles  was  man  so  auf  seinen  Herzen  und  Ge- 
wissen zu  haben  pflegt,  vom  Bart  wegsprechen.  Einen  Theil 
meines  Lebens  gab'  ich  drum,  wenn  ich  Jemand  hätte,  mit  dem 
ich  täglich  über  solche  Dinge  kosen  könnte.  Aber  leider!  lebe 
ich  hier  in  einem  solchen  Böotien,  dass  mir  oft  Jahrelang  kein 
Wörtchen  von  poetischen  Dingen  entfallen  darf.  Das  Schicksal 
hat  mich  in  der  That  recht  zum  Besten  gehabt,  dass  es  mich 
durch  so  mancherley  Krümmungen  gerade  hieher  geführt  und 
festgenagelt  hat.  Festgenagelt?  -^  Ja  wahrhaftig!  wie  den 
Prometheus  hat  es  mich  an  einen  nackten  Fels  geschmiedet.  Am 
Geyer  fehlts  auch  nicht.  Anstatt  dass  Jenen  nur  ein  einziger 
quälte,  so  hacken  sie  an  mir  zu  hunderten.  Könnt  ich  meine 
hiesige  mit  tausend  Ärger  und  Verdruss  und  mit  unbelohnter 
Mühe  verknüpfte  Stelle  gegen  eine  andere,  wenn  gleich  an  Ein- 
künften geringere  vertauschen,  so  thät'  ich  es  ohne  Bedenken. 
Denn  schlechter  kann  ich  in  dem  Betracht  schwehrlich  eine 
treffen.  Dergleichen  Veränderung  aber  ist  in  diesem  Lande,  wo 
der  leidige  Nepotismus  mit  seinen  hunderttausend  Riesen  Armen 
alles  an  sich  rapset,  nicht  zu  hoffen.  Wenn  nicht  die  Schrulle 
eines  alten,  wunderlichen,  nunmehro  seeligen  Grossvaters  mich 
gezwungen  hätte,  mein  Unterkommen  in  der  Fremde  zu  suchen, 
wenn  ich  in  meinem  Vaterlande,  wo,  man  mag  davon  auch 
sagen,  was  man  will,  ein  ehrlicher  Kerl  mit  Talenten,  auch  ohne 
das  leidige  von,  es  doch  zu  etwas  noch  bringen  kann,  eine 
Laufbahn  hätte  antreten  können,  so,  dünkt  mich,  wollt*  ich  jetzt 
in  einer  viel  behaglichem  Situation  seyn.  Doch  —  ich  breche 
ab,  um  der  bösen  Laune  nicht  zu  viel   über  mich  einzuräumen. 

Leben  Sie  wohl,  mein  alter  braver  Schulfreund !  Meiner 
warmen  Hochachtung  und  Freundschafft,  will  ich  Sie   nur  noch 


Saner,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     67 

diesmal,  hinfort  aber,  als  einer  sich  von  selbst  verstehenden  Sache, 
nie  wieder  versichern.  GABürger. 

In  Nr.  170  erzählt  Goeckingk  seine  Reiseunfalle  und 
sein  späteres  Unwohlsein.  Bürger  antwortet  darauf  scherz- 
haft am  29.  Juni  1775  und  fahrt  dann  fort: 

3.   Bürger  an  Goeckingk. 

Es  freut  mich,  dass  mein  Knabe  Robert  Ihnen  gefallen  hat 
Aber  noch  ein  Paar,  wie  Sie  verlangen,  kann  ich  sofort  nicht 
erzielen,  ich  müste  denn  Lenden  und  Waden  Trotz  dem  besten 
und  rüstigsten  Patriarchen  haben.  Indessen  hab'  ich  doch  noch 
mit  einigen  andern  poetischen  Pollutionen  aufwarten  wollen. 
Roberts  Composition  hat  Dietrich  schon  durch  den  D.  Weiss  er- 
halten. Ich  würde  sie  aber  dem  ohngeachtet  hier  mit  einlegen, 
wenn  ich  sie  bey  der  Hand  hätte.  Es  über  kommen  aber  hier 
noch  zwey  andere  Melodien  von  den  eingelegten  Liedern^),  die 
Ihnen  nicht  unangenehm  seyn  werden.  Die  eine  auf:  Eya!  wie 
so  wach  und  froh  ist  in  der  That  eine  von  den  besten 
weissischen  Gompositionen.  Ich  muss  bekennen,  dass  ich  mir 
selbst  recht  gefalle,  wenn  ich  das  Lied  mit  allen  Stimmen  in 
dieser  meinem  Ohre  so  himmlischen  Melodie  absingen  höre.  Wie 
glücklich,  wenn  man  solchen  Gomponisten  in  die  Hände  fällt! 
Dies  Lied  habe  ich  schon  vor  längerer  Zeit  Herrn  Voss  gegeben; 
da  aber  der  D.  Weiss  die  Composition  bloss  dem  Dieterichschen 
Almanach  zugedacht  hat,  so  höre  ich,  dass  einige  Freunde  den 
HErrn  Voss  benachrichtigt  und  ihm  gerathen  haben,  den  Text 
ohne  die  Melodie  lieber  in  seinen  Almanach  nicht  mit  aufzu- 
nehmen. Wenn  ers  also  noch  nicht  hat  abdrucken  lassen,  so 
wirds  wahrscheinlich  in  dem  Dieterichschen  Almanach  allein 
figurieren. 

Herzlich  gern  würd*  ich  noch  mehr  und,  so  viel  Sie  nur 
immer  haben  wollten,  zum  Almanach  hergeben,  wenn  ich  nur 
mehr  vollendetes  jetzt  vorräthig  hätte.  Fragmente  find  ich  unter 
meinen  Papieren  genug,  nur  fehlt  mir  jetzt  Müsse  und  Laune  zur 
Vollendung.  Die  fatale  Michaelis  Messe  macht  auch  vermuthlich, 
dass  die  Bude  so  bald  geschlossen  werden  soll.  Bey  HErrn 
Boie  hab'  ich  oft  noch  bis  Martini  Zeit  gehabt  und  wenn  es 
denn  manchmal  bald  Matthäi  am  letzten  war,  und  das  Feuer  auf 
die  Nägel  brannte,  so  rafiTt'  ich  mich  noch  auf,  und  brachte  was 
zu  Stande,  das  sonst  vielleicht  noch  lange  in  dem  Ideen  Gasten 
um  und  um  geworfen  worden  wäre.  Schreiben  Sie  mir  doch, 
wie  lange  Sie  aufs  höchste  noch  warten  können.  Vielleicht  würgt 
sich  noch  zu  guter  letzt  was  loss.  — 


*)  Das  neue  Leben.     Göttinger  Musenalmanach  1776  S.  124,  und 
Stftndchen,  ebenda  S.  1.55. 


gg     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Ihre  TheilnehmuDg,  mein  liebster  Goekingk,  an  meiner  fa- 
talen unbehaglichen  Situation  und  ihr  treuherziger  Wille,  mh*  zu 
helfen,  haben  mich  auenehmend  gerührt.  Ha!  wenn  Sie  mein 
Erlöser  seyn  und  mich  den  Musen  wiederschenken  könnten!  — 
Sie  würden  mir  das  seyn,  was  der  Engel  dem  gefangenen  Apostel 
in  der  Apostel  Geschichte  war.  Geben  Sie  mir  nur  an  Hand,  auf 
welche  Art  ich  zu  guten  Connexionen  im  preussischen  gelange. 
In  diesem  fatalen  aristokratischen  Lande  eckelt  mich,  das  liebe 
Leben,  das  ohne  hin  so  kurz  ist,  zu  verschwenden.  Doch  — 
damit  die  böse  Laune  nicht  ihr  volles  Spiel  wieder  anhebe,  so 
brech  ich  ab.  — 

Meine  Frau,  das  beste  gutherzigste  Geschöpf  unter  der  Sonne, 
und  meine  übrigen  Verwandte,  lassen  meinen  alten  treuen  Goekingk 
bestens  grossen  und  geseegnete  Brunnen -Cur  wünschen.  Be- 
suchen Sie  doch  künftig  das  Bad  zu  HofGeismar,  damit  ich 
öfters  Sie  umarmen  könne.     Gott  befohlen! 

GABürger. 

Dieser  Brief  kreuzte  sich  mit  Goeckingks  Brief  Nr.  172, 
der  auch  einen  Änderungsvorschlag  für  die  Romanze  ent- 
hielt. Strodtmanns  Anmerkung  ist  dahin  zu  berichtigen, 
dass  das  von  Goeckingk  citirte  Gedicht  Höltys  im  Göttinger 
Musenalmanach  1776  S.  56  unter  der  Überschrift  'Er- 
innerung' abgedruckt  ist.  Goeckingk  erhielt  Bürgers  Brief 
in  Nordhausen  vor  der  Abreise  nach  Lauchstädt  und  zeigte 
diesem  in  der  Antwort  Nr.  177  seine  bevorstehende  Ver- 
mählung an.  Bürgers  Antwort  vom  20.  Juli  1775  bezieht 
sich  auf  beide  Briefe.  Er  macht  sich  über  Goeckingks 
Einfall,  während  der  Badekur  zu  heiraten,  weidlich  lustig 
und  entschuldigt  dann  das  Ausbleiben  eines  Hochzeits- 
gedichtes : 

4.   Bürger  an  Goeckingk. 

Niedeck  den  SO^n  Juli  1775. 

Wie  gern,  mein  liebster  Goekingk,  wollt'  ich  Ihre  Seeligkeit 
in  den  Armen  Ihrer  viel  m inniglichen,  in  minniglichen 
Versen  besingen,  wenn  ich  nicht  seit  einigen  Wochen  an  Geist 
und  Görper,  zwar  nicht  recht  krank,  aber  doch  auch  nicht  recht 
gesund  mich  befände.  Das  ist  so  ein  gewisses  fatales  Misbefinden, 
so  mich  bis  weilen  anwandelt,  und  vermuthlich  ein  Etwas  von 
Hypochondrie  ist.  In  solcher  Erschlaffung  meines  ganzen  Wesens, 
war'  ich  für  alle  LorbeerCränze  des  Pindus,  selbst  für  den  güldnen 
Zweig  im  Hain  Glasoor  nicht  im  Stande  nur  Sechs  erträgliche  Verse 
zu  sammen  zu  flicken.  Mit  aller  Gewalt  muss  ich  mich  dann  er- 
mannen, um  nur  die  alltäglichen  HandwerksGeschäffte  zu  verrichten. 


•  Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk.     69 

Ach!  mein  liebster  G.,  wenn  ich  doch  jetzt  Fortunäti Wünsch- 
huthlein  hätte,  so  sollt*  es  bald  anders  mit  mir  werden.  Im 
Hui  war*  ich  bey  meinem  Goeckingk  und  seiner  süssen  Sophie  in 
Lauchstadt.  Ein  Nebenstrahl  von  seinen  Freuden  wQrd*  auch  mich 
durchdringen  und  meinen  trüben  Geist  erhellen.  Welche  lustige 
Sprunge  sollte  mein  Capriccio  mit  seinem  Dudelsack  vor  Ihnen 
machen.  Hat  Dass  man  doch  so  ein  schwerfälliger  Erdenkloss  ist, 
und  der  flüchtigen  Freude  nicht  durch  die  ganze  Welt  nacheilen 
kann!  —   —  — 

In  meiner  jetzigen  Situation  kann  ich  weiter  nichts,  als  den 
Wunsch  meines  Nachtwächters: 

Langes  Leben  und  Gesundheit 
Fried*  und  Einigkeit 
Und  zu  letzt  die  ewige  SeeligkeitI 
auf  Ihre  glückliche  Verbindung  anwenden.     Da  bey  bitt*  ich  Ihr 
vermuthlich  nunmehriges  Weibchen  herzlich  von  mir  und  meinem 
kleinen  lieben  Weibe,    dem    gutherzigsten  Dingelchen  unter  der 
Sonne,  zu  grüssen  und  zu  küssen.    Welche  Wonne  wird  das  seyn, 
wenn  wir  uns  einander  erst  besuchen  können!  — 

Dass  ich  und  Herr  Hölty  in  unsem  Versen  wörtlich  beynah 
zusammen  gestossen  sind,  ist  freylich  wohl  keinem  von  uns  beyden 
lieb,  immittelst  bin  ich  jetzt  viel  zu  dumm  und  düster  um  die 
Strophe  quaestionis  abzuändern.  Ihre  Id^e  ist  sonst  recht  aller 
liebst,  nur  das: 

0  süsses  Angedenken  I 
scheint  hineingereimt  zu  seyn.     Machen   Sie*s   damit  nach  Gut- 
dünken. 

Übrigens  leg'  ich  noch  eine  alte  Schnurre*)  bey,  die  mir 
neulich  unter  alten  Papieren  in  die  Hände  fiel.  Ich  weiss  selbst 
nicht,  ob  sie  wehrt  ist,  gedruckt  zu  werden.  Ade! 

Bürger. 

Die  Pause,  die  durch  Goeckingks  Yerheiratung  im 
Briefwechsel  eintrat,  unterbrach  Bürger  zuerst: 

5.  Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  den  26.  Oetober  1775. 

Wie  mag  es  doch  wohl  mit  memem  theuren  Göckingk  stehn, 
da  er  mir  so  lange  nicht  ein  Wörtchen  gesagt  hat?  Wenn  mein 
Herz  zu  Argwohn  aufgelegt  wäre,  so  -~  doch  nein!  es  ist  un- 
möglich, dass  ein  so  gefühlvoller  Mann,  so  bald  wieder  kalt 
werden  könne.  Hätt'  er  doch  das  nehimliche  Recht,  einen  sol- 
chen Argwohn  von  mir  zu  hegen ;  denn  ich  habe  ja  auch  lange 


*)  Die  alte  Schnurre  dürfte  das  Gedicht:  *Senfzer  eines  Unge« 
liebten'  sein,  Göttinger  Musenalmanach  1776  S.  145,  dessen  Entstehung 
ich  in  das  Frühjahr  1773  gesetzt  habe  (Gedicht    S.  67). 


70     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

nicht  geschrieben.  Wir  wollen  also  gegen  einander  vergleichen 
und  aufheben,  und  an  diesem  Stillschweigen  lieber  alles  in  der 
Welt,  als  Kaltsinn  in  der  Freundschaft  Schuld  seyn  lassen. 

So  eben  leg*  ich  Ihren  Almanach  aus  der  Hand,  über  welchen 
ich  ein  wenig  mit  Ihnen  plaudern  muss.  Ich  bin  im  ganzen 
ausserordentlich  wohl  damit  zu  frieden,  ja  ich  freue  mich  um  so 
mehr,  dass  die  Sammlung  so  gut  gerathen  ist,  als  ich  vorher  be- 
fürchtete, dass  es  Ihnen  an  hinlänglich  guten  Gedichten  fehlen 
würde.  Der  Bestimmung  eines  Almanachs  entspricht  der  Ihrige 
schier  besser,  als  alle,  die  ich  kenne. 

Manches  einzelne  Gedicht  gefällt  mir  freylich  nicht.  Aber 
was  Wunder  ?  Da  von  der  poetischen  Ceder  auf  Libanon  an,  bis 
zu  dem  kleinsten  Isop,  der  aus  der  Wand  wächst,  nicht  einer 
seyn  wird,  dem  alles  in  einer  solchen  Sammlung  gefallen  kann. 
Genug,  dass  mich  viele  vortreffliche  Stücke,  für  wenige  mittel- 
mässige  vollkommen  schadlos  halten.  Zu  jenen  zähle  ich  haupt- 
sächlich die  herrlichen  und  originellen  Gedichte  von  Amarant 
und  N antchen.  Wie  neu  und  wie  lebendig  ist  der  Frühlings 
Morgen  p.  10  gemahlt  I  Alle  aber  übertrifft,  nach  meinem  Ge- 
fühl, das  p.  141.  Welche  Wahrheit,  welche  Stärke  in  Em- 
pfindung und  Ausdruck!  Das  sieht  keiner  besser  ein,  als  der, 
welcher  sich  einmal  in  eben  dem  Falle,  wie  hier  der  arme 
Amarant,  befunden  hat.  Ich  möchte  das  Stück  wohl  gemacht 
haben.  Darf  ich  die  Verfasser  dieser  Gedichte  nicht  kennen 
lernen?  oder  kenn'  ich  sie  schon  halb  und  halb?  Ich  weifs  mir 
in  der  That  keinen  hinlänglichen .  Grund  anzugeben,  warum  ich 
immer  Amarant  und  Goeckingk,  —  Nantchen  und  Sophia  — 
bey  mir  combinire.  Vielleicht  ist  die  ausserordentliche  Anzüglich- 
keit diesser  Gedichte  Schuld,  dass  ich  sie  diesem  treuen  Pärchen 
zuschreiben  zu  können  wünsche. 

Das  Walzlied  p.  45  ist  auch  eins  von  denen,  die  nach  meinem 
Herzen  sind.  Die  liebliche  sanfte  Manier  in  dem  Stück  p.  48, 
verräth  mir  halb  und  halb  seinen  Verfasser.  Meines  Goeckingks 
Epistel  p.  58.  ist  seiner  würdig  und  die  p.  158  ist  vermuthlich 
gleichfalls  von  ihm.  Ich  kenne,  mein  Liebster,  noch  keinen 
Teutschen,  der  es  Ihnen  hierin  gleich  thut.  Die  Geburtstagsbe- 
trachtung S.  113  ist  auch  ein  recht  allerliebstes  Stückchen.  So 
auch  das  S.  117.  Horst  p.  183  hat  meinen  Beyfall.  Nicht  so 
die  Ballade  des  HErrn  Schink  p.  85.  Wer  ist  dieser  Schink? 
Ich  kenne  des  Menschen  [Namen]  noch  gar  nicht.  Wenn  Sie 
ihn  kennen,  so  sagen  Sie  ihm,  er  soll  sich  das  Nachahmen 
künftig  durchaus  abgewöhnen,  wenn  er  was  werden  will.  Es 
könnte  mich  zwar  kitzeln,  dass  er  Lenoren  ziemlich  sichtbarlich 
nach  zu  ahmen  wehrt  geachtet;  allein  ich  kann  das  Nachahmen 
durchaus  nicht  leiden.  Der  Nachahmer  von  Talenten  thut  sich 
selbst  Schaden  und  der  ohne  Genie  verdirbt  gemeiniglich  am 
Ende  den  Handel  seines  Urbildes.     Lieber  immer  ein  schlechtes 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk.     71 

Original,  als  eine  mittelmässige  —  ja  selbst  gute  —  Nachahmung. 
Der  Vortrag  in  der  Ballade  des  HErrn  Schink  ist  in  manchen 
Strophen  sehr  gut  und  des  besten  Dichters  würdig.  Aber  desto 
schlimmer  für  den  Verfasser,  dessen  Verdienst  nun  durch  die 
Id^e  der  leidigen  Nachahmung  bey  vielen  verdunkelt  werden  wird. 
Hauptsächlich  find'  ich  noch  auszusetzen,  dass  das  Ganze  ohne 
allen  Zweck  ist.  —  Noch  muss  ich  sagen,  dass  Pfeffel  fast 
überall  ein  Mann  nach  meinem  Herzen  ist.  —  Ich  höre  auf,  weil 
mein  Brief  sonst  einer  Recension  ähnlich  werden  würde.  Es 
fehlt  mir  heute  Zeit,  jedes  der  noch  übrigen  guten  Gedichte  zu 
beschwatzen ;  und  schliesse  mein  Geschwätz  mit  einem  aufrichtigen 
Glückwunsch  an  Sie,  mein  Bester,  wegen  dieser  gleich  zum  ersten 
mal  so  gut  gerathenen  Sammlung.  — 

Ergötzen  Sie  mich  doch  nun  bald  einmal  mit  einer  Schil- 
derung der  süssen  Stunden,  welche  Sie  nun  ohnfehlbar  in  den 
Armen  Ihrer  geliebten  Sophie  verleben.  Das  Band  wird  ja  nun- 
mehr wohl  geknüpft  seyn.  —  Ich  hoffte  Sie  diesen  Herbst  noch 
einmal  persönlich  zu  umarmen,  aber  die  späte  Jahrszeit  lässt  wohl 
nun  keine  Hoffnung  mehr  übrig.  Ich  habe  vor  einigen  Monathen 
mein  Bauernhüttchen  hier  in  WöUmershausen  mit  Weib  und 
Kind  bezogen  und  lebe,  vtrie  ein  Bauer.  Die  Wintermonathe  muss 
ich  hier,  wegen  des  scheussHchen  Morastes,  der  überall  meine 
Wohnung  umfliesst,  sehr  einsam  durch  leben.  Sie  machen  sich 
also  kein  geringes  Verdienst  um  mich,  wenn  Sie  recht  oft  diese 
Einsamkeit  durch  Ihre  angenehmen  Briefe  stöhren.  Adio!  Mein 
kleines  Weib  grüsset  den  Freund  ihres  Mannes  von  Herzen. 

Bürger. 

Apropos!  Das  hab*  ich  Ihnen  schon  lange  sagen  wollen, 
dass  es  HErrn  Boien  verdrossen  hat,  dass  Sie  ihn  verwichenen 
Sommer  nicht  besucht  haben. 

Goeckingk  gibt  in  seiner  Antwort  vom  31.  October  1775 

Nr.  189  auf  Bürgers  Fragen  die  nöthigen  Auskünfte,  welche 

weitere  Anmerkungen  überflüssig  machen.   Bürgers  nächster 

Brief  ist  ein  Bleistiftzettel,  der,  wie  aus  dem  übernächsten 

hervorgeht,  am  20.  December  geschrieben  ist. 

6.  Bürger  an  Goeckingk. 

So  eben  steige  ich  vom  Pferde  im  schwarzen  Adler.  Morgen 
mit  dem  frühesten  muss  ich  weiter  nach  Aschersleben  zu  traben. 
Wenn  Sie,  mein  Liebster,  mit  Ihrer  theuren  Sophie  noch  nicht 
zu  Bette  sind,  so  will  ich  Sie  noch  heute  umarmen,  und  zwar, 
so  wie  ich  da  bin,  mit  Dreck  und  Speck,  und  mit  so  verklomten 
Händen,  dass  ich  dies  kaum  schreiben  kann.  Bürger. 

Bei  diesem  nächtlichen  Besuche  muss  der  Plan,  auf 
den  sich  die  folgenden  Briefe  beziehen,  eine  Druckerei  in 


72     Saner,  Aus  dem  Briefwechael  zwischen  Bfirger  und  Qoeckingk. 

Ellrich  anzulegen,  Gegenstand  ihres  Gespräches  gewesen 
sein.  Bürger  übernahm  es,  in  Göttingen  Erkundigungen 
einzuziehen,  Goeckingk  dagegen  den  Plan  schriftlich  auf- 
zuzeichnen. Nach  den  Feiertagen  gibt  Bürger  kurze  Nach- 
richt : 

7.   Bürger  an  Goeckingk. 

Wöilmershausen  den  29.  December  1775. 

Noch  zur  Zeit,  mein  lieber  Goeckingk,  kann  ich  Ihnen  weiter 
nichts  berichten,  als  dass  ich  glücklich  bey  Weib,  Kind  und  Hund 
angelanget  bin,  und  Weib,  Kind  und  Hund  sich  ganz  entsetzlich 
gefreuet  haben.  0  den  Bettelmann  hätten  Sie  sehen  sollen! 
Er  sprang  trotz  dem,  der  sich  am  20ten  December  die  Arme  bis 
an  die  Schultern  aufgestreift  hatte,  —  Mein  kleines  Mädchen 
sollte  unterdessen  das  Wörtlein  Papa  gelernt  haben.  Man  hatte 
sich  zwar  vorgenommen,  diese  Neuigkeit  der  Überraschung  wegen 
zu  verschweigen;  allein  die  Verschwiegenheit  wollte  nicht  einmal 
so  lange  Stich  halten,  bis  ich  den  Flausrock  ausgezogen  hatte. 
Nun  Freund,  hätten  Sie  sehen  und  hören  sollen,  wie  alles,  was 
nur  Zeug  und  Athem  hatte,  sich  bemühte,  dem  Kinde  vorzu- 
papaen.  Aber  grossen  Dank!  Noch  bis  jetzt  hats  alle  seine 
Lehrmeister  zum  Besten  gehabt  und  kein  einziges  Papa  naehge- 
lallt,  welches  mich  denn  schier  mehr  als  hundert  Papa  er- 
götzt hat.  — 

Nach  Göttingen  hab  ich  vieler  vorgefundener  unaufschieblicher 
Geschäfte  halber  diese  Woche  noch  nicht  kommen  können..  Aber 
in  künftiger  Woche  soll  mich  hoffentlich  nichts  abhalten.  Was 
macht  der  Plan?  haben  Sie  hübsch  .dran  gearbeitet?  Ohn- 
erachtel  ich  bisher  keine  Müsse  gehabt,  unsere  grossen  Gedanken 
von  neuem  zu  durchdenken,  so  ist  mir  doch  ein  und  andres 
Bruchstück  zu  unserm  Bau  unter  die  Hände  gerathen,  welches 
ich,  wenn  Sie  nicht  selbst  darauf  gestossen  sind,  demnächst  ein- 
flicken will ... 

Zum  Henker!  Bald  hätte  ich  den  Entwurf  zum  Insiegel 
beyzulegen  vergessen.  Welche  Nummer  gefällt  Ihnen  am  besten? 
—  Mir  behagt  N.  2. 

Goeckingk  aber  hatte  die  Feiertagsmusse  selbst  zu 
seiner  Arbeit  benutzt,  die  er  mit  Nr.  197  an  Bürger  über- 
sendet.  Die  darin  erwähnte  Broschüre  gegen  Elopstocks 
Subscriptionsplan  ist  nach  Strodtmanns  Nachträgen  in  seinem 
Handexemplare  die  Schrift  von  Philipp  Erasmus  Reich: 
'Zufallige  Gedanken  eines  Buchhändlers  über  Herrn  Elop- 
stocks Anzeige  einer  gelehrten  Republik.  [Leipzig]  1773.' 
Bürger  bestätigt  den  Empfang  des  Planes  am  1 .  Januar  1 776 
(fälschlich  1775  datirt)  mit  wenigen  Worten: 


Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwigchen  Bürger  nnd  Goeckingk.     73 

8.  Burger  an  Goeckingk. 

Ifaren  Brief  mit  dem  Plan,  mein  liebster  G.,  hab  ich  gestern 
erhalten  und  mich  nicht  wenig  darüber  ergötzt.  Sie  haben  mir 
fast  nichts  übrig  gelassen  hinzuzusetzen.  Mein  Haupt-Augenmerk 
wird  daher  die  Berechnung  der  600  Abzugs- Exemplare  seyn, 
welche,  wie  mich  dünkt,  noch  Qicht  pünctlich  genug  durchdacht 
ist.  So  bald  als  möglich,  sollen  Sie  den  Plan  wieder  zurück, 
und  auch  Nachricht  von  meiner  Expeditiop  haben. 

Diese  Nachricht  gibt  der  folgende  Brief: 

9.  Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  d.  15ten  Januar  1776. 

Ob  ich  nun  gleich  einmal  in  Göttingen  gewesen  bin,  so  hab' 
ich  doch»  ^m  Unglück,  noch  nicht  von  allem  hinlänglidie  Kund- 
schafft  einziehen  können.  Die  Ursachen  sind  zu  weitläufig  und 
uninteressant,  hier  erzählt  zu  werden.  So  bald  aber  nur  einiger- 
maassen  l^ieder  Bahn  seyn  wird  (denn  hier  ist  seit  einigen  Tagen 
SQ  viel  Schnee  gefallen,  dass  man  weder  zu  Pferde  noch  zu  Fuss 
aus  der  Stelle  kann),  so  werd*  ich  eine  zweyte  und  hoffentlich 
glücklichere  Excursion  machen.  Was  ich  einstweilen  heraus- 
bringen können,  ist  folgendes: 

1)  Eine  Presse  kostet  nach  Beschaffenheit  ihrer  Güte  50—- 
tOO  Rth. 

2)  Man  kann  in  Gas  sei  dergleichen  und  auch  an  andern 
Orten  haben. 

3)  Der  Centner  Lettern  kostet,  nachdem  die  Lettern  gross 
od»  klein  sind,  SO  bis  30  Rth. 

4)  Die  meisten  und  besten  Lettern,  so  in  Teutschland  ge- 
braucht werden,  fournirt  Breitkopf  aus  seiner  Schrifflgiesserey. 

5)  Wie  viel  Lettern  zu  einer  Presse  oder  unserer  ganzen 
Druckerey  erforderlich,  lässt  sich  so  nicht  eigentlich  bestimmen. 
Manchen  Buchstaben  braucht  man  mehr,  manchen  weniger,  z.  B. 
c  und  X.  Die  gehörige  Proportion  hierunter  wissen  die  Schrifft- 
verkäufer  zu  geben. 

6)  Die  Lettern  lassen  sich,  nachdem  die  Gesellen  damit  um* 
gehen,  10  bis  30  Jahre  gebrauchen. 

7)  Auf  jede  Presse  gehören  zum  mindesten  zwey  Gesellen 
und  ein  Setzer. 

NB.  Würde  eine  Schrift  von  mehreren  Bogen  nur  etwa 
100  mal  abgedruckt,  so  kömmt  ein  Setzer  der  Presse  nicht  vor. 

8)  Der  Setzer  wird  gemeiniglich  Bogenweise  bezahlt  16  ggr. 
bis  1  rth. 

9)  Das  Drucker- Wochenlohn  ist  ppter.  1  rth,,  bisweilen  wer- 
den sie  auch  Bogenweise  bezahlt. 

Mehr  Nachrichten  hab*  ich  noch  zur  Zeit  nicht  zusammen 
bringen  können;  Indessen  lässt  sich  schon  hieraus  ohngefilhr  ab- 


74     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

sehen,  dass  die  Anschaffung  der  Druckerey   bey  weitem  nicht  so 
hoch  kommen  kann,  als  wir  uns  vorgestellt  haben. 

Ich  halte  dafür,  dass  wir  mit  einem  fond  von  4000  rth. 
schon  viel  ausrichten  können.     Denn 

a)  Die  ganze  Druckerey  rechne  ich  darnach 

nicht  höher  als 1000  bis  1500  rth. 

b)  Erster  Vorrath  an  Papier 1000    „ 

c)  Zur  Reise 1000    „ 

d)  Insgemein 500    ,, 

4000  rth. 
Hierbey  nicht  zu  gedenken,  dass  wir  uns  Credit  machen  können, 
und  die  Zahlung  mancher  Pöste  auf  Termine  setzen  können. 

Noch  ist  zu  merken,  dass  allerdings  einer  von  uns  Drucker- 
herr werden  muss.  Die  Kosten  davon  hab*  ich  noch  nicht  er- 
fahren können.  Wir  müssen  auch  ein  Meisterstück  setzen  und 
drucken. 

Von  Büchern,  die  in  unsern  Kram  dienen,  hab*  ich  die 
Brochüre  gegen  Klopstocks  Subscriptions-Plan,  die  doch  aber 
nicht  das  mindeste  von  Belang  enthält,  ingleichen  Pütter  über 
den  Bücher- Nachdruck  aufgetrieben.  Der  letzte  Tractat  ist  sehr 
gelehrt  und  weitläufig.  Noch  zur  Zeit  hab  ich  nur  darinn  ge- 
blättert und  da,  däucht  mir,  dass  er  auf  manche  gute  Id^e  hilft 
und  viele  von  unsern  Id^en  durch  sein  Räsonnement  bestätigt. 
So  bald  ich  ihn  durch  gelesen,  sollen  Sie  ihn  haben.  Heut  oder 
Morgen  soll  ich  auch  den  Schauplatz  der  Künste  und  Hand- 
werker, ingl.  ein  ganz  neues  von  den  Druckereyen  handelndes 
Werkchen,  so  mir  noch  ganz  unbekannt,  aus  Göttingen  erhalten. 
Von  allen  künftig  ein  mehreres.  Den  Plan  hab*  ich  von  neuem 
durchgeknetet  und  so  bald  ich  ihn  nach  Lesung  aller  der  Bücher 
abermals  und  zum  letzten  durchgeknetet  haben  werde,  sollen  Sie 
ihn  zurück  erhalten. 

0  Goeckingk,  welche  Wonne  empfind*  ich,  wenn  ich  in 
diesem  Spiegel  einen  so  reinen  Abglanz  unserer  Weisheit  erblicke. 
Was  doch  zwey  Geschöpfe,  die  man  in  ein  so  enges  Räumchen 
zusammen  pressen  könnte,  enorme  Dinge  hervorbringen  können! 
Drey  hundert  Buchhandlungen  (so  viel  gibts  ppter.  in  Deutschland) 
werden  aller  menschlichen  Wahrscheinlichkeit  nach,  wenn  unsere 
Sache  zu  Stande  kömt,  in  ihren  Grund  Vesten  erschüttert,  und 
kein  Fürst  ist  mächtig  genug,  sie  zu  befestigen.  Und  das  alles 
durch  uns  homunciores!  —  —   — 

Adiol    Grüssen  Sie  Ihr  Sopheychen.  B. 

Sehen  Sie  zu,  dass  Sie  bald  nach  Sondershausen  kommen 
dnd  ausfragen  können. 

Diesen  Brief  empfing  Goeckingk  im  Posthause  zu 
Duderstadt  auf  einer  Reise,  deren  abenteuerlichen  Verlauf 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk.     75 

er   in   Nr.  203,   21.  Januar  1776   beschreibt.     Darauf  be- 
zieht sich: 

10.   Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  den  29ten  Januar  1776. 

Hätte  mirs  nur  geträumt,  mein  lieber,  dass  Sie  in  jener 
grimmig  kalten  Nacht,  kaum  eine  gute  Stunde  von  meinem  Wöll- 
mershausen  sich  in  den  Schnee  gebettet,  so  war'  ich  sicherlich 
aufgesprungen  und  hätte  Sie  in  meine  Hütte  an  meinen  warmen 
Heerd  geholet.  Ihre  Beschreibung  macht  mich  beynahe  bange 
vor  meiner  nahen  Reise  nach  Aschersleben.  Der  Himmel  gebe 
erträgliches  Wetter!  Es  ist  noch  nicht  gewiss,  ob  ich  künftigen 
Sonntag  oder  Montag  ausreisen  werde.  Also  Montags  oder  Diens- 
tags hoffe  ich  auf  kurze  Zeit  bey  Ihnen  vorzusprechen.  Die 
Sparsamkeit  räth  mir  zwar,  mit  der  ordinären  Post  zu  reisen; 
wenn  ich  aber  überlege,  dass  ich  Bedienten  und  Coffer  mitnehmen 
muss,  so  wird  Extra-Post  nicht  viel  theurer  kommen.  Und  diese 
ist  doch  sonderlich  bey  einem  eignen  Wagen,  bequemer. 

Ich  habe  allerley  Stoff  zu  einer  interessanten  mündlichen 
Conferenz  gesammlet.  Unser  Project  reifet  immer  mehr.  Hab 
ich  doch  zeither  alle  Seegel  meines  Verstandes  bis  an  die  Wimpel 
aufgespannt!  Habe  ich  doch  das  Senkbley  überall  ausgeworfen! 
Es  müste  ja  nicht  von  rechten  Dingen  und  vom  Teufel  zugehen, 
wenn  mir  eine  verborgene  Klippe  unentdeckt  geblieben  wäre. 
Eine  beträchthche,  welche  mit  aller  möglichen  Behutsamkeit  zu 
passiren  ist,  hab  ich  noch  entdeckt.  Hören  Sie!  Es  ist  fast  gar 
nicht  zu  zweifeln,  dass  wir  nicht  alle  mögliche  Unterstützung 
Seiten  des  Berliner  Hofes  erhalten  sollten,  da  ganz  Teutschland 
in  einen  preussischen  Eymer  gemolken  wird.  Allein  was  werden 
die  andern  Reichsstände  sagen,  wenn  allenthalben  mehr  Geld  aus 
ihren  Ländern  heraus  gezogen  wird,  als  etwa  hie  und  da  durch 
die  Schrifftsteller  wieder  hineingebracht  werden  kann  ?  Was  wird 
Sachsen  sagen,  welches  aus  der  bisherigen  Verfassung  des  Buch- 
handels so  grossen  Vortheil  ziehet?  Und  vollends  Österreich? 
Nun  ist  zwar  wahr,  die  Höfe  würden  dies  eine  gute  Zeit  nicht 
gewahr  werden  und  für  allzu  geringfügig  achten.  Allein  wie 
wenn  ihnen  die  Buchhändler  das  Verständniss  zu  geschwind  öff- 
nen? Dies  geschieht  gewiss!  Alsdann  wird  in  einem  solchen 
Lande  das  Collectiren  verboten,  wie  es  denn  wirklich  ganz  neuer- 
lich in  Braunschweig,  und  zwar  aller  Wahrscheinlichkeit  nach, 
ad  instantiam  der  Waisenhaus-Buchhandlung,  verboten  ist.  Hier 
kann  uns  nichts  durchhelfen,  als  ein  mächtiges  Berlinisches  Vor- 
wort und  das  beliebte  und  belobte  Praevenire,  ehe  die  Buchhändler 
was  gewahr  werden.  ■— 

Ich  will  und  muss  künftige  Woche  noch  einmal  nach  Göt- 
tingen. Indessen  hab*  ich  aus  einigen  Büchern  schon  so  viel 
Kundschafft   eingezogen,    dass  es  kaum  nöthig  seyn  wird,    noch 


76     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Burger  und  Goeckingk. 

weiter  mündliche  Nachfrage  zu  thun.  Kurz  eine  complete  Druckerey, 
so  gross  wir  meinen,  kostet  nicht  mehr  als  6000  Mark,  das  sind 
noQh  keine  2000  rth.  (ich  habe  diese  Nachricht  aus  einer  ham- 
burgischen Wochenschrift,  Der  Buchdrucker  genannt,  aus 
welcher  ich  noch  einige  andere  Nachrichten  geschöpft  habe). 
Wenn  ich  zu  Ihnen  komme,  will  ich  alles  auskramen. 

Ich  habe  verschiedene  von  den  wichtigsten  Id^n  unsers 
Entwurfs,  auf  eine  völlig  versteckte  Art  und  mit  dem  Salzkorn 
in  Gespräche  mit  diesen  und  jenen  Leuten  von  Einsicht  in  Göt- 
tingen verwebet  und  das  unbeschreibliche  Vergnügen  genossen, 
dass  diese  Leute  sie  mit  unsern  Augen  angesehen  haben.  Ich 
tadelte  nehmlich  in  einer  Gesellschafift  Klopstocks  Plan  aus  Leibes- 
kräfiflen,  als  ein  Lufflschloss,  und  siehe  da!  er  wurde  schier  mit 
unsern  Grundsätzen  gegen  mich  verlheydigt.  Freund,  Freund, 
es  ist  ein  grosses  erstaunliches  Unternehmen!  Gelingt  es,  so 
wirds  schier  so  viel  Lärmen  erregen,  als  die  Erfindung  des 
Schiesspulvers  und  der  Buchdruckerey.  Noch  eins!  Ich  höre  hier 
und  da  von  wichtigen  Werken,  die  auf  dem  Wege  öffentlich  zu 
erscheinen  sind,  und  wir  herrlich  zum  Anfange  gebrauchen  könn- 
ten. HErr  Gerstenberg  will  seine  Werke  mit  neuen  Zusätzen, 
Goethe  verschiedene  neue  Producte,  Klopstock  und  viele  andere 
neue  Sachen,  Hölty  seine  Gedichte  u.  s.  w.  heraus  geben.  Wie 
fangen  wirs  an,  dass  uns  die  nicht  entgehen?  Wenn  wir  noch 
einen  oder  den  andern  von  geprüfter  Verschwiegenheit  und  Gon- 
nexion  mit  diesen  Leuten  etwas  von  unserm  Plan«  entdecken 
dürften,  so  könnte  dies  nicht  schaden.  Mir  fällt  Niemand  ein  ab, 
Boie.  Verschwiegen  glaub^  ich  ist  er.  Wenigstens  hab  ich  ihn 
noch  nirgends,  da  ich  doch  an  die  8  Jahre  mit  ihm  umgehe,  auf 
Schwatzhaftigkeit  ertappt.  Im  Gegentheil  hab  ich  ihn  oft  wegen 
übertriebener  Verschwiegenheit  in  Lappalien  getadelt.  Auch  dächt 
ich  ihn  wohl,  wegen  einiger  andern  Verbindlichkeiten,  zur  Ver- 
schwiegenheit zu  fesseln.  Da  er  eine  sehr  weitläufige  Connexion 
mit  dem  schreibenden  Publikum  unterhält,  so  dächt'  ich  durch 
ihn  allenfalls  möglich  zu  machen,  dass  jene  Werke  noch  Jahr 
und  Tag  zurück  gehalten  würden.  Was  meinen  Sie?  Sie  sollen 
und  können  ohne  den  mindesten  entferntesten  Zwang  hierunter 
entscheiden.  Wissen  Sie  sonst  einen  ähnlichen  oder  bessern 
Mann  und  wollen  ihn  zu  unsern  Vertrauten  wählen,  so  bin  ichs 
eben  so  zu  frieden,  als  ichs  zu  frieden  seyn  werde,  wenn  Sie  noch 
zur  Zeit  jeden  Vertrauten  vei'werfen.  — 

Das  ist  recht,  dass  Sie  den  merk  an  tili  sehen  Briefe)  nicht 
beantworten  wollen.  Der  Mann  will  mir  den  grossen  Herrn  gar 
zu  sehr  spielen.  Es  ist  wohl  viel  Ehre  für  Unsereinen  sein  unter- 
thäniger  Vasall  zu  seyn?  —  Dass  Dich !  —  Anche  io  son  pit- 
lore !  —  Es  kommt  hier  wieder  zurück  d^r  Avis  Brief!  — 


')  Von  Klopstock. 


Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     77 

Ihre  Epistel  ^)  hat  mir  einen  herrlichen  Abend  gemacht.  Für 
die  Ehre,  dass  mein  Nähme  drüber  prangen  soll,  will  ich  Sie  in 
8  Tagen  herzlich  umarmen,  und  Ihnen  auch  meine  Critiken  mit- 
theilen. Mir  deucht,  ich  habe  schon  einmal  an  der  an  Benz- 
lern getadelt,  dass  die  männlichen  und  weiblichen  Reime  nicht 
gehörig  gemischt  wären.  Diesen  Tadel  werd'  ich  hier  wohl  haupt- 
sächlich wiederhohlen.  Ich  kann  mein  Ohr  ohnmöglich  hieran 
gewöhnen.  In  Anschwung  des  Geistes  entspricht  auch  diese  schöne 
Epistel  vollkommen  den  übrigen  reizenden  Produkten  Ihres  Kopfs 
und  Herzens.  Meinen  Tadel  hab^  ich  auch  schon  bey  Gelegen- 
heit Ihrer  vorhin  gedruckten  Episteln  aus  dem  Munde  verschiedener, 
denen  ich  ein  Ohr  zutraue,  gehört.  Um  so  mehr  hab  ichs  mir 
in  den  Kopf  gesetzt,  dass  ich  recht  habe.  Ich  interessire  mich 
seit  unserer  so  engen  Verbindung  so  sehr  für  die  Vollkommenheit 
Ihrer  Werke,  als  der  Meinigen.  Mit  gleicher  mütterlicher  Zärt- 
lichkeit kann  ich  Ihre  und  meine  jungen  Bären  lecken.  Wir 
müssen  auch  von  nun  an  mit  gemeinschafltlicher  Redlichkeit 
und  Treue  unsere  junge  Brut  bilden  und  gross  ziehen.  Jede  Un- 
art die  einer  an  des  andern  Kindern  bemerkt,  muss  er  Macht 
haben,  zu  bestrafen,  als  wenn  er  des  Kindes  ächter  leiblicher 
Vater  selber  v^re.  —  Dies  soll  noch  einmal  eine  interessante 
Anecdote  für  Schmidten  seyn,  wenn  er  dereinst  unser  Leben  be- 
schreibt. 

Gleim  hat  mir  vor  wenig  Tjagen  geschrieben ''),  das  Clamer 
Anstalt  zur  Lyrischen  Blumenlese  macht.  Wenn  wir  die  doch 
auch  noch  zurück  halten  könnten  I 

Das  erste  Stück  des  Musäums  ist  nun  heraus  und  es  pranget 
darinn  ein  Fragment  meines  Homers,  mit  einigen  mir  unange- 
nehmen Druckfehlern.  Boie  hat  mit  Weygand  nur  auf  6  Monath 
contrahirt  und  wünschet  von  ihm  wieder  loss  zu  seyn.  Ich  glaube 
diese  Monathschrifft  wird  interessant  und  ein  guter  Artikel  für 
uns  werden. 

Unser  Project,  mein  Liebster,  soll  und  muss  schlechterdings 
gehen.  Es  leuchtet  mir  gar  zu  sehr  in  die  Augen.  Lassen  Sie 
uns  nur  immer  nach  den  Fundations  Geldern  uns  um  sehen.  Mir 
ist  bey  der  ganzen  Sache  für  nichts  mehr  bange,  als  dass  mirs 
etwa  nicht  gelingen  möchte,  meine  Immobilien  so  geschwind  und 
bequem  zu  Gelde  zu  machen.  Denn  das  haare  Geld  ist  überall 
verteufelt  rar.  Daher  sind  Immobilien  nicht  nur  in  schlechten 
Preise,  sondern  es  fehlt  auch  oft  demohngeachtct  an  Käufern. 
Doch  —  mir  deucht  es  hat  eine  höhere  Macht  die  Hand  mit  in 
unserm  Spiele.  Die  wird  ja  hier  auch  alles  einleiten.  Ich  werde 
hören,  wenn  ich  nach  Aschersleben  komme  I 


•)  An  Bürger,  Samtliche  Gedichte  1782  1,  172. 
')  Strodtmann  Nr.  204;  Bürgers  Antwort  Nr.  20ö. 


78     3ftuer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Adio!  mein  Herzensfreund!  Unsere  herzliche  Grüsse  an 
Ihr  wiederhergestelltes  wackeres  Weibchen  und  übrige  Angehörigen 
samt  und  sonders,  Spadillen  nicht  ausgeschlossen.  B. 

Apropos  noch  was  sehr  interessantes!  Der  Bettelmann  war 
mir  neulich  gestohlen,  war  8  schmerzensvoUe  Tage  weg,  kam 
aber  zu  meiner  unaussprechlichen  Freude,  Abends  um  11  Uhr 
durch  den  tiefsten  Schnee  wieder  vor  meiner  Thor  an.  — 

Darauf  scheint  Goeckingk  nicht  geantwortet  zu  haben, 
obgleich  sich  Bürgers  Besuch  verzog. 

11.  Bürger  an  Goeckingk. 

Aschersleben  d.  25,  Februar  1776. 
Gott  zum  Gruss. 

Bald  werd  ich  wieder  bey  Ihnen  und  Ihrer  lieben  Männer- 
Frau,  ich  der  ich  ein  rechter  Frauen-Mann  allhier  geworden  bin, 
seyn.  Dies  lesen  Sie  Frau  Sopheychen  laut,  damit  ich  ein  freund- 
liches Gesicht  bey  meiner  Rückkunft  erhalte.  Sacht  aber  lesen 
Sie:  dass  ich  in  meiner  Weiber-Teufelschafft  von  Tag  zu  Tage 
immer  mehr  Progressen  mache. 

Ich  dacht  es  wohl,  dass  mir  wegen  Herbeyschaffung  des 
Geldes  zu  unserer  grossen  Unternehmung  Schwierigkeiten  sich  in 
den  Weg  stellen  würden.  Die  Hauptschwierigkeit  ist  die,  dass  die 
Vertheilung  der  liegenden  Gründe  bey  jetzigem  Congress  um  des- 
willen noch  nicht  zu  Stande  gekommen  ist,  weil  ein  geiziger  hab- 
süchtiger Pfaffe  dabey  mit  interessirt  ist.  ^)     Sed  ego 

superos  acherontaque  movebo. 

Noch  leb  ich  guter  Hoffnung,  dass  ich  kurz  nach  Ostern 
wenigstens  2000  rth.  werde  auftreiben  können.  Wo  das  nicht, 
so  sollen  doch  wenigstens  gegen  die  Zeit  500  rth.  da  seyn,  damit 
die  Reise  angetreten  werden  könne.  Ich  sollt  auch  denken,  dass 
so  sehr  viel  nicht  dran  gelegen  wäre,  wenn  auch  das  Haupt- 
Capital  späther  herbey  geschafft  würde.  Dies  vorläufig;  mündlich 
ein  mehreresl  Ich  freue  mich  nicht  wenig  drauf,  bey  meiner 
Rückkunft  den  Baum  unsers  Lebens  durch  Ihre  letzte  Pflege  in 
der  herrlichsten  Blüthe  zu  sehen. 

Meinen  Gruss  an  Sopheychen  und  Malchen  etc.  etc. 

Vale  faveque.  GAB. 

In  grosser  Eil. 

Anfang  März  war  Bürger  wieder  zu  Hause;  am  9.  ist 
der  enthusiastische  Dankbrief  an  Qoethe  (Nr.  218)  ge- 
schrieben; ein  Nachklang  dieser  Stimmmung  tönt  uns  auch 
noch  aus  dem  folgenden  Brief  entgegen : 


•)  Vgl.  Nr.  17. 


Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  and  Goeckingk.      79 

12.  Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  d.  14ten  März  1776. 

Ich  hätte  schon  vorigen  Postag  schreiben  sollen,  dass  ich 
glQcklicliy  troz  der  jämmerlichen  Wege,  wieder  in  WöUmershausen 
angekommen  sey.  Allein  ich  hatte  und  habe  noch  so  viel  Wirr- 
warr um  mich  herum,  dass  ich  auch  heute  nur  diese  wenigen 
Zeilen  in  gröster  Eil  aufs  Papier  werfen  kann.  0  die  Actum  etc. 
die  Decretum  etc.  Resolutum  etc.  und  wie  der  Teufelsdreck  alle 
heisst,  werden  mir  von  Tage  zu  Tage  fataler.  Doch!  unverzagt! 
Der  Himmel  wird  mich  ja  heraus  führen.  Homer  verkündigt  mir 
so  schöne  güldne  Tage,  dass  ich  schier  für  nichts  zeitliches,  als 
nur  meinen  Goldmann,  meinen  Homer,  der  alles  zeitliche  in  sich 
begreift,  und  mir  künftig  alle  Leibes  Nahrung  und  Nothdurft  ver- 
spricht, zu  sorgen  brauche.  In  das  Stück  des  teutschen  Merkurs 
vom  Februar  d.  J.  wird  ein  gar  lieblich  lautendes  Ding  eingerückt 
werden.  Etwas  ganz  neues  und  in  unserm  lieben  Germanien 
bisher  unerhörtes !  Die  fürstliche  Familie  und  der  Hof  zu  Weimar 
haben  von  freyen  Stücken  eine  Subscription  ä  65  Louis  d'or  zu- 
sammen gebracht  und  mir  solche  als  ein  freundliches  Geschenk 
auf  den  Fall  versprochen,  dass  ich  öfTentlich  erklähre,  ich  sey 
entschlossen,  die  Uiade  ganz  zu  liefern.  Dabey  verlangt  nicht 
einmal  einer  ein  Exemplar.  Wenn  nun  die  andern  hohen  und 
niedem  Potentaten,  Militair-  und  Civil  Obrigkeiten,  in  Städten, 
Ämtern,  Flecken  und  Weichbildern,  desgleichen  die  Herrn  Ge- 
lehrten in  allen  Facultäten  hübsch  nachfolgen  und  sich  nicht 
lumpen  lassen,  so  ist  mir  schier  vor  dem  vielen  Gelde  bange. 
Es  scheint  beynahe,  als  wollte  endlich  einmal  Germania  das 
Schaft  ihrer  Freygebigkeit  gegen  ihre  Schrifflsteller  aufziehn. 
Wenn  ich  so  viel  Louis  d'or  bekomme,  als  Frau  Sopheychen 
Thränen  über  ihren  bösen  Mann  vergossen,  so  werde  ich  wohl 
mein  lebelang  genug  haben.  Was  macht  Sopheychen?  Meine 
Frau  lässt  sie  freundlichst  grüssen  und  ihr  sagen,  Sie  sollte  sich 
nichts  mehr  um  den  unartigen  Mann  scheeren  und  ihn  kalmäu- 
sern  lassen,  so  viel  er  wollte.  Sie  thäte  desselbigengleichen ;  da 
sie  wohl  einsähe,  dass  an  mir  Hopfen  und  Malz  verlohren  wäre 
etc.  etc.  etc.  etc.  etc.  etc. 

Vale  faveque  Tuo  GAB. 

Goeckingk  begrüsste  seinerseits  den  heimgekehrten 
Freund  noch  vor  Empfang  dieses  Briefes  und  eines  zweiten 
verlorenen  Zettels  am  18.  März  mit  Brief  Nr.  223,  den 
Bürger  rasch  beantwortet: 

13.  Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  d.  25.  März  1776. 
Ich  habe  mich,  mein  lieber  Herr  Mitteufel,  über  Ihren  gestern 
erhaltenen  Brief  recht  herzlich   ergözt.     Haben  Sie   denn   meine 


gO     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeökitigk. 

zwey,  die  ich  nach  meiner  Heimkunft  geschrieben  schon  erhalten. 
Der  lezte  war  nur  ein  Wisch,  worinn  ich  Sie  um  etwas  aus 
Ihrem  Adierkant  für  das  Musäum  bat.  Wenns  möglich  seyn  will, 
so  geben  Sie^s  her.     Allenfals  auch  was  anders. 

Um  meinen  Hausfrieden  slehts  auch  so  ziemlich.  Nur  be- 
komm ich  zu  weilen  was  gebrummtes,  wenn  meine  unsterblichen 
Werke  in  herba  meinen  Geist  an  sich  ziehn  und  mich  sinnlos 
gegen  das,  was  um  und  neben  mir  ist,  machen.  Ich  habe 
zeither  was  prosaisches  aufgesezt,  welches  unter  dem  Titul: 
Daniel  Wunderlichs  Buch,  in  dem  Musäum  ßguriren  soll. 
Sed  hoc  tibi  in  aurem!  Denn  ich  werde  darinn  aller  band  para- 
doxe Wahrheit  geigen;  und  möchte  doch  nicht  gern  den  Fiedel- 
bogen auf  den  Kopf  haben. 

Ausserdem  hab  ich  homerisirt ;  und  ich  bin  mit  meiner,  Ar- 
beit ziemlich  zufrieden.  Ich  denke  auch  in  deni  Merkur  die 
homerische  Trommel  zu  schlagen.  Und  das  alles  um  des  leidigen 
Mammons  willen. 

Sie  haben  also  einen  Plan  ausgeheckt?  Ich  bin  sehr  be- 
gierig das  Product  zu  sehn.  Ich  lege  sonst  auch  allerlej  Eyerl 
Es  sind  aber  viel  Windeyer  drunter. 

Ihr  Almanach  ist  im  Merkur  gut  weg  gekommen;  der  Vos- 
sische ist  in  vielen  seiner  Collaboratoren  gewurzelt.  Mit  dem 
Knaben  Bürger  ist  man  säuberlich  verfahren.  — 

Können  Sie  denn  nicht  bald  mal  einen  Absprung  zu  mir  in 
meine  Hütte  machen.  Siehe,  der  Frühling  kömmt  und  die  Bäume 
haben  Knoten  gewonnen  1  Im  Frühling  ists  ganz  anmuthig  um 
mich  herum;  aber  Winters  siz  ich  recht  in  Kloak.  Gleich  hinter 
meiner  Wohnung  ist  Wiese,  Bach  und  Wald.  Da  wollen  wir 
ein  Zelt  aufschlagen  und  uns  drein  lagern  und  unsern  Herzen 
gütlich  thun.  Mir  wäre  ganz  wohl,  wenn  ich  dich  bösen  Buben 
nur  immer  hier,  und  nicht  so  viel  Plackscheisserey  hätte.  0  das 
Project!  das  ProjectI  Ich  werd  eher  nicht  glücklich;  eher  kein 
Mensch,,  als  bis  das  alles  erst  in  seiner  Schnurre  ist.     AdiesI 

B. 

Qoeckingks  Nr.  230  vom  7.  April  ist  die  Antwort  auf 
den  verlorenen  und  den  letzten  Brief.  Bürger  schrieb  dies- 
mal augenblicklich: 

14.  Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  den  9ten  April  1776. 

Ich  kann  nicht  umhin,  mein  liebster  Gkg,  auf  Ihre  Salve 
vom  7ten  dieses  sogleich  wieder  in  dieser  glücklichen  Stunde  eins 
abzufeuern.  Denn  den  heutigen  Tag  über  und  die  kommende 
Nacht  bin  ich  unumschränkter  Selbstherrscher  in  meiner  ganzen 
Wohnung,  vom  untersten  Keller  an,  bis  in  die  obersten  Hahn- 
balken hinauf.     Nach  dem  ich  das  Fest  über  mit  meiner  ganzen 


Sauer,  Aub  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     g  { 

Familie  zu  Niedeck  gewesen  bin  und  beute  wieder  nach  Hause 
will,  geliebt  es  meiner  ehlichen  Hausfrawen  noch  heut  und  Morgen 
dortzubleiben  und  24  Stunden  die  Fahne  der  Freyheit  über 
meinem  Haupte  wehen  zu  lassen.  Ich  muss  freylich  dabey,  statt 
Suppchen,  Carbonnädchen,  Spinätchen,  Brätchen  und  Sallätchen, 
mit  Butter  und  Käs  und  Brod  pour  tout  potage  auf  diesen  Abend 
Tor  lieb  nehmen,  aber,  Freund,  bedenken  und  fühlen  Sie  auch 
mal  dagegen  die  Wonne,  sich  frey  und  ungehindert  nach  allen 
vier  Pfählen  der  Stube  und  des  Bettes  wälzen  und  alle  Kinder 
des  Geistes,  gebohrne  und  ungebohrne,  laut  um  sich  her  lärmen 
lassen  zu  können!  —  Denn  über  das  geistliche  Empfangen, 
kreissen  und  gebären  (vermuthlich  weil  dadurch  dem  fleischlichen 
einiger  Abbruch  geschehen  mag)  muss  man  leider!  das  meiste 
Haus  Creuz  erdulden.  Ich  hoffe  bey  dieser  glücklichen  Müsse, 
noch  diesen  Abend  das  gröste  und  stattlichste  meiner  Kinder,  eine 
Romanze*)  fast  ä  100  Strophen  vollends  zur  Welt  zu  bringen. 
Sie  ist,  wegen  ihrer  Länge,  und  weil  mich  B[oie]  gar  mächtig 
um  Beyträge  trillt,  für  den  May  des  Musäums  bestimmt.  Näch- 
stens hoff  ich  noch  zwey  dito  ans  Licht  zu  stellen,  die  in  den 
Almanachen  ins  Publikum  kutschiren  sollen.  Voss  hat  auch  schon 
angepocht  Noch  zur  Zeit  muss  ich  mich,  wie  ein  bedrängter 
Student,  wenn  die  Manichäer  zu  früh  kommen,  einschliessen. 
Kömmt  Zeit,  kömmt  Rath.  ihr  Gedicht  an  mich,  beantwort  ich 
gewiss.  Aber  das  merk  ich  schon  zum  voraus,  so  allerliebst 
närrsch,  wie  das  Ihrige  ist,  wird  meins  nicht.  Ich  muss  das  Ding 
belachen  und  wenn  ichs  auch  zum  hundertsten  Mal  lese.  Dies 
werden  Sie  hoffentlich  für  keine  nothgedrungene  Galanterie  nehmen, 
da  ich,  wenns  mir  nicht  von  Herzen  gienge,  gar  füglich  drum  hin 
gekonnt  hätte. 

Von  Ihrem  Adlerkant  schicken  Sie  mir  nur  die  zwey  ersten 
Gesänge.  Wohlverstanden,  wenn  am  Ende  des  zweyten  Gesanges, 
wenigstens  einiger  maassen  ein  Ruhepunct  ist,  und  der  Leser  auf 
den  Fortgang  nicht  so  unbändig  gierig  gemacht  wird,  dass  er 
sich  Ober  das  Abbrechen  zu  sehr  ärgern  muss.  Ich  hoffe  der 
Herr  Adlerkant  soll  ganz  gewiss,  besonders  zu  dieser  Frist,  da 
man  der  wiehernden  und  bellenden  Freyheits-  und  Tugendoden 
so  satt  ist,  ein  hübsches  Fortun  machen. 

Der  Strahl  von  Hoffnung,  den  Sie  mir  in  Ansehung  unsers 
Projects  zublinken  lassen,  hat  mein  Auge  sehr  erquickt.  Frey- 
lich lagern  sich  zwar  noch  Gebär-  und  Sterbe-Wolken  davor; 
allein  wer  kann  sich  helfen?  Endlich  wird  es  sich  ja  doch 
ganz  um  uns  aufklähren.  Lasst  immerhin  gebären  und  sterben, 
was  Gebären  und  Sterben  nicht  lassen  kann.  Ich  meines  theils 
respective  gratulire  und  condolire  zum  voraus.  Wünsche  ratione 
des  erstem,  nicht  allein  dieses,  sondern  auch  noch  viele  folgende ; 

')  Lenardo  und  Blandine. 

Viertotjahrschrilt  fQr  Littoratniifeschichto  III  6 


82     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

ratione  des  lezten  aber,  dass  der  grundgOtige  Gott  dieselben  und 
dero  wehrtes  Haus  noch  lange  und  bis  in  die  späthesten  Jahre 
vor  ähnlichen  Trauerfallen  in  Gnaden  behüten  und  bewahren, 
dahergegen  aber  mit  Freuden  und  Wohlergehen,  auch  allem, 
was  Sie  sich  selbst  zu  wünschen  nur  immer  Belieben  tragen, 
reichlich  überschütten  möge.     Dixi! 

Für  heute  wüst  ich  weiter  eben  nichts  von  Belang  hinzu  zu 
fügen  als:  dass  ich  den  Bettelmann,  sonst  auch  Mannbettel, 
Mannus  beteiius,  Mannthier,  Thiermann,  Mannsbild, 
Freund,  Bettelfreund,  Freundbette],  Männchen,  Männ- 
lein, Betteljunge,  Bettelsack  u.  s.  w.  benahmset,  gestern 
in  einem  kalten  Flusse  gewaschen  und  gebadet  habe,  wovon  er 
aber  ein  kaltes  Fieber  bekommen  hat  und  noch  nicht  ganz  wieder 
genesen  ist,  dergestalt,  dass  ich  sehr  besorgt  um  ihn  bin.  — 
Apropos I  Sie  sind  um  ein  Kupfer  vor  den  Almanach  verlegen? 
Wie  wenn  wir  unsre  Hündlein  davor  stechen  Hessen? 

Nach  dem  ich  des  Bettelmanns  so  lang  und  breit  Erwähnung 
gethan,  ists  wohl  nicht  schicklich  einen  Gruss  au  die  Ihrigen 
nachtreten  zu  lassen?  —  Doch  die  Hündlein  springen  ja  oft  vor 
den  Menschen  voran;  auch  essen  sie  von  den  Brosamen,  die  von 
ihrer  Herren  Tische  fallen.     Adiol  B. 

Nr.  234  vom  18.  April,  womit  Goeckingk  ein  fertiges 
Trauerspiel  übersandte,  kreuzte  sich  mit  dem  Zettel  15  und 
erst  im  16.  Brief  bestätigte  Bürger  dessen  Empfang. 

15.  Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllraershausen  d.  22.  April  1776. 

0  liebster  Goeckingk,  wäre  doch  Euer  Lied  an  mich**^)  erst 
gedruckt!  Nun  der  schöne  Frühling  herbey  kömmt,  wallfahrtet 
alles  was  Beine  in  Göttingen  hat,  das  Wunderthier  in  Wöllraers- 
hausen zu  begaffen.  0  was  das  ein  Jahrmarktsfest  von  Plunders- 
weilern jezt  um  mich  her  isti  Das  Volk  kömmt  nicht  einen  oder 
zwey,  sondern  gleich  sechs,  acht,  zehn  Mann  hoch,  und  meinet 
ich  sei  gar  höchlich  ob  der  Ehre  erfreut.  Wenn  das  nicht  bald 
ein  Ende  nimmt,  so  muss  ich  wirklich  das  Liedlein  ins  nächste 
beste  Journal  drucken  lassen.  ~ 

Wann  krieg'  ich  die  Gesänge  von  Adlerkannt?  — 
Meinen  herzlichen  Gruss  an  alle  die  Ihrigen  von  Ihrem 

GAB. 
Apropos ! 

In  meiner  neuen  grossen  Romanze  ist  unter  andern  diese 
herrliche  Strophe: 

")  An  Bürger,  in  Wöllinershaiisen.  Göfciinger  Musenalmanach  ll??? 
S.  188,  von  Bürger  auch  in  die  Sammlung  seiner  Gedichte  aufge- 
nommen. 


Bauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     83 

Lenardo  spricht: 
Wohl  schwellen  die  Wasser,  wohl  hebet  sich  Wind; 
Doch  Winde  verwehen,  doch  Wasser  verrinnt! 
Wie  Wind  und  wie  Wasser  ist  weiblicher  Sinn; 
So  wehet,  so  rinnet  dein  Lieben  dahin. 

Diese  Strophe  lesen  Sie  Frau  Sopheychen,  die  folgende  aber 
behalten  Sie  für  sich. 

Die  Prinzessin  Blandine  antwortet: 
Wie  Wasser  und  Wind  sey  mein  liebender  Sinn. 
Wohl  wehen  die  Winde,  wohl  Wasser  rinnt  hin; 
Doch  alle  verwehn  und  verrinnen  ja  nicht: 
So  ewig  mein  quillendes  Lieben  auch  nicht. 

Meine  Weibsen    hier    rümpfen    über   die   erste   Strophe  die 

Nasen  bis  an  die  Stirne  hinauf.     Die  zweyte   aber  restituirt  ihre 

Nasen  wieder  in  integrum. 

Vale! 

16.  Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  d.  29.  April  1776. 

Vorläufig,  mein  liebster  G.,  sey  nur  hiermit  kund  und  zu 
wissen,  dass  ich  Ihr  Trauerspiel  erhalten  und  mit  Heisshunger  in 
den  ersten  Stunden  gleich  flüchtig  durchgelesen  habe.  Es  wird 
aber  nun  noch  zwey  oder  dreymal  dran  müssen,  und  dann  dürft* 
es  wohl  so  gut,  wie  das  erste  mal  nicht  wieder  wegkommen. 
Dies  sag'  ich  euch  im  voraus,  Freund,  um  Euer  Herz  gegen  die 
Trübsale  der  künftigen  Kritik  vorzubereiten  und  zu  wapnen. 
Darauf  könnt  Ihr  euch  dem  Teufel  ergeben,  dass  ich,  so  viel  nur 
an  mir  ist,  Euch  das  Leben  sauer  machen  werde.  Einmal,  aus 
Freundschaft,  um  euren  jungen  Bären  desto  blanker  zu  lecken, 
zum  zweyten  aber  aus  Scheelsucht  und  Neid,  weil  Ihr  euch  er- 
frechet habet,  ein  Drama  wirklich  zu  Stande  zu  bringen,  welches 
ich,  troz  allen  Aus-  und  Anläufen,  die  ich  genommen,  noch  nicht 
gekonnt  habe.  Aber  nun  bin  ich  grimmig  und  kraushärig  ge- 
worden; Gebt  Acht,  was  sich  nächstens  ereignen  wird.  Erst 
will  ich  aber  versuchen,  ob  ich  nicht  eurem  kleinen  Balge  die 
Gurgel  in  der  Bade  Molle  zudrücken  kann.  Geht  das  aber  nicht; 
und  das  Kindlein  wird  getauft  und  nimmt  zu,  an  Alter,  Gnade 
und  Weisheit,  bey  Gott  und  den  Menschen,  nun,  so  will  ich  ab- 
solut auch  taufen  lassen.  —   ^ 

Ein  Weilchen  müssen  Sie  nur  noch  Gedult  haben  und  Ihr 
Trauerspiel  mir  lassen.  Mich  verhindern  gegenwärtig  gar  viel 
Amts  Plackscheissereyen,  mich  mit  den  Musen  abzugeben. 

Sehen  Sie  zu,  mein  liebster,  dass  Sies  möglich  machen  bald 
einmal  herüber  zu  huschen.  Ich  habe  zwar  kein  eigen  Reitpferd 
bis  Duderstadt  entgegen  zu  schicken;  aber  wenn  ich  einige  Tage 
vorher  die  Zeit  ihrer  Ankunft  in  Duderstadt  wüste,  so  Hesse  sich 
ja  wohl  sonst  wo  in  der  Nachbarschafft  eins  auf  treiben.  — 

6* 


84     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Adio!  Meine  und  meiner  Frauen  schönste  Grilsse  an  Euch 
ins  gesamt.  Ich  glaube,  meine  Frau  schriebe  herzlich  gern  ein- 
mal an  Frau  Sopheychen,  aber  sie  hat  so  unbändigen  Respect 
vor  Frau  Sopheychens  Geist  der  Weisheit,  dass  ihr  vor  Angst 
die  Zunge  am  Gaumen  kleben  bleibt,  wenn  sie  ein  Wörtchen 
gegen  sie  vorbringen  will.  Ich  will  nur  den  Spass  einmal  an- 
sehn,   wenn   die  beyden  Leutlein  persönlich  zusammen  kommen! 

Apropos!  Dass  Euch  nur  der  Teufel  nicht  einmal  reitet,  es 
wie  der  Kriegesrath  mit  Nettchen  zu  machen.  GAB. 

An  demselben  Tage,  29.  April,  überschickte  Goeckingk 
mit  Nr.  239  einen  prosaischen  Beitrag  für  das  Deutsche 
Museum.    Bürger  antwortete  erst  einen  Monat  später: 

17.  Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  d.  29.  May  1776. 

Lassen  Sie  sich,  mein  liebster,  die  Zeit  nicht  lang  werden, 
ehe  ich  Ihnen  ausführlich  über  Ihre  Producte  schreibe.  Denn  da 
ich  in  diesem  und  dem  folgenden  Monath  ein  Paar  hundert  Va- 
sallen zu  investiren  habe,  so  schwindelt  mir  von  aller  Arbeit  der 
Kopf  dergestalt,  dass  ich  schier  nicht  weiss,  ob  ich  einen  Kopf 
habe,  oder  nicht.  Einen  poetischen  wenigstens  hab  ich  gewiss 
und  wahrhaftig  nicht. 

Beyläuüg  muss  ich  Ihnen  doch  sagen  wie  infam  es  mir  geht.  Vor 
einigen  Tagen  bekomme  ich  einen  Brief  vom  Consistorial  Rath 
Schäfer  in  Halberstadt,  worin  er  mir  ein  Anlehn  von  2000  rlh.  auf 
künftige  Johannis  zu  sagt ;  und  ich  —  was  denken  Sie  —  hab  es 
ihm  wieder  abschreiben  müssen.  Da  hat  der  Teufel  einen  vi- 
lainen  Pfaffen  —  einen  Galchas  nach  allen  Praedicaten  —  in 
meine  Familie  geführt  und  denselben  Titulo  eines  Schwagers  und 
ehelichen  Curators  für  seine  Frau  eingesezt,  welcher  wegen 
nichtswürdiger  Praetensionen  an  einer  meiner  Schwestern  das 
TheilungsgeschäfTt  unsers  Immobiliar  Vermögens,  wider  mein  Ver- 
mutheu, bis  hieher  aufgehalten  hat,  und  es  noch,  Gott  weiss  wie 
lange?  aufhalten  wird.  Bevor  aber  die  Theilung  nicht  zu  Staude 
ist,   kann  ich   keine  bestimmte  Hypothec    für  das  Anlehn    sezen. 

Ich  mag  daher  schier  gar  nicht  an  unser  Project  denken, 
wenn  ich  mich  nicht  avw  %at  xorcü  entschütten  will.  —  — 

Übrigens  leb  wohl,  mein  Vielgeliebter,  und  grüss  Dein  Weib- 
chen, samt  Malchen  und  Deiner  Fr.  Schwiegerma[ma],  wenn  Sie 
anders  nicht  schon  dorthingereist  ist,  wohin  keine  Posten  gehn, 
mithin  auch  keine  Grüsse  spedirt  werden  können.     Raptim ! 

GAB. 

Anfang  Juni  betrieb  Goeckingk  auf  einer  Reise  nach 
Halberstadt  und  Grüningen  abermals  sein  und  seines  Freun- 
des Lieblingsproject ;  am  16.  Mai  gab  er  diesem  über  seine 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk.     85 

Erfolge  Nachricht,  Nr.  246.  Am  18.  Juni  würde  ihm  ein 
Sohn  geboren ;  zwei  Tage  später,  in  Nr.  248,  meldet  er  dies 
nach  Wöllmershausen  und  bittet  Bürger  für  den  23.  'zum 
christlichen  Taufzeugen'  des  neuen  Söhnleins;  aber  der 
Brief  verspätet  sich ;  Bürger  entschuldigt  sein  Nichterscheinen 
am  26.  Juni  in  dem  sonst  belanglosen,  halb  humoristischen 
Gratulationsbriefe  18.  Goeckingk  berichtet  in  Nr.  250  über 
den  solennen  Taufactus  und  dringt  auf  Beiträge  zum  Musen- 
almanach, deren  Ausbleiben  Bürger  am  13.  Juli  in  der 
nach  dem  Concepte  gedruckten  Antwort  (Strodtraann  Nr. 
253)  durch  brennende  Amtsgeschäfte  motivirt.  Zugleich 
legt  er  Goeckingk  einen  Plan  für  die  VeröflFentlichung 
seiner  Homerübersetzung  vor,  der  das  Buchhändlerproject 
durchkreuzt,  dem  aber  Goeckingk  in  Nr.  257  (26.  Juli)  bei- 
stimmt, da  er  seine  eigenen  Gedichte  gleichfalls  schneller 
gedruckt  sehen  wollte.  An  demselben  Tage  Abends  lässt 
Goeckingk  Nr.  258  mit  dem  Bericht  über  Dohms  Besuch 
nachfolgen,  dem  er  Andeutungen  über  das  Buchhändler- 
project gemacht  habe.  Beide  Briefe  beantwortet  Bürger  am 
5.  August.  Er  kündigt  zuerst  seinen,  Sophiens  Krankheit 
wegen  aufgeschobenen,  Besuch  als  bevorstehend  an  und 
fahrt  dann  fort: 

19.  Bürger  an  Goeckingk. 

Für  Euer  Responsum  pto.  Homers  danken  wir  von  Herzen. 
Es  hat  mich  veranlasset,  tiefer  in  den  Weygandschen  Plan  ein 
zu  dringen,  dergestalt  dass,  wenn  ich  auch  mit  ihm  zu  stände 
kommen  sollte,  er  mich  doch  nicht  so  gar  gewaltig  übers  Ohr 
hauen  soll.  Noch  hab  ich  ihm  nicht  geantwortet.  Die  kostbare 
Ausgabe  bin  ich  nunmehro  fast  völlig  entschlossen  fahren  zu  lassen. 
Denn  wahrscheinlicher  ist  dabey  Verlust  als  Gewinn.  Bios  das 
Augenmerk  auf  unser  Project  ist  Schuld,  dass  ich  mit  dem  Homer 
eile.  Denn  ich  sollte  doch  denken,  dass  in  der  jezigen  Gon- 
junctur  (die  ich  auch  nicht  gern  ungenuzt  durch  Verzug  vorbey- 
streichen  lassen  möchte)  über  1/m  rthr.  sich  dabey  gewinnen  lassen 
müssen.  Welche  gute  Dienste  können  uns  die  bey  dem  Institut 
thuni  Wenn  diese  Umstände  nicht  wären,  oder  wenn  ich  nur 
mit  meiner  Erbvertheilung  geschwinder  zu  Stande  kommen  und 
Geld  negotiiren  könnte,  so  müste  mich  der  Teufel  plagen,  wenn 
ich  einen  solchen  Artikel  dem  Institut  entzöge,  womit  dies  nicht 
nur  sehr  gut  anfangen,  sondern  auch  ich  ohnstreitig  vielmehr  ge- 
winnen könnte.  Mein  einer  hundsvöttischer  Schwager  wickelt 
sich  in  die  Schelmhaut  und  verzögert   von  einer  Zeit  zur  andern 


86     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

wegen  der  Erbvertheilung  der  Immobilien  seine  positive  Erklährung. 
Noch  in  einem  heutigen  Schreiben  hab  ich  mit  Gewalt  darauf 
gedrungen.  So  bald  ich  diese  Erklährung  habe,  sie  falle  aus  wie 
sie  wolle,  so  soll  bald  reine  Sache  werden.  Ein  mit  allen  So- 
lennitäten  durchgeseztes  Judicium  familiae  exciscundae  sollte  bald 
Ende  machen,  wenn  er  sich  auch  nicht  gütlich  zum  Ziel  legte. 
Ich  kann  Euch  den  Zusammenhang  meiner  Erbangelegenheit  ohn- 
möglich  schrifTtlich  detailliren.  Das  ist  mit  eine  Ursache  warum 
ich  Euch  mündlich  sprechen  muss.  Ist  die  Vertheilung  zu  Stande, 
so  versichere  ich,  dass  ich  in  kurzem  2  bis  3/m  rth.  ohne 
Schwierigkeit  anschaffen  kann,  bis  dahin  aber  sind  mir  die  Hände 
auf  die  infamste  Art  gebunden.  Vom  Consistorial  Rath  Schäfer 
in  Halberstadt  hätt^  ich  schon  verwichene  Johannis  2/m  rth.  haben 
können,  wenn  jene  Umstände  nicht  wären. 

Ich  habe  nicht  das  geringste  dawider,  Freund,  wenn  Sie  die 
Lieder  zweyer  Liebenden  auch  vorher  lossschlagen  wollen. 
Denn  was  einem  Recht  ist,  das  ist  dem  andern  billig.  Ich  hoffe 
demohngeachtet  nicht,  dass  es  dem  Institut  an  Artikeln  fehlen 
soll.  Ach!  Gott,  wie  schwehr  liegt  mir  das  am  Herzen.  Das 
verfluchte  Geld!  Hätten  Sie  so  viel  auf  der  Fahrt,  um  wenig- 
stens den  Anfang  zu  machen,  so  kann  ich  so  viel  versichern,  dass 
ich  allemal  im  Stande  bin  Ihnen  die  Stange  zu  halten,  aber  das 
kann  ich  noch  nicht  bestimmen,  wenn  ehe  ich  haar  aufzählen 
kann.     Doch  von  allen  diesem  baldiges  mündliches  Detail. 

Ihre  Instruction,  mein  lieber,  wegen  Dohm  kam  um  eine 
Stunde  zu  späth.  Kurz  und  gut,  Dohm  weiss  nunmehro  fast  den 
ganzen  Handel.  Der  Teufel  mochte  das  riechen,  dass  Ihr  von 
dem  Institut  als  wie  in  tertia  persona  mit  ihm  geredet  hattet. 
Ich  hielt  lange  genug  erst  hinter  dem  Berge;  aber  da  Dohm  der- 
gestalt au  fait  war  und  Bescheid  wusste,  ja  nicht  anders  von  der 
Sache  sprach,  als  ob  ihm  gar  nicht  anders  wissend  wäre,  als 
dass  wir  zwey  beyde  die  Entrepreneurs  von  dem  Institut  wären, 
so  könnt*  ich  nicht  anders  denken,  als  dass  Ihr  ihm  die  Haupt- 
sache entdeckt  hättet.  Ich  legte  daher  meine  geheimnisvolle 
Miene  auch  ab  und  dies  um  so  mehr,  weil  mir  Dohm,  so  viel 
ich  ihn  kenne,  der  ehrlichste  treuherzigste  Mensch  von  der  Welt 
scheint.  Er  hat  so  grosse  Freude  an  der  Sache,  dass  er  die 
gröste  Lust  hat  mit  1/m  rth.  beyzutreten.  Seine  Aussicht  nach 
Kiel  hindert  ihn  freylich  einigermassen  hieran,  aber  er  scheint  noch 
zu  wanken.  Vielleicht  wird  aus  Kiel  nichts.  Dohm  schlug  zur 
Vergrösserung  der  Entreprise  einen  Actienhandel  vor.  Der  Ein- 
fall wäre  nicht  übel,  wenn  er  nur  nicht  das  Institut  mit  seinen 
Vortheilen  aus  unsem  Händen  heraus  in  die  Hände  der  Landes- 
Regierung  spielte.  Denn  die  müste  doch  bey  einem  Actienhandel 
wahrscheinlich  die  Garantie  leisten.  Wir  wären  hernach  aufs 
höchste  nichts  weiter  als  OfBciales.  Es  ärgert  mich  indessen  doch, 
dass  ich  mit  Dohm  solchergestalt  angelaufen    bin,    wiewohl  ich 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     g7 

Dohm  nicht  zutraue,  dass  er  aus  Bosheit  oder  Unvorsichtigkeit 
uns  zu  schaden  föhig  sey.  Vielmehr  mags  vielleicht  gut  seyn, 
das  Urtheil  eines  gescheidten  Kopfs  mehr  vor  der  Ausfuhrung  zu 
vernehmen.  Ich  dächte  v^ir  läsen  nunmehro  nur  den  ganzen 
Plan  Dohm  einmal  in  Extenso  vor.  Er  hat  mir  versprochen,  von 
einem  und  andern  Puncte  zuverlässige  Erkundigung  einzuziehen. 
Er  hat  mir  aber  auch  mit  Hand  und  Mund  versprechen  müssen, 
die  Sache  geheim  zu  halten. 

Euren  Beytrag  zu  einem  deutschen  Wörterbuch  hab  ich 
Dohm  nicht  gegeben.  Denn  rund  heraus,  es  gefällt  mir  nicht 
recht  und  scheint  weit  unter  den  Kräfften  Eures  Genies  zu  seyn. 
In  ein  westphaiingsches  Wochenblatt  ohne  Euren  Nahmen  ists 
.freylich  gut  genug.  Aber  für  das  grössere  allgemeinere  Publikum 
könnt  Ihr,  das  bin  ich  überzeugt,  bessere  Sachen  machen.  Noch 
einmal  derb  und  rund  heraus  gesagt,  es  kömmt  mir  zu  trivial 
vor  und  scheint  mir  gar  zu  sehr  den  Ton  der  vergessenen 
Wochenschrififten,  des  Menschen  des  Glückseeligen,  u.  s.  w. 
zu  haben.  Der  unbedeutendste  Eurer  Briefe  an  mich,  ist  mir 
mehr  wehrt,  als  der  ganze  Beytrag.  Wie  blind  doch  manchmal 
auch  der  beste  hellste  Kopf  gegen  seine  Producte  seyn  kann! 
Sagt  mir  einmal  um  Gottes  willen,  Goeckingk,  wie  Ihr,  ein  Kerl 
von  so  viel  wit  and  humöur,  so  einen  Scheissdreck  für  was  halten 
könnt!  Gelt!  so  hats  Euch  wohl  noch  keiner  gesagt?  Bey 
meiner  armen  Seele!  ich  selbst  hab*  es  noch  nie  einem  so  derb 
gesagt  und  würd*  es  auch  seh  wehrlich  einem  andern  als  Euch  so 
sagen.  Denn  das  beste  ist,  dass  Ihr  nicht  böse  werden  dürft, 
so  grosse  Lust  Ihr  auch  haben  möchtet,  weil  Ihr  wohl  wisst,  aus 
was  für  Herzen  mein  Tadel  kömmt.  Eine  Rache  nur  steht  euch 
frey;  und  die  mögt  Ihr  bey  der  ersten  der  besten  Gelegenheit 
nach  Herzenslust  nehmen.  Machts  mir  wieder  so,  wenn  Ihr 
glaubt,  dass  ichs  verdiene.  Dohm  hab  ich  damit  abgefertigt,  dass 
ich  das  Manuskript  verlegt  hätte.  Wollt  Ihrs  nun  doch  noch  ins 
Museum  drucken  lassen,  so  thuts  in  des  Teufels  Nahmen.  Dixi 
et  servavi  animam.    Mein  Herz  und  Gewissen  sind  nun  frey. 

Von  Eurem  Trauerspiel  sag  ich  noch  nichts.  Davon  sollt 
Ihr,  Geliebts  Gott!  meine  Meinimg  mündlich  hören.  Wapnet  Euch 
nur  immer  im  Voraus  mit  dem  Krebs  ^^)  der  Gedult  und  Stand- 
haftigkeit.  Denn  so  viel  herrliches  auch  dran  ist,  so  soll  mich 
solches  doch  nicht  abhalten,  das  tadelnswürdige  (was  nehmlich 
■ich  —  freylich  nur  ein  homuncio  —  dafür  erkenne)  aus  allen 
meinen  Leibes-  und  Geistes-Kräfften  zu  geissein. 

Mich  soll  doch  ^vundern,  Herr,  wie  Er  sich  bey  diesen  Trüb- 
salen  anstellen  wird.  Wenn  Er,  wie  es  mir  schon  öfters  gegangen 
ist,  auch  böse  wird,  so  soll  es  bey  Gott!  das  lezte  mal  seyn,  dass 
ich  meines  Freundes  Producte  getadelt  habe.    Denn  warum  sollt' 

")  Anspielung  an  Ephes.  6, 14. 


88     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

ich  alsdenn  meinen  Freund ,  den  ich  lieb  habe,  nicht  lieber  ein 
mittelmässiges  Werk  ruhig  in  die  Welt  senden  lassen,  als  riskiren 
ihn  kaltsinnig  oder  mir  gar  abwendig  zu  machen.  Weh  mag 
euch  der  Tadel  immer  thun.  Das  verzeyh  ich  Eurem  väterlichen 
Geföhl.  Erstunken  und  erlogen  war*  es,  wenn  Ihr  sagen  wolltet, 
Ihr  freutet  Euch  über  meine  Aushunzungen.  Aber  das  will  ich 
Euch  glauben,  wenn  Ihr  mich  nächstens  hören  lasset:  Bfirger, 
Du  bist  recht  infam  und  bestialisch  mit  meinen  Kin- 
dern umgegangen,  aber  gute  Freunde  bleiben  wir 
übrigens  doch. 

Wie  stehts  mit  Eurem  Almanach?  Ich  höre,  dass  ihr  schon 
weit  avancirt  seyd.  Ich  möchte  doch  gar  zu  gern  meine  Noth- 
durft  noch  auch  drein  verrichten.  Aber  bis  hieher  weiss  Gott! 
ists  mir  unmöglich  gewesen.  Auf  die  Emdteferien  sez  ich  noch 
immer  meine  Hofnung.  Sagt  mir  doch  wie  lange  ich  noch  Zeit 
habe,  und  eilt  nicht  zu  sehr.  Ich  habe  verschiedenes  noch  auf 
der  Fürth  i*^). 

Besonders  möcht  ich  Euer  Lied  an  mich  noch  gern  beant- 
worten. Das  ist  mir  doch  noch  ein  Lied!  Je  öfters  ichs  lese, 
je  mehr  geföllt  mirs.  Neulich  lass  ichs  hier  einem  Ehrn  Pastor 
vor  und  er  lachte  so,  dass  ihm  die  Perükke  vom  Kopfe  fiel  und 
beyde  Augen  vor  dem  Kopfe  lagen.  Jede  Zeile  ist  mehr  welirt, 
als  zehn  Eurer  Bey träge.     Nun  genug  für  heute!  .  .  . 

Goeckingk  nimmt  die  derbe  Lection  ruhig  hin  (Nr.  259, 
12.  August)  und  verabredet  näheres  wegen  Bürgers  Besuch, 
der  aber,  wie  aus  Bürgers  Antwort  ersichtlich  ist,  bb  in 
den  September  verschoben  werden  musste. 

20.  Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen,  d.  22.  August  1776. 

Gott  grüsse! 

Wenn  ich  denn  also  kommen  darf,  so  hör  Er  mal!  In 
diesem  Monath  gehts  noch  nicht,  wegen  meiner  Plackereyen.  Aber 
zu  Anfang  des  Künftigen  komm  ich  entweder  auf  den  5ten  oder 
6ten,  oder  auf  den  12ten  oder  13ten  oder  —  ganz  und  gar  nicht. 
Es  wäre  denn  dass  ich  anderweiten  Avis  ertheilte. 

Für  die  Aimanachs  Bogen  soll  Er  schönen  grossen  Dank 
haben.  Seine  Sachen^')  haben  mir  köstlich  gefallen.  Ist  das 
Junkernlied  nicht  auch  von  Ihm?     Das  ist  ein  allerliebstes  Lied. 


>*)  Oder:  Farth?  vgl.  in  Absatz  2  des  Briefes  19:  auf  der  Fahrt. 

^*)  Auf  den  ersten  6  Bogen  des  Göttinger  Musenalmanachs  auf 
1777  befinden  sich  von  Goeckingk  unter  seinem  Namen:  Die  Parforce 
Jagd;  Klagelied  eines  Schiffbrüchigen  über  den  Tod  seines  Hundes; 
Wiegenlied  för  die  süssen  Herrn;  An  Herrn  *^  einen  jungen  Dichter; 
femer  Junker  Franz,  mit  — tt —  unterzeichnet. 


Saaer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     89 

Bör  Er  mal,  mein  liebster  Goeckingk,  bey  der  übrigen  Excellenz 
seiner  Episteln  chockirts  mich  doch  immer,  dass  die  männlichen 
•und  weiblichen  [Reime]  nicht  äberall  gehörig  gemischt  sind  und 
abwechseln.  Ich  kann  das  nicht  vertragen.  Kann  oder  will  Er 
sich  denn  das  gar  nicht  abgewöhnen?  Er  versificirt  ja  sonst  so 
allerliebst  und  leicht.  Ich  beneid  ihn  um  den  Geist  seiner  Episteln. 
So  was  kann  ich  nicht  zu  Markte  bringen.  Übrigens  hat  die 
komische  Erzählung  **)  viel  Laune,  Wiz  und  Satyre.  Der  Kerl,  der 
das  von  Schwerlern  etc.  ^*)  gemacht  hat,  ist  fürwahr  auch  ein 
brav  Kerl.  Übrigens  hab  ich  auch  die  Ehre  Ihn  durch  die  Blume 
zu  versichern,  dass  in  den  überschickten  5  Bogen  schon  mancher 
Scheissdreck  steht,  poch  —  Ein  Schelm  giebts  besser,  als  ers 
hat.  Ich  kanns  Ihm  ohne  Heucheley  sagen  —  Er  weiss  wohl, 
dass  ich  Ihm  nicht  heuchle  —  dass  Seine  Arbeit  diesmal  wohl 
bey  dem   ganzen  Almanach  das  Beste  seyn  wird. 

Um  meinen  guten  Willen  zu  bezeugen,  so  schick  ich  hier 
im  Voraus  1)  ein  Hocuspocus  zur  Antwort**),  das  Er  nach  Be- 
lieben feilen  und  ändern  mag  denn  so  was  glückt  Ihm  sicherlich 
besser  wie  mir.  2)  Ein  Liedlein,  meiner  Schöne  zu  Ehren,  an 
ihrem  Geburtstage  ganz  leise  gesungen.  *'^)  Meine  Frau  würde 
mich  bas  kuranzen,  wenn  sie  alles  wüste,  was  wir  zwey  und 
noch  zwey  wissen.  Damit  kein  Argwohn  entstünde,  so  sollte 
wohl  gut  seyn  die  Jahrzahl  1770  drauf  zu  sezen,  wie  wohl  auch 
das  wieder  bey  andern  Leuten  Nachdenken  erwecken  würde,  die 
wohl  wissen,  dass  wir  ao.  1770  solche  Lieder  noch  nicht  machen 
konnten.  Mach  Ers,  wie  Er  will!  Wenns  angehn  will,  so  bring 
ich  noch  einige  Stücklein  für  den  Almanach  mit.  Ich  hab  eins 
sonderlich  noch  in  der  Mache,  das  Timons  Monolog*®)  heissen 
soll,  und,  wie  ich  hoffe,  ein  weidliches  Stück  werden  wird.  Noch 
einsl  Boie  hat,  ganz  wider  meinen  Willen,  zwey  kleine  Stücke, 
die  ich  eigentlich  für  irgend  einen  Almanach  bestimmt  hatte,  ins 
Musäum  drucken  lassen.  Sie  heissen:  Schön  Susschen  und 
Der  Hund  aus  der  Pfennigschenke.  Von  tausend  Almanachs- 
lesern,  lesen  neunhundert  das  Museum  nicht  und  so  umgekehrt. 
Nehm  Er  doch  die  mit  in  den  Almanach,  nisi  quid  obstat.  Muss 
denn  gerade  lauter  ungedrucktes  in  die  Almanache  jezt  kommen? 
Olim  non  erat  sie. 


**)  'Jupiters  Reise  auf  die  Erde'  S.  35  unterzeichnet  G.  H.,  nach 
Redlich  vielleicht  von  C.  F.  Hindenburg. 

^*)  Etwas  von  Schwerdtem  und  Schwerdtern  von  Hauern  und 
Hanern  S.  27  unterzeichnet  L.  J.  C.  J.,  von  unbekanntem  Verfasser. 

")  'Antwort  an  Göckingk'  S.  191. 

")  'Das  Mädel  das  ich  meine'  S.  184.  Mollys  Geburtstag  fiel  auf 
den  24.  Angnst. 

»)  VgL  Strodtmann  1,  231  f.  266 ;  2,  265. 


90     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Gbeckingk. 

Im  T.  Merkur  wird  nächstens  was  recht  gelahrtes  von  mir 
erscheinen.  *•) 

Adio !  Grüss  Er  Seine  Weiber  von  mir  Und  meinen  Weibern. 

B.   . 

Zwischen  Goeckingks  Briefe  Nr.  262  (1.  September) 
und  Nr.  266  (30.  September)  fallt  oflPenbar  Bürgers  Besuch 
in  Ellrich.  Der  letztere  Brief  wurde  von  zwei  Damen  über- 
bracht.   Bürger  hatte  den  Freund  selbst  erwartet. 

21.  Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  d.  2.  October  1776. 

Ey  I  Hol  Ihn  auch  Dieser  und  Jener,  Herr  Gevatter !  Einem 
die  Freude  so  zu  verderben  und  aus  zu  bleiben!  Wozu  ist  nun 
all  das  Mastvieh  geschlachtet?  Wozu  sind  Hasen  und  Feldhühner 
geschossen  und  Lerchen  gefangen?  Wozu  der  Pflaumenkuchen 
gebacken?  Wozu  das  ganze  Haus  geschmückt  und  mit  Besemen 
gefegt?  Und  achl  die  Spinnen  aus  ihren  friedsaraen  Winkeln 
vertrieben?  —  So  gut  wirds  Ihm  wahrhaftig  in  seinem  Leben 
nicht  wieder  geboten  und  wenn  Er  noch  hundert  mal  herkäme. 
Ich  sprang,  wie  unsinnig,  hinaus  auf  die  Heerstrasse,  wo  mir  an- 
gesagt wurde,  dass  ein  Wagen  von  Ellrich  hielt.  Aber  nichts, 
als  ein  kleiner  winziger  Brief,  statt  des  Herrn  Gevatters!  Die 
beyden  Damen  bat  ich  zwar  instanter,  instantius  —  aber  nicht 
instantissime  —  auszusteigen  und  erst  das  Mittagsbrod  bey  mir 
zu  essen.  Aber  —  wars  Ernst  oder  Ziererey?  —  sie  verbatens, 
weil  sie  nach  Göttingen  eilen  müsten.  In  Grunde  wars  mir  lieb, 
dass  sie  nicht  ausstiegen,  weil  ich  allerley  übele  humores  über 
Euer  Satanisches  Ausbleiben  in  mir  sich  regen  fühlte.  Ich  bin 
auch  nun  diesen  ganzen  Tag  Brumbär.  Pfui!  Den  schönen 
heitern  Tag  einem  so  zu  verderben!  Wir  hätten  uns  hinten  auf 
meiner  Wiese  so  hübsch  wälzen  und  für  Freude  schreyen  können. 
Bettelmann  ist  nun  auch  umsonst  gewaschen  und  gekämmet. 
Neh,  Herr  Gevatter,  so  gut  wirds  Ihm  nun  und  nimmer  mehr 
wieder. 

Künftigen  Montag  wollen  die  Damen  mit  dem  absolvirenden 
Herrn  Sohn  wieder  hier  durchkommen  und  zum  Mittagsbrod  ab- 
treten. 

Unser  Brief  an  Diederich  ist  abgegangen,  aber  Antwort  hab 
ich  noch  nicht  wieder.  Doch  glaub  ich  das  Diederich  anbeissen 
wird,  weil  er  mir  mündlich  hat  sagen  lassen,  wenns  mir  irgend 
möglich  w^äre,  so  möcht  ich  doch  diese  Woche  hinein  kommen, 
indem  er  was  sehr  angelegentliches  mit  mir  abzureden  hätte. 
Gott  seegne  uns  die  104  Ducaten! 


")  ^Bürger  an  einen  Freund  über  seine  tentsche  Ilias'  Teutscher 
Merkur,  October  1776  S.  46  S, 


Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.       91 

Adlest  Meine  Frau  grüst  Euer  ganzes  Haus,  Euch  aber 
ausgeschlossen,  weil  Ihr  alle  ihre  stattlichen  Zubereitungen  ver- 
eitelt habet.  Ich  küsse  Euch  —  Nein!  Euch  will  ich  dies  mal 
auch  nicht  küssen  —  ich  küsse  als  bloss  Euer  Weiblein  und  den 
kleinen  Enkühhhlihh.  Brg. 

Goeckingks  humoristische  Antwort  vom  13.  October  1776 

Nr.  268  erwähnt  bereits  Vossens  Vorschlag  zur  Vereinigung 

der  beiden  Musenalmanache,   auf  den  sich  der  Schluss  des 

folgenden  Briefes  bezieht: 

22.  Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  d.  7.  November  1776. 

Lieber  Bruder  in  dem  Herrn, 

Gleichwie  die  Auserwählten  mancherley  erdulden  müssen,  also 
kommen  auch  uns  von  Gottes  Gnaden  jezt  verschiedene  poetische 
Trübsale  zu  Hause  und  zu  Hofe.  Dir,  Freund,  sey  es  zugeheult 
und  Du  wirst  Dich  nicht  entbrechen  können,  samt  Spadillen  herz- 
liches Beyleid  zurück  zu  heulen. 

Erstlich  hat  ein  gewisser  Schuster  Daniel  Seuberlich  zu 
Rizmück  an  der  Elbe  —  welcher  aber  eigentlich  der  wohl 
fürwizige  SpassVogel  unter  der  Stechbahn  an  der  Spree  ist  — 
eynen  kleynen  feynen  Almanach  voll  Volkslieder  herausgegeben 
und  sich  erfrechet,  in  der  Vorrede  uns  hier  und  da  verblümter 
weise  mit  seiner  Pfrieme  zu  pricken.  Der  Herr  wird  ja  das  Al- 
manächle  wohl  schon  gesehn  haben.  Sonst  wollt  ichs  Ihm 
schicken.  Herr  Ursinus  in  Berlin  schickte  mir  ihn  zu,  ehe  er 
noch  ausgegeben  wurde,  um  desto  geschwinder  Verfügungen 
drauf  machen  zu  können.  Aber  unsre  Maxime  ist  bey  der 
gleichen  Verfügungen:  festina  lente. 

Das  zweyte  Trübsal  ist :  Ein  grober  ungeschliffner  Schweizer 
hat  in  einem  neulich  herausgekommenen  Büchlein:  Beyträge  in 
das  Archiv  des  deutschen  Parnasses,  unsern  Homer  gar 
unziemlich  empfangen  und  bewillkommt.  Doch  da  mann  die 
Dummheit  dieses  Knollen  gleich  aus  den  Pröbchen  seines  Tadels 
sichtbarlich  abnehmen  kann,  so  ist  leicht  Trost  dagegen  zu 
schöpfen. 

Das  dritte  Trübsal  ist  das  ärgste  und  ich  muss  bekennen, 
dass  es  alle  KräfTte  meines  Geistes  in  Aufruhr  zur  Gegenwehr  ge- 
bracht hat.  Denkt,  Freund,  vor  wenigen  Tagen  erfahre  ich,  dass 
der  Graf  Friedr.  Leop.  v.  Stollherg  sich  erkühnet,  in  dem  kom- 
menden Novemberstück  des  Museums  eine  Übersezung  der  Ilias 
in  Hexametern  anzukündigen  und  das  XXte  Buch  zur  Probe  zu 
geben,  welches  ich  zwar  noch  nicht  gesehen,  aber  doch  mir  ge- 
rühmt worden  ist.  Das  Unternehmen  soll  Klopstock,  welcher 
glaubt,  dass  ausser  Hexametern  gar  keine  Seeligkeit  in  der  ganzen 
teutschen  Poeterey  zu  hoffen  sey,  zum  Urheber  haben.   Aber  sagt 


92     Sauer,  Aus  dem  Briefwecheel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

mir  einmal,  Freund,  unpartheyisch:  Ob  das  Recht  von  Stollberg, 
der  mein  Freund  war,  gethan  sey,  gcsezt  er  wäre  mit  meiner 
Übersezung  auch  nicht  zufrieden  gewesen  ?  Ich  wenigstens  hält 
es  nicht  gethan,  wenn  ich  Stollberg  und  er  Bürger  gewesen  wäre. 
Doch  dem  sey,  wie  ihm  wolle,  ich  habe  einen  Strauss  beschlossen, 
in  welchem  einer  von  uns  beyden  das  Leben  lassen  soll.  Wie 
gefällt  Euch  die  vorläufige  ßravade^^),  die  ich  ins  nächste  Stück 
des  Museums  rücken  lassen  will?  Hier  ist  sie  abschrifftlich.  Ich 
werde  mit  dem  XXten  Buch  neben  ihn  treten.  Und  seine  Arbeit 
bis  auf  das  kleinste  Spreustäubchen  sichten.  — 

Vossen  ist  gar  sehr  an  einer  Verbrüderung  der  Almanache 
gelegen,  wie  beykommende  Briefe  von  ihm  undBoien^^),  die  ich 
aber  sub  üde  silentii  Euch  communicire  und  zurück  haben  muss, 
des  breitern  besagen. 

Wenn  Voss  schreibt,  dass  er  bereits  durch  Boien  wisse,  wie 
ich  Ihnen  den  Vorschlag  zur  Vereinigung  gethan  hätte,  so  hat 
ihm  Boie  was  vorgelogen,  wie  es  mir  denn  auch  noch  nie  in  den 
Sinn  gekommen  ist,  zum  Frommen  dieser  Mariage  zu  arbeiten. 
Was  Ihr  nun  thun  könnt  und  wollt,  das  —  steht  bey  Euch, 
Freund.  Die  Almanache,  an  und  für  sich  selbst,  sind  mir  gleich 
lieb,  wie  wohl  der  Herausgeber  des  Göltinger  mir  von  Gott  und 
Rechtswegen  lieber  und  wehrter  ist.  Thut  was  Ihr  wollt;  es 
wird  wohl  gethan  seyn,  weil  Euch  ja  der  Himmel  schon  lange 
Euer  majorennes  verständiges  Alter  beschreiten  lassen.  — 
Diederich  müste  wohl  ein  bischen  gezwiebelt  werden,  weil  er  uns 
die  104  Ducaten  vor  erst  zu  Wasser  macht.  Er  hat  mir  jezt 
Vorschläge  wegen  meines  Homer  gethan.  Ich  denke  aber,  wenn 
er  vom  dritten  Trübsal  Wind  kriegt,  wird  seine  Dummheit  die 
Seegel  wohl  einziehn. 

Adio!  Viel  schöne  Grüsse  an  Euer  Weib  und  junge  Brut 
von  uns  und  unsrer  jungen  Brut!  B. 

Goeckingk  legte  seinem  Antwortbriefe  (Nr.  279,  1 5.  No- 
vember) Vossens  oben  erwähnten  Brief  bei;  ich  rücke  ihn 
zur  Erklärung  des  folgenden  aus  dem  v.  Goeckingkschen 
Nachlasse  hier  ein: 

Voss  an  Goeckingk. 

Wandsbeck,  den  4.  October  1776. 

Mein  lieber  Göckingk, 

Ich  schicke  Ihnen  hier  meinen  neuen  Almanach,  und  danke 
noch  einmal  für  den  Antheil,  den  Sie  daran  haben. 


'<»)  'An  Friedrich  Leopold  Grafen  zu  Stolberg'  Deutuches  Museum, 
December  1776  S.  1062. 

«»)  Strodtmann  Nr.  270  und  272. 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     93 

Ihren  habe  ich  gestern  in  Hamburg  gesehn,  und  mich  so 
über  Ihre,  Nantchens,  Bürgers,  Pfeffels,  Gieims  und  einige  andre 
Gedichte  gefreut,  dass  ich  darüber  vergass,  in  welchem  Almanach 
sie  stunden.  Ich  wünsche  Ihnen  Glück  zu  Ihrer  Denkungsart, 
und  zu  dem  edlen  Weibe,  das  so  mit  Ihnen  denkt  und  empfindet. 
Was  gäbe  ich  darum,  einmal  ein  Zeuge  der  Wonne  zu  seyn,  die 
Ihnen  die  Liebe  einer  solchen  Engelseele  schafTt! 

Ein  Mann,  der  selbst  so  edel  denkt,  wird  seinen  unbekannten 
Freund  nicht  durch  den  Argwohn  beleidigen,  dass  diess  eine  Vor- 
rede zu  dem  folgenden  seyn  soll.  Ich  bin  lange  unschlüssig 
gewesen,  ob  ichs  Ihnen  antragen  dürfte;  Klopstock  hat  mich 
gestern  völlig  bestimmt,  es  ohne  Umweg  zu  thun.  Sie  sammeln 
Dieterichs  Almanach,  wie  Sie  sagen,  bloss  aus  Liebe  zu  den 
schönen  Wissenschaften,  und  sehn  weder  auf  Erwerb,  noch  auf 
die  armselige  Ehre,  Herausgeber  eines  Kalenders  zu  seyn.  Als 
Sie  die  Sammlung  übernahmen,  wussten  Sie  nichts  von  meinen 
Ansprüchen  auf  den  Almanach,  und  wie  sehr  ichs  brauchte, 
meine  Ansprüche  zu  behaupten.  Besondere  Verpflichtungen  hatten 
Sie  Dietrichen  gar  nicht;  und  welche  hätten  Sie  haben  können, 
ihm  zur  Unterdrückung  eines  Fremden,  der  sein  Recht  behauptete, 
die  Hand  zu  bieten?  Es  war  also  der  Vorsaz,  den  guten  Ge- 
schmack ausbreiten  zu  helfen.  Aber,  mein  lieber  HGrr  Göckingk, 
wenn  Sie  sich  in  dem  Mittel  hiezu  geirrt  hätten?  Ich  gestehe 
Ihnen  aufrichtig,  dass  mirs  bey  der  Hülfe  so  vieler  Dichter,  die 
ihren  Ruhm  verdienen,  sauer  wird,  jährlich  eine  Sammlung  zu 
liefern,  die  ich  mit  gutem  Gewissen  in  die  Welt  schicken  kann; 
und  Sie  werden  nicht  leugnen,  dass  es  Ihnen  bey  weniger  Hülfe 
noch  saurer  werden  muss.  Sie  sind  unrecht,  wenn  Sie  glauben, 
dass  ich  nur  für  die  Gelehrten  oder  für  das  verfeinerte  Publikum 
sammle;  diess  wäre  wider  die  Absicht  eines  Taschenbuchs,  viel- 
leicht gar  wider  die  eines  guten  Gedichts.  Wir  hindern  uns  also 
offenbar  einander;  denn  beyde  Almanache  zu  kaufen,  ist  die 
Sache  von  wenigen,  und  so  bleiben  unsern  Lesern,  entweder  in 
Ihrem  oder  in  meinem,  Gedichte  unbekannt,  die  eine  sehr  gute 
Wirkung  auf  ihr  Herz  und  ihren  Geschmack  würden  gehabt 
haben.  Warum  vereinigen  Sie  sich  nicht  mit  mir,  und  sezen 
mich  dadurch  in  den  Stand,  unsern  Mädchen  und  Jünglingen  den 
Kern  unsrer  Poesie  ohne  Schal'  und  Hülse,  die  nur  zur  Auf- 
häufung der  Schüssel  da  sind,  vorzusezen? 

Ich  habe  Ihnen  noch  mehr  anzuführen,  das,  wie  ich  hoffe, 
Ihr  Herz  näher  angehn  wird.  Der  Almanach  ist  mein  Hab  und 
Gut.  Meine  Gesundheit  lässt  mir  zu  wenig  Ämtern  Aussicht. 
Ich  habe  bey  dem  Selbstverlage  so  verloren,  dass  ich  fast  das 
ganze  Honorarium  für  den  diessjährigen  Almanach  (400  rtl.  Ld.) 
habe  zusezen  müssen,  und  jezt  von  dem  lebe,  was  ich  kümmer- 
lich aus  dem  Schifbruche  retten  kann.  Und,  Göckingk!  Nant- 
chens Geliebter!    —    ich  habe  ein   Mädchen,   das   ich   auf  diese 


94     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

400  rtl.  nehmen  könnte,  wenn  Sie  sie  mir  nicht  unsicher  machten. 
Es  ist  Boies  Schwester,  und  verdient,  Nantchens  Freundm  zu  seyn. 

Wenn  Sies  überlegen,  wirds  Ihnen  unmöglich  seyn,  einem 
Manne  länger  beyzustehn,  der  sich  alle  Mittel  erlaubt,  mir  zu 
schaden.  Ihr  Wort,  das  Sie  in  der  kleinen  Nachricht  hinterm 
Almanach  geben,  kunflig  die  und  die  Gedichte  zu  drucken,  kann 
Sie  nicht  hindern;  denn  wie  viele  Verhindrungen  Hessen  sich 
nicht  anführen,  und  wahre? 

Antworten  Sie  mir  bald  (abzugeben  bey  D.  Mumsen  auf  dem 
neuen  Wall  in  Hamburg)  und  halten  Sie  meinen  Brief,  Dietrichs 
halben,  geheim. 

Meinen  Gruss  an  die  liebe  Sängerin  von  Ihrem  ergebensten 

Voss. 

23.  Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  d.  21.  November  1776. 

Dank,  für  Euren  Trostbrief!  Der  Himmel  vergelt  ihn  Euch 
in  allen  Euren  geist-  und  leiblichen  sonderlich  in  den  poetischen 
Nöthen  und  Trübsalen,  welchen  leztern  noch  kein  Musensobn 
vom  Homer  an,  bis  herab  auf  den  Versemann,  dem  Ihr  2  ggr. 
Honorarium  für  seine  Beyträge  zum  Musen  Almanach  zuschicktet, 
entgangen  ist.  —  Den  Schwizer  will  ich  laufen  lassen,  den  Grafen 
aber  bas  zerbläuen  und  dem  Spassvogel  unter  der  Stechbahn  die 
bunten  Höschen  herunterziehen  und  mit  zarten  Rüthlein  ihm  den 
wollüstigen  Ars  ein  wenig  marmeliren. 

Der  Brief  des  armen  Schluckers  Voss  hat  mich  schier 
jammrig  gemacht.  Es  mag  wohl  seyn  ein  elend  jämmerlich  Ding 
um  einen  armen  Musensohn,  der  da  ist  verliebt,  wie  ein  März 
Kater,  gern  heurathen  wollt  und  künnt  doch  nicht.  Doch  hab 
ich  lachen  müssen,  dass  er  sich  einbildet,  er  habe  in  Puncto 
Nantchens  Euch  bey  dem  weichsten  Fleckchen  gepackt.  —  Nant- 
chens Geliebter!  —  Dortchens  Geliebter!  —  Grossendank I  Mit 
den  Emphasen  ists  vorbey.  Das  Argumentum  paupertatis  wird 
Euch,  wie  mich,  wohl  mehr  gerührt  haben.  Denn  er  ist  wirklich 
arm,  wie  eine  Kirchenmaus  und  kränklich  noch  dazu.  Schon  in 
Göttingen  hatl*  er  verschiedene  male  das  Blutspeyen.  Wahrschein- 
lich geht  er  auch  in  Kurzem  den  Weg  alles  Hölty'schen  Fleisches. 
Wenn  Euch  also  sonst  nichts  abhält,  als  das  Dietrichsche  Hono- 
rarium, welches  ja  ohnehin  Euren  Kohl  um  nichts  fetter  macht, 
so  thut  ein  Werk  der  Barmherzigkeit,  wie  wohl  es  vielleicht 
gründlichere  und  nüzlichere  Barmherzigkeit  wäre,  dem  Heuraths- 
kizel  bey  einem  ehrlichen  Kerl  zu  steuern.  Habs  aber  doch  mein 
Seel!  in  meinem  Leben  nicht  toller  gehört,  als  auf  einen  Musen- 
kalender ein  Weib  zu  nehmen.  Es  ist  ja  doch  kein  Galendarium 
perpetuum.  Die  Zeitläufe  sind  manchmal  wunderlich  und  ab- 
sunderlich.  Es  kann  totaler  poetischer  Miswachs  kommen.  Wie 
leicht  wird  auch  ein  Kontribuent  disgustirt.   Dem  folgt  ein  andrer 


Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     95 

dem  ein  dritter   und    dem    der    ganze  Tross  nach.     O   wie  viel 
sichrer  ists  dagegen,  Domherr  oder  Kanonikus  zu  seyn! 

Wenn  Ihr  Voss  Eure  Hand  gebt,  so  könnt  Ihr  ja  leicht  eben 
so  viel  Honorarium  Euch  stipuliren  lassen,  als  Ihr  von  Dieterich 
deductis  dedacendis  erübrigt.  Allenfalls  tretet  vorerst  nur  mit 
ihm  in  ein  Konkubinat.  Denn  das:  sich  nicht  scheiden,  es 
sey  denn,  dass  der  Tod  scheide;  ist  so  was.  —  —  — 

Hört  einmall  Sollte  sich  denn  dem  Musen  Almanach  nicht 
ein  andres  Institut  substituiren  lassen?  Etwa  ein  Märchen-  oder 
sonst  ein  Schnurren  Almanach.  Last  uns  mal  wieder  im  ganzen 
Ernst  auf  ein  104  Ducaten  Project  denken.  —  — 

Ey!  lyrische  Blumentese  hin!  lyrische  Blumenlese  her!  In 
unsern  Gärten  wachsen  keine  Blümlcin  mehr,  sondern  lauter 
Gedern.  Es  wird  auch  verteufelt  lange  an  jenem  Strausse  ge- 
bunden. 

Macht  mir  den  Adlerkant  hQhsch  bald  fertig.  Es  sezt  Louis- 
d'or  dafür.  Ob  nur  blinde  ohne  Rändchen,  das  weiss  ich  nicht. 
Zu  jeziger  Zeit  gehn  sie  immer  mit  durch.  Die  Gold  Wagen 
scheinen  ganz  aus  der  Mode  zu  kommen.  Es  wirft  doch  wenig- 
stens eine  Jope  für  Euren  Jungen  ab. 

Eure  Fabeln,  Freund,  sind  gar  allerliebst.  Es  fehlt  ihnen 
nur,  dünkt  mich,  an  einigen  ganz  kleinen  Kleinigkeiten,  um  völlig 
die  PfefTelsche  Leichtigkeit  und  Bonhommie  zu  haben.  Nur  fein 
mehr!  Nächstens  will  ich  Euch  schreiben,  oder  noch  besser,  wenn 
Ihr  selber  kommt,  sagen,  wo  ich  sie  noch  ein  wenig  gefeilt 
wünschte.  Macht  mir  aber  nur  nicht  wieder  das  Maul  mit  eurem 
Kommen  vergeblich  wässrig.  Indessen  das  sag  ich  Euch:  Es 
wird  verflucht  altagsmässig  zugehn.  So  viel  wird  nicht  gebraten 
und  gesotten  werden,  als  neulich  geschehen  wäre.  Und  nicht 
ein  Besen  nicht  ein  Flederwisch  soll  angesezt  werden. 

Noch  eins!  Seyd  mir  künftig  nicht  so  Papiergeizig  und 
sehreibt  hübsch  in  ordentlichem  Format,  wie  ich.  Denn  eins  ist 
kurz,  das  andre  lang  und  da  flattert  denn  oft  noch  ein  einzelnes 
Blättchen  hinten  nach.  Das  last  sich  denn  nicht  ordentlich  legen, 
heften  und  aufheben.     Das  Archiv  sieht  so  kraus  aus. 

Adies!     Grüsst  Euren  Harem.     Gott  befohlen! 

Bürger. 

Darauf  antwortet  Goeckingk  am  1 5.  December  Nr.  284 ; 

seiner  AufForderung  zu  den  Weihnachtsfeiertagen  bei  dem 

Amtmann  Lüder  in  Herzberg  mit  ihm  zusammenzutreffen 

hatte  Bürger  keine  Folge  leisten  können. 

24.  Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  d.  9.  Januar  1777. 
Muss  ja  wohl  auch  mal  wieder  an  Ihn  schreiben,  liebwehr ter 
Herr  Gevatter.     Ich  habe  dies  lezte  Fest  nicht  alzu  vergnügt  be- 


96     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

gangen,  weil  ich  an  einem  böslich  geschwollnen  Halse  krank  ge- 
wesen bin.  D.  Weiss  hat  mich  nun  wieder  zurecht  kuranzt,  wie 
wohl  es  mir  noch  immer  ein  bissei  in  dem  Halse  munkelt.  Ich 
wollte  heut  wohl  den  Volkslieder  Almanach  überschicken,  aber 
der  Henker  weiss,  wo  ich  ihn  gelassen  habe.  Ich  kann  ihn 
nirgends  finden.  Indessen  communicire  ich  Ihm  ein  Werklein  ^^) 
zu  Seiner  Belustigung,  das  ich  zwar  schon  vor  6  oder  8  Jahren 
gemacht,  aber  kürzlich  durchaus  neu  umgepräget  und  gelegenheit- 
lich den  Stechbähnler  darin  ein  bissei  gezwiebelt  habe.  Das 
Manuscript  muss  ich  wieder  zurück  haben,  weil  ichs  irgendwo 
einzeln  drucken  lassen  will.  Boie  untersteht  sich  nicht,  das  Ding 
ins  Museum  zu  nehmen.  Mach  Er  mir  doch  auf  den  Fips  Bunt 
Jack  und  andere  ungewaschne  Buben  einige  Strophen  hinzu. 

Dass  Freund  Bellfort  ^^)  es  nicht  ^um  Zank  zwischen  Euch 
und  Gleim  kommen  lassen 

Das  lohn  ihm  Golt  in  dieser  Zeit  . 

Und  in  der  frohen  Ewigkeit. 

Dass  Jacob!  nicht  zum  heurathen  kommen  kann,  thut  mir 
von  Herzen  leid.  Denn  mit  dem  Iten  MSrz  a.  c.  hab*  ich  dann 
eine  Wette  von  einem  neuen  Kleide,  mit  Gold  besezt,  an  den 
Lehm-Secretär  Gleim  verlohren.  Zu  dieser  Weite  verleitete  mich 
der  treuherzige  Jacobi  selbst,  welcher  in  ganzem  Ernst  es  anzu- 
nehmen schien,  wenn  man  gegen  ihn  behauptete,  dass  er  binnen 
Jahr  und  Tag  sich  Christlich  beweiben  würde.  Das  geschah 
vorigen  Winter  in  Halberstadt. 

Dass  Er  den  Adlerkant  nicht  fertig  macht,  Herr  Gevatter,  ist 
nicht  artig  und  wohl  gethan,  da  ihm  vermuthlich  dies  Stukle  mit 
einem  Ruck  höher  auf  die  Leiter  des  Ruhmes  hinauf  schieben 
wird,  als  seine  übrigen  Werke  zusammen. 

Stolbergs  Homer  ist  nun  erschienen.  Stolberg  konnte  frey- 
lich nichts  schlechtes  liefern ;  allein  dennoch  denke  ich  nicht,  dass 
er  mir  grossen  Abbruch  thun  wird.  Meine  Dollmetschung  behält 
alle  mal  die  abgesondertste  Eigenheit  in  Versart,  Sprache,  Aus- 
druck, Wendung  etc.  Wenn  beyde  Übersezungen  mit  der  Zeit 
vergessen  werden  sollten,  so  bin  ich  überzeugt,  dass  die  hexa- 
metrische die  erste  seyn  wird.  Aus  Albernheit,  die  griechischen 
Götter-  und  Heldennahmen  bey  zu  behalten,  thut  er  sich  schon 
allein  grossen  Schaden,  und  das  freut  mich  herzinniglich.  Statt 
Neptun  sagt  er  Poseidaon,  statt  Pluto  Aidoneus,  statt  Mars  Aräs, 
statt  Venus  Afroditä,  statt  Juno  Härä,  statt  Vulkan  Hefaistos,  statt 
Merkur  Hermäs  u.  s.  w.  Durch  solche  Neuerungen  wird  nicht 
ein  Pfifferling  gewonnen.  Wer  wird  sich  dran  gewöhnen,  da  von 
Kindheit  an,   die   lateinischen,  die   doch  auch  nicht  übelklingend 


**)  Prinzessinn  Europa. 
*»)  Scherzhaft  für  Stamford. 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goecldngk.     97 

sind,  sich  so  fest  uns  eingeprägt  haben?  Die  Leute  schlagen 
doch  oft  wunderbare  Wege  zur  Originalität  ein. 

Boie  schreibt  mir  vor  einigen  Tagen  2*),  dass  die  Schröder- 
sche  Schauspielergesellschafft  Shakespears  Hamlet  mit  dem  grösten 
Beyfall  dort  aufgeführt  habe.  Schröder  will  auch  den  Macbeth 
auf  die  Bühne  bringen  und  ich  habe  die  HexenScenen  dazu  ver- 
teutschen  müssen.  Traun!  Herr  Gevatter,  sie  sind  mir  sehr 
koscher  gerathen.^*) 

Dass  Er  mit  seinem  Weiblein  und  Knäblein  vergnügt  lebt, 
freut  mich  von  Herzen.  Ich  gaudire  mich  ebenfals  sehr  über 
mein  kleines  Mädleins-Gemächt.  Es  spricht  nunmehro  eine  grosse 
Menge  Wörter  sehr  vernehmlich  aus.  Es  kennt  alle  Dinge  in 
Stube,  Haus,  Hof  und  Garten;  auch  kennt  es  alle  diese  Dinge 
auf  Kupferstichen  und  Gemälden.  Es  weiss  alle  auch  die  klein- 
sten ausern  Theile  des  menschlichen  Leibes  und  zeigt,  Auge, 
Nase,  Ohr,  Mund  u.  s.  w.  auch  an  den  kleinsten  Figuren  auf 
Vignetten.  Noch  mehr!  Es  unterscheidet  selbst  die  Silhouetten 
seiner  ihr  bekannten  Anverwandten.  Sieht  Er!  Herr  Gevatter, 
Adler  zeugen  keine  Tauben!  Gott  lass  Ihm  eben  das  an  Seinem 
Knaben  bald  erleben  I     Adio!  B. 

Goeckingk  war  mit  diesem  kahlen  Briefe,  'wo  er 
meinen  vor  sich  liegen  gehabt,  jeden  Absatz  angekakt  und 
ein  Paar  Worte  drüber  hingesezt  hat'  nicht  zufrieden.  In 
seiner  Antwort  Nr.  299  (24.  Januar  1777)  stellt  er  einen 
baldigen  Besuch  in  Aassicht,  aus  dem  nichts  geworden  zu 
sein  scheint.  Ein  vierwöchentlicher  Aufenthalt  in  Hannover 
(Februar  und  März)  hinderte  Bürger  am  Schreiben.  Goeckingk 
berichtete  ihm  dahin  über  Eomödienspiel  und  Litteraten- 
besuche Nr.  309,  19.  März  und  begrüsste  ihn  bald  nach 
der  Rückkehr  in  Nr.  313  2.  April.  Zugleich  meldet  er  ihm 
die  inzwischen  abgeschlossene  Verbindung  mit  Voss  und 
übersendet  die  anonyme  Kritik  des  Göttinger  Musenalmanachs 
für  1777,  die  bei  Strodtmann  Nr.  314  abgedruckt  ist.  Mit 
dieser  Sendung  kreuzte  sich: 

25.  Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  den  7.  April  1777. 

Ew.    gevatterschafftl.  Lbden.    haben    wir    hierdurch    unver* 

halten  wollen,   wasmaassen   und  gestalten  wir  kürzlich  über  vier 

Wochen   in  der  Ghurfürstl.  Residenz-  und  Hauptstadt  Hannover 

uns  aufgehalten  und  daselbsten    vor  hohen  und  niedern  Standes- 

«♦)  Strodtmann  Nr.  290. 

»•)  Vgl.  Strodtmann  Nr.  293. 

Viortoyahischrift  f&r  LitteratuiK^echichte  HI  7 


98     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

personen  s.  v.  den  grünen  Esel  gespielt  haben.  Traun!  wir 
können  den  Hannoveranern  keine  Schande  nachsagen,  allermaassen 
der  grüne  Esel  weyland  nur  3  Tage  Aufsehen  machte,  wir 
hingegen  uns  doch  über  vier  Wochen  bey  ziemlicher  Ehre  und 
Reputation  erhalten  haben.  Wären  wir  aber  länger  geblieben, 
so  dürfte  das  endliche  Schicksahl  des  Grünen  Langohrs  uns  eben- 
fals  betroffen  haben.  Nun  mehro  aber  grünet  und  blühet  unser 
Andenken  in  Seegen,  und  unsere  Silhouette,  welche  für  einen 
haaren  Mariengroschen  käuflich  zu  haben  ist,  findet  unter  vielen 
andern  berühmten  und  unberühmten  Köpfen,  ja  selbst  dem,  des 
berüchtigten-  vieler  Mordthaten  bezüchtigten*  vor  einigen  Jahren 
in  Einbeck  geräderten-  und  auf  das  Rad  geflochtenen  Helden 
Rütgeroth  [?],  ihren  guten  Absatz«  Wenn  v^ir  gewollt  hätten, 
so  könnten  wir  auch,  in  Gips  abgegossen,  hausiren  getragen  werden, 
allein  wir  wollten  das  Antliz  und  schöne  Ebenbild  des  Schöpfers 
mit  keinem  Gipsgüsse  beschmieren  lassen.  Übrigens  dienet  zu 
wissen,  dass  die  hohen  und  niedern  Potentaten  Hannovers  sich 
ziemlich  beflissen  haben,  uns  hier,  da  und  dort,  ein  oder  zwey- 
mal  satt  zu  futtern,  woiiir  wir  denn  freylich  auch  bass  genoth- 
sacht  wurden,  gemeiniglich  die  lezte  Komödie  zu  recensiren,  oder 
über  unsern  Homer  und  übrige  poetische  Arbeiten  Red  und 
Antwort  zu  ertheilen.  Meines  Herrn  Gevatters  Ruhm  blüht  da- 
selbst auch  solcher  gestalt,  dass  der  Herr  Gevatter  Ursache  hat, 
sich  darob  zu  freuen.  Der  berühmte  Secretär  des  Stabes,  weyl. 
Herausgeber  verschiedener  Musenalmanache  und  nunmehro  der 
teutschen  Studierstube,  zu  Latein:  Museum  genannt,  entbietet 
dem  Herrn  Gevatter  seinen  Gruss  und  last  herzlich  um  den 
Adlerkant  bitten.  Wenn  es  auch  nur  ein-  oder  zwey  Gesänge 
fürs  erste  wären,  denn  das  ganze  Opus  auf  einmal  zu  geben, 
litte  ja  doch  der  Plaz  nicht;  zudem  wäre  ja  Wielands  Liebe  um 
Liebe  u.  a.  m.  fragments-  und  gesangsweise  herausgekommen. 
Der  Herr  Gevatter  sey  also  nicht  länger  eigensinnig  und  wunder- 
lich und  absunderlich,  sondern  gebe  den  Adlerkant,  der  Ihme 
Ehre  und  auch  für  den  Bogen  1  Louisd^or  einbringen  wird,  ohn- 
verzüglich  heraus.  Gestern  hat  sich  der  berühmte  Herr  Schum- 
melius  von  Magdeburg  auf  einen  beliebigen  Tag  bey  mir  anmelden 
lassen.  Ich  habe  ihn  auf  Mittewochen  beschieden.  —  Was  für 
ein  Pasquill  ist  das,  auf  den  Accisdirector?  ^  Ist  die  Schaubühne 
schon  eröffnet?  Und  wie  ist  der  Debüt  ausgefallen?  Ich  möchte 
mich  des  Freybillets  beynahe  zu  Nuze  machen  und  ein  klein 
Rittchen  zu  Euch  machen.  Agirt  denn  mein  kleiner  Musje  Pathe 
auch  schon  mit?  —  Was  hat  es  für  eine  Bewandtniss  mit  der 
Buchhandlung  des  D.  Barth  in  Heidesheim?  —  Das  sind  mir  ein- 
mal bunte  Fragen  durch  einander!  Er  sieht,  ich  schreibe  ge- 
drungen, denn  der  Plaz  wird  nach  und  nach  alle.  Schreib  er 
mir  hübsch  bald  wieder  gratis  eine  Epistel  über  alle  die  Fragen 
und  auch  über  Schmids  Besuch.     Ich  schenke  Ihm  auch  hiermit 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk«       99 

einen  Hariengroschen,  oder,  von  mir  eine  Silhouette.  Ich  hahe 
neulich  anonymisch  irgend  in  ein  Journal  was  drucken  lassen. 
Mich  soll  wundern,  ob  Er  das  ausspioniren  wird.  AdiesI  Einen 
Gruss  von  etc.  an  Eure  etc.     Sein  Prolog,  Freund,  gefällt  mir. 

Bürger. 

Am  13.  April  antwortet  Bürger  in  einem  durch 
Schummcl  übersandten  launigen  Brief  (26)  auf  die  anonyme 
Becension  und  verlangt  von  Goeckingk,  dass  er  ihm  die 
Erlaubniss  gebe,  sie  mit  einer  Vorrede  und  mit  Noten 
drucken  zu  lassen.  ^Wollt  Ihr,  so  könnt  Ihr  selbst  notas 
Tel  notulas  lang  und  breit  adspergiren;  nur  lasst  uns  den 
langOhr  vor  der  ganzen  Qemeine  des  Herrn  zum  Altar 
schleppen ...  Es  produciren  sich  tagtäglich  gar  viele  und 
fette  Esel  gedruckt  in  Journalen  und  Zeitungen;  aber  so 
einen  feisten  Langohr,  als  diesen,  hab  ich  mai  ne  in  prosa 
ne  in  rime  gesehen.'  Goeckingk  erhält  diesen  Brief  am 
14.  Aprü,  da  er  eben  Nr.  321,  die  Antwort  auf  Bürgers 
25.  Brief  abzuschliessen  im  Begriffe  war  und  gab  in  der 
Nachschrift  sogleich  seine  Zustimmung  zum  Druck :  'Lasst's 
drueken  und  schickt  mir's  vorher  noch  einmal  zu  damit  es 
cum  notis  variorum  gedruckt  werde'. 

Am  1 .  Mai  zeigt  Bürger  (27)  Goeckingk  den  Tod  seines 
Schwiegervaters  an  in  Worten,  die  sich  theilweise  mit 
dem  Briefe  an  Boie  Nr.  327  decken.  In  seinem  Condolenz- 
brief  vom  10.  Mai  Nr.  335  greift  Goeckingk  auf  Bürgers 
Schreiben  26  zurück  und  fragt  zugleich  um  Rath,  ob  er 
sich  unter  die  Freimaurer  aufnehmen  lassen  solle.  In  seiner 
ersten  Antwort  (28)  vom  19.  Mai,  in  der  er  dem  Freunde 
seine  i^ssichten  auf  die  Erlangung  der  Niedecker  Amt- 
mannsstelle  darlegt,  ignorirt  Bürger  diese  Frage,  widmet 
ihr  aber  eine  Woche  später  einen  eigenen  Brief.  Ob 
Goeckingk  die  Bitte  vielleicht  inzwischen  wiederholt  habe, 
ist  nicht  ersichtlich. 

29.  Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  den  29.  May  1777. 

Der  Herr  Gevatter  will  also  ein  Frey  Maurer  werden,  wie 
ich  aus  seinem  Epistolarschreiben  ersehe  und  möchte  gern  eines 
und  das  andere,  wenn  ich  ihn  recht  verstehe,  von  mir  wissen. 
Ich  will  gerne  dem  Verlangen  ein  Genüge  thun  und  Ihm  so  viele 
Notiz  geben,  als  ich  darf. 


\Q0      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Vor  allen  Dingen  rathe  ich  weder  zu,  noch  ab;  sondern 
überlasse  alles  bloss  Ihrem  eigenen  Triebe.  Denn  die  Proselyten- 
macherey  widerstrebt  dem  ächten  Geiste  der  Freymaurerey,  Wir 
dürfen  Niemand  bereden,  sich  mit  uns  zu  verbinden.  Sollte  es 
hier  oder  da  dennoch  geschehen,  so  ist  das  nicht  recht.  Ich 
möchte  Niemand  auf  dem  Gewissen  haben,  den  ich  etwa  beredet 
hätte  und  welcher  etwa  hernach  die  gesuchte  Rechnung  nicht 
fönde.    Am  allerwenigsten  aber  meinen  lieben  Herrn  Gevatter. 

Troz  der  Würde  und  Vortreflichkeit  der  Freymaurerey,  wo- 
von ich  überzeugt  bin,  kann  es  dennoch  zu  Hunderten  und 
Tausenden  geben,  die  nicht  fanden,  was  sie  suchten.  Die  Frey- 
maurerey ist  ein  weitläufiges  Studium,  Nicht  jeder  hat  Gelegen- 
heit alles  zu  ergründen.  Andern  wieder,  welche  vielleicht  Ge- 
legenheit hatten  fehlt  es  entweder  an  Willen  oder  an  Talenten. 
Es  giebt  verschiedene  Stufen  und  Grade  der  Erkänntniss.  Die 
in  den  niedern  Graden  wissen  nicht,  was  die  in  den  höhern 
wissen.  Aber  auch  unter  Brüdern  einerley  Grades  excellirt  einer 
vor  dem  Andern.  Der  Nuzen  der  Freymaurerey  kann  für  Man- 
chen unter  manchen  Umständen  von  ganz  unschäzbarem  Wehrt 
seyn.  Mancher  hinwiederum  hat  wenigem  Nuzen.  Mancher  viel- 
leicht gar  keinen.  Das  kömmt  alles  auf  Situationen  und  Um- 
stände an.  So  muss  z.  B.  einem  Reisenden  die  FreyMaurerey 
zu  weit  unendlichem  Nuzen  gereichen,  als  mir  in  meinem  Wöll- 
mershausen. 

Anlangend  den  Überlauf,  wovor  der  HErr  Gevatter  sich 
fürchtet,  so  muss  ich  Ihm  aufrichtig  sagen,  dass  ich  von  meinen 
Brüdern  in  Göttingen  weit  weniger  heimgesucht  werde,  als  von 
dasigen  Schöngeistergesellen.  Die  Maurerische  Verbindung  führt 
das  nicht  mit  sich,  dass  man  einander  gerade  auf  dem  Halse 
liegen  muss.  Man  ist  nichts  weniger  als  genöthigt,  mit  jedem 
Bruder  ausser  der  Loge  Umgang  zu  pflegen.  Ich  sollte  nicht 
denken,  dass  die  Maurerey  Ihnen  in  EUrich  viel  mehr  und 
lästigern  Überlauf,  als  bisher  zuziehen  würde.  Denn  es  können 
zehn  zwanzig  und  mehr  Brüder  vielleicht  durch  Ellriclf  reisen, 
welche  wissen,  dass  Sie  ein  Maurer  sind,  und  doch  nicht  zu- 
sprechen, es  müsten  denn  besondere  Umstände  solches  veran- 
lassen. Wäre  der  Herr  kein  Poet  und  hätte  den  leidigen  Ruhm 
nicht  so  dürft  er  wahrhaftig  der  Maqonnerie  wegen  gar  wenig 
Zuspruch  haben. 

Da  hat  er,  was  er  zu  wissen  verlangt.  Nun  thu  Er  was 
Er  will.  Sollte  er  den  Schritt  thun,  so  wünschte  ich  freylich, 
dass  die  Aufnahme  in  der  Loge  zum  goldnen  Zirkel  in  Göttingen, 
zu  welcher  ich  mich  halte,  und  welche  zu  dem  Corpori  der 
grossen  Landesloge  in  Berlin  gehört,  geschehen  möchte.  Das 
weiss  Er  ja  wohl,  dass  es  zwey  Hauptsecten  jetzt  in  Deutschland 
gebe.  Eine  nennt  sich  von  der  stricten  Observanz.  Diese 
ist  uns  entg^en.     Wir  halten  dafür,  dass   diese   nicht  auf  dem 


Sauer,  Aub  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  tmd  Goeddngk.      101 

rechten  Wege  und  ihr  Entzweck  nicht  der  der  alten  ächten  Mau- 
rerey  sey,  dessen  wir  uns  rühmen.  Jene  mögen  vielleicht  das 
von  uns  behaupten.  Sit  ut  sit  Ich  kann  mich  hierüber  nicht 
weiter  auslassen.  Unsere  Parthey  ist  aber  diejenige,  welcher  der 
König  von  Preussen  das  Protectorium  bewilliget  hat;  und  vielleicht 
dürfte  mit  der  Zeit  Jene  von  unserer  verschlungen  werden. 

Will  nun  der  Herr  Gevatter  in  ganzem  Ernst  ein  Freymaurer 
werden,  und  es  ist  nicht  etwa  mehr  seiner  Gonvenienz,  sich  bey 
einer  andern  Loge  au&iehmen  zu  lassen,  so  melde  Er  mir  bald 
seinen  Entschluss:  Ich  will  Sie  dann  bey  unserer  Loge  in  Vor- 
schlag bringen.  Falls  nun  die  Aufnahme  beliebt  und  Terminus 
dazu  angesagt  wird,  so  will  ich  solchen  bey  Zeiten  kund  thun, 
damit  der  Herr  Gevatter  sich  endlich  einmal  herscheere.  Denn 
sonst  wird  aus  seinem  Besuch  doch  noch  nichts. 

Vor  mir  hergegen  ist  der  Herr  so  gar  sicher  nicht.  Denn 
sieht  er,  ich  habe  mir  ein  gar  stattliches  Ross  vor  einigen  Tagen 
gekauft.  Es  ist  feuergelb,  wie  ein  Salamander,  dahero  es  denn 
auch  von  mir  q>Xo^  benahmset  worden  ist.  Dieser  Flox  ist  von 
gar  ansehnlichem  GewSchs;  kann  gar  ansehnliche  Schritte  machen 
und  muss  mich  wenigstens  in  4  Stunden  nach  EUrich  schleppen 
können. 

Aber  der  ansehnliche  Flox  kostet  auch  gar  ansehnliche  Louisd^or 
der  Himmel  gebe  feyn  Gedeyhen. 

Wie  weit  ist  es  denn  mit  Ihrem  heurigen  Almanach  ge- 
diehen? Mir  wird  nach  gerade  seh  wühl  um  das  Viaticum  welches 
ich  Euch  schuldig  bin.  Voss  hat  taliter  qualiter  das  Seinige.  Es 
fehlt  mir  zwar  nicht  an  Sujets,  aber  der  Teufel  versificire  unter 
solchen  Umständen,  als  ich  jezt  bin.  Doch  —  Ein  Vierteljährchen 
haben  wir  ja  wohl  noch  Zeit.  Ich  will  unter  dessen  versuchen, 
noch  recht  was  stattliches  zusammen  zu  kuranzen. 

Anbey  kommen  auch  Eure  Fabeln  zurück.  Mir  deucht  die 
Erzählung  ist  hie  oder  da  noch  etwas  lendenlahm.  Ich  kann 
Euch  das  nicht  recht  beschreiben.  Wenns  aber  wahr  ist,  so 
werdet  Ihrs  wohl  fühlen;  und  fühlt  Ihr  nichts,  so  mags  wohl 
nicht  wahr  seyn. 

Meine  Hoffnungen  sind  noch  nicht  entschieden.  Es  ist  dazu 
gut,  dass  es  so  langsam  geht,  dass  ich  ein  bischen  kühl  werde 
und  die  widrige  Entscheidung  desto  gleichgültiger  hernach  ver- 
nehme. 

Ich  habe  mir  vorgenommen,  wenn  dies  fehlschlägt,  in  meinem 
Leben  um  nichts  wieder  zu  ambiren. 

Adio !  Euer  GABürger. 

Goeckingk  antwortet  auf  beide  Briefe  am  9.  Juni, 
Nr.  339;  an  demselben  Tage  ist  Bürgers  Billet  30  ge- 
schrieben, in  welchem  ein  Freimaurer,  der  Baumeister 
Heyne,  an  Goeckingk  empfohlen  wird.    Der  Name  kehrt 


1 02      Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  nnd  Goeckingk. 

in  den  folgenden  Briefen  öfters  wieder.  Brief  31  vom 
19.  Juni  enthält:  Einladung,  Schilderung  des  Flox,  Aussichten 
auf  die  Stelle  eines  Gerichtsschulzen  in  Göttingen  (vgl.  an 
Boie  Kr.  341):  'Es  ist  dies  eine  gute  und  viel  bessere  Stelle, 
als  das  Amt  Niedeck.  Der  Gerichtschulz  ist  auch  im  Range 
den  Amtmännern  gleich  und  in  der  Stadt  die  erste  Civil- 
Ferson.  Nur  ist  bey  dieser  Stelle  so  viel  Unruhe  und 
Plackerey,  dass  Jeder  sich  bald  wieder  wegwünscht,  wenn 
er  sich  auch  in  Einkünften  verschlimmert.  Gleich  wie 
36  mal  Spiesruthen  laufen  eine  Strafe  auf  den  Tod  ist,  so 
kann  man  sich  auch  in  36  Monathen  dort  zu  Tode  quälen.' 
Auf  die  Bitten  um  Almanachsbeiträge  erwidert  er:  'Zu 
eurem  Almanach  habe  ich  bei  meiner  armen  Seele!  noch 
nichts.  Aber  ich  will  mich  aufraffen.'  Wenige  Tage  später 
ist  das  'Lied  vom  braven  Manne'  entstanden.  'Es  ist  eines 
von  denen,  welche,  sowie  sie  auf  dem  Papier  stehen,  in 
einem  Strom  hervorgestürzt  sind.  Es  ist  für  Goeckingks 
Ahnanach  bestimmt,  dem  ich  sonst,  noch  zur  Zeit,  nichts 
anders  zu  geben  weiss'  (an  Boie  23.  Juni  Nr.  343).  Diesen 
lässt  er  aber  noch  länger  zappeln.  Erst  am  7.  Juli  meldet 
er  ihm  (32) :  'Ich  habe  auch  eine  stattliche  Ballade  für  ihn. 
Das  Lied  vom  braven  Manne!  Es  ist  traun!  ein  rores 
Stückle!  Heute  kann  ichs  aber  ohnmöglich  abschreiben. 
Wenn  er  kömmt,  soll  ers  haben.  Mir  ist  jezt  sehr  hunds- 
vöttsch  und  todschiesserisch  zu  Muthe.  Yerdruss,  Placke- 
rey, Hypochondrie  u.  s,  w.  u.  s.w.  u.s.w.  Freund,  sein  Be- 
such muss  mich  wieder  curiren,  oder  mich  curirt  nichts.' 
Aus  diesem  Besuche  wurde  vorerst  nichts.  Mit  Bürgers 
32.  Brief  kreuzte  sich  Goeckingks  an  demselben  Tage  ge- 
schriebene Nr.  348.  Das  Gedicht  von  Schummel,  das  darin 
erwähnt  wird  und  auf  das  der  folgende  Brief  Bezug  nimmt, 
wurde  in  den  Almanach  nicht  aufgenommen. 

33.    Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  den  17.  Juli  1777. 
....  Der  Herr  Schummelius  hat  auch  das  dictum :  Cacatum 
non  est  pictum,  noch  nicht  sattsam  beherzigt.  Das  Ding  sollt*  ich 
per  Rescriptum  legitimiren?  Bons  dies!  Ich  mag  mir  wohl  den 
Kuzen  streichen  lassen,  aber  es  muss  es  einer,  wie  Goekingk,  ver- 
stehen. Last  mir  das  Ding  ja  aus  dem  Almanach!  Herr  Schumel 
wirds  freylich  nicht  zum  besten  deuten.     Aber  ich  will  ihm  weiss 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk.     103 

machen,  dass  ich  blos  aus  Bescheidenheit  den  Druck  dieser  Schmei- 
cheley  verhindert  hätte.  Es  ist  ordentlich  als  wenn  mich  davor 
ekelte.  Persönlich  hat  mir  und  den  Meinigen  Schummel  ganz 
gut  gefallen.  Nur  das  war  mir  fatal  an  dem  Purschen,  dass  er 
sich  in  Zeit  von  einer  Stunde  gleich  in  meine  Schwägerinn 
NB  verliebte,  mich  zu  seinem  Vertrauten  machte  und  nun  noch 
nicht  aufhören  kann,  auch  schriffUich  davon  und  darüber  zu 
süsseln  und  zu  hasenffisseln.  Da  kömmt  er  mir  nun  gerade 
recht!  —   —  — 

Am  Sonnabend  war  Dietrich  bey  mir  und  nahm  mir  seine 
Pferdemiethe  in  Thombre  ab.  Ihn  verlangt  nach  Eurer  erfreu- 
lichen Ankunft  und  er  kann  nicht  begreifen,  wie  Ihr  alle  den 
schönen  grossen  dicken  Vorrath  eingesandter  Poätereyen  so  un- 
barmherzig habt  unter  die  Bank  werfen  können.  Er  wird  Euch 
überführen,  dass  Ihr  ein  eigensinniger  Kauz  seyd.  Seine  Frau 
und  lieben  Töchter  tragen  auch  grosses  Verlangen  nach  Eurer 
lieben  Frau  und  Schwägerinn.  Und  so  gebts  mir  nach  gerade 
auch.  Das  gröbste  von  meinen  Plackscheissereyen  ist  oder  kömmt 
nun  nachgerade  auf  die  Seite.  Ihr  könnt  nun  kommen,  wenn 
Ihr  wollt.  Aber  last  mirs  einige  Tage  vorher  wissen.  Denn  ich 
habe  verschiedene  Zehnten  zu  verpachten  und  auswärtige  Ge- 
scheffte,  weswegen  ich  eine  bis  zwey  Meilen  verreisen  muss.  Wenn 
ich  die  Zeit  eurer  Uberkunft  weiss,  so  kann  ich  mich  darnach 
richten.  Denkt  nicht  etwa,  dass  ich  wegen  der  Ochsen  und 
des  Mastviehes,  so  da  geschlachtet  werden  soll,  darnach  frage. 
Denn  das  ist  alles  in  Bereitschafft.  Kommt  nur  bald,  dass  die 
jungen  Hähne  wegkommen  und  mir  nicht  mehr  mein  bischen 
Waden  abhacken,  oder  die  Augen  ausfliegen,  wenn  ich  zur  Thür 
hinaus  trete.  Die  Karpfen,  die  Forellen  die  —  —  u.s. w.  sind 
auch  schon  längst  vor  der  höchsterfreulichen  Ankunft  Ihro  Ghur- 
fürstl.  Gnaden  vom  Eichsfelde  verschrieben  und  sizen  im  Fisch- 
kasten. Wäre  das  nicht  geschehen,  so  möchtet  Ihr  euch  den 
Appetit  darnach  vergehn  lassen.  Denn  Ihro  Churfürstl.  Gnaden 
haben  bey  hoher  Poen  verboten,  dass  während  höchstdero  Auf- 
enthalt auf  dem  Eichsfelde  nichts  von  Fressereyen  ausser  Landes 
geführt  werden  soll.  —  Der  Bettelmann  ist  auch  bereits  ge- 
schwemmet und  gekämmet.  Schade  nur,  dass  er  neulich  bey 
einem  Liebesabentheuer  beynahe  um  sein  Auge  gekommen  ist.  — 
Endlich  schliesse  ich  aus  dem  Gepolter  über  meinem  Haupt,  dass 
Euer  Losier,  worin  Ihr  Euer  wesen  treiben,  die  Stühle,  worauf 
Ihr  sizen,  das  Bette,  worinn  Ihr  Schlafen,  der  Nachttopf,  worein 
ihr  pissen,  und  die  Spiegel,  worinn  Ihr  Euch  beschawen  sollet, 
entweder  alle  schon  in  statu  quo  smd,  oder  doch  forderist  darein 
gelangen  werden.  Also  könnet  Ihr  konmien,  wenn  Ihr  wollt. 
Wenn  ich  den  Tag  weiss,  so  komm  ich  Euch  auf  dem  FIox  bis 
Duderstadt  entgegen;  hohle  euch  ein,  reite  voran,  führe  Euch 
linkerhand  in  das  Dorf,   vor  der  Kirche  vorbey,   durch  das  enge 


104     Sauer,  Aus  dem  Briefw^echsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Dreckgässchen,  auf  mein  Höfchen  und  in  mein  Hüttchen,  welches 
wie  das  Haus  des  Anchises  in  Troja  ganz  im  Winkel  bey  der  Mühle 
zwischen  Bäumen  versteckt  liegt.  Da  wollen  wir  uns  den  freuen 
und  fröhlich  seyn,  was  wir  nur  können. 

Apropos !  Über  mein  Geschwäz  hätt  ich  beynahe  eurer  Lieder, 
verbessert  durch  Carl  Wilhelm  Ballhom  in  Berlin,  vergessen. 
Darüber  muss  ich  Euch  aber  einen  eigenen  Brief  schreiben,  oder 
mündlich  mit  Euch  sprechen.  Ich  habe  die  Lieder  zweyer  Lie- 
benden ausgeliehen,  kann  also  die  Ballhornischen  Lesarten  nicht 
völlig  mit  den  Eurigen  vergleichen.     So  viel  ich   aber  aus  dem 

Kopfe  weiss,  so dass  der  Mensch  doch  das  Ballhomisiren 

nicht  lassen  kann! 

Ich  schick  Euch  hier  das  Lied  vom  braven  Mann  zum 
Almanach;  und  die  Frau  Schnips  zum  durchlesen.  Denn  ich 
zweiifle,  dass  Ihrs  nehmt.  Sonst  ists  auch  Eurem  Almanach  zu 
Dienst.  Sagt  mir  Eure  Meinung,  ob  man  von  den  bigoten  Schaafs- 
köpfen  nichts  zu  befürchten  habe?  Wollt  Ihrs  wagen  aufzunehmen, 
so  schickt  mir  aber  doch  diese  meine  einzige  Kladde  zurück. 
Ich  wills  denn  rein  schreiben  und  Dietrichen  zu  schicken.  Gott 
befohlen  I  Bürger. 

Die  ^Frau  Schnips'  wurde  abgelehnt,  der  Besuch  in 
Wöllmershausen  für  Michaelis  festgesetzt  (Nr.  353,  29.  Juli). 
Bürger  übersandte  noch  vor  Empfang  dieses  Briefes  die 
vom  1.  August  datirte  Subscriptionsanzeige  seiner  Gedicht- 
sammlung und  fugte  einige  geschriebene  Worte  bei: 

34.   Bürger  an  Goeckingk. 

Herr  Gevatter,  Er  wird  wohl  grosse  Augen  machen;  über 
diesen  gedruckten  Bettelbrief  und  die  darin  enthaltenen  Anzeigen. 
Pro  primo,  weil  ich  Ihn  wegen  dieses  Vorhabens  nicht  vorher, 
uti  inter  nos  moris  ac  styli,  mit  in  Rath  genommen  habe.  Pro 
Secundo,  weil  wir  einmal  halb  in  Ernst  halb  in  Spass  ausgemacht 
haben,  unsere  Opera  poetica  in  Compagnie  herauszugeben.  Aber 
sieht  er  Herr,  ich  bin  inter  pocula  übertölpelt  worden,  das  Knall 
und  Fall  zu  thun,  was  ich  erst  in  einigen  Jahren  allenfaLs  zu 
thun  gedachte.  Ich  trank  vor  kurzem  den  Pyrmonter  Brunnen 
der  Veränderung  wegen  in  Göttingen.  Dietrich  Hess  mich  dabey 
keine  Noth  leiden.  Als  ich  mich  nun  eines  Nachmittags  voll 
Autoren  Hirn  gefressen  und  voll  Autorenschweiss  gesoffen,  siehe! 
da  ward  der  ganze  Handel  auf  einmal  fertig  und  der  Avis  unter 
die  Presse  gelegt.  Facta  infecta  fieri  nequeunt,  was  das  ärgste 
ist,  so  finde  ich  nunmehr,  dass  ich  in  meinem  Leben  noch  nicht 
soviel  gereimt  habe,  um  ein  Alphabet  anfüllen  zu  können.  Ich 
muss  also  fürwahr!  um  nicht  vor  dem  ehrsamen  Publikum  zum 
Schelme  zu  werden,  nolens  volens  diesen  Winter  noch  ein  gut 
Partikelchen  Verse   auf  den  Kauf  fabriciren.     Der  Herr  Gevatter 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     \  05 

wird  das  Seynige  dazu  beytragen,  der  Waare  Abnehmer  zu  ver- 
schaffen. 

Es  ist  nun  ziemlich  lange,  dass  ich  keine  Zeile  von  Euer  Liebden 
gesehen  habe.  Es  bleibt  doch  dabey,  auf  Michaelis?  oder  es  soll 
Ihn  dieser  und  Jener!  Schreibt  mir  doch  wie  viel  Mann  hoch 
Ihr  kommt.  Denn  darnach  muss  die  Streue  eingerichtet  werden. 
Dietrich  mit  seiner  FamiUe  will  auch  herauskommen,  wenn  Ihr 
da  seyd.  Das  soll  eine  gar  scharmante  bunte  Herberge  geben! 
Ich  habe  schon  ein  hübsches  Trünklein  Edimburger  und  Erlauer 
angeschafin.  Zwey  ungarische  Weine,  die  wohl  für  seinen  üppigen 
Schnabel  so  gut  noch  nicht  gekommen  sind!  Dabey  wollen  wir 
uns  recht  bene  thun. 

Adio!     Viel  schöne  Grösse  etc.  GA Bürger. 

35.    Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen,  den  7*«"  August  1777. 

Ey  so  wollt  ich  auch,  dass  dieser  und  Jener!  —  —  — 
Schon  wieder  mit  dem  Besuch  angeführt!  Fürwahr!  Ich  möchte 
schier  Ihn  mit  samt  seiner  Sopheye  und  Male  prügeln.  Sieht  er, 
wie  böse  ich  bin!  Ich  sage  nicht  einmal  Sopheychen  und  Mal- 
chen, sondern  Sopheye  und  Male.  —  Michaelis!  Michaelis!  Ey 
so  wollt*  ich  dass  ihr  michaelistet,  dass  Ihr  schwarz  würdet !  Zum 
ersten  mal  in  meiner  ganzen  Amtsführung  schreib*  ich  dies  Jahr 
Erndteferien  vom  1*^  huj.  bis  auf  Michaelis  aus,  um  mich  mit 
Euch  Volk  recht  abgeben  zu  können  und  siehe  da!  Nun  will 
euch  der  Henker  erst  Michaelis  herführen,  wo  meine  Plackerey 
wieder  angeht.  Und  das  alles  um  des  leidigen  Geizes  willen,  weil 
Wilhelm  dann  die  halben  Reisekosten  stehen  muss.  Wart!  Wart! 
Wilhelm  soll  euch  was  auf  die  Treppe  legen.  Ich  wills  ihm 
schreiben.  — 

Aber  Ihr  gottlosen  Lügen  Mäuler  insgesamt,  vernehmt  hier 
mit  meinen  Endbescheid!  Wofern  Ihr  nicht  Michaelis  hier  seyd, 
und  mich  abermal  vergeblich  harren  lasset,  so  wird  euch  hie- 
mittelst und  Krafft  dieses  eventualiter  Wasser  und  Weide  aufge- 
kündigt. Ich  will  Eure  Nahmen  nicht  mehr  aussprechen  und 
mich  mit  Demjenigen  herum  schlagen,  schiessen,  hauen  und 
stechen,  welcher  mir  Schuld  giebt,  ich  kennte  euch.  Ihr  könnt 
nur  diesen  Brief,  wie  ein  Patent  an  eure  Stubenthür  als  ein  Me- 
mento  zu  Eurer  und  Eurer  Weibsen  Nachachtung,  nageln. 

Also  Frau  Schnipsen  wollt  Ihr  nicht.  Hm!  Hm!  —  Jeder- 
man  tritt  das  ehrliche  Mensch  mit  dem  Fuss  in  den  Ars.  Seht 
mir  doch  mal  die  züchtigen  Herrn  alle  an!  Jezt  aber  ist  sie  auf 
dem  Wege  sich  dem  Herrn  Merkur  anzubieten.  Verschmäht  sie 
der  auch;  so  hohl  euch  alle  der  Henker  mit  eurer  s.  v.  Ehrbar- 
keit Denn  umsonst  kann  ich  das  gute  Kindlein  ohnmöglich  ge- 
macht haben. 


106      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Zum  Liede  vom  braven  Manne  kann  D.  Weiss  keine  Com- 
position  zu  Stande  bringen.  Er  rechnet  mir  des  Henkers  Schwie- 
rigkeiten vor.  Ich  verstehe  mich  nun  zwar  nicht  drauf  indessen 
deucht  mir,  ich  sogar  wollte  eine  Melodie  drauf  machen  können. 

Am  8.  September  entwickelt  Goeckingk  die  näheren 
Umstände  der  geplanten  Herbstfahrt  (Nr.  371).  'Lieber.Herr 
Gevatter,  wie  geht  das  zu,  dass  ich  Sein  Epistolarschreiben 
vom  8.  dieses  erst  heute  erhalte?  Ich  glaube  gar,  Er  hat 
antedatirt,  wie  es  Unsereiner  bisweilen  mit  seinen  Berichten 
nach  Hannover  zu  machen  pflegt'  —  so  beginnt  Bürgers 
Antwort  (36,  18.  September),  die  Goeckingks  Bedenken 
wegen  der  Unterbringung  der  zahlreichen  Gäste  in  derb- 
komischer Weise  zu  beheben  sucht. 

Noch  ein  Brief  Goeckingks  (Nr.  378,  26.  September), 
in  dem  er  sich  für  den  2.  October  ansagt  und  um  Erlaubniss 
bittet,  Spadillen,  seinen  geliebten  Hund,  mitbringen  zu  dürfen ; 
diesmal  klappte  endlich  alles.  Am  1.  und  2.  October  er- 
ledigt Bürger  noch  seine  Correspondenz  Nr.  381—385,  um 
sich  dann  ganz  den  Freunden  widmen  zu  können.  Unter 
anderm  las  er  Goeckingk  seine  Macbethübersetzung  vor;  von 
der  Scene,  die  den  Tod  der  Lady  Macbeth  enthält,  wurde 
dieser  'bis  auf  Mark  und  Bein  durchschauert'  (an  Boie 
Nr.  427  vgl.  auch  Nr.  654).  Am  11.  October  berichtet  er  an 
Boie  (Nr.  386) :  'Goeckingk  mit  seiner  Frau  und  Schwägerinn 
ist  einige  Tage  hier  gewesen.  Nur  habe  ich  ihn  leider! 
nicht  ganz  genossen,  indem  er  nicht  umhin  konnte,  auch  an 
Dietrich  zwey  Tage  zu  verschwenden.  Ich  kann  wohl  sagen 
verschwenden.  Denn  Dietrich  hatte  einen  solchen 
Schwärm  von  theils  interessanten,  theils  uninteressanten 
Gästen  mit  dazu  gebeten,  dass  man  in  diesem  Getümmel 
gar  nicht  zu  sich  selbst  kommen  konnte.  Er  hat  mir  endlich 
vier  Gesänge  von  seinem  Adlerkant  hiergelassen.  Aber 
an  dem  vierten  fehlen  noch  einige  Schlussstrophen,  die  er 
mir  jedoch,  bey  Ehre  und  Reputation,  höchstens  binnen 
14  Tagen  noch  nachzuschicken  versprochen  hat.'  Er  theilt 
Boien  in  dem  Brief  einige  vorläufige  Probestrophen  mit. 

Goeckingk  eröffnete  den  Briefwechsel  gleich  nach  der 
Rückkehr  (Nr.  387,  13.  October);  der  Brief  blieb  unterwegs 
liegen ;  am   23.  October  fragt  der  ungeduldige  Bürger  bei 


Sauer,  Aub  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk.      107 

Qoeckingk  an  (37)  und  monirt  jene  Schlusstrophen  zum 
'Adlerkant',  die  Goeckingk  endlich  am  3.  November  (Nr.  404) 
übersendet. 

Bürgers  nächster  Brief  (38),  die  Anzeige  vom  Tode 
seines  Kindes  vom  10./12.  December,  stimmt  mit  dem  Briefe 
an  Boie  Nr.  413  fast  wörtlich  überein;  eine  Variante  ver- 
dient angemerkt  zu  werden;  an  Boie:  'Nun  hat  ein  Fieber 
die  schöne  Kose  entblättert',  an  Goeckingk:  'Ein  Fieber  hat 
die  Rose  zernagt'.  Es  folgt  Goeckingks  Condolenzbrief 
Nr.  417.  Dann  ist  im  Briefwechsel  eine  Lücke;  vgl.  an 
Boie  5.  Januar  1778  Nr.  421 :  'Von  dem  Adlerkant  hab 
ich  nun  vier  volle  Gesänge.  Goeckingk  versprach  schon 
vor  vier  Wochen,  das  Ganze  mit  Schluss  dieses  Jahrs  zu 
vollenden,  und  bat  so  lange  mit  dem  Abdrucke  zu  warten. 
Yor  zwey  Tagen  schreibt  er,  dass  er  leider!  noch  nichts 
wieder  gemacht  habe,  aber  sich  fordersamst  einschliessen 
wolle,  um  endlich  sein  Yersprechen  zu  halten.  Ich  will 
heüt  an  ihn  um  Erlaubniss,  wenigstens  diese  4  Gesänge 
publiciren  zu  dürfen,  schreiben.'  —  Beide  Briefe  fehlen, 
oder  sind  sie  vielleicht  gar  nicht  geschrieben  worden  und  hat 
Bürger  gegen  Boie  nur  eine  Ausrede  gebraucht? 

Goeckingk  hatte  allen  Grund,  gegen  Bürger  heftig  ver- 
stimmt zu  sein,  seitdem  ihm  dessen  Unterhandlungen  mit 
Dietrich  wegen  der  Übernahme  der  Redaction  des  Göttinger 
Musenalmanaches  bekannt  geworden  waren.  Noch  am 
2.  December  1777  hatte  Yoss  an  Goeckingk  geschrieben: 
'Dietrich  giebt  sich  viele  Mühe,  einen  Dichter  von  Ansehn 
wieder  zu  gewinnen.  Er  hat  sogar  Claudiussen  die  Heraus- 
gabe antragen  lassen ;  auch  Bürgern,  wie  mir  Boie  schreibt. 
Yor  diesen  sind  wir  freylich  sicher.  Aber  sind  wirs  auch 
vor  den  übrigen,  z.  E.  vor  Kästnern?'  (ungedruckt).  Aber 
Yoss  irrte  sich  gründlich  und  endlich  blieb  Bürgern  selbst 
nichts  anderes  übrig,  als  sein  zum  mindesten  incorrectes 
Yorgehen  gegen  Goeckingk  und  Yoss  zu  rechtfertigen.  Das 
Fromemoria  vom  30.  Januar  1778  ist  nach  dem  Concept 
aus  seinem  Nachlasse  bei  Strodtmann  abgedruckt  Nr.  432. 
Er  sandte  es  an  Goeckingk  mit  folgendem  Begleitschreiben: 


\  08      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Btbrger  und  Goeckingk 

39.    Burger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  den  29.  Januar  1778. 

Sicherlich,  lieber  G.,  hat  euch  Frau  Hundertzunge  den  Inhalt 
des  bey  kommenden  ProMemoria  schon  längst  bekant  gemacht;  denn 
sonst  hättet  Ihr  mich  wahrhaftig  nicht  so  lange  laufen  lassen, 
ohne  mir  einen  oder  andern  Posttag  einmal  zu  schreiben,  da  Ihr 
leicht  an  allen  zehn  Fingern  abzälen  könnet,  wie  gedoppelt  wehrt 
mir  eure  Briefe  in  der  bisherigen  HerzensVerfassung  gewesen  seyn 
würden.  Ihr  mögt  wohl  nicht  wissen,  was  Ihr  aus  mir  habt 
machen  sollen.  Drum  hab  ich  nur,  troz  meiner  Übeln  jezigen 
Laune  und  troz  hundert  fataler  Amts-  und  Familiengeschäfften 
mich  hin  gesezt  und  für  Euch  und  Voss  dies  rechtfertigende  Pro- 
Memoria abgefasset,  welches  Ihr  denn  beherzigen  und  darauf 
weiter  an  Voss  laufen  lassen  wollet.  Mit  Euch  und  Eurem  Herzen 
hofife  ich  in  diesem  Falle  bald  einig  zu  seyn,  denn  ihr  versteht 
quid  juris!  Aber  Voss  wird  sein  Herz  so  leicht  nicht  drein  er- 
geben. Jedoch  sagt  mir,  liebster  G. ,  rund  und  teutsch  heraus, 
ob  die  Sache  noch  andere  Seiten,  als  wovon  ich  sie  angesehen, 
habe.  Hat  sie  sie  aber  nicht,  so  muss  sich  Voss  das  Ding  noch 
10  mal  eher  gefallen  lassen,  als  ihr,  der  ihr  mir  10  mal  mehr 
als  Voss  ans  Herz  gewachsen  seyd.  Ich  sehne  mich  nach  Eurer 
Antwort. 

Endlich  muss  ich  ja  auch  wohl  wieder  die  Ramlerische  Aus- 
gabe eurer. Gedichte  wieder  zurück  schicken,  die  ich  öfters  unter 
meinen  Papieren  verworfen,  wiedergefunden  und  wieder  verworfen 
hatte.  Schickt  sie  dem  klassischen  Schulfuchs  wieder  zurück  und 
sagt  ihm :  Ihr  schicktet  sie  da  wieder  und  —  es  wäre  gut.  — 

Ich  schreibe  jezt  an  meiner  geharnischten  Vorrede  vor  meine 
Gedichte,  worin  ich  wills  Gott!  den  durchlöcherten  Boden  des 
Klassischen  Fasses,  das  nirgends  VS^asser  hält,  ziemlich  vollends 
einschlagen  werde.  Wenn  alles  so  rund  heraus  geht,  als  rund 
ichs  im  Kopfe  auch  wieder  den  allerdurchlauchtigsten  grossmäch- 
tigsten Klopstock  habe,  so  solt  Ihr  mal  Euer  blaues  Wunder  hören, 
sehen,  schmecken,  fühlen,  und  riechen. 

Dohm  ist  neulich  auch  bey  mir  gewesen,  hielt  sich  aber  nicht 
länger  als  zum  Mittags  Brode  auf.  Er  hat,  wie  es  scheint,  sehr 
glänzende  Aussichten. 

Meine  Subscriptions  Sache  scheint  auch  sehr  stattlich  aus- 
fallen zu  wollen.  Freylich  nicht  so  stattlich  als  Klopstocks  seine 
—  da  wurde  aber  auch,  wie  die  Matrosen  in  England  —  ge- 
prest  — ,  indessen  an  1000  Subscribenten  hoffe  ichs  doch  schier 
zu  bringen.  Bey  mir  Dietrich  und  Boie  sind  an  die  600  schon 
zusammen  und  doch  sind  von  den  meisten  und  wichtigsten  Orten 
noch  garkcine  Nachrichten  zurück  gekommen.  Der  Himmel  gebe 
sein  Gedeyhen!  Schade  nur,  dass  alles  so  in  einen  durch- 
löcherten Beutel  fällt. 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk.      109 

Adio!  Schreibt  mir  doch  öfter  und  seyd  nicht,  wie  sie  hier 
sagen,  fühnisch,  sonst  hol  euch  dieser  und  Jener. 

Tausend  Grüsse  und  Kusse  an  Sophien  und  Malchen!  Ihr 
Bruder  in  Göttingen  hat  sich  doch  bey  meiner  armen  Seele!  noch 
nicht  wieder  bey  uns  hören  oder  sehen  lassen.  Macht  er  das 
allen  Leuten  oder  uns  allein  so?  Dietrich  schreibt  auch,  dass  er 
nichts  von  ihm  vernimmt.  GAB. 

Noch  vor  Empfang  des  Promemorias  muss  Voss  Bürger 
in  dieser  Angelegenheit  interpellirt  haben,  vgl.  Boie  an 
Bürger  5.  Februar  1778  Nr.  434:  'Heute  nur  zwei  Zeilen 
zur  Begleitung  des  Yossischen  Briefes.  Es  thut  mir  leyd, 
dass  Voss  es  nicht  von  Dir,  wie  Du  versprachst,  zuerst 
erfahren  hat'  und  Bürger  an  Boie  16.  Februar  Nr.  439. 
Goeckingks  Antwort  auf  das  Promemoria  vom  7.  Februar 
Nr.  436  geht  auf  Gegengründe  nicht  ein,  wie  Bürger  ver- 
langt hatte,  sondern  stellt  sich  auf  den  Standpunkt  des 
Gefühls.  Bürger  suchte  in  seiner  Erwiderung  Goeckingks 
ausweichenden  Ton  nachzuahmen: 

40.    Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  den  16.  Februar  1778. 
Lieber  Goeckingk. 

Freylich  schlim,  wenn  wir  über  einerley  Sache,  die  nicht 
gleichgültig  ist,  nicht  einerley  Gefühl  haben.  Aber  vielleicht  haben 
wirs  in  dieser,  wenn  wir  beyde  unsere  Gefühle  recht  neben- 
einander halten  und  bey  Lichte  besehen.  Schade  nur,  dass  man 
nicht  immer  nach  Gefühl  handeln  kann,  oder  darf.  Der  Mann 
ders  wagt,  sich  mit  tausenden  herum  zu  schlagen,  hat  wahrlich 
hohes  herrliches  Gefühl,  aber  seine  Handlung  ist  und  bleibt  Thor- 
heit.  —  Doch  —  was  disputiren  wir  darüber?  Sind  Euch  der- 
gleichen Pro  und  Contra  fatal;  so  sind  sie  mir  wahrlich  noch 
fataler.  Ich  handle  oiTen  und  frey,  wie  mirs  recht  dünkt.  Irre 
ich,  so  ist  der  Schade  mein  und  keines  Andern.  Doch  kann  ich 
sagen,  dass  ich  über  keine  Angelegenheit  meines  Lebens  mehr 
mit  Verstand  und  Herzen  zu  Rathe  gegangen  bin,  als  eben  über 
diese.  Euer  Brief,  lieber  Goeckingk,  hat  mir  bitter  geschmeckt, 
aber und  nun  in  meinem  Leben  nichts  mehr  hiervon! 

Die  angezeigten  Gedichte,  wenn  ich  des  Almanachs  Archiv 
einmal  erhalte,  sollt  Ihr  zurück  haben.  Noch  hab'  ichs  nicht, 
und  da  man  nicht  wissen  kann,  wie  manche  Dinge  in  der  Welt 
kommen  können,  so  weiss  ich  auch  noch  nicht,  ob  es  mir  zu 
Händen  kommen  wird.    Ich  muss  erst  Vossens  Antwort  abwarten. 

Für  die  Pränumeration,  versteht  sich,  danke  ich  schönstens. 
Es  fängt  mir  aber  schier  an,    vor  aller  Verserey  zu  ekeln.     Es 


110      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  and  Qoeckingk. 

würmelt  mir  so  von  dem  Magen  herauf  nach  dem  Kopfe,  wie  es 
einem  zu  wärmein  pflegt,  wenn  man  eine  Sache  zu  99  Teufein 
hinschwören  will.  — 

Die  Entbindung  Eurer  Frau  habe  ich  neulich  leider  1  von 
andern  Leuten  in  Göttingen,  als  eine  alte  Neuigkeit  zu  erst  er- 
fahren müssen.     0  Goeckingkl  Qoeckingk! 

Die  Meinige  ist  im  Begrif  desgleichen  zu  thun.  Sie  grüst 
Euch  dess  insgesamt  von  Herzen.  Davon  last  sie  sich  nichts 
träumen,  dass  wir  jezt  so  gegeneinander  da  stehn,  einer  über  den 

Andern   unlustig  sind,   und Narrenspossen I     Es  ist  ja 

kein  wahres  Wort  dran  I  Wäret  Ihr  unlustig  über  mich  ?  '0  Nein ! 
ganz  und  gar  nicht T  —  Nun,  ich  über  Euch  auch  nicht,  lieber 
Goeckingk.  Was  für  verdamte  höllische  Dünste  einem  manchmal 
zu  Kopfe  steigen  können.  Gott  befohlen!  wie  sonst,  und  in  alle 
Ewigkeit  nichts  anders,  als  Euer  GABürger. 

Darauf  gab  ihm  Goeckingk  kurz  und  kühl  Nachricht 
über  das  Befinden  seiner  Frau  (Nr.  442,  28.  Februar)  und 
Bürger  that  dasselbe: 

41.    Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  den  30.  März  1778. 

Es  ist  nicht :  Wurst,  wieder  Wurst,  lieber  G.,  dass  ich  Euch 
heute  erst  vermelde,  dass  meine  Frau  am  15^^  dieses  mit  einem 
Mädel  niedergekommen  ist.  Wenn  ich  Euch  alle  sagen  wolte, 
was  für  ein  geplagtes  hin  und  hergezertes  Thier  ich  alleweile 
bin,  und  wie  ich  desfals  kaum  einige  Minuten  zu  einem  Brieflein 
meiner  Zeit  abzwacken  kann,  so  würde  ich  alle  vier  Seiten  dieses 
Bogens  volschreiben  müssen.  Meine  Frau  ist  noch  nicht  aus 
aller  Gefahr,  wegen  einer  bösen  Brust.  —  Meine  Schwiegermutter 
ist  sehr  krank  und  ich  fürchte Kurz  ich  habe  in  hüb- 
schen Pasteten  jezt  umherzurühren. 

Wie  ists  mit  Eurem  Adlerkant?  —  Boie  mahnt  mich  in 
jedem  Briefe  drum.  Soll  ich  ihm  das  Fragment,  das  ich  habe 
nur  schicken?     Gebt  mir  bald  Bescheid. 

In  den  nächsten  zwei  Monathen  werdet  Ihr  nicht  viel  Tröst- 
liches von  mir  vernehmen. Grüsse,  Küsse  u.  s.  w. 

GAB. 

An   demselben  Tage  schrieb  Goeckingk  ein  flüchtiges 

Billet  in  Bürgers  Subscriptionsangelegenheit  Nr.  468.  Bürgers 

Antwort  darauf  vom  9.  April  ist  verloren.    Vossens  Antwort 

auf  das  Promemoria,  vom  H.Februar  datirt  Nr.  438,  sucht 

Bürger  zum  Rücktritt  zu  bewegen:    'Ich  widerspreche  dem 

Gerüchte  von  ihrer  Verbindung  mit  Dietrich  noch  immer, 

wie  vorher,  bis  ich  Antwort  hierauf  habe'.    Diese  Antwort 


u 

I 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goecldngk.      1 1 1 

kam  lange  nicht    Ich  lasse  zunächst  Vossens  ungedruckten 
Brief  an  Goeckingk  aus  der  Handschrift  folgen: 

Voss  an  Goeckingk. 

Wandsbeck,  den  26.  Merz,  1778. 

Die  Verzögerung  meines  Briefs  hatte  eine  gute  Absicht;  ich 
wollte  Ihnen  lieber  von  einer  ausgeführten  Sache  schreiben,  als 
über  das  Vorgegangene  meine  Meynung  sagen.  Aber  Bürger 
erlaubt  mir  diess  Vergnügen  nicht.  Vielleicht  hat  er  Ihnen  ge- 
antwortet, vielleicht  auch  nicht,  und  dann  laure  ich  gewiss  um- 
sonst auf  seine  Antwort.  Hier  ist  der  Brief,  den  ich  ihm  den 
ersten  Posttag  auf  sein  Promemoria  schrieb 

Auf  diesen  Brief  erwartete  ich  natürlich  bald  Antwort,  und 
verschob  sowohl  den  Brief  an  Sie,  mein  bester  Göckingk,  als 
die  Einrückung  Ihrer  Nachricht  in  die  Zeitungen,  damit  Bürger 
es  nicht  als  eine  Vorkehrung  gegen  seine  Macht  ansehe,  und  sich 
für  einen  deklarirten  Feind  halten  möchte.  Aber  es  soll  gewiss 
die  nächste  Woche  geschehn. 

Bohnen  habe  ich  noch  nichts  gesagt,  weil  ich  wirklich  noch 
nicht  glauben  kann,  dass  Bürger  bey  kühlerem  Blute  so  fortgehn 
wird,  und  ich  es  gern  vermiede,  Bohns  Handschlagen  und  Er- 
staunen über  das  Unglück,  das  nun  dem  Almanach  bevorstünde, 
der  ihm  so  viel  kostete,  und  noch  mehr  kosten  sollte,  diess  anzu- 
sehn  und  anzuhören,  und  vielleicht  im  Verdruss  weiter  zu  gehn, 
als  die  Klugheit  erlaubt.  —  Ich  kann  Ihnen,  auch  im  Fall,  dass 
er  mir  von  meinen  400  Thh*.  nichts  abknappt,  Ihre  100  Thlr. 
nicht  ersezen;  aber  theilen  will  ich  mit  Ihnen  brüderlich  den 
Verlust,  und  der  Himmel  wird  mir  ja  bald  ein  Amt  bescheren, 
dass  ich  mein  erstes  Wort  halten  kann. 

Wenn  Bürger  es  nicht  einsehn  lernt,  dass  die  200  Thlr.,  die 
seine  Sinne  bethören,  durch  einen  Umweg  aus  unsern  Beuteln 
kommen,  so  müsste  ich  mich  vor  mir  selbst  schämen,  wenn  ich 
sein  Almosen  zu  meinem  Almanach  annähme.  Und  solch  ein 
Herkules  ist  er  doch  auch  nicht,  troz  seiner  Keule,  der  nicht  seine 
Gegner  fönde.  —  Nach  dem  Promemoria  ist  mir  die  Delicatesse 
der  Empfindung  ganz  unbegreiflich,  die  Bürger  damals  äusserte, 
als  Stolberg,  ganz  von  Eigennuz  entfernt,  ganz  unbekannt  mit 
Bürgers  geheimer  Absicht,  warum  er  die  Uias  übersetzte,  bloss 
durch  Liebe  zu  Homer  entbrannt,  den  Bürger  nach  seiner  Mey- 
nung zum  Bänkelsänger  herabstimmte,  selbst  in  die  Schranken 
trat,  und  mit  ihm  wetteiferte;  noch  weniger,  dass  Bürger  jezt 
mit  einmal  Stolbergs  Unschuld  einsieht,  um  sein  Betragen  mit 
jenem  zu  vergleichen.  —  Auf  meinen  Schwager  sollte  sich 
Bürger  nicht  berufen;  er  kennt  ihn  selbst  als  einen  guten  bieg- 
samen Mann,  der  es  mit  niemand  verderben  will,  und  oft  mit 
allen  verdirbt.  —  Ich  traue  es  Bürgern  zu,  dass  er  die  Wahrheit 
schreibt;    denn   mit  Boien   selbst  correspondirte  ich   bisher  noch 


112     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

gar  nicht  Ober  diese  Sache,  ausser  dass  wir  uns  einander  unsre 
Verwunderung  über  das  Gerücht  bezeugt  haben.  —  Nun  lasst 
uns  unsre  Lenden  gürten,  damit  wir  stehn  können  im  Streit, 
wenn  ja  alle  Welt  jezt  in  Streit  leben  soll. 

Endlich  fragte  Voss  doch  bei  Boie  an  (Voss,  Briefe  II1 1 , 
142,  wol  aus  den  ersten  Tagen  des  April  vgl.  Boie  an 
Bürger,  19.  April  Nr.  478).  Am  31.  März  hatte  Bürger  je- 
doch an  Voss  geschrieben  (Nr.  469).  Jetzt  berief  er  sich 
darauf,  dass  er  für  die  Familie  seines  Schwiegervaters  zu 
sorgen  habe.  ^Glauben  Sie  mir,  ich  habe  die  Sache  vor 
meinem  Kopf  und  Gefühl  geprüft,  und  jener  mus  entweder 
einem  Pinsel  und  dieses  einem  Schurken  gehören,  oder  ich 
habe  Recht.'  Voss  schickte  den  Brief  an  Goeckingk  13.  Mai 
1778  mit  folgenden  Worten  (ungedruckt,  vgl.  auch  Voss  an 
Boie  im  Juni  1778:  Voss,  Briefe  III  1,  142): 

Voss  an  Goeckingk. 

Sie  dachten  zu  gut  von  Bürger,  dass  er  sich  schämen  möchte, 
so  wie  er  vielleicht  nur  noch  könnte,  zu  antworten.  Er  hat  mir 
die  freymütigste  Antwort,  die  man  sich  denken  kann,  geschrieben, 
und  mündlich  wird  er  mirs  noch  freymütiger  erklären,  dass  ihn 
sein  Kopf  und  sein  Herz,  die  doch  beyde  nicht  von  der  gemeinsten 
Sorte  sind,  völlig  berechtigen,  mir  sein  Wort  zum  zweytenmal  zu 
brechen,  und  Sie  um  ihr  Geld  zu  prellen.  Hier  lesen  Sie.  Es 
hat  mir  Überwindung  gekostet,  von  dem  Gefühle  der  Freund- 
schaft zur  Verachtung  überzugehn.  Jezt  bin  ich  zum  Durchbruch. 
Von  nun  an  keinem  Menschen  mehr  getraut,  der  sich  in  Sachen 
des  Verstandes  Sofistereyen  erlaubt.  Ich  habe  Klopstocken  Bürgers 
Promemoria  und  meinen  Brief  mit  Bürgers  Antwort  vorgelegt, 
um  sicher  zu  seyn,  dass  ich  mich  nicht  übereilte.  Aber  der  kalte 
Klopstock  räth  mir  zu  einem  Schritt,  wozu  ich  nicht  Hize  genug 
habe,  Bürgern  noch  einmal  zu  schreiben,  was  ihm  sein  Herz 
sagen  muss,  dass  er  ein  Schurke  sey.  Es  wird  also  nicht  zu 
viel  seyn,  wenn  ich  ihm  durch  Boien  sagen  lasse,  dass  er 
sich  die  Mühe  sparen  möchte,  mir  Bey träge  zum  Almanach  zu 
schicken  ....  Im  Juni  kommt  Boie  aus  Hannover  hieher.  Mich 
soll  verlangen,  ob  er  Bürgern  entschuldigen  vnvd,  und  wie  er  das 
Ding  angreift. 

Zwischen  Voss   und  Bürger  war  es  auf  diese  Weise 

zum  Bruche  gekommen.    Soweit  kam  es  zwischen  ihm  und 

Goeckingk    nicht.      Als    Boje    anfragte,    wie    die    Sachen 

stünden :  ^Ich  höre,  dass  er  seine  Übernahme  des  Almanachs 

sehr  übelgenommen  habe,   und  dass  ihr  gänzlich  zerfallen 

seyd'  (26.  März  Nr.  464),  antwortet  Bürger  (6.  April  Nr.  471): 


Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  Augast  an  K.  F.  y.  Sinner  in  Bern.     1  ]  3 

'Zerfallen  bin  ich  mit  Goeckingk  gar  nicht;  hergegen  be- 
haglich ist  das  Ding  weder  ihm  noch  Yoss'.  Boie  urtheilte 
schliesslich  milder  als  die  nächst  Betheiligten:  ^Ich  hörte, 
dass  Goeckingk  unzufrieden  mit  dir  sey,  dass  du  ihm  die 
Übernahme  des  Almanachs  in  einem  komischen  Ton  ange- 
kündigt; das  mag  der  erste  Ausbruch  der  Empfindlichkeit 
gewesen  seyn,  und  es  ist  mir  innig  lieb,  dass  ihr  nicht  zer- 
fallen seyd.  Deine  Ursachen  sind  edel,  deiner  würdig,  und 
Niemand  soll  dich  ungestraft  vor  mir  tadeln,  wenn  ichs  höre' 
(9.  April  1778  Nr.  474). 

Prag.  August  Sauer. 


Briefe  des  Herzogs  Cari  Aagast  an  Karl 
Ferdinand  von  Sinner  In  Bern. 

In  dem  Briefe,  welchen  Goethe  am  16.  October  1779 
Yon  Bern  aus  an  Charlotte  Yon  Stein  schrieb  und  in  welchem 
eine  kurze  Aufzählung  der  Merkwürdigkeiten  und  der  Per- 
sonen gegeben  ist,  die  Goethe  und  der  Herzog  in  Bern 
kennen  lernten,  wird,  ohne  einen  weiteren  Zusatz,  auch  der 
Name  Sinn  er  genannt. 

In  seiner  Ausgabe  von  Goethes  Briefen  an  Frau  von 
Stein  (1857  1,  256)  hat  Adolf  Scholl  zu  dem  Namen  Sinner 
die  Note  'Sinner,  der  Bibliograph'  hinzugesetzt;  mit  dieser 
Bezeichnung  kann  nur  der  1730  geborene  Joh.  Budolf  Sinner 
gemeint  sein,  der  1748  die  Stelle  des  Bibliothekars  der 
Stadtbibliothek  zu  Bern  erhielt  und  durch  seinen  lateini- 
schen Katalog  der  Berner  Handschriften,  sowie  durch  andere 
gelehrte  Arbeiten  bekannt  geworden  ist.  ^)  Dieser  Joh.  Rud. 
Sinner,  nach  seiner  waadtländischen  Besitzung  gewöhnlich 
'Sinner  von  Balaigues'   genannt,   ward  1764  Mitglied   des 

^)  GatalogUB  codicnm  xnss.  bibliothecae  Bernensts  annott  criticis 
illnetr.  Bernae  1760—72,  3  tomi.  —  Essai  snr  les  dogmes  de  Metempsy- 
chose  et  du  Pnrgatoire  enseignäs  par  le  Bramins  de  rindostan  etc. 
Beme  1771.  —  Voyage  historique  et  litt^raire  dans  la  Suisse  oeciden- 
tale,  NeQchatel  1781.  —  Beme  au  XYIII  si^e.  (Extrait  d*iin  yolume 
in^it  da  Voyage  dans  la  Suisse  occideniale  1781.)  Berue  1853. 

Tieitayahnohzin  fOr  littontiirgesohichte  m  8 


114     Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  A-ogust  an  E.  F.  ▼.  Sinner  in  Bern. 

GrosBen  Bathes  von  Bern,  1776  Landvogt  zu  Erlach  und 
starb  1787.^)  Die  neueren  Herausgeber  der  Briefe  Goethes 
an  Frau  Yon  Stein')  haben  jene  Angabe  SchöUs  ^Sinner, 
der  Bibliograph'  ohne  weitere  Prüfung  wiederholt.  Aber 
^Sinner  von  Balaigues'  war  nicht  der  von  Goethe  Genannte. 

Bei  seiner  Ankunft  in  Bern  im  Herbste  1779  brachte 
Carl  August,  wie  die  unten  folgende  Vorbemerkung  zu  den 
Briefen  des  Herzogs  an  Sinner  zeigt,  'ein  Empfehlungs- 
schreiben' an  Earl  Ferdinand  yon  Sinner  mit.  Karl  Ferdi- 
nand Yon  Sinner  war  der  zweite  Sohn  des  1771  zum  Schult- 
heissen  von  Bern  erwählten  Friedrich  von  Sinner,  eines  der 
gebildetsten  und  ausgezeichnetsten  unter  den  Oberhäuptern 
der  Stadt  und  Republik  Bern  im  18.  Jahrhundert. 

Friedrich  Yon  Sinner,  1713  geboren,  hatte  1730,  be- 
gleitet von  seinem  letzten  Hauslehrer,  Samuel  Schmid  'yon 
Rossens'  ^),  die  Uniyersität  Marburg  bezogen,  er  hatte  dann 
nach  dreijährigem  Aufenthalt  in  Marburg  Holland  und  Frank- 
reich durchreist  und  war  1734  nach  Bern  zurückgekehrt. 
Hier  wurde  er  Mitglied  der  1739  yon  dem  Theologen 
Hürner  gestifteten  'Deutschen  Gesellschaft',  welche  sich  die 
Pflege  der  damals  überhaupt  und  besonders  in  Bern  so 
yernachlässigten  deutschen  Sprache  und  Litteratur  zum 
Ziele  setzte  und  an  welche  im  Jahre  1742  J.  Chr.  Gottsched 
jene  Zuschrift  richtete,  die  im  7.  Bande  seiner  'Beyträge 
zur  critischen  Historie  der  Deutschen  Sprache,  Poesie  und 
Beredsamkeit'  u.  s.  w.  zu  lesen  ist. 

Wie  alle  seine  Mitbürger  aus  den  angesehenen  bürger- 
lichen Familien  Berns  betrat  auch  Friedrich  yon  Sinner 
frühzeitig  die  politische  Laufbahn  seiner  Vaterstadt.    1745 

*)  Bemer  Taschenbuch  auf  das  Jahr  1853  S.  283. 

*)  Goethes  Briefe  an  Frau  y.  Stein,  hg.  yon  Adolf  Scholl,  zweite 
yerrollständigte  Auflage,  bearbeitet  yon  W.  Fielitz,  Frankfurt  a.  M. 
1883  1,  454.  Goethes  Liebesbriefe  an  Frau  yon  Stein.  Mit  Übersichten 
und  Anmerkungen  yon  Heinrich  Düntzer.    Leipzig  1886  S.  156. 

*)  Ober  Schmid  y.  Rossens  1737—96,  der  1765  einem  Bufe  des 
Markgrafen  yon  Baden  nach  Karlsruhe  folgte,  wo  er  Director  der  Biblio- 
thek und  des  Kunstcabinetes  wurde  und  der  später  in  Frankfurt  a.  M. 
sich  niederliess,  ygl.  die  im  Bemer  Taschenbuch  1853  angeführte  Lit- 
teratur, und  Wieland,  Ausgew.  Briefe  2,  40.  117 :  *petit  maitre  Egyp- 
tien,  petit  maitre  antiquaire". 


Hiizel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  Augast  an  K.  F.  v.  Sinner  in  Bern.     115 

ward  er  Mitglied  des  Grossen  Rathes  von  Bern,  1750  Land- 
Yogt  von  Interlaken,  1765  Yenner,  1767  Deutseh-Seekel- 
meister  d.  h.  Finanzdirector  der  Deutseh-bernischen  Lande, 
1771  wie  bereits  erwähnt  ist,  Schaltfaeiss,  welches  Amt  er 
bis  zu  seinem  Tode,  23.  Februar  1791,  bekleidete. 

Über  alle  diese  Beamtungen  Sinners  und  seine  sonstige 
öffentliolie  und  private  Thätigkeit  kann  man  in  dem  Lebens- 
abriss  Sinners  nachlesen,  welchen  Friedrich  y.  Fischer  im 
10.  Hefte  der  'Sammlung  Bernischer  Biographien'  S.  93  fip. 
gegeben  hat.') 

Friedrich  v.  Sinner  gehörte  zu  den  Freunden  Albrecht 
Hallers  und  zu  dem  Bekanntenkreise  der  Julie  Bondeli.  Er 
war  mit  Yoltaire  und,  wie  es  scheint,  auch  mit  Rousseau 
persönlich  bekannt.  Er  berief  1759  den  jungen  Wieland 
von  Zürich  her  zum  Lehrer  seiner  Kinder,  d.  h.  Yomehm- 
lich  seiner  beiden  Zwillingsknaben,  yon  denen  der  jüngere, 
der  obengenannte  Earl  Ferdinand,  1748  geboren  war.*) 

Karl  Ferdinand  y.  Sinner  war  demnach,  als  Carl  August 
und  Ooethe  nach  Bern  kamen,  einunddreissig  Jahre  alt. 
Eine  öffentliche  'Bedienung',  wie  man  in  Bern  sagte,  scheint 
er  damals  nicht  gehabt  zu  haben.  Erst  1785  kam  er  in 
den  Grossen  Rath.  1793  ward  er  Landvogt  yon  Thun.  Nach 
der  Beyolution  kam  er  1803  und  1816  abermals  in  den 
Grossen  Rath,  1806  und  1816  war  er  Mitglied  des  Kleinen 
Käthes.'')    Er  war  auch  Oberst  und  starb  1826. 

*)  Sammlang  Bemischer  Biographien,  hg.  vom  historischen  Verein 
des  Kantons  Bern.  Bern,  Verlag  von  Schmid,  Francke  u.  Co.  1888.  Eine 
sehr  lebendig  und  fein  modellirte  Porträtstatuette  Sinners  in  Thon,  von 
V.  Sonnenschein  (1749—1816,  Bern.  Taschenb.  1853  S.284)  befindet  sich 
im  Ennstmnsenm  zn  Bern. 

')  y.  Fischer  a.  a.  0.  —  Friedrich  t.  Sinner  war  der  Vetter  jenes 
Specialfreundes  Albr.  Hallers,  Joh.  Bud.  y.  Sinner,  geb.  1702,  dem 
Hallers  Gedicht  *Der  Mann  nach  der  Welt'  gewidmet  war  (ygl.  L.  Hirzel, 
Hallers  Gedichte  S.  CXXXVII  und  102).  Die  Väter  Friedrichs  und  des 
ebengenannten  Joh.  Rudolf  (der  also  ebenfalls  nicht  mit  dem  *yon 
Balaigues'  zu  yerwechseln  ist)  waren  Brüder  und  Söhne  eines  dritten 
Johann  Rudolf,  der  yon  1696—1708  Schultheiss  war.  Über  den  letz- 
teren ygl.  Sammlung  Bern.  Biograph.  10.  Heft  8.  85  ff. 

^)  Über  den  Unterschied  des  Kleinen  yom  Grossen  Rathe  sowie 
über  die  Bedeutung  der  yerschiedenen  andern  oben  erwähnten  Ämter 
im  alten  Bern  kann  der  Leser  sich  orientiren  in:  Deliciae  Ürbis  Bemae. 

8* 


116      Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  Augast  an  E.  F.  v.  Sinner  in  Bern. 

Wenn  Carl  August  von  Sachsen-Weimar  an  Karl  Ferdi- 
nand von  Sinner  ein  Empfehlungsschreiben  mit  nach  Bern 
brachte,  so  kann  es  wohl  kaum  einem  Zweifel  unterliegen, 
dass  es  Wieland  gewesen  ist,  der  dieses  Empfehlungs- 
schreiben ausgestellt  hat :  von  dem  einstigen  Lehrer  empfing 
der  jüngere  ehemalige  Zögling  Carl  August  einen  Brief  an 
den  älteren,  welcher  letztere  ja  einst  unter  Thränen  den 
zärtlichsten  Abschied  von  Wieland  genommen  hatte.  ^)  Und 
wenn  andererseits  Goethe  in  seinem  Briefe  an  Frau  v.  Stein 
den  Namen  'Sinner'  erwähnt,  so  ist  es  wiederum  zweifellos, 
dass  mit  diesem  Namen  nicht  Sinner  'von  Balaigues',  son- 
dern nur  Earl  Ferdinand  v.  Sinner  oder  vielleicht  dessen 
Vater,  der  Schultheiss  Friedrich,  dem  die  weimarischen 
Beisenden  jedenfalls  ihre  Aufwartung  machten,  und  den  sie 
persönlich  kennen  lernten  (vgl,  die  unten  folgenden  Briefe), 
gemeint  sein  kann. 

Earl  Ferdinand  von  Sinner  hatte,  wie  er  in  dem  Yor- 
berichte  zu  Carl  Augusts  Briefen  an  ihn  erzählt,  'die  Ehre 
S[einer]  D[urchlaucht]  alles  Sehenswürdige  in  Bern  und 
und  Umgebung  zu  zeigen'.  Bei  den  Unterhaltungen  der 
beiden  Männer  kam,  wie  es  scheint,  die  Rede  auf  das  im 
Schlosse  Spiez  am  Thuner  See  befindliche  Porträt  des  Her- 
zogs Bernhard  von  Weimar,  sowie  auf  die  den  berühmten 
Yorfahren  Carl  Augusts  betreffenden  Papiere,  welche  der 
Nachkomme  Hans  Ludwigs  v.  Erlachs,  des  einstigen  Ober- 
generals in  der  Armee  Herzog  Bernhards,  Albrecht  Fried- 
rich V.  Erlach,  in  seinem  Schlosse  zu  Spiez  bewahrte. 

Carl  August  sprach  zunächst  den  Wunsch  aus,  das  Bild 
Herzog  Bernhards  zu  sehen.  Aus  den  zwei  ersten  der 
unten  folgenden  Briefe  und  aus  der  Yorbemerkung  Sinners 
zu  den  Briefen  des  Herzogs  kann  man  entnehmen,  dass 
Carl  August  das  Original  noch  in  Bern  selbst  durch  Sinners 
Bemühungen  zu  sehen  bekam  (er  bedankt  sich  dafür  bei 
Sinner  am  letzten  Tag  seiner  Anwesenheit  in  Bern  *)),  dass 

Merkwürdigkeiten  der  hochlöbl.  Stadt  Bern.  [Von  J.  R.  Grüner.] 
Zürich  1732. 

')  Vgl.  Wielands  Brief  über  seinen  Abschied  ans  dem  Sinnerschen 
Hanse.  Archiv  für  Litteraturgeschichte  13,  223  fP. 

*)  'Heut  früh  sind  wir  von  Bern  aV  schrieb  Goethe  am  20.  October 
an  Frau  v.  Stein  (1 «,  198). 


Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  August  an  E.  F.  v.  Sinner  in  Bern.      |  {  7 

er  sich  eine  Ton  dem  Maler  Hartmann^^)  anzufertigende 
Copie  bestellte,  und  dass  er  nach  vielen  Schwierigkeiten, 
die  Sinner  deswegen  mit  Herrn  v.  Erlach  hatte,  diese  Copie 
zu  Anfang  des  Jahres  1780  erhielt.  Zum  Danke  für  seine 
Bemühungen  Hess  der  Herzog  am  10.  Januar  1780  durch 
Goethe  eine  goldene  Dose  an  Sinner  senden:  er  selbst  be- 
gleitete das  Geschenk  mit  den  unter  dem  genannten  Datum 
geschriebenen  Zeilen,  aber  auch  Goethe  scheint  bei  diesem 
Anlass  an  Sinner  geschrieben  zu  haben,  da  am  20.  Januar 
1780  seiin  Tagebuch  die  Notiz  yerzeichnet:  'An  Sinnern'.  ^^) 
Aber  nicht  bloss  das  Porträt  Herzog  Bernhards,  son- 
dern auch  die  zahlreichen  von  ihm  selbst  herrührenden  und 
auf  ihn  bezüglichen  Urkunden,  welche  aus  dem  Besitze  des 


^^)  Jean  Hartmann,  eigentlich  Job.  y.  Schmidt,  der  natürliche 
Sohn  eines  österreichischen  Offiziers  nnd  einer  vomehmen  Dame  ans 
Nassan,  ward  1753  geboren,  und,  16  Jahre  alt,  der  Schüler  des  Mann- 
heimer Landschaftsmalers  Eobell.  Er  kam  1776  nach  Biel  im  dama* 
ligen  Bisthum  Basel  nnd  wurde  durch  seine  Kunst  bald  weit  bekannt. 
Er  malte  besonders  Landschaften,  die  Gegenden  des  Jura,  die  Ufer 
des  Bieler  Sees ,  die  Petersinsel  u.  a.  Über  ihn  spricht  Dr.  S.  Schwab 
in  der  Schrift  L*art  et  les  artistes  du  Jura  Bemois,  Bapport  de  la  so- 
ci6t4  cantonale  des  Beaux-Arts  pour  les  ann^es  1886  et  1887.  Beme, 
Schmid,  Francke  et  Comp.  1888.  Daselbst  heisst  es  S.  17 :  ^Goethe,  au 
cours  de  son  voyage  en  Suisse,  lui  rendit  visite  dans  sa  solitude;  il 
ne  contribua  peu  k  le  faire  connaltre  et  k  lui  procurer  des  commandes 
de  la  part  du  Duc  de  Weimar  et  des  cours  d^Angleterre,  d*Autnche 
et  de  Russie.  Des  lettres  fnrent  ächangdes  entre  euz;  malheureuse- 
ment  elles  n*ont  pas  ät^  consery^es.  Mais  il  parait  que  Goethe  poussa 
yivement  Hartmann  —  ou  plutdt  de  Schmidt  son  y^ritable  nom  —  k 
revendiquer  les  droits  qu*il  devait  ä  sa  naissance;  au  proc^s  fut  m^me 
ent&md,  puis,  sur  les  instances  de  personnes  interessdes,  suspendu  et 
enfin  abandonnd.  A  Tabandon  du  procbs  se  rattachait  la  condition 
qu'une  pension  dleyäe  lui  serait  rdg^i^ement  sende*  etc.  Qartmann 
starb  1830  im  Kanton  Waadt.  Vgl.  (R.  y.  Efßnger)  Vortrag  gehalten 
bei  der  Hauptyersammlung  des  Bemer  Kantonal -Kunstyereins  d. 
9.Dec.  1862,  Bern  1863.  Nagler  5,  568.  Müller,  Die  Künstler  etc. 
2,  346.    Katalog  des  Zofinger  Künstlerbuches,  Zofingen  1876  S.  23. 

")  Goethes  Werke,  Weimar  1887,  m  1, 106.  In  seiner  Ausgabe 
yon  Goethes  Tagebüchern,  Leipadg  1889  S.  181,  schreibt  Düntzer  wieder 
zu  dem  Namen  Sinner  die  Anmerkung  SchöUs  nach,  indem  er  bemerkt: 
'Den  gelehrten  Bücherkenner  J.  B.  y.  Sinner,  damals  Landyogt  in  Erlach, 
hatte  Gk>ethe  in  Bern  kennen  gelernt.  Er  beschäftigte  sich  auch  mit 
Mineralogie' ! 


118      Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  August  an  E.  F.  v.  Sinner  in  Bern. 

Generalmajors  Hans  Ludwig  v.  Erlach  im  Schlosse  zu  Spiez 
aufbewahrt  wurden  (und  welche  daselbst  geblieben  sind, 
bis  1875,  bei  der  Yersteigerung  der  Spiezer  Bibliothek, 
Dr.  y.  Gonzenbach  in  Bern,  der  Biograph  H.  L.  v.  Erlachs, 
dieselben  erwarb),  wollte  der  Herzog  von  Weimar  kennen 
lernen  und  womöglich  erwerben.  In  dieser  Absicht  hatte 
er  schon  in  seinem  ersten  Briefe  an  Sinner,  noch  in  Bern, 
um  ein  Yerzeichniss  der  Papiere  gebeten,  das  er  auch  er- 
hielt und  für  dessen  Besorgung  er  sich  am  6.  März  1780 
bei  Sinner  bedankte.  Aber  nach  Durchsicht  dieses  Ver- 
zeichnisses wünschte  Carl  August  die  Documente  selbst. 
Die  Erfüllung  dieses  Wunsches  stiess  jedoch  bei  der  Fa- 
milie Y.  Erlach  auf  die  grossten  Schwierigkeiten.  Nicht 
nur  Earl  Ferdinand  y.  Sinner,  sondern  auch  dessen  Yater, 
der  Schultheiss  Friedrich,  bemühten  sich  vergeblich  in  dieser 
Angelegenheit.  Carl  August  schrieb  am  18.  Mai  1780  selbst  an 
den  mit  Friedrich  y.  Sinner  im  Amte  wechselnden  zweiten 
Schultheiss  Albrecht  Friedrich  y.  Erlach  ^^),  wie  an  dessen 
Neffen  gleichen  Namens  auf  Schloss  Spiez.  Umsonst.  Man 
bot  ihm  schliesslich  Copien  der  Documente  an,  mit  denen 
Carl  August  sich  auch  zufrieden  geben  wollte.  Dennoch 
ist  es  zweifelhaft,  ob  eine  Auslieferung  solcher  Abschriften 
damals  erfolgt  sei.  In  seinem  bekannten  Werke  'Herzog 
Bernhard  der  Grosse^  Weimar  1 828  ff.  berichtet  Böse,  dass 
Carl  Augusts  Bemühungen  um  Abschriften  der  Spiezer  Pa- 
piere 1780  erfolglos  geblieben  und  solche  Abschriften  erst 
^Yor  einigen  Jahren'  nach  Weimar  gekommen  seien. 

Eine  wesentliche  Ursache  des  Terlangens  des  Herzogs 
Yon  Weimar,  die  Papiere  Herzog  Bernhards  zu  erhalten, 
mag  die  damals  Yon  Goethe  gehegte  Absicht  gewesen  sein, 


'*)  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  bemerkt,  dass  auch  eine  weitere 
Erklärang  Ad.  Schölls  zu  dem  Briefe  Goethes  an  Fran  y.  Stein  Tom 
16.  October  1779  unrichtig  ist.  Scholl  setzt  zu  dem  Namen  Tschamer 
hinzu:  Schultheiss.  Es  gab  damals  keinen  Schultheiss  dieses  Namens, 
sondern  Sinners  Genosse  im  Amte  war  eben  der  hier  bezw.  unten  in 
dem  Briefe  Carl  Augusts  yom  18.  Mai  1780  erwähnte  Erlach.  Vgl.  die 
Liste  der  Schultheissen  von  Bern  in  Durheim,  Bemer  Chronik,  Bern 
1859  S.  29Ö.  Auch  diese  irrthümliche  Notiz  SchöUs  haben  Fielitz  und 
Düntzer  wiederholt. 


n 


Hinel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  August  an  K.  F.  y.  Sinner  in  Bern.     1 1 9 

die  Biographie  Herzog  Bernhards  zu  schreiben.  In  Goethes 
Briefen  an  Lavater  liest  man  S.  83  (Brief  vom  5.  Juni  1 780) : 
^Yielleicht  schick  ich  dir  ehestens  ein  Portrait  von  dem 
Herzog  Bernhardt  aus  dem  hiesigen  Hause,  um  mirs  von 
Lipsen  stechen  zu  lassen  .  . .  Ich  scharre  nach  meiner  Art 
Yorrath  zu  einer  Lebensgeschichte  dieses  als  Helden  und 
Herrschers  wirklich  sehr  merkwürdigen  Mannes,  der  in 
seiner  kurzen  Laufbahn  ein  Liebling  des  Schicksaals  und 
der  Menschen  gewesen  ist,  zusammen  und  erwarte  die  Zeit, 
wo  mirs  vielleicht  glücken  wird,  ein  Feuerwerk  draus  zu 
machen.  Seine  Jahre  fallen  in  den  dreissigjährigen  Krieg. 
Sein  und  seiner  Brüder  Familien-Gemälde  interessirt  mich 
noch  am  meisten,  da  ich  ihren  Urenkeln,  in  denen  so 
manche  Züge  leibhaftig  wieder  kommen,  so  nahe  bin.  Übri- 
gens Tersuche  ich  allerley  Beschwörungen  und  Hocus  pocus 
um  die  Gestalten  gleichzeitiger  Helden  und  Lumpen  in 
Nachahmung  der  Hexe  zu  Endor  wenigstens  bis  an  den 
Gürtel  aus  dem  Grabe  steigen  zu  lassen  und  allenfalls  irgend 
einen  König,  der  an  Zeichen  und  Wunder  glaubt,  ins 
Bockshorn  zu  jagen.'  Indessen  haben  diese  Yersuche  Goethes 
bekanntlich  zu  keinem  Resultat  geführt.  In  den  ^Tages- 
und  Jahresheften'  steht:  ^Dagegen  wurde  manche  Zeit  und 
Mühe  auf  den  Yorsatz,  das  Leben  Herzog  Bernhards  von 
Weimar  zu  schreiben,  vergebens  angewendet.  Kach  viel- 
fachem Sammeln  und  mehrmaligem  Schematisiren  ward  zu- 
letzt nur  allzuklar,  dass  die  Ereignisse  des  Helden  kein 
Bild  machen.  In  der  jammervollen  Iliade  des  dreissigjäh- 
rigen Krieges  spielt  er  eine  würdige  Rolle,  lässt  sich  aber  ^  /" 
von  jener  Gesellschaft  nicht  absondern.  Einen  Ausweg 
glaubte  ich  jedoch  gefunden  zu  haben:  ich  wollte  das  Leben 
schreiben  wie  einen  ersten  Band,  der  einen  zweiten  noth- 
wendig  macht,  auf  den  auch  schon  vorbereitend  gedeutet 
wird;  überall  sollten  Yerzahnungen  stehen  bleiben,  damit 
jedermann  bedaure,  dass  ein  frühzeitiger  Tod  den  Bau- 
meister verhindert  habe  sein  Werk  zu  vollenden.  I^ 
mich  war  diese  Bemühung  nicht  unfruchtbar;  denn  wie  das 
Studium  zu  Berlichingen  und  zu  Egmont  mir  tiefere  Ein- 
sicht in  das  fünfzehnte  und  sechzehnte  Jahrhundert  ge- 
währte, so  musste  mir  diesmal  die  Yerworrenheit  des  sieb- 


1 20     Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  August  an  E.  F.  v.  Sinner  in  Bern. 

zehnten    sich   mehr   als   sonst   vielleicht  geschehen  wäre, 
entwickeln.'^') 

Yielleicht  war  die  Hartnäckigkeit  der  Herren  v.  Erlach 
mit  die  Ursache,  dass  Goethes  hier  erwähnter  Plan  nicht  zur 
Ausführung  kam  und  auch  dann,  wie  es  scheint,  nicht  weiter 
gedieh,  als  Albr.  Friedr.  v.  Erlach  unter  dem  Titel:  M^moires 
historiques  concernant  M.  le  g^n^ral  d^Erlach,  Gouverneur 
de  Brisach,  Pays  et  Places  en  däpendants  etc.  etc.  Pour  servir 
k  l'histoire  de  la  fameuse  guerre  de  XXX  ans  et  des  rögnes 
de  Louis  XHI  et  de  Louis  XIV.  Yverdon  MDCCLXXXIV 
ein  Werk  von  vier  Octavbänden  veröffentlicht  hatte,  das 
auch  über  den  Herzog  Bernhard  eine  Reihe  unbekannter 
Actenstücke  aus  den  Spiezer  Papieren  in  die  Öffentlichkeit 
brachte.  Wohl  um  seine  Zurückhaltung  gegenüber  Carl 
August  zu  entschuldigen,  hatte  Albr.  v.  Erlach,  ^Baron  de 
Spiez',  wie  er  sich  nennt,  dieses  letztgenannte  Werk  dem 
Herzog  Carl  August  dedicirt.  Die  Vorrede  ^k  son  Altesse 
Sörenissime,  Monseigneur  Charles- Auguste  Duc  Regnant  de 
Saxe- Weimar'  erwähnt  aber  mit  keinem  Worte  der  voraus- 
gegangenen Verhandlungen  zwischen  den  beiden  Männern.^*) 
Dem  ersten  Bande  des  Werkes  ist  ein  Bild  Hans  Ludwigs 
V.  Erlach  und  ein  solches  Herzog  Bernhards  beigegeben ;  im 
letzteren  sieht  man  wohl  unzweifelhaft  die  Reproduction  des 
in  den  unten  folgenden  Briefen  besprochenen  Originales.^') 

Sein  persönlicher  Verkehr  mit  Karl  Ferdinand  v.  Sinner 
während  des  Aufenthalts   in  Bern,   die  Aufträge  des  Her- 


")  Werke  (Hempel)  27, 5. 

^*)  Die  nrsprünglich  deutsch  geschriebenen  Urkunden,  deren  Inhalt 
A.  y.  Erlach  in  seinem  Werke  zur  Kenntniss  bi-achte,  sind  ins  Fran- 
zösische übersetzt!  S.  A.  v.  Gonzenbach  in  der  Vorrede  zu  seiner  um- 
fassenden Biographie:  Der  General  Hans  Ludwig  von  Erlach,  3  Bände, 
Bern  1880-82  1,  VI. 

^*)  In  architektonischer  Umrahmung  das  medaillonförmige  Brust- 
bild des  jugendlichen  Helden  im  Panzer  mit  Schärpe  und  Kragen,  vor 
einem  Vorhang  und  einer  Säule.  Im  Hintergrunde  eine  kriegerische 
Scene.  Die  Umschrift  zu  beiden  Seiten  und  unterhalb  des  Bildes  lautet: 
'Bernhard  par  la  grace  de  dieu  Duc  de  Saxe  etc.  etc.  Generalissime*. 
Unter  dem  Bilde  in  besonderer  Einfassung:  *Condignus  haeres  Saxonis 
fidi  sacris,  et  marte,  et  arte  Principum  nullo  minor  Regi  heu!  cadenti 
laureum  meritus  manu  Bernardus  hie  est,  Teutonum  et  Gothi  decus*. 


Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  August  an  K.  F.  v.  Sinner  in  Bern.      1 2 1 

zog8  nach  der  Rückkehr  von  der  Schweizerreise  und  sein 
eignes  Interesse  an  dem  weimarischen  Helden,  dessen  Leben 
die  Bemühungen  Sinners  aufzuklären  versprachen,  hat  auch 
Qoethe  in  brieflichen  Yerkehr  mit  Sinner  gebracht.  ^')  Doch 
konnten  die  Briefe,  die  Goethe  an  Sinner  geschrieben  hat, 
leider  nicht  mehr  gefunden  werden.  Aus  erhaltenen  Ent- 
würfen Sinners  zu  Briefen  an  Goethe  geht  aber  hervor,  dass 
Sinner  am  28.  April  1780  einen  zweiten  Brief  von  Goethe 
erhalten  hat  (der  erste  war  der  obenerwähnte,  am  20.  Januar 
geschriebene)  und  dass  auch  im  Mai  1783  Sinner  durch 
Vermittlung  des  Herrn  v.  Beulwitz  einen  Brief  von  Goethe 
erhielt.  Über  den  Inhalt  der  ersten  Briefe  Goethes  an 
Sinner  erfahren  wir  aus  den  Concepten  Sinners,  dass  irgend 
eine,  nicht  näher  zu  ermittelnde  'Übereilung'  Sinners  Goethe 
gegen  diesen  'aufgebracht'  hat,  dass  Sinner  eine  sehr  'kurz 
gefasste  Antwort'  folgen  Hess,  dass  dann  aber  eine  'äus- 
serst erfreuliche'  Antwort  von  Goethe  erfolgte.  Der  dritte 
der  Briefe  Goethes  an  Sinner,  vom  Mai  1 783,  war  ein  Em-* 
pfehlungsschreiben,  mit  welchem  Goethe  die  Frau  v.  Lenge- 
feld und  deren  Töchter  bei  Sinner  einführte.  In  seinem 
Concepte  zu  einer  Antwort  an  Goethe  auf  dieses  Schreiben 
sagt  Sinner  zuerst  seinen  Dank  für  den  Brief  und  die  Yer- 
mittelung  der  Bekanntschaft  mit  den  liebenswürdigen  Damen. 
Dann  föhrt  er  fort:  'Ich  habe  mit  Vergnügen  aus  ihrem 
Munde  erfahren,  dass  der  Herzog  ihren  grossen  Verdiensten 
gemäss  Sie  in  das  Weymarische  Ministerium  erhoben  hat. 
Geniessen  Sie  die  Huld  Ihres  vortrefflichen  Fürsten,  wie 
auch  die  Hochachtung  aller  Welt,  bis  in  das  höchste  Alter. 
Gönnen  Sie  mir,  Ihrem  Bewunderer  und,  wenn  ich  es  sagen 
darf,  Ihrem  Freunde,  Ihre  Gewogenheit  und  Ihr  schmeichel- 
haftes Andenken'.^'') 

^')  An  die  oben  erwähnte  Notiz  aus  Goethes  Tagebuch:  'An 
Sinnem'  schüesst  sich  die  unmittelbar  folgende:  *Auf  die  Bibl[iothek] 
wegen  Beruh [ards]  Leben*  also  ganz  naturgemäss  an  und  zeigt,  dass 
Goethe  wegen  der  Angelegenheit  der  Biographie  Herzog  Bernhards 
an  Sinner  geschrieben  haben  muss. 

")  Inwieweit  die  hier  erwähnten  Concepte  Sinners  zur  Aus- 
führung und  die  ausgeführten  zur  Absendung  nach  Weimar  gekommen 
sind,  weist  vielleicht  eine  durch  die  vorliegende  Veröffentlichung  zu 
erhoffende   Mittheilung    aus   dem   Goethe-Archiv   gelegentlich   nach. 


\  22     Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  August  an  K.  F.  v.  Sinner  in  Bern. 

Am  Schlüsse  dieser  einleitenden  Bemerkungen  hat  der 
Verfasser  der  vorstehenden  Blätter  die  angenehme  Pflicht, 
der  gütigen  Besitzerin  der  Briefe  Carl  Augusts  an  Karl 
Ferdinand  v.  Sinner,  Frau  v.  Diessbach-v.  Tavel,  in  Bern, 
sowie  H.  Oberst  Rudolf  v.  Sinner  in  Bern  den  Terbind- 
liebsten  Dank  für  die  Übermittelung  der  hier  veröffentlichten 
werth vollen  Actenstücke  auszusprechen.  H.  Oberst  v.  Sinner 
gebührt  der  besondere  Dank  des  Yerfassers  dieser  Zeilen, 
und  der  Freunde  der  Litteraturgeschichte  überhaupt,  auch 
insofern,  als  seinen  gütigen  Mittheilungen  die  oben  ste- 
henden Notizen  über  die  verschiedenen  Mitglieder  der  Fa- 
milie V.  Sinner  entnommen  werden  durften. 

An  den  Ausdruck  dieses  Dankes  darf  sich  vielleicht 
endlich  auch  noch  der  Ausdruck  einer  Hoffnung  reihen. 
Der  Hoffnung  nämlich,  dass  es  gelingen  möchte,  einmal 
sicher  zu  ermitteln,  wer  jener  Herr  v.  Sinner  gewesen,  der, 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach ,  diejenige  Dramatisirung 
einiger  Motive  aus  ^Werthers  Leiden'  verfasste,  die  unter 
dem  Titel  'Les  malheurs  de  l'amour,  Drame,  Beme,  chez 
B.  L.  Walthard  1775'  (mit  Titelblatt  und  Schlussvignette 
von  B.  A.  Dunker)  erschienen  ist.  ^®)  Für  ^Sinner  von  Ba- 
laigues'  spricht  dessen  vielseitige  litterarische  Thätigkeit. 
Aber  wo  sind  die  Nachweise? 

Vorbemerkung   Sinners  zu  den   Briefen 

Carl  Augusts. 

Im  Herbst  1779  käme  der  regierende  Herzog  von  Sachsen- 
Weimar,  begleitet  nebst  andern  Gavaliers  von  dem  berühmten 
Herrn  Göthe,  nach  Bern.  Er,  der  Herzog,  hatte  ein  Empfehlungs- 
schreiben an  mich.  Ich  hatte  die  Ehre  S.  D.  alles  sehenswürdige 
in  unserer  Stadt  und  derselben  Umgebungen  zu  zeigen.  —  Er 
ersuchte  mich,  eine  Copie  von  dem  im  Schlosse  Spietz  sich  befin- 
denden Original  Portrait   des  berühmten  Herzogs  Bernhard   von 


Einstweilen  musste  der  Verfasaer  vorstehenden  Aufeatsses  auf  die  voll- 
ständige Wiedergabe  der  Goncepte  Sinners  verzichten. 

>•)  Albr.  Haller  an  E.  F.  v.  Gemmingen,  den  20.  April  1775: 
*Ein  hiesiger  Edelmann  hat  Werthem  in  ein  firanzÖBisches  Drama  ge- 
bracht* (nngedrackt).  J.  J.  Bodmer  an  Schinz  14.  Angust  1776  (Qoethe- 
Jahrb.  5, 197) :  *Wir  müssen  doch  Sinners  Werther  auch  sehen.  Ein 
Prama  davon  muss  sehr  die  Mine  einer  Elegie  haben'. 


Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  August  an  K.  F.  ▼.  Sinner  in  Bern.      ]  23 

Sachsen-Weymar  inaclien  zu  lassen  und  sie  Ihme  nach  Weymar 
zu  senden.  Nach  vielen  Bemühungen  gelang  es  mir  endlich  das 
Original  Ton  Hern  v.  Erlach  in  Spiez  auf  einige  Zeit  zu  erhalten. 
Kunstmahler  Hartmann  verfertigte  davon  eine  sehr  gute  Gopie. 
Nach  Empfang  derselben  geruhten  S.  D.  mir  Ihren  Dank  nebst 
Übersendung  einer  goldenen  Dose  durch  Ihren  geheimen  Rath 
Göthe  zukommen  zu  lassen.  Von  daher  rühren  die  Briefe  von 
dem  Herzogen  an  mich  her.  v.  Sinner. 

Briefe  Carl  Augusts  an  K.  F.  v.  Sinner.^*) 

1. 

Berne  ce  20  d'Octobre  1779. 

G'est  avec  les  sentiments  de  la  plus  vive  reconnoissance 
Monsieur  pour  toutes  les  bont^  et  polilesses  dont  Vous  m*avez 
Gombl^  pendant  mon  s^jour  k  Berne  que  je  Vous  en  offire  mes 
remerciments;  soyez  sur  Monteur  qu'ils  sont  bien  vrais  et  sinceres. 
Je  Vous  envoi  le  portrait  du  Duc  Bernhard,  avec  priere  de  le 
faire  remettre  ä  Mr.  d'Erlach  avec  bien  des  remerciments  de  ma 
part  pour  sa  complaisance.  Ajoutez  k  tout  ce  que  Vous  avez 
bien  voulu  faire  pour  moi,  encore  cette  bont6  de  me  faire  tirer 
une  c(^ie  bien  fidel e  de  ce  portrait  par  Hartmann,  si  Mr. 
d*Erlach  le  permet.  S'il  est  achev^  Vous  aurez  la  bont^  Mon- 
sieur de  me  le  faire  venir  ä  Weimar.  J*ose  Vous  prior  en  m^me 
tems  Monsieur  de  tächer  d'avoir  la  liste  des  papiers  du  Duc  de 
Weimar  qui  se  trouvent  k  Spiez  et  de  me  l'envoyer.  Ce  sera 
mettre  le  comble  a  ma  reconnoissance  si  Vous  voulez  Vous  charger 
de  ces  commissions,  que  je  prends  la  hbert6  de  Vous  donner;  par- 
donnez  mon  griffonage,  mais  soyez  assurez  que  rien  negaie  les 
sentiments  que  je  Vous  ai  voue  pour  la  vie. 

Charles.  D,  d.  S.  W. 
[Adresse]  A  Monsieur  le  Gapitaine  de  Sinner. 


Weymar  den  10  Jan.  1780. 

Unter  vielen  annehmlichkeiten ,  die  ich  meiner  Reise  in  die 
Schweitz  verdanke,  ist  die  Ihrer  Bekanntschaft,  werther  Herr 
von  Sinner,  mir  eine  der  vorzüglichsten.  Die  vielen  höflichkeiten, 
u.  Dienste,  welche  Sie  mir  veährend  meines  Aufenthaltes  in  Bern 
erzeigt  haben,  sind  mir  auf  immer  unvergesslich.  Empfangen  Sie 
meinen  lebhaftesten  Dank  dafür.  Ich  wünsche  dass  das  kleine 
Geschenk,  welches  ich  hier  beylege,  u.  Sie  gütigst  annehmen 
wollen,  Sie  zuweilen  an  mich,  u.  an  die  angenehmen  tage,  welche 
ich  mit   Ihnen  zuzubringen  das  Glück  hatte,   errinnern  möge,  u. 


^*)  Orthographie  und  Interpunction  nach  den  Originalen. 


1 24      Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  Augaet  an  K.  F.  y.  Sinner  in  Bern. 

Ihnen  ein  beständiger  Zeuge  sey,   von  der  wahren  hochachtung, 
weiche  ich  für  Sie  hege.     Leben  Sie  wohl. 

Carl  August.  HzSachsenW. 

3. 

A  Monsieur 
Monsieur  le  Gapitaine  de  Sinner 
Second  ßls  de  Mr.  Tavoyer 

a  Berne  en  suisse. 
[Re<2ue  le  2  d'avril  80] 

[Rückseite:   par   addresse   de  Vos    tres   humbles    et  tres  obeiss 
Seryiteurs  freres  Bethman.] 

Weimar  ce  6  de  Mars  1780. 

J^ai  requ  Monsieur,  Votre  derniere  du  2  de  fev.  ainsi  que 
Celle  qui  precedoit  le  portrait  du  D.  Bernhard.  Je  suis  on  ne 
peut  pas  plus  reconnoissant  des  peines  que  vous  avez  bien  touIu 
Vous  donner  pour  me  le  procurer;  mon  voyage  a  616  j'usqu'a 
chez  moi  irhs  heureux,  un  peu  de  mauvais  tems  nous  a  incom- 
mod6y  mais  en  nous  arrettant  souvent,  a  des  endroit  interessant, 
cela  a  6t6  fort  supportable. 

J'ai  pass6  par  Studtgardt  ou  je  me  suis  arret6  8  jours.  Puis 
en  passant  par  Garlsruh,  en  Darmstadt,  j*ai  visit6  mes  parents. 
G*est  le  19  de  Janvier  que  je  suis  arrivä  ici.  Le  grand  froid  ne 
fait  que  de  nous  quitter;  at-il  6t6  si  fort  chez  Vous  en  Suisse 
aussi?  Je  suis  bien  sensible  au  souvenir  de  Mr  Pavoyer  votre 
pere;  je  compte  pour  une  des  plus  heureuses  circonstances  de  mon 
voyage  que  j'ai  eu  la  satisfaction  de  faire  sa  connoissance.  Je 
Vous  prie  Monsieur  de  lui  dire  bien  de  helles  choses  de  ma  part 
et  de  Tassurer  de  la  verit6  de  la  haute  estime  que  je  lui  porte. 

Je  suis  sur  que  rien  ne  me  procurera  plus  facilement  la 
possession  des  papiers  du  Duc  Beruh,  qui  me  sont  a  cause  de 
rhistoire  de  ce  grand  homme  si  interessant  que  si  Vous  Monsieur 
et  Mr  l'avoyer  voudront  bien  continuer  d'employer  Votre  Credit 
pr6s  Mr.  le  Baron  de  Spietz.  Vous  me  Vous  rendez  bien  rede- 
vable  encore  par  la  peine  que  Vous  voulez  bien  Vous  donner 
pour  me  procurer  ces  papiers;  En  verit6  Monsieur  je  ne  saurai 
rien  par  quoi  Vous  pourriez  plus  m*obhger,  que  par  ce  Service. 
Les  originaux  qui  ne  sont  d'aucune  Utility  a  Mr  d*Erlach  me  le 
seroient,  a  en  juger  par  le  Catalogue  que  Vous  avez  eu  la  bont6 
de  m'envoyer  nous  manquant  tout  detail  exact  et  authentique  de 
ce  Duc.  Vous  voudrez  bien  remercier  Mr  de  Spietz  de  ma  part 
de  ce  qu'il  a  bien  voulu  de  me  faire  parvenir  ce  Catalogue. 
Adieu  Monsieur,  je  vous  prie  de  me  donner  souvent  de  nouvelles, 
vos  lettres  me  seront  toujours  interessants,  je  serai  charm6  d*ap- 
prendre  par  Vous  des  nouvelles  d^un  pays  que  j*aime  tant  et  au- 
quel  je  dois  de  jours  et  de  connoissances  si  agreables.    Je  Vous 


Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  August  an  K.  F.  v.  Siuner  in  Bern.      \  25 

prie  de  croire  quo  las  sentiments,  et  la  parfaite  consid^ration  que 
je  Vous  porte,  ne  se  changeront  jamais. 

Charles  DdSW. 

4. 

A  Monsieur  le  capitain  de  Sinner 
second  fils  de  M'  Tayoyer 

a  Herne  en  Suisse. 
fro  Schaflfhs. 

[Am  Rande  (und  auf  der  Rückseite  von  der  Hand  des  Empfängers): 
2  Juni  1780.] 

Weimar  ce  18  de  M.  1780. 

Vous  m*aviez  conseill^  Monsieur  de  m'adresser  droit  a  TAvoyer 
Erlach  et  ä  son  neveu,  pour  obtenir  les  papiers  du  Duc  Bernhard 
de  Weimar,  qui  se  trouvent  dans  le  chateau  de  Spietz;  je  vous 
envoi  pour  cela  deux  lettres  que  je  vous  prie  de  remettre  selon 
leurs  adresses.  Pardonnez  moi,  Monsieur,  que  je  Vous  en  charge. 
Je  serois  tr^  6tonn6  si  mes  lettres  fussent  d^un  plus  grand  effet 
que  la  peine  que  Vous  et  BIr.  Votre  pere  avez  bien  voulu  de 
Vous  donner  pour  me  les  procurer:  Si  contre  mon  attente  je 
reussirai  de  la  faqon  que  Vous  m^avez  conseill^,  je  ne  manquerai 
jamais  de  me  souvenir  que  ce  n'est  qu'  ä  la  maniere  comme 
Vous  avez  bien  voulu  arranger  Paffaire,  que  j*en  deverai  la  reuissite. 
Donnez  moi  bientdt  de  Vos  nouvelles  et  croyez  ä  la  veritä  des 
sentiments  que  je  Vous  porte.     J*ai  Thonneur  d^^tre 

Monsieur 
votre  tr^  affectionn^  serviteur 

Charles  DdSW. 

Mr.  Tavoyer  votre  pere  trouve  ici  les  assurances  de  la  haute 
estime  que  je  lui  porte. 

5, 

A  Monsieur 
Monsieur  de  Sinner,  Capitaine, 
Second  fils  de  Mr  Tavoyer 

ä  Avanche  en  Suisse  p.  Berne. 
fr  Schaffhs. 
[Von  der  Hand  des  Empfängers:  Requ  le  28  Juillet  1780.] 

W.  ce  7  de  Julliet  1780. 

Votre  lettre  Monsieur  du  21  du  mois  pass^,  m*est  venue,  il 
y  a  quelques  jours.  Je  suis  on  ne  peut  pas  plus  reconnoissant 
des  peines  infinies  que  Vous  Vous  donnez  pour  me  procurer  la 
possession  du  papiers  du  Duc  Bernhardt.  L*amiti6  que  Vous  me 
prouvez  par  la  m'est  extremement  flatteuse  et  les  marques  en 
seront  imprim^  pour  toujours  ä  ma  memoire.  Quoique,  selon  ce 
que  j'ai  vu  par  votre  lettre,   Monsieur,   Vous  avez  rendu  a  Mrs 


126     Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  August  an  K.  F.  v.  Sinner  in  Bern. 

d^Erlach  ce  dont  je  Vous  avois  pri4  de  Vous  charger  i]s  ne  m^ont 
point  repondu,  ni  Tavoyer  ui  sou  gendre,  la  raison  m'en  est  un 
enigme,  j^  n^espere  pas  que  cela  sera  la  faqon  avec  laquelle  ils 
vaudront  me  faire  parvenir  leur  refus.  Je  ne  Tai  pas  demand^ 
de  droit  a  ees  Mess,  ce  n'etoit  que  par  complaisance  que  je 
m^attendois  quMls  me  cederoient  cel  papiers  qui  ne  leur  sont 
d'aucune  utilit^,  et  qui  me  seroient  tr^  agr^able  par  rapport  ä 
rhistoire,  du  grand  General.  Que  de  cette  negotiation  arrive  ce 
que  voudra,  eile  m'a  prouv^  un  grand  bien  en  me  faisant  con- 
noitre  Monsieur,  votre  caractere  amiable,  bonete,  et  serviable. 
Ges  connoissances  me  sont  tr^  precieuses  et  je  souhaite  leur 
prouver  le  cas  que  j'en  tais.  Mr.  Tayoyer  Votre  pere  voudra  bien 
receyoir  Tassurance  de  mon  estime;  adieu,  Monsieur,  conservez 
moi  les  sentiments  dont  Vous  m'avez  donnes  tant  de  marques  si 

^***^"^^^-  Charles  DdSW. 

On  m^a  dit  que  Mr  le  Duo  de  Ghartre  a  mäne  un  singulier 
train  de  vie  chez  Vous,  pas  trop  a  sa  louange  cela  est-il  vrai? 
11  n'a  fait  que  parcourir  la  Suisse.  Je  Vous  envie  de  passer  la 
belle  Saison  dans  cette  belle  contr^e  d'Avenche.  Mad.  Votre  belle 
mere  youdra  bien  se  souyenir  de  moi.    Pardonnez  mon  griffonage. 


6. 
A  Monsieur 
Monsieur  le  capitaine  de  Sinner 
Second  fils  de  Mr  Tayoyer 
fr.  Schaffhse  ä  Ayenche,  en  Suisse. 

[Recue  le  8.  7.»"«  1780.] 

W.  ce  26d'Aout  1780. 

Votre  lettre  du  3  de  ce  mois,  Monsieur,  m^est  yenue.  Vous 
§tes  trop  modeste  de  ne  pas  youloir  reconnaitre  combien  je  Vous 
suis  redeyable  pour  loutes  les  peines  que  Vous  ayez  bien  youlu 
Vous  donner  pour  m*obliger.  J'aurois  §t6  plus  embarrass^  de  de- 
mander  les  papiers  si  souyent  mentionn^s,  en  fussiez  Vous  le  pos- 
sesseur,  connoissant  Votre  amiti^  pour  moi,  et  le  desir  que  Vous 
ayez  de  rendre  des  seryices  a  ceux  qui  ont  eu  le  bonheur  de  Vous 
interesser. 

Mrs  d  Erlach  m^ont  epargn^s  cet  embarras  de  delicatesse. 
J^ai  recu  reponse  d'eux,  peu  de  tems  apräs  que  Vous  re^utes  ma 
derniere  lettre.  Ils  mont  refuses  nettement  les  originauz  et  m'en 
ont  ofifert  des  copies.  Je  me  yois  oblig6  d'accepter  cela  et  je  le 
leurs  ferais  ecrire. 

La  Secheresse  ä  6t^  des  plus  forte  dans  toute  TAUemagne 
et  cela  a  nuit  a  beaucoup  de  choses.  Les  präiries  en  ont  beau- 
coup  soufifert,  et  la  paille,  qui  est  un  grand  article  chez  nous,  est 
rest^e  tres  courte.   Cela  incommode  beaucoup  nos  economes. 


Hirzel,  Briefe  d.  Herzogs  Carl  August  an  E.  F.  y.  Sinner  in  Bern.      1 27 

Mr  Votre  [pere]  voudra  bien  recevoir  les  assurances  de  ma 

haute  estime,  et  Vous,  Monsieur,  serez  assur^  de  l'invariabilit^  des 

sentiments  que  je  vous  porte.  ^,     ,      tnjoitt 

^  Charles  DdSW. 

7. 

A  Monsieur 

Monsieur  le  Gapitaine  de  Sinner 

Second  fils  de  Mr  Tavoyer  „  ^  . 

a  Berne,  en  Suisse. 

W.  ce  26  Nov.  1780. 

Ce  n*est  point  paresse  Monsieur,  qui  m*a  fait  differrer  si 
longtems  a  Vous  repondre,  mais  une  absence  me  priva  du  plaisir 
de  recevoir  Votre  lettre  plustot.  Vous  avez  bien  tord,  Monsieur, 
croyant  que  Vous  puissiez  m'incommoder  en  m^ecrivant,  je  suis 
enchant^  de  recevoir  de  Vos  lettres  et  par  la  des  nouvelles  d^une 
contra  que  j^aime  tant  comme  Votre  pays  natal. 

C^est  presentement  que  j'avois  quitt^  le  canton  de  Berne 
pour  le  sauvage  Valais,  ou  pour  mieux  dire,  c'est  plustot  un  de 
ces  jours  Tanniversaire  de  mon  arriv^  a  Zürich. 

Nous  avons  joui  d'un  assez  bei  automne,  et  ce  n^est  que  le 
froid  qui  nous  manque  pour  que  ce  roois  nous  soit  tout  a  fait 
agr^able;  mais  les  Aurores  boreales  qui  ne  nous  quittent  presque 
point  la  nuit  depuis  quelques  jours  nous  annoncent  Tapproche  de 
tous  les  plaisirs  froids  que  Thiver  nous  apporte.  Ce  seroit  dans 
Votre  ville  que  je  voudrois  pouvoir  passer  cette  saison,  et  attendre 
la  le  retour  du  beau  verd  qui  nulle  part  est  aussi  beau  qu'en 
Suisse. 

Si  Toccasion  me  manque  de  Vous  voir  cela  ne  m^empeche 
point  de  Vous  dire  de  bouche  que  les  sentiments  d*une  estime 
particuliere  que  je  Vous  porte,   sont  vrais  et  inalt^rables.    Adieu 

^^^«^^^  Charles  DdSW. 

Mr.  Votre  pere  voudra  bien  recevoir  bien  des  compl.  de 
ma  part. 

8. 

W.  le  8  de  Jan.  1781. 

Je  viens  de  recevoir  Monsieur  Votre  lettre  du  30  X*»'.  Vous 
m'avez  donnez  par  la  une  nouvelle  marque  de  Votre  Souvenir  et 
de  Votre  amitie.  Vous  aurez  commenc^  Tann^  selon  mes  voeux, 
Sans  aucune  inqui6tude,  je  desire  que  Vous  jouissiez  dans  son 
cours  d'une  parfaite  sant^  et  d*un  contemtement  non  interrompu. 
Nous  avons  dans  ce  pays  ci  et  dans  toute  la  contr^e  de  la  neige 
que  depuis  quatre  jours;  ou  froid  sec,  ou  un  d^^le  general  est 
le  tems  que  nous  avons  eu,  depuis  le  commencement  de  Phyver. 
Cette  Saison  s'est  suivi  assez  regulierement  7  >- 8  jours  d*un  froid 
sec,  fut  ordinairement  suivi  d'un  d^61e  de  2— 3  jours;  puis  le  froid 


1 28         Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

reprit  avec  v^h^inence.  Las  semences  en  souffriront  beaucoup. 
Tous  les  proprietaires  des  magazins  n'y  perdront  rien.  N^avez 
Vous  pas  besoin  de  faire  quelque  achat  de  Bled  dans  Votre  pays? 
La  Thuringue  qui  en  abonde  serait  bien  chann6  de  Vous  en  four- 
nir.  En  cas  que  Votre  Repubiique  en  auroit  besoin,  donnez  nous 
la  preferance.  D*ou  est  ce  que  Vous  tirez  les  denr6es  avec  les- 
quels  Vous  formez  Vos  magazins?  Est-ce  par  le  charoi  que  Vous 
les  transportez  ou  bien  Vos  rivieres  Vous  servent-ils  ä  cet  usage? 
Entre  autres  bons  instituts  que  Vous  avez  chez  Vous  s'y  trouye-t*il 
un  Lombard?  En  cas  que  cela  soit,  je  Vous  prierois  de  m^en  faire 
parvenir  la  description,  Tordre  dans  lequel  il  se  trouve  et  la 
faQon  comme  il  est  m§n6.  Pardonnez  moi  la  libert^  que  je  prends 
de  Vous  charger  de  ces  commissions,  et  croyez  Monsieur,  que 
Testime  que  je  Vous  porte,  est  tr^  distingu6e  et  inviolable.  Adieu 

^^^^^^^^'  Charles  DdSW. 

Bern.  Ludwig  Hirzel. 


Die  Anordnung  der  Sehillersclien  Gedlehte. 

1. 

Für  die  Gedichte  Schillers  hat  sich  die  Anordnung, 
welche  Körner  nach  des  Dichters  Tode  traf,  allgemein  ein- 
gebürgert und  ist  bis  auf  die  Gegenwart  massgebend  ge- 
blieben. Der  weitere  Ereis  der  Leser  hat  sich  gewöhnt, 
die  Gedichte  in  dieser  Reihenfolge  zu  gemessen,  nicht  selten 
begegnet  man  der  Meinung,  dass  sie  vom  Dichter  selbst 
herrühre,  sogar  in  Abhandlungen  über  einzelne  Gedichte 
sieht  man  Schlüsse  auf  die  Bedeutung  derselben  aus  ihrer 
Stelle  in  dieser  Sammlung  gezogen !  ^)  —  Gewiss  wird  nie- 
mand die  Yorzüge  der  Eömerschen  Redaction  verkennen: 
geschickt  verbindet  sie  den  historischen  Gesichtspunkt  mit 
der  Rücksicht  auf  die  Verwandtschaft  des  Inhalts  und  weiss 
so  ein  zusammenhängendes,  übersichtliches  und  klares  Bild 
der  Gedanken-  und  Empfindungswelt  des  Dichters  zu  geben. 
Und  doch  darf  man  nicht  vergessen,  dass  dieses  Bild  ein 
künstlich  von   fremder  Hand  nachgeschaffenes  ist,  dass  es 


^)  Vgl.  meine  Notiz  in  der  Übersicht  über  die  neuere  Schiller- 
litteratnr,  Zeitachrifb  f.  deutsche  Philologie  21,  90. 


Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.  129 

wohl  den  Bedürfnissen  und  Forderungen  der  damaligen  Zeit 
entsprach,  dass  es  aber  jetzt  Aufgabe  eines  Herausgebers 
sein  muss,  das  wahre,  ursprüngliche  an  seine  Stelle  zu 
setzen. 

Aber  wie  ist  dieses  zu  gewinnen?  Goedeke  glaubte 
in  der  historisch-kritischen  Ausgabe  die  Gedichte  so  genau 
als  möglich  in  der  Reihenfolge  ihrer  Entstehung  vorführen 
zu  müssen«  Er  blieb  damit  den  Principien  jener  Ausgabe 
treu,  das  allmähliche  Wachsthum  des  Schillertextes  zu  ver- 
folgen. Aber  so  hoch  man  den  wissenschaftlichen  Werth 
eines  solchen  Verfahrens  auch  anschlagen  mag,  die  höchste 
Aufgabe  der  Ausgabe  eines  Schriftstellers  kann  doch  nicht 
die  sein,  die  Materialien  zur  Erkenntniss  seines  Werdens 
zu  liefern ;  sie  darf  nicht  wieder  in  einzelne  Bausteine  auf- 
lösen, was  der  Dichter  schon  zu  einem  kunstvollen  Bau- 
werk verbunden  hat  —  mit  einem  "Worte :  die  vom  Verfasser 
selbst  für  seine  Gedichte  geschaffene  Ordnung  verlangt  ge- 
wissenhafteste Berücksichtigung,  man  darf  weder  über 
sie  hinausgehen  —  wie  Körner,  noch  hinter  sie  zurück- 
gehen —  wie  Goedeke  that. 

So  sehen  wir  denn  auch,  wie  für  die  neue  Weimarer 
Goethe-Ausgabe  die  Anordnung  der  Ausgabe  letzter  Hand 
als  unantastbar  festgehalten  wird,  zumal  nachdem  Scherer 
im  Goethe- Jahrbuch  Bd.  3—5  gezeigt  hat,  dass  diese  An- 
ordnung fast  durchweg  vom  Dichter  mit  gutem  Grunde  ge- 
troffen ist  und  insbesondere  bei  den  Gedichten  auf  fein- 
sinniger künstlerischer  Gruppirung  beruht 

Warum  hat  man  bei  Schillers  Gedichten  diese  Rücksicht 
bisher  nicht  beachtet? 

Bekanntlich  besitzen  wir  auch  von  ihnen  eine  vom 
Dichter  lange  geplante  und  mit  grosser  Sorgfalt  veranstal- 
tete Sammlung.  Bereits  im  Sommer  1792  hatte  er  wegen 
derselben  mit  Crusius  Verhandlungen  angeknüpft;  am  3.  Sep- 
tember hofft  er,  dass  der  Druck  nach  der  Messe  werde 
beginnen  können  (Geschäftsbriefe  S.  82).  Noch  im  nächsten 
Jahre  sehen  wir  ihn  mit  der  Ausführung  seines  Planes 
beschäftigt;  die  Briefe  an  Körner  vom  5.  und  27.  Mai 
zeigen,  wie  gewissenhaft  er  es  mit  der  Auswahl  und  Re- 
daction  seiner  älteren  Gedichte  nimmt.    Die  Ausgabe  kam 

Viorte^ahrsohrift  fOr  Litteratmgeschiohte  III  ^ 


130         Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte« 

damals  nicht  zu  stände,  doch  behielt  er  sie,  wie  der  Brief 
an  Cotta  Yom  16.  März  1795  erkennen  lässt,  unausgesetzt 
im  Auge.  Endlich  im  Jahre  1798  war  dieselbe  fest  be- 
schlossen: die  letzte  Seite  des  Musenalmanachs  für  das 
folgende  Jahr  enthielt  die  Ankündigung,  am  15.  October 
1799  ist  das  Manuscript  in  der  Hand  des  Abschreibers 
(Geschäftsbriefe  S.  217),  in  den  letzten  Tagen  des  Juli  1800 
beschäftigt  ihn  noch  die  Redaction  des  Schlusses  (an  Goethe 
30.  Juli) ,  zum  Herbst  erschienen  ^Gedichte  von  Friederich 
Schiller.  Erster  Theil.  Leipzig,  1800.  bey  Siegfried  Lebrecht 
Crusius'.  Der  zweite  Theil  folgte  im  Sommer  1803.  Die 
Briefe  an  Körner,  an  den  Verleger  und  besonders  an  den 
Drucker  Göpferdt  in  Jena  lassen  erkennen,  mit  welcher 
Sorgfalt  Schiller  die  Ausstattung  der  Ausgabe,  die  Güte  des 
Papiers,  die  Übersichtlichkeit  und  Correctheit  des  Druckes 
überwachte. 

Es  ist  von  vornherein  anzunehmen ,  dass  bei  einer  so 
lange  vorbereiteten  und  so  sorgfaltig  ausgeführten  Ausgabe 
die  innere  Einrichtung  der  äusseren  nicht  nachstand.  Welche 
Anforderungen  in  dieser  Beziehung  der  wahre  Künstler  an 
sich  zu  stellen  habe,  hätte  Schiller,  auch  wenn  er,  der 
Meister  in  der  Composition,  es  nicht  selbst  gefühlt  hätte, 
schon  das  Vorbild  Goethes  zeigen  müssen.^)    Es  ist  für  die 


')  OhneEinfiuss  auf  die  Anordnung  der  Crusiusschen  Ausgabe  blieben 
die  beiden  früheren  von  fremder  Hand  veranstalteten  Sammlungen. 
Die  ^Sammlung  einiger  zerstreuter  Gedichte  von  Schiller.  Für  einen 
freundschaftlichen  Zirkel  abgedruckt.  Erlangen  1793'  enthielt  über- 
haupt nur  10  Gedichte,  das  jüngste  darunter  die  ^Götter  Griechenlands'. 
Die  von  Behrens  ohne  Schillers  Wissen  unternommene  Ausgabe 
*Sämmtliche  Gedichte  von  Friedrich  Schiller  Professor  in  Jena  Erster 

Band  mit  dem  Portrait  des  Verfassers.    Jena  und  Weimar  1800. 

Zweiter  Theil  Jena  und  Leipzig  1801. Dritter  Band  Jena  und 

Weimar  180  r  bringt  im  ersten  Bande  nur  Gedichte  aus  der  *Antho- 
logie'  mit  geringen  Ausnahmen  in  der  dort  gegebenen  Ordnung,  die 
^Künstler'  und  die  ^Götter  Griechenlands*;  im  zweiten  erst  das  'Lied 
an  die  Freude\  dann  in  der  ursprünglichen  Reihenfolge  die  Ge- 
dichte des  Musenalmanachs  f.  1796,  die  des  Musenalmanachs  f.  1797  bis 
S.  142  (also  ohne  die  'Tabulae  votivae'  und  *Xenien'),  die  des  Musen- 
almanachs f.  1798,  1799,  1800  mit  einzelnen  Lücken,  endlich  die  *Eesig- 
nation';  der  dritte  Band  ist  aus  der  Crusiusschen  Ausgabe  zusammenge- 
stoppelt.   Vom  ersten  Bande  gibt  es,  worauf  mich  R.  Köhlers  Güte  auf- 


Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         131 

Beurtheilung  der  Schillerschen  Sammlung  nicht  ohne  Be- 
deutung, dasB  gerade  in  dem  Jahre,  in  welchem  der  erste 
Band  derselben  abgeschlossen  wurde,  auch  die  neue  Samm- 
lung der  Goetheschen  Gedichte  (im  7.  Bande  der  ^Neuen 
Schriften'  Berlin,  Unger  1800)  erschien.  Schiller  selbst 
hatte  die  erste  geschäftliche  Anknüpfung  mit  Unger  über- 
nommen (Brief  v.  26.  Mai  1799;  Geschäftsbriefe  S.  211),  er 
verfolgte  die  Redaction  der  Sammlung  mit  lebhaftem  An- 
theil,  einzelne  Fragen  wurden  zwischen  beiden  Freunden,  be- 
sprochen (vgl.  die  Briefe  vom  26.  Juni,  3.,  6.,  9.,  16.  August 
1799).  Seine  Auffassung  Yon  den  Pflichten  des  Heraus- 
gebers spricht  Goethe  aus  im  Brief  vom  3.  August:  ^Zu 
einer  solchen  Redaction  gehört  Sammlung,  Fassung  und 
eine  gewisse  allgemeine  Stimmung.  Wenn  ich  noch  ein 
paar  Dutzend  neue  Gedichte  dazu  thun  könnte,  um  gewisse 


merksam  machte,  auch  eine  Ausgabe  mit  dem  Druckort  Frankfurt  und 
Leipzig  nnd  einer  veränderten,  noch  schrecklicheren  Wiedergabe  des 
[Graffschen]  Porträts;  dieselbe  stimmt  aher  sonst  auch  in  typographi- 
schen Einzelheiten  völlig  mit  der  anderen  überein. 

Worauf  Qoedeke  seine  ganz  allgemein  ausgesprochene  Behaup- 
tung stützt  (S.X),  Schiller  selbst  habe  diesen  Nachdruck  (wie  Goethe 
den  Himburgischen)  für  einzelne  neue  Bearbeitungen  als  Grundlage 
benntztf  weiss  ich  nicht.  Nach  der  von  mir  gegebenen  Quellenanalyse 
desselben  lag  für  ihn  keine  Veranlassung  vor,  auf  denselben  zurück- 
zugpreifen;  ich  selbst  habe  bei  einer  ziemlich  eingehenden,  wenn  auch 
natürlich  nicht  erschöpfenden  Yergleichung  keinen  Beleg  dafHr  finden 
können.  Wenn  Schiller  z.  B.  in  der  *Klage  der  Ceres'  Y.  87  für  die 
Lesart  des  Musenalmanachs  von  1797  *Von  des  Nordens  kaltem  Hauch* 
in  der  Grusiusschen  Ausgabe  setzt  *Wenn  von  Nordes  kaltem  Hauch*, 
so  brauchte  er  darauf  schwerlich  erst  durch  Behrens*  Correctur  (2, 71) 
gefQhrt  zu  werden  *Von  des  Nordes  kaltem  Hauch*. 

Dass  der  Druck  der  Grusiusschen  Ausgabe  sehr  correct  ist,  erkennt 
auch  Goedeke  S.  XI  an.  Mir  ist  2, 112  der  Gustos  aufgefallen  «Weis-*; 
Bogen  H  bringt  als  nächsten  Titel  *Die  Weltweisen*:  vermuthlich  hatte 
Schiller  ursprünglich  einen  anderen  Titel  für  dies  Gedicht  (in  den  Hören 
1795  heisst  es  *Die  Thaten  der  Philosophen*)  gewählt  und  änderte  noch  bei 
der  Correctur.  Gerade  Bogen  H  zeigt  mehrfache  Unregelmässigkeiten 
im  Druck,  die  Goedeke  nur  theilweise  bemerkt  hat;  auch  die  ortho- 
graphischen Abweichungen  S.  118  'lÜlTen  :  FüCTen*  (mit  CT  statt  ßs,  wie 
der  Musenalmanach  hat  und  sonst  auch  unsere  Ausgabe  schreibt;  vgl. 
z.B.  1,  48.  68.  225)  und  das  unlogische,  rein  phonetische  Komma  S.  118 
hinter  'gebietenden  Pflicht*  hat  er  übersehen. 

9» 


132        Eettner,  Die  Anordnung  der  Scbillerschen  Gedichte. 

Lücken  auszufüllen  und  gewisse  Rubriken,  die  sehr  mager 
ausfallen,  zu  bereichem,  so  konnte  es  ein  recht  interes- 
santes Ganze  geben.  Doch  wenn  ich  nicht  Zeit  finde, 
das  Publikum  zu  bedenken,  so  will  ich  wenigstens  so  redlich 
gegen  mich  selbst  handeln,  dass  ich  mich  von  dem  über- 
zeuge, was  ich  thun  sollte,  wenn  ich  es  auch  gerade  jetzt 
nicht  thun  kann.  Es  gibt  für  die  Zukunft  leitende  Fingerzeige^ 

Diese  Worte  bezeichnen  auch  den  Standpunkt  Schillers. 
Nichts  kann  unberechtigter  sein,  als  Goedekes  Urtheil  über 
die  Crusiussche  Ausgabe  (Hist.-Erit.  Ausg.  11,  XI):  ^Was 
die  Anordnung  des  Stoffes  betrifft,  so  ist  ein  anderes  Princip 
nicht  zu  erkennen,  als  die  Sammlung  bunt  und  abwechselnd 
zu  machen,  um  den  Leser  durch  Zusammenstellung  des 
Gleichartigen  nicht  zu  ermüden ;  antike  und  moderne  Formen 
wechseln,  zwischen  die  Balladen  sind  ganz  fremdartige  (? !) 
didaktische  Distichen  gestellt,  die  ^Nadowessische  Totenklage' 
steht  zwischen  dem  Epigramm  ^Deutsche  Treue'  und  dem 
Liede  ^Hoffnung';  auch  die  chronologische  Folge  ist  nicht 
als  Princip  der  Anordnung  angenommen,  da  dicht  neben- 
einander stehende  Gedichte  zehen,  sechzehen  Jahre  aus- 
einander liegen\  Die  Sammlung  zeigt  vielmehr  eine  sehr 
sorgfältige^),  mit  künstlerischer  Berechnung  durch- 
geführte und  im  ganzen  klar  erkennbare  Gliederung. 

Der  chronologische  Gesichtspunkt  tritt  dabei  natur- 
gemäss  zurück;  im  ersten  Bande  finden  wir  ihn  gar  nicht, 
im  zweiten  nur  ganz  nebensächlich  beachtet.  Auch  die 
Anordnung  nach  Gattungen  ist  nicht  durchgeführt  —  die 
Sammlung  hätte  dadurch  doch  eine  zu  grosse  Gleich- 
förmigkeit mit  der  gleichzeitigen  Goetheschen  erhalten. 
Wohl  aber  ist  Schiller  darin  dem  Vorbild  seines  Freundes 
gefolgt,  dass  er,  wie  dieser  in  der  Sammlung  von  1789*) 
und  später  noch  innerhalb  der  einzelnen  Rubriken^)  that, 
einen  inneren  Zusammenhang  zwischen  den  einzelnen  Ge- 
dichten herzustellen  bemüht  war. 


')  Direct  an   den    von  Goedeke   erwähnten  Beispielen   ist   dies 
nachgewiesen  unten  S.  144. 

*)  Vgl.  Scherer,  Goethe-Jahrbuch  4,  52  f. 

»)  Ebenda  5,  265. 


Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.  133 

Freilich  darf  man  nicht  erwarten,  hier  etwa  wie  in 
Goethes  Liedern  gleichsam  in  einen  kleinen  Roman  ein- 
geführt*) zu  werden  —  dazu  boten  die  Schillerschen  Qe- 
dichte  keinen  Stoff;  höchstens  die  Lauralieder,  ^Die  Blumen' 
und  die  späteren  Situationsgedichte  ^An  Emma',  'Das  Ge- 
heimniss',  'Die  Erwartung',  ^Die  Begegnung'  hätten  sich 
dazu  geeignet,  wenn  sie  auch  schwerlich  schon,  wie  Goe- 
deke  11,  207  yermuthete,  'für  das  romantische  Gedicht  be- 
stimmt waren,  dessen  Schiller  am  5.  October  1795  gegen 
Humboldt  erwähnt'  (vgl.  an  Kömer  3,  326) ;  denn  unter  einer 
'romantischen  Erzählung'  (so  lautet  sein  Ausdruck!)  ver- 
stand er  wohl  sicherlich  etwas  anderes  als  einen  Lieder- 
cyclus  in  wechselnden  Yersarten,  vermuthlich  dachte  er 
dabei  an  ein  romantisches  Epos  (etwa  in  Wielands  Manier) ; 
fragt  er  doch  in  demselben  Brief  den  Freund  gleich  darauf, 
was  er  von  seiner  Befähigung  für  das  Epische  halte. 

Schiller  hat  vielmehr,  entsprechend  der  Eigenart  seiner 
Poesie,  einen  allgemeineren  Zusammenhang  für  seine  Ge- 
dichte gesucht:  in  möglichster  Abwechslung  der  metrischen 
Form  stellte  er  concretere  und  abstractere  Gedichte  in  der 
Weise  zusammen,  dass  eine  gewisse  Lebensstimmung,  eine 
allgemeine  Wahrheit  in  Lebensbildern  und  Betrachtungen 
von  den  verschiedensten  Seiten  aus  illustrirt  wurde,  dass 
eine  Empfindung  in  mannigfachem  Wechsel,  oft  in  scharfen 
Contrasten  sich  abspielte  und  zu  einem  in  sich  beruhigten 
Abschluss  gelangte.  Ja  manche  Reihen  von  Gedichten 
zeigen  einen  so  streng  gegliederten  Aufbau,  dass  sie  fast 
ein  Gedankensystem  bilden  oder  gar  den  Eindruck  des 
Programmartigen  machen. '') 

Indem  ich  nunmehr  dazu  übergehe,  diese  Gliederung 
im  einzelnen  nachzuweisen,  zu  diesem  Zwecke  die  Gedichte 
in  bestimmte  Gruppen  zerlege  und  letztere  wieder  nach 
Scherers  Yorgang  disponire  und  den  Inhalt  unter  bestimmte 
Begriffe  formulire,  möchte  ich,  um  Missverständnissen  zu 
entgehen,  betonen,  dass  ich  nicht  verkenne,  wie  oft  man 
damit  dem  Dichter  bewusste  Gedanken  unterlegt,  wo  ihn 

•)  Ebenda  4,  64  f. 

')  Vgl.  besonders  1,  28—40  (unten  S.  136  f.),  262—78  (unten 
S.  145  f.)  279—302  (unten  S.  146  ff.). 


134         Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

nur  unbewusste  Empfindung  leitete,  wie  oft  man  klare  Plan- 
mässigkeit  aufzeigt,    wo  in  Wahrheit  halb    und   halb  der 
Zufall  sein  Spiel  trieb.    Auch  von  Schillers  Sammlung  gilt 
das   Urtheil,   welches   Scherer  über  die  Goethesche  fällt: 
^Er  bleibt  immer  Künstler,  er  lässt  nicht  pedantischen  Zwäng, 
sondern  ästhetische  Freiheit  walten.    Die  Gruppen,  die  er 
bildet,  wie  alle  Gestalten,  die  er  schafft,  können  nicht  mit 
Begriffen   rein  umschrieben,   sie  können  nicht  verstandes- 
mässig  aufgelöst  werden:  sie  behalten  stets  etwas  lebendig 
Fliessendes,   etwas  Zufälliges  im  Kleinen  bei  der  höchsten 
Nothwendigkeit  und  Gesetzmässigkeit  im  Grossen'.   TJnd  ich 
möchte,  wenn  ich  mitunter  dem  Dichter  zu  viel  unterzulegen 
scheinen  sollte,  mir  solchen  Vorwürfen  gegenüber  noch  ein 
Wort  Scherers  aus    dem   Schluss   seines   ersten  Aufsatzes 
aneignen :  ^Es  kann  nicht  fehlen,  dass  Betrachtungen  solcher 
Art  zuweilen  über  das  Ziel  hinausschiessen  d.  h.  dass   sie 
Absichten  vermuthen,  welche  der  Dichter  nicht  wirklich  ge- 
habt hat.    Aber  man  darf  behaupten,  dass  sie  schwerlich 
etwas  enthalten,  was  sich  der  Dichter  nicht  gerne  gefallen 
lassen  würde.    In  der  Kunst  werden  mit  den  Hauptzwecken 
oft  Nebenzwecke   erreicht,  an  welche  der  Künstler  selbst 
von   Yornherein   nicht   dachte,   die   ihm   nachträglich   zum 
Theil  auffallen,  zum  Theil  aber  auch  nicht  zum  Bewusstsein 
kommen  mögen.    Die  Betrachtung  des  späteren  Liebhabers 
wird  dann  immer  im  Sinne  des  Künstlers  handeln,   wenn 
sie  alle  Yortheile  seines  Verfahrens  aufdeckt;  aber  sie  kann 
sich  nicht  anmassen,  Haupt-  und  Nebenzwecke,  bewusstes 

Streben  und  zufalliges  Erreichen  überall  zu  scheiden. 

Wir  dürfen  dem  Künstler  jedoch  eher  mehr  als  weniger 
zutrauen.'®) 

2.  Der  erste  Theil  der  Gedichte.    1800. 

Die  Sammlung  ist  schon  äusserlich  in  vier  Haupt- 
abschnitte zerlegt,  indem  jedesmal  nach  ungefähr  hundert 
Seiten  (zusammen  sind  es  335)  ein  grösseres  für  sich  be- 
stehendes oder  aus  gleichartigen  Gedichten  zusammen- 
gesetztes Stück  wiederkehrt.    So  bilden 

•)  Goethe-Jahrbuch  4,  52;  3, 172. 


Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         ]  35 

S.  113  — 148  die  vier  Balladen  und  Romanzen:  'Der 
Kampf  mit  dem  Drachen',  ^Taucher',  ^Handschuh' 
und  ^Bing  des  Polykrates', 

S.  207  —  261  die  Übersetzung  des  zweiten  Buches  der 
Äneide, 

S.  303  — 324  die  'Votivtafeln' 
eine  deutliche  Grenzscheide. 

Innerhalb  der  so  gewonnenen  Abschnitte  sind  dann 
noch  mitunter  vom  Dichter  gewisse  Marksteine  gesetzt,  um 
die  Gliederung  klarer  anzudeuten. 

Erster  Abschnitt:  8.  1—112. 

A.  Eröffnungsgedichte  8.  3 — 14. 
Das  erste  Gedicht,  'Das  Mädchen  aus  der  Fremde',  soll 
offenbar  als  Einleitung  der  ganzen  8ammlung  dienen,  wie 
es  ähnlich  schon  im  Musenalmanach  für  1797  8.  17  nach 
Goethes  'Idylle'  'Alexis  und  Dora'  die  Reihe  der  Gedichte 
eröffnete.  8childert  diese  Allegorie  die  Erscheinung  der 
Poesie  im  Leben  ganz  im  allgemeinen,  so  stellen  die  beiden 
folgenden  Gedichte,  die  'Klage  der  Ceres'  (aus  demselben 
Musenalmanach  8.  34)  und  'Der  Tanz'  (aus  dem  Musen- 
almanach f.  1796)  ihre  Wirkung  in  zwei  scharf  mit  einander 
contrastirenden  Bildern  dar:  dort  verklärt  sie  den  8chmerz, 
hier  vertieft  und  adelt  sie  die  Lust. 

B.  Erster  Cyclus  8.  15— 41, 

Die  hier  vereinigten  Gedichte  enthalten  gewissermassen 
die  Grundlage  der  Schillerschen  Lebensstimmung :  der  un- 
erschütterliche, hingebende  Glaube  an  die  Ideale  auch  in- 
mitten einer  oft  ideallosen  Welt,  die  Behauptung  derselben 
gegen  alle  Zweifel  und  Hindemisse,  'das  Flüchten  in  des 
Herzens  heilig  stille  Räume  aus  des  Lebens  Drang'  —  das 
ist  das  Grundthema  derselben,  welches  in  mannigfacher, 
wohl  berechneter  Abstufung  wiederkehrt. 

Erste  Gruppe  (8.  15 — 27).  Yon  einem  ooncreten  Bilde 
geht  Schiller  aus,  in  unmittelbarer,  leidenschaftlicher,  persön- 
licher Empfindung  wird  jene  Stimmung  zunächst  angeschlagen. 
Das  Situationsgedicht  ^Das  Geheimniss'  (aus  dem  Musen- 
almanach f.  1798)  ist  durchzogen  von  dem  Gedanken,  dass 


136         Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

fem  und  unbeirrt  von  dem  verworrenen  Getriebe  der  kalten, 
fremden  Welt  das  höchste  Glück  des  Herzens  wie  ein  Raub 
gewonnen  und  genossen  sein  will. 

In  abstracterer  Weise  führen  das  Thema  weiter  'Das 
Glück'  (aus  dem  Musenalmanach  f.  1799)  und  'Der  Genius' 
(aus  den  Hören  1 795),  durch  die  Umänderung  des  ursprüng- 
lichen Titels  'Natur  und  Schule'  ist  dasselbe  auch  äusser- 
lich  noch  enger  an  das  erstere  angeschlossen.  Wenn  Schiller 
in  dem  'Glück'  ganz  allgemein  die  höchsten  Gaben  des- 
selben rühmt,  mit  neidloser  Freude  diejenigen  preist,  welchen 
von  den  Göttern  die  geniale  Anlage  zum  Helden  und  Herr- 
scher, zur  Kunst  und  zur  Sittlichkeit  verliehen  ist,  so  feiert 
er  im  'Genius'  speciell  das  Letztere,  indem  er  die  naive 
sittliche  Anmuth  der  schönen  Seele  weit  über  eine  durch 
die  Yernunft  errungene  Sittlichkeit  erhebt.  Er  gibt  also  im 
zweiten  Gedichte  eine  nähere  Ausführung  zu  Vers  10 — 15 
des  ersteren. 

Zweite  Gruppe  (S.  28 — 40).  Wenn  irgendwo,  so  lässt 
sich  hier  in  zweifelloser  Weise  constatiren,  dass  Schiller 
mit  Bewusstsein  nach  einem  möglichst  geschlossenen  und 
auch  äusserlich  leicht  erkennbaren  Zusammenhang  der  ein- 
zelnen Gedichte  strebte  —  so  deutlich  tritt  das  Band  her- 
vor, welches  diesen  kleinen  Kreis  von  fünf  Gedichten  um- 
schliesst! 

Klar  und  bestimmt  wird  zunächst  das  Thema  ausge- 
sprochen in  den  'Worten  des  Glaubens'  (aus  dem  Musen- 
almanach f.  1798).  Das  didaktische  Gedicht  findet  seine 
Ergänzung  in  einer  Parabel,  der  'Theilung  der  Erde'  (aus 
den  Hören  1795).  Lehrt  er  dort,  dass,  wenn  auch  die  Wirk- 
lichkeit der  höchsten  Ideen  unbeweisbar  ist,  doch  unser  sitt- 
liches Bewusstsein  dieselben  mit  Nothwendigkeit  fordert 
und  uns  gebietet,  sie  im  Leben  festzuhalten,  so  zeigt  er 
hier:  auch  die  Kunst  ist  unirdisch,  aber  sie  lässt  uns  zu- 
gleich die  Nichtigkeit  der  realen  gegen  die  idealen  Güter 
erkennen,  in  ihr  gewinnt  das  Ideal  Wirklichkeit,  sie  öffnet 
uns  durch  die  ästhetische  Erhebung  den  Olymp  schon  auf 
Erden. 

Es  folgen  zwei  als  Pendants  gedachte  Epigramme, 
welche   die  unerschütterliche  Macht  der  Idee   knapp   und 


Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         137 

scharf  an  einem  Lebensbilde  illustriren  ^Kolumbus'  und^Odys- 
seus'.  Die  Untrüglichkeit  des  festen  Glaubens  an  das  in 
der  Idee  Gefundene,  wenn  auch  zunächst  alles  dagegen  zu 
sprechen  scheint,  wird  in  kuhner  Paradoxie  in  dem  ersteren 
Gedichte,  die  durch  nichts  zu  beirrende  Treue  gegen  das 
Vaterland  —  mit  leise  ironischem  Hinweis  auf  die  zu  Grunde 
liegende  Illusion  —  in  dem  zweiten  geschildert.  —  In  der 
Crusiusschen  Ausgabe  sind  beide  Gedichte  auch  typogra- 
phisch auf  zwei  oiFenen  Seiten  einander  scharf  gegenüber- 
gestellt. Sie  stammen  zwar  beide  aus  dem  Musenalmanach 
f.  1796,  waren  aber  dort  weit  von  einander  getrennt  auf 
S.  179  und  S.  6. 

Unmittelbar  an  das  Thema  des  letzten  Gedichtes  knüpft 
dann  ^Die  Bürgschaft'  (aus  dem  Musenalmanach  f.  1799)  an: 
auch  sie  verherrlicht  eine  durch  keine  Gefahren,  ja  schliess- 
lich auch  nicht  durch  den  Schein  der  völligen  Nutzlosigkeit 
zu  beirrende  Treue.  Wirkungsvoll  tritt  neben  die  scharf 
pointirten  Epigramme  die  scenenreiche,  dramatisch  bewegte 
Ballade ;  in  dem  mit  allen  Mitteln  der  Kunst  lebensvoll  aus- 
gestalteten Bilde  findet  der  ganze  Cyclus  seinen  wirksamen 
Abschluss.  Und  in  glücklichster  Weise  bot  sich  hier  dem 
Dichter  ein  refrainartiger  Anklang  an  das  einleitende  Gedicht 
dieser  Gruppe  dar,  durch  den  gleichsam  ein  Rückweis  auf 
die  dort  ausgesprochenen  Ideen  am  Schluss  gegeben  ist: 
'Und  die  Tugend,  sie  ist  kein  leerer  Schall!'  so  hiess  es 
in  den  Worten  des  Glaubens;  'Er  glaube  an  Liebe  und 
Treue!'  ruft  der  Freund,  als  nüchterner  Verstand  ihm  das 
nutzlose  Opfer  ausreden  will,  'Und  die  Treue,  sie  ist  doch 
kein  leerer  Wahn!'  lässt  am  Ende  den  bekehrten  Tyrannen 
Schiller  mit  einem  Selbstcitat  bekennen. 

In  lockerem  Zusammenhang  mit  den  vorhergehenden 
Gedichten  ist  hier  noch  angefügt  'Der  Abend'  (aus  dem 
Musenalmanach  f.  1796  S.  165).  Und  doch  erscheint  sein 
Platz  nicht  ohne  Absicht  gewählt ;  es  markirt  den  Einschnitt 
nach  dem  ganzen  Cyclus,  vertritt  gleichsam  eine  musika- 
lische Pause.  Zugleich  correspondirt  das  Bild  seliger  Ruhe 
in  süsser  Liebe,  welches  das  Schlussgedicht  bietet,  mit  der 
Situation  des  ersten  Gedichtes  des  Cyclus  'Das  Geheimniss'; 
so  bilden  beide  einen  poetischen  Rahmen  für  denselben. 


138         Kettner,  Die  Anordnung  der  Sch^lerschen  Gedichte. 

C.   Zweiter  Cyclus  B.  42—112. 

Klingt  80  der  erste  Cyclus  beruhigt  aus,  so  setzt  der 
nächste  sogleich  in  künstlerisch  berechnetem  scharfem  Con- 
traste  ein  mit  bitterer  Klage  und  herber  Entsagung  in  den 
^Idealen'  (aus  dem  Musenalmanach  f.  1796  S.  135). 

Der  Widerspruch  zwischen  Ideal  und  Wirklichkeit,  die 
schmerzlichen  Conflicte  des  Herzens  und  die  Versöhnung 
und  Lösung  beider  Gegensätze  bilden  den  Inhalt  dieses 
Cyclus.  Man  sieht,  das  Thema  des  ersten  wird  leiden- 
schaftlicher ergriffen,  schärfer  in  seine  Consequenzen  ver- 
folgt; die  Gegensätze  rücken  härter  aneinander,  zugleich 
wird  die  Auflösung  derselben  tiefer  erfasst  und  philosophisch 
und  historisch  begründet. 

Zwei  Gruppen  heben  sich  wieder  deutlich  ab.  Der 
Dichter  hat  sie  unverkennbar  schon  äusserlich  dadurch  mar- 
kirt,  dass  er  zweimal  in  strengem  Parallelismus  ein  grös- 
seres Culturbild  mit  einem  ^Spruch  des  Confucius'  zu- 
sammenstellte, nämlich  8.  49 — ^66  den  'Spaziergang'  mit  dem 
Spruch  über  die  Dimensionen  der  Zeit  und  S.  91 — 112 
'Die  Glocke'  mit  dem  Spruch  über  die  Dimensionen  des 
Raumes. 

Erste  Gruppe  (8.  42 — 66).  In  dem  ersten,  oben  schon 
erwähnten  Gedicht,  den  'Idealen',  findet  die  Stimmung,  von 
welcher  der  Cyclus  ausgeht,  ihren  allgemeinsten,  gewaltig- 
sten Ausdruck.  An  dasselbe  ist  ein  älteres  passend  an- 
gelehnt, 'Die  Blumen'  (in  der  Anthologie  von  1782  'Meine 
Blumen'):  aus  dem  Allgemeinen  führt  Schiller  uns  in  das 
Besondere,  in  die  Schilderung  einer  hoffiiungslosen,  aber 
still  bewahrten  Liebe. 

Von  den  Klagen  um  die  schmerzlichen  Entsagungen 
des  eignen  Lebens,  um  den  Verlust  -der  Ideale  seiner 
'goldnen  Zeit'  erhebt  sich  der  Dichter  zu  dem  Hinblick  auf 
den  Entwicklungsgang  der  ganzen  Menschheit;  auch  hier 
erscheint  zunächst  das  idyllische  Glück  der  Einheit  mit  der 
Natur,  welches  die  Jugendzeit  der  Menschheit  verklärte, 
verloren,  aber  doch  nicht  unwiederbringlich  dahin:  'die 
Sonne  Homers  lächelt  auch  uns',  aus  der  Entzweiung  soll  die 
Cultur  wieder  zur  Eintracht  mit  der  Natur  zurückkehren. 
So  verknüpft  ein  enges  Band  den  'Spaziergang'  mit  den  vor- 


Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         139 

hergehenden  Gedichten,  speciell  dem  Anfangsgedichte,  den 
^Idealen';  in  den  Heren  von  1795  hiess  er  ja  auch  ^Elegie'. 

An  das  groBse  Bild  des  Kreislaufs  der  Cultur  schliesst 
Schiller  eine  nüchterne,  praktische  Lebensregel  in  dem 
^Spruch  des  Confucius'  (aus  dem  Musenalmanach  f.  1796) 
über  die  Dimensionen  der  Zeit.  Ein  gewisser,  wenn  auch 
etwas  spielender  Parallelismus  zu  dem  vorigen  Gedichte  ist 
unverkennbar:  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  sollen 
im  Leben  in  den  rechten  Einklang  gebracht  werden. 

Zweite  Gruppe  (S.  67— 112).  Die  acht  Gedichte  der- 
selben führen  den  Gedanken-  und  Empfindungskreis  der  vier 
Gedichte  der  ersten  Gruppe  in  der  Weise  weiter  aus,  dass 
lyrische  (bezw.  lyrisch -epische)  Gedichte  mit  betrachten- 
den (bezw.  episch -didaktischen)  abwechseln.  Die  beiden 
Reihen,  welche  sich  so  durch  einander  schlingen,  zeigen  eine 
allmählich  aufsteigende  Entwicklung  zu  immer  vollerer  Ver- 
söhnung. 

So  äussert  sich  zunächst  in  dem  ersten  Gedichte  der 
ersten  Reihe  'Des  Mädchens  Klage'  (aus  dem  Musenalmanach 
f.  1 799)  der  Schmerz  um  das  verlorne  Liebesglück  in  wilder 
Verzweiflung  am  Leben,  und  nur  am  Schluss  ringt  sich  der 
Trost  hindurch,  dass  in  'der  Liebe  Schmerzen  und  Klagen' 
selber  'das  süsseste  Glück  für  die  traurende  Brust'  liege. 
Hoffnungslose  Liebe  ist  auch  das  Thema  des  nächsten  Ge- 
dichtes der  Reihe  'Ritter  Toggenburg'  (aus  dem  Musen- 
almanach f.  1798),  aber  ruhiger,  milder  ist  hier  die  Ent- 
sagung, still,  ja  friedlich  lebt  sich  der  Schmerz  aus.  Endlich 
das  letzte  Gedicht  'Die  Begegnung'  (aus  den  Hören  1797) 
bildet  den  Abschluss  dieser  Reihe:  'das  treue  Herz,  das 
trostlos  sich  verzehrt  und,  still  bescheiden,  nie  gewagt  zu 
sprechen',  findet  Erhörung  seiner  Wünsche  —  'am  rohen 
Glück  will  ich  das  Edle  rächen'. 

Zwischen  diese  balladenartigen  Lieder  voll  leidenschaft- 
licher Empfindung  sind,  wie  gesagt,  die  gedankenschweren 
gewunden.  Zusammengestellt  sind  zuerst  zwei  kürzere  in 
Distichcfn  'Die  Geschlechter'  (aus  dem  Musenalmanach  f.  1 797) 
und  'Menschliches  Wissen'  (aus  den  Hören  1795);  ersteres 
schildert  die  ausgleichende  Vereinigung  der  'ewig  getrennten', 
'ewig  sich  suchenden'  Gegensätze  der  menschlichen  Natur, 


140         Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

letzteres  die  Beschränktheit  menschlicher  Naturerkenntniss. 
Dann  folgen  —  entsprechend  dem  ^Spaziergang^  in  der 
vorigen  Gruppe  —  zwei  grosse  culturhistorische  Gedichte, 
'Das  Elensische  Fest'  (aus  dem  Musenalmanach  f.  t799,  wo 
es  'Bürgerlied'  hiess)  und  'Das  Lied  von  der  Glocke'  (aus 
dem  Musenalmanach  f.  1800);  beide  ergänzen  sich  in  glück- 
lichster Weise:  neben  das  Bild  der  sagenhaften  Begründung 
aller  Cultur  durch  die  Einführung  des  Ackerbaus  stellt  sich 
das  Gemälde  des  völlig  entfalteten  häuslichen  und  bürger- 
lichen Lebens  der  Gegenwart.  Wie  schon  erwähnt,  ist  auch 
hier,  wie  oben  an  den  'Spaziergang',  ein  'Spruch  des  Con- 
fucius'  (aus  dem  Musenalmanach  f.  1 800  S.  209 ;  die  'Glocke' 
folgt  hier  erst  S.  243)  angeschlossen.  Mag  sein,  dass  die 
gleichzeitige  Entstehung  Einfluss  auf  die  Zusammenstellung 
hatte;  nahe  liegt  doch  auch  hier,  an  eine  inhaltliche  Ver- 
knüpfung zu  denken,  wie  ich  sie  oben  beim  'Spaziergang' 
vermuthete :  der  das  Leben  des  Einzelnen  wie  der  Gesammt- 
heit  nach  allen  Seiten  durchmessenden  Betrachtung  des 
Glockenliedes  entspricht  die  Deutung  der  drei  Dimensionen 
des  Raumes. 

Zweiter  Abschnitt  8.  113—206. 

Ahnlich  wie  in  der  zuletzt  betrachteten  Gruppe  lösen 
sich  hier  die  verschiedenen  Arten  von  Gedichten  ab,  nur 
sind  die  gleichartigen  Gedichte  zu  kleineren  Gruppen  zu- 
sammengestellt. So  ergeben  sich  vier  Gruppen,  innerhalb 
derselben  lässt  sich  wieder  viergliedriger  Aufbau  erkennen. 

Die  erste  Gruppe  (9.  113—148)  bilden  die  vier  Balladen 
'Der  Kampf  mit  dem  Drachen',  'Der  Taucher',  'Der  Hand- 
schuh', 'Der  Ring  des  Polykrates' ;  die  erste  aus  dem  Musen- 
almanach f.  1799,  die  drei  andern  aus  dem  f.  1798,  wo 
sie  aber  getrennt  von  einander  und  in  anderer  Ordnung, 
auch  mit  anderen  Balladen,  wie  'Ritter  Toggenburg'  und 
den  'Kranichen  des  Ibycus'  vermischt  stehen;  wenn  Schiller 
sie  hier  zu  einer  eigenen  Gruppe  zusammenstellte,  kann 
es  nur  mit  Rücksicht  auf  die  unleugbare  Verwandtschaft 
des  Grundgedankens  geschehen  sein.  Die  Anordnung  sucht 
Gegenbilder  zu  schaffen  (den  'Handschuh'  nannte  er  be- 
kanntlich  schon  im  Briefe   an  Goethe  vom   18.  Juni  1797 


Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         141 

ein  Nachstüok  zum  ^Taucher');  der  'Ring  des  Polykrates' 
leitet  ausserdem  bequem  über  zu  den  Antikes  behandelnden 
Epigrammen  der  nächsten  Gruppe.    Diese 

Zweite  Gruppe  (S.  149 — 154)  umfasst  die  vier  didak- 
tischen Gedichte  'Archimedes  und  der  Schüler'  (aus  den 
Hören  1 795  Bd.  4  St.  1 1 ),  'Die  Antike  an  den  nordischen 
Wandrer'  (ebda.  Bd.  3  St.  9),  'Dithyrambe'  (im  Musenalma- 
nach f.  1797  'Der  Besuch'),  'Poesie  des  Lebens'  (aus  dem 
Musenalmanach  f.  1799).  Die  gemeinsame  Tendenz  derselben 
ist  unverkennbar,  alle  vier  wenden  sich  gegen  eine  begei- 
sterungs-  und  phantasielose  Nüchternheit.  Die  beiden  ersten 
sind  Pendants,  sie  geissein  in  epigrammatischer  Form,  das 
eine  die  nur  praktischen  Zwecken  dienende  Beschäftigung 
mit  der  Wissenschaft,  das  andere  ein  ganz  äusserliches 
Interesse  für  die  Kunst.  Das  dritte  und  vierte  sind  Gegen- 
stücke :  malt  uns  jenes  die  begeisterte  Erhebung  des  Dich- 
ters über  die  dürre  Wirklichkeit  durch  Wein,  Liebe  und 
Dichtung,  so  bekämpft  dieses  eine  dünkelhafte,  öde  Ver- 
ständigkeit, welche  das  Leben  aller  freundlichen  Illusionen 
als  eines  nichtigen  Scheins  entkleiden  möchte. 

Dritte  Gruppe  (S.  155 — 183).  Wieder  folgen  erzählende 
Gedichte.  Das  erste  derselben  'Die  Kraniche  des  Ibycus', 
und  das  vierte  'Der  Gang  nach  dem  Eisenhammer',  ent- 
standen zeitlich  fast  unmittelbar  hinter  einander,  im  August 
und  September  1797,  sie  standen  auch  im  Musenalmanach 
f.  1798  nahe  beisammen  (S.  267.  306,  indessen  doch  durch 
fremde  Gedichte  und  'Das  Geheim  niss'  getrennt)  —  hier 
sind  sie  an  einander  gerückt,  weil  in  beiden  das  unent- 
rinnbare Walten  der  Nemesis  dargestellt  ist. 

Auf  das  erste  folgt  'Die  Erwartung'  (aus  dem  Musen- 
almanach f.  1800)  ohne  inneren  Zusammenhang,  nur  ist  es 
jenem  Gedicht  ähnlich  durch  die  ebenso  aufs  höchste  ge- 
steigerte Spannung  und  die  plötzlich  den  Leser  über- 
raschende Lösung.  Dem  vierten  ist  voraufgeschickt  'Die 
Sänger  der  Yorwelt'  (aus  den  Hören  1795);  man  könnte 
in  diesem  Preis  einer  im  höchsten  Sinne  volksthümlichen 
Dichtung  eine  Art  Motto  für  das  folgende  Gedicht  sehen, 
da  ja  gerade  'Der  Gang  nach  dem  Eisenhammer'  durch  die 
schlichte,  den  Yorstellungen  des  Yolkes  sich  anbequemende 


142         Kettner,  Die  AnordnuDg  der  Schillerschen  Gedichte. 

AufFaseung  des  Grundmotivs  und  die  naive,  oft  mit  starker 
Absichtlichkeit  dem  Yolkston  sich  annähernde  Anspruchs- 
losigkeit der  Darstellung  unter  den  Schillerschen  Erzäh- 
lungen einzig  dasteht.*) 

Mit  der  vierten  Gruppe  (S.  184 — 206)  kehren  wir  zum 
Kreis  der  zweiten  zurück,  sie  bringt  fünfzehn,  meist  kürzere, 
lehrhafte  Gedichte.  Man  kann  dieselben  in  zwei  parallele 
Reihen  von  7  -f  8  Gedichten  theilen ;  innerhalb  derselben 
ist  paarweise  Gliederung  unverkennbar,  mehrfach  bilden  je 
zwei  Paare  wieder  ein  kleineres  Ganze.  Die  ganze  Gruppe 
ist  durchzogen  von  dem  Gegensatz  zwischen  einem  naiven 
sittlichen  Vertrauen,  einem  schlichten  thatkräftigen  Wirken 
einerseits  und  anderseits  einem  durch  die  Reflexion  ge- 
trübten, selbstsüchtigen  Wesen,  einer  Yerkehrung  der 
höchsten  Bestrebungen  des  Menschen  in  Kunst  und  Wissen- 
schaft ins  bloss  Nützliche  oder  in  leere  Ausserlichkeiten. 
Durch  diesen  Gegensatz  ist  die  Gegenüberstellung  der 
Paare  bedingt,  altemirend  haben  sie  positiven  und  negativen 
Inhalt. 

1.  Am  allgemeinsten  bringt  diesen  Gegensatz  zum  Aus- 
druck ^Licht  und  Wärme^  (aus  dem  Musenalmanach  f.  1 798), 
es  ist  deshalb  wieder  wie  ein  Motto  an  die  Spitze  gestellt. 

Sehr  klar  entwickelt  dann  denselben  das  folgende 
Doppelpaar.  ^Der  Kaufmann'  und  der  ^Der  Sämann' ^^) 
(beide  aus  dem  Musenalmanach  f.  1796,  hier  aber  getrennt 
S.  144  und  97)  geben  sich  offenbar  schon  in  der  Form  als 
Pendants.  Preist  der  Dichter  hier  ein  in  fröhlicher  Hoff- 
nung den  Göttern  vertrauendes,  praktisches  Wirken,  dem 
von  selbst  neben  dem  Nützlichen  das  Gute  entspringt,  so 
spottet  er  in  Tegasus  im  Joche'  (Musenalmanach  f.  1796 

*)  Schon  den  Zeitgenossen  fiel  dieser  eigenartige  Charakter  der 
Romanze  anf,  vgl.  Brann,  Schiller  im  Urtheile  seiner  Zeitgenossen  3, 

143.  168. 

>•)  Es  scheint  noch  nicht  bemerkt  zn  sein,  dass  dieses  Epigramm 
eine  anffallende  Übereinstimmung  mit  Cicero ,.  Tuscul.  I  14,  32  zeigt: 
'Ergo  arbores  seret  diligens  agricola,  quarum  adspiciet  bacam  ipse 
nunquam:  vir  magnus  leges,  instituta,  rempublicam  non  seret?'  Man 
sieht,  auch  die  eigenthümliche  Form  der  Schlussfolgerung  —  durch 
iv9vf4fjfjia  —  findet  sich  hier  wieder;  trotzdem  ist  das  Zusammentreffen 
wohl  zufllllig,  der  antithetische  Schluss  ist  ja  bei  Schiller  nicht  selten. 


Ketiner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         143 

S.  62)  und  ^Der  philoeophiBche  Egoist'  (Hören  1795)  des 
Missbrauchs  der  Poesie  zum  Nutzen  und  zu  einer  engherzig 
den  Menschen  isolirenden  Philosophie. 

In  lockerer  Verbindung  zwar,  doch  immer  noch  mit 
klar  erkennbarem  Zusammenhang  sind  hier  noch  zwei  kurze 
Epigramme  angehängt  Hebt  der  Dichter  am  Schluss  des 
letzten  Oedichtes  die  ununterbrochene  Wechselwirkung 
alles  Geschaffenen  hervor,  um  die  egoistische  Selbstgenüg- 
samkeit dadurch  zu  beschämen,  so  wendet  er  sich  in  dem 
Epigramm  ^Würden'  (aus  d.  Musenalmanach  f.  1 796  S.  48) 
gegen  das  Selbstbewusstsein,  welches  sich  eitel  den  Glanz 
der  erlangten  Stellung  zuschreibt,  während  doch  nur  die  un- 
ablässig dahinrollende  Welle  des  Lebens  einen  Augenblick 
unter  der  Stelle  den  Menschen  hindurchtrug,  von  welcher 
der  Glanz  auf  ihn  fiel.  Und  es  ist  wohl  kaum  ein  Zufall, 
wenn  Schiller  gerade  hier  die  Distichen  ^Das  Geschenk' 
(Musenalmanach  f.  1797  S.  71)  einreihte,  mit  denen  er  für 
eine  ihm  vom  Coadjutor  Dalberg  dargebrachte  Verehrung 
dankte:  ^Dich  gewann  mir  die  Muse'! 

2.  Die  beiden  ersten  Paare  dieser  Reihe  stehen  in 
Parallelismus  zu  den  ersten  beiden  der  vorigen.  ^Macht 
des  Weibes'  (aus  demselben  Musenalmanach  wie  das  letzte 
Gedicht,  aber  von  demselben  getrennt,  S.  88)  und  ^Die  Jo- 
hanniter' (Musenalmanach  f.  1796  S.  90)  bilden  typogra- 
phisch, in  der  Form  und  im  Inhalt  wieder  Pendants:  dort 
preist  Schiller  die  ruhige  Anmuth  als  die  höchste  der  Kronen 
des  Weibes,  während  er  'Kraft  erwarte  vom  Mann,  des 
Gesetzes  Würde  behaupt'  er'  —  hier  rühmt  er  die  Ver- 
einigung solcher  sittlichen  und  heldenhaften  Kraft  an  einem 
historischen  Beispiel.  Im  Gegensatze  zu  diesem  Preis  der 
Verkörperung  der  sittlichen  Idee  im  Leben  bringt  dann 
wieder  das  nächste  Paar  'An  die  Proselytenmacher'  (Musen- 
almanach f.  1796  S.  155)  und  'Der  Metaphysiker'  (ebenda 
8.  171)  die  Satire  auf  eine  in  verstiegenen  Abstractionen 
sich  gefallende  Philosophie. 

Die  beiden  letzten  Paare  schliessen  die  Reihe  in  posi- 
tivem Sinne  ab.  Zusammengestellt  sind  'Deutsche  Treue' 
(aus  den  Hören  1795),  'Nadowessische  Todtenklage'  (aus 
d.  Musenalmanach  f.  1798),   'Hoffnung'  (Hören  1797),  'Die 


144         Ketiner,  E>ie  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

zwey  Tugendwege'  (Musenalmanach  f.  1796).  Ausserlich 
sind  sie  so  gruppirt^  dass  auf  zwei  lebendig  vergegenwär- 
tigte Scenen  aus  dem  Leben  zwei  betrachtende  Gedichte 
folgen,  während  zugleich  chiastisch  epigrammatische  und 
liedartige  Form  abwechseln.  Schwieriger  scheint  es,  einen 
inneren  Zusammenhang  zu  finden,  und  ich  erwähnte  schon 
oben  S.  132,  dass  Goedeke  gerade  die  drei  ersten  zum  Beweis 
für  die  Zusammenhangslosigkeit  der  Crusiusschen  Ausgabe 
heranzieht.  Und  doch  scheint  mir  gerade  hier  die  Absicht 
des  Dichters  evident. 

Auch  der  flüchtigsten  Betrachtung  muss  zunächst  ent- 
gegentreten, dass  jene  Scenen,  in  welche  die  beiden  ersten 
Gedichte  uns  versetzen,  einen  scharf  ausgeprägten  nationalen 
Charakter  zeigen.  In  der  indianischen  Todtenklage  ist  der- 
selbe mit  seltener  Realistik  bis  in  den  kleinsten  Zug  durch- 
geführt, aber  auch  das  Epigramm  trägt  nicht  umsonst  am 
Kopf  den  Namen  'Deutsche  Treue',  nicht  umsonst  schliesst 
es  mit  der  scharfen  Pointe  gegen  wälsches  Wesen: 

^Wahrlich!  So  ist's  I  Es  ist  wirklich  so.   Man  hat  mir 's  geschrieben.' 
Rief  der  Pontifex  aus,  als  er  die  Kunde  vernahm. 

Aber  wie  diese  nationalen  Typen  den  Dichter  an  sich  nicht 
interessirt  hätten,  wenn  sie  nicht  eine  ethische  Bedeutung 
enthielten,  so  sucht  er  hier  in  der  Sammlung  seiner  Ge- 
dichte diese  Bedeuitung  durch  die  Zusammenstellung  noch 
schärfer  hervorspringen  zu  lassen :  in  einer  durch  keine 
Beflexion  gebrochenen,  kraftvollen  nationalen  Sitte  sehen 
wir  dort  die  Bethätigung  der  höchsten  sittlichen  Forderungen 
im  Leben,  hier  die  feste  Zuversicht  auf  die  Vollendung  deß 
irdischen  Lebens  im  Jenseits  verkörpert.  So  führen  uns 
diese  Gedichte  aus  dem  Kreis  einer  unfruchtbaren  Philo- 
sophie, welchen  die  unmittelbar  vorhergehenden  streiften, 
wieder  zurück  in  die  Welt  des  schlichten,  gesunden  sitt; 
liehen  Gefühls  —  'Und  was  kein  Verstand  der  Verständigen 
sieht  Das  übet  in  Einfalt  ein  kindlich  Gemüth'. 

Wie  Goedeke  dann  den  Zusammenhang  zwischen  der 
'Nadowessischen  Todtenklage'  und  der  'Hoffnung'  nicht  be- 
merken konnte,  ist  mir,  offen  gestanden,  unverständlich:  er 
ist  ja  mit  Händen  zu  greifen!  Man  denke  nur  an  die  Verse: 


Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         145 

Dann  beschliesst  er  im  Grabe  den  müden  Lauf, 
Noch  am  Grabe  pflanzt  er  —  die  Hoffnung  auf. 

Es  ist  kein  leerer  schmeichelnder  Wahn 

was  die  innere  Stimme  spricht, 

Das  täuscht  die  hoffende  Seele  nicht. 

Was  Schiller  in  dem  letzten  Gedichte  als  naiven  Instinct 
schilderte,  das  sucht  er  hier  nun  in  seiner  tieferen  Be- 
deutung zu  erfassen:  derselbe  Instinct  durchzieht  als  Hoff- 
nung die  Geschichte  der  Menschheit  wie  das  einzelne 
Menschenleben,  aus  seiner  Allgemeinheit  folgt  seine  Rich- 
tigkeit. 

Endlich  das  letzte  kurze  Distichon  enthält  einen  all- 
gemeinen Schlussgedanken:  jede  Lage  des  Lebens  ist  nur 
als  ein  anderer  Weg  zur  Tugend  aufzufassen. 

Dritter  Abschnitt  S.  207  (bezw.  262)  —  324. 

Die  hier  (S.  207 — 261)  eingeschobene  Übersetzung  des 
'zweiten  Buchs  der  Äneide'  (aus  d.  Thalia  y.  1792)  übergehe 
ich,  da  sie  wesentlich  nur,  wie  ich  schon  oben  hervorhob, 
den  folgenden  Theil  auch  äusserlich  von  dem  vorhergehen- 
den trennt,  zu  dem  Inhalt  desselben  aber  naturgemäss  in 
keinem  engeren  Yerhältniss  steht.  Doch  hat  Schiller  wohl 
nicht  ohne  Absicht  diese  Nachbildung  einer  antiken  klassi- 
schen Dichtung  gerade  an  dieser  Stelle  eingerückt,  wo  er, 
wie  wir  sehen  werden,  sich  anschickt,  die  Forderungen  der 
reinen  Kunst  gegenüber  den  rohen  und  platten  Producten 
der  damaligen  Zeit  geltend  zu  machen. 

Denn  wir  betreten  in  diesem  Abschnitt  die  letzte  und 
höchste  Stufe  der  poetischen  Weltanschauung  des  Dichters, 
seine  ästhetischen  und  ästhetisch-ethischen  Ghrundsätze  finden 
hier  ihren  unmittelbarsten  Ausdruck. 

Die  Erste  Gruppe  (S.  262-^278)  umfasst  drei  Gedichte 
von  rein  ästhetischem  Inhalt.  An  die  Spitze  tritt  das  ästhe- 
tische Glaubensbekenntniss  des  Dichters  'Das  Reich  der 
Formen'  oder,  wie  er  es  in  der  zweiten  Auflage  —  es  war 
dies  die  einzige  Abweichung  derselben  von  der  ersten  — 
umtaufte  'Das  Ideal  und  das  Leben'  (in  den  Hören  1795 
'Das  Reich  der  Schatten').  Nachdem  er  hier  die  höchsten 
Anschauungen  vom  Wesen  des  Schonen  und  dem  ästheti- 

ViarteyiOinohxift  fttr  Littentoigwohichta  DI  10 


146         Kettner,  Die  Anordnung  der  SchiUerschen  Gedichte. 

sehen  Genuas  wie  in  einem  Hymnus  verkündet,  wendet  er 
sie  im  folgenden  Gedichte  'An  Goethe,  als  er  den  Mahomet 
von  Voltaire  auf  die  Bühne  brachte'  (im  Januar  1800  ent- 
standen und  hier  zuerst  veröffentlicht)  auf  die  dramatische 
Poesie  an,  das  Eunstprincip  der  Weimarer  Dichter  wird 
hier  wie  in  einem  Manifest  ausgesprochen,  von  ihm  aus 
auch  dem  idealisirenden  Stil  der  französischen  Tragödie 
seine  Bedeutung  zuerkannt.  Die  Kehrseite  bilden  die  hier 
unter  dem  Gesammttitel  'Shakespears  Schatten'  vereinigten 
parodistischen  'Xenien'  (aus  dem  Musenalmanach  f.  1797): 
sie  enthalten  die  schneidendste  Verhöhnung  und  Verurthei- 
lung  des  herrschenden  nüchternen  Realismus. 

Zweite  Gruppe  (S.  279—302).  In  engstem  Zusammen- 
hange stehen  wieder  die  nächsten  fünf  Gedichte,  sie  führen 
uns  aus  dem  Ästhetischen  in  eine  die  sinnliche  und  geistige 
Natur  versöhnende,  in  dem  irdischen  Leben  wurzelnde  Ethik 
ein.  Bewundemswerth  ist  die  Kunst,  mit  der  es  dem 
Dichter  gelang,  einige  Jugendgedichte  so  in  diesen  Zu- 
sammenhang zu  verflechten,  dass  sie  wie  einzelne  drama- 
tische Momente  in  der  Entwicklung  jener  ästhetisch-ethi- 
schen Anschauungen  wirken. 

Das  erste  Gedicht  'Der  Kampf  (in  der  Thalia  1786 
Heft  2  Nr.  IV  'Freigeisterei  der  Leidenschaft.  Als  Laura 
vermählt  war  im  Jahre  1782')  setzt  ein  mit  der  schroffsten 
Dissonanz  zwischen  Vernunft  und  Sinnlichkeit,  der  Geist 
des  Dichters  bäumt  sich  auf  gegen  das  Gebot  einer  die 
Rechte  der  letzteren  missachtenden  Tagend.  Schiller  hat 
dies  zügelloseste  seiner  Jugendgedichte  um  zwei  Drittel  ver- 
kürzt und  namentlich  die  religiösen  Beziehungen  als  gar  zu 
anstössig  gestrichen.  So  ist  auch  die  Schlussapostrophe  an 
Gott  gefallen: 

Besticht  man  dich  mit  blutendem  Entsagen?  -~  ~   ~ 
0  diesem  Gott  lasst  unsre  Tempel  uns  verschliessen. 

Kein  Loblied  feire  ihn, 
Und  keine  Freudenthräne  soll  ihm  weiter  fliessen. 

Sie  hätte  den  Zusammenhang  dieses  Gedichtes  mit  dem 
folgenden  in  noch  handgreiflicherer  —  allerdings  auch  in 
gar  zu  absichtlicher  und  für  viele  Leser  verletzender  Weise 
gezeigt,  denn  nun  folgt  die  begeisterte  Verherrlichung  einer 


Keitner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         147 

Religion,  in  der  das  Sinnliche  vergeistigt,  das  Menschliche 
vergöttlicht  ist:  ^Die  Gotter  Griechenlands'  (aus  dem  März- 
heft des  Merkur  1788).  Und  wie  hier  kein  Zweifel  an  der 
zweckvoUen  Gruppirung  bestehen  kann,  so  auch  nicht  bei 
dem  nächsten  Gedichte,  welches  der  Dichter  aus  einer  viel 
späteren  Zeit  (aus  d.  Musenalmanach  f.  1 797)  hierher  holte, 
'Pompeji  und  Herkulanum':  lebendig  ersteht  diese  antike 
Welt  aus  ihrem  Grabe,  in  wunderbarer  Anschaulichkeit  ent- 
hüllt sich  uns  ihr  ganzes  Sein  bis  in  alle  Einzelheiten  und 
ladet  uns  ein,  im  Geiste  es  mit  zu  durchleben;  die  Schluss- 
worte: 

Die  Altäre,  sie  stehen  noch  da,  o  kommet,  o  zündet  — 
Lang  schon  entbehrte  der  Gott,  zündet  die  Opfer  ihm  an! 

scUiessen  es  noch  enger  an  das  Yorhergehende  Gedicht  an. 
Das  nächste  Gedicht  'Resignation'  folgt  in  der  Thalia 
von  1786  als  Nr.  Y  mit  dem  Zusatz  zum  Titel  'Eine  Phan- 
tasie' unmittelbar  auf  das  erste  unserer  Gruppe,  den  'Kampf. 
In  beiden  lebt  dieselbe  Stimmung,  beide  sind  ja  auch  den 
schweren  inneren  Wirrnissen  entsprungen,  in  welche  den 
Dichter  1784  in  Mannheim  sein  Yerhältniss  zu  Frau  v.  Ealb 
gestürzt  hatte.  Trotzdem  hat  Schiller  sie  bei  der  Redac- 
tion  der  Sammlung  trennen  zu  müssen  geglaubt  und  die 
'Resignation'  gerade  mit  einem  seiner  jüngsten  Gedichte, 
'Die  Worte  des  Wahns'  (zuerst  gedruckt  im  Taschenbuch 
f&r  Damen  a.  d.  J.  1801,  im  Register  der  Gedichte  ins  J.  1799 
versetzt),  verbunden.  Auch  hier  müssen  wir  das  Zweckvolle 
der  so  rücksichtslos  die  Fäden  des  ursprünglichen  Zu- 
sammenhangs zerschneidenden  Redaction  bewundem  und  be- 
dauern, dass  man  jetzt  wieder  'Kampf  und  'Resignation' 
zusammen  liest.  Denn  wenn  der  Dichter  hier  unter  innerer 
Empörung  daran  verzweifelt,  dass  im  Jenseits  ein  Ersatz 
für  die  auf  Erden  der  Tugend  dargebrachten  Opfer  lohne, 
und  in  bitterem  Unmuth  in  dem  hoffnungsvollen  Glauben 
daran  nur  einen  beglückenden  Wahn  sieht,  so  erhebt  er 
sich  in  den  'Worten  des  Wahns'  zu  der  ruhigen  Erkenntniss, 
dass  es  überhaupt  eine  Thorheit  sei,  auf  eine  Belohnung 
oder  auch  nur  die  äussere  Verwirklichung  unserer  Ideale  zu 
hoifen,  dass  wir  vielmehr  denselben  in  uns  selbst  ihre  Rea- 
lität geben  müssen. 

10* 


148         Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

Und  von  hieraus  ergibt  sich  auch  wiederum  leicht  der 
Zusammenhang  dieser  zwei  mit  den  ersten  drei  Oedichten 
unserer  Gruppe.  Ich  glaube  ihn  nicht  besser  andeuten  zu 
können,  als  mit  den  Worten,  mit  welchen  Schiller  selbst 
später  die  Bedeutung  seiner  'Resignation'  erläutert  hat  — 
sie  werden  zwar  der  ursprünglichen  Stimmung  derselben 
nicht  gerecht,  zeigen  aber,  wie  er  sie  künftig  aufgefasst 
wissen  wollte:  ^^)  ^Das  Gedicht  ist  nicht  gegen  die  wahre 
Tugend,  sondern  nur  gegen  die  Beligions-Tugend  ge- 
richtet, welche  mit  dem  Weltschöpfer  einen  Accord  schliesst 
und  gute  Handlungen  auf  Interessen  ausleiht.'  So  ist  es 
kein  Sprung,  wenn  Schiller  yon  jener  Verherrlichung  der 
antiken  Welt  zu  diesen  Gedichten  überging. 

Den  Scfaluss  der  Gruppe  bilden  die  Gedichte  'An  Emma' 
(aus  dem  Musenalmanach  f.  1798)  und  'Hektors  Abschied' 
(aus  den  Räubern).  In  beiden  ist  die  unvergängliche  Macht 
der  Liebe  dargestellt,  dort  im  Leben  trotz  Trennung  und 
Treubuch  ^^),  hier  auch  über  den  Tod  hinaus.  Den  im  Liede 
Amalias  enthaltenen  Trost  Hektors  (Str.  2,  6) 

Und  wir  sehn  uns  wieder  in  Elysium 

")  Goedekelö,  1,419;  Hempel  15,  724.  Goedeke  gibt  an,  dass 
nach  dem  Antorenexemplar  des  Morgenblattes,  wo  diese  Bemerkungen 
1808  yerOffentlicht  wurden,  der  Kaufmann  und  Kunstfreund  Bapp  in 
Stuttgart  der  Einsender  war.  Da  derselbe  zu  ihnen  bemerkt:  'Nachdem 
meine  Apologie  längst  ausgedient  und  schon  eine  geraume  Zeit  im 
Schreibtische  geruht  hatte,  ward  ich  ....  veranlasst,  solche  einem  mir 
sehr  lieben  Freunde  in  Stuttgart  mitzutheilen,  bei  dem  —  was  ich 
freilich  nicht  wusste  —  gerade  damals  unser  Schiller  wohnte.  So  kam 
sie  in  dessen  Hftnde,  und  er  schrieb  auf  dem  letzten  Blatte,  was  die 
beikommende  Urkunde  enthält*,  so  müssen  jene  Bemerkungen  aus  dem 
Frahling  1794  stammen. 
>*)  Zu  den  Versen 

Deckte  dir  der  lange  Schlummer, 

Dir  der  Tod  die  Augen  zu, 
Dich  bes&sse  doch  mein  Kummer, 
Meinem  Herzen  lebtest  du. 
bietet  eine   interessante  Parallele  Uhlands  These  in  dem   1816  ge- 
führten 'Sängerstreit*  mit  RQckert,  es  sei 

minder  Tod  zu  klagen, 
Als  gebrochner  Treuverspruch. 
Vgl.  0.  Jahn,  Uhland  (Bonn  1868)   S.  127—31;  Notter,  Uhlands  Leben 
und  Dichtungen  (Stuttg.  1863)  S.  167—171. 


KeÜner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         t49 

hat  Schiller  bei  der  Umarbeitung  desselben  für  die  Samm- 
lung in 

Steig  ich  nieder  zu  dem  stygschen  Fluss 

geändert,  obwohl  ein  äusserer  Anlass  dazu  nicht  vorlag,  die 
Correctur  des  prosodisch  und  syntaktisch  anstössigen  Y.  4 
zog  jene  Änderung  nicht  nach  sich.  Wollte  er,  indem  er 
das  Leben  nach  dem  Tode  ganz  nach  homerischer  Vor- 
stellung auffasste,  bloss  das  Colorit  strenger  wahren  oder 
zugleich  das  Gedicht  in  dem  Gedanken  der  vorhergehenden 
festhalten? 

Die  dritte  Gruppe  (S.  303-324)  bringt  als  Abschluss 
des  ganzen  Abschnittes  unter  besonderem  Titel  und  mit  Ein- 
leitungsdistichon die  ^Yotivtafeln'  (zum  grossen  Theil  aus 
den  im  Musenalmanach  f.  1797  bereits  unter  demselben  Titel 
und  mit  demselben  Einleitungsdistichon  veröffentlichten  Epi- 
grammen zusammengestellt,  doch  sind  auch  noch  andere 
Distichen  und  ein  Xenion  aus  demselben  Jahrgang,  sowie 
einige  aus  dem  vorhergehenden  und  aus  den  Hören  1795, 
dazu  drei  neue  hinzugefügt),  die  Resultate  der  Philosophie 
des  Dichters  knapp  und  scharf  in  kurze  Sinnsprüche  zu- 
sammenfassend. ^*) 

'*)  Die  Gliederung  derselben  im  einzelnen  zu  y erfolgen,  würde  hier 

zu  weit  führen.    Ich  begnüge  mich   zur  VeranBchaulichung   der  re- 

dactionellen  Thätigkeit  des  Dichters  die  hier  gew&hlte  mit  der  ur- 
sprünglichen Ordnung  zusammenzustellen. 

S.  903  Votivtafeln Musenalmanach  f.  1797  S.  152 

Die  verschiedene  Bestimmung    .  „  „  152 

,  304  Das  Belebende „  ,153 

Zweierlei  Wirkungsarten     .    .    «  .  «  153 

Unterschied  der  Stände  ....  «  „  153 

«  305  Das  Werihe  und  Würdige  ...  »  „153 

Die  moralische  Kraft      ....  „  „  154 

Mittheilung „  „  154 

,  306  An  • „  ,154 

An  •• „  ,155 

An  •*► ,  ,155 

,  307  Jetzige  Generation ,  i>    49 

An  die  Muse «  ,  156 

Der  gelehrte  Arbeiter     ....  „  „  156 

,  306  Pflicht  für  jeden ,  ,156 

Aufgabe »  ,168 

Das  eigne  Ideal »  n  168 


I 

1 


n 


» 


150         Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

Vierter  Abschnitt  S.  325—335. 
Noch  vier  Gedichte  sind  als  Schluss  angehängt:  ^Nänie' 
(hier  zuerst;  von  Schiller  1799  angesetzt),  ^Die  Hochzeit  der 

S.  309  An  die  Mystiker Musenalmanach  f.  1797  S.  167 

Der  Schlüssel „                    „158 

Der  Aufpasser „                    »56 

310  Weisheit  und  Klugheit ....  Hören  1795  IX  13      „  132 
Die  Übereinstimmung     ....  Musenalmanach  f.  1797  „  157 

311  Politisehe  Lehre ,                    „32 

Miy'estas  populi „                    »33 

812  An  einen  Weltverbesserer   .    .    .  Hören  1795  IX  14      ,  133 

„  313  Meine  Antipathie Musenalmanach  f.  1797  „  164 

An  die  Astronomen „                    »99 

n  314  Astronomische  Schriften     ...  „                    „  244 
(Xenie  *Der  astronomische  Himmer) 

Der  beste  Staat „        f.  1796  „  167 

Mein  Glaube. „        f.  1797  „  163 

0  315  Inneres  und  Äusseres     ....  „                    „  104 

Freund  und  Feind „                    „104 

Licht  und  Farbe „                    »167 

316  Schöne  IndiyiduaUt&t „                    „169 

Die  idealische  Freiheit   ....  Hören  1795  XII  11      „.114 

('Ausgang  aus  dem  Leben';  unter  diesem  ursprünglichen 
Titel  nochmals  abgedruckt  2,207) 

317  Die  Mannichfftltigkeit    ....  Musenalmanach  f.  1797  S.  170 
Die  drey  Alter  der  Natur  .    .    .  neu  (1800) 

318  Der  Genius Musenalmanach  f.  1797  S.  172 

Der  Nachahmer „                    „  172 

319  Genialität n                    »173 

Die  Forscher „               160—161 

(die  beiden  Epigramme  'Metaphysiker  und  Physiker*  und 
*Die  Versuche'  sind  vereinigt) 

„  320  Die  schwere  Verbindung     .    .    .  Musenalmanach  f.  1797  S.  174 

Korrektheit „                    „174 

Das  Naturgesetz „                    „  175 

„  321  Wahl „                    „177 

Tonkunst neu  (1800) 

Sprache Musenalmanach  f.  1797  S.  177 

„  322  An  den  Dichter „                    „177 

Der  Meister „                    „177 

Der  Gilrtel neu  (1800) 

323  Dilettant Musenahnanach  f.  1797  S.  178 


n 


n 


n 


n 


9 


Die  Kunstschwätzer „  „  181 

Die  Philosophieen „  „  162 

„  324  Die  Gunst  der  Musen     ....  „  „  156 

Der  Homeruskopf  als  Siegel  .    .  „  »    ^ 


I 


I 


Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         151 

Thetis.  Nach  dem  Euripides'  (aus  der  Übersetzung  der 
Iphigenie  in  Aulis,  Thalia  1789),  'Würde  der  Frauen'  (aus 
dem  Musenalmanach  f.  1796  S.  186  mit  starken  Kürzungen) 
und  'Abschied  vom  Leser'  (aus  dems.  S.  203). 

Niemand  wird  von  einem  solchen  Nachtrag  strengere 
Gliederung  erwarten.  Auf  das  erste  Gedicht  leitet  schon 
die  letzte  Seite  des  vorigen  Abschnittes  über:  'Die  Gunst 
der  Musen': 

Mit  dem  Philister  stirbt  auch  sein  Ruhm,  du  himmlische  Muse, 
Trfigst  die  dich  lieben,  die  du  liebst,  in  Mnemosynens  Schooss. 

Dem  entspricht  der  Grundgedanke  der  'Nänie':  'Auch 
das  Schöne  muss  sterben' . .  .  doch  'das  Gemeine  geht  klang- 
los zum  Orkus  hinab'. 

Und  wenn  er  dann  in  diesem  Gedichte  als  Beispiel  den 
göttlichen  Helden  anfuhrt,  um  dessen  Schicksal  die  unsterb- 
liche Mutter  'mit  allen  Töchtern  des  Nereus'  und  den  Göt- 
tern allen  den  Klagegesang  anstimmt,  so  war  der  Übergang 
zu  dem  nächsten  Gedichte  gegeben,  wo  bei  der  Hochzeit 
dieser  Mutter  die  Göttinnen  'den  schönen  Stern,  der  aus 
ihrem  Schooss  ersteht',  besingen  und  Apollo  mit  Chiron  seine 
Thaten  vor  Troja  verkündet. 

An  dieses  Epithalamium  mochte  sich  dann  der  Preis 
der  Frauen  passend  anschliessen.  — 

Das  letzte  Gedicht  sollte  schon  bei  seiner  ersten  Yer- 
öfiFentlichung,  wie  er  an  Eömer  25.  September  1 795  schreibt, 
den  Almanach  beschliessen;  da  aber  dann  in  demselben  noch 
Goethes  'Yenetianische  Epigramme'  erschienen,  so  wurde  es 
einfach  als  'Stanzen  an  den  Leser'  abgedruckt;  jetzt  bot  es 
sich  Ton  selbst  als  Schlussdar,  um,  wie  er  damals  schon  gewollt 
hatte,  'den  Leser  auf  eine  freundliche  Art  zu  yerabschieden'. 

3.  Der  zweite  Theil  der  Gedichte.   1803. 

Als  Schiller  den  ersten  Theil  zusammenstellte,  konnte 
er  aus  dem  reichen  Schatz  von  Gedichten,  der  sich  seit 
zwanzig  Jahren  angehäuft  hatte,  frei  nach  künstlerischem 
Ermessen  wählen,  sichten  und  ordnen,  so  dass  ein  schön 
gegliedertes  Ganze  sich  ergab.  Die  Bedingungen  für  die 
Redaction  des  zweiten  Theils  waren  wesentlich  andere.  Nur 
eine  dürftige  Nachlese  solcher  Gedichte,   die  nach  seinem 


152         Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

strengen  Masstab  ^Werth  nicht  bloss  für  den  und  die 
Freunde,  sondern  für  die  Welt  und  für  die  Dichtkunst  hatten^ 
(an  Körner  21.  October  1800),  war  übrig.  Die  reiche  Ernte 
der  90er  Jahre,  der  für  die  Lyrik  so  fruchtbaren  Zeit  der 
Musenalmanache  und  der  Hören,  war  fast  völlig  eingebracht; 
von  bedeutenderen  Gedichten  waren  nur  'Das  verschleierte 
Bild  zu  Sais'  (Hören  1795)  und  'Die  Macht  des  Gesanges^ 
(Musenalmanach  f.  1796)  bisher  noch  zurückgelassen.  Nur 
wenige  neue  Gedichte  waren  in  der  Zwischenzeit  entstanden, 
unter  ihnen  ragten  'Hero  und  Leander',  'Kassandra',  'Sehn- 
sucht', 'Die  deutsche  Muse'  hervor,  die  übrigen  waren  meist 
Gelegenheitsdichtungen.  —  Und  wenn  Schiller  nun  weiter 
zurückschaute,  so  bot  auch  die  Zeit  der  Thalia  nur  geringe 
Ausbeute,  dagegen  war  bisher  die  Anthologie  (abgesehen 
von  'Meine  Blumen')  noch  gar  nicht  verwerthet. 

Schiller  hatte  ursprünglich  auch  nicht  die  Absicht 
gehabt,  seine  Jugendgedichte  in  grösserem  Masse  heranzu- 
ziehen. Man  weiss,  dass  er  selbst  die  strengste  Kritik  an 
sich  zu  üben  gewöhnt  war  und  namentlich  unnachsichtig  die 
Schöpfungen  verwarf,  welche,  wie  er  in  jenem  Brief  an 
Eömer  schreibt,  'eine  Stufe  der  Bildung  bezeichneten ,  die 
er  durchaus  hinter  sich  lassen  musste,  um  etwas  Ordent- 
liches hervorzubringen'.  So  hatte  er,  als  er  den  Plan  einer 
Sammlung  seiner  Gedichte  zuerst  fasste,  nur  17  ältere  der 
Aufnahme  für  würdig  befunden  und  bittet  Körner  am 
5.  Mai  1793  auch  seinerseits  dieselbe  Anzahl  auszuwählen, 
um  eine  Gegenprobe  zu  seinem  Urtheil  zu  haben;  die  ge- 
wählten sollten  ausserdem  einer  umfassenden  Correctur  unter- 
worfen werden.  Schon  damals  hatte  Körner  zu  einem  nach- 
sichtigeren Verfahren  gerathen.  'Es  ist  mir  bange  vor  der 
zu  strengen  Revision  Deiner  Gedichte',  antwortet  er  am 
21.  Mai,  'Du  hast  Deine  Manier  geändert.  Vieles  mussDir 
jetzt  missfallen,  was  die  Spur  einer  jugendlichen  Wildheit 
trägt,  was  aber  vielleicht  gerade  für  den  Geist  einiger,  in 
ihrer  Art  sehr  schätzbaren  Arbeiten  passend  ist.  Verstösse 
gegen  Sprache  und  Versification  brauchst  Du  nicht  zu  dulden. 
Aber  schon  gegen  eine  gewisse  Üppigkeit  der  BUder  wollte 
ich  um  Nachsicht  bitten.  Ich  weiss,  dass  sie  der  reifere 
Geschmack  nicht  verträgt   Aber  die  Jahrzahl  über  jedem 


Eettner,  Die  Anordnang  der  SchiUerschen  Gedichte.  153 

Gedichte  ist  zu  Deiner  Rechtfertigung  hinreichend/  Schiller 
hatte  sich  seither  dem  Standpunkt  des  Freundes  ge- 
nähert. Seinem  Rathe  folgend  setzte  er  im  Register  zum 
ersten  Theile  seiner  Sammlung  die  Jahreszahl  der  Ent* 
stehung  hinter  jedes  Gedicht  und  yersprach,  einen  Theil 
der  älteren  'entweder  in  einem  möglichen  zweiten  Theil  oder 
doch  in  einer  neuen  und  erweiterten  Ausgabe  des  gegen- 
wärtigen' nachzubringen  (an  Körner  3.  Septembe^  1800). 
Wenn  er  diesen  Entschluss  nachher  in  grösserem  Umfange, 
als  er  damals  dachte  —  er  verwarf  damals  z.  B.  das  'Lied 
an  die  Freude'  schlechthin  als  durchaus  fehlerhaft  —  aus- 
führte und  auch  an  der  ursprünglichen  Gestalt  der  Gedichte 
nicht  so  viel  änderte,  als  er  eigentlich  für  nöthig  hielt,  so 
geschah  dies  wohl  zum  grossen  Theil  mit  Rücksicht  auf  die 
von  Behrens  eigenmächtig  veranstaltete  Sammlung  der 
Schillerschen  Gedichte  ^*),  in  der  gerade  die  Jugendgedichte, 
speciell  die  Anthologie,  reich  vertreten  waren.  .  Hatte  doch 
der  Herausgeber  es  gewagt,  seinen  elenden  Nachdruck  eben 
mit  Bezug  hierauf  zu  empfehlen:  'Da  es  übrigens  sehr  wahr- 
scheinlich ist,  dass  der  Yerfasser  eine  strengere  Wahl  bei 
einer  selbst  besorgten  Ausgabe  treffen  wird,  so  behält  die 
vorliegende  dennoch  immer  ihren  Werth,  da  sie  neben  den 
vollendetsten  Meisterwerken  zugleich  auch  die  charakter- 
vollsten Erstlinge  unsers  Lieblingsdichters  enthält.'  Schiller 
konnte  diese  dummdreiste  Speculation  auf  seine  künstleri- 
sche Gewissenhaftigkeit  nicht  ignoriren.  Indem  er  in  der 
Vorrede  des  zweiten  Theils  die  Gesichtspunkte  angibt,  welche 
ihn  zur  Aufnahme  'der  wilden  Produkte  eines  jugendlichen 
Dilettantism ,  der  unsichern  Versuche  einer  anfangenden 
Kunst  und  eines  mit  sich  selbst  noch  nicht  einigen  Ge- 
schmacks' bewogen,  wendet  er  sich  zum  Theil  direct  gegen 
Behrens.  'Bei  einer  Sammlung  von  Gedichten,  welche  sich 
grösstentheils  schon  in  den  Händen  des  Publicums  befinden, 
konnte  der  poetische  Werth  nicht  allein  in  Betrachtung 
kommen.  Sie  sind  schon  ein  verjährtes  Eigenthum  des 
Lesers,  der  sich  oft  auch  das  unvollkommene  nicht  gern  ent- 
reissen  lässt,  weil  es  ihm  durch  irgend  eine  Beziehung  oder 


^*)  Ygl*  Anmerkung  2, 


154         Kettner,  Die  Anordnimg  der  Schillerschen  Gedichte. 

Erinnerung  lieb  geworden  ist,  und  selbst  das  Fehlerhafte 
bezeichnet  wenigstens  eine  StufFe  in  der  Geistesbildung  des 
Dichters  ....  Möchte  diese  rechtmässige,  korrekte  und 
ausgewählte  Sammlung  diejenige  endlich  verdrängen,  welche 
vor  einigen  Jahren  von  den  Gedichten  des  Verfassers  in 
drei  Bänden  erschienen  ist.'  ^^) 

Es  lag,  wie  man  sieht,  dem  Dichter,  als  er  den  zweiten 
Theil  zusammenzustellen  unternahm,  ein  sehr  sprödes  und 
wenig  ergiebiges  Material  vor,  welches  den  Gedanken,  aus 
ihm,  was  beim  ersten  Theile  so  glücklich  gelungen  war,  ein 
bis  ins  einzelnste  kunstvoll  gegliedertes  Ganze  zu  schaffen, 
von  vornherein  ausschloss. 

Der  historische  Gesichtspunkt  war  von  Anfang  an 
durch  die  Yoraussetzungen  der  Sammlung  gegeben,  er  war 
in  der  Yorerinnerung  als  Rechtfertigung  benutzt  für  die 
Aufnahme  der  Jugendgedichte,  und  die  schroffen  Unter- 
schiede im  Stilcharakter  der  einzelnen  Dichtungen  mussten 
ihn  immer  wieder  aufs  neue  dein  Redactor  aufdrängen. 
Trotzdem  durfte  er  ihn  nicht  ausschliesslich  verfolgen. 
Hätte  er  ihn  rein  zur  Geltung  gebracht,  so  wäre  unzweifel- 
haft; einem  grossen  Theile  der  Leser  die  eine  Hälfte  seiner 
Sanmilung  als  Ballast  erschienen.  Für  die  Würdigung  der 
allmählichen  Entwicklung  eines  Dichtergeistes  hatte  das 
weitere  Publicum  damals  noch  weniger  Sinn  als  heutzutage. 
Reichardt  urtheilte  sicherlich  im  Sinne  vieler  Leser,  wenn 
er  im  Freimüthigen  1804  ^*)  gegen  die  von  Schiller  in  der 
Yorerinnerung  aufgestellten  Grundsätze  bemerkte:  ^Lassen 
wir  sie  gelten,  so  können  hinfort  grosse  Männer  selbst  ihre 
Enabenexercitia  herausgeben,  denn  auch  diese  bezeichnen 
ja  ein^  Stufe  in  ihrer  Geistesbildung'.  —  Auch  hätte  dann 
der  zweite  Theil  gar  zu  sehr  gegen  den  ersten  abgestochen. 

So  hat  denn  Schiller  einen  Mittelweg  eingeschlagen. 
Er  verfuhr  so,  dass  er  die  einzelnen  Schichten  mehrfach 
mit  einander  abwechseln  Hess,  von  der  einen  zur  andern 
thunlichst  überzuleiten  suchte  und  innerhalb  der  einzelnen 


^*)  Der  Abdruck  dieser  *Vorerinnerang'   bei  Goedeke    11,  X   ist 
orthographisch  mehrfiarch  ungenau. 

*■}  Braun,  Schiller  im  Urtheile  seiner  Zeitgenossen  3,  364. 


Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         155 

die  Gedichte  so  umstellte,  dass  sich  wenigstens  ein  gewisser 
Zusammenhang  ergab. 

Die  Anordnung  des  zweiten  Theiles  kann  daher  der 
vollendeten  künstlerischen  Gruppirung  des  ersten  allerdings 
nicht  an  die  Seite  gestellt  werden;  aber  auch  sie  legt 
Zeugniss  dafür  ab,  mit  welcher  Gewissenhaftigkeit  Schiller 
jenes  Frincip  festhielt  und  mit  welchem  Geschick  er  es 
auch  unter  den  ungünstigsten  Umständen  noch  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  durchzuführen  suchte. 

Erster  Abschnitt  8.3—77. 

Das  Verfahren  des  Dichters  wird  am  besten  deutlich 
werden,  wenn  ich  im  Folgenden  bei  den  einzelnen  Gruppen 
von  Gedichten  gleich  die  Fundorte  übersichtlich  zusammen- 
stelle. 


Erste  Gruppe  S.3  — 30. 

Der  Antritt  des  neuen  Jahrhun- 

derts 

Taschenb.  f.  Damen  1802  S. 

167 

Hero  und  Leander 

ebda.                   „ 

153 

Die  Gunst  des  Augenblicks 

Beckers  Taschenb.  1803  „ 

205 

Sehnsucht 

ebda.                   „ 

251 

Die  Antiken  zu  Paris 

ebda.                  „ 

231 

Die  deutsche  Muse 

neu 

Dem  Erbprinzen  zu  Weimar,  als 

er  nach  Paris  reis'te 

Beckers  Taschenb.  1803  ,, 

293 

Zweite  Gruppe  S.31— 77. 

Thekia,  eine  Geisterstimme 

Taschenb.  f.  Damen  1803  „ 

201 

Die  vier  Weltalter 

ebda.                  ,, 

205 

An  die  Freunde 

ebda.                  ,, 

1 

Die  Künstler 

Merkur  1789  März 

Kassandra 

Taschenb.  f.  Damen  1 803  „ 

210 

Die  Macht  des  Gesanges 

Musenalmanach  f.  1796    „ 

1 

Das  Mädchen  von  Orleans 

Taschenb.  f.  Damen  1 802  „ 

231 

Man  sieht,  Schiller  hat  die  Sammlung  mit  seinen 
neuesten  Dichtungen  eröffnet  —  nur  die  ^Künstler'  gehören 
einer  früheren  Zeit  an.  Die  Introduction  war  sehr  ge- 
schickt: er  brachte  dem  Leser  gleich  das  Beste,  was  er 
ihm  zu  bieten  hatte;  dieser  Anfang  tauschte  die  Erwar- 
tungen nicht,  welche  der  erste  Theil  erregt  hatte;  auch  die 
Zusammenstellung  der  Gedichte  zeigte  dieselbe  sorgsamq 
Hand  des  Künstlers. 


156         Kettner,  Die  Anordnuog  der  Schillerschen  Gedichte. 

Sehr  glücklich  ist  das  Einleitungsgedicht  gewählt:  aus 
einer  drangvollen  Gegenwart  will  uns  der  Dichter  führen 
4n  des  Herzens  heilig  stille  Räume'  und  in  die  Welt  des 
Schonen.  Und  auch  ^Hero  und  Leander'  brechen  'die 
süsse  Frucht  der  Liebe  am  Abgrund  der  Gefahr',  und  wenn 
auch  ^frühe  schon  ihr  Lauf  beschlossen  ist',  so  kann  Hero 
doch  rühmen  'das  schönste  Loos  war  mein'.  So  klingt  der 
Grundaccord  dieser  Ballade  hinüber  in  das  Lied  heitrer 
Geselligkeit:  'jede  schöne  Gabe'  ist  nur  eine  'Gunst  des 
Augenblicks',  'schnell  in  ihrem  düstern  Grabe  schliesst  die 
Nacht  sie  wieder  ein'.  Wohl  mag  uns  oft  tiefe  'Sehnsucht' 
überkommen  nach  einer  schöneren  Welt,  deren  'Blumen 
keines  Winters  Raub  werden',  aber  nicht  müssig  sollen  wir 
uns  in  dieser  Sehnsucht  verzehren,  —  jeden  Augenblick 
trägt  uns  der  Wunderkahn  der  Poesie  hinüber. 

Und  nun  reihen  sich  passend  die  Gedichte  an,  welche 
sich  auf  die  Kunst  beziehen.  Nur  'wer  sie  trägt  im  warmen 
Busen',  dem  werden  ihre  Werke  lebendig  ('Die  Antiken  zu 
Paris').  Gegenüber  der  äusserlichen  Pflege  der  Kunst  bei 
den  'Franken',  mag  'Die  Deutsche  Muse'  —  die  Einstellung 
des  neu  hinzugekommenen  Gedichts  an  diesem  Orte  mag 
wieder  als  Beweis  gelten  für  die  bewusste  Absicht  des 
Dichters  —  voll  Selbstgefühl  ihr  Haupt  erheben.  Mit  der 
Mahnung  an  den  'Erbprinzen  von  Weimar',  auch  in  dem 
wälschen  Lande  'den  vaterländischen  Geist'  zu  wahren, 
schliesst  die  Gruppe ;  das  letzte  Gedicht  bildet  zugleich  in  dem 
hoiFnungsfrohen  Hinweis  auf  den  neu  gewonnenen  Frieden 
(Str.  2  und  4)  ein  Gegenstück  zu  den  düsteren  Bildern  des 
Einleitungsgedichtes,  dem  es  auch  in  der  Form  ähnelt. 

Mit  der  Apotheose  der  Liebe  'Theklas'  eröffnet  er  die 
zweite  Gruppe.  Auch  die  Schilderung  der  'vier  Weltalter' 
gipfelt  in  dem  Preise  der  Liebe,  die  in  allen  Wandlungen 
des  Lebens  'lieblich  und  mild  blieb'  und  an  der  stets  'neu 
die  Flamme  des  Liedes  entbrannte'.  Neben  dieses  'Tafel- 
lied' hat  er  das  zweite  gleichzeitig  entstandene  'An  die 
Freunde'  (vgl.  an  Körner  4.  Februar  1802)  gestellt,  wie  dort 
die  verschiedenen  Zeiten  werden  hier  die  verschiedenen 
Länder  verglichen,  um  froh  den  Werth  der  Gegenwart  und 
der  Heimat  zu  empfinden.  Der  Schluss  des  Gedichtes:  'Alles 


Kettner,  Die  Anordnung  der  Scfaillerschen  Gedichte.         157 

wiederholt  eich  nur  im  Leben,  Ewig  jung  ist  nur  die  Phantasie' 
gab  die  directe  Überleitung  zu  den  'Künstlern' ;  auch  sonst 
reihte  sich  dies  Gedicht  trotz  seines  grossen  zeitlichen 
Unterschiedes  hier  am  besten  an :  der  culturhistorische  In- 
halt näherte  es  den  vorhergehenden,  namentlich  dem  vor- 
letzten. Der  Gedanke  der  'Künstler',  dass  die  Wahrheit 
als  'furchtbare'  Göttin  'nur  angeschaut  von  reineren  Dä- 
monen verzehrend  über  Sternen  geht',  lässt  die  Einfügung 
der  'Kassandra'  an  dieser  Stelle  nicht  ganz  unvermittelt; 
anderseits  mag  der.  furchtbare  Ernst  dieses  Gedichtes  vor- 
bereiten auf  die  'Macht  des  Gesanges'^''),  in  der  gerade 
die  tragische  Erschütterung  und  die  Erhebung  über  das 
'Yerhängniss'  (Str.  3.  4)  als  tiefste  Wirkung  der  Poesie  ge- 
schildert wird.  Und  die  'Macht  des  Gesanges'  zeigt  endlich 
am  schönsten  'Das  Mädchen  von  Orleans',  dem  'die  Dicht- 
kunst ihre  Götterrechte  reicht',  damit  es  'unsterblich  lebe'. 

Zweiter  Abschnitt  S.  78— 107. 

Er  bringt  zunächst  das  Lied  der  Amalia  aus  den 
^Räubern'  ('Schön  wie  Engel'  u.  s.  w.),  dann  aus  der  Antho- 
logie 'Fantasie  an  Laura'  (S.  7— 11),  'Laura  am  Klavier' 
(S.  19-21),  'Die  Entzückung  an  Laura'  (S.  38-41),  'Die 
Kindesmörderin^  (S.  42  —  48 ;  'Spinoza'  steht  dazwischen), 
'Der  Triumph  der  Liebe'  (S.  58—68). 

Man  sieht,  Schiller  hat  die  leidenschaftliche  Liebes- 
poesie seiner  Jugend  vereinigt.  Die  Anordnung  konnte 
sich  einfach  der  Folge  der  Gedichte  in  der  Anthologie  an- 
schliessen,  da  sie  von  selbst  eine  zweckvolle  Steigerung  bis 


")  Es  ist  neben  den  'Künstlern'  das  einzige  ältere  Gedicht  dieser 
Reihe.  Schiller  hatte  es  bei  der  Eedaction  des  ersten  Theils  Wjohl 
deshalb  zurückgestellt,  um  es  —  entsprechend  dem  'Mädchen  aus  der 
Fremde*  in  diesem  —  zur  Eröffnung  des  zweiten  Theiles  zu  benutzen. 
Wie  letzteres  Gedicht  nach  der  selbständig  vorangestellten  'Idylle* 
Goethes  den  Musenalmanach  für  1797,  so  leitete  es  den  für  1796  ein, 
welchen  die  'Stanzen  an  die  Leser*  ursprünglich  beschliessen  sollten; 
diese  beiden  Gedichte  werden  im  Brief  an  Kömer  y.  25.  September 
1795  ausdrücklich  als  Eröffhungs-  und  Schlussgedicht  bezeichnet.  In- 
zwischen war  aber  das  Gedicht  beim  'Antritt  des  neuen  Jahrhunderts* 
entstanden,  welches  noch  besser  für  jenen  Zweck  geeignet  scheinen 
mochte. 


158         Kettner,  Die  Anordnang  der  Schillerschen  Gedichte. 

zu  dem  Magischen  Abschluss  in  der  ^Kindesmörderin^  und 
dem  grossen  ^Hymnus'  auf  die  Liebe  darbot;  der  metaphy- 
sische Oehalt  des  letzteren,  die  Auffassung  der  Liebe  als 
Gesetz  des  Universums,  wies  zugleich  hinüber  zu  den 
folgenden  Gedichten. 

Dritter  Abschnitt  S.  108—134. 

Die  Reihe  der  älteren  unterbricht  der  Dichter  noch 
einmal  durch  jüngere  Gedichte ;  er  greift  aber  bereits  weiter 
zurück,  in  die  Hören  von  1795,  den  Musenalmanach  für 
1796,  ja  sogar  bis  in  die  Thalia  von  1786.  Die  anfangs 
noch  klar  erkennbaren  Linien  der  Composition  beginnen 
gegen  den  Schluss  hin  unsicher  zu  werden. 

Das  erste  Paar  'Das  verschleierte  Bild  zu  Sais'  und 
'Die  Weltweisen'  (Hören  1795  St.  9  S.  94  und  11  S.  29)  steht 
in  leicht  erkennbarem  Gegensatz  zum  zweiten  'Der  spielende 
Knabe'  und  'Einer  jungen  Freundin  ins  Stammbuch'  (Musen- 
almanach f.  1 796  S.  79  und  36) ;  jenes  zeigt  eine  alle  Lebens- 
freude vernichtende,  unfruchtbare  Weisheit,  dieses  das 
Glück  der  ahnungslosen  Unschuld  des  Kindes  wie  der  noch 
durch  keine  Erfahrung  getrübten  Seelenreinheit  des  blüh- 
enden Mädchens.  Der  Hymnus  'An  die  Freude'  (Thalia 
1786  Heft  2  S.  1)  kann  als  voller  Abschluss  dieser  Ge- 
dankenreihe gelten. 

Die  noch  übrigen  Gedichte  sind  ganz  äusserlich  hier 
angefügt.  So  zog  das  letztgenannte  'Die  unüberwindliche 
Flotte'  nach  sich,  weil  sie- aus  demselben  Heft  der  Thalia 
(S.  76)  allein  noch  übrig  war  (die  andern  waren  schon  im 
ersten  Theil  verwendet).  Endlich  schob  Schiller  hier  noch 
zwei  kürzere  Gedichte  aus  den  Hören  von  1795  ein:  'Einem 
jun'gen  Freund  als  er  sich  der  Weltweisheit  widmete'  (aus 
St.  HS.  41)  und  'Karthago'  (aus  St.  12);  so  schloss  er  den 
Abschnitt  mit  einem  Gedichtepaar  aus  den  Hören,  wie  er 
ihn  damit  begonnen  hatte. 

Vierter  Abschnitt  S.  135—178. 

Yon  den  neueren  kehrte  Schiller  noch  einmal  in  beab- 
sichtigtem Wechsel  zu  den  ältesten  Gedichten  zurück.  Elf 
Gedichte  aus  der  Anthologie  sind  hier  in   einer  von   der 


Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         159 

ursprünglichen  Ileihenfolge  durchaus  abweichenden  Anord- 
nung zusammengestellt,  und  vor  den  drei  letzten  ist  aus 
dem  Kalender  des  Luxus  und  der  Moden  für  1789  ^Die 
berühmte  Frau^  eingeschoben. 

Dies  freiere  Yerfahren  des  Dichters  beweist  schon,  dass 
er  auch  hier  wieder  Yon  einer  künstlerischen  Absicht  ge- 
leitet wurde.  Freilich  viel  war  bei  dem  vorliegenden  Ma- 
terial nicht  zu  erreichen.  Er  musste  sich  im  wesentlichen 
darauf  beschränken,  die  ähnlichen  Gedichte  zusammen- 
zustellen und  durch  starke  Contraste  sie  zu  heben.  Und 
doch,  wie  vortrefflich  hat  er  auf  diese  Weise  Leben  und 
Bewegung  auch  in  diese  Gruppe  zu  bringen  gewusst! 

So  liess  er  —  ich  füge  die  Seitenzahlen  der  Anthologie 
bei,  um  die  starken  Umstellungen  bei  der  Redaction  er- 
kennen zu  lassen  —  auf  das  im  Volkston  gehaltene, 
kecke  und  frische  Kampflied  'Graf  Eberhard  der  Greiner' 
(S.  251—256)  das  weiche,  fröhliche  Lied  'An  den  Frühling' 
(S.  123 — 124)  folgen;  ebenso  auf  die  wilde,  ganz  dramatische 
Scene  des  Mordens  'Die  Schlacht'  (S.  49—53)  den  'Flücht- 
ling' (S.  184 — 186  'Morgenfantasie'),  der  todesmüde  auf- 
athmet  in  der  im  Morgenlicht  sich  verjüngenden  Natur. 
Nach  der  'Gruppe  aus  dem  Tartarus'  (S.  147)  zieht  das 
'Elisium'  (8.  196—198)  an  uns  vorüber,  der  Anfang  'Vorüber 
die  stöhnende  Klage!'  scheint  direct  an  jenes  Gedicht  an- 
zuknüpfen, obwohl  beide  ursprünglich  gar  nicht  in  Zu- 
sammenhang standen.  Neben  die  thränenreiche  Liebesklage 
'An  Minna'  (8.190—192)  trat  die  nüchtern  verständige 
Resignation  in  einer  Fabel  in  Gellerts  Geschmack  'Das 
Glück  und  die  Weissheit'  (8.  76—77)  und  —  sehr  glücklich 
hier  eingefügt  —  die  lustige  Satire  auf  die  Schmerzen  des 
enttäuschten  Ehemanns  der  'berühmten  Frau'.  Endlich: 
die  überschwängliche,  alle  Himmel  überfliegende  Begeiste- 
rung in  der  Hymne  'Die  Grösse  der  Welt'  (8.  128—130) 
wurde  in  keckem  Humor  abgelöst  durch  die  mehr  als 
irdische,  strotzende  Lebenslust  in  'Männerwürde'  (8.115 — 
122  'Kastraten  und  Männer')  und  die  übermüthige  Ver- 
höhnung einer  asketischen  Ethik  in  dem  Gedicht  'An  einen 
Moralisten'  (8.  78—81). 


160         Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

Fünfter  Abschnitt  8.  179—240. 

Er  bringt  noch  eine  Nachlese  zu  den  beiden  Abthei- 
lungen der  älteren  und  jüngeren  Gedichte.  Abgesehen 
davon,  dass  er  die  kleinen  didaktischen  Gedichte,  sowie  die 
Parabeln  und  Räthsel  zusammenstellte  und  in  der  zweiten 
Gruppe  ernste  und  heitere  Gedichte  abwechseln  Hess,  hat 
Schiller  auf  eine  strengere  Gliederung  als  unmöglich  ver- 
zichtet. Ich  begnüge  mich  deshalb,  um  seine  Redaction  zu 
veranschaulichen,  ein  Schema  der  einzelnen  Gedichte  mit 
ihren  Fundorten  zu  geben. 

Erste  Gruppe  S.  179—208. 


Griechheit 

Musenalm.  f.l  797XenlonNr.320— 22 

Die  Sonntagskinder 

»> 

9} 

„  331 .  330 

Die  Homeriden 

»y 

99 

„  366—68 

Die  Philosophen 

tf 

»f 

„371—89 

B.  B.  [im  Register   richtig 

G.  G.  —  Gdehrte  Gesell- 

schaften] 

99 

» 

288 

Die  Danaiden 

>l 

l> 

45 

Der  erhabene  Stoff 

> 
f9 

»1 

22 

Der  moralische  Dichter 

M 

» 

11 

Der  Kunstgriff 

tf 

» 

14 

Jeremiade 

>> 

)9 

„  309—18 

Wissenschaft 

99 

f» 

62 

Kant  und  seine  Ausleger 

19 

» 

53 

Die  Flüsse 

99 

» 

yf         »Jim       90« 

100-12 

Schön  und  Erhaben 

Hören  1795  St,  12  Nr. 

IV 

Breite  und  Tiefe 

Musenalmanach  f. 

1798  S.  263 

Kleinigkeiten 

Der  epische  Hexameter  j 

Das  Distichon                 [ 
Die  achtzeilige  Stanze    ) 

Musenalmanach  f. 

1797 

S.67 

Der  Obelisk             j 

Der  Triumphbogen  ( 

Musenalmanach  f. 

1 798  S.  UO 

Die  schöne  Brücke  | 

Das  Thor                 1 

Die  Peterskirche 

ebda.  S.  255 

Zenith  und  Nadir 

neu    hinzugefügt, 

ursprflnglich    fflr 

Hören  1795   St 

.  12 

bestimmt") 

»)  Schiller  an  Cott«  27.  November  1795  (S.  140  vgl.  S.  120  Anin.  3). 


Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         161 

Ausgang  aus  dem  Leben  Hören  1795  St.  12  Nr.  XP*) 

Das  Kind  in  der  Wiege  Musenalmanach  f.  1 796  S.  4 

Das  Unwandelbare  Musenalmanach  f.  1 796  S.  24 

Theophanie  Hören  1795  St.  11 

Zweite  Gruppe  S.  209—240. 

Die    Götter    Griechenlands.      Merkur   1788  März 
Für    die    Freunde    der 
ersten     Ausgabe     abge- 
druckt 

Das  Spiel  des  Lebens  neu    (October    1796    für    Speners 

Guckkastenmann) 

Parabeln  und  Räthsel  (10)     aus    der   Turandot,    nur    6  und   8 

schon  daselbst  gedruckt 

Rousseau  Anthologie  S.  33—37 

Punschlied  ('Vier  Elemente*)      neu  entstanden 

Das  Geheimniss  der  Remi- 
niszenz Anthologie  S.  137— 146 

Sechster  Abschnitt  S.  241-358. 

Er  beschliesst  die  Sammlung,  ähnlich  wie  dies  beim 
ersten  Theil  geschehen  war,  mit  den  Übersetzungen  des 
'vierten  Buches  der  Äneide'  (S.  241—305;  aus  der  Thalia 
f.  1792  St.  2  u.  3)  und  der  'Scenen  aus  den  Phönizierinnen' 
(S.  309—358;  aus  der  Thalia  1789  Heft  8).  Zwischen  beide 
ist  eingeschoben  S.  306—308  'Der  Pilgrim\  aus  einem  ganz 
äusserlichen  Grunde,  weil  der  Drucker  Göpferdt  um  ein 
Gedicht  zur  Ausfüllung  der  leeren  Seite  306  vor  dem 
Schmutztitel  der  Phönizierinnen  bat  (Geschäftsbriefe  S.  308). 

4.  Die  zweite  Ausgabe. 

Der  erste  Theil  erschien  in  ^zweiter  von  neuem  durch- 
gesehener Auflage'  Leipzig  bei  Crusius  1804.  Die  frühere 
Anordnung  ist  darin  ohne  jede  Änderung  beibehalten,  die 
neue  Ausgabe  stimmt  selbst  bis  auf  die  Seitenzahlen  mit 
der  ersten  überein. 


^*)  Schon  Theil  1  S.  316  unter  dem  neuen  Titel  *Die  idealische 
Freiheit'  und  mit  einzelnen  orthographischen  Abweichungen  abge- 
druckt. Schiller  Hess  sich  offenbar  durch  den  früher  geänderton 
Titel  beirren. 

Vierte\jahzBehiift  für  LittexatoigeBchichte  III  1 1 


162         Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedickte. 

Vom  zweiten  Theil  besorgte  der  Dichter  ebenfalls  noch 
eine  'zweite,  verbesserte  und  vermehrte  Auflage'  (ebda. 
1805).^®)  Auch  hier  änderte  er  an  der  früheren  Ordnung 
nichts  Wesentliches;  er  fügte  nur  zu  den  Räthseln  drei 
neue  hinzu  und  schob  sechs  inzwischen  hinzugekommene 
Gedichte  8.  313 — 340  ebenso  bequem  als  zweckmässig  hinter 
dem  'Pilgrim'  ein,  der  bisher  zwischen  den  beiden  grossen 
Übersetzungen  doch  gar  zu  verloren  und  eingezwängt  dastand. 
Passend  knüpfte  er  an  ihn  das  'Berglied'  an  (entstanden 
Anfang  1804,  zuerst  gedruckt  im  Taschenb.  f.  Damen  f.  1805 
S.  173),  enthielt  dasselbe  doch  auch  eine  märchenhafte 
Wanderung,  die  zu  symbolischer  Deutung  reizte.  Das  Bild 
der  Alpen  weit,  welches  dabei  vorschwebte,  bereitete  vor 
auf  die  Scenerie,  in  welcher  die  vom  'Grafen  von  Habs- 
burg' (beendet  25.  April  1803,  zuerst  im  vorhergehenden 
Jahrgang  des  eben  genannten  Taschenbuches  S.  1)  erzählte 
Anekdote  spielt.  Die  Schilderung  des  festlichen  Mahles  zu 
Anfang  der  Ballade  leitete  über  zu  der  ähnlichen  und  doch 
so  verschiedenen  Scenerie  des  'Siegesfestes'  (beendet  22.  Mai 
1803,  zuerst  in  demselben  Taschenbuch  S.  116).  Und  zu  den 
furchtbar  ernsten  Lebensbildern  dieses  Gesellschaftsliedes 
trat  dann  wieder  die  ruhige  Zufriedenheit  in  dem  für  den- 
selben geselligen  Kreis  bestimmten  zweiten  'Punschlied' 
('Auf  der  Berge  freien  Höhen',  entstanden  im  April  1803, 
zuerst  in  Beckers  Taschenbuch  f.  1804  S.  163)  in  wirkungs- 
vollen Gegensatz.  Ebenso  sind  des  Contrastes  wegen  die 
beiden  letzten  Gedichte  zusammengestellt  'Der  Alpenjäger' 
(abgesandt  im  Juli  1804,  zuerst  in  Beckers  Taschenbuch 
1805  S.  279)  und  'Der  Jüngling  am  Bache'  (aus  dem  im 
Mai  1803  beendeten  'Parasiten'  veröffentlicht  in  demselben 
Jahr  in  Ehlers  Gesängen  u.  s.  w.,  dann  in  dem  Taschen- 
buch f.  Damen  1805  S.  1);  dort  sehen  wir  den  Jüng- 
ling in  trotzigem  Übermuth  'schweifen  auf  den  wilden 
Höhn',  hier  an  der  Quelle  in  traurig-süsser  Liebesträumerei 
ruhen. 


'^)  Am  21.  November  1804  sandte  er  das  Manuscript  an  Crusius 
(Geschäftsbriefe  S.  324). 


Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.  163 

5.  Die  projectirte  neue  Sammlung  (1804). 

Fast  möchte  ich  es  bedauern,  dass  ich  mit  der  Analyse 
des  zweiten  Theils  schliessen  musste,  denn  es  ist  zu  be- 
fürchten, dass  das  hier  vielfach  durch  äussere  umstände 
behinderte,  nachlässigere  Verfahren  des  Dichters  den  Blick 
trübe  für  die  Würdigung  der  vollendeten  künstlerischen 
Composition  des  ersten  Theils. 

Es  ist  keine  Frage :  die  Hand  des  Dichters  war  im  Ver- 
folg seiner  Arbeit  über  den  sich  häufenden  Schwierigkeiten 
und  nicht  zum  geringsten  Theile  wohl  auch  unter  dem 
Drang  seiner  dramatischen  Thätigkeit,  die  ihn  immer  völ- 
liger in  Anspruch  nahm,  allmählich  erlahmt.  Er  selbst 
tauschte  sich  über  die  gegen  den  Schluss  hin  hervortre- 
tenden Mängel  der  Composition  wohl  am  wenigsten,  in- 
dessen er  mochte  sich  trösten  in  dem  Gedanken,  mit  dem 
er  einst  Goethes  Scrupel  bei  der  Redaction  seiner  Gedichte 
zu  beruhigen  gesucht  hatte:  ^Es  wird  eine  reiche  und  er- 
freuliche Sammlung  werden,  wenn  sie  auch  nicht  nach  Ihrer 
eigenen  höheren  Forderung  ausgeführt  wird,  und  was  jetzt 
nicht  geschieht,  kann  ein  andermal  geschehen,  da  ein  solches 
Werk  ohnehin  in  drei  bis  vier  Jahren  vergriffen  ist' 
(6.  August  1799). 

Eine  Prachtausgabe  seiner  Gedichte  zu  veranstalten, 
war  immer  sein  Wunsch  gewesen,  schon  als  der  erste  Plan 
einer  Sammlung  auftaucht,  wird  sie  ins  Auge  gefasst  (an 
Crusius  S.September  1792,  an  Körner  28.  Februar  1793). 
Im  letzten  Jahre  vor  seinem  Tode  werden  bestimmtere 
Verabredungen  wegen  derselben  mit  Crusius  getroffen  und 
hierzu  eine  Neuordnung  der  Gedichte  begonnen.  Bei  der- 
selben, das  sah  er  ein,  Hessen  sich  die  Schwierigkeiten  nur 
dadurch  heben,  dass  er  die  bisherige  Scheidung  in  zwei 
Theile,  von  denen  der  erste  das  beste  Material  vorweg- 
genommen hatte,  aufgab;  nur  wenn  er  mit  dem  Ganzen  frei 
schalten  und  walten  konnte,  Hess  sich  eine  gleichmässige 
künstlerische  Gliederung  durchführen.  So  beschloss  er  denn 
'die  Gedichte,  welche  den  Inhalt  der  Prachtausgabe  aus- 
machen sollten,  in  vier  Bücher  zu  ordnen'.  Am  24.  Juni 
1804  verspricht  er  Crusius  'das  Schema  dazu  binnen  acht 

Tagen    (Geschäftsbriefe  S.  322).   Am  21.  November  hat  er 

11* 


164         Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

^die  Eintheilung  zu  der  Prachtausgabe  gemacht  und  sämmt- 
liehe  Gedichte,  die  darin  Platz  finden  sollen,  mit 
genau  ausgerechneter  Zeilen-Zahl  und  in  der  Ordnung,  die 
er  für  die  schicklichste  hielt,  abschreiben  lassen.  Es 
sind  vier  Bücher,  deren  jedes  im  Durchschnitt  10  Bogen 
oder  80  Quartseiten  hält'.  Mit  nächster  Montagspost  denkt 
er  das  Manuscript  senden  zu  können  und  hofft,  dass  das 
Werk  zur  nächsten  Michaelismesse  erscheinen  werde  (Ge- 
schäftsbriefe S.  324). 

Das  Manuscript  befindet  sich  jetzt  im  Goethe-Schiller- 
Archiv  zu  "Weimar.  Dank  der  grossen  Liberalität  der  Ver- 
waltung desselben  ist  es  mir  gestattet,  die  sehr  unbestimmten 
Angaben,  welche  Goedeke  tl,XII  darüber  gemacht  hat, 
zu  ergänzen  und  ein  klares  Bild  von  der  Einrichtung  der 
Sammlung  zu  geben. 

Die  Gedichte  sind  von  Schillers  Diener  Budolf  auf 
Quartbogen  geschrieben.  Für  die  Gestaltung  des  Textes  ist 
das  Manuscript,  wie  schon  Goedeke  richtig  erkannte,  ohne 
wesentliche  Bedeutung,  denn  Budolf  copirte  nach  der  Cru- 
siusschen  Ausgabe  (Bd.  1  in  zweiter,  Bd.  2  in  erster  Auf- 
lage). Nur  bei  wenigen  Gedichten,  am  häufigsten  noch  im 
ersten  Buch,  hat  Schiller  leise  Correcturen  vorgenommen, 
die  in  dem  Lesartenverzeichniss  bei  Goedeke  alle  gewissen- 
haft berücksichtigt  sind.  Sichtlich  ist  Schiller  mit  der  Re- 
vision nicht  zu  Ende  gelangt,  in  den  ^Idealen'  hat  er  z.  B. 
Y.  72  den  offenbaren  Schreibfehler  ^auf  dem  finstern  Weg' 
stehen  lassen.  Grössere  Änderungen  scheint  er  bei  den 
^Künstlern'  beabsichtigt  zu  haben,  wie  er  schon  für  die  Cru- 
siussche  Ausgabe  eine  Umarbeitung  geplant  hatte  (an  Körner 
21.  October  1800);  das  Manuscript  enthält  nur  eine  Reihe 
leerer  Blätter  mit  der  Überschrift  von  Schillers  Hand.  — 
Die  Übersetzung  des  zweiten  Buches  der  Äneide  liegt  in 
einem  Ausschnitt  aus  dem  ersten  Bande  der  Gedichte  bei; 
Schiller  hat  darauf  vermerkt:  ^Auf  die  erste  Seite  kommen 
zwey,  auf  alle  folgenden  immer  drey  Strophen'. 

Von  Schillers  Hand  ist  femer  der  Umschlagtitel  ^Erstes 
Buch.  I  Mscrpt  zu  der  Prachtausgabe'  und  ebenso  die  Über- 
schrift der  übrigen  Bücher  ausser  der  des  dritten,  welche 
von  jüngerer  Hand  ersetzt  ist.    Ausserdem  hat  er  auf  den 


Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         165 


vier  Seiten  eines  Foliobogens  den  Inhalt  je  eines  Buches 
verzeichnet.  Erst  hierdurch  ist  natürlich  die  Reihenfolge 
der  Gedichte  fixirt,  da  die  Lage  der  losen  und  nicht  pagi- 
nirten  Blätter  des  Manuscripts  gar  keine  Gewähr  bietet. 
Leider  ist  indessen  fast  die  ganze  untere  Hälfte  des  zweiten 
Blattes  weggeschnitten ;  auf  Seite  3  bürgt  sowohl  das  letzte 
Gedicht  ^Trojas  Zerstörung'  als  das  Spatium  unter  dem- 
selben dafür,  dass  nichts  fehlt;  dagegen  ist  auf  S.  4  die 
Handschrift  offenbar  verstümmelt,  über  dem  Schnitt  ist  noch 
der  obere  Bogen  eines  Buchstabens  zu  erkennen.  Ich  gebe 
das  Verzeichniss  in  buchstabengetreuem  Abdruck. 


[Seite  1]  Erstes  Buch. 

Das  Mädchen  aus  der  Fremde 

An  die  Freude 

Dithyrambe 

Das  Siegesfest 
5  Die  vier  Weltalter 

Das  Geheimniss 

Sehnsucht 

Thekla 

Rektors  Abschied 
10  Des  Mädchens  Klage 

Die  Erwartung 

Reminiscenz  an  Laura 

Würde  der  Frauen 

An  Emma 
i&  Der  Abend 

Die  Blumen 

Amalia 

Die  Kindsmörderii) 

Punschlied 
90  Berglied    . 

Reiterlied 

Nadowessiers  Todtenlied 

Der  Pilgrim 

Der  Jüngling  am  Bache 
3A  Punschlied   im  Norden  zu 
singen 

An  die  Freunde 

Das  Lied  von  der  Glocke 

[Seite  2]  Zweites  Buch. 

Der  Ring  des  Polykrates 
Die  Kraniche  des  Ibykus 


Dämon  und  Pythias  [Qber 
diese  Namensform  vgl.  Goe- 
deke  11,456  u.] 

Kassandra 

5  Hero  und  Leander 
Der  Taucher 
Ritter  Toggenburg 
Der  Handschuh 

Der  Graf  von  Habsburg 
10  Der  Gang   nach  dem  Eisen- 
hammer 
Der  Alpenjäger 
Der  Kampf  mit  dem  Drachen 

[Seite  3]  DriUes  Buch. 

Die  Sänger  der  Vorwelt 
Der  Tanz 
Das  Glück 
Der  Genius 

6  Pompeji  und  Herkulanum 
Shakespear 

Die  Geschlechter 
Der  Spaziergang 
Votivtafeln 
10  Nänie 

Trojas  Zerstörung 

[Seite  4]  Viertes  Buch. 

Der  Antritt  des  neuen  Jahr- 
hunderts 
Die  Götter  Griechenlands 
Die  Ideale 
Worte  des  Glaubens 


166         Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

5  Worte  des  Wahns  lo  Resignation 
Klage  der  Ceres  An  Goethe 

Das  Eleusische  Fest  Theilung  der  Erde 

Die  Künstler  Die  Antiken  zu  Paris 

Ideal  und  das  Leben  Deutsche  Muse 

In  dem  Manuscripte  selbst  liegen  noch  folgende  Ge- 
dichte in  besonderem  Umschlag  und  folgender,  doch  wohl 
zufalliger  Ordnung:  Sängers  Abschied  —  Poesie  des  Le- 
bens —  Hoffnung  —  Breite  und  Tiefe  —  Spruch  des  Con- 
fucius  [über  die  Zeit]  —  Licht  und  Wärme  —  Spruch  des 
Confucius  [über  den  Baum]  —  Gunst  des  Augenblicks.  Da 
unter  ihnen  'Sängers  Abschied'  sich  befindet,  so  darf  man 
wohl  mit  ihnen  die  Lücke  am  Schluss  des  Inhaltsverzeich- 
nisses von  Buch  lY  ergänzen,  zumal  auch  der  Inhalt  der 
übrigen,  wie  wir  unten  sehen  werden,  gerade  in  den  Ge- 
dankenkreis dieses  Buches  gut  passt. 

Für  Buch  I  zeigt  das  Manuscript  noch  Andeutungen 
einer  anderen  Anordnung.  Auf  die  leere  Bückseite  von 
'Die  Erwartung'  hat  Schiller  oben  geschrieben  'Des  Mäd- 
chens Klage',  hinter  'Das  Geheimniss  der  Beminiszenz' 
ebenso  'Dithyrambe'  und  hinter  'Würde  der  Frauen';  'Der 
Abend.  Nach  einem  Gemähide'.  Es  muss  zweifelhaft  bleiben, 
welche  Anordnung  die  spätere  ist,  ich  möchte  die  des  Ver- 
zeichnisses dafür  halten,  da  sie  einen  besseren  Zusammen- 
hang ergibt.*^) 

In  Buch  II  hat  er  die  von  Budolf  mit  abgeschriebenen 
Nebentitel  'Ballade',  'Erzählung'  gestrichen;  sie  wurden 
überflüssig,  da  das  Buch  lauter  gleichartige  Gedichte  ver- 
einigte. 

In  Buch  III  haben  die  'Yotivtafeln'  eine  ganz  neue 
Ordnung  erhalten,  viele  der  früheren  fehlen,  dafür  sind 
mehrere  bisher  selbständig  aufgeführte  gnomische  und  epi- 
grammatische Gedichte  unter  diesem  Titel  mit  zusammen- 
gefasst.  Die  Beihenfolge  derselben  im  Manuscript  —  die 
betr.  Bogen  sind  in  einander  gelegt  —  ist  folgende : 


*^)  Von  den  im  Inhal tsverzeichniss  genannten  Gedichten  fehlen 
im  Manuscript  wohl  durch  äusseren  Zufall  Nr.  17.  20.  2L 


Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         167 


V 


Votivtafeln 

Die  verschiedne  Bestimmung 

Das  Belebende 

Zweierlei  Wirkungsarten 
5  Unterschied  der  Stände 

Das  Werthe  und  Würdige 

Die  moralische  Kraft 

Aufgabe 

Pflicht  für  jeden 
w  An  die  Proselytenmacher 

Archimedes  und  der  Schüler 

Jetzige  Generation 

Die    Übereinstimmung 

Politische  Lehre 
i&  Majestas  populi 

An  die  Astronomen 

Meine  Antipathie 

Der  Genius 

Der  Nachahmer 
20  Genialität 

Die  Forscher 

Der  Sämann 

Schöne  Individualität 

Die  Mannichfaltigkeit 
3&  Menschliches  Wissen 

An  die  Mystiker 

Weisheit  und  Klugheit 

Würden 

An  einen  Weltverbesserer 
30  Der  beste  Staat 

Der  Schlüssel 

Der  Aufpasser 

Mein  Glaube 

Inneres  und  Äusseres 


35  Freund  und  Feind 

Das  Unwandelbare 

Kolumbus 

Der  gelehrte  Arbeiter 

Das  Naturgesetz 
40  Korrektheit 

Sprache 

An  den  Dichter 

Der  Meister 

Der  Gürtel 
45  Die  zwei  Tugendwege 

Licht  und  Farbe 

Die  schwere  Verbindung 

Dilettant 

Die  Kunstschwätzer 
M  G.  G. 

Die  drei  Alter  der  Natur 

Die  Antike  an  den  nordischen 
Wanderer 

Der  Obelisk 

Die  Peterskirche 
55  Der  Triumphbogen 

Das  Distichon 

Die  achtzeilige  Stanze 

Tonkunst 

Odysseus 
«0  Theophanie 

Die  Gunst  der  Musen 

Der  Homeruskopf  als  Siegel 

Astronomische  Schriften 

Die  Danaiden 
65  An  die  Muse 

Der  Kaufmann 


Für  die  Anordnung  der  Sammlung  hat  offenbar  die 
Eintheilung  der Goetbeschen  Gedichte  in  den  ^Neuen  Schriften' 
(1800),  welche  der  Dichter  als  abschliessend  ansah,  da  er 
sie  nachher  den  Cottaschen  Ausgaben  (von  1806  an)  zu 
Grunde  legte,  als  Vorbild  gedient.  Wie  Goethe  dort  die 
Rubriken  macht:  Lieder  — Balladen  und  Romanzen  —  Ele- 
gien —  Epigramme  u.  s.  w.,  so  hat  auch  Schiller  hier  seine 
Gedichte  zunächst  nach  Gattungen  geordnet.  Bei  der 
Zusammenstellung  des  ersten  Buches  schwebte  ihm  auch 
wohl  Goethes  Sammlung  der  der  Geselligkeit  gewidmeten 


168         Ketiner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

Lieder  (in  Wielands  und  Goethes  Taschenbuch  f.  1804)  vor 
Augen.     So  bringt: 

Buch  I  Lieder  und  Liedartiges,  meist  auf  geselliges 
Leben,  Freundschaft  und  Liebe  bezüglich, 

Buch  II  Balladen  und  Romanzen, 

Buch  III  Elegien  und  Epigramme;  die  Übersetzung  des 
zweiten  Buches  der  Äneide  ist  hier  ausgeschlossen,  weil 
der  antike  StofF  am  besten  zu  der  antikisirenden  Form  der 
vorhergehenden  Gedichte  passte. 

Buch  lY  Reflexionspoesie  über  Ethisches  und  Ästhe- 
thisches. 

Innerhalb  der  einzelnen  Bücher  hat  er  dann  wieder 
Gruppen  gebildet,  die  zum  Theil  denen  der  früheren  Samm- 
lung entsprechen;  sie  sind  nicht  alle  gleich  sorgfaltig  ge- 
gliedert, vorzügliche  Klarheit  zeigt  die  Gruppirung  der 
Romanzen  und  Balladen. 

Buch  I. 

Die  Sammlung  wurde  wieder  mit  dem  ^Mädchen  aus 
der  Fremde'  eröffnet,  welches  schon  zweimal  als  Einleitungs- 
gedicht gedient  hatte  (vgl.  S.  135).  Die  übrigen  Gedichte 
zerfallen  in  drei  Gruppen. 

Erste  Gruppe  (2— 5):  Gesellige  Dichtungen.  Der  grosse 
Hymnus  ^an  die  Freude'  ist  passend  an  die  Spitze  gestellt, 
verwandt  sind  ihm  die  folgenden  Lieder  durch  ihren  dithy- 
rambischen oder  chorartigen  Charakter.^*) 

Zweite  Gruppe  (6  —  18):  Liebespoesie.  Sie  beginnt  mit 
der  Schilderung  still  verschwiegenen  Liebesglückes  und  findet 
in  der  ^Eindsmörderin'  ihren  tragischen  Abschluss.  Vor 
letzteres  Gedicht  tritt  zweckmässig  der  volle  Sinnestaumel 
der  Leidenschaft  in  ^Amalias'  Lied,  auch  ^Die  Blumen'  stehen 
inhaltlich  und  formell  nahe.  Ebenso  schliessen  sich  8 — 10 
auf  das  engste  zusammen :  alle  drei  verherrlichen  die  Macht 
treuer  Liebe  auch  über  den  Tod  hinaus.  Die  übrigen  Ge- 
dichte aber   zeigen   kaum   einen    inneren   Zusammenhang, 

r- 

**)  Schiller  selbst  gebraucht  einmal  (an  Körner  11.  Juni  1803)  den 
Aasdruck:  *ein  ernstes  Gesellschaftslied  im  Geschmack  des  Liedes  an 
die  Freude';  welches  Gedicht  er  damit  meinte,  wissen  wir  zwar  nicht, 
sehen  doch  aber,  dass  ihm  der  Begriff  der  oben  angenommenen 
Gattung  bewusst  war. 


Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillersch  en  Gedichte.         169 

ganz  fremdartig  ist  7  hier  eingeschoben.  —  Die  Abweichungen 
des  Verzeichnisses  von  den  Notizen  des  Dichters  im  Manu- 
Bcript,  welche  nur  in  diesem  Abschnitt  sich  finden,  zeigen 
dass  er  wegen  der  Anordnung  schwankte. 

Dritte  Gruppe  (19—27):  Lieder  vermischten  Inhalts, 
zum  Theil  wieder  geselliger  Art,  doch  von  leichterem  Ton 
als  in  der  ersten  Gruppe.  Trotz  der  Mannigfaltigkeit  des  In- 
halts hat  Schiller  die  einzelnen  Gedichte  in  engere  Beziehung 
zu  einander  zu  setzen  gewusst.  An  das  erste  Tunschlied' 
mit  seiner  heiteren  Symbolik^')  schliesst  sich  der  märchen- 
hafte, ins  Allegorische  spielende  ^Stieg  auf  den  Gotthard', 
den  Goethe  eine  'artige  Aufgabe  zum  Dechiffriren'  nennt. 
An  dies  Bild  einer  verwegenen  Wanderung  reiht  sich  das 
kecke 'Reiterlied';  die  frischen  Klänge  der  todesverachtenden 
Lebenslust  der  Wallensteinschen  Soldateska  werden  ab- 
gelöst von  dem  'Todtenlied^  des  indianischen  Eriegßrs.  Die 
ernste  Stimmung  des  letzteren  klingt  aus  in  der  schwer- 
müthigen  Allegorie  der  ruhelosen  Wanderung  des  Lebens 
(in  Anlehnung  an  Bunyans  pilgrim's  progress  gedichtet)  und 
der  Klage  des  Jünglings,  der  seine  Tage  'wie  die  Quelle 
rastlos  fliehn'  sieht.  Dem  gegenüber  spricht  aus  den  beiden 
letzten  geselligen  Liedern  das  ruhige  Glück  des  sich  Be- 
scheidens  an  dem  Orte  und  in  der  Zeit,  in  die  uns  das 
Leben  stellte. 

So  haben  sich  in  diesem  Buche  die  Bilder  frohen 
Lebensgenusses,  mit  denen  es  anhob,  allmählich  erweitert 
zu  einem  Abbild  des  Menschenlebens  in  Lust  und  Schmerz ; 
alle  die  zerstreuten  Züge  fasst  am  Schluss  in  einem  grossen 
Gesammtbild  zusammen  das  'Lied  von  der  Glocke^  der 
Begriff  der  Geselligkeit,  von  dem  der  Dichter  ausging,  wird 
hier  erhoben  zu  dem  der  Gesellschaft. 

Buch  IL 

Schiller  hat  die  Balladen  und  Romanzen  in  zwei  Gruppen 
getheilt  und  innerhalb  derselben  wieder  paarweise  geordnet. 

'*)  Sollte  Schiller  zu  derselben  nicht  angeregt  sein  durch  Bürgers 
Symbolisirung  der  Elemente  (Gedichte  hg.  v.  Sauer  S.  81) : 

Horch!  Hohe  Dinge  lehr'  ich  dich! 
Vier  Elemente  gatten  sich; 
Sie  gatten  sich,  wie  Mann  und  Weib, 
Voll  Liebesgluth  in  einen  Leib.  u.  s.  w. 


170         Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

Erste  Gruppe  (1—5):  antike  Stoffe.  1  und  2  stellen  das 
Walten  des  Schicksals  dar,  dort  erscheint  es  als  die  allem 
Übermass  menschlichen  Wesens  feindliche  Macht,  hier  als 
rächende  Nemesis.  In  4  und  5  bildet  ein  Monolog  einer 
einsam  in  Liebe  sich  verzehrenden  Priesterin  den  Mittel- 
punkt, in  beiden  greift  das  Schicksal  tragisch  ein.  Das 
Mittelstück  3  unterbricht  die  düstre  Stimmung  der  ganzen 
Gruppe  durch  die  Verherrlichung  einer  über  jedes  Geschick 
triumphirenden  Preundestreue.**) 

Zweite  Gruppe  (6 — 12):  mittelalterliche  (Schiller  würde 
wohl  gesagt  haben:  romantische)  Stoffe.  Von  5,  der  Er- 
zählung von  dem  griechischen  Jüngling,  der  aus  Liebe  kühn 
allen  Schrecken  des  Meeres  trotzt,  leitet  der  Dichter 
zwanglos  über  zu  dem  ^Taucher\  Ritterliche  Minne  behan- 
deln 7  und  8,  dort  vergeht  der  Held  in  Liebessehnen,  hier 
stösst  er.  trotzig  die  Übermüthige  zurück.  Frommen  Sinn 
sehen  wir  belohnt  in  9  und  10,  in  beiden  spielt  auch  — 
was  ^Der  Freimüthige'  dem  Dichter  sehr  übel  genommen 
hatte  —  der  katholische  Cultus  eine  Rolle.  Endlich  11 
und  12  sind  als  Jagdstücke  zusammengestellt,  eine  scharfe 
Contrastwirkung  ergab  sich  ungesucht. 

Buch  m. 

Die  Gedichte  sind  ausschliesslich  mit  Rücksicht  auf  die 
Gleichartigkeit  der  Form  hier  vereinigt;  ein  innerer  Zu- 
sammenhang ist  kaum  zu  erkennen.  Die  'Nänie'  ist  hier 
ebenso  der  'Zerstörung  Trojas'  voraufgeschickt,  wie  sie  in 
Bd.  I  der  Crusiusschen  Ausgabe  die  Übersetzung  der  'Hoch- 
zeit der  Thetis'  einleitete. 

Buch  IV. 
Einleitungsgedicht  ist  das  erste  Gedicht  von  Bd.  H  der 
Crusiusschen  Sammlung.  Die  Schlusstrophe  'In  des  Her- 
zens heilig  stille  Räume'  u.  s.  w.  enthält  das  Motto  für  den 
Gedankenkreis  dieses  Buches,  der  sich  ähnlich  wie  die 
Hauptabschnitte   des  ersten  Bandes   der  Gedichte  um  den 

**)  J.  Meyer,  Beiträge  S.  35  bemerkt,  dass  Schiller  den  Titel  der 
*Börg8chafl'  wohl  nur  deshalb  änderte,  um  die  Überschriften  aller  aus 
der  antiken  Welt  entlehnten  Stoife  gleichmässig  durch  Eigennamen  zu 
geben ;  so  weit  ging  seine  Rncksicht  auf  die  äussere  Form ! 


Eettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.         t71 

Gonflict  zwischen  Ideal  und  Wirklichkeit  und  die  ethische 
und  ästhetische  Versöhnung  beider  bewegt. 

Erste  Gruppe  (2—5).  Den  Verlust  der  idealen  Welt 
in  der  Culturentwicklung  der  Menschheit  (2)  wie  im  Gange 
des  Einzellebens  (3)  beklagt  das  erste  Paar,  zu  dem  uner- 
schütterlichen Festhalten  an  den  sittlichen  Idealen  trotz 
aller  Enttäuschungen  des  Lebens  ruft  das  letzte  auf. 

Zweite  Gruppe  (6  —  10).  Die  Begründung  der  Cultur 
überhaupt  schildert  ^Das  Eleusische  Fest',  mit  welchem  rein 
mythologisch  sich  die  ^Klage  der  Ceres'  verbindet.  Die 
culturhistorische  Bedeutung  der  Kunst  entwickelt  8.  In  9 
und  10  ist  die  ästhetische  Erhebung  des  Menschen  über 
alle  Schranken  des  Irdischen  und  die  Resignation  auf  ein 
jenseitiges  Glück  zusammengestellt:  das  ästhetische  und 
das  religiöse  Glaubensbekenntniss  des  Dichters  sind  hart  an 
einander  gerückt. 

Dritte  Gruppe  (tl  — 14).  Sie  behandelt  die  äussere 
Erscheinung  der  Kunst  im  Leben  und  zwar  in  dem  ersten 
Paar  den  Idealismus  der  wahren  Kunst,  die  Abkehr  der 
Dichtung  von  dem  groben  Bealismus  (11)  wie  die  Abkehr 
des  Dichters  von  allem  Materiellen  (12),  in  dem  zweiten 
Paar  an  einem  negativen  (13)  und  positiven  (14)  Beispiel 
die  Entwicklung  einer  gesunden  Kunst  aus  einem  inneren 
Verhältniss  zum  Schönen  und  aus  eigner  Kraft. 

Die  im  Manuscript  noch  beiliegenden  Gedichte,  deren 
Titel,  wie  ich  vermuthete,  hier  abgeschnitten  sind,  würden 
sich  auch  inhaltlich  hier  gut  anschliessen.  Die  beiden 
Sprüche  des  Confucius  waren  schon  in  der  Crusiusschen 
Ausgabe  zum  Abschluss  ähnlicher  Gedankenreihen,  wie  sie 
hier  namentlich  die  erste  und  zweite  Gruppe  zeigen,  benutzt. 
Ruhige  Lebensweisheit  in  spruchartiger  Form  bieten  auch 
die  übrigen  Gedichte,  'Hoffnung'  wird  ausserdem  durch 
dieselbe  metrische  Form  wie  die  Worte  des  Glaubens  und 
Wahns  in  dies  Buch  verwiesen,  auch  die  Form  von  ^Breite 
und  Tiefe'  ist  ähnlich. 

So  mag  auch  diese  Prachtausgabe  zum  Zeugniss  dafür 
dienen,  welchen  Werth  der  Dichter  auf  eine  planmässige 
Anordnung  seiner  Gedichte  legte.    Für  uns  kann  indessen 


t72         Kettner,  Die  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte. 

die  hier  getroffene  Eintheilung  nicht  massgebend  sein,  denn 
die  Ausgabe  bringt,  wie  Schiller  von  Anfang  an  beabsich- 
tigt hatte  (vgl.  in  dem  oben  angeführten  Brief  an  Crusius 
vom  21.  November  1804  die  Worte  'sämmtliche  Gedichte, 
die  darin  Platz  finden  sollen'),  nur  eine  Auswahl. 

Eine  abschliessende  Revision  des  Textes  und  der  An- 
ordnung der  Qesammtausgabe  seiner  Gedichte  vorzunehmen, 
blieb  dem  Dichter  versagt.  Die  zweite  Crusiussche  Aus- 
gabe ist  die  letzte  vollständige  geblieben  und  muss  als 
solche,  trotz  der  Mängel  des  zweiten  Bandes,  die  Geltung 
einer  Ausgabe  letzter  Hand  behalten.  Wie  die  hier 
gegebene  Gestaltung  des  Textes  zur  Yulgata  geworden  ist, 
so  müssen  auch  alle  Ausgaben  die  hier  getroffene  Anord- 
nung getreulich  wiedergeben,  damit  das  Publicum  wieder 
in  derselben  Reihenfolge  die  Gedichte  geniesse,  in  welcher 
der  Dichter  einst  sie  ihm  vorführen  wollte.  Es  wäre  daher 
dringend  zu  wünschen,  dass  zunächst  in  den  für  einen 
weiteren  Leserkreis  berechneten  Ausgaben  die  Eömersche 
Anordnung,  welche,  obwohl  sie  schlechterdings  keinen  An- 
spruch auf  selbständige  Geltung  erheben  kann,  sich  'wie 
eine  ewige  Krankheit  fortschleppt',  verschwinde  und  der 
vom  Dichter  selbst  getroffenen  Platz  mache.^^)  Aber  auch 
wissenschaftliche  Ausgaben  würden  einen  schweren  Unter- 
lassungsfehler begehen,  wenn  sie  —  wie  die  Goedekesche  — 

")  Bei  der  Gorrectnr  dieser  Untersuchung  kann  ich  nachtragen, 
dass  H.  Kurz  in  seiner  Ausgabe  von  Schillers  Werken  Hildburghausen, 
Bibliographisches  Institut  1868  (nicht  der  kritischen)  Lief.  1.  2  die 
Gedichte  in  der  Anordnung  der  Crusiusschen  Sammlung  abdrucken 
liess.  Ich  erfahre  dies  aus  der  jüngst  in  Eürschner-Spemanns  National- 
litteratur  Bd.  118.  119  erschienenen  Bozbergerschen  Ausgabe  (119,  XX), 
welche  ihrem  'Ersten  Buch'  die  Ordnung  der  2.  Crusiusschen  Samm- 
lung (mit  einem  Nachtrag)  zu  Grunde  legt,  die  Trennung  derselben  in 
zwei  Bände  aber  nur  in  einer  Anmerkung  S.  181  anzeigt  und  also  ver- 
wischt, die  Phönizierinnen  und  mit  Recht  die  Dublette  'Ausgang  aus 
dem  Leben*  (Crusius  2,  207  =  'Die  idealische  Freiheit*  1, 316)  auslftsst 
Boxberger  und  ich  haben  uns  also  unabhängrig  von  einander  für  die* 
selbe  Anordnung  entschieden.  Er  hat  auch  erwogen,  die  Anordnung 
der  Prachtausgabe  zu  befolgen,  und  sagt,  sein  Versuch  sei  an  der  Un- 
klarheit und  Mangelhaftigkeit  derselben  gescheitert.  Diese  Gründe 
bestreite  ich,  verstehe  aber  völlig,  dass  auf  derselben  als  einer  fest  in 
sich  gegliederten  Auswahl,  kf^ine  Gesammtausgabe  sich  aufbauen  Hess. 


Schönbach,  Zur  Volkslitteratnr.  173 

die  vom  Dichter  geschaffene  Composition  einfach  ignoriren 
wollten.  So  bequem  für  rein  wissenschaftliche  Zwecke  die 
von  Qoedeke  gewählte  historische  Constituirung  des  Textes 
ist,  den  Forderungen  des  Forschers  wie  des  Liebhabers 
würde  gleichmässig  nur  die  Ausgabe  gerecht  werden,  welche 
die  Crusiussche  zweite  Auflage  zu  Grunde  legte  und  von 
hier  aus  die  Gestaltung  des  Textes  rückwärts  verfolgte. 
In  sich  abgeschlossene  Sammlungen,  wie  die  ^Anthologie' 
von  1782  und  die  ^Xenien'  müssten  natürlich  daneben  noch 
besonders  abgedruckt  werden  —  das  verlangt,  von  allen 
anderen  Gründen  abgesehen,  schon  der  Zweifel  über  die 
Herkunft  einzelner  Gedichte  — .  ebenso  müssten  am  Schluss 
die  —  sehr  wenigen  —  in  der  Crusiusschon  Ausgabe  noch 
ausserdem  fehlenden  Gedichte  nachgetragen  werden. 

Schulpforta.  Gustav  Kettner. 


Zur  Yolkslitteratur. 

1. 

In  der  Wiener  Handschrift,  welcher  ich  das  'Steirische 
Scheltgedicht  wider  die  Baiern'  entnommen  habe  (Viertel- 
Jahrschrift  f.  Litteraturgesch.  2,  321  ff.),  findet  sich  eine 
Fassung  des  Liedes  von  der  Martinsgans,  welche  mit  keiner 
der  mir  bekannten  übereinstimmt.     Sie  lautet: 

[89^]  Wie  man  von  Sand  Marien  singt  an  seiner  nacht  und  von 

der  ganss 

(1)  Hys  denegans 
Lat  uns  zw  der  ganss  hast  ain  gute  ganss.  wo  ist  ain  gute 
fayste  ganss  Leugst  nit.  Leugst  nit.  Das  ist  gut  Wo  ist  nun  dy 
ganss  Sneyd  uns  auf  dy  ganss  essen  wir  sy  mit  hohen  frewden 
Daz  ist  ain  gute  pratne  ganss.  pratne  ganss.  Gib  uns  auch  zw 
trinken  auf  dy  praten  ganss  [90*]  auf  dy  praten  ganss  |  daz  sy 
uns  den  magen  nit  zereyss 

(2)     Atque  nimis  denegans 
Kumbt  her  zw  der  ganss  Ich  hab  ain  fayste  ganss  In  der  Khuchel 
auf  dem  hertt.     Nayn  ich  Nayn  ich.     Hocher  mut  |  [Hs.  munt] 
Wo  ist  nun  dy  ganss.     Zwreyst  und  Nym   sy  pey  dem  Kragen. 
Ful  den  pauch  mit  yerem  guten  magen  gras  daz  rat  ich  dir  Trink 


1 74  Schönbach,  Zur  Volkslitteratur. 

mit  mir  Malvasyer  und  Ray  fei  und  welsch  wein  der  ist  also  gut 
pringt  dir  hohen  mut  Schenk  ein  lass  umbher  gan  des  gottes 
nam  trinken  wir  ann 

(3)  Salvatoris 

Gutter  wirt  schenk  ein  pring  her  den  pesten  wein  |  alle  gut  ge- 
sellen sullen  frolich  sein  |  lass  wir  uns  heynt  nyemant  yeren.  den 
grossen  kopff  zw  diser  frist  |  drink  wir  auss  an  argen  list  |  dar 
zw  wel  wir  essen  ain  gute  pratne  ganss.  pratne  ganss  |  und  dy 
gepraten  pyeren  [90*"]  auf  dy  praten  ganss  auf  dy  praten  ganss 
dy  ist  also  guet 

(4)  Presulem 

Dem  guten  herren  sand  Mertein  |  wel  wir  alczeyt  eren  |  daz  er 
uns  lass  frolich  sein  j  und  gib  uns  heyndt  ain  guten  wein  |  Mal- 
vasir  und  Rayfei  |  gut  [  der  macht  frolich  unsern  mut  |  Und  gib 
uns  auch  herre  an  diser  nacht  |  dy  guten  faysten  praten.  Und 
dy  genss  dy  wir  haben  gepracht  von  dem  felde  |  also  gut  |  Und 
pehut  uns  von  der  helle  glüt  Amen 

Berührungen  freilich  mit  den  bekannten  hat  auch  dieses 
Stück.  So  1  mit  Böhme,  Altdeutsches  Liederbuch  Nr.  352.  — 
2  mit  Böhme  Nr.  353  =  Uhland,  Volkslieder  Nr.  208  = 
Wackernagel,  Deutsches  Lesebuch  2',  321  f.  —  3  mit  Böhme 
Nr.  349.  350  ==  Altdeutsche  Blätter  2,  314  f.  —  4  mit  Böhme 
Nr.  348  =  Altd.  Blätter  2,  315.  -^  Von  den  lateinischen 
Überschriften  kann  ich  nur  die  vierte  mit  Bekanntem  in  Ver- 
bindung setzen,  sie  bezeichnet  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
die  Zeilen,  mit  denen  das  verbreitetste  Martinslied  Böhme 
Nr.  353  anhebt:  Traesulem  sanctissimum  veneremur,  gaude- 
amu8\  Vgl.  dazu  Eehrein,  Lateinische  Sequenzen  des 
Mittelalters  Nr.  649.  650  und  des  Herausgebers  Zusammen- 
stellungen über  den  Gebrauch  von 'praesul' S.  617,  woraus 
besonders  672,  1.  750,  1.  Zu  den  Schlussversen  vgl.  Eehrein 
Nr.  649,  9:  ^a  morte  animae  tu  nos  libera'.  Denn  diese 
lateinischen  Worte  des  am  Vorabende  (Vigilie)  des  Martins- 
tages gesungenen  Liedes  werden  doch  irgendwie  mit  der 
Liturgie  zusammenhängen,  obgleich  es  mir  unmöglich  ge- 
wesen ist,  dies  nachzuweisen. 

Die  Strophen  sind  ungleich,  1  und  2  stimmen  in  den 
ersten  acht  Versen  zu  einander,  ja  sie  respondiren  inhalt- 
lich Vers  um  Vers,  so  dass  diese  wohl  im  Wechsel  (nicht 
aber  Strophe  1  nach  Strophe  2)  gesungen  worden  sind, 
nach  Vers  8  werden   die  Strophen  ungleich.     Am  Schluss 


Schönbach,  Zur  Volkslitteratur.'  175 

von  2.  ist  wohl  zu  lesen:  4n  des  [ins?]  gottes  namen  trinken 
wir  amen'.  In  3  bilden  'yeren'  (=  irren)  und  'pyeren'  einen 
ßeim,  in  4  'nacht:  gepracht',  'gut:  glüt'.  Die  Gliederung 
ist  aber  doch  undeutlich,  weil  die  Melodie  fehlt. 

2. 

Eben   dieselbe  Wiener  Handschrift    enthält    folgendes 
Stück : 
[211*]  Ain  lyed  von  der  armuel 

1      Armüet  dw  bist  ein  pöser  püeb.    Armöet  dw  pisl  etc. 

Dw  zwingst  mir  dy  meinen  schüech. 
^     In  meiner  köchl   stets  nit  woll:   Ich  wayss  nit  wass 

ich  kochen  soll. 

3  Wan   ich   von   ersten  soll  richten  an:  Wie  paldt  ich 

zw  der  nachpeyrin  gan. 

4  Und   das  sy  mir   ein  schussel   leich:    Und   auch  des 

löffel  nit  verczeich. 

6  Von  meiner  küchl  hab  ich  khain  twr:   Dy  armüet  ist 

chomen  darfür. 
[211^]    6      Ich  hab   ein  phan   dy  hat  chain  still:    Des   anderen 

hawssgeratt  ist  nit  vill. 

7  So  hab  ich  ross  noch  rindt:  Wie  soll  ich  neren  meine 

kindt. 
s      Mein  weih  hat  weder  mantel  noch  rock:  Und  biet  ich 

geldt  so  chäuft  ich  irs  doch. 
9      Hiet  ich  drey  haller  das   war  geldt:    Ich  schlüeg  dy 

armüet  aus  dem  veldt. 

10  Hiet   ich   dy  armüet  yn  ainem  sack:    Ich  woldt  sye 

pfrengen  jar  und  tag. 

11  Piss  das  der  sack  czwrissen  würdt:  So  khäm  dy  ar- 

müet wider  aüss. 
[212*]    12     Der  unss  das  liedt  newss  sang:  Ein  güetter  gesell  ist 

ers  genandt. 

13  Er  singt   uns  das   und   singt  uns  mer:    Es  gett  von 

ainer  armüet  her. 

14  Er  hat   es   auch   gar  woll  gedacht:   Der  armüet  hiet 

maniger  woll  ratt. 

Interessant  ist,  dass  der  Inhalt  dieses  Liedes  zum  Theil  in 
einen  ^guten  abenteurlichen  spruch^  aufgenommen  worden  ist, 
den  Adelbert  von  Keller  im  dritten  Bande  seiner  Fastnacht- 
spiele (Bibliothek  des  Stuttgarter  Litt.  Vereins  30)  S.  1349  ff. 
aus  einer  Wolfenbüttler  Handschrift  des  15.  Jahrhunderts 
veröffentlicht  hat.  .  Der  Spruchdichter  redet  im  Eingang 
seines  Werkchens  von  der  Armuth  als  einem  ^freulein  auss- 


176  Schönbach,  Zur  Volkslitteratur. 

erweit',  um  das  er  sich  beworben  hat,  im  Liede  ist  die 
Armuth  ein  'püeb'.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Darstellung, 
welche  t06  Yerse  umfasst,  entsprechen  folgende  seiner  Verse 
den  Strophen  unseres  Liedes:  S.  1350  Z.  8 ff.  ^ Armut,  ich 
kan  dein  nit  vergessen,  wann  ich  pin  dir  sicher  nit  holt,  du 
tregst  doch  von  mir  klein  solt.  ich  wolt  mich  gern  ver- 
wegen dein,  so  wilt  du  allzeit  bei  mir  sein'  =  Lied  10.  11.  — 
Z.  18  ff.  'Armut,  mein  klag  ist  gross,  ich  hab  an  zwen  pos 
schuch,  ich  han  sicher  weder  hemd  noch  tuch'  =  Lied  1 .  — 
Z.  21  ff.  'Armut,  was  hab  ich  dir  getan,  mein  frau  muss  an 
ein  mantel  gan,  sie  hat  weder  scurz  noch  schlair'  ==  Lied 
8.  —  Z.  32  f.  'Armut  hat  ir  gezelt  auf  geschlagen  bei  meinem 
haus'  =  Lied  5.  —  Z.  35  ff.  'wenn  ich  mein  kost  sol  richten 
an,  so  muss  ich  zu  meinem  nechsten  nachtpauren  gan,  das 
er  mir  ein  schussel  leih  und  mich  der  loffel  nit  verzeih'  =: 
Lied  3.  4.  —  Z.  40  'mein  haus  ist  an  allen  rat  zwar'  =» 
Lied  6.  —  S.  1352  Z.  3  f.  'ob  ich  mocht  entrinnen  und 
mein  kinden  ein  gelt  gewinnen'  =  Lied  7. 

Gewiss  ist  das  Verhältniss  nicht  umgekehrt  und  gewiss 
hat  nicht  das  Lied  von  dem  Spruch  geborgt.  Abgesehen 
davon,  dass  dies  an  und  für  sich  unwahrscheinlich  ist,  lässt 
sich  die  Unrichtigkeit  einer  solchen  Vermuthung  auch  deut- 
lich zeigen.  Der  Inhalt  des  Liedes  ist  in  stetigem  Fort- 
schritt verknüpft:  Schuhe,  Küche,  Hausrath,  Stall,  Kinder, 
Frau,  allen  ist  die  Spur  der  Armuth  aufgedrückt;  mit  drei 
Hellem  könnte  sie  vertrieben  werden;  sie  in  einen  Sack 
zu  zwängen,  hilft  nicht,  sie  käme  doch  wieder  heraus ;  den 
Schluss  machen  Auskünfte  über  den  Sänger  und  das  Lied.  — 
Die  humoristische  Haltung  des  Ganzen  ist  unverkennbar. 
Sie  fehlt  dem  Spruch  gänzlich,  der  sich  immer  von  neuem 
in  Klagen  verliert  und  dann  eine  langweilige  Geschichte 
von  einem  'golter'  (Bettdecke)  berichtet,  der  gepfändet 
worden  ist.  An  der  Stelle,  wo  der  Spruch  vier  Zeilen  des 
Liedes  wörtlich  aufnimmt,  stehen  diese  unvermittelt  da  und 
fügen  sich  in  keinen  Innern  Zusammenhang.  Zudem  ist  der 
Text  des  Liedes  bei  der  Übernahme  in  den  Spruch  ver- 
derbt worden. 

Damach  ist  w^ohl  sicher,  dass  dieses  Lied  beliebt  war 
und  bedeutend   älter  ist  als  die   Aufzeichnung  des  Wiener 


Mayerhofer,  Faust  beim  Fürstbiachof  von  Bamberg.  t77 

Codex,  es  muss  im  15.  Jahrhundert  entstanden  sein.  Aus 
der  wiederholten  Bezeichnung  ^Lied^  ergibt  sich,  dass  man 
es  wirklich  mit  zweizeiligen  Strophen  zu  thun  hat  und  nicht 
mit  fortlaufenden  Reimpaaren ;  dazu  stimmt  ferner  die  Weise 
der  Aufzeichnungen  in  Absätzen  (die  Strophenziffem  sind 
von  mir),  endlich  auch  die  Repetition  im  ersten  Absatz, 
welche  auf  die  Melodie  weist. 

Zum  Text  bemerke  ich  noch:  1  'zwingen'  ist  ganz  con- 
cret:  drücken,  pressen.  Lexer  2, 1602.  vgl.  'twengen'1598. — 
5  1.  'Vor'.  —  10  'pfrengen'  ==  zwängen,  pressen,  ist  haupt- 
sächlich mhd.  Lexer  2,  263.  Aber  die  Verbindung  mit  'sack' 
ist  noch  aus  der  Sprache  des  1 6.  Jahrhunderts  mehrfach 
belegt  durch  v.  Lexer,  DWB.  7,  1793.  —  11  1.  'wider  her 
für'.  —  14  Der  Schlussreim  muss  wohl  belassen  werden. 
Zu  dem  Ganzen  vgl.  noch  Uhland,  Volkslieder  Nr.  277.  278. 
279  und  El.  Schriften  4,  246  ff. 

Graz.  Anton  E.  Schönbach. 


Faust  1t»eim  Fflrstblsehof  von  Bamberg. 

Den  schönen  Funden  Szamatölski's  und  Ellingers,  wo- 
durch die  Wirksamkeit  des  Dr.  Faust  historisch  nachgewiesen 
wird  (Vierteljahrschrift  f.  Litteraturgeschichte  2,156ff.  314  ff.), 
bin  ich  in  der  Lage,  einen  neuen  anzureihen. 

Bei  Nachforschungen  über  den  Eichstädter  Bildhauer 
Loyen  Hering,  welcher  das  Grabmal  des  Fürstbischofs 
Georg  Schenk  von  Limburg  (gest.  31.  Mai  1522)  im  Dome 
zu  Bamberg  fertigte,  stiess  ich  in  der  prächtigen  Serie  der 
'Hofkammerrechnungen'  des  kgl.  bair.  Kreisarchivs  Bam- 
berg bei  'Hansen  mullers  Camermeysters  Rechnung  vom 
Sontag  nach  purificacionis  marie  biss  yff  Sontag  Remini- 
scere  Anno  XX'  unter  dem  Ausgabe -Titel  'Pro  diuersis' 
auf  folgende  Stelle: 

'Item  X  gülden  geben  vnd  geschenckt  Doctor  Faustus  pho 
[philosopho]  zuuererung;  hat  m[cinem]  g[nedigen]  herren  ein 
natiuitet  oder  indicium  gemacht;  zalt  am  Sontag  nach  scolastice. 
lussit  Reverendissimus*. 

Yierte^jahrschrift  für  Littentnigeschichte  III  12 


i  78  V.  Weilen,  Gerstenberg  und  J.  G.  Jacobi. 

Wenn  Ellinger,  a.  a.  0.  8.  318  bei  Paust  nur  die  'Wahr- 
scheinlichkeit eines  grossen  Eindruckes  auch  auf  lebens- 
erfahrene und  gebildete  Männer'  annimmt,  so  ist  durch 
diese  Stelle  die  Gewissheit  des  'grossen  Eindruckes'  er- 
bracht. Denn  der  Bamberger  Fürstbischof  Georg  Schenk 
von  Limburg  zählt  zu  den  sehr  gebildeten  Fürsten  seiner 
Zeit  und  lässt  sich  trotzdem  nur  zwei  Jahre  vor  seinem 
Tode  von  Faust  die  Nativität  stellen  und  ihm  hierfür  durch 
seinen  Kammermeister  am  12.  Februar  1520  eine  ^Verehrung' 
von  10  Gulden  auszahlen.  Da  Georg  Schenk  von  Limburg 
mit  Vorliebe  auf  Schloss  Altenburg  ob  Bamberg  weilte,  wo 
er  auch  starb,  so  dürfte  es  sehr  wahrscheinlich  sein,  dass 
die  Consultation  Fausts  i.  J.  1520  auf  der  schönen  Burg 
stattfand. 

Speier.  Johann  Mayerhofer. 


Gerstenberg  und  J.  G.  JacoM. 

Ernst  Martin  theilt  in  seiner  Schrift :  Ungedruckte  Briefe 
von  und  an  J.  G.  Jacobi  (Quellen  und  Forschungen  2  S.  54) 
ein  Schreiben  Jacobis  an  Gerstenberg  mit.  Bei  Durch- 
forschung des  in  der  Münchener  Bibliothek  aufbewahrten 
Gerstenbergschen  Nachlasses  stiess  ich  auf  Concepte  zweier 
Briefe,  der  eine  kurz  nach  Beginn  der  freundschaftlichen 
Verbindung,  der  andere  als  Antwort  auf  Jacobis  pathe- 
tisch-weinerliche Elageepistel  geschrieben. 

Der  AUerweltsfreund  Gleim  hatte  die  zwei  Dichter  zu 
einander  in  Beziehungen  gebracht.  Am  28.  December  1768 
schreibt  Gerstenberg  an  Gleim  (Morgenblatt  für  gebildete 
Stände  1817  Nr.  25)  voll  Bewunderung  für  Jacobi:  'Sagen 
Sie  ihm,  dass  ich  unsern  deutschen  Gresset  viel  lieber  lese, 
als  den  Gresset  der  Franzosen.  Er  muss  durchaus  mein 
Freund  seyn.  Aber  nun,  da  er  eine  Pfründe  hat,  möge  er 
nie  sein  Rheinfass  missbrauchen,  sich  zur  Hallischen  Kritik 
zu  begeistern!  Sagen  Sie  ihm  das,  liebster  Freund,  und 
halten  Sie  darüber.  Ist  es  nicht  ewig  Schade,  dass  ein 
so  feiner,  treiflicher  Kopf  in  eine  Brüderschaft  hat  gerathen 


V.  Weilen,  Gerstenberg  und  J.  G.  Jacobi.  \  79 

müssen,  die  bey  dem  besten  Theile  Deutschlands  in  so 
üblem  Kufe  steht?  Ich  wünsche  das  nicht  meiner  Sicher- 
heit wegen'.  Vielleicht  ist  es  auch  Gerstenberg,  der  in 
der  Hamburger  Neuen  Zeitung  (1768  Nr.  99)  die  Briefe 
Gleims  und  Jacobis  anzeigt:  'Unsere  Sprache  kann  sich 
noch  keiner  solchen  Sammlung  von  gedruckten  Briefen  und 
allerliebsten  Gedichtchen  rühmen.  Herr  Jacobi  zeigt  sich 
als  unsern  Chaulieu  und  unsern  Gresset.  Und  Gleim!  Man 
sollte  sagen,  es  wären  die  Briefe  der  Musen  an  einander. 
Der  letzte  sehr  simpel,  naiv  und  reizend,  wie  ein  Grieche: 
der  andere  ist  reich  an  Erfindungen,  lieblichen  Bildern,  die 
er  zum  Theil  den  Lippertschen  Gemmen  abgesehen  zu 
haben  scheint,  weniger  correkt,  witzig  und  jugendlich'.  Für 
Gerstenberg  scheint  besonders  das.  Lob  zu  sprechen,  das 
der  Recensent  einer  S.  315  der  Briefe  an  J.  G.  Jacobi  ab- 
gedruckten Ode  der  Frau  Earschin  spendet  (vgl.  meine 
Ausgabe  der  Briefe  über  Merkwürdigkeiten  der  Litteratur, 
Deutsche  Litteraturdenkmale  29, 89  ff.).  Jacobi  muss  Gersten- 
berg schriftlich  seine  Freundschaft  angetragen  haben,  denn 
Gerstenberg  erwidert  in  einem  undatirten  Briefe: 

Mit  dem  grösten  Vergnügen  lese  ich  den  Brief  Ihrer  zuvor- 
kommenden Freundschaft,  worinn  Sie  mir  so  viel  Schmeichel- 
haftes und  Angenehmes  sagen.  Wenn  man  Liebe  durch  Liebe 
verdienen  kann,  so  dürfte  ich  freylich  hoffen,  Ihnen  nicht  ganz 
gleichgültig  zu  seyn.  Denn  unser  Gleim  muss  Ihnen  erzählet 
haben,  wie  lange  ich  Sie  geliebt  habe.  Nur  geradezu  habe  ich 
es  Ihnen  nicht  sagen  mögen;  man  ist  in  solchen  Fällen  manch- 
mal ein  bischen  schüchtern,  weil  Liebe  doch  nicht  immer  Liebe 
verdient!  Errathen  Sie  nun  selbst,  wie  gross  das  Vergnügen  ist, 
das  mir  Ihr  freundschaftlicher  Brief  gemacht  hat. 

Aber  der  Anlass  des  freundschaftlichen  Briefes!  sollte  mich 
der  nicht  demüthigen?  Schon  längst  wollte  Jacobi  mich  so  er- 
freut haben:  itzt  muss  er.  Muss?  das  ist  traurig.  Warum  muss? 
Weil  er  Feinde  hat,  die  seinen  Charakter  verstellen.  —  Ich  ver- 
sichere Sie  aufrichtig,  dass  ich  nie  das  geringste  zum  Nachteil 
Ihres  Charakters  weder  gehört,  noch  gelesen  habe;  und  wenn 
ich  auch  zufälliger  Weise  von  der  Art  gehört  oder  gelesen  hätte, 
dass  ich  niemals  zum  Nachteil  des  Charakters  von  irgend  einem 
Menschen,  am  wenigsten  von  solchen,  die  ich  hochachte,  leicht- 
gläubig seyn  kann.  Zwar  fehlt  es  auch  hier  nicht  an  Anekdoten- 
trägern, die  von  den  berühmten  Poeten  alte  treue  Herzens- 
freunde sind,  und  von  ihnen  heimliche  Geschichten  viele 
zu  erzählen  wissen:  allein,  wo  ich  einen  solchen  sehe,  da  fliehe 

12* 


\  80  V.  Weilen,  Gerstenberg  und  J.  G.  Jacobi. 

ich  ihn,  wie  einen  Vergifter;  das  einzige  zu  Ihrem  Nachtheile, 
was  ich  gelesen  haben  könnte,  müssten  Kritiken  seyn:  doch  die 
betreffen  Ihren  Charakter  nicht,  und  dem  Kunstrichter  Jacobi 
brauche  ich  nicht  zu  sagen,  wie  wenig  Eindruck  heutigen  Tages 
selbst  eine  gegründete  Kritik  macht,  geschweige  eine  unbegrün- 
dete. Jedermann,  der  sich  öfTentlich  zeigt,  Schriftsteller  oder 
nicht,  ist  der  Kritik  ausgesetzt:  niemand  mehr  als  Ihr  Gersten- 
berg. Was  schadets?  Man  lässt  die  Leute  nach  ihren  Einsichten 
urtheilen :  oft  ist  es  Triumphes  genug,  dass  sie  eben  dadurch  ihre 
Mängel  verrathen;  und  wo  sie  Recht  haben,  Dank  sey  Ihnen; 
man  ist  nie  zu  alt,  etwas  zu  lernen.  Prenez  votre  parti  sur  moi, 
sagt  Rousseau  vortrefiflich,  car  j^ai  pris  le  mien  sur  vous. 

Empfehlen  Sie  mich  meinem  unschätzbaren  Gleim.  Wenn  Sie 
ihn  doch  überreden  könnten,  uns  diesen  Sommer  in  Kopenhagen 
zu  besuchen!  und  vollends  wenn  Jacobi  sich  entschlösse,  ihn  zu 
begleiten !  Einen  angenehmeren  Gedanken  giebts  auf  der  Welt  nicht. 

Ich  bin  mit  ausnehmender  Hochachtung         Ihr  G. 

Je  mehr  sich  Gerstenberg  an  Lessing  anschloss,  desto 
entschiedener  musste  er  sich  von  der  spielenden  Unnatur 
Jacobis  abwenden;  dazu  kam  noch,  dass  man  Jacobi  all- 
gemein für  einen  Partner  von  Klotz  ansaht  nach  Martins 
Versicherung  mit  Unrecht  (S.  11),  während  Koch  in  seinem: 
Helferich  Peter  Sturz  S.  127  ihn  als  Träger  der  Chiflfre  'P' 
in  der  Hallischen  Bibliothek  bezeichnet.  Unter  ihr  er- 
schienen bereits  1767  und  1768  die  wüthenden  Recensionen 
gegen  die  Schleswigischen  Briefe,  über  die  ich  in  der  Ein- 
leitung meiner  Ausgabe  derselben  auszugsweise  berichtet 
habe.  Martin  theilt  a.  a.  0.  8.  28  Anm.  27  einen  Brief  von 
Gleim  (datirt  vom  11.  April  1770)  mit,  der  den  Sach- 
verhalt ebenfalls  nicht  klar  stellt:  'In  der  Hallischen  Ge- 
lehrten Zeitung  25.  Stück,  las  ich  gestern  die  Recension  von 
meines  Freundes  Jacobi  Schrift  an  die  Einwohner  der  Stadt 
Zelle.  Jacobi,  sagt  der  Recensent,  schwatzt  nicht  in  holp- 
richten  Hexametern  und  sagt  in  Gerstenbergischer  schwer- 
fälliger Prosa  keinen  Unsinn.  Wie?  Dachte  ich,  wenn 
Gerstenberg  in  dieser  Zeitung  oder  in  der  Bibliothek  mehr 
dergleichen  Stellen  wider  sich  gefunden  hätte?  Wie?  wenn 
er  wüsste,  dass  mein  Jacobi  der  Recensent  seines  Ugolino 
wäre^)?  wie?  wenn  er  daraus  die  Folge  machte,  dass  kein 

*)  In  der  Halliachen  Bibliothek  II  St.  8  S.  600-621  sehr  massvoll 
besprochen,  Chiffre  *B\' 


V.  Weilen,  Gerstenberg  und  J.  G.  Jacobi.  Igl 

anderei^  als  mein  Jacobi  sein  Criticus  in  den  Zeitungen  und  in 
der  Bibliothek  seyn  könne?  Sollte  dann  nicht  einiger  Grund 
zur  Muthmassung ,  dass  Gerstenberg  der  Hamburgische 
Recensent  meines  Jacobi  wohl  sein  könnte,  vorhanden  seyn  ?' 
Gleim  hatte  richtig  gesehen.  Gerstenberg  hatte  wirklich 
die  'Winterreise'  und  'Abschied  von  Amor'  in  der  Ham- 
burger neuen  Zeitung  1770  Nr.  35,  36  und  46  besprochen. 
Leider  ist  mir  nur  ein  kleines  Fragment  des  Conceptes  aus 
dem  Nachlasse  zugänglich.  Spöttelnd  spricht  er,  ganz  im 
Gegensatze  zu  seiner  früheren  Äusserung,  über  die  Liebes- 
götter, die  dem  Dichter  aus  den  Lippertschen  Abdrücken 
schaaren weise  entgegenfliegen.  ^Nun  sieht  er  nichts  als 
scherzende,  reitende,  zitherschlagende  .  .  .  Amoretten,  dass 
dem  standhaftesten  Leser  ein  Grauen  angeht,  und  er  sich 
selbst  genöthigt  sieht,  den  guten  Amor,  wiewohl  nicht  ohne 
Unwillen,  förmlich  zu  beurlauben.'  Die 'zierlichen  Galanterie- 
briefe' werden  jetzt  durchgehechelt,  die  AfFectation  und  wider- 
liche Lüsternheit  scharf  charakterisirt.  Der  gute  Gleim  ge- 
räth  in  die  fürchterlichste  Aufregung.  Noch  will  er  zweifeln 
(s.  Martin  a.  a.  0.),  es  wäre  zu  schrecklich,  wenn  Gersten- 
berg wirklich  das  ausgesprochen  haben  sollte.  Jacobi 
schreibt  sofort  an  Gerstenberg,  und  da  die  Antwort  aus- 
bleibt, sendet  er  im  Mai  das  von  Martin  publicirte  offene 
Schreiben,  mit  Beistimmung  Gleims  (Martin  S.  29),  der  noch 
immer  Gerstenberg  für  'unschuldig'  halten  möchte.  Auch 
gegen  Klopstock  macht  er  seinem  Kummer  Luft  und  sucht 
ihn  in  die  Affare  zu  verwickeln  (s.  Elamer-Schmidt,  Klop- 
stock und  seine  Freunde  2,  243  Brief  vom  16.  Juli  1770). 
Vornehm  abweisend  erwidert  Klopstock  (ebda.  28.  August 
1 770  S.  248) :  'Und  nun  möcht  ich  eine  Sache ,  wenigstens 
heute  lieber  nicht  berühren.  Aber  ich  muss  es  doch  thun, 
weil  ich  Gerstenberg  zu  lieb  habe  und  weil  er  meine 
Freundschaft  zu  sehr  verdient.  Was  hat  Gerstenberg  doch 
gethan,  dass  er  Jacobi  gelobt  und  auch  getadelt  hat?'  Mit 
dem  Bescheid  kann  sich  Gleim  natürlich  nicht  zufrieden 
geben  (ebda.  S.  251). 

Das  zweite  Schreiben  Jacobis  wurde  von  Gerstenberg 
beantwortet.  Man  muss  den  Brief  Jacobis  daneben  halten, 
um  Gerstenberg    ganz   zu    verstehen.      So   sehr  er  in  der 


1 82  ▼.  Weilen,  Gerstenberg  und  J.  G.  Jacobi. 

Sache  selbst  recht  hat,  wirkt  doch  die  Form  und  die  Ab- 
lehnung der  früheren  freundschaftlichen  Beziehungen  ver- 
letzend. 

Die  Kritik  Ihrer  Winterreise  und  des  Abschiedes  von  Amor 
ist  von  mir«  Hätten  Sie  mich  in  Ihrem  ersten  Briefe  darum  ge- 
fragt, so  hätte  ich  Ihnen  dasselbe  geantwortet.  Ich  habe  nichts 
gesagt,  was  nicbt  noch  diese  Stunde  in  aller  Absicht  meine  wahre 
Meynung  ist;  und  ich  sehe  keine  einzige  Ursache,  warum  ich  es 
nicht  sollte  gesagt  haben. 

Dass  ich  Jacobi  nach  dem,  was  ich  zuerst  von  ihm  las,  lieb 
gewann,  kann  mich  das  verbinden,  gegen  seine  späteren  Schriften 
parteyisch  zu  seyn?  Soll  ich  weniger  freymüthig  von  ihm  urtheilen, 
als  von  andern,  die  ich  noch  länger  liebe?  Was  bekümmert  sich 
das  Publicum  um  meine  Privat -Achtung  gegen  den  Scribenten? 
Es  will  wissen,  was  ich  von  der  Schrift  halte. 

Wo  habe  ich  Ihren  Charakter  verläumdet?  Wo  habe  ich 
Ihrer  Person  gespottet?  Wie  dürfen  Sie  mir  solche  Vorwurfe 
machen? 

Es  wäre  Trost  für  Sie  zu  wissen,  ob  Gramer  oder  Klopstock 
mir  verziehen  haben,  weil  alsdann  Sie  mir  verzeihen  könnten? 
Mir  verzeihen!  Sie  nehmen  wahrhaftig  einen  sehr  hohen  Ton  an. 
Erlauben  Sie  mir,  Ihnen  zu  sagen,  dass  ich  Ihrer  Verzeihung 
nicht  bedürfe,  und  dass  weder  Klopstock  noch  Gramer  sich  je 
haben  einfallen  lassen,  meine  Meynung  von  Ihrer  Winterreise  für 
unverzeihlich  oder  auch  nur  der  Verweisung  bedürftig  zu  halten. 

'Muss  Gerstenberg  mein  Freund  sein'  —  Ich  bin  Ihr  Freund 
nie  gewesen  und  verlange  es  auch  nicht  zu  werden:  aber  Ihre 
Schriften  tadeln,  wenn  sie  tadelhaft  sind,  und  wenn  ich  mich  ver- 
bindlich gemacht  habe,  öfTentlich  zu  urtheilen:  das  will  ich,  und 
will  es  mit  eben  dem  Rechte,  womit  Sie  und  Alle  mich  tadeln 
können,  die  mich  tadelhaft  finden. 

Ich  sollte  Ihren  Bruder  öfTentlich  haben  lächerlich  machen 
wollen?  Wo?  Wann?  Wie?  der  ich  Ihren  Bruder  weder  von 
Person,  noch  auf  andere  Weise  kenne? 

'Wenn  ich  den  Menschen  noch  Tugend  und  Aufrichtigkeit 
zutraue'  —  Ich  will  glauben,  dass  Sie  Ihren  Brief  in  einer  un- 
besonnenen Hitze  geschrieben  haben.  Sie  scheinen  überhaupt  für 
die  Kritik  empfindlicher  zu  seyn,  als  ein  Mann,  der  sich  seiner 
Fähigkeiten  bewusst  ist,  seyn  sollte.  Wenn  Ihnen  das  nicht  zur 
Entschuldigung  diente,  so  wüsste  ich  kaum,  welche  Antwort  auf 
ein  so  ausserordentliches  Wenn  hart  genug  seyn  könnte. 

Kein  Mensch  hat  mir  je  einen  so  seltsamen  Brief  geschrieben, 
als  Sie.  Sie  werfen  Fragen  auf,  Sie  zweifeln,  Sie  glauben,  Sie 
sagen  mir  Schmeicheleyen,  Sie  sagen  mir  Grobheiten  —  und  alles 
in  einem  Athcm  —  und  alles  in  einem  Tone,  als  ob  es  unmög- 
lich  wäre,    wider   Ihre  Schrift   etwas   zu   erinnern,  ohne  Sie  zu 


V.  Weilen,  Gerstenberg  und  J.  6.  Jacobi.  1 83 

hassen  und  ohne  ein  Bösewicht  zu  seyn.^)  [Ich  freue  mich,  dass 
ich  anders  denke.  Ich  bezeugte  Ihnen  durch  Gleim  meine  Hoch- 
achtung zu  einer  Zeit,  da  ich  gar  wohl  wusste,  dass  Sie  einer 
von  meinen  hällischen  Gegnern  wären;  und  ich  tadelte  Sie,  ohne 
Ansehen  der  Person,  bloss  als  Autor,  zu  einer  andern  zeit,  da 
Sie  meinen  Ugolino  (übergeschr.:  mich)  vortheilhafter  beurtheilt 
hatten,  als  man  mich  in  der  hällischen  Bibliothek  jemals  beur- 
theilt hatte.  Die  Wahrheit  zu  gestehen,  alle  Urtheile  der  hällischen 
Kunstricbter  sind  mir  zu  gleichgiltig ,  als  dass  sie  einen  Einfluss 
auf  das  haben  könnten,  was  ich  von  ihnen  urtheile.  So  haben 
mich  viele  rechtschaffne  Leute  gefunden,  und  wenn  Jacobi  das 
Gegentheil  glaubt,  so  weis  ich  nun,  wie  ichs  erklären  soll.] 

Ich  versichere  Sie,  dass  ich  Sie  als  einen  Mann  mit  vieler 
Fähigkeit  hochschätze;  dass  mir  aber  Ihre  späteren  Schriften  bey 
weitem  so  gut  nicht  gefallen,  als  Ihre  früheren.  Dass  es  viele 
rechtschaffne  Männer  giebt,  die  von  Ihnen  ebenso  urtheilen  wie 
ich:  dass  mir  die  Kritiken  der  hällischen  Kunstrichter  allzugleich- 
giltig  sind,  als  dass  ich  mich  als  Kritiker  für  eben  nicht  weniger 
verbunden  halte,  dem  Publico  aufrichtig  zu  sagen,  was  mir  an 
Jacobis  Schrift  fehlerhaft  erscheint,  als  ich  Gleim  aufrichtig  ge- 
sagt habe,  dass  ich  Jacobis  feines  Genie  liebe.  Mit  dieser  Ge- 
sinnung bin  ich  unwandelbar 

Ihr 
aufrichtigster  und  ergebenster 

G. 

Dass  dieser  Brief  wirklich  abgegangen,  bezeugt  die 
Äusserung  Gleims  gegen  Jacobi  vom  16.  Mai  1770  (Martin 
8.  29) :  'Warum  aber  schickten  sie  von  Gerstenbergs  Briefe 
mir  nicht  eine  Abschrift?'  Eine  weitere  Correspondenz 
scheint  unterblieben  zu  sein;  wie  die  Klotzsche  Partei  die 
ganze  Streitfrage  aufblähte  und  ausposaunte,  habe  ich  in 
meiner  Einleitung  zu  den  Schleswigschen  Litteraturbriefen 
zu  zeigen  gesucht.  In  späteren  Jahren  entstand  ein  reger 
Briefwechsel  mit  P.  H.  Jacobi  über  Fragen  der  Kantischen 
Philosophie.  Dieser  vermittelte  auch  Gerstenbergs  Er- 
nennung zum  ordentlichen  wirklichen  Mitglied  der  bai- 
rischen  Akademie  der  Wissenschaften  (1808)  und  suchte  ihn 
nach  München  zu  ziehen. 

Wien.  Alexander  von  Weilen. 

*)  Von  hier  an  bis  zum  Schlüsse  des  Absatzes  im  Concept  durch- 
strichen. 


1 84       Roetteken,  Goethes  *Amine'  und  *Laune  des  Verliebten*. 


Goethes  ^Amlne'  und  ^Laune  des  Verliebten'. 

Geiger  in  den  Anmerkungen  zu  Goethes  Briefen  an 
seine  Schwester  und  an  Behrisch  (Goethe- Jahrbuch  7,  149) 
meint,  die  *Laune  des  Verliebten'  sei  die  Bearbeitung  eines 
in  Frankfurt  entstandenen  Schäferspiels  ^Amine' ;  das  ältere 
Stück  kritisire  Goethes  Schwester  am  26.  Juni;  diese  Kritik 
habe  mit  Goethes  eigenen  Ansichten  übereingestimmt  und 
er  habe  wegen  des  hervorgehobenen  Fehlers,  der  zu  grossen 
Zärtlichkeit  der  Heldin,  die  Umarbeitung  vorgenommen. 
Ähnlich  sagt  Minor  (Zeitschrift  f.  allgem.  Geschichte  3, 656), 
aus  dem  Frankfurter  Schäferspiel  ^Amine'  sei  in  Leipzig 
die  'Laune'  geworden. 

Fasst  man  die  'Laune'  als  eine  wenn  auch  durchgreifende 
Bearbeitung  eines  schon  in  Frankfurt  concipirten  Stückes 
auf,  so  müssen  jedenfalls  die  Grundlinien  der  Handlung 
schon  vor  der  Leipziger  Zeit  festgestanden  haben,  muss 
Goethe  das  Chacakterproblem,  die  Bekehrung  eines  Eifer- 
süchtigen, schon  damals  erfasst  haben.  Dann  können  wir 
die  Entstehung  des  Stückes  nicht  mehr  auf  Goethes  Yer- 
hältniss  zu  Käthchen  zurückführen,  wie  es  bisher  in  Über- 
einstimmung mit  Goethes  eigenem  Zeugniss  in  Dichtung 
und  Wahrheit  geschehen  ist;  höchstens  für  die  Ausarbeitung 
des  Details  könnte  dann  das  Yerhältniss  die  Farben  her- 
gegeben haben.  Allein  ich  glaube  nicht,  dass  der  Wortlaut 
der  Briefstellen  eine  solche  Auffassung  nöthig  macht. 

Eine  'Amine'  war  allerdings  in  Frankfurt  vorhanden, 
das  geht  klar  hervor  aus  der  Briefstelle  (Goethes  Werke 
Weim.  Ausg.  IV  1,  114):  'Die  Amine,  und  die  Höllenfahrt, 
sind  zurückgeblieben'.  Aber  von  dieser  'Amine'  wissen  wir 
weiter  nichts,  als  dass  'gar  nichts  dran  ist',  die  kleine 
Kunkel  sie  nicht  lesen  und  Brevillier  sie  nicht  spielen  soll 
(ebenda  S.  96),  und  dass  Goethe  sie  gerne  verbrannt  wissen 
möchte  (S.  114). 

Von  dem  Stück,  das  Cornelia  kritisirte,  müssen  wir 
freilich  annehmen,   dass  es  der  ^Laune'    sehr  ähnlich  ge- 


Roetteken,  Goethes  *  Amine'  und  'Laune  des  Verliebten'.      185 

wesen  ist;  aber  dieses  Stück  ist  nicht  die  in  Frankfurt  zu- 
rückgebliebene ^Amine',  sondern  das  unvollendete  Schäfer- 
spiel, das  Goethe  seiner  Schwester  am  15.  Mai  1767  ge- 
schickt hat.  Der  betreffende  Abschnitt  in  dem  Briefe  vom 
12.  October  beginnt:  'Nun  von  meinen  bis  her  verfertigten 
Dingen.  Das  Schäferspiel  scheint  dich  zu  interessiren'  u.s.w. 
Bisher  verfertigte  Dinge  sind  offenbar  in  letzter  Zeit  ver- 
fertigte Dinge ;  denn  nachdem  Goethe  über  das  Schäferspiel 
gesprochen  hat,  fahrt  er  (S.  113)  fort:  'Sonst  habe  ich  aber 
gar  nichts  dieses  halbe  Jahr  gemacht'.  —  Nach  'inter- 
essiren'  folgt:  'es  freut  mich  sehr,  dass  es  sowohl  dir  als 
meinen  Critickern  gefallen  hat,  ob  ihr  gleich  alle  die  darinn 
überfliessende  Fehler  bemerckt  habt.  In  dem  Briefe  vom 
26  Juni  schreibst  du  deine  Meinung  darüber  die  deiner 
Empfindung  viel  Ehre  macht'.  Wie  unwahrscheinlich  diese 
ganze  Eritisirerei  nicht  nur  durch  Cornelia,  sondern  auch 
durch  andere  Kritiker,  wenn  es  sich  um  ein  altes  in  Frank- 
fort gebliebenes  Stück  handelt,  wie  naheliegend,  wenn  sie 
sich  auf  das  neue,  unvollendete  Schäferspiel  bezieht!  — 
Endlich  heisst  es:  'Das  Lob  das  du  mir  giebst,  hält,  ohne 
dass  du  es  wüstest,  die  Critick  von  dem  Hauptfehler  des 
Stücks  das  ich  dir  damals  sandte'.  Goethe  also  findet 
die  Kritik  auf  das  unvollendete  Schäferspiel  passend,  nicht 
auf  die  Frankfurter  'Amine'.  Nur  die  Worte  'ohne  dass  du 
es  wüstest'  machen  eine  momentane  Schwierigkeit:  man 
könnte  sie  so  erklären,  dass  Cornelia  zwar  über  das  alte 
Stück  gesprochen,  damit  aber  auch  ohne  es  zu  wissen,  den 
Hauptfehler  des  neuen  getroffen  hätte.  Aber  diese  Er- 
klärung ist  nach  dem  Vorherigen  nicht  nur  höchst  gezwungen, 
sondern  sie  wäre  überhaupt  nur  möglich,  wenn  man  an- 
nehmen wollte,  Cornelia  habe  bei  Abfassung  ihrer  Kritik 
am  26.  Juni  das  am  15.  Mai  übersandte  Stück  noch  nicht 
gekannt.  Ich  fasse  also  die  Worte  so  auf,  dass  Cornelia 
zwar  den  Fehler  richtig  eingesehen,  dabei  aber  nicht  be- 
merkt hat,  dass  es  der  Hauptfehler  ist.  Ihre  Worte  'et  en 
Yerit6  mon  frere  du  la  fais  trop  tendre'  machen  ja  auch 
den  Eindruck  einer  gelegentlichen  Bemerkung. 

Aus    diesen   Worten    und    der   damit   in   Verbindung 
stehenden  Erwähnung  Egles  durch  Goethe  (S.  113)  gewin- 


186  Behaghel,  Zu  Heinse. 

nen  wir  also  keine  Andeutungen  über  den  Inhalt  der  Frank- 
furter 'An)ine\  Dass  nun  diese  ^Amine^  mit  dem  unvoll- 
endeten Schäferspiel  vom  15.  Mai  nichts  gemein  gehabt 
haben  kann  als  den  Namen  der  Heldin  und  die  poetische 
Gattung,  scheint  mir  klar  hervorzugehen  aus  den  Worten: 
'Gruse  die  kleine  Runckel,  und  sage  ihr,  sie  sollte  ja  meine 
Amine  nicht  lesen,  wie  ich  nicht  wollte,  dass  Brevillier  sie 
hätte,  und  spielte,  weil  gar  nichts  dran  ist.  Apropos,  ich 
will  dir  hier  ein  unvollendetes  Schäferspiel  schicken,  das 
lesst'  (S.  96).  Wäre  das  Schäferspiel  wirklich  nur  eine  Um- 
arbeitung der  Frankfurter  'Amine',  so  würde  man  hier,  wo 
das  alte  Stück  eben  genannt  ist,  dringend  irgend  eine  An- 
deutung dieses  Verhältnisses,  sei  es  durch  einen  Zwischen- 
gedanken, sei  es  auch  durch  eine  blosse  Bezeichnung,  er- 
warten; es  ist  ganz  unmöglich,  dass  Goethe  eine  Umarbei- 
tung so  nach  einem  Apropos  mit  der  ganz  allgemeinen 
Bezeichnung  'ein  unvollendetes  Schäferspiel'  sollte  einge- 
führt haben.  So  konnte  er  nur  schreiben,  wenn  das  neue 
Stück  mit  dem  alten  gar  nichts  zu  thun  hatte. 

Goethe  hat  also  im  Februar  1 767  ein  vollkommen  selb- 
ständiges Schäferspiel  auf  Grund  seiner  eigenen  Erlebnisse 
entworfen,  für  dessen  Heldin  er  zußLllig  den  Namen  aus 
einem  anderen  älteren  Stück  nahm.  Von  dem  Schäferspiel 
schickt  er  am  15.  Mai  eine  Skizze  oder  ein  Bruchstück  an 
seine  Schwester;  darin  ist  Amine  zu  zärtlich;  Goethe  sieht 
den  Fehler  ein,  arbeitet  das  Geschriebene  wieder  um  und 
schreibt  weiter,  bis  er  endlich  am  26.  April  1768  das  Ganze 
mit  Ausnahme  der  siebenten  Scene  an  Behrisoh  schicken 
kann. 

Würzburg.  Hubert  Roetteken. 


Zu  Heinse. 

i. 

Eoberstein  (4^,  155  Anm.  3)  hat  darauf  hingewiesen, 
dass  die  Erzählung  'Schäferstunde\  die  Laube  in  seine  Ge- 
sammtausgabe  von  Heinses  Werken  aufgenommen  hat  (10, 
57),  nicht  Heinse  zugehört,  sondern  von  Rost  herrührt.    Sie 


Behaghel,  Zu  Heinse.  187 

steht  in  dessen  ^Schäfererzählungen'  8.  43,  von  deren  ur- 
sprünglicher Passung  ich  Ausgaben  von  1742  und  1744 
kenne  (die  letztere  verzeichnet  Goedeke  unter  einem  falschen 
Titel).  Es  ist  aber  Koberstein  entgangen  und  ebenso 
Schober  (Heinse,  Leipzig  1882),  dass  auch  ^Die  eilfertige 
Schäferin\  die  bei  Laube  der  ^Schäferstunde'  unmittelbar 
vorangeht,  nicht  von  Heinse,  sondern  gleichfalls  von  Rost 
stammt  (Schäfererzählungen  S.  6). 

Wie  kam  nun  Laube  dazu,  von  Rosts  Schäfergedichten 
gerade  nur  diese  zwei  seinem  Helden  beizulegen?  offenbar 
auf  Grund  des  gleichen  Irrthums,  der  auch  Schober  (S.  73 
Anm.)  begegnet  ist.  Wie  bekannt,  hat  Heinse  heraus- 
gegeben: Erzählungen  für  junge  Damen  und  Dichter,  in 
zwei  Bänden,  Lemgo  1775.  Darin  stehen  Dichtungen  von 
Wieland,  Hagedorn,  Lessing,  Löwen,  Licht  wer,  Kästner, 
Gleim,  Rost,  Geliert,  Pfeffel,  der  Earschin,  Jacobi,  Gersten* 
borg.  Ein  Gedicht  ist  mit  ^Ungenannt'  unterzeichnet,  einige 
tragen  gar  keine  Unterschrift ;  wie  weit  diese  etwa  Heinses 
Eigenthum  sind,  lasse  ich  dahingestellt.  Wo  Goedeke  im 
Grundriss  die  von  Heinse  herausgegebene  Sammlung  vor- 
zeichnet, nennt  er  die  vorhin  aufgezählten  Verfasser ,  mit 
Ausnahme  von  Lessing,  Löwen,  Pfeffel.  Schober,  der 
augenscheinlich  die  ^Erzählungen'  nicht  selber  in  der  Hand 
gehabt,  schreibt  (S.  73  u.)  Goedekes  Liste  einfach  ab; 
nur  ersetzt  er  den  Namen  Rosts  durch  den  von  Heinse 
selber.  Die  gleiche  Vertauschung  hat  nun  Laube  vor- 
genommen, indfem  er  sich  daran  erinnerte,  dass  Heinse  eine 
Zeit  lang  unter  dem  Namen  Rost  lebte  (Laube,  Einleitung 
S.  XXXII).  Und  so  sind  denn  gerade  die  beiden  Er- 
zählungen Rosts,  die  Heinse  in  seine  Sammlung  aufgenom* 
men,  in  Laubes  Ausgabe  der  Heinseschen  Schriften  über- 
gegangen. Laubes  Irrthum  ist  um  so  befremdlicher,  als 
Heinse  an  Rosts  'Schäferstunde'  folgende  Bemerkungen 
anschliesst:  4n  den  wenigen  Erzählungen,  die  wir  von  ihm 
(Rost)  haben,  übertrifft  er  bisweilen  den  la  Fontaine  an 
Naivetät;  nichts  desto  weniger  aber  werden  Viele  mit  mir 
wünschen,  dass  er  etwas  anderes  beschrieben  haben  mögte, 
als  das,  was  Jedermann  weiss.  Seine  Doris  und  sein  Amynt 
sind  ein  paar  gewöhnliche  Menschenkinder'. 


188  Behaghel,  Za  Heinse. 

Der  Text  Rosts,  den  Heinse  bietet,  stimmt  in  einzelnen 
Punkten  nicht  mit  dem  überein,  den  die  Sehäfererzählungen 
von  1742  und  1744  enthalten.  Die  Abweichungen  sind 
aber  nicht  etwa  auf  Heinses  Rechnung  zu  setzen.  Rost 
hat  später  seine  Schäfererzählungen  im  Verein  mit  einer 
Anzahl  anderer  Gedichte  herausgegeben  als  ^Versuch  von 
Schäfer -Gedichten  und  andern  poetischen  Ausarbeitungen'. 
Die  älteste  Ausgabe  mit  diesem  Titel,  die  ich  kenne  und 
die  Goedeke  verzeichnet,  ist  vom  Jahr  1748;  ausserdem 
kenne  ich  Ausgaben  von  1751  (fehlt  bei  Goedeke),  1756, 
1760  (fehlt  bei  G.),  1768,  1778  (fehlt  bei  G.);  dafür  ver- 
zeichnet Goedeke  noch  eine  solche  von  1 764.  Dieser  'Ver- 
such' hat  nun  auch  im  Texte  der  Schäfererzählungen  manches 
geändert,  und  Heinse  stimmt  in  den  meisten  Stellen  mit 
der  Ausgabe  von  1748  (von  der,  so  viel  ich  aus  meinen 
N^otizen  entnehmen  kann ,  die  folgenden  genaue  Wieder- 
holungen sind)  überein,  gegen  den  Text  von  1742  und  1744. 
In  V.  82  der  'Eilfertigen  Schäferin'  allerdings  hat  Heinse 
'fodert'  mit  1744  gegen  'fordert'  1748,  und  V.  85  'nicht'  mit 
1 744  gegen  'nie'  1 748.  Dies  können  aber  von  Heinse  selber 
verschuldete  Ungenauigkeiten  der  "Wiedergabe  sein,  wie  er 
auch  z.  B.  V.  44  'hernach  vergiss'  gegen  'vergiss  hernach' 
in  1744  und  1748,  und  V.  93  'vieles'  gegen  'allzuvielcs'  der 
beiden  Rostschen  Texte  bietet. 

2. 

Das  im  Vorstehenden  besprochene  Versehen  Laubes 
erweckte  in  mir  Bedenken  gegen  die  Zuverlässigkeit  seiner 
Ausgabe  überhaupt,  und  ich  prüfte  daher  seine  Wieder- 
gabe von  Heinses  Ardinghello  nach.  Während  Heinses 
Lebzeiten  sind  zwei  Ausgaben  desselben  erschienen,  die 
eine  1 787,  die  andere  1 794.  Schober  verzeichnet  (a.  a.  O. 
S.  101)  zwei  Abweichungen  der  zweiten  Auflage  gegenüber 
der  ersten  und  fügt  hinzu:  'weitere  Veränderungen  gibt 
es  nicht'.  Das  ist  nicht  zutreffend.  Heinse  hat  in  der 
zweiten  Auflage  nicht  nur  die  zahlreichen  Druckfehler  der 
ersten  Ausgabe  verbessert;  er  hat  auch  an  den  Sprach- 
formen öfters  geändert  und  sonst  —  ausser  dem  von  Schober 
Angeführten  —  mancherlei  Umgestaltungen  eintreten  lassen. 


Bt'hiighel,  Zu  Jleinse. 


189 


Es  zeigt  sich  hier,  wie  schon  bei  Betrachtung  der  ersten 
Ausgabe,  dass  Heinse  grosse  Sorgfalt  auf  die  äussere  Eorm 
seines  Werkes  verwendet  hat.  Daher  der  hohe  Wohlklang 
in  der  rhythmischen  Gliederung  seiner  Rede;  den  Hiatus 
hat  er  nach  Kräften  vermieden.  Im  Folgenden  vergleiche 
ich  S.  3—60  der  ersten  Ausgabe  mit  dem  entsprechenden 
Theile  der  zweiten.^) 


1.  Auflage. 

Seite 

11  Blüthe,  und 
um  Mund 

12  kennet 
U  geht 
U  Titian 

15  dan 

16  ferne 
18  freuete 

18  •von  neuen 

19  Cyperwein 

19  seltener 

20  Insul 
22  Herren 
24  Herren 

27  vollkom- 
mene 

28  streift 
30  scheinet 
30  seinem 

[falsch] 
30  Wahrheit 


32  wäre  es 

33  drey  Jahre 
40  vor  dem  Ort 

43  hinführe 


2.  Auflage. 

Seite 

0  Blüthe,  um 
Mund 

2  kennt 

3  geht  man 
3  dem  Tizian 

3  denn 

4  fern 
6  freute 

6  vom  neuen 

7  Cypernwein 
9  seitner 

8  Insel 

9  Herrn 
21  Herrn 

23  vollkommne 

24  streicht 

25  scheint 

25  seinen 

26  Wahrheit 
des  Aus- 
drucks 

27  war  es 

28  drey  Jahr 
33  von  dem 

Orte 
35  forthin 


1.  Auflage. 

Seite 

43  hat  er 

44  walzen 

50  angefange- 
nen 

50  Ardinghel- 
Ion 

51  aufgemaurt 
55 

55  unendliche 
Wohnung 

55  wann  [Con- 
junction 

55  die  Säulen- 
gänge behiel- 
ten die  Schön- 
heit mensch- 
licher Propor- 
zion; welche 
verschwindet, 
wenn  sie  ins 
Ungeheure 
getrieben 
werden 

56  Manne 
[Dativ 

59  die  schön 
bewachsene 


2.  Auflage. 

Seite 

36  hab  er 
36  wälzen 
41  angefangnen 

41  Ardinghello 

43  aufgemauert 
45  Grösserer 

Zusatz 
45  Wohnung 

45  wenn 

45  die  Säulen 
richteten 
sich    nach 
der  Propor- 
zion 


46  Mann 

48  die    schön 
bewachsnen 


*)  Das  Exemplar  der  Göttinger  Bibliothek,  das  ich  för  die 
zweite  Auflage  benütze,  entbehrt  des  ursprünglichen  Titelblattes;  ich 
muss  also  der  handschriftlichen  Bemerkung  des  Vorsetzblattes  ver- 
trauen, dass  wir  es  wirklich  hier  mit  der  zweiten  Auflage  zu  thun 
haben.  Die  Beschaffenheit  des  Textes  ist  durchaus  im  Einklang  mit 
dieser  Angabe.  —  Das  an  der  Stelle  des  echten  vorgesetzte  Titelblatt 
gehört  zu  einer  Schrift  Kretschmanns,  die  Goedeke  im  Grundriss  nicht 


190 


Behaghelf  Zu  Heinse. 


Laube  hat  nun  zweifellos  nicht  die  erste  Auflage  für 
seinen  Text  zu  Grunde  gelegt;  nur  S.  17  bietet  er  auf- 
fallender Weise  'streift'  mit  der  ersten  Auflage  gegen  'streicht' 
in  der  zweiten.  Ob  er  nun  einen  spätem  Druck  als  die 
zweite  Auflage  oder  etwa  einen  Nachdruck  benützt  hat, 
kann  ich  nicht  untersuchen.  Hat  er,  wie  es  den  Anschein 
hat  und  wie  es  allein  richtig  war,  die  zweite  Auflage  ab- 
gedruckt, so  ist  die  Wiedergabe  von  Heinses  Text  als  eine 
sehr  leichtfertige  zu  bezeichnen.  Ich  gebe  im  folgenden 
die  Abweichungen,  w^elche  zwischen  Heinses  Text  letzter 
Hand  S.  3 — 31  und  Laubes  Text  S.  3—23  bestehen,  ohne 
dabei  die  Verschiedenheiten  der  Orthographie  und  der  Inter- 
punction  zu  berücksichtigen.  Das  Vorwort  zur  zweiten 
Auflage  geht  bei  Heinse  dem  zur  ersten  voraus  und  trägt 
keine  Überschrift;  bei  Laube  folgt  es  nach  und  ist  be- 
titelt: Vorbericht  zur  zweiten  Auflage.  Im  Übrigen  ^r- 
zeichne  ich  Folgendes: 

Heinse, 
2.  Auflage. 

Seite  1 

3  ahnden 

4  ausgemerzt 

5  liefre 

5  solches 

6  Geschrieben 
im  December 
1785 

9  brannten  . . 

los 
10  aus  der 
Mundart 

10  darinnen 

11  Lande;  wo- 
durch 

12  zum  Exem- 
pel 

12  herrliche 

lebendige 

12  nackende 

verzeichnet:  Litterarischer  Briefwechsel  an  eine  Freundin.  Claudian. 
Von  Karl  Friedrich  Rretschmann.  Erster  Theil.  Mit  einem  Titel- 
knpfer.    Zittau  und  Leipzig,  bei  Johann  David  Schöps,  1797. 


Laube. 

Heinse, 

Laube. 

Bite 

3  ahnen 

2.  Auflage. 

Seite 

13  Zimabue 

Seite 

8  Gimabue 

3  entfernt 

13  keinen 

8 

durchaus 

2  liefere 

keinen 

1  dies 

13  denn 

8 

dann 

2  [fehlt 

15  vollkomm- 

10 

vollkomme- 

nes 

nes 

16  schlimme 

11 

schlimmen 

5  feuerten  .  . 

16  bezeugte 

11 

bezeigte 

ab 

16  vom  neuen 

11 

von  neuem 

6  an  der 
Mundart 

16  verfügt  ich 

11 

entgegnete 
ich 

6  darin 

6  Lande,  und 

16  glaub  ich 

17  erwiedert 

11 
12 

glaube  ich 
erwiederte 

wodurch 

ich 

ich 

7  zum  Bei- 
spiel 

17  etwannige 

18  Gilicien 

12 
12 

etwaige 
Gicilien 

7  herrliche 

18  Famaugusta 
18  auf  Vorbe- 

12 Famagusta 
12  nachVorbe- 

8  nackte 

deutungen 

deutungen 

£.  Sebmidtf  Kleists  'heilige  Cäcilie\ 


191 


Heinse, 

Laube. 

Heinse, 

Laube. 

2.  Auflage. 

2,  Auflage. 

" 

Soite 

Seite 

Seite 

Seite 

18  war  Auf- 

13  war  in  Auf- 

26 Porträte 

19  Porlräts 

ruhr 

ruhr 

27  einzeln 

20  einzig 

19  Herrn 

13  Herren 

28  sagt  ich 

21  sagte  ich 

21    platterdings 

15  durchaus 

28  war  ihr 

21   wäre  ihr 

21   Herrn 

15  Herren 

28  hab  ich 

21  habe  ich 

21    noth  wendig 

15  nothwen- 

29  hangende 

22  hängende 

diges 

29  schlum- 

22 ich  schlum 

22  Anm.  diesen 

16  diese  .  . 

merte 

merte 

. .  Ausfällen 

Ausfälle 

29  nachfolgte 

22  nachgab 

23  Anm.  was 

16  was  es 

30  geh  in 

23  gehe  in 

sie 

30  edel 

23  edles 

23  versetzt  ich 

16  Versetzteich 

30  wohinein 

23  in  das 

24  hätt  ein 

17  hätte  ein 

31   möcht  es 

23  möchte  es 

24  streicht 

17  streift 

31  eigen 

23  eignes 

24'  Tags 

18  Tages 

31  mach  ich 

23  mache,  ich 

26  nicht   mög- 

19 fast  nicht 

lich  schier 

möglich 

Vielleicht  lässt  durch  die  Wahrnehmung,  wie  unzuver- 
lässig Laubes  Text,  Seuffert  sich  bestimmen,  den  Ardinghello 
unter  seine  Neudrucke  aufzunehmen. 


Giessen. 


Otto  Behaghel. 


Kleists  'heilige  Cäeilie'  in  urspriingliclier 

Gestalt. 

Die  von  mir  seit  Jahren  geplante  kritische  Ausgabe 
der  Werke  Heinrichs  von  Kleist  wird  auch  nach  Muncker- 
Yollmer,  Grisebach  (dessen  Anmerkungen  bei  Reclam  grössere 
Beachtung  verdienen)  und  Zolling  nicht  überflüssig  er- 
scheinen; und  wie  sehr  es  noch  an  einer  methodischen 
Ausbeutung  der  Berliner  Abendblätter  fehlt,  davon  hat  mich 
schon  die  rasche  Lektüre  eines  unvollständigen  Exemplars 
wiederum  überzeugt.  Noch  immer  wird  mit  Eöpke  fremdes 
Gut  aufgerafft  und  ohne  Fragezeichen  in  Kleists  Schriften 
abgelagert,  statt  mindestens  einer  Abtheilung  ^Zweifelhaftes' 
zugewiesen  oder,  was  in  einigen  Fällen  dem  Prüfer  des 
Inhalts,  des  Stils,  der  Chiifern  unschwer  gelingen  müsste, 


192  E.  Schmidt,  KleiHts  'heilige  Cacilie\ 

auf  Arnims  Rechnung  gesetzt  zu  werden.  Nicht  einmal, 
was  die  Unterschrift  hk.  trägt,  ist  vollständig  verzeichnet 
oder  abgedruckt.  Aber  die  ^Empfindungen  vor  Friedrichs 
Seelandschaft'  (12.  Bl,  13.  October  1810,  S.  47  f.),  die  Kleist 
umgearbeitet  hat,  erscheinen  zwar  mit  seiner  eigenen  Er- 
klärung über  die  Autorschaft  Brentanos  (und  Arnims),  doch 
ohne  den  unentbehrlichen  Hinweis  auf  Brentanos  Gesammelte 
Schriften  4,  424  ff.  Kein  Herausgeber  sagt,  welche  Nummern 
er  selbst  vor  Augen  gehabt  hat  und  worin  er  nur  dem  Ge- 
währsmann Eöpke  folgt.  Den  empfindlichsten  Mangel  will 
ich  hier  erledigen.  Zolling  4,  193  äussert  über  die  Er- 
zählung ^Die  heilige  Cäcilie  oder  die  Gewalt  der  Musik' 
nur,  sie  sei  in  den  Abendblättern  vom  15. November  1810 
erschienen  mit  dem  Zusatz  'Zum  Taufangebinde  für  Cäcilie 
M  .  .  .  .',  gezeichnet  yz  (vgl.  4,  XV) ,  und  weckt  in  dem 
Leser  die  irrige  Vorstellung,  dieser  erste  Druck  stimme  mit 
der  Wiederholung  im  zweiten  Theil  der  'Erzählungen'  t811 
völlig  überein,  weil  er  keine  einzige  Variante  bucht  und 
nirgends  das  Geständniss  ablegt,  dass  er  beide  Drucke  mit 
keinem  Auge  verglichen  hat.  Denn  gleich  die  Angabe  des 
Fundortes  täuscht,  da  nur  der  erste  Theil  der  Novelle  am 
15.  November  herauskam,  der  zweite  (Zolling  195, 17 — 196, 7) 
am  16.,  der  Schluss  am  17.,  also  sich  der  Abdruck  durch 
Bl.  40—42,  8.  155 — 164,  mit  Unterbrechungen  hindurchzieht. 

Abgesehen  von  der  Interpunction  und  Orthographie  ist 
aber   Folgendes    einem    kritischen    Apparat    einzuordnen: 

193, 3  sechjsehnten]  sechszehnten,  9. 10  toeü  —  köfmen]  toeü 
sie  hofften,  dass  das  Geschäft  baM  abgenutcht  sein  würde.  23 
da  fehlt.  24  Aexten  %md  fehlt.  25  frohlockend]  jvhdnd.  29 
andern]  anderen.  30  in  —  da]  als.  31  heim  —  Tages],  in 
der  Stunde  der  Mittemacht,.  32  w  —  das]  die  Ober  dem.  33 
zu  —  Malen  fehlt. 

194, 1  sich]  ihn.  2  eine  —  aus]  um  eine  Wache.  3. 4  ob  — 
Lehre]  der  neuen  Lehre,  unter  der  Hand,.  4.  5  stcuxtsUugen 
Vorgeben]  Vorwand.  5  auch  fehlt.  10  siebenzig]  siebzig.  15  Ver- 
stand] Verstände  (Hiat).  26  möchte]  sollte.  27  mehrmals]  oft- 
mals I  besondem]  besonderen.  33  daniederliege]  damiederliege  \ 
dass  fehlt.  35  welchem]  welchen  was  natürlich  kein  Druck- 
fehler. 


E.  Schmidt,  Kleists  'heilige  Cäcilie\  193 

195,  8  Aber  die]  Die.  9  des  höchsten  fehlt.  13  weil  — 
schlug  fehlt.  14  unter  —  Beben]  zitternd.  15  gleichviel  —  sei] 
das  häufig  in  der  Kirche  vorgetragen  wurde,  obschon  es  von 
minderem  Werth  war,  18 — 20  ;die  —  gestimmt  fehlt.  21  ein] 
obschon  ein  was  vorzuziehen.  21—23  von  —  Arm]  erschien, 
und  den  Vorschlag/  machte,  ungesäumt  noch  das  alte,  oben  er- 
wähnte, italiänische  Musikwerk,  auf  welches  die  Aebtissinn  so 
dringend  bestanden  hatte,  aufzuführen.  24  ivo  —  und  fehlt. 
25.  26  gleichviel  —  gleichviel!]  dass  keine  Zeit  sei,  zu  schwatzen;. 
26  bei  sich]  unter  dem  Arm.  28  vortrefflichen]  treßichen. 
30.  31  sie  —  Pulte;  fehlt.  (32  ist  bei  Zolling  une  vor  auf 
ausgefallen.)  33  das  Oratorium]  die  Messe.  34  atisgeführt] 
aufgeführt.    35  kein  Odem  vor  während. 

196,  2.  3  Bevölkerung  —  Kirche]  Kirche,  von  mehr  denn 
dreitausend  Menschen  erfüllt,  gänzlich.  4  und  —  Anhang  fehlt. 
5  an  den]  am. 

Worauf  CS  aber  eigentlich  ankommt:  die  letzten  drei 
Viertel  196,  8—205,  5  treten  in  den  'Erzählungen'  von 
1811  als  neue  Dichtung  hervor,  inhaltlich  und  stilistisch 
ganz  abweichend  von  der  knappen  Fassung  in  den  Abend- 
blättern ,  welche  die  nachforschende  Mutter  noch  gar  nicht 
kennen,  für  die  Figur  des  wackern  Tuchhändlers  nur  das 
flüchtigste  Motiv  geben,  weder  die  Kirchenscene  noch  den 
langen  Wahnsinn  breit  ausmalen  und  statt  des  grossen  Auf- 
tritts im  Kloster  nur  sparsamen  Bericht  über  das  Cäcilien- 
wunder  erstatten,  uns  auch  weder  mit  einer  Bekehrung  der 
Frau,  noch  einer  heitern  Erlösung  der  Wahnsinnigen  ent- 
lassen. Man  vergleiche  im  einzelnen,  wie  Kleist  auch  in 
dieser  Periode  sinkender  Kraft  alles  ausgemünzt  hat,  manch- 
mal bis  zu  ungeheuerlichen  Hyperbeln:  so  entbehrte  erst 
der  grässliche  Gesang  doch  eines  musikalischen  Wohlklangs 
nicht  —  nun  wird  an  Leoparden  und  Löwen  erinnert,  wie 
sie  im  eisigen  Winter  das  Firmament  anbrüllen.  Die  Ein- 
leitung blieb  kurz  und  sachlich,  aber  die  Nachgeschichte 
aus  der  Nachtseite  der  Menschenseele  und  der  mystischen 
Wunderwelt  schwoll,  erst  im  Stil  des  Eingangs  vorläufig 
erledigt,  in  Kleists  Phantasie  zu  der  unheimlichen  Fülle 
an,  die,  seit  jene  Abendblätter  verschollen  sind,  wir  bisher 
allein  gekannt  haben. 

Vierte^ahnchxift  fUr  Litteratorgeschichte  UI  13 


j^94  E.  Schmidt,  Kleist»  ^heilige  Cäcilie*. 

Der  ursprungliche  'Beechluss'  lautet  (42.  BL,  17.  November 

1810,  S.  163  f.): 

Aber  der  Triumph  der  Religion  war,  wie  sich  nach  einigen 
Tagen  ergab,  noch  weit  grösser.     Denn   der  Gaslwirth,  bei  dem 
diese  vier  Brüder  wohnten,  verfügte  sich,  ihrer  sonderbaren  und 
auffallenden  Aufführung  wegen,  auf  das  Rathhaus,  und  zeigte  der 
Obrigkeit  an,    dass  dieselben,    dem  Anschein  nach,   abwesenden 
oder    gestörten   Geistes   sein  müssten.     Die  jungen  Leute,  sprach 
er,   wären    nach   Beendigung  des  Frohnleichnamsfestes ,  still  und 
niedergeschlagen,  in  ihre  Wohnung  zurückgekehrt,  hätten  sich,  in 
ihre  dunkle  Mäntel  gehüllt,  um  einen  Tisch  niedergelassen,  nichts 
als    Brod    und  Wasser    zur   Nahrung    verlangt,    und    gegen    die 
Mitternachtsstunde,  da  sich  schon  Alles  zur  Ruhe  gelegt,  mit  einer 
schauerlichen  und   grausenhaften  Stimme,   das  gloria  in  excelsis 
intonirt.     Da  er,  der  Gastwirth,  mit  Licht  hinaufgekommen,  um 
zu  sehen,   was   diese  ungewohnte  Musik  veranlasse,   habe  er  sie 
noch  singend  alle  vier  aufrecht  um  den  Tisch  vorgefunden:  wo- 
rauf sie,   mit  dem  Glockenschlag  Eins,  geschwiegen,  sich,   ohne 
ein  Wort  zu  sagen,  auf  die  Bretter  des  Fussbodens  niedergelegt, 
einige  Stunden  geschlafen,  und  mit  der  Sonne   schon  wieder  er- 
hoben  hätten,   um  dasselbe   öde   und    traurige   Klosterleben,  bei 
Wasser    und    Brod,    anzufangen.      Fünf   Mitternächte    hindurch, 
sprach  der  Wirth,  hätte  er  sie  nun  schon,  mit  einer  Stimme,  dass 
die  Fenster  des  Hauses  erklirrten,  das  gloria  in  excelsis  absingen 
gehört;  ausser    diesem  Gesang,   nicht  ohne  musikalischen  Wohl- 
klang, aber  durch  sein  Geschrei  grässlich,   käme  kein  Laut  über 
ihre  Lippen:  dergestalt,  dass  er  die  Obrigkeit  bitten  müsse,   ihm 
diese    Leute,    in    welchen    ohne   Zweifel    der    böse   Geist  walten 
müsse ,  aus  dem  Hause  zu  schaffen.  —  Der  Arzt,   der  von  dem 
Magistrat   in   Folge    dieses  Berichts  befehligt  ward,  den  Zustand 
der  gedachten  jungen  Leute   zu  untersuchen,   und  der  denselben 
ganz    so    fand,    wie    ihn    der  Wirth   beschrieben    hatte,    konnte 
schlechterdings,  aller  Forschungen  ungeachtet,  nicht  erfahren,  was 
ih-[164]nen  in  der  Kirche,   wohin   sie   noch  ganz  mit  gesunden 
und  rüstigen  Sinnen   gekommen  waren,   zugestossen  war.      Man 
zog  einige  Bürger   der   Stadt,   die  während  der  Messe,    in  ihrer 
Nähe  gewesen  waren,  vor  Gericht;   allein  diese  sagten  aus,  dass 
sie,  zu  Anfang  derselben,  zwar  einige,  den  Gottesdienst  störende, 
Possen  gelrieben  hätten:  nachher  aber,  beim  Beginnen  der  Musik, 
ganz   still  geworden,   andächtig.  Einer   nach   dem    Andern,  aufs 
Knie  gesunken  wären,  und,  nach   dem  Beispiel  der  übrigen  Ge- 
meinde,   zu  Gott   gebetet    hätten.     Bald   darauf  starb   Schwester 
Antonia,  die  Kapellraeisterinn ,   an  den  Folgen  des  Nerven fiebers, 
au  dem  sie,  wie  schon  oben  erwähnt  worden,   daniederlag:    und 
als  der  Arzt  sich,  auf  Befehl  des  Prälaten  der  Stadt,  ins  Kloster 
verfügte,    um  die  Partitur   des,   am  Morgen  jenes  denkwürdigen 


Leitzmann,  Zur  EDtsfcehungsgeschichte  des  ^Julius  von  Tarent\     195 

Tages  aufgeführten  Musikwerks  zu  übersehen,  versicherte  die 
Äbtisinn  demselben,  indem  sie  ihm  die  Partitur,  unter  sonderbar 
innerlichen  Bewegungen  übergab,  dass  schlechterdings  niemand 
wisse,  wer  eigentlich,  an  der  Orgel,  die  Messe  dirigirt  habe. 
Durch  ein  Zeugniss,  das  vor  wenig  Tagen,  in  Gegenwart  des 
Schlossvoigts  und  mehrerer  andern  Männer  abgelegt  worden,  sei 
erwiesen,  dass  die  Vollendete  in  der  Stunde,  da  die  Musik  auf- 
geführt worden,  ihrer  Glieder  gänzlich  unmächtig,  im  Winkel 
ihrer  Klosterzelle  danieder  gelegen  habe;  eine  Klosterschwesler, 
die  ihr  als  leibliche  Verwandtin  zur  Pflege  ihres  Körpers  bei- 
geordnet gewesen,  sei  während  des  ganzen  Vormittags,  da  das 
Frohnleichnamsfest  gefeiert  worden ,  nicht  von  ihrer  Seite  ge- 
wichen. —  Demnach  sprach  der  Erzbischof  von  Trier,  an  welchen 
dieser  sonderbare  Vorfall  berichtet  ward,  zuerst  das  Wort  aus,  mit 
welchem  die  Äbtisinn,  aus  mancherlei  Gründen,  nicht  laut  zu 
werden  wagte:  nämlich,  dass  die  heilige  Cäcilia  selbst  dieses,  zu 
gleicher  Zeit  schreckliche  und  herrliche,  Wunder  vollbracht  habe. 
Der  Pabst,  mehrere  Jahre  darauf,  bestätigte  es;  und  noch  am 
Schluss  des  dreissigjährigen  Krieges,  wo  das  Kloster,  wie  oben 
bemerkt,  säcularisirt  ward,  soll,  sagt  die  Legende,  der  Tag,  an 
welchem  die  heilige  Cäcilia  dasselbe,  durch  die  geheimnissvolle 
Gewalt  der  Musik  rettete,  gefeiert,  und  ruhig  und  prächtig  das 
gloria  in  excelsis  darin  abgesungen  worden  sein. 

Berlin.  Erich  Schmidt. 


Zur  Entstehungsgeschichte  des 
^Julius  von  Tarenf. 

Von  dem  vielen  Interessanten,  das  uns  Werners  jüngst 
erschienene  Ausgabe  des  'Julius  von  Tarent'  nach  des 
Dichters  Originalmanuscript  (in  den  Deutschen  Litteratur- 
denkmalen  32)  bietet,  ist  sicher  das  interessanteste  die  den 
einzelnen  Scenen  beigescbriebene  Datirung.  Im  allgemeinen 
vergleiche  man  darüber  Werner  S.  XII  flF. ;  ich  glaube  mit 
ihm  (S.  XYII),  dass  diese  Daten  mit  wenigen  Ausnahmen 
sich  auf  die  erste  Entstehung  und  nicht  auf  eine  über- 
arbeitende Abschrift  der  betreffenden  Scenen  beziehen. 

Gänzlich  undatirt  sind  zehn  Scenen:  I,  1  in  der  Um- 
arbeitung A;  1,4;  1,5;  11,4;  11,5;  11,6;  111,5;  IV,  3; 
IV,  5 ;  V,  4.  Hierzu  kommt  als  elfte  V,  3,  die  im  Original- 
manuscript überhaupt  fehlt,  aber  vorhanden  gewesen  sein 


1 96    Leitziuann,  Zur  Entstehungsgeschichte  des  ^Julius  von  Tarent'. 

muss ;  ferner  als  zwölfte  Y,  1  in  der  Fassung  des  Druckes. 
Alle  übrigen  Scenen  sind  mit  Datenangaben  zwischen  dem 
24.  Juli  und  12.  September  1774  versehen,  unklar  sind  jedoch 
die  von  II,  t  und  II,  3. 

II,  t  trägt  die  Randbemerkung  Wor  dem  24.  Julius  1 774^ 
woraus  mit  Sicherheit  hervorgeht,  da  mir  nicht  möglich 
scheint  das  'vor'  als  'Vormittag'  zu  verstehen  (Werner 
S.  XIII),  dass  der  Dichter  am  24.  Juli  den  Entschluss  fasste, 
jeder  Scene  das  Datum  ihrer  Entstehung  beizuschreiben. 
Ausgeschlossen  ist  natürlich  nicht,  dass  er  es  einmal  ver- 
gessen konnte:  es  gehören  also  darum  noch  nicht  noth- 
wendig  alle  undatirten  Scenen  vor  den  24.  Juli,  wohin  sie 
Werner  (S.  XVI  Anm.)  aus  Gründen  der  Vergleichung  von 
Papier  und  Schrift  verweisen  möchte;  doch  führen  seine 
Beobachtungen  nicht  weiter  und  er  selbst  bezweifelt  ihre 
Brauchbarkeit,  weshalb  ich  sie  im  folgenden  nicht  berück- 
sichtige. —  II,  3  trägt  die  Randbemerkung  'Hannover  (oder 
vielleicht  'Sonnabend')  den  18.  October';  Kutschera  (S.  69 
Anm.  3)  las  'Hannover';Werner  bemerkt  (S.  XIII) :  'die  Lesung 
Hannover  ist  kaum  denkbar;  man  würde  eher  Sonnabend 
herauslesen,  der  18.  October  fiel  aber  in  jenem  Jahre  nicht  auf 
einen  Sonnabend'.  Diese  Datirung  fällt  aus  dem  Rahmen  der 
übrigen  ganz  heraus,  auch  wenn  man  die  wenigstens  äusserlich 
richtige  Lesung  'Sonnabend  den  8.  October  1774'  annehmen 
wollte  ;  hier  ist,  glaube  ich,  ein  Fall,  wo  das  Datum  nicht  den 
Tag  der  Entstehung  der  Scene  bedeuten  kann,  und  zwar  auf 
Grund  von  Beobachtungen,  welche  auch  die  Entstehungszeit 
mehrerer  undatirten  Scenen  annähernd  erschliessen  lassen. 

Die  Wahl  der  Namen  für  seine  Personen  scheint  dem 
Dichter  Schwierigkeit  gemacht  zu  haben.  Der  alte  Fürst 
heisst  an  der  einzigen  Stelle,  wo  sein  Name  vorkommt 
(124,  13),  Constantin,  war  aber  erst  Garsias  genannt,  wie 
in  de  Thou,  der  Quelle  des  Dichters,  der  dem  Guido  ent- 
sprechende Sohn  heisst.  Der  Name  der  Fürstin,  Ämilia, 
die  persönlich  nicht  auftritt,  erschien  an  einer  Stelle  (zu 
36,  10—12),  wurde  aber  wieder  beseitigt.  Auch  Julius  hatte 
vielleicht  in  der  ältesten  Phase  des  Stückes  noch  keinen 
Namen:  wenigstens  erscheint  er  in  der  ältesten  datirten 
Scene  II,  1  schlechtweg  als  'der  Prinz'. 


Leitsinann,  Zur  Entstehungsgeschichte  des  *  Julius  von  Tarent\     t97 

Julius'  Geliebte  hiess  zuerst  Bianca,  wofür  dann  aber 
Bianca  eingesetzt  wurde  (jenen  italienischen  Namen  hat 
Shakespeare  im  ^Othello'  und  der  ^Widerspenstigen-,  diesen 
spanischen  im  *Eönig  Johann'j.  Von  einem  bestimmten 
Zeitpunkt  datirt  jedenfalls  der  Entschluss  des  Dichters, 
Bianca  für  Bianca  einzusetzen:  er  verbessert  dann  an  den 
meisten  Stellen  diese  Form  in  jene  und  gebraucht  yon  da 
an  fast  nur  noch  die  erste.  Und  zwar  begegnet  in  den 
Scenen  des  Juli  und  August  der  Name  in  der  Form  Bianca 
oder  Bianca  aus  Bianca  verbessert  (der  einzige  nicht  stim- 
mende Fall  wäre  86,  2:  ist  Werners  Angabe  hier  ganz  ge- 
nau?), vom  1.  September  an  in  der  Form  Bianca  unver- 
bessert  (wobei  ich  an  den  Stellen  14,5,  15, 1  gegenüber  15, 5. 14 
und  79,  2  gegenüber  79,  9.  80,  4  augenblickliche  Correcturen 
annehme).  Lässt  man  diese  Auffassung  gelten,  so  gehören 
von  den  undatirten  Scenen  II,  5,  II,  6  und  Y,  4  wegen  der 
Namensform  Bianca  (oder  Bianca  aus  Bianca)  in  den  Juli 
oder  August,  dagegen  I,  1  in  der  Fassung  A,  I,  4,  111,5 
und  IV,  5  wegen  der  unverbesserten  Form  Bianca  in  den 
September  (81,  5  gegenüber  80,  18.  82,  4.  10.  15  ist  dann 
wieder  augenblickliche  Correctur).  Nach  diesem  Argument 
würde  die  vom  18.  October  datirte  Scene  II,  3  in  den  Juli 
oder  August  gehören:  sie  bietet  einmal  Bianca,  achtmal 
Bianca  aus  Bianca. 

Weiterhin  lässt  sich  in  den  nachweisbar  ältesten  Scenen 
des  Stückes  die  Gewohnheit  beobachten,  Eigennamen  mit 
lateinischen  Buchstaben  zu  schreiben:  so  in  I,  2;  II,  1 ;  II  7; 
III,  1 ;  IV,  6 ;  V,  1  ;  V,  5  sowie  in  gestrichenen  Stellen  zu  I,  6 
und  III,  7.  Diese  Scenen  sind  sämmtlich  im  Juli  und  An- 
fang August  (bis  zum  8.)  geschrieben:  später  ist  kein  weiterer 
Fall  belegt.  Auch  nach  diesem  Argument  gehört  die  vom 
18.  October  datirte  Scene  II,  3  in  eine  weit  frühere  Zeit: 
sie  bietet  ein  lateinisch  geschriebenes  Bianca  (46,  2). 

Eine  achte  undatirte  Scene  glaube  ich  durch  folgende 
Beobachtung  einreihen  zu  können.  In  II,  6  ist  nach  61,  8 
folgende  Wendung  gestrichen  worden:  ^Sehen  Sie  wie  in 
einem  Saamenkom  ein  künftiger  Wald  schlummert  so  liegen 
in  einem  Wunsche  schon  tausend'.  Dieselben  Worte  kehren 
dann  in  IV,  3  wieder  (98,  6).     Mir  scheint  dies  nur  so  denk- 


1 98    Leitzmann,  Zur  Entstehungsgeschichte  des  'Julius  von  Tarent\ 

bar,  dass  Leisewitz  die  Worte  später  an  einer  zweiten  Stelle 
für  besser  angebracht  hielt,  als  sie  an  der  waren,  wo  er 
sie  zuerst  gebraucht  hatte ,  dass  also  II,  6  älter  als  lY,  3 
und  zwar  kaum  viel  älter  ist.  II,  6  gehört  wegen  der  Form 
Bianca  in  den  Juli  oder  August,  also  auch  lY,  3,  worin  der 
Name  nicht  vorkommt. 

Ich  bin  mir  wohl  bewusst,  dass  das  Yorgetragene  nur 
Wahrscheinlichkeit,  nicht  absolute  Beweiskraft  hat.  Eine 
gewisse  pedantische  Genauigkeit  in  solchen  Kleinigkeiten 
ist  durchaus  glaubhaft,  wenn  man  sich  an  Leisewitzens 
Naturell,  an  das  Actenmässige ,  Steife  seiner  Schriftzüge 
erinnert  (Werner  S.  lY).  Interessanter  noch  wäre  es,  den 
inneren  Faden  aufzeigen  zu  können,  an  dem  die  productive 
Phantasie  des  Dichters  sich  beim  Schaffen  die  einzelnen 
Scenen  nacheinander  aufreihte.  Ansätze  zur  Lösung  dieser 
schwierigeren  Fragen  macht  Werner  S.  XYII— XIX.  Hier 
überall  klar  zu  sehen  ist  unmöglich:  ich  möchte  hier  nur 
einen  Punkt  berühren.  Unter  anderm  weist  Werner  auf 
eine  gewisse  Yerwandtschaft  der  vom  26.  und  27.  Juli 
datirten  Scenen  III,  1  und  Y,  1  mit  den  beiden  im  Musen- 
almanach für  1775  erschienenen  kleinen  Dialogen  ^Die 
Pfändung^  und  ^Der  Besuch  um  Mitternacht'  hin.  Während 
mir  die  Yerwandtschaft  zwischen  Y,  1  und  dem  'Besuch' 
kaum  bedeutend  genug  scheint,  um  einen  Schluss  darauf 
zu  gründen,  gebe  ich  eine  solche  zwichen  III,  1  und  der 
'Pfändung'  zu.  Ich  möchte  namentlich  auf  die  Einführung 
des  Bauern  Werth  legen,  der  in  beiden  Fällen  als  Repräsen- 
tant des  Yolkes  über  den  Herrscher  gewissermassen  das 
Urtheil  spricht  (vgl.  auch  E.  Schmidt,  Anzeiger  f.  deutsches 
Alterthum  und  deutsche  Litt.  3,  197).  'Beide  Male',  sagt 
Werner  S.  XYIII,  'der  Hinweis  auf  die  ewige  Vergeltung': 
davon  steht  streng  genommen  in  der  Scene  III,  1  nichts, 
während  bei  der  'Pfändung'  gerade  darin  die  Pointe  liegt. 
Kann  aber  das  Yorkommcn  dieser  Gedanken,  zumal  sie 
allgemein  im  Göttinger  Bunde  sind  (Kutschera  S.  68),  allein 
ausreichen ,  um  die  frühe  Entstehung  von  III,  l  und  Y,  l 
zu  erklären?  Bemerkens  werth  ist  allerdings,  dass  specifisch 
den  Göttinger  Dichtern  Eigenes  hauptsächlich  in  den  ältesten 
Scenen   der  Tragödie  vorkommt:   so  auch  der  Mondschein 


0.  Hoffmann,  Noiiz  zu  Lessing.  199 

nur  in  I,  1,  III,  7  und  IV,  6,  also  zwischen  dem  24.  Juli 
und    4.  August   (vgl.  E.  Schmidt  a.  a.  0.  3,  198). 

Halle.  Albert  Leitzmann. 


Notiz  zu  Lessing. 

Im  'Zweyten  Beytrag  aus  der  Wolfenbütteler  Bibliothek' 
1773  8.  319  stehen  die  bekannten  Worte:  'Man  muss,  auch 
in  der  gelehrten  Welt,  hübsch  leben  und  leben  lassen 
Was  uns  nicht  dienet,  dienet  einem  andern.  Was  wir 
weder  für  wichtig  noch  für  anmuthig  halten,  hält  ein  andrer 
dafür.  Yieles  für  klein  und  unerheblich  erklären,  heisst 
öftrer  die  Schwäche  seines  Qesichts  bekennen,  als  den 
Werth  der  Dinge  schätzen.  Ja  nicht  selten  geschieht  es, 
dasB  der  Gelehrte,  der  unartig  genug  ist,  einen  andern 
einen  Mikrologen  zu  nennen,  selbst  der  erbärmlichste  Mikro- 
log  ist:  aber  freylich  nur  in  seinem  Fache'. 

Mit  diesen  Worten  weist  Lessing  einen  Vorwurf  zurück, 
den  ihm  der  Recensent  seines  ersten  ^Beytrages'  in  den 
Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen  vom  20.  Februar  1 773  (Nr.  15 
S.  117)  gemacht  hatte.  Derselbe  leistete  bald  darauf  Ab- 
bitte. In  der  Recension  des  'Zweyten  Beytrags'  nämlich 
heisst  es  (Frkf.  Gel.  Anz.  vom  19.  November  1773):  'Wir 
halten  es  denn  nun  für  unsre  Pflicht,  Herrn  Lessing  hier- 
mit feyerliche  Abbitte  und  Ehrenerklärung  zu  thun,  dass 
wir  ihm  in  der  Recension  des  ersten  Beytrages  ein  wenig 
Mikrologie  vorgeworfen  haben.' 

Steglitz.  Otto  Hoff  mann. 


Anspielungen  auf  die  Faustsage. 

Zwischen  die  bisher  aus  dem  18.  Jahrhundert  bekannt 
gewordenen  poetischen  Anspielungen  auf  die  Faustsage  bei 
Zachariae,  Lessing,  Löwen,  Wieland  und  die  dankenswerthen 
Nachweise  Burdachs  und  Eichlers  (in  dieser  Vierteljahr- 
achrift  1,9  ff.  290)  reiht  sich  eine  Reminiscenz  in  einer 
Ode  von  S.  G.  Lange  aus  dem  Jahre  1 745.  Diese  besingt 
den  eben  als  Dichter  auftretenden  Ramler,  ganz   im   Stile 


200  Schüddekopf,  Anspielungen  auf  die  Faustsage. 

der  1747  gedruckten 'Horatzi sehen  Oden',  unter  welche  sie 
jedoch,  wohl  in  Folge  der  Gleimschen  Ausstellungen,  nicht 
aufgenommen  wurde;  erst  dreissig  Jahre  später  fand  sie 
verändert  ('An  Herrn  Ramler.  1745')  eine  Stelle  im  Taschen- 
buch für  Dichter  und  Dichterfreunde  5,  55,  aus  welchem 
Matthisson  sie  mit  den  willkürlichsten  Kürzungen  in  seiner 
Lyrischen  Anthologie  2,  45  wiederholte.  Die  metrisch  und 
stilistisch  recht  nachlässige  Ode  preist  Ramlers  'zauberndes 
Lied',  welches  den  Frühling  im  Winter  mit  beschwörenden 
Worten  zurückruft;  und  nachdem  in  einem  aus  Horaz 
Carm.  I  12,  7—12  entlehnten  und  von  Lange  bis  zum  Uber- 
druss  wiederholten  Bilde  *)  dieser  Gesang  dem  Wunder 
wirkenden  Spiele  des  Orpheus  gleichgestellt  ist,  folgt  in 
Strophe  5  (hier  nach  einer  gleichzeitigen  Abschrift  im 
Gleimarchive)  der  Vergleich : 

So  zauberte  Faust  vor  den  erschrockenen  Gästen 
Den  fruchtreichen  Herbst,  die  Trauben  beugten  den  Weinslock, 
Schnell  kleidete  sich  der  dürre  Obstbaum  mit  Blättern 

Und  Blüthen  und  Früchten. 

Ob  Lange  hier  aus  einer  der  Prosaerzählungen  schöpfte,  von 
denen  das  Pfitzersche  Volksbuch  die  Anbohrung  des  Tisches 
vorführt  (vgl.  Greizenach  S.  163),  oder  ob  die  Gastmahlsscene 
im  Puppenspiele  von  ihm  dichterisch  ausgeschmückt  wurde, 
wage  ich  nicht  zu  entscheiden.  Wie  stereotyp  aber  der  Ver- 
gleich eines  Zauberkünstlers  mit  dem  'grossen  Erzzauberer' 
in  dieser  Zeit  geworden  war,  erhellt  aus  der  Zusammen- 
stellung des  von  Burdach  angeführten  Eönigschen  Verses: 
'Der  Doctor  Faust  ist  nur  ein  Narre  gegen  dir'  mit  einer 
Stelle  in  dem  ungedruckten  Briefe  von  Uz  an  Gleim 
(Anspach  25.  März  1748):  'Haben  Sie  von  dem  Italiener 
gehört,  der  in  Berlin  sich  durch  Prästigia  bekannt  macht, 
wie  Circo  verwandelt  und  Todte  lebendig  macht?  D.  Faust 
ist  ein  Schüler  gegen  ihn,  wenn  wahr  ist,  was  man  erzehlt.' 

Wolfenbüttel.  Carl  Schüddekopf. 

^)  Vgl.  Freundschaftl.  Lieder  S.  43. 52  (Deutsche  Litteraturdenkniale 
22,41.47)  Horatz.  Oden  S.  39.  55.  94.  108.  120.  153.  158.  Auch  Pyra 
(Deutsche  Litteraturdenkmale  22,  87),  Götz  (Anakreon  1746  S.  92)  und 
Klopstock  (Auf  meine  Freunde  V.  9-— 12)  gebrauchen  den  Vergleich. 


Baechtold,  Quellen  zu  »Aller  Praktik  Grossmatter'.  201 


Quellen  zn  ^AUer  Praktik  Grossmutter'. 

1. 

Fischarts  ^Aller  Praktik  Grossmutter'  erschien  zuerst 
1572,  wahrscheinlich  in  Basel,  (Abdruck  in  Braunes  Neu- 
drucken Nr.  2,  1876),  bedeutend  erweitert  1574  und  öfter 
(diese  Bearbeitung,  aber  nach  einem  Druck  von  1623,  in 
Scheibles  ^Kloster'  8,  545  ff.).  Über  das  Bibliographische  vgl. 
Meusebachs  Fischartstudien  S.  194  ff.  W.  Wackernagel, 
Johann  Fischart  von  Strassburg  (2.  Ausg.  1874)  S.  60  ff.  be- 
schäftigte sich,  nachdem  Goedeke,  P.  Gengenbach  S.  415  ff. 
die  Practica  Practicarum'  Ton  Joh.  Nas  herbeigezogen,  zum 
ersten  Mal  eingehender  mit  dem  Werklein  und  deckte,  in- 
dem er  sich  gegen  Goedekes  Annahme  wandte  (S.  67 
Anm.  148),  einige  andere  Quellen  auf.  So  wies  Wacker- 
nagel darauf  hin,  dass  sich  hier  die  ersten  Spuren  von 
Rabelais'  Einfluss  zeigen,  indem  Fischart  an  die  dem 
Gargantua  angehängte  Pantagrueline  Prognostication  an- 
knüpft. Ebenso  zeigte  Wackernagel,  wie  Fischart  neben  der 
Practica  des  Doctor  Grill  von  dem  Narrenstein  (1540)  die 
lateinischen  Prognostica  Jacob  Henrichmans  aus  Sindel- 
fingen benutzte,  und  theilte  diese  Vorlage  im  Anhang  S.  131  ff. 
nach  einem  Strassburger  Druck  von  1509  mit.  Henrichman 
in  der  (1508  datirten)  Widmung  an  Christof  von  Schwarzen- 
berg  und  Heinrich  Bebel  gesteht  selber,  dass  er  nur  ein 
älteres  deutsches  Büchlein  übersetzt:  ^Superioribus  autem 
diebus  quidam,  nescio  quis,  sed  profecto  homo  industrius 
exiguum  edidit  opusculum,  quod  prognostica  recte  et  latine 
Yocamus  a  barbaris  vero  inepto  vocabulo  practica  nuncu- 
patur;  quo  libello  perlecto  nihil  falsi  usquam  in  eo  depre- 
hendere  potui,  nihilque  quod  non  futurum  sit,  invenire  licet; 
ita  bonus  ille  homo  cuncta,  quae  vera  sunt,  narrare  studuit. 
Ob  id  ego  opusculum  theutonica  lingua  scriptum  latinitate 
donare  volui,  ut  idipsum  non  Germani  tantum,  sed  et 
ceterae  nationes  legerent.  Pauca  etiam  ego  adjeci,  quae 
prius  opusculum  non  continebat.' 

Viertelijahnchrin  für  Litteratozgeschichte  m  14 


202  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'. 

Die  deutsche  Vorlage  Henrichmans,  den  Fischart  in  der 
zweiten  Bearbeitung  ausdrücklich  nennt,  ist  nun  unzweifel- 
haft die  folgende  ^Practica  Doctor  Johannis  Ross- 
schwanz', in  einem  Druckexemplar  von  1509  auf  der  kgl. 
Bibliothek  in  Berlin  (Yz  21 11,  aus  Meusebachs  Sammlung, 
4  BU.  in  gr.  8^)  aufbewahrt.  Meusebach  hat  das  seltene 
Stück  wohl  aus  Martin  Usteris  Bibliothek  in  Zürich  erworben. 
Der  Ursprung  dieser  Practica  ist  in  der  Schweiz  zu  suchen, 
wie  denn  auch  ein  besonderes  Eapitelchen  (21)  von  den 
Eidgenossen  handelt.  Vielleicht  gab  es  einen  noch  altern 
Druck;  wofern  sich  Henrichman,  der  schon  1508  übersetzte, 
nicht  etwa  einer  blossen  altem  Abschrift  der  Practica  Ross- 
schwanz bedient  hat.  Die  Möglichkeit  des  umgekehrten 
Verhältnisses,  dass  Rossschwanz  etwa  aus  Henrichman  über- 
tragen ist,  ist  deswegen  nicht  glaublich,  weil  die  lateinische 
Fassung  in  der  That  die  oben  erwähnten  Zusätze  aufweist. 
Ich  kann  leider  nicht  feststellen,  wie  weit  die  Practica  Ross- 
schwanz mit  einer  deutschen  Übersetzung  Henrichmans,  die 
im  Anhang  der  Verdeutschung  der  Facetiae  Bebeis :  ^Die  Ge- 
schwenk  Henrici  Bebelii'  1558  steht,  übereinstimmt.  Die 
lateinische  Practica  entspricht,  abgesehen  vom  Eingang  und 
dem  ersten  Kapitel  ('de  anni  qualitate')  in  Bezug  auf  den 
Inhalt  und  die  Reihenfolge  der  einzelnen  Abschnitte  mit 
wenig  Änderungen  genau  der  Practica  Rossschwanz.  Das 
lateinische  14.  Kapitel  'de  religiosis^  ist  zusammengezogen 
aus  13  und  14  der  deutschen  Practica.  Das  lateinische 
11.  Kapitel  —  es  entspricht  dem  deutschen  10.  —  lässt  die 
Stelle  vom  Bodensee  weg.  Im  20.  Abschnitt  setzt  der 
Schwabe  (wie  Fischart)  Tübingen  ein  statt  Speyer.  Kap.  21 
aus  Rossschwanz  Won  den  Eidgenossen^  ist  weggelassen. 
Darnach  ist  auch  die  Bemerkung  Wackernagels  S.  17  Anm.42, 
dass  der  Abschnitt  in  'Aller  Praktik  Grossmutter'  'von  Na- 
tionen und  Städten'  der  älteste  Beleg  von  Fischarts  Reisen 
sei,  einzuschränken,  indem  dieser  auch  da  theil weise  dem  19. 
und  20.  Kapitel  seiner  Quelle  folgt.  Daneben  benutzt  er  in 
seiner  bekannten  freien  Manier  die  Practica  Rossschwanz 
hauptsächlich  für  die  Abschnitte:  'von  Früchten,  Obst, 
Wein',  'von  Metall,  Gold  und  Reichthum',  'von  Nationen 
und  Städten'. 


Baechtold,  Quellen  zu  *Aller  Praktik  Grossmutter'.  203 

Über  andere  Scherzkalender  und  Spottpraktiken  vgl. 
Naumanns  Serapeum  26,  236  fF.  Dort  ist  auch  die  Practica 
des  Eselbert  Trinkgern  abgedruckt,  die  sich  inhaltlich  mehr- 
mals mit  der  folgenden  berührt.  Vgl.  Serapeum  S.  254 :  'von 
Buhlern  und  Singern'  mit  Rossschwanz  Kap.  12.  Ebenso 
finden  sich  Anklänge  an  Kap.  5  und  9. 

Ein  new  abetörlich  Practica  |  Doctor  Johannis  Rosz| 
schwantz  von  Langen  Lederbach  do  man  |  die  alten 
laternen  pletzt.  Vff  dis  kunff  |  tig  jar.  M  .v«.  vnd  ix. 
Practiciert  in  |  der  hohen  schul  zu  Montefla  |  schkon,  do 
5  d'    dreck    iss    mer   |   hangt,    nach    rechtem    |    lauff  der 

ganlze  |  wyten  welt.| 

[Vignette:  Ein  Doctor  sitzt  vor  einem  auf  dem  Pulte  auf- 
geschlagenen Buch  und  zeigt  mit  der  Rechten  nach  sechs  Sternen, 
die  über  ihm  stehen.] 

to  NAch  dem    gott    der   allmechtig    den   Egiptern    vnd   andern 

grossen  meistern  als  Aristotel.  Sibil.  vnd  andern  etc.  sein  götliche 
gnad  verüben  hat  das  sie  durch  das  gestirn  vn  firmament  zu 
künfftige  ding  practiciert  vn  geweissagt  haben,  vnd  noch  vil  be- 
rümpter  meister  vff  erden  die  mit  der  selben  kunst  begabt  semd 

1!»  das  sie  schön  ding  practiciere  dar  durch  ein  yeder  erkennen  mag 
wann  es  tag  oder  nacht  ist.  Wie  wol  mancher  grober  knebel 
hoch  dar  wider  redt,  Aber  niemant  veracht  die  kunst  dan  der  si 
nit  verstat  (Das  es  also  sey)  So  hab  ich  Doctor  Rossschwantz 
von  Lange  lederbach  ein   grosser   lerer    der    kante,    gleser  vnd 

20  krausen  on  alle  kunst  in  der  Silberkammer  do  man  die  sattel 
vfT  henckt,  neben  der  pernuersitet  do  man  mit  Mistgabele  schreibt, 
dise  practick  vn  Weissagung  angefange  vnd  durch  die  zu  leüfT 
etlicher  stern  die  dis  jar  ingangen  seind  z&  regiren  Rumorisch 
vnd  leunisch  kurtz  in  den  tagen  des  arssrumuss  do  die  schwein 

95  lige  bey  Frissen  im  loch  do  Hans  schwynfuss  in  die  Hosen  schiss 
lassen  aussgon  in  der  nachuolgender  weise. 

Dise  practica  wärt  geteilt  in  xxv.  Capittel. 

%  Das  erst  Capittel  von  den  Herren  dis  jares.     Der  Herren 

dis  jares  werden  mancherley,  ye  einer  würt  sich  vnd'ston  zu  über- 

so  hebe  über  den  andern,  die  stfll  vfif  die  benck,  die  magt  vnder  den 

knecht,  d'  man  für  die  thür,  d*  pfafif  vfif  die  fraw,  die  katz  über 

die  mauss  vnd  allweg  würt  der  gewaltiger  de  mindern  gebiete. 

Das  ander  Capittel  von  den  fürsten. 

Die  Fürsten  solle  sich  hüte  dis  jar  vor  grosser  kräckheit  so 
35  bleibe  sie  gesunt  vfi  wolmüged  dan  wo  sie  dz  nit  theten,   ist  zu 
besorge  wo  die  kranckheit  überhant  nem,  es  würd  etliche  zuschwer 
vnd  sie  erwürgen. 

14» 


204  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter*. 

Das  drit  Capittel  von  den  epten  ?n  prelatö. 

fl  Die  Ept  vnd  Prälaten  werden  diss  jar  grosse  geselschafft 
ynd  hilff  haben  von  dem  Adel,  die  vass  zfi  lere,  aber  kleine 
schirm  wid'  ihre  veinde.  Auch  werden  sie  irß  mQnchß  vil  ver- 
biete dz  sie  selbs  nit  halte  werde.  ^ 

%  Das  .iiij.  capitel  vö  kräckheit  des  gemeine  volcks. 

Das  gemein  voick,  Wan  sie  zöuil  Saure  milch  Pflaume  od'  der 
gleiche  essen,  vn  die  scheissen  dar  vö  flberkumme,  iss  zu  be- 
sorgen trincken  sie  wasser  es  geschwell  yn  der  bauch  vnd  fallen 
in  gross  krankheit  vorauss  so  sie  ein  vngelerten  artzet  haben.        ^^ 

Das  .V.  Capittel  von  den  fruchte  dis  jares. 

^  Weitzen,  vesen,  rogken,  haber,  gersten,  vnd  alles  das  der 
halm  tregt,  würt  heür  vff  herten  velsen  geringe  wachsung  habe, 
Aber  in  starcken  veldern  wo  die  wol  gebuwe  seind  vnd  gott  sein 
gnad  gibt,  würt  überflüssig  genug  aller  frucht  vnd  nit  in  eim  is 
kauff  bleiben  sunder  vff  vnd  ab  steige  als  d'  knecht  vff  die  magt, 
also  werde  auch  alle  and*e  ding  zu  glück  ston. 

Das  .vj.  Capittel  von  Wein  vnd  Bier. 

S  Wyn  würt  dis  jars  geringe  wachsung  haben  ym  Schwarlz- 
wald,  doch  sunst  an  andern  orte  würt  ein  g&te  notdurft  werde,  » 
vn  vast  gut  vn  lustig  zu  trincken,  er  würt  auch  manche  ein  irrig 
lebe  mache,  vn  die  trusen  vnde  vnd  oben  auss  treibe,  auch  würt 
er  sunst  vil  vffrur  vn  rumor  machen  vnd  mit  manchem  die  Stege 
ab  fallen.  Darzu  würt  er  grosse  hitz  vn  böse  kleyder  machen, 
auch  ein  lere  seckel  besund'  so  würfifel  vn  karte  mit  lauffen.  ss 
Aber  das  Bier  würt  vast  gfit  wer[a  ij]  den  wann  man  des  wassers 
nit  zuuil  darin  tbät. 

Das  .vij.  capittel  von  dem  Steinobs. 

%  Kirschen,  nesplen,  pflume  vnd  der  gleich  werden  heür 
wol  gerate  am  obernmarck  zä  Costentz.  vn  zu  Augspurg  vff  de  so 
Berlach,  vn  über  nacht  wid*  wachsen.  Doch  wirt  das  gemein 
volck  den  reisenden  stein  vast  do  von  überkumme,  dan  binde  auss 
werden  sie  vnzallich  stein  werffen.  vn  wo  er  dan  also  überhand 
neme  würd,  ist  zu  besorge  man  werd  etlich  frawen  lebendig  grabe 
als  wol  zu  glaube.  3s 

Das  viij.  Cappitel  von  Retich,  ruhe,  zwibel  vnd  Knoblauch  etc. 

9  Dis  alles  würt  dis  iar  wol  gerate  zfi  Strassburg  an  dem 
Fischmarck  vnd  auch  au  dem   fronhoff  vnd   vmb  ein   zimlichen 
Pfenning,   doch  sol   niemant  derselbe  zuuil  essen,  dan  es  macht 
huste  vnde  vn  obe  vn  wer  das  isset  von  de  fliehe  die  meitlin  yn  4o 
zii  küssen. 


Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'.  205 

Das  neQnd  Capittel  von  Metallen. 

9  Silber  würt  dies   iar  mer  gelten  dan   zin,  vnd    das  golt 

wQrt  mer  gelte  dan  das  bley,  Aber  Stabel  vn  eysen  wärt  man 

vil  z&  Helmbarten  vnd  harnasch  brauchen,  Auch  wärt  das  kupffer 

5  werd  ynd  tefir,   das  macht  dz  man   es  yetz  gar  vil  z&  d*  münlz 

ist  brauche. 

Das  .X.  Capittel  von  rytem  vn  edelleOten. 

Ryter  edel  leQt,  werde  dis  jar  gross  glück  habe  z&  jagen  vff  de 
Bodesee  Ir  etlich  werde  vil   gefleh  vahen.   sie  werde  auch  vast 
10  steche  vö  humiere,  sie  werde  sich  auch  halte  das  yn  kein  würt 
nichts  schuldig  bleibt. 

Das  .xi.  Capittel  von  den  Studenten. 

^  Studente  vn  meyster  d'  vnwissende  kunst  werden  docli 
also  lebe  dz  ir  borger  mer  angstiger  sein  wie  sie  bezalt  werde, 
15  dan  sie  wie  sie  das  bezalen.  du  magst  auch  wol  sicher  die  kunst 
bind*  sie  verberge,  daß  ir  keiner  ist  so  gelustig  das  er  such  was 
in  ir  steck,  sie  werden  dis  jar  gfit  wesen  habe  mit  frawe,  wan 
der  wein  wflrt  wolfeil  aber  ir  etlich  werde  grosse  mangel  haben 
an  dem  gelt  das  alle  falsche  lieb  beschleösst. 

90  Das  .xij.  Capittel  vö  singern,  bälern,  malern  pfeifiTem, 

spilleflte,  goldschmid. 

9  Singer,  bfiler,  pfeiffer,  spilleQt,  maier  etc.  werden  dis  jar 
gross  glQck  habe  gege  den  frawe,  an  d*  syte  do  der  seckel  hanget. 
Sie  werde  sich  selb  im  argwon  haben  die  sach  sey  schlecht  Dar 
95  nach  werde  sie  des  selben  an  de  wein  auskumme.  doch  sollen 
sie  sich  hflten  vor  sant  Vrbäs  plag,  wan  sie  würt  vast  by  jn 
regire. 

Das  .xiij.  Capittel  von  den  geistlichen. 

9  Pfaffen  werden  dis  jar  nit  geytig,  sund'  voll  vnd  begnügig 

so  sein,   auch  fleissig  zfi  kirche  geen  wafi  die   presentz  g&t  ist,  Ir 

etlich  werde  gross  vMange  habe  nach  dem  winter,   also  das  sie 

sant  Martins  tag  gern  zä  Pfingste  sehe  so  sie  zinss  vn  gült  ent- 

pfahe.     Sie  werden  ire  vnderthon  vast  lieb  habe  vorab  die  junge. 

Das  .xiiij.  Capittel  von  den  München. 

95  ^  Die  münch  werde  dis  jar  vil  kess  samle,  waö  das  futer 

ist  wol  gerate,  das  würt  sie  fast  steche  vn  gusel  mache,  vorauss 
die  noch  schopff  vfi  schwantz  haben.  Auch  werde  die  Closter- 
flrewlin  sie  etwan  heimsuche  vn  begere  das  sie  yne  die  vogel- 
sucht  büssen. 

40  Das  .XV.  capittel  von  frawen  vnd  junckfrawe. 

9  Frawe  vfi  junckfrawe  werde  dis  jar  kurtz  gedenck  habe 
der  man  halb,  etlich  zfi  dreye  mer  dan  z&  zweie  auch  werde  ir 


206  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter*. 

etlich  in  grossem  arckwon  sein,  vnd  für  junckfrawe  geacht,  den 
vnrecht  beschicht,  doch  werde  [a  lij]  sie  es  gedultiglich  leiden  vnd 
es  lassen  in  gon. 

Das  .xvi.  capittel  vO  etliche  krankheite  d*  frawe. 

^  Vff  den  früling  vn  in  dem  meyen  so  sich  das  geblät  er-  5 
hebt  vn  ernüwert    in    de    mensche,  werde   etliche   frawe  kretzig 
zwüsche  den  beine,  darfür  solle  jne  die  man  wol  schrepfiTen  vnd* 
de  nabel,  Ob  es  nit  hülffe  so  salb  sie  wol  zwische  de  haubt  vnd 
grossen  zehen  mit  eine  vngespalten  reiff  od*  eine  eiche  federwisch. 

Das  .xvij.  capittel  von  den  alten  mannen.  ^q 

9  Die  alte  man  werde  dis  jar  grosse  anfechtung  haben  vmb 
das  hertz  gege  den  frawe,  aber  kleinen  schaden  thSn,  wan  ir 
gesell  würt  yn  das  nit  gestaten. 

Das  .xviij.  capittel  von  dem  gemeinen  volck. 

9  Das  gemein  volck,  als  schuster,  Schneider,  hotten  kürss-  15 
ner  etc.  werden  dis  jar  vast  liegen  vnd  das  th&n  von  irer  narüng 
wege  vn  vm  gewins  wille.     Es  wirt  aber  niemant  so  nerisch  sein, 
er  gewin  lieber  dan  dz  er  verlüre.     Mangel  des  gelts  wirt  dis  jar 
vii  keüff  hindern,  vn  dz  gelt  wurt  vngleich  aussgeteilt  werde. 

Das  .xix.  capittel  von  de  gemeine  volck  etlicher  land,  20 

als  Vngern,   hole,  meissen,   türinge  francke  Sachsen, 
wirtemberger,  beyer,  Schwaben. 

^  Die  Vngern  vn  holen  werden  dis  jar  vil  veindscbafft  habe, 
wan  d'  grossen  leüs  werde  vil.  Meichssner,  Türinger  vnd  Saxen 
werde  klein  trinck  ser  verschmehen  vnd  wenig  Butter  od*  hier  ver-  25 
meide.  Wirtenberger  werde  oft  das  gicht  flftchen,  Wirtzburger  das 
gemein  volck  werde  dis  jar  nit  so  vil  vffzfihebe  haben  als  die 
thumherren.  Beier  vnd  Schwaben  werden  lieör  wol  bestan,  vorauss 
in  der  fasten  daö  sie  haben  vil  hutzelbiren  gemacht,  auch  seind 
yn  die  schieben  wol  gerate,  darauss  werde  sie  gäts  tranck  mache.  30 

Das  .XX.  capittel  von  Nürnbergern  Augspurgern  Vlmern 
vfi  Gonstentz.  was  sie  werde  habe. 

^,  Nürnberger  werden  dis  jar  vil  vngleicher  keüffe  haben,  wan 
ein  Zentner  wachs  wirt  heür  mer  gelten  dan  ein  zentner  wagen- 
Schmer.  Augspurger  Vlmer  werde  dis  jar  vil  geselschaft  habe,  35 
aber  sant  Vrbas  plag  wirt  dis  jar  vast  by  jn  regire.  Costentz 
wirt  dis  jar  grosse  anfechtung  haben  der  Meüss  vn  ratze  halb 
wafi  es  wirt  ir  gar  vil  bey  ynen  wonen.  zu  Speyer  viKirt  ein  gross 
feür  gesehe  werden  vm  vesper  zeit  bey  de  napff  vor  de  münster 
in  den  wyhenacht  fyertage.  40 

Das  .xxi.  capittel  von  den  Eidgenossen. 

Die  Eidgenossen  werden  dis  jar  vil  gelts  lösen  ist  es  das  sie 
vil  kess  vnd  rinder  haben  zS  verkauiTen. 


Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  6ro8smutter\  207 

Das  .xxij.  capittel  von  einer  grossen  verkerung  des  gemeine  volcks 

nach  vnser  frawe  liechtmess. 

9  Nach  liechtmess  wirt  ein  grosser  vfflauff  vnder  de  ge- 
meinen folck  vh  werden  die  narren  wolfeil.  Darnach  im  apprillen 
5  am  nechsten  tag  nach  dem  karfrytag  wirt  ein  gross  blfituergiessen 
vnd  es  werden  vil  würst  vnd  kuttel  vff  der  walstatt  bleiben.  Die 
hund  werden  ser  erschrecken  am  freytag  nach  Ostern,  desshalb 
sie  meinen  das  die  fast  wider  sey  kummen. 

Das  .xxiij.  capittel  von  mangel  etlicher  mensche. 

10  ^[  Es  wirt  grosser  brüst  werden  d'  Priester,  also  das  einer 

drey  oder  vier  vnnd  mer  pfrQnden  haben  wirt.  Des  adels  wirt 
auch  gebrechen  vnd  der  reiche,  wan  die  Bauren  werde  vnd^ston 
edel  zu  werden,  vn  d^  armen  wirt  vil  mer  dan  der  reichen. 
Darzu  wirt  auch  mangel  an  Jude  dan  die  cliriste  werden  vnd'ston 

15  z&  wuchern.  Die  frawen  werde  auch  das  ausslauffen  gewinnen 
das  sie  nit  bey  ire  eige  manne  müge  bleibe. 

Das  .xxiiij.  capittel  von  etlicher  fyntschafft. 

9  Gross  feintschafft  würt  dis  jar  vnd*  den  leie  vn .  geleiten, 
vnd'  den  edle  vn  baure,  vnd'  den  frumme  vnd  vnfrumme.  Dan 
20  ye  einer  begert  des  andern  gät  zfi  haben,  welche  alle  vnder  ynen 
erst  verfient  werde,  so  eyner  ein  bad'  findet  d'  nye  schwitzte. 
Ein  rossdeüscher  d'  nye  log,  od'  ein  koler  der  nye  schwartz  ward 
od'  zwen  berg  findet  on  thal,  dan  so  würt  fryd  überal. 

Das  .XXV.  capittel  vnd  beschluss  aller  diser  red. 

35  9  Die  tag  werden  etliche  vil  kürtzer  duncken  dan  die  nacht, 

vn  herwiderum  die  tag  löner  würt  dis  jar  der  arbeit  verdriessen, 
besser  würt  gelt  entpfahen  wed'  geben,  besser  ist  reite  dan  z&- 
fuss  gon,  wer  nit  wein  hat  d'  sol  das  wasser  nit  verachte.  Die 
weiber  werde  so  lang  fride  halte,  die  weil  sie  nit  anfahe  hadern, 

30  vil  werde  sich  dis  jar  lieber  an  das  beth  lege  zu  nacht,  dan  am 
morge  vff  ston.  Schwartze  küw  werde  weiss  milch  geben,  das 
thfit  ein  roter  münch  nit.  Es  würt  auch  niemant  ersticken  vff 
dem  rheyn  so  er  befroren  ist.  Vnd  es  würt  auch  niemant  er- 
friere in  einer  heissen  badstuben.     Reich  vnd  arm  werde  gleich 

35  sterbe,  Ich  het  vch  noch  vil  zäsagen,  so  hat  mich  Pyctagoras 
heissen  still  schweigen. 

Dis  practik  hat  alhie  ein  end,  Gott  vns  all  vnser  vnseld  wend. 
Gegen    disem    künftigen  nüwen   jar,  Ich  hoff   zu  gott  es  werd 

„  ^^  ''"•  AMEN. 

40 

2. 

Die  Tractica  Rossschwanz'  ist  fünfzig  Jahre  später  in 
einem  schweizerischen  Fastnachtspiele  theilweise  verwendet 


208  Baeobtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'. 

worden,  in  dem  Stück  ^von  Astrologie  und  Wahrsagen^ 
mit  dem  Nebentitel :  'Bracdica  von  seltzamen  gschichten  die 
jars,  Calculiert  durch  Doctor  Rossschwantz  von  langen  leder- 
bach',  1560  zu  Freiburg  in  der  Schweiz  aufgeführt.  (Vgl. 
meine  Gesch.  d.  d.  Lit.  in  d.  Schweiz  S.  335  f.  u.  Anm.  S.  87.) 
Der  Abschnitt  'von  Früchten  und  Theure'  V.  502  ff.  setzt 
Kap.  5  und  6  der  oben  abgedruckten  Practica  Rossschwanz 
voraus,  V.  525  ff.  'von  Theure  des  Metalls'  Kap.  9,  V.  542  ff. 
'von  Krieg  und  Feindschaft'  Kap.  24,  V.  566  ff.  'von  etlichen 
Ländern  insonderheit'  die  Kap.  19,  20,  21,  25,  V.  602  ff. 
'von  Wundergeschichten'  Kap.  22,  theilweise  20  und  25.  Die 
y.  109  ff.  entsprechen  der  prosaischen  Einleitung.  Die  Hand- 
schrift, der  auch  das  bekannte  Spiel  'vom  klugen  Knecht' 
beigebunden  ist  (a.  a.  0.  S.  210)  befindet  sich  auf  der  Bürger- 
bibliothek in  Luzern  Nr.  182  und  wird  erwähnt  in  Mones 
Schauspielen  des  Mittelalters  2,  422  und  A.  v.  Kellers  Fast- 
nachtspielen 3,  1372  f.  Die  Rollen  des  Doctors,  des  Edel- 
manns, des  Alten,  des  jungen  Gesellen ,  des  alten  Weibes, 
des  ersten  und  zweiten  Bauern  sind  noch  jede  besonders 
ausgeschrieben.  Es  folgt  hier  ein  genauer  Abdruck  des 
interessanten  Fastnachtspiels.  Die  Interpunction  einzig, 
sowie  einige  Erklärungen  sind  Znthaten  des  Herausgebers. 

Fassnachtspil  von  Astroiogy  |  vnd  Warsage  .1560. 
Z&  Fryburg  In  Uchtland  |  gehalltte. 
[Bl.  8^]     15.  person.  630^)  vers 

4    p-     n    A         I  1***^  •7«  sprich 

1.  Em  Doctor     j  ^^  .273.  verss 

Hans  Wicht 

2.  Doctors  Diener    ]  ^^^^  ^q  ^^^""^ 
Wilhelm  vö  Praroman 

o    r-     i?j  1        Qx    i  H*^'  ®'ß  Spruch 

3.  Em  Edelman«)    j  ^^  ^^  J^ 

.    „.      i.  I  Halt  zwen  sprich 

4.  Em  alter  man     J  ^j    q    „^^« 

(  vnd  .8.  vers 

my  Herr  schfilmeyster 


')  ursprünglich:   720  Vers^  d4e  Zahl  ist  aber  in  der  Es.  gestrithm, 
*)  Als  Ifihaber  der  Boüe  ist  Fetter  Heydt  angegeben,  vndess  wieder 
gestrichen.    Äüe  Spielenden  sind  FreHmrger  Bürger, 


Baechtold,  Quellen  zu  *Aller  Praktik  Grossmutter'.  209 

„.     .  ,,  i  Halt  zwen  sprich 

0.  Em  junger  gesell  j  ^^^  g^  ^^^s 

„.      ,  ^  l  Halt  ein  spruch 

6.  Em  alt  weyb         j  ^^^    jg    ^^^s 

Niclaus  sefflinger 

„.     ,       ,  l  Halt  drey  sprich 

7.  Em  Jungfraw        |  ^„^  gg  y^^g 

Lux  schöffily 

^    ^.     ,   ,   i  Halt  zwen  sprüch 

8.  Em  Jod   I  ^j  2ß  ^^^g 

Wilhelm  KrOm^oll 

«    X..     r,  I      ..  \  Hatt  drey  sprich 

9.  Em  Schweitzer      j  ^^^    ^^    ^^^^ 

Hans  V6gilly 

«.     .     ,  .       1 .     i  halt  drey  sprich 

10.  Em  landsknecht     j  ^^^  ^q  ^^j.^ 

Hfidolfif  L6uwestey 

..    _.     ,  ^  I  tatt  .4.  sprich 

11.  Em  krömer       |  ^^^  33  ^^^^ 

Jacob  schnewly 

-«    «   .  1  i  Halt  .4.  sprich 

12.  Erst  bawr    |  ^^^    g^    ^^^^ 

Niclaus  Biderma 

^      ,         \  hatt  .2.  sprich 

13.  ander  bawr  j  ^^^  g^  ^^^^ 

Petler  L6uw 

i£     Frcf    narr         ^    ^^^^    ^    ^P"^*^ 

14.  Erst  narr      j  ^^j  34  ^^^z^ 
Daniel  vö  Mötenache 

.^     .    ,  \  hatt  4  sprich 

15.  Ander  narr  j  ^^j  35  ^^g 

Ludwig  vö  Affry 
Suma  630  vers^) 


•)  sUUt  8  stand  erst  109  ufui  «to^e  34  erst  10,  dann  74.     Diu* 
Zahlen  wieder  gestridien, 

*)  wrgprün^ich:  720  yers,  ge^richen  wie  oben. 


210  Baechtold,  Qaellen  zu  *  Aller  Praktik  Qrossmatter*. 

[Bl.  9*]  Bracdica  von  seltzamen  gschichten  |  dis  jarsi, 
Galculiert  durch  Doctor  |  Hossschwantz  von  langen 
lederbach  |  da  selbst   jn    solcher    gestalt   der  |  gmeind 

fOrghalten  wie  volgt. 

Der  erst  narr  spricht  zum  andern. 

los,  lieber,  los,  ich  ghortt  ein  sag, 
gestern  da  ich  im  rossstall  lag, 
von  einem  wunder  gschickten  man, 
des  gleichen  niemand  finden  khan! 
&      ist  das  nitt  ein  wunder  sach? 
er  khan  beschweren  gens  im  bach. 
sie  sagten,  das  er  Doctor  wer, 
vom  rossschwantz  khom  sein  stame  her. 

2.  narr. 

das  dreckh  loch  vnderm  rossschwantz  statt, 
10     darinn  iss  eytel  dreckh  vnd  khatt, 

iss  vssen  dreck  vnd  innen  voll! 

du  machst  mich  mitt  deira  doctor  tholl. 

lieber,  sag,  wa  hast  das  kheert, 

das  rossdreckh  ettwas  khonst  hab  glertt? 
1»     er  ist  ein  narr  gleich  wie  du  auch, 

schweig  still,  du  klapperst  wie  ein  gauch! 

Der  erst  bawr  ziüm  andern  narren. 

vngott,  vngott,  sag,  was  du  witt, 

mitt  deym  gschrey  yberredst  mich  nitt! 

der  doctor  ist  ein  gschickter  man: 

wens  regnett,  khan  er  zeigen  an; 

dameben  sagt  er  vns  gar  frey, 

wan  es  gfttt  rieben  sehen  sey 

vnd  auch,  wens  äckhritt  gratten  werd. 

Der  ander  bawr. 

Riede,  bey  goll,  er  radt  vngferd! 
25     glaubs  nitt,  hast  nie  das  gsehn? 

wens  regnen  solt,  so  ward  es  sehen. 

meinst,  wen  der  himel  wasser  schwitz. 

Das  es  miess  sein  nachs  doctors  witz? 

lieber,  schweig,  du  machst  mich  zlachen; 
30     bey  goll,  ich  glaub,  du  seyst  nitt  bachen. 


20 


10  Die  Form  iss  für  ist  häufig,  i3  kheert  =  gehört.  22  wann 
es  günstig  sei,  Rüben  zu  säen.  23  eckritt  =  mhd.  ackeran,  Frucht 
der  Eiche  und  Buche,  Viehniast.  24  Rudi:  bey  goll,  euphemistisch 

für:  bei  Qatt.       so  bachen,  vgl.  DWB.  1, 1065  unten. 


Baechtold,  Quellen  zu  *Aller  Praktik  Grossmutter'.  21 1 

Der  erst  bawr. 
du  hast  ein  selzam  dipel  hirn, 
denckst  nitt,  er  khan  das  anss  dem  gstiru. 
er  weist,  wennd  sonnen  nider  gatt 
vnd  weist  auch,  wen  der  nion  auff  statt; 
3f*     darauss  so  mag  er  rechnen  gschwind, 
obs  regen,  schnee  geh,  oder  wind. 

[Bl.  9**]  Doctors  knecht  zöm  volg. 

schawt  z8,  ir  herren,  all  gemein, 

was  seltzam  leldt  auff  erden  sein! 

die  bawren  wend  sich  vnder  stan, 
40     das  mancher  glerter  man  nitt  khan; 

der  narr  khompt  mitt  seim  kolben  her, 

vermeint  ziigeben  auch  ein  1er; 

giert  menner  durch  sy  wernd  ?eracht, 

durch  das  wernd  vil  in  angsten  bracht. 
45     doch  hatt  mein  Doctor  den  verstand, 

hofft  ehr  zeerlangen  vnd  nitt  schand; 

sein  khonst  will  er  euch  zeigen  an, 

wen  schon  vil  bawren  vm  in  stan, 

darzS  noch  ander  narren  mer, 
!»o     die  wend  verachten  solche  1er, 

da  von  sy  nie  nichts  hond  gehert, 

vnW  gschweygen,  das  sis  betten  giert. 

darumb  sag  ich  das  ieder  man: 

der  bawr  nem  sich  des  ackhers  an, 
&5     der  narr  l8g,  wa  sein  schellen  sey. 

das  also  sein  der  gschlechter  drey: 

ein  narr  vnd  auch  ein  glerter  man, 

ein  bawr,  der  das  feld  bawen  khan; 

der  groben  bawren  gsehnd  ir  fil, 
60     die  nare  sind  auch  hie  im  spil. 

darumb  will  ich  ietz  hier  fieren 

ein  man,  ders  dritt  gschlecht  thie  probieren, 

der  ist  ein  Doctor  wol  geleert: 

die  voll  zoufft  wirdt  dur  in  gemeert, 
65      ein  gschwinder  köpf,  sag  ich  für  war, 

Seins  gleich  was  nitt  in  hundert  jar; 

all  kranckheitt  heilt  er  gleich  von  handt, 

die  vogel  sucht  ist  im  bekhandt, 

der  drunckhen  siechtag  vnd  noch  vil, 
70     das  er  euch  selber  sagen  wil. 

lost  ietz  mitt  ernst  vnd  gantzem  vleyss, 

wa  hin  meins  Doctor  red  euch  weys! 

38  leidt  =  Leute.       6i  hieher  führen.       69  thie  =  thue.       64  die 
volle  Zunft. 


212  Baechiold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'. 

Der  krömer. 

lieber,  fier  vns  den  Doctor  hari 
damitt  er  gsech  mein  kromer  war! 
75      ich  han  gfltt  senff  in  zweyrley  gstalt, 
wurmsamen  auch  für  jung  vnd  alt. 

Der  narr. 

Dein  senff  mecht  ich  versfichen  wol, 
lieber,  streich  mir  mein  kolben  vol, 
damitt  ich  in  versächen  khen. 
uimpt  eiD  senff  fessien*)  vnd  laufft  den  schütten  ab. 


80 


Der  krömer  schreytt. 

heb  still,  du  must  mirn  nitt  gar  nehn. 

vnd  laufft  dem  narren  nach,  feldt  mitt  dem  krom 
vnd  verbricht  sein  gleser. 

[Bl.  20* «)]  Der  narr  zum  volg. 

Das  khan  ein  gfitter  sawr  senff  sein, 
seh  hin,  versöch  den  kolben  mein! 
streichts  einem  ins  maul. 

Der  krömer. 

Ich  bin  doch  ietz  ein  armer  man, 
khein  glas,  khein  senff  ich  gar  nitt  han; 
85     hatt  mich  der  ritt  zum  narren  dreytt? 
wie  bös  hab  ich  mein  zeitt  an  gleytt! 

Der  Doctor  spricht. 

Hie  khompt  der  man,  als  mir  ist  gsagt, 
den  bawr  vnd  narren  hond  verklagt, 
darumb  lost  ietz,  ir  herren  mein, 

90     merckt  auff,  das  seind  die  khinste  mein, 
von  den  man  glesen  hatt  vil  mer 
im  Eylenspiegel  hin  vnd  her, 
bey  Kallemberg  vnd  dem  Schmossman, 
von  den  lert  ich  mein  khonst  verstau, 

95     die  hond  mich  also  gschwind  verkhert, 
bis  ich  so  dieff  ind  gschrifft  han  giert, 
das  ich  durchs  gstirn  ein  grund  ietz  han, 
vries  iedem  durch  das  jar  werd  gan. 
das  narren  schiff,  der  rollwag  ouch 

100      mfich  mich  zu  meiner  khonst  so  gouch, 


•)  Senff&sslein.        •)  so  statt  10». 

90  meine  Künste.        loo  müch  =:  machte. 


Baechto]d,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'.  213 

in  den  man  fand  eins  ieden  ardt, 

warzfi  der  mensch  gnatürett  ward; 

doch  ist  der  aller  Bracdic  auss, 

darumb  hab  ich  bas  glugt  ind  krauss, 
105     hab  sy  offt  gleert,  mitt  khonst  mich  gfilt, 

das  mir  fürwar  ein  gross  gfitt  gilt, 

dan  drey  wordt  macht  ein  kibei  vol, 

begibt  sich  offt,  friss  du  dich  vol. 

Doctor  Rossschwantz  bin  ich  genandt 
HO     von  langen  lederbach,  weydt  bekhandt, 

leerer  der  khanu,  des  glas  vnd  krauss, 

mein  sin  ist  leben  in  dem  bauss. 

on  arbeytt  ich  mein  khonst  nitt  fand, 

do  man  die  settel  henckt  an  dwand, 
^'^     auss  gschwinder  art  han  ich  sy  gleert, 

da  dfeder  den  ross  mist  ymb  kheert. 

mein  schäl  oder  peruersitett 

ist  Schlampamp,  da  ich  als  verthett. 

jn  suma  ich  dahin  bin  khon, 
1^     das  ich  auss  meir  khonst  han  vernhon, 

durch  hinderlaufT  des  mars  iss  drauss, 

was  gschehen  soll  dis  jar  durauss 

eim  ieden  land  vnd  auch  person, 

wies  in  alwegen  werde  gon, 
[Bl.  20**]     von  krieg,  sterbett  vnd  mer  vnfal, 

jn  suma  alles  yberal, 

was  sich  z8  tragen  werd  noch  me, 

es  sey  mitt  regen,  wind  vnd  sehne; 

das  will  ich  mich  ietz  vnderstan 
130     euch  allen  gmeinlich  zeigen  an. 

mich  hindert  nitt,  das  vil  hie  send, 

die  solche  khonst  verachten  wend, 

dan  khonst  verachtett  allein  der  man, 

der  ir  nitt  würdig  vnd  sy  nitt  khan. 
135     wer  meine  wordt  nitt  khan  verston, 

der  soll  zu  meine  haussgsind  khon, 

der  findt  da  vihb  sein  geht  zu  khauffe 

in  gschrifiPt,  was  sich  hewr  werd  verlauffen; 

oder  bist  du  hie,  redsl  selbs  mitt  mir, 
140     so  gib  ich  gleich  ein  antwordt  dir. 

Der  krömer. 

khein  man  soll  nit  verzagen  gar. 
schaw  zu,  mein  glückh  khumpt  also  bar! 
der  narr  bracht  mich  vm  all  mein  gfitt, 
her  Doctor,  nempt  mein  red  fürgftttl 
14&     auif  hewtt  do  plagt  mich  frie  der  ritt, 


214  Baechtoldy  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter*. 

das  ich  mein  krom  han  gantz  rerschitl, 

was  nitt  verbrach,  das  gilt  nitt  mer, 

ach,  das  ich  nie  geboren  wer! 

ein  wenig  gelt  ich  noch  da  han, 
ISO     das  muss  mir  helffen  auff  die  ban, 

allein,  her  Doctor,  ich  das  bitt 

vnd  das  ir  mirs  versagen  nitt: 

die  bracdic,  von  der  ewr  red  ietz  war, 

verkhaufifend  mir,  das  gelt  ist  bar, 
1S5      mitt  der  ich  mein  nutz  suchen  will, 

wirdt  gwisslich  darauss  lesen  vil. 

Doctor. 

se  hin,  mein  gsell,  die  schenkh  ich  dir, 
verkhaufTst  dus  all,  khum  mer  zu  mir! 
khauff  senff  vnd  gleser  vm  dein  gelt, 
160      reich  bracdic  mer,  wen  es  dir  gfelt! 

Der  krömer. 

Her  Doctor,  ietzund  bin  ich  reich. 
Das  glückh  will  mir,  o  glückh,  nitt  weich ! 
ich  weis  noch  gleser  zimlich  gnug 
vnd  senff,  dar  z&  ein  essig  krug. 
*6*      mir  brist  nichts  mer; 
nur  khaufTleidt  her! 

hie  sies  vnd  sawrsenlT,  auch  wurmsame, 
Bracdic  vnd  essig  hab  ich  zusamen! 

Narr  spottet  des  krömers. 

[Bl.  21*]      Hie  ist  khein  witz  vnd  narren  spil; 
170     herbey,  wer  mitt  mir  gaucklen  will! 

2.  narr  zum  krOmer. 
los  mein,  gib  mir  vom  siessen  senf  darein! 

vers&cht  in  vnd  spricht. 

Der  senff  ist  gutt,  doch  gar  fast  sies, 

macht  schier,  das  ich  ein  biss  ind  hosen  lies; 

gib  mir  vom  sawren  auch  ein  biss! 

Der  krömer  gibt  im,  do  sagt  der  narr. 

17&      pfuch,  pfuch,  schmeckt  grad,  als  ob  ich  ind  hos€  schiss! 
streichts  dan  eim  andern  ins  maul. 

Ein  alt  weyb  auff  dem  schütten. 

Ach,  wol  recht  khom  ich  zu  dem  man, 
da  mitt  ich  seins  radts  pflegen  khan, 

160  reich  s=  hole. 


Baechtold,  Quellen  zu  *  Aller  Praktik  Grossmutter*.  2.15 

weiss  nitt,  wie  mich  der  vnfali  reidt 

ietzunder  so  ein  lange  zeitt: 
ISO     es  sind  vergangen  dreyssig  jar, 

das  ich  ein  wittfraw  bin  für  war, 

an  gutt  vnd  gelt  brist  mir  gar  nitt, 

im  betth  hatt  es  alweg  den  ritt, 

jch  bin,  ach  gott,  fast  alt  vnd  bledt, 
185      derft  eins  mans,  der  mich  werraß  dedt; 

ja  kheiner  khompt,  der  mein  beger, 

ach,  das  ich  zweintzg  jar  junger  wer! 

darum  ist  das  ietz  mein  begir, 

das  ir,  her  Doctor,  rathen  mir, 
iw     wies  doch  mitt  mir  das  jar  werd  gan, 

dan  ich  stirb  nitt  gern  on  ein  man. 

Nar. 

was  seist  du,  alte  zehe  hawtt! 
dein  nasen  dreöfft  dir  in  das  krawt, 
thust  nichts  dan  husten  vnd  furtzen, 
195      wilt  bfilen,  must  dich  bas  verbutzen. 

Jungfraw. 

lug  einer,  was  das  alt  weih  thutt! 

ich  hab  noch  frisches  junges  blutt 

vnd  lig  ietz  manche  nacht  allein, 

khem  ein  gutt  gsell,  er  miest  mein  sein; 
300     ich  hab  schier  tag  vnd  nacht  khein  rw, 

thus  pfenster  auff  vnd  wider  zu, 

aufif  manchen  gsellen  hab  ich  acht, 

wünsch  in  zu  mir  die  selbe  nacht; 

doch  will  es  als  khein  reymen  han. 
»5      mich  wundert  wies  mir  hewr  werd  ghan; 

her  Doctor,  gend  mir  eine  radt, 

mein  sach  ietz  auft  dem  nottknopf  Stadt ! 

[Bl.  21^]  Der  alt  man  mitt  einer  deschen  auff  dem 

ruckh  voU  zalpfennig. 

wie  wol  ich  bin  ein  alter  greiss, 
dannocht  such  ich  mitt  gantzem  vleiss 
210     die  jungen  frewlen  schön  vnd  zart. 

gantz  nitt  gedenckh  meines  grawen  bardt. 
ein  halbe  wastei,  zwo  mass  win. 


id5  verbutzen  =  vermummen.        208  Bekannter  Liedanfang.    Im 
Drama  des  16.  Jhs.  oft  parodirt.        312  wastei  =  bastel,  DWB.  1, 1151. 


216  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'. 

vorab  doch  solche  frewelin 

bringt  mir  ein  grosse  freid  im  hertz. 

Jungfraw. 

315      doch  feit  die  sach,  wens  gatt  an  schertz. 
darum,  mein  lieber  Eeren  man, 
mitt  euch  darff  ich  nichts  vnderstan, 
dan  ich  ghortt  offt  der  alten  klag, 
das  Jungs  bey  in  nitt  gsieden  mag. 

no     iedoch  gsich  ich  euch  da  fQr  an, 

das  ir  mich  sonst  werdt  gantz  lieb  han. 
gelt,  ir  hond  mich  lieb? 

vmbfacht  in  vnd  greifft  in  deschen. 

Der  alt  man. 
Die  liebe  stilk  vns  gwiss  khein  dieb. 

Der  jung  gsell. 

Hurtig,  ich  bin  ein  junger  hach, 
2SS     mitt  hipschen  frewlen  wag  ich. die  sach; 
ein  lang  zeitt  ich  ietz  trawrig  war, 
gross  freyd  hoff  ich  auffs  khinfftig  jar. 
her  Doctor,  wist  ir  nichts  dar  von, 
ob  mein  freid  werd  ein  firgang  hon? 
830     mein  ding  ist  nichts,  dan  hurtig  sein, 
mein  lust  z&  hipschen  frewelein. 
ir  priempt  euch  einer  newen  khonst, 
sagt  her,  ob  mein  lust  sey  vm  sonst; 
ich  gsich  ein  frewlen,  die  mein  wardt. 
935      gott  griess  euch,  schöne  jungfraw  zartt, 
last  vns  ein  klein  dentzle  thoni 
mein  hertz,  das  gib  ich  euch  zum  Ion. 

Jungfraw. 

Ach  junger  knab,  meim  hertz  ein  freid, 
bey  euch  vergiss  ich  all  mein  leid! 
S40     ewr  bitt  khan  ich  nitt  schlagen  ab, 
wolt  gott,  das  solchs  gsech  alle  tag! 
vm  euch  furtt  ich  fil  manche  klag, 
ewr  gstalt  lang  in  meim  hertzen  lag. 

Dantz. 

Junggsell. 

Ich  dankh  euch  vm  ewm  dantz  gar  schon, 
3^       bitt  euch,  ir  weltt  mich  nitt  verlon. 


217  euch  fehU  Es.       994  hach  =  Gesell. 


Baechtold,  Quellen  zu  *  Aller  Praktik  Grossmutter'.  217 

[Bl.  22^]       dan  mein  hertz  gegen  euch  entzendt, 

auss  hitz  vnd  liebe  das  selb  brendt; 

allein  das  statt  an  ewerm  will, 

geliept  es  euch,  gend  mir  ein  zil. 
850     was  wend  mir  auflf  den  Doctor  harren? 

er  macht  vns  mitt  im  aucli  zu  narren, 

er  radtetty  das  er  selbs  nitt  thutt, 

wen  das  euch  gliept,  die  sach  ist  gutt. 

Voigt  mir,  das  gstirn  gitt  khein  Verzug, 
355      der  Doctor  dreipt  mitt  dem  betrug. 

.2.  bawr. 

vngott,  ich  derfts  schier  mitt  dir  hon! 

far  du  mitt  deinem  lieb  dar  von! 

der  Doctor  mecht  dir  anders  radten, 

zu  lest  derfl  es  dir  ybler  gradten. 
860      was  ist  der  doctor  für  ein  man, 

so  er  schon  dwirm  vertreyben  khan ! 

mein  gfatter  nimpt  ein  knollen  kreidt, 

jrn  khinden  in  eim  essig  geidt, 

das  ronipt  den  magen  binden  auss, 
265      drey  spennig  wirm  dreipt  sy  in*  drauss. 

was  dariT  man  dan  des  Doctors  vil, 

die  weil  das  gstirn  vns  all  wol  will? 

bawr. 

lug,  lug,  stoss  dhend  nitt  ztieff  in  teig, 
das  man  vns  nitt  den  narren  zeig! 
a7i)     gwiss  werden  sy  vns  anders  bachen. 
das  mir  des  selb  nitt  werden  glachen; 
der  doctor  khan  on  das  noch  vil, 
das  er  ietz  selb  anzeigen  wil. 

narr,  zum  bawren. 

Es  gfelt  mir  wol  die  meinüg  dein, 
875      mein  narr  da  spottet  auch  vor  mein. 

zum  .2.  narren. 

kherst  du,  gauch,  was  man  ist  sagen? 
ich  solt  dir  ietz  dein  grind  zerschlagen, 
wen  du  nitt  werest  narren  gschlecht. 


Nach  y.  256  gibt  die  Hs.  den  gestrichenen  Vers:  ich  radt,  Ifig, 

das  dein  lieb  megst  hon.           26i  Die  Würmer.  27 1  des]  das  Hs, 
876  kherst  du  =  hörst  du. 

Yiertoyahnchrift  fOi  litteratargeschiobte  lU  15 


218  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter*. 

Der  ander  narr. 

Darumb  so  lass  mich  ietz  bey  recht, 
»80      mein  kolb  der  wirdt  dir  sonst  wol  lause, 
wirdt  auch  dein  har  nach  lust  verzausen, 
ich  bin  ein  narr,  du  hast  khein  witz, 
auss  meiner  bruch  nem  dir  ein  bilz! 

narr, 
friss,  was  ich  auss  den  hosen  schwitz! 

Ein  lands  knecht. 

38&     was  ficht  mich  an  das  gauckhel  spil? 
narren  vnd  frawen  acht  ich  nitt  vil, 
ein  frischer  krieg  vnd  khieler  wein 
allein  erfreytt  das  hertze  mein. 
[Bl.  22^1      darumb,  her  doctor,  klag  ich  das, 

290      das  ietz  lang  zeitt  khein  krieg  nitt  was; 
doch  muss  ich  leben  in  dem  bauss, 
meim  seckhel  ist  der  boden  auss. 
man  sagt  mir  weidt  von  ewer  1er, 
darumb  ich  auch  bin  zogen  her, 

295     au(T  das  ich  selbs  von  euch  vernem, 
obs  khinfftig  jar  khein  kriegslüff  khem; 
on  krieg  khan  ichs  nitt  mer  ertragen. 

zSm  Schweitzer. 

mein  bruder  hie  thutt  auch  das  klagen. 

Der  Schweitzer. 

furwar,  das  ist  mein  höchste  klag, 
300     die  ich  mag  han  auft  disen  tag, 

ich  bin  ein  junger  gstandner  man, 

das  ich  nitt  ietz  ein  hauptman  han; 

mein  lust  allein  ist  in  dem  krieg, 

das  man  einander  köpf  zerschlieg; 
305      mein  leib  den  wag  ich  auch  daran, 

drey  man  die  darff  ich  dapfer  pstan; 

on  krieg  versom  ich  nur  mein  zeitt, 

glitt  leben  nichts  dan  wal  holtz  geitt. 
zfim  landsknecht. 

klierst  du,  ich  han  das  nitt  vergessen, 
310     das  bey  dir  selbs  des  bist  vermessen, 

als  ob  ein  Schwab  mein  bruder  wer. 

ich  radt  dir,  red  das  nimer  mer! 


*i8s  bruoch,  Hose.       308  walbolz,  das  Holz  zum  Durchwalken. 


Baechiold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Qrossniutter*.  219 

Der  landsknecht. 

Ein  gsell  ist  doch  des  andern  werdt. 
gfelt  dir  das  nitt,  so  greiff  zum  schwerdt. 

Schweitzer. 

315      Die  weil  dir  sonst  nichts  anders  brist, 
so  wer  dich  mein,  als  starckh  du  bisti 

narr  schreitt:  frid. 

landknecht. 

Das  ist  ietzunder  kriegisch  sitt, 
das  man  ein  ander  vm  Verzeihung  bitt. 
bietten  ein  ander  die  hend. 

Ein  aller  Jud. 

mein  stam  der  khompt  von  Juden  her, 
S30     verworfen  ist  gantz  vnser  1er, 

khein  gwalt  noch  gutt  lalt  man  vns  zfi, 

des  ich  mich  ser  beklagen  thS. 

mein  narung  was  auff  wucher  gleitt, 

die  selb  ist  mir  ietz  auch  verseitt. 
325      vil  Gristen,  die  mich  band  verflucht, 

das  ich  mitt  dem  mein  narung  sucht, 

die  nemend  solchen  wucher  auflf, 

ein  ieder  will  mer  treyben  draufT; 
[Bl.  23*]       finf  krönen  was  vor  hin  mein  gwin, 
330     von  hundert  gond  ietz  zweintzig  hin. 

die  Gristen  nemend  mir  mein  spiess. 

wen  man  in'  nur  auch  das  rengle  liess! 

da  bey  man  auch  erkhennen  mecht 

das  new  aufTgstanden  Juden  gschlecht; 
335     jch  khan  nit  pleiben  bey  meim  stand, 

dieweii  das  khompt  in  cristen  band. 

her  Doctor,  darumb  bin  ich  hie, 

das  ich  von  euch  erfaren  thie, 

wa  doch  mein  glückh  dis  jar  werd  sein, 
340     das  ich  nitt  gar  khom  vm  das  mein. 

Narr. 

gherst  du,  jud,  was  ich  beger? 
zwen  wirfei  gib  mir  hurtig  her, 
wies  dan  alweg  der  brauch  ist  gsin, 
sonst  zeig  ich  dir  den  kolben  min! 

15* 


220  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter*. 

Jud. 

345      Ach,  ach,  ietzund  khompt  es  dar  zu, 
die  narre  lond  mir  auch  khein  rfi! 
seh  hin,  da  hast  ein  hipscher  par, 
bin  ich  iedoch  verachtett  gar. 

Narr. 

welcher  ist  so  dapfer  man, 
350     der  mir  ein  vmbschantz  halten  khan? 
ein  par  filtzleis  wag  ich  dran. 

die  narren  spilen. 

Ein  Edelman. 

jch  hab  nur  ghert  ietz  vil  der  klag, 
was  iedem  in  seim  hertzen  lag, 
was  triepsal  vnd  was  khimernuss, 

3&&      was  iedes  gschlecht  hab  für  vertruss. 
drumb  khan  ich  das  nitt  vnderian, 
her  Doctor,  euch  auch  ghen  zverstan, 
das  der  was  priempt  in  allen  landt, 
der  von  seim  stam  was  edel  gnandt, 

3<»     des  gleichen  auch  das  gschlecht  ist  gsin, 
von  denen  ich  geboren  bin; 
sy  wasend  hoch  von  iedem  g*acht, 
sy  lepten  all  in  grosser  macht, 
das  will  ietz  nitt  mer  förgang  han, 

365     khem  bawr  der  gsech  vns  ietz  mer  an; 
wer  nott,  das  mir  uns  thätten  duckhen, 
ein  ieder  will  vns  vnderdruckhen. 
sey  edel  hin,  sey  edel  her, 
wolt  schier,  das  ich  ein  bawrsman  wer. 

370     den  namen  habend  mir  allein, 

den  gwalt  vnd  bracht  nemend  ander  ein: 
jn  suma,  es  khompt  ietz  da  hin, 
ein  ieder  bawr  will  edel  sin. 
weiss  nitt,  wie  ich  das  soll  verstan. 

375      sagend  doch,  her,  wie  wirdts  khinftig  gan! 

[Bl.  23^»]  Der  Doctor. 

Ewr  frag  von  mir  han  ich  vemhon, 
von  allen,  die  send  zu  mir  khon. 
au(T  das  soll  ieder  nemen  ab, 
warauss  mein  khonst,  wa  von  ich  sag. 


361  bin]  boren  Hs* 


Baechiold,  Quellen  zu  *Aller  Praktik  Grossmutter'.         221 

380       Sag  nitt  von  einem  gauckhel  spil, 

vom  gstirn  ich  als  probieren  wil. 

mein  spher  hab  ich  als  vmher  gwindt, 

mein  arslap  auch,  darfn  man  findt 

föl  wiest  vnd  sawr  Coniunction, 
385       der  lufft  ist  gantz  vergifl  davon; 

darzfi  ist  mars  im  finster  hauss, 

macht  dir  den  durstupf  dnacht  hinauss. 

nitt  weytt  vom  mars  die  venus  statt, 

vm  schleckh  loch  hewr  sein  circel  gatt. 
390       da  schluckh  den  dreckh  vnd  luna  ist 

auss  disem  loch,  mein  khonst  als  iss. 

ein  finsternuss  khompt  auch  schier  gantz, 

die  ist  nitt  weytt  vom  drecken  schwantz, 

facht  an  vm  sechsen  in  der  nacht; 
395       hertt  auff,  wens  wider  sechsen  Schlacht. 

darumb  die  finsternuss  im  mon 

vnd  ander  schwer  Coniunction, 

als  dir  mein  bractic  hie  för  schreipt, 

ful  vnglickh,  krieg  vnd  sterbett  geitt. 
*oo      das  wüll  ich  euch  ietz  zeigen  an. 

in  gschriften  megt  irs  auch  da  han. 

da  zeigt  er  in'  die  kalender. 

iedoch  von  erst  auff  ewer  klag 
eim  ieden  ich  sein  antwortt  sag. 

Zum  edelman. 

her  junckher,  khomend  her  zu  mir! 
405       dein  frag  will  ich  erkleren  dir: 

man  wirdt  euch  dis  jar  khorsam  sein, 

doch  nur  dein  knecht,  der  mäss  es  thein. 

vom  stamen  hewr  khein  junckher  bist, 

vom  gfitt  allein  man  Edel  ist; 
410      fQl  Edel  miessend  zwilch  antragen, 

die  bawren  gwer  mitt  silber  pschlagen, 

des  bavn-en  rockh  mitt  samett  psetzt, 

des  junckhers  hosen  wol  gebletzt, 

in  daffett  khompt  der  bawr  bekleitt, 
415      zäm  schlam  vnd  dampf  ist  er  auch  preitt: 

jn  suma,  was  der  adel  thStt, 

ist  hewr  dem  bawren  recht  vnd  g&tt, 

dunckt  sich  dar  zu  ofift  heher  sein, 

sein  pflüg  wirdt  sein  der  beste  wein; 


407  Der  muss   es    thun.        4i5  Zum   Schlemmen    und   Dämpfen. 
417  über  hewr  steht  in  der  B».  ietz. 


222  Baechtold,  Quellen  zu  ^Aller  Praktik  Gro8smutter\ 

[Bl.  24^]      die  freyheitt  gwisslich  das  jar  macht, 
das  ir  im  adel  werdt  veracht. 
nur  merckhend  ietz  die  tugendt  ab, 
die  s^  khinftig  jar  der  adel  hab: 
erstlich  ziagen  auff  dem  disch 
425      rebhiener,  wachtlen  vnd  gätt  fisch, 
wildenthen,  hasen  vnd  phasan, 
solch  thugendt  ieder  junckher  khan; 
jm  beth  zhurnieren  sind  sy  grist, 
das  niemand  zlest  in*  schuldig  ist. 

Zum  Jaden. 

430       vnd  du,  Jud,  das  dich  hast  beklagt, 

dein  gschlecht  von  cristen  werd  veriagt, 
so  sag  ich  dir  vnd  glaub  mir  frey, 
das  solchs  des  gstirns  anzeigung  sey: 
dein  wöcher  wirdt  dis  jar  sein  schlecht, 

435       das  macht,  bin  cristen  ist  es  recht, 
mitt  Wucher  sy  yber  diuden  sind, 
jn  suma,  gelt  macht  manchen  blind. 

Zum  Jungen  gsellen  vnd  jungfrawen. 

vom  jungen  gsellen  find  ich  auch, 
zu  hipschen  medlen  im  wirdt  gauch, 

440      sein  frewd  vnd  sin  wirdt  gen  ir  stan, 
die  jungfraw  werdt  gross  argwon  han; 
dan  feischlich  man  auf!  vil  erdicht, 
sie  sey  ein  jungfraw  vnd  ist  nicht; 
die  jungfraw  auch  khein  r&  wirdt  han, 

445       bis  sy  ein  jungen  halt  zum  man. 

Zum  alten. 

den  alten  man  sy  gar  veracht, 
sy  merckt,  das  er  nitt  mer  hatt  macht; 
mitt  detschlen,  kissen  rieht  ers  auss, 
die  weil  lertt  sy  im  deschen  auss. 

Zum  b&ler. 

450      vil  ander  werdt  auch  vnder  stan, 
ob  sy  das  frewlen  mechten  han, 
so  Ifig  vm  gelt,  das  radt  ich  dir, 
dan  on  das  gelt  must  hinder  thir. 

Zum  alten  weyb. 

Das  alt  weyb  wirdt  das  selb  nitt  achten, 


439  gauch  =  gftch.       440  frewd]  fred  Hb, 


Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'.  223 

4!>&       dem  man  allein  sy  nach  ist  trachten, 
[Bl.  24*»]      sy  gibt  im  gelt,  bis  er  wirdl  reich, 
das  er  Ir  nur  den  kautzen  streich; 
also  dis  jar  der  weyber  artt 
ingmein  alweg  gen  Qiannen  statt. 

Der  bawr. 

460       bey  goll,  bey  goU,  er  radtett  wol, 

er  steckhett  alier  khinsten  vol! 

mein  grietta  hatt  auch  solche  artt, 

wen  ich  lang  schlaff,  rauffts  mich  beim  hart; 

sy  latt  mir  in  dem  betth  khein  ru, 
46.*)       bis  ich  irs  nest  verzausen  th8. 

Der  narr  ist  krauck,  den  dreitt  der  ander  zum  Doctor. 

gsich,  Doctor,  was  dem  esel  brist, 
das  er  also  bauchstessig  ist, 
er  hatt  den  donner  in  dem  bauch, 
der  blitz  vnd  straal  steckt  in  im  auch, 
470       der  stral  schlecht  im  zum  mars  hinauss: 
ich  ein  hagel  volg  darauss. 

Doctor. 

Der  khranckheitt  will  ich  helfen  schon: 

nim  feigen,  die  von  esel  khon, 

ein  quintlen  hosen  hecht  darbey, 
475       zwen  winckhel  karpfen  oder  drey, 

zerknitsch  das  vndern  zenen  wol 

vnd  stoss  im  beide  backhen  vol, 

br8ch  grundlen  gib  im  niechter  ein, 

er  wirdt  gar  bald  friss  vnd  gsund  sein, 
480       doch  trag  in  vor  zum  krömer  gleich, 

das  er  im  seins  sawr  senf  ein  streich! 

ietz  macht  der  nar  vnd  krömer  bossen  vngfar. 

Der  Doctor  zum  volg. 

Narrstottels  schript  ein  regel  für, 
zu  alle  kranckheitt  nutzt  sy  dir; 
er  sagt:  die  kranckheitt  fieich  all  stund, 
485      die  selbe  weil  pleipst  du  gesund! 
volgst  dan  mir  nitt,  so  sag  ich  das: 
der  durstupf  schlecht  dir  gleich  in  ars, 
die  rott  rSr,  wie  mans  nemen  will, 
gitt  knollen,  wie  hackhmesser  stil. 


487  durstupf:  s.  o.  V.  387,  dUHs.  gibt  dursupf.     489  über  gitt  »Uht 
in  der  Hs.  iss. 


224  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Qrossmutier'. 

Vom  wetter. 

490       mein  bracdic  weist  auch  weitter  auss 
vom  wetter  dis  gantz  jar  hinauss, 
als  nämlich:  auff  den  windter  kalt, 
im  sumer  beltz  ind  kisten  phalt, 
[Bl.  25*]      dan  warm  vnd  regen  werdt  mir  hon, 

495       dar  zwischen  wirdt  offt  schöne  khon; 
vm  die  zeitt  wechst  vil  gras  vnd  klee, 
jm  windter  gibt  es  eisch  vnd  schnee. 
der  wind  wirdt  wehen  durchs  gantz  jar, 
das  bissen  vm  den  ars  vngfar. 

&00      nach  regen  nem  der  schöne  acht, 

dsonn  scheindt  beim  tag,  der  mö  zur  nacht. 

Von  frichten  vnd  thewre. 

auss  disem  wetter,  liebe  frind, 
als  ich  in  meiner  bractic  find, 
band  fricht  vnd  sonderlich  das  khorn 

&05       khein  fÜrgang  in  den  spitzig  dorn, 
auff  herten  felsen  hatts  khein  pstand, 
doch  in  eim  gätten  fruchtbar  land, 
wen  gott  gnad  gibt,  vnd  hasts  bawt  wol, 
so  filst  du  all  dein  spicher  vol. 

510      khein  gleicher  khauff  wirdt  pleiben  hewr, 
von  wolfle  steigts  gleich  auff,  wirdt  thewr; 
das  wirdt  auch  gschehen  mitt  dem  wein, 
jm  schwartzwald  wirdt  des  wenig  sein; 
an  ander  orth  wirdt  zimlich  ston, 

515       das  man  zfir  notturft  gnäg  mecht  hon, 
wens  eir  dem  andern  gennen  weth 
in  lieb  vnd  trew  im  theilen  thett. 
die  kraft  des  wins,  nem  eben  ab, 
wirdt  werfen  vil  die  stegen  ab, 

&20       den  seckhel  leren  bis  auff  den  grundt, 
vorab,  wen  khartt  vnd  wirfei  khundt. 
ziblen,  knoblauch  vnd  kuchen  speis 
dis  jar  z8  Strassburg  hatt  den  breis. 

von  thewre  des  methall  vnd  khauffmanschatz. 

von  gelt  merckh  aber  disen  pscheid, 
595       das  mir  von  hertzen  selbs  ist  leid, 

doch  weiss  ich  khonst  vnd  sag  dir  frey: 
gold  wirdt  hewr  gelten  mer  dan  pley, 
das  siJber  wirdt  her  gacht  dan  zin, 
ist  gwiss,  gedenckh  der  weyssag  min; 


528  höber  geachtet  als  Zinn. 


Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Groesmutter'.  225 

530       das  khupfer  wird!  auch  mächtig  thewr, 

das  macht,  es  gibt  der  müntz  ein  stewr, 

darumb  wirdt  mangel  in  der  weht 

dis  jar  wie  vor  alweg  im  geltt. 

khein  khauffman  wirdt  so  vnbedacht, 
'»SA       der  dis  jar  sein  war  selbs  veracht; 

aufT  borg  must  alles  thewrer  han, 

dan  so  du  bar  gelt  gebest  dran. 

[Bl.  25»]  lands  knecht. 

botz  marter,  du  sagst  bese  meer! 
ich  hab  khein  gelt  vnd  weiss  kheins  mer, 
MO       von  frischem  krieg  wilt  mir  nitt  sagen, 
ich  wirdt  dir  bald  die  hawt  zerschlagen. 

Doctor,  TOD  krieg  vnd  findschafitt. 

gross  findschafft  dis  jar  werden  han 

der  giert  mitt  dem  gemeinen  man, 

der  adel  vnd  das  volck  im  land, 
545       der  from  beym  bösen  hatt  khein  pstäd; 

dans  volck  dermassen  hewr  verkhertt, 

ie  eyr  des  andern  gutts  begertt, 

ie  eins  das  ander  vnder  druckt: 

der  knecht  legt  die  magt  aufT  den  ruck. 
550       das  kissi  m8ss  sein  vnderm  mars, 

wer  sterckher  ist  der  söllichs  frass; 

die  katz  auss  findschafft  wist  auft  mauss, 

der  han  auss  hoffart  fleigt  aufs  hauss. 

der  gleichen  krieg  hatt  hewr  khein  endt, 
555       bis  man  die  nachgend  stuekh  all  fendt: 

ein  bader,  der  nie  gschwitzett  hab, 

rossdeischler,  der  khein  lug.  dar  gab, 

ein  furman,  der  nitt  schweren  thutt, 

vnd  staub  vons  fromen  miliers  hätt; 
560       oder  fmdst  zwen  berg  on  ein  thal, 

so  wirdt  gleich  frid  sein  yberal. 

kriegsman  Schweitzer  zum  landsknecht. 

jch  sich,  das  als  vnmQglich  ist, 
darumb  eins  kriegs  du  sicher  bist, 
das  khompt  vns  auss  der  massen  wol. 
565       khom,  mir  wend  vns  drauff  saufen  vol! 


Nach  V.  553  stehfc  in  der  Hs.  der  gestrichene   Vers:   nach  dir 
khompt  gleich  der  pfaff  ins  haus.        S62  sich  fehU  Hs. 


226  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'. 

Doctor  von  ettlichen  lender  in  sonderheitt  vnd  in  gmein 

durchs  gantz  land. 

merckt  von  lendem  in  sonderheitt, 
was  auch  mein  bracdic  durs  land  auss  seitt! 
wen  dmeissner  leiss  nitt  seind  im  ban, 
wernd  vnger  hewr  gross  findschafift  han; 

570      Thüringer,  franckh  vnd  Sachsen  land 
den  butter  hewr  nitt  gend  von  band; 
gross  drinckh  wernd  sy  auch  nitt  vermeiden, 
[Bl.  26*]    das  hier  muss  in*  den  durst  vertreyben, 
das  auch  den  beyr  vnd  Schwaben  brist, 

575       dan  schlech  gsaft  gutt,  wa  nitt  wein  ist. 
zu  niermberg  auff  das  khinftig  jar 
vi!  vngieich  kheiff  findst  du  fürwar, 
ein  centner  wachs  wirdt  gelten  mer, 
weder  ein  Zentner  wagen  schmer. 

580      jn  der  eydnoschaft  dis  khinftig  zeitt, 
so  kh&  vil  milch  vnd  anckhen  geitt, 
oder  band  sy  vil  rend  vnd  megt  vil  kesen, 
so  werden  sy  hewr  vil  gelt  lesen, 
jn  allen  landen  von  fulen  acht, 

585       das  sy  dunckt  kürzer  tag  dan  nacht, 
entgegen  dem  taglener  auch, 
zum  beth  vnd  essen  wirdt  sein  gouch. 
galt  einzenemen  wirdt  ieder  grist, 
aussgeben  seer  vertrisslich  ist. 

5ao       wer  nitt  hab  win,  soll  das  betrachten, 
das  Wasser  er  nitt  thie  verachten; 
vil  besser  wirdt  sein  nider  gan, 
dan  zu  morg  vom  beth  auff  stan. 
jm  Hhin  verstickt  kheir,  sag  ich  frey, 

595       so  feer,  das  er  verfroren  sey; 

jm  heissen  bad  wirst  nitt  verfrieren; 
reich,  arm  wernd  gleich  ir  leben  verlieren. 

Narr. 

Du  magst  mir  wol  ein  gauckler  sein; 
Bracticierst  vnd  machst  khein  narren  drein, 
600      hast  gsen  ein  spil,  so  sag  mir  das, 
das  nitt  mitt  narren  gspickhett  was. 

Doctor  von  wunder  gschicht. 

vil  wunder  gschehen  in  dem  jar: 
vm  liechtmess  wirdt  ein  gleiff  vngfar, 
die  narren  werden  wolfeil  sein, 


575  Schlehensaft.        58?  vgl.  zu  489.        694  Hhin]  rim  Hs, 


Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  6ro8smutter\  227 

605       schier  bis  vmb  mitterfast  hinein; 

jm  samstag  nach  dem  Car  freitag 

wirst  heren  grosses  gschrey  vnd  klag, 

on  blutt  vergiessen  nempts  khein  endt, 

beim  lermen  man  vil  khuttlen  findt. 
610      jm  nechsten  freitag  gleich,  merckh  wol, 

die  hund  werd  sein  all  schreckhes  vol: 
[Bl.  26**]    si  ferchtend,  fast  khom  widerumb, 

band  sorg,  bis  in  ein  fleischtag  khom. 

zu  Speir  vorm  minster  gsicht  man  hewr 
615       vm  weyhenacht  ein  grosses  fewr. 

ein  schwartze  khu  auch  weiss  milch  gitt, 

das  thätt  ein  rottes  menchle  nitt. 

mein  bracdic  halt  also  ein  end. 

all  vnser  vnseld  gott  abwend! 

Doctors  knecht. 

620       jetzund,  ir  herren  all  gemein, 

gleich  wie  ir  hie  versaralett  sein, 

ir  hond,  als  ich  glaub,  wol  vernhon 

die  khonst,  so  von  dem  doctor  khon, 

er  hatt  sich  lang  on  schlaffen  gleidt, 
635       bis  er  die  hatt  zesamen  dreidt; 

von  arslap  bis  gen  supfloch  auss 

hatt  er  die  dreckh  khonst  zogen  auss, 

glitt  gsellen  zdienst  das  selb  er  thutt. 

nempt  ir  mitt  dem  also  vergfitt! 
630       kheim  zlieb  noch  zleid  hond  mir  das  gspilt, 

zur  fasnacht  solche  kurtzweil  gilt. 

das  ist,  ir  herren,  vnser  pscheid. 

gott  phiett  vns  alle  sampt  vor  leid! 

Amen. 

Der  krömer  mag  sein  spnich,  wie  oben  statt,  durch 

all  gassen  brauchen. 

Ein  ieder  mag  sein  spruch  meren  oder  mendem,  nach 
dem  sich  die  bossen  schickhen 

Das  ist  gmacht  au£b  schlechtest,  g{itt  gsellen  megens 
besseren  nach  irm  gedunckhen. 

3. 

Qoedeke,   Pamph.  Gengenbach  S.  526  f.  war  der  An- 
sicht, dass  der  Pischartsche  Abschnitt  'von  den  zwölf  Mo- 

617  menchle,  verschnittener  Hengst;  Wallach.        626  Der  Vers  ist 
in  der  Hs.  gestrichen. 


228  Baechtold,  Quellen  zu  *Aller  Praktik  Grossmutter*. 

naten',  zumal  in  der  späteren  Bearbeitung,  der  Practica 
Practicarum  des  Job.  Nas  von  1572  entlebnt  sei.  Wacker- 
nagel, Job.  Fiscbart  S.  67  Anm.  148  vermuthete,  Nasus  und 
Fischart  hätten  eine  und  dieselbe  ältere  Quelle  benutzt. 
Dem  ist  in  der  That  so:  beiden  lag  eine  ältere  schweize- 
rische Praktik  auf  das  Jahr  1565  vor,  deren  Verfasser  der 
Berner  Johannes  Weiermann  ist.  Nas  und  Fischart 
benutzten  daraus  vornehmlich  die  Monate  Januar,  April, 
Mai,  Juni,  August,  September,  October  und  December. 
Ein  Hans  Weiermann  erscheint  nach  Leu,  helv.  Lexicon 
19^399  als  Landvogt  und  Venner  in  Bern  zwischen  1576  und 
1604.  Ein  Schulmeister  Niclaus  Weiermann  ist  als  Verfasser 
zweier  geistlicher  Lieder  von  1564  bekannt;  vgl.  Wellers 
Annalen  2,  152;  Grüneisen,  N.  Manuel  S.  212.  230.  Von 
der  Praktik  des  Johannes  Weiermann  besitzt  die  Züricher 
Stadtbibliothek  zwei  verschiedene  Ausgaben: 

A.  Die  unten  abgedruckte  vom  Jahre  1564.  Ent- 
halten in  dem  Sammelbande  Mscr.  S  108. 

B,  Eine  etwas  spätere  Ausgabe,  enthalten  in  Mscr. 
F  171.  8  Bll.    Ihr  Titel  lautet: 

Practica  auff  {  das  künfTtig  jar,  von  körn,  |  win,  vn  andern  fruchten, 
auch  {  von  kranckheitten,  kriegen,  tod, J  thüre,  vn'  andern  dingen, 
so  sich  I  alls  zebesorgen,  allenthalbe  |  zutragen  werden.  |  Durch  D. 
Hanss  Wyerman,  der  siben  fulen  künsten  meister,  |  in  der 
nechsten  Statt  bey  Chillion,  do  man  die  |  hürling  facht.  |  Mit 
priuilegium  auff  12.  monat  |  nit  nach  zetrucken,  aber  wol  |  ab- 

zeschryben. 

[Rückseite:]  M.  Cato  Vticensis.  |  [Holzschnitt:  Der  Doctor 
sitzt  vor  einem  Bücherpult.]  |  Interpone  tuis  interdum  gaudia 
curis,  I  Vt  possis  animo  qu^uis  sufferre  laborem. 

Auch  von  dieser  seltenen  Praktik  folgt  hier  ein  Ab- 
druck nach  A. 
Practica.   |   Vff    das  M.  D.  LXV.  Jar,    |    Von  künfftigen 


Thüre   vnd    anderen 
zfi  besorgen,   alient- 


Kranckheyten,    Kriegen,    Todt, 
dingen,   so  sich  diss  Jars,   alls 

halben    zätragen  |  werdend,     etc.  |  Planeten    vnd    Re- 
genten   I    disers    Jars.    |    Hoffart.     [dazu    Holzschnitt.]  5 
Gytt.  [dazu  Holzschnitt.]  |  Durch  Johannem  Wyerman, 
der  sybenj  fulen  Künsten  ein  Meyster. 

1   Die  Querstriche  des  Druckes  wurden  hier  überall  durch  Kom- 
mata ersetzt. 


Baechiold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter*.  229 

Dem  Eerenuesten  Fürsichtigö)  Ersamen,  Wysen  Sulpitio  BrOggler, 
Burgern  zä  Bern  minem  Eerenden  vnd  gebiettenden  Junckern,  etc. 
ERenuester,  Fürgeliebter,  günstiger  Juncker,  Diewyl  ich  un- 
gezTvyfflet  vergwüsset  bin,  das  üch  von  angeborner  natur  har  die 
5  waarheyt  fast  angnäm  ist,  vnd  für  ein  kostlich  kleinot  by  üch 
gehalten  wirt,  dargegen  das  üch  die  zwiffel  verdunckleten  ge- 
förbten  vnnd  zwyspaltigen  wort  fast  widerig  synd,  wölcher  sich 
der  meertheyl,  deren,  so  z8  vnseren  zyten  die  Practica  und  Pro- 
nosticationen  schrybend  gebruchend:     So  han   ich  der  waarheyt 

10  zlyeb,  vnd  üwer  Veste  zu  ehren,  dise  volgende  Practica  gestelt, 
vnd  durch  die  Monat  nach  Ordnung  vssgetheylt,  in  hoffnung,  jr 
werdind  den  raeerentheyl,  so  darinn  begriffen,  waarhafTtig  finde; 
dem  Allmächtigen  Gott  syge  syn  gwalt  vorbhalten.  Vnd  wie 
wol  durch  Herren  Doctor  Ada  von  Bodensteyn  vnd  andere,  Mars 

15  und  Luna  für  Regent^  diss  Jars  dargstelt  werdend,  so  find  ich 
doch  durch  myn  Galculation  zwen  ander  Planeten,  wölche  gwüss- 
lich  diss  Jars  Regieren  werdend.  Nämlich  der  Gytt  vnd  die 
Hoffart,  das  wirt  mengklich  sähen ;  und  diewyl  ich  nun  lange  zyt 
har    üwer   tugend   vnd  sänfftmüttigkeyt   by    mir  vnuerdient    em- 

20  pfunden,  so  han  ich  gern  üch  ails  mynem  Eerenden  vnnd  ge- 
biettenden Junckern  diss  myn  werck  wollen  zustelle,  in  hoff- 
nung, jr  werdind  söUichs  in  gnaden,  als  von  üwerm  geneygten 
Diener,  von  mir  vffnemmen  vnd  empfahen  vnnd  nach  üwer 
wysshyt  die   fäler   Gorrigieren,    etc.     Der   Allmächtig  Gott  wolle 

9s  üch  allzyt  in  synen  Göttlichen  gnaden  erhalten.  Datum  zu  Ghillion 
im  vestem  Huss  den  XII.  October  im  1563.  Jar  durch  üweren 
kleinf&gen  vnd  gantz  güttwilligen 

Diener  Johannes  Wyerman, 
der  syben  fulen  künsten  Doctor. 

30  Der  Mars  ist  gantz  Kriegischer  art, 

Zanck  vnd  hader  anzrichten  sich  nit  spart. 

[Holzschnitt  '-.Marsf] 


1  Brüggler]  Brdckler  B  4  vergwüsset]  vor  gewiast  B  har 
fehÜ  B  6  zwiffel]  zwiffel ten  B  8  deren]  der  B  Practica]  Prack- 
ticken  B  9  schrybend]  scbribendten  B  vi  begriffen]  vergriffen  B 
13 — 15  Vnnd  wiewol  die  Astrologen  Mars  vnd  Jupiter  für  regenten  u.  8.  f.  B 
16—18  wölche]  welliche  gewisslicb  diss  jars  in  der  gantzen  weit  reg^ieren 
werden,  nämlich  der  Gyt,  vn  die  Hoffart,  der  ein  ist  generis  foemi- 
nini,  der  ander  masculini.  Vnd  dieweill  ich  u.  s.  /*.  B  i9  vnuerdient 
gespürt  vnd  empfunden  B  20  vnd  geliebten  Junckeren  B  22  söl- 
lichs  von  mir  in  gnaden,  als  von  eüwerm  geneigten  Diener  auffnemen 
vnd  nach  eüwer  Wyssheit  die  f%Iler  corregieren  B  26  im]  in  dem 
vesten  Hauss  den  zwelffben  Wintermonats  durch  eüwem  B  30—31 
fthH  B 


230  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'. 

I.    Jenner. 

Im  Jenner  wirt  es  kalt,  tr&b  vnnd  trochen  sein,  es  wirt 
meer  schnee  vff  den  Bergen  gesähen  werden,  dann  vff  dem 
Jenffer  See,  vnnd  meer  yss  dann  im  Ängsten;  die  Schnecken 
werdend  mächtig  ballen ,  es  wirt  sy  aber  nit  vil  lötten  hören ;  s 
jedoch  wirt  man  in  disem  Monat  gr&n  äbbich,  Thannen,  Buchss- 
böum  un  Palmen  finden;  das  fhür  wirt  meer  hitz  gäben  dann 
die  Sonnen,  es  wirt  ouch  dem  menschen  besser  syn,  dan  die 
grime  kelte.  du  solt  dich  disen  Monat  warm  halten  by  dem 
fhür  oder  warmen  Ofen  mit  feyssten  Kappunen.  bratwtirsten,  lo 
Pomerantzen,  Kestenen,  s&ssem  RyfTwyn,  mit  gitter  gesellschafill 
vn  schöne  fröwhnö. 

IL    Hornung. 

Im  Hornung  trinck  den  besten  Wyn,  so  du  jn  haben  magst, 
fach  am  morgen  fr&  an,  so  magstu  den  gantzä  tag  voll  syn.  es  15 
werdend  disen  Monat  vil  lütten  das  zitterend  Kaltwee  haben,  in- 
sonders  aber  die,  so  barffiss  im.  schnee  wandlen  m&ssendt  vnd 
liechtlich  bekleidt  sindt;  yedoch  wirt  jnen  mit  holtz  und  strouw 
wol  vnd  fast  bald  mögen  widerumb  geholffen  werden,  so  das 
mit  fhür  vermischt  wirt.  es  werdend  in  disem  Monat  vil  böser  20 
Practicken  vnd  anschleg  beschächen ;  es  wirt  mancher  syn  eygen 
vnglück  wünschen;  es  werdend  vil  Pfaffen  an  statt  der  ersten 
Mess  die  letste  singen. 

III.    Mertz. 

Im  Mertzen  soitu  weydlich  ynnemmen  für  die  würm:  Bur-  25 
gundischer  wyn,  Ryfifwyn,  Rotten  Wallis  wyn,  Martynacher  syndt 
fast  gSt  darzu,  dess  solt  du  zu  yedem  trunck  ein  halb  massig 
glass  vol  niessen,  so  wirst  du  jhren  dester  minder  innen  werden, 
h&t  dich  ouch  vor  Zürich  wyn,  Klingnouwer,  Hochbirger,  etc. 
Gutte  vnd  wol  gekochte  spyss  mit  specery  wirt  dir  fast  nutzlich  so 
syn,  magstu  sy  aber  nit  ankommen,  so  iss  ein  dicken  Haber- 
bry,  der  fült  dir  ouch  den  buch.  Crocodillen,  Tracken,  Lindt- 
würm,  Schlangen,  Krotten,  Scorpionen,  Spinnen  vnd  derglichen 
thier  sind  im  Mertze  alle  vergyflft.     es  werdend  inn  disem  Monat 


2  kalt ,  trochen  vnd  trüb  syn  B  4  yss  gefunden ,  dan  B 
5  lütten]  lüt  B  6  äbich ,  balmen ,  buchssbaum  vnnd  thannen  B 
8  Vnd  wirt  den  menschen  B  11  Ryf  win ,  gStte  gselschafft ,  mit 
frommen  vnd  hüpschen  fröuwlinen  B  1»  Es  werden  in  disem  B 
16  zitterend]  zittret  B  insonders]  in  Sonderheit  B  19 — 20  bald  (so 
das  mit  führ  vermischlet  wirt)  mögen  geholffen  werden.  Es  werdend  B 
25  Burgundischen  win,  rotten  Walliswin  B  29  ouch  fehlt  B  so  wol 
kocbette  B       31  aber  feMt  B 


Baechtold,  Quellen  zu  ^ Aller  Praktik  Grossinti tter\  23t 

vil  lütten  in  der  gantzen  weit  stfirben,  aber  allein  die,  so  in 
diser  zyt  nit  länger  laben  mögend. 

1111.    Aprel. 

Im  Aprellen  wirt  meer  blust  syn  dan  sonst  im  gantzen  Jar. 

i>  Es  ist  gSt  lassen,  insonders  was  man  nit  bebalten  mag;  schräpffen 
an  heymlicben  orten  wirt  vil  gebrucht  werden;  bade  ist  gut  den 
unrath  abzuwaschen,  yedoch  so  wirt  (Am)  der  ynflatt  an  etlichen 
menschen  so  starck  bafTten,  das  er  weder  mit  warmem  wasser, 
lougen,    seyfTen   noch    andern   dingen,    vnd  ob   man    schon   ein 

10  sandribel  darzu  bruchte,  nit  möchte  ab  jnen  geryben  werden, 
bruch  diss  Monats  Wermut,  Cardenbenedicten,  insonders  aber  das 
Edel  tusendguldenkrut,  so  du  es  haben  magst,  dan  es  ist  nutz- 
licher vnd  besser  dann  die  andern  alle. 

V.    Mey. 

15  Der    holdsälig   Mey    wirt    vil    wermer    syn,    dann   der   ver- 

schinen  Hornung;  er  wirt  zfim  theyl  focht  syn,  yedoch  so  wirt 
es  niemer  nesser  syn,  dann  wann  es  regnet,  hflt  dich  vor  aller- 
ley  kranckhyten,  das  wirt  dir  fast  gsundt  syn.  man  wirt  meer 
gr&ner    bletter    sehen    vnnd    krut    vss    der  Erden    schliefTen    in 

20  disem  Monat,  dann  hieuor  durch  den  gantzen  winter.  wyb  vnd 
mann  werdend  sich  in  diser  lieblichen  zyt  mächtig  paren,  daruss 
dann  volgen  wird,  das  die  wyber  und  Mägt  vfTgan  und  ge- 
schwällen  werdend,  wölliche  geschwulst  vor  nun  Monaten  gar 
kQmerlich  mag  vertryben  werden,  vnnd  nach  verschiner  zyt  wirt 

n  jnen  mit  der  hiliT  Gottes  widerumb  möge  geholffen  werden ,  ye- 
doch so  wirt  Doctor  Agnes  vil  meer  darzu  berfifft  werden  zu 
helfTen,  dann  Doctor  StelTan. 

VI.    Brachmonat. 

Brachmonat  wirt  warm,  LufTtig  vnd  mit  Ragen  vermischt 
30  syn,  vil  mordt,  diebstal  vnnd  brandt,  sampt  anderen  unbillichen 
Sachen  werdend  sich  vnder  dem  schyn  der  Religion  zutragen, 
der  vnheylig  Bapst  zu  Rom  der  wirt  in  grossen  sorge  slan,  ye- 
doch so  wirt  er  hillT  gnug  finde,  syn  Apostolischen  stul  zu  be- 
waren,   sampt  sinen  mithafften,   diewyl   die  Guldinen  vnd  Silbe- 


t  vil  lütt  sterben,  ja  in  der  gantzen  weit,  aber  B  5  insonders] 
insonderheit  dass  man  nit  erhalten  mag  B  7  etlichen]  etlich  B 
9  schon]  gleich  B  lo  nitt  wirt  mögen  ab  inen  B  n  diss  Monats 
fehlt  B  12  nützlicher  weder  die  andern  alle  B  16  sin,  so  wirt  es 
aber  nimmer  nässer  B  i9  blätter  an  den  böumen  sehen  in  disen 
monat  vn  kraut  B  -Jb  Gottes  geholffen  werden  B  36  so  fehlt  B 
z&  helffen  fdilt  B  29  regen  auch  vermischlet  sin  B  32  unheylig 
fdUt  B    Rom  wirt  B       33  so  fehlt  B       34  sampt]  mit  B 


232  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutier*. 

rinen  Kleinot  werend;  so  bald  aber  die  selbigß  verschwindint,  so 
wirt  die  frändtschafift  syner  nottheliTeren  ein  end  haben  vn  der 
gross  yfer,  den  sy  zu  seiner  vnheylligkeyt  trage,  ouch  verstieben, 
in  ansehen,  das  er  syn  vrsprung  von  zeitlichen  dingen  empfangen 
hat.  Item  es  wirt  mit  tröwen,  bochen,  schweeren  vnd  vntruw  5 
wenig  guts  vssgericht  werden,  in  disem  Monat  werdend  aller- 
meerest  thäler  zwischen  den  Bergen  erfunde  werden,  wölches 
allen  denen,  so  das  vorhin  nie  gesähen,  gantz  nuw  vnnd  seltzam 
sin  v^rt.  der  Bodensee  wirt  diss  Monats  dermassen  mit  wasser 
überdeckt  sin ,  das  man  von  Costantz  biss  gan  Brägentz  on  vss-  lo 
lenden  schiffen  mag. 

VII.    Höwmonat. 

Der  Höwmonat  ist  an  jm  selbs  ein  herte  vnnd  fast  schwäre 
zyt,  desshalb  alle  Melancolische  fantasten,  waanwitzigen,  die  sich 
selbs  one  verhörung  jrer  nachpuren  vi!  r&mend,  sich  erhebe  vnd  is 
hoch  schätze,  jre  Cutter  vnd  Tube  sollend  [sy]  fliegen  lassen,  die 
mfiss  louffen,  die  Grillen  springen,  vnd  den  Minuten  jren  gang 
lassen;  wölcher  aber  das  übersähen  wurde,  so  ist  zubesorgen, 
der  Narr  wurde  in  jm  vffwachsen,  vnnd  diewyl  der  Meyster  z8 
Murten,  von  wägen  vile  der  geschafften  sälten  anheimsch  ist,  so  so 
soll  man  söllicher  dingen  wol  waarnemmen.  es  wirt  in  disem 
Monat  donneren,  haglen  vnnd  pjitzgen.  Gott  der  Herr  wolle  es 
alles  zum  besten  wenden,  hfit  dich  vor  witz,  so  es  dir  nit  aner- 
boren  ist,  dann  es  ist  ein  misslich  ding  allen  denen,  die  sich 
selbs  darzu  zwingen  wollend.  2s 

VII.    Augstmonat. 

Der  Augstmonat  ist  fast  hitziger  natur,  inmassen,  das,  wan 
ein  schwartzer  Krebs  in  disem  Monat  gesotte  oder  vff  der  glut 
gebraten  wirt,  so  mri  er  gantz  rott.  Item  die  Trubel  nemend  in 
disem  Monat  mer  zä,  dan  im  Jenner,  Hornung  noch  im  Mertzen.  30 
h&t  dich  vor  Artzny,  insonders  das  du  kein  Harnischplätz  frässest, 
dann  sy  sind  gar  undöuwig.  der  hirss  wirt  diss  Monats  wol  ge- 
rathen,  für  ander  mfisskorn  vss;  man  sol  aber  wol  waar  nemmen, 
das   er  in  disem  Monat  nit  zu   heiss  gebrucht  werde,    dann   er 


1  kleinot]  götzen  B  bald  fehit  B  3  siner  heiligkeit  habend  B 
ö  Item  fehlt  B  schweren  vnd  bochen  wenig  B  1  den  bürgen  B 
8  80  das  hievor  nie  gsehen  gantz  neüw  sin  wirdt  B  i&  sich  er- 
habend B  16  jr  kater  vn  düben  B  sy  fehU  B  n  und  fehU  B 
18  ist  schwerlich  B  20  gschefften  nit  eim  jeden  gleich  auffwischen 
kban ,  sol  B  22  monat  regnen  ,  vfl  plitzgen ,  thonderen ,  haglen  B 
welle  diss  alles  B  23  witz,  so  es  din  angeboren  natur  nitt  ist  B 
24  allen  deren  die  sich  selbs  darzu  halten  wellend  B  28  uff  der  gl&t 
fdUt  B  29  Item  fthü  B  so  Hornung  vnd  Mertzen  B  32  sind  vast  B 
diss  Monats  fdüt  B       3S  uss  fehU  B    wol  fehU  B       34  zu  fthÜ  B 


Baechtold,  Qaellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter*.  233 

bringt  grossen  schaden  dem  verstandt,  verbrennt  die  witz,  ver- 
dorret die  vernunfift;  der  getrölt  Hirss  aber  ist  yederman  erloubt. 
Ein  fülin,  das  in  disem  Monat  wirt,  ist  meer  wärt,  dann  ein 
gantze  zucht  Räbh&ner;   man  wirt  in  disem  Monat    meer  Fisch 

5  im  Genffersee  fahen,  dann  Reckholler  vögel.  Item  das  Meer 
wirt  so  gross  syn,  das  die  gantze.  Statt  Venedig  darmit  wirt 
vmbfangen  syn;  man  wirt  zu  Glaris  räss  zyger  machen.  Item 
die  Käss,  so  vff  der  Wasserfallen  gemacht,  werdend  den 
Plesentinern   vnänlich,  vnd  den  Sannenkässen   fast    vnglych    syn 

10  an  schöne,   g&te  vnnd  grosse;   es  wirt  aber  vil  meer  Milch   von 

den  Kfien  gezogen  werden,  dann  von  den  feysten  Ochsen.    Item 

es  wirt  ouch  in   disem  Monat    besser  zfi  abend  zessen   syn    in 

einem    vollen  Käller,    dann   by    einem   kfilen  brunnen   vff  einem 

wyten  feld. 
ji5  IX.    Herpstmonat. 

Der  Herpstmonat  zerstört  zum  theyl  die  vorgende  grime 
hitz,  vnd  erfrischet  den  menschen;  in  disem  Monat  wirt  vil 
Räbensafft  gesamlet  werde;  Sant  Vrbans  plag  wirt  mächtig  re- 
gieren;   es  werdend    vil  Wallfarten   beschähe   zu   Sanct  Ottmars 

30  Lägelin;  Bachus  rych  wirt  mächtig  gezieret,  vnnd  dess  vollen 
Fürsten  von  Lignitz  Hoffhaltung  vil  gedacht  werden,  es  werdend 
meer  inn  sünd  verharrender  Huren  sich  vff  Sanct  Verena  tag 
gan  Zurtzach  verf&gen,  dan  am  Jüngsten  tag  vff  der  rächten 
syten  erfunden  werden,    der  meertheyl  Ops  wirt  in  disem  Monat 

25  vil  vollkomner  vnd  ouch  besser  syn,  dann  im  Brachmonat.  Räb- 
h&ner, Vrhanen,  Wachtle,  Reckholteruögel,  Tröstlen,  Mistler  vnd 
Ampsslen,  werdend  vil  meer  nach  frag  haben  un  meer  gälten, 
dan  schiächte  Brambeer,  Thannzapffen  vnd  Buttlen.  diser  Monat 
wirt  nit  vil  lenger  dann  vier  wuchen  wären.  [B] 

30  X.    Wynmonat. 

Der  Wynmonat  wirt  lufflig  syn,  mit  kalten  ragen,  vff  den 
Bergen    schnee,    in   den  Seen  vil   wasser.     es   werdend    in   der 

4  wirt  auch  diss  nionats  B  5  Jenffer  see  B  Item  fehU  B 
6  die  statt  Venedig  gentzlich  dormit  B  7  kässziger  B  8  Wasser- 
fallen im  SohthnrneT  Jwra,  Item  fehtt  B  lo  schöne,  grosse  vnd 
glitte.  Jedoch  so  wirt  B  milch,  ziger  vnd  ancken  B  11—14  Item 
—  feld  fäüt  B  16  dise  vorgend  B  20  und  der  fQrsten  von  Lügnuss  B, 
Zu  dieser  SteUe  vgl.  meine  GeschidUe  der  dewtschm  Literatur  in  der  Schweiz. 
Anm,  92,  Es  werdent  sich  mehr  thausend  verharrender  hören  auff  sant 
Yrenen  tag  zu  B  u  syten  des  gewaltigen  gottes  B  frücht  vnd 
opssB  35  und  ouch  besser /e/iftJ9  imHOwmonatJB  26  Mistler /e^  ^ 
97  in  disem  monat  mehr  B  28  dan  die  schlechten  bntten,  bramberi  vnd 
tanzapfen.  Diser  monat  wirt  nitt  vil  mehr  dan  B  ai  lufftig]  löufftig  B 
regen  durch  miscblet,  auff  den  bürgen  vil  schnee  B  32  Es  werden 
mehr  bürger  in  der  kleinen  statt  Basel  mit  hanss  sitzen  B 
Viertsljahnchrift  fllr  littoratnrgesohichta  III  16 


234  Baechtold,  Quellen  zu  'Aller  Praktik  Grossmutter'. 

kleinen  statt  Basel  mer  Burger  mit  huss  sitzen,  dafi  in  der 
gantzen  statt  Wiettlispach ;  im  Tburgöuw  werdend  nit  vil  Granat- 
öpffel  noch  Pomerantzen  wachsen,  aber  vil  Byrö,  wölche,  nach 
dem  sy  in  dem  ßacbofen  gedort,  werdend  sy  den  nammen  Byren 
verlieren,  vnd  Hutzlen  genennt  werden,  sy  werdend  ouch  vff-  & 
koufft  vnd  in  das  Allgöuw  gf&rt,  daselbs  werden  sy  für  Fygen 
gessen.  es  wirt  diss  Monats  meer  Lynwaat  in  der  Statt  Sanct 
Gallen  gewäben  werde,  dan  durch  das  gantz  jar  Sammat  zu 
Eglysouw  noch  Bülach  gewäben  werde.  Item  der  Bhat  der  Statt 
VJm  wirt  mit  ytel  Schwaben  besetzt  werden;  Ghurer  welsch  wirt  lo 
in  disem  Monat  nit  im  Truck  vssgan,  sy  wirt  ouch  nienen  meer 
gälten  noch  geredt  werden,  dan  in  Grau  wen  PQnten.  Item  ein 
haller  gutter  möntz  wirt  nit  als  vil  gälten,  noch  so  vil  silber 
halten,  als  ein  Basel  plaphart.  Item  es  wirt  ouch  mer  Wyn  im 
Thal  wachsen,  dan  in  der  gantze  GrafTschafft  Gryers.  i& 

XL    Wintermonat. 

Im  Wyntermonat  wirt  es  nit  viel  donneren  noch  plitzgen, 
aber  es  ist  zu  besorge,  nach  dem  es  sich  ansehen  lasst,  es  werde 
inn  disem  Monat  meer  schnee  fallen,  dan  hieuor  von  Osteren 
biss  Sant  Michels  tag.  Es  wirt  ein  grosser  tod  syn,  aber  es  wirt  20 
sich  mancher  dess  tods  erfröuwen  vnd  mit  grosser  begird  der 
stund  t  erwarten ,  yedoch  wirt  er  fast  über  die  seh  wyn  vssgan. 
Item  es  wirt  in  einem  gutten  arsspect  syn,  insonders  wan 
die  schwyn  feisst  vn  wol  geniest  sind,  das  wirt  man  dann 
glych  sehen  by  dem  Aßterdarm.  Es  werden  ouch  vil  Düppel,  85 
Narren  vnd  Trunckenböltz  allenthalben  in  der  gantzen  weit  ge- 
funden werden,  inmassen  das  die,  so  sich  selbs  für  wyss  haltend, 
gar  kümerlich  vnder  den  Narren  mögend  erkennt  vnd  vnder- 
scheyden  werden ;  dann  die  Esel  werdend  disers  Jar  nit  all  lange 
Oren  haben,  darby  man  sy  erkennen  möchte,  dan  sy  werdends  so 
verborgen  by  jhn  im  bfisen  tragen ;  nim  sy  waar,  so  wirst  du  es 
sehen,  etc. 


2  Wietliabach  Dorf  im  Kanton  Bern.  3  noch  Pomerantzen 
fehU  B  4  in  den  bachöffen  gederret  B  5  ouch  fdüt  B  6  gefürt, 
vnd  daselbst  in  der  vasten  für  feigen  gessen  werden  B  7  wirt  in 
disem  monat  B  s  werden  fehU  B  9  Item  fMt  B  10  wird  selten 
in  jB  12  in  den  B  Ein  Friburger  haller  wirt  B  u  halten]  haben  B 
Item  fdüt  B  ouch  fehit  B  17  thonderen  B  18  besorgen]  ge- 
denken B  21  vnd  der  stund  mit  grosser  begirt  erwarten  B  23  Item 
fehU  B  24  geniest]  gemescht  B  24. 25  man  sechen  gleich  bei  dem 
affter.  Es  werden  vil  narren  in  der  gantzen  weit  sin,  in  massen  B 
27  halten,  vil  zeits  gar  kummerlich  werden  mögen  von  den  narren 
vnderscheiden  werden.  Die  Esel  werden  nit  alle  lang  oren  tragen, 
dan  es  werden  etlich  menschen  gestalt  haben,  niA  sie  B 


Baecbtold,  Quellen  zu  *Aller  Praktik  Orossmutter*.  235 

XII.    Christmonat. 

Der  Christmonat  wird  der  letst  Monat  in  disem  könfiflige 
M.  D.  LXV.  Jar,  Vnnd  wirt  so  lang  syn  vnnd  wären,  vnnd  sich 
erstrecken ,   biss  das  man  zeit  M.  D.  LXVl.     Es  wirt    tr&b   vnd 

5  trochen  syn,  yedoch  ist  zu  hoffen,  es  werden  keine  Raben  vff 
dem  stockhorn  erfrieren,  in  disem  Monat  werdend  die  Hfiner  nit 
bruntzen,  ouch  werdend  sy  keine  Tuben  eyer  leggen.  du  solt  in 
disem  Monat  gäte  spyss  vnnd  den  besten  Wyn  niessen,  so  du 
jn  haben  magst,  magst  du  es  aber  nit  an  kommen,  so  gang  syn 

10  gentzlich  mfissig,  dan  es  ist  ein  narrächt  fürnämen  [Bii]  essen  vnd 
trincken,  das  man  nit  hat.  der  mensch  hat  wenig  bluts  in  disem 
Monat,  vnd  insonders  die  zuuor  mit  dem  feber  vnd  andere 
schwären  kranckheyten  lange  zyt  sind  behaffl  gewesen,  vnd  dar- 
durch  vss  gemärklet  worde.    h&t  dich  vor  armiit,  dann  sy  bringt 

15  vnlust;  so  sy  dich  anstiesse,  so  bruch  das  hieuor  angezogen 
tusend  gülden  krut,  das  ist  fast  nutzlich  vnd  bewärt  darz8.  vor- 
uss  aber  h&t  dich  vor  sterbe,  dann  es  ist  z&  besorgen,  so  du  in 
disem  jar  sturbist,  du  wurdest  das  nachgender  jar  nit  erlaben, 
vnd  volgest  du  miner  leer,  so  wirst  du  on  zwyffel  alt  werden. 

30  Durch  den   wyt  ber&mpten  Doctor  Johanem  Wyerman,   der 

syben  fulen  Künsten  ein  Meyster,  in  der  nächsten  Statt  by  Chil- 
lion,  da  man  die  Hürling  faht,  etc. 

End  diser  Practica. 

Getruckt   zfi   Chillion  by  Meyster  |  Hans  Sältengelt,    in   der 
25  wachtstuben  |  glych  by  der  wachtkammeren. 

Mit  Priuilegium  vff  die  zwölff  Monat  nit  |  nach  zätrucken,  by 
straaff  vnd  peen  zwölff  |  thonnen  Hürling,  etc.  |  1564. 

Nachtrag  zu  S.  202.  Ich  habe  nun  die  deutsche  Uber- 
setzang  der  Practica  Henrichmans  im  Anhang  der  Schwanke 
Bebeis  1558  nach  dem  Münchener  Exemplar  eingesehen; 
sie  entspricht  wörtlich  dem  lateinischen  Texte. 

Zürich.  Jacob  Baechtold. 


1  Wolffmonat  B  2  letst  syn  in  disem  jar  B  3—5  lang  syn, 
dass  er  sich  erstrecken  wirt  biss  an  dz  nacbgende  jar.  Wirt  trüb 
v&  kalt  syn  B  6  erfrüren  B  7  Du  solt  gutt  spys  B  9  in  hast, 
magst  du  B  12  monat,  insonders  die  so  zevor  B  is  gewesen] 
gesin  B  dardurch  aussgemercblet  B  15  So  sy  dich  aber  nitt  de- 
sterminder  anstiesse  B  I6  darziL  Vnd  voruss  hüt  B  n  es  ist 
zegedencken,  so  da  in  disem  monat  stirbst  B  19  werden.  Amen  B 
20  Gedicht  zfi  Chillion,  in  der  wachtstuben,  bey  meister  Hanss  Selten- 
gelt, gleich  bey  der  wachtkannen.  [Wappen]  eclesiastes  cap.  III 
Omnia  tempns  habent,  etc.  tempns  flendi,  et  tempns  ridendi.  Neqne 
omnia  omni  tempore  licent,  neque  omnibus.    J.  K.    B 

16* 


236  Po^  Vorbilder  ftr  Schwiegers  'Veniis*. 


ROmisebe  Torbilder  fOr  Sebwiegers 
^ebamscbte  Yenus". 

Jacob  Schwieger  sagt  selbst,  dass  er  zuweilen  andere 
Poeten  als  Vorbilder  für  seine  ''Geharnschte  Yenns^  ge- 
nommen habe,  nnd  zwar  solche,  welche  die  gleichen  Stoffe 
behandelten  wie  er.  In  der  'Zuschrift"  nemlich  vor  dem 
zweiten  Zehn  (Neudruck  S.  29)  lesen  wir: 

Wo  mich  kan  ein  Beyspiel  schflzz»i, 
zieh*  ich  die  Poeten  an, 
die  dergleichen  auch  gethan 

mit  Ergezzen  und  mit  Nüzzen. 

Sein  Freund  Chirander  nennt  in  seinem  'Zuschreiben^ 
an  Schwieger  jene  Dichter  'die  alten  liebenden  Poeten^ 
(S.  7)  und  rechnet  unter  ihre  Zahl  Catull,  TibuII,  Properz, 
Yergil,  Horaz  und  Ovid.  So  mögen  also  die  wenigen  und 
schwachen  Anklänge  Schwiegers  an  Horaz,  auf  welche 
Arnold  Mayer  in  dieser  Yierteljahrschrift  2,  470  f.  hinwies, 
als  Parallelen  gelten.^)  In  ganz  erheblich  weiterem  Um- 
fange lässt  sich  jedoch  das  you  Schwieger  betriebene  ^An- 
ziehen der  Poeten^  aus  Properz  und  Tibull  belegen. 
Beweisend  sind  hierfQr  folgende  Stellen: 

Liebe,   der   Poeten  Wezz-      ,  n.  n    «    *  i» 

stein.  ^8*-  *^'^P^"  "'  ^'  ^  ff- 


(Erstes  Zehen  Nr.  11  S.  14.) 

Str.  1. 

Warum  ich  nur  von  Lieben 
die  Blätter  voll  geschrieben, 


V.  1  f. 

Quaeritis,  unde  mihi  totiens  scri- 
bantur  amores, 


^)  Vielleicht  mOchten  sich  den  gefundenen  noch  eine  oder  zwei 
Stellen  hinzufügen  lassen.  Das  Gedicht  Nr.  V  im  zweiten  Zehen 
(S.  38  f.)  'Hoffart  kommt  zu  Falle'  erinnert  lebhaft  an  Horaz  Oarm. 
IV,  13.  Sollten  nicht  die  Verse:  *Ku  kan  ich  meinen  Schimpff  ver^ 
schmerzen,  es  trifft  dich  mein  gewünschter  Fluch*  nicht  das  Horazi- 
sche  *Audivere,  Lyce,  di  mea  vota,  di  andivere,  Lyce:  fis  anus*  wieder- 
geben? —  Die  letzten  Verse  der  *ZuschrifV  vor  dem  ersten  Zehn: 
*denn  wird  Euer  Filidor  ....  über  dem  Gestirne  wallen'  (S.  12)  rufen 
unwillkarlich  den  letzten  Vers  von  Horaz  Carm.  I,  1  (Zuschrift  an 
Maecenas)  ins  Gedflchtniss:  *sublimi  feriam  sidera  vertice". 


Puls,  Vorbilder  för  Schwiegers  *Venue\ 


237 


Liebe,  der  Poeten  Wezz-       , 
stein.  ^^*- 

Warum   mein    Buch    verzärtlet 
lacht: 
möchr  einer  wundernd  fragen. 

Str.  2. 

Der  Feuer -hauch  der  Musen 
hat  meinen  engen  Busen 

mit  solchen  Flammen  nicht  ge- 
rührt. 
Apoll  ist  hier  nicht  Meister, 
nicht  Pallas,  so  die  Geister 

auff  Helikons  Gebüsche  führt. 


Properz  II,  1,  1  ff. 

Unde  meus  veniat  mollis   in 
ora  Über. 


V.  3. 

Non    haec  Calliope,    non   haec 
mihi  cantat  Apollo 


Str.  3  u.  4 

Str.  5. 

Ist  wo  ihr  Leib  entblösset: 
so  bin  ich  schon  beflösset 

mit  Wasser  aus  dem  Pferde-Guss. 
Auf  ihr  Bewegen,  regen, 
wächst    mir    geschwind    ent- 
gegen 

ein  Buch,  das  Troja  trozzen  muss. 

Str.  6 

Str.  7. 

Der  Schiffer  schwazzt  von  Stür 
men. 


vgl. 


V.  4-12. 


V.  13  f. 

Seu  nuda  erepto  mecum  luctatur 
amictu. 

Tum   vero  longas   condimus 
Uiadas. 


vgl.  V.  19-42. 

V.  43. 
Navita  de  venlis  .  .  .  [narrat]. 


Der  Hass  küsset  ja  nicht,   vgl.         Properz  I,  8,  27  ff. 

(Erstes  Zehen  Nr.  VI  S.  21) 

Str.  1. 

Die  ernstliche  Strenge  steht  end- 
lich versüsset  .  .  . 
Ich  habe  gewonnen  .... 

Str.  2. 

es  fliehe  der  ächzende  kräch- 
zende Neid! 


Mein  Gang  ist  gegründet  auch 
über  die  Sternen, 

Str.  4. 

Ich  habe  die  Schöne  mit  nichten 
gewonnen 


V.  28. 

Vicimus:    assiduas   non    tulit 
lila  preces. 

V.  29. 

Falsa  licet  cupidus  deponat  gau- 
dia  livor: 

V.  43. 

Nunc  'mihi   summa    licet    con- 
tingere  sidera  planus : 

V.  39. 

Hanc  ego  non  auro,  non  Indis 
flectere  conchis. 


-l-T fc_ 


238 


Pula,  Vorbilder  für  Schwieg^rs  *VenuB'. 


Der  Hass  küsset  ja  nicht,  vgl. 

mit  Solde  von  Golde,  mit  Per- 
lenem Wehrt .... 
Die  Zeilen  die  süssen 
aus  Pegasus  Flüssen 
die  haben  ihr  härtliches  Hertze 
gerührt: 

Verliebt,  Sinnen-krank,    vgl. 

(Erstes  Zehen  Nr.  VIII  S.  24.) 

Str.  1. 

Dorinde  hat  mich  erst  gelehrt 

der  edlen  Freyheit  abzusagen. 

Mir  war  kein  Amor  je  geehrt, 

ein  Spott  der  Venus  göldner 

Wagen. 

Str.  3. 
Ich  spüre,  dass  die  Götter  mich 
um  dessentwegen  fliehn   und 
hassen: 
das  weiss  ich  zwar,  iedoch  kann 
ich 
diss    schlimme    Thun    nicht 
unterlassen. 

Str.  4. 
Was  mir  an  Jungfern  meist  be- 
liebt, 
hass^  ich  und  strafiT  es  an  der 
Meinen : 
Das  gröste,   das  mich  iezt  be- 
trübt, .  .  . 
ist    ihrer    Keuschheit    reine 
Zucht, 

Str.  5. 
Der  Tag  wird  mir  zur  finstern 
Nacht, 
die  Nacht  zur  Marter,  Furcht 
und  Zagen, 
ja  zu  der  Hölle  selbst  gemacht, 
so  plagen   mich  die  Liebes- 
Plagen  

des  Tages  kann  ich  auch  nichts 
schaffen, 
so  bin  ich  auff  die  Lieb*  er- 
picht. 


Properz  I,  8,  27  ff. 


Sed  potui  blandi  carminis  ob- 
sequio. 


Properz  I,  1,  1,  ff. 

V.  1  f. 

Cynthia    prima    suis    miserum 
me  cepit  ocellis 

Contactum  nullis  ante  cupidi- 
nibus. 

V.  7f. 

Et  mihi  iam  toto  furor  hie  non 
deficit  anno. 

Cum   tamen    adversos  cogor 
habere  deos. 


V.  5. 

.  .  .   me    docuit   castas   odisse 
puellas 


V.  33. 

In  me  nostra  Venus  noctes  ezer- 
cet  amaras. 


Et  nullo  vacuus  tempore  defit 
amor. 


Puls,  Vorbilder  für  Schwiegers  *Veiius\ 


239 


Verliebt,  Sinnen-krank,   vgl.         Proporz  I,  1,  1  IT. 


Str.  6. 

Ach  helfft  mir,  helCfl,  wer  helffen 
kan? 
Ich  muss  sonst  heute  noch  er- 
kalten, 
tragt  mir  GefÜngnüss,  Marter  an, 
ich  will  es  auss-  ganz  willig 
-halten. 


V.  25  ff. 

.  .  vos,   qui  sero  lapsum  revo- 
catis,  amici, 
Quaerite     non    sani    pectoris 
auxilia. 

Fortiter  et  ferruni  saevos  patie- 
mur  et  ignes. 


Lass  die  Verstorbenen       , 
ruhen.  ^^' 

(Zweites  Zehen  Nr.  X  S.  45.) 

Str.  1. 

Stirb  FiUdor, 

Warum   wilstu    nicht    willig 
sterben? 

Str.  2. 

Zwar  Florilis 

wird  wegen  deines  Todes  lachen, 
Sie  wird  gewiss 

sich  lustig  bey  dem  Sarge  machen, 
und  auff  dem  Grabe  singen 
mit  jauchzen  und  mit  springen. 

Str.  3. 
die  abgefaulten  Knochen 
wird  sie  auch  selbst  bepochen. 


Properz  II,  8,  17  ff. 

V.  17  f. 

Sic  igitur  prima  moriere  aetate, 

Properti? 

Sed  morere 

V.  18  f. 
....  interitu  gaudeat  iila  tuo. 

Exagitet  nostros  Manes,  sectetur 
et  umbras. 


Insultetque  rogis 


V.  20. 
Calcet  et  ossa  mea. 


Der  verbrannte  Amor.     vgl.  Properz  III,  3,  1  ff. 


(Drittes  Zehen  Nr.  VI  S.  54.) 

Str.  1. 

Solt*  Amor  wohl  geflügelt  sein? 

Str.  3. 
Er  muss  wohl  halten  Stand, 
die  Federn  sind  verbrannt. 

Str.  4. 
Er  aber  hat  selbst  Schuld  daran, 

dass  er  nicht  weiter  kann. 
Er   hat    ein  Feur    in    meinem 
Herzen 
entzündet    mit    der    Liebes- 
Kerzen  .  .  . 


V.  5. 

.  .  .  non  frustra  ventosas  addidit 
alas, 

V.  14. 

.  .  .  certe  pennas  perdidit  ille 
suas. 

V.  15  f. 
Evolat  heu  nostro  quoniam  de 
pectore  nusquam 

Assiduusque    meo    sanguine 
bella  gerit. 


240 


Puls,  Vorbilder  für  Schwiegers  'Venus'. 


Verzweiffeite  Liebe.      vgl. 

(Sechstes  Zehen  Nr.  I  S.  100.) 

Str.  3. 

Ach!   hätte   mich    der   Lebens- 
Schwestern  eine 
umgebracht 
die  erste  Nacht, 
als  ich   noch    ohn  Vernunft 
und  kleine 
an  der  Mutter  sog 
und  mein  Elend  nicht  er- 
wog. 

Nacht-Gläkk.  vgl. 

(Letzeres  Zehen   Nr.  I  S.  117.) 
Str.  1. 

Lyeus  hatte  mir  den  Sinn 
durch  seines  Saütes  Zug  be- 
nommen, 

ich  gieng  und  wüste  nicht,  wo- 
hin, 

Str.  2. 

doch  wüst'  ich  recht  nicht,  wo 
ich  war, 
so  hatte  mich  der  Rausch  be- 
dekket. 

Str.  4. 

Sie  hätt'  ihr  aufgelöstes  Haubt 
unachtsam    auff   dem    Arme 
liegen, 

Str.  5. 

Sie  zog  den  süssen  Zimmet-Geist 
bald  ein,  bald  haucht  sie  ihn 
zurükke, 

Str.  8. 

Hie  stritte  bey  mir  die  Begier, 
die   Schaam    und    brünstiges 
Verlangen: 
sonst  hätt'  ich  diese  Götter-Zier 
so,  wie  sie  lag,  entblösst  um- 
fangen. 


Properz  HI,  5,  28  f. 


Atque    utinam   primis   animam 
me  ponere  cunis 


lussisset    quaevis    de    tribus 
una  sororl 


Properz  1,  3,  1  ff. 


V.  9. 

Ebria  cum  multo  traherem  ve- 
stigia  Baccho 


V.U. 

.  .  nondum  etiam  sensus  deper- 
ditus  omnes, 

V.  8. 

Cynthia  non  certis  nixa  caput 
manibus, 

V.  7. 

.  .  .   Visa  mihi    mollem   spirare 
quietem 

V.  13  «f. 

Et   quamvis   duplici   correptum 
ardore  iuberent 
Hac  Amor  hac  Liber,  durus 
uterque  deus, 
Subiecto  leviter  positam  temptare 
lacerto 
Osculaque     admota    sumere 
cara  manu,  .  .  . 


Puls,  Vorbilder  für  Schwiegers  *  Venus'. 


241 


Nacht-Glükk. 

Str.  9. 
dass  ich  lange  Zeit 


vgl.         Properz  I,  3,  1  ff. 


allein   mit   Ansehn    war    zu- 
frieden. 

Str.  10. 

Nicht  Argus  gab  so  eben  acht 
auff  die  ihm  anvertrauten  Kühe, 

Str.  11. 

Wie  oft  scholt*  ich  den  Traum- 
Gott  auss, 
wenn  sie  liess  einen  Seuffzer 
hören, 
beförchtend,   dass  durch  einen 
Grauss 
er  ihre  Ruhe  möchte  stören. 

Str.  15. 

Er  [der  Mond]  schoss^  ihr  einen 
Demant-straal 
in   die  verschlossnen   Augen- 
lieder, 


V.  19. 
. .  intentis  haerebam  fixus  ocellis. 


Argus 


V.  20. 

ut    ignotis 
Inachidos 


cornibus 


V.  27. 

Et  quotiens  raro  duxti  suspiria 
motu, 
obstupui  vano  credulus  auspi- 


cio. 


Ne  qua  tibi  insolitos  portarent 
Visa  timores  .  . 


V.  31  ff. 

luna  .  . 

conpositos  levibus  radiis  patefecit 
ocellos. 


Der  Wein  erfreuet  des         . 
Menschen  Herz.  ^' 


Tibull  1,2,  1  ff. 


(Fönffles  Zehen.    Nr.  II  S.  85.) 

Str.  1. 

Auff!  bringet  Wein. 
Mein    Schmerze    will    ertränket 
sein. 

Str.  4. 

Du  harte  Tühr, 

verfluchet  seystu  für  und  für! 
es  müssen  deine  Pfosten 
zu  ihrem  eignem  UnheU  rosten. 

Str.  5. 
Diespiter 

stürm*  über  deine  Pforten  her! 
es  müssen  deine  Schwellen 
durch  seinen  Blizz  in  stükken 
schellen. 


V.  1. 

Adde  merum  vinoque  novos  com- 
pesce  dolores 


V.  7. 

Janua  difßcilis  domini,   te   ver- 
beret  imber 


V.  8. 

Te  lovis  imperio  fulmina  missa 
petant. 


242 


Puls,  Vorbilder  für  Schwiegere  *Venu8'. 


Frisch  bei  der  Liebe!     vgl.  Tibull  I,  2,  15  ff. 


(Fünfftes  Zehen.    Nr.  III  S.  87.) 

Str.  2. 

Sie  lehrt  auffKuDst- gemachten 

Lettern 
zur    Liebsten    Fenster    ein    zu 
klettemi 
die  Liebe  weiss  ein  Loch  zu 

zeigen 
in    ein    verriegelt    Hauss   zu 
steigen. 

Str.  3. 

Sie  kan  uns  unvermerket  führen 

durch     so     viel    wolverv^ahrte 

Tühren, 

den  Tritt  kan  sie  so  leise  lehren, 
die    Mutter    solt'     auf    Kazzen 
schweeren. 

Str.  4. 

sie   lehrt  das   Bette  sacht  auf- 
heben, 

Str.  B. 

Diss   lehrt  und  sonst  vielmehr 

das  Lieben. 
Doch    willstu    dich    im   Lieben 
üben: 
so  muss  die  Faulheit   stehn 

bey  Seite, 
die    Lieb'    erfordert    frische 
Leute. 


(Audendum  est ;  fortes  adiuvat 
ipsa  Venus) 


V.  17. 

Ula  favet,  seu  quis  luvenis  nova 
liniina  tentat, 


V.  18. 

seu   reserat    fixo    dente    puella 
fores. 

V.20. 

Ula  pedem  nullo  ponere  posse 
sono  [docet], 

V.  19. 

Ula    docet    moUi    furtim    dere- 
pere  leclo, 


V.  23. 

Nee  docet  hoc  omnes,  sed  quos 
nee  inertia  tardat, 
Nee    vetat    obscura    surgere 
nocte  timor. 


Nacht-Lied.  vgl. 

(Fünffles  Zehen.  Nr.  IV  S.  88.) 
Str.  4. 

Der  Himmel  riss' 
auff  mein  Bekümmernüss 
mit  Hagel  und  mit  Schlössen, 


Str.  5. 

Latern  und  Licht 
entdekket  mich  nur  nicht! 
kehrt  ab  das  Judas-Feuer. 


Tibull  1,2,31  ff. 


V.  32. 

cum  multa  decidit  imber 
aqua. 


V.  38. 

neu  prope  fulgenti  lumina  ferte 

face. 


Puls,  Vorbilder  für  Schwiegers  *Venu8\ 


243 


Nacht-Lied. 

Schaut  mir  nicht  nach, 
ihr  Leute,  was  ich  mach* 
ich  armer  Freyer. 


Str.  6. 

Geht  mich  vorbey 

und  fragt  nicht,  wer  ich  sey, 
doch,  wird  mich  wer  er- 
kennen : 
Der  werde  stumm. 

Str.  7. 

Schweert  und  beteurt 
bey  Ammon  der  da  feurt 
mit    Blizz    und    Donner- 
schlägen : 
es  sey  niemand, 
als  der  euch  unbekant 
gewest  zugegen. 


vgl.  Tibull  I,  2,  31  ff. 

V.  35. 

Parcite  luminibus,  seu  vir  seu 

femina  fiat 
ObTia:   celari  vult  sua  furta 

Venus. 

V.  37. 

Neu  strepitu  terrete  pedum  neu 
quaerite  nomen 

V.  39. 

Si  quis  et  imprudens  aspexerit, 
occulat  ille 


V.  40. 

Perque  deos  omnis  se  memi- 
nisse  neget. 


Treugeliebt,  unbetrübt.  vgl.  Tibull  I,  3,  57  ff. 

(Fünfftes  Zehen.  Nr.  VII  S.  91.) 

Str.  1. 

Es  ist  ein  Ort  in  dfistrer  Nacht, 
wo  Pech  und  blauer  Schwefel 
brennet,  .  .  . 
mit    Schlamm    und    schwarzen 
Wasserwogen 
ist  sein  verfluchter  Sitz  um- 
zogen. 

Str.  2. 
Megera  denkt  dar  Martern  auss 
mit  ihren  Schwestern,  denen 

Schlangen 
um     die    vergifften    Schiäffe 

hangen. 


man    höret    dar    des    Zerbers 
Brauen. 


V.  67  f. 

. . .  scelerata  iacet  sedes  in  nocte 
profunda 

. . .  quamcircum  flumina  nigra 
sonant. 


V.  69  f. 
Tisiphoneque')     impleza    feros 
pro  crinibus  angues 
Saevit,  et  buc  illuc  impia  turba 
fagit 

V.  71. 

Tum  niger  in  porta  serpentum 
Cerberus  ore 
stridet ... 


')  Der  Name  ist  von  Schwieger  durch  dea  bekannteren  Furien^ 
namen  *Megaera'  ersetzt. 


244 


Puls,  Vorbilder  für  Schwiegers  'Venus'. 


Treugeliebt,  unbetrübt.  vgl. 


Str.  3. 
Ixions  Marter-rad  ist  da 


und  Tantalus  zum  Durst  ver- 
bannet. 


der  Tizius  steht  ausgespannet 
und  wuntscht   sein  Ende  were 
nah. 


Dar    sind    die    ausgehöhlten 
Fässer 
in  Letens  dunkelm   Tod- 
gewässer. 

Str.  4, 

Zu  dieser  Holen  ist  bestimmt, 
wer    mit    der    zarten    Liebe 

spottet, 
wer  gegen  Amorn  au  ff- sich- 
rottet, 
und  wieder  Venus  Waffen  nimt, 

Str.  5. 

Hergegen  ist  ein  grünes  Tahl 

wo    die    beblühmten    Weste 
kühlen. 

Hier  höret  man  von  Seiten- 
spielen 
von    Lust    und    Freuden    ohne 
Zahl. 

die  Felder   blühn    in  bunten 
Nelken 

und  Rosen  ,    welche  nie  ver- 
welken. 

Str.  6. 
Hier  wehet  eine  Zimmet-Lufft, 


Tibull  I,  3,  57  ff. 

V.  73  f. 
lUic   lunonem  temptare  kionis 
ausi 
Versantur  celeri  noxia  membra 
rota 

V.  77  f. 

Tantalus   est    illic,     et    circum 
stagna;  sed  acrem 
lam  iam  poturi  deserit  unda 
sitim; 

V.  75  f. 

Porrectusque  novem  Tityus  per 
iugera  terrae 
Assiduas  atro    viscere  pascit 
aves. 

V.  79  f. 

Et  Danai  proles,  Veneris  quod 
numina  laesit, 
In  Cava  Lethaeas  dolia  portat 
aquas. 


V.  81  f. 

Illic  sit,  quicumque  meos  violavit 
amores, 
Optavit  lentas  et  mihi  militias. 


V.  58  ff. 

Ipsa  Venus  ducit  campos   in 

Eiysios. 
Hie   choreae    cantusque  vigent, 

passimque  vagantes 
Dulce    sonant    tenui    gutture 

Carmen  aves. 

V.  61  f. 

totosque  per  agros 

Floret  odoratis  terra  benigna 
rosis. 

V.  61. 

Fert  casiam  non  culta  seges  . . . 


Puls,  Vorbilder  fiir  Schwiegers  'Venus'. 


245 


Treugeliebty  ungetrübt,  vgl. 


Str.  7. 

Hier  ist  ein  milder  Liebes- streit, 
das    junge    Volk    spielt    mit 

Jungfrauen 
auf  Elis  bunten  Silber-auen. 

Str.  8. 

Wol  dehm ,  der  sich  der  Lieb' 
ergiebt ! 

der  wird  bekrönt  mit  Myrten- 
kränzen 

geniessen  diesen  steten  Lenzen. 

Felder-Preyheit. 

(Fünffles  Zehen.  Nr.  VIII  S.  93.) 

Str.  1. 

Die  Freud'  hat  sich  aufTs  Land 
begeben. 
Was  mach'  ich  in  der  Stadt? 
Ein    Narr    ist,    der    allhier   zu 
leben 
sich  überredet  hat. 

Str.  3. 

Selbst    Venus    wil    zur    Hirtin 

werden 

nu  sie  der  Schaffe  wacht. 

Der  Amor  fleuget  um  die  Heer- 

den 

und  treibet  ein  zu  Nacht. 

Str.  4. 

Sollt'    ich    mich    des    Pflügens 

schämen  y 

wenn  sie  mir  Essen  bringt, 

mich    um    die'  Bauren  -  Arbeit 

grämen, 

wenn  sie  zu  Abend  singt . . . 

Str.  5. 

Jezt    brennt   der  Sonne   heisse 
Kerze 
im  wilden  Hundes-stern : 


Tibull  I,  3,  57  ff. 
V.  63  f. 

Ac  iuvenum  series  teneris  im- 
mixta  puellis 
Ludit,  et  assidue  proelia  miscet 
Amor. 
(Vgl.  ob.  V.  58.) 

V.  65  f. 

Ulic  est,  cuicumque  rapax  mors 
venit  amanti. 
Et  gerit  insigni  myrtea  serta 
coma. 


vgl. 


Tibull  II,  3,  1  ff. 


V.  1. 

Rura  meam,    Cornute,    tenent 
villaeque  puellam: 
Ferrens  est,   eheu,    quisquis 
in  urbe  manet. 


V.  3. 

Ipsa  Venus  laetos  iam  nunc  mi- 
gravit  in  agros, 
Verbaque  aratoris  rustica  discit 
Amor. 

V.  5ff. 

0  ego,  ut  aspicerem  dominam, 
quam  fortiter  illic 
Versarem  valido    pingue    bi- 
dente  solum 
Agricolaeque  modo  curvum  se- 
ctarer  aratrum, 
Dum    subigunt    steriles   arva 
colenda  boves. 

V.  9f. 

Nee  quererer,  quum  sol  graciles 
exureret  artus, 


246 


Puls,  Vorbilder  för  Schwiegera  'Venus'. 


Felder-Freyheit. 

Was  acht  ich  Hizze,  schrunden, 
schwerze? 


Str.  6. 

Zu    Delfos    schwieg    die    Pyte 
stille, 
als  Föbus  war  entbrannt, 
Ihm   liebt'  Admetus  Schaaff-ge- 
brülle 
als  Amor  ihn  verband: 

Str.  8. 

Die   alte  Welt   wohnt'   in    den 
Hatten 
und  ass  die  Eichel-nuss, 

Str.  9. 

Da    war   kein   Hüter,    der  die 
Pforten 
in  harte  Riegel  schloss, 
die  Freyheit  war  an  allen  Orten 

in  ihrer  Freyheit  gross, 
Es  Hebt'   und   herzte    sich   ein 

Jeder. 
Kommt,  ihr  Gebräuche,  kommt 
doch  wieder. 


vgl.  TibuUII,  3,  1  ff. 

Laederet   et   teneras   pussula 
rupta  manus. 

V.  11. 

Pavit  et  Admeti  tauros  formosus 
Apollo 
Nee  cithara  intonsae   profue- 
runtve  comae. 
Nee  potuit  curas  sanare  salubri- 
bus  herbis 
Quidquid  erat  medicae  vicerat 
artis  amor. 

V.  72. 

Gians  aluit  veteres  .... 

V.  76. 

NuUus   erat   custos,    nulla   ex- 
clusura  dolentes 
lanua .... 

V.  72. 

....  et  passim  semper  amarunt. 

V.  77. 

. . .  si  fas  est,  mos,  precor,  ille 
redi. 


Was  Musen,  wo  kein 
Geld  ist. 

(Fünffles  Zehen.     Nr.  X  S.  96.) 

Str.  I. 

Pakket  euch,  ihr  Pierinnen, 
wo  ihr  mir  nicht  helffen  könnt  I 

Str.  2. 

Nu  mich  Kloris  ausgeschlossen, 

nüzzt  mir  keiner  Verse  Zier. 

Nu  der  Geiz  sie  hat  verblendet: 

ist  mein  Dichterwerk  geschändet. 

Str.  3. 

Darum  hat  mir  euer  Feuer 
meine    Brust     nicht     auffge- 
flammt,  .... 


vgl. 


TibuIlII,  4,  13  fr. 


V.  15. 

Ite  procul,  Musae,  si  non  pro- 
destis  amanti: 

V.  13  f. 

Nee  prosunt  elegi  nee  carminis 
auctor  Apollo: 
lila  cava  pretium  flagitat  us- 
que  manu. 

V.  16. 

Non  ego  vos,    ut   sint   bella 
canenda,  colo. 


Puls,  Vorbilder  für  Schwiegers  *Venus\ 


247 


Was  Musen,  wo  kein  . 

Geld  ist.  ^^*- 

dass  ich  wollte  Mavors- Helden, 

Krieges -Zucht    und    Schlachten 

melden. 


TibullII,  4,  13  ff. 


Str.  4. 

Dass  ich  des  Gestirnes  Läuffe, 
Gross*  und  Einfluss  schreiben 
soIt\ 
meiner  kleinen  Htrten-Pfciffe, 

ist  die  Kloris  der  nicht  hold: 
wil  ich  sie  in  stQkken  schmeissen 
und    den    Lorber  -  Kranz     zer- 
reissen. 

Str.  5. 

Jupiter 

Sengy   verbrenn,  zerreiss,    zer- 
schmetter, 
dehn,  der  um  die  Ufer  wacht 
auf  die  Perlen  und  Gesteine, 

Str.  6. 

Daher  ist  die  Hoffart  kommen 
daher  hat  der  grimme  Neid 

seinen  Anfang  erst  genommen, 
darum  ward  zur  Abend -Zeit 

erst  die  harte  Töhr  verschlossen 

und  ein  Armer  ausgestossen. 

Str.  7.») 

Daher  wurd'  ein  Hund  gehalten 
der  doch  Augenblicklich 
schweigt, 

wenn  ihm  eine  Hand  der  Alten 
Panken-tahler  wird  gezeigt. 


V.  17  ff. 

Nee  refero  solisque  vias  et  quah's, 
ubi  orbem 
Complevit,  versis  Luna  recurrit 
equis. 
Ad  dominam  faciles  aditus  per 
carmina  quaero: 
Ite  procul,  Musae,  si  nihil  ista 
valent. 


V.  27, 

0  pereat,  quicumque  legit  viri- 
desque  smaragdos 


V.  29. 
Hinc  dat  avaritiae  causas  •  .  .  . 

V.  31. 

Haec  fecere  malas :  hinc  clavim 
ianua  sensit 

V.  32  ff. 

Et  coepit  custos  liminis  esse 

canis. 
Sed,    pretium   si  grande  feras, 

custodia  victa  est: 
Nee  prohibent  claves  et  canis 

ipse  tacet. 


')  Die  beiden  letzten  Verse  geben  in  der  überlieferten  Fassung 
keinen  Sinn.  Die  Situation  ist  nach  Tibnll  doch  die,  dass  die  alte 
Thürhüterin,  durch  Geld  bestochen,  Einlass  gewährt  und  den  Hund 
beschwichtigt.  Nach  der  Lesung  bei  Schwieger  jedoch  würde  der 
Hund  dadurch  beschwichtigt,  dass  ihm  Geld  gezeigt  wird.  In  diesem 
4  hm'  liegt  demnach  der  Hauptfehler.  Um  den  oben  angegebenen  Sinn 
zu  erhalten,  müsste  man  etwa  lesen: 

wenn  in  meiner  Hand  der  Alten 
Blanker  Thaler  wird  gezeigt. 


248 


Puls,  Vorbilder  für  Schwiegers  *Venu8\ 


Was  Musen,  wo  kein 
Geld  ist. 


vgl. 


Tibull  II,  4,  13flF. 


Str.  8.*) 

Aber  du,  der  du  mit  Gaben 
mich  Verliebten  stössest  auss, 

Feuer,  Wind  und  Diebes-Raben 
Sturzen     dein    hochprangend 
Hauss, 

biss  es  möge  gleich  der  Erden 

und  mit  dir  vertilget  werden. 


V.  39  ff. 

Ät  tibi,    quae  pretio  victos  ex- 
cludis  amantes, 
Diripiant  partes  ventus  et  ignis 
opes; 
Quin  tua  tunc  iuvenes  speclent 
incendia  laeti, 
Nee    quiaquam    flammae    se- 
dulus  addat  aquara. 


Zuschrift  vor  dem  letz- 
teren Zehen. 


vgl. 


(S.  116.    An  Priapus.) 

ein  dikk  beschattend  Laub  soll  dir 
Beschirmung  reichen 

vor  aller  Sonnenhizz  und  schaffen 
kühle  Lust, 

der  Nordwind  sol  dich  nie  mit 
rauhem  Schnee  be- 
wehen .  . . 


Tibull  1,4,  1  ff. 


Sic  umbrosa  tibi  contingant  tecta, 
Priape, 
Nee  capili  soles,  ne  noceantve 
nives. 


Zugabe  Nr.  10  S.  151  f.     vgl. 


Tibull  I,  2,  91  ff. 


Einst  sah  ich  einen  alten  Narren 
die  grauen  Haare  reissen  aus 
vor  einer  Schönen  Haus* 

und  wer  alda  vorübergieng 
hub  weidlich  an  zulachen, 
dass   er    erst    an-    im    Alter 

-fieng 
die  Liebe  mit  zu  machen. 


Vidi  ego 

.  .  .   Veneris  vinclis    subdere 

coUa  senem  .  .  . 
Et  manibus  canas  ßngere  velle 
comas ; 
Stare  nee  ante  fores  puduit . . . 
Hunc  puer  hunc   iuvenis  turba 
circumterit  arta 
Despuit  in  molles  et  sibi  quis- 
que  sinus. 


*)  Die  beiden  ersten  Verse  werden  erst  durch  die  lateinische 
Parallelstelle  verständlich.  Statt  *der  du*  ist  ohne  Zweifel  *die  du* 
zu  schreiben.  Die  Pointe  liegt  in  dem  ^pretio  victos*,  das  tritt  bei 
Schwieger  in  der  überlieferten  Fassung  nicht  hervor;  ausserdem  ist 
der  Ausdruck  *mit  Gaben  mich  Verliebten  stössest  ans*  härter,  als  wir 
es  sonst  bei  ihm  gewohnt  sind.  Sollte  er  *mit  Gaben  mich  Be- 
siegten* geschrieben  haben? 


Puls,  Vorbilder  ftlr  Schwiegers  'Venus'.  249 

Zugabe  Nr.  16  S.  153  f.      vgl.  Tibiall  I,  8,  39  f. 


Nim  Gold  einmahl,  und  leg  es 

in  das  Bette, 
Versuch  es   ob  es  Wärme  gibt 
und  ob  dichs  wieder  liebt 


Non  lapis  hanc  gemmaeque  iuvant, 
quae  frigore  sola 
Dormiat  et  nulli  sit  cupienda 
viro. 


Zugabe  Nr.  18  S.  154      vgl.  Tibull  IV,  13,  1  f. 

V.  5f. 

Ach !  möchtestu  doch   mir  nur 

schöne  sein 
so  nennte  sich  kein  ander  deinen 

Knecht. 


Atque  utinam  possis   uni    mihi 
bella  videri, 
Displiceas  aliis!   sie  ego  tutus 
ero. 


Dies  sind  die  Belegstellen,   die  ich  jetzt  zu  erbringen 

vermag.    Wer  schärfere  Augen  hat,    wird   vielleicht  noch 

mehr    finden.      Sie    genügen    für    die    Behauptung ,    dass 

Schwieger  Properz  und  Tibull  in  seinen  Gedichten  häufig 

^angezogen'   bat.     Anlehnungen   an  Yergil  sind  mir  in  der 

'Gehamschten  Yenus'  nicht  aufgestossen ;  Ovid  und  Catull 

klingen  zuweilen  schwach  an,   doch  kann  ich  vorläufig  die 

einzelnen  Stellen  nicht  nachweisen.')     Dagegen  glaube  ich, 

am*  Schlüsse  von   Schwiegers  Werk  S.  154   eine  Parallele 

zu  Martial  zu  finden: 

Der  Kato  nennt  es  Zoten, 
was  ich  bissher  gesezzt. 
Wer  ist  denn  je  gewesen, 
der  ihn  es  zwang  zu  lesen? 

So   sagt  Martial   in  seiner  ^Epistola  ad  lectorem'  vor  dem 

ersten  Buche:    'Non  intret  Cato  theatrum  nostrum'  und  im 

ersten  Epigramm: 

Nosses  iocosae  dulce  cum  sacrum  Florae 
Festosque  lusus,  et  licentiam  vulgi. 
Cur  in  theatrum  Cato  severe  venisti? 

Dass  Schwieger  in  der  That  diese  Martialstelle  im  Ge- 
dächtniss  gehabt  hat,  geht  klar  hervor  aus  seiner  Yorrede. 
Seite  3  heisst  es :  'Sagstu  .  .,  ich  sey  in  etlichen  Gedichten 
ein  wenig  zu  natürlich  gegangen:  so  gebe  ich  zur  Ant- 
wort, dass  ich  selbige  denen  katonischen  Gemühtem  auss- 

*)  Einen  Anklang  an  Ovid,  Ars  amat.  II,  635  f.  könnte  man  finden 
in  »Zngabe'  Nr.  14  V.  1  u.  2.  —  Ebenfalls  könnte  man  Nr.  3  im  Fünften 
Zehn  (S.  87)  vergleichen  mit  Ars  amat.  II,  229  £P. 

yiert«\jahxBobiift  Ar  litteratuKMchiehte  m  17 


250  Fuh,  Vorbilder  für  Schwiegers  *Venu8\ 

drücklich  zu  lesen  verbiete,   auch  nur  zu   der  Zeit,  wenn 

die    Florischen    Feste    angestellet    werden,    gesungen 

haben    wil/        Von    diesem    strengen    Sittenrichter    Cato 

spricht  Schwieger  auch  in  der  'Zuschrift'  vor  dem  Lezteren 

Zehen  (S.  116): 

Weg  Kalo,  Kurius,  nu  habt  ihr  satt  gelesen, 

was  hiernegst  folget,  ist  vor  eine  muntre  Stirn, 
die  Spiel  und  Scherz  verstehet 
und  nicht  zu  ernstlich  gehet. 
Die  Regul  welch'  ersann  Fabrizius  Gehirn 
ist  meiner  Jugend  Form  und  Richtschnur  nie  gewesen. 

Hier  treten  Curius  und  Fabricius  als  Vertreter  einer 
ernsten  Lebensführung  hinzu.  Dass  diese  beiden  Männer 
hier  zusammen  genannt  werden,  ist  vielleicht  daraus  zu 
erklären ,  dass  sie  im  Valerius  Maximus  (IV,  3 ,  5  u.  6) 
nacheinander  behandelt  werden.  Die  Erzählung  des  Vale- 
rius zeigt  uns  auch,  was  wir  unter  der  'Regul'  des  Fabri- 
cius zu  verstehen  haben.  Es  heisst  dort  a.  a.  0.:  '(Fabri- 
cius) legatus  ad  Pyrrhum  profectus,  cum  apud  eum  Cineam 
Thessalum  narrantem<audisset,  quendam  Atheniensem  darum 
sapientia  suadere,  nequid  aliud  homines  quam  voluptatis 
causa  facere  vellent,  pro  monstro  eam  vocem  accepit  con- 
tinuoque  Pyrrho  et  Samnitibus  istam  sapientiam  deprecatus 
est.' 

Zum  Schluss  noch  ein  paar  Worte  zur  Kennzeichnung 
der  Art  und  Weise,  in  der  Schwieger  seine  Vorbilder  be- 
handelt. Ich  sehe  hierbei  ab  von  den  nur  ganz  vereinzelt 
sich  findenden  Parallelen  zu  Horaz  und  Martial  und  be- 
trachte sein  Verhältnis  zu  den  häufig  angezogenen  Ele- 
gikem  TibuU  und  Properz.  —  Mir  ist  unter  den  Zeitge- 
nossen des  Verfassers  der  'Geharnschten  Venus',  ja  noch 
höher  hinauf  kein  Dichter  bekannt,  der  in  der  Behandlung 
und  Bearbeitung  entlehnter  Stoffe  eine  gleiche  Meister- 
schaft zeigt,  der  mit  gleicher  Freiheit  seiner  Vorlage  gegen- 
über steht.  Wir  gewahren  bei  Schwieger  auch  nicht  die 
leiseste  Spur  einer  ängstlichen  Nachahmung,  sondern  ein 
Umschmelzen  und  Übersetzen  des  Gegebenen  in  den  Sinn 
und  Ton  seines  Volkes  und  seiner  Zeit.  Mit  feinem  Takt 
sucht  er  sich  bei  den  Alten  Vorwürfe  und  Stoffe  für  seine 
Lieder.    Er  ist  sich  sehr  wohl  des  Unterschiedes  zwischen 


Witkowski,  Ein  Gedicht  Ewald  von  Kleists.  251 

einem  Liederdichter  und  einem  Elegiker  bewusst.  Die  ab- 
wechselnden Bilder  und  Stimmungen  der  römischen  Elegie 
zerlegt  er  deshalb  in  verschiedene  Gedichte  und  sucht 
durch  den  Wechsel  von  Versmass  und  Melodie  die  ver- 
schiedenen Töne  zu  treffen.  Zur  Erläuterung  dieses  Yer- 
fahrens  dient  aufs  beste  Tibull  I,  2.  Aus  dieser  Elegie 
hat  Schwieger  den  Stoff  zu  drei  seiner  besten,  lebens- 
frischesten Lieder  entnommen  (vgl.  Fünftes  Zehn  Nr.  2. 
3.  4.),  in  der  Weise,  dass  der  Römer  die  Zettelföden  liefert, 
er  selbst  den  Einschlag. 

Auch  da,  wo  der  Dichter  sich  enger  an  das  Stoffliche 
seiner  Vorlage  anschliesst  (vgl.  Fünftes  Zehn  Nr.  7),  lässt 
er  sich  durch  das  Vorliegende  doch  nicht  behindern,  son- 
dern schreitet  frei  und  ungezwungen  einher,  ändernd  und 
neu  schaffend,  wo  es  ihm  beliebt.  So  macht  er  das 
Fremde  sich  ganz  und  gar  unterthänig,  dass  es  wie  sein 
Eigenthum  aussieht. 

Ein  Beispiel  solcher  Behandlung  der  Alten  aus  der 
neueren  Zeit  bietet  Goethe.  Ich  erinnere  nur  an  das  Ge- 
dicht 'Der  Besuch'  (Hempel  1,  176),  das  er  dem  Properz 
(I,  3)  nachgedichtet  hat.  Dieselbe  Properzische  Elegie  ist 
auch  von  Schwieger  behandelt  in  dem  Liede  'Nachtglück' 
(Letzteres  Zehn  Nr.  1  S.  11 7).  Ein  Vergleich  Schwiegers 
mit  Goethe  ist  höchst  lehrreich.  Wenn  des  ersteren  Ge- 
dicht auch  nicht  im  entferntesten  an  die  hohe  Kunst  und 
Zartheit  des  Goetheschen  hinanreicht,  so  gleichen  sie  sich 
doch  darin  vollkommen,  dass  sie  beide  durchaus  originelle, 
wohlgelungene  Neubearbeitungen  derselben  Vorlage  sind. 

Flensburg.  Alfred  Puls. 


Ein  Gedicht  Ewald  von  Kleists. 

Sauer  erwähnt  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe 
der  Gedichte  Ewald  von  Kleists  (S.  4)  ein  Gedicht,  das  er 
nur  aus  der  Anfuhrung  Chr.  H.  Schmids  (im  Nekrolog  der 
vornehmsten  teutschen  Dichter  2,  393)  kennt ,  da  er  die 
dort  als  Quelle  bezeichnete  Zeitschrift  S.  G.  Langes,  'Einer 

17* 


252  Witkowski,  Ein  Gedicht  Ewald  von  Kleists. 

Gesellschaft  auf  dem  Lande  poetische,  moralische,  ökono- 
mische und  kritische  Beschäftigung  (Halle  1777)'  nirgends 
auffinden  konnte.^)  Die  Zeitschrift  ist  auf  der  Egl.  Biblio- 
thek zu  Berlin  vorhanden  (Sign.  Ac  6415)  und  enthält  in 
der  That,  neben  manchem  andern  Bemerkenswerthen  (z.  B. 
einer  Reihe  sonst  nirgends  gedruckter  Opitzischer  Gedichte), 
auf  S.  203  ff.  ein  'Aufgefunden  früheres  Gedicht  von  dem 
Herrn  Ewald  von  Kleist'.  Es  ist  betitelt  'Pilinde'  und 
lautet  folgendermassen. 

Filinde  lag  am  Strauche 
Gekühlt  von  Zephirs  Hauche. 
Aus  Müdigkeit  vom  Kummer 
Befiel  sie  bald  ein  Schlummer. 
Die  Locken  rollten  um  die  Brust 

Der  Mund  war  tausend  Sylphen  Lust. 

• 

Weg  Rosen  und  Narcissen! 

Ich  mag  von  euch  nichts  wissen ; 

Ihr  pflegt  mich  oft  zu  rühren 

Und  mich  zu  balsamiren. 

Jetzt  Übertrift  dies  schwarze  Haar 

Den  Duft,  der  mir  sonst  Ambra  war. 

Dies  lispelte  vor  Freuden 
Den  Sylphen,  die  sich  weiden, 
Die  um  die  Lippen  schwärmen 
Und  küssen,  saugen,  lärmen, 
Der  sanfte  Südwind  lieblich  zu, 
Und  lies  den  Locken  keine  Ruh. 

Schweig  Zephir  von  den  Haaren! 
Versetzeten  die  Schaaren, 
Du  würdest  ob  den  Küssen, 
Die  Locken  leichtlich  missen; 
Ihr  Athem  duftet  Veilgen  gleich. 
Wie  ist  das  Haar  so  anmuthsreich ! 

Der  kleine  Gott  mit  Flügeln, 
Der  auf  smaragdnen  Hügeln 
Mit  seinem  Bogen  spielte. 
Bald  hier,  bald  dorthin  zielte. 
War  von  Filinden  nicht  zu  weit 
Und  hörte  diesen  Vorzugsstreit. 


^)  Sauer  hat  die  Zeitechrift  später  gefanden;  schon  1885  hat  er 
sie  für  Deutsche  Litteraturdenkmale  22  benutzt.  Siehe  auch  unten 
Sauers  Neue  Mittheilungen  über  E.  v.  Kleist  JV.    Sfit. 


Witkowski,  Ein  Gedicht  Ewald  yon  Kleists.  253 

Er  fing  sich  an  zu  heben, 
Wie  Schwäne  wallend  schweben, 
Wenn  sie  mit  Silberschwingen 
Die  Luft  zu  tönen  zwingen, 
Bis  er  sich  endlich  nieder  liess, 
Wo  Zephir  Rosen  von  sich  bliess. 

Hier  fand  er  die  Filinde, 

Ein  Spiel  vom  Mit  tags  winde. 

Er  sah  des  Busens  Steigen 

Beschneyte  Hügel  zeigen 

Und  Lügen  auf  der  Stirne  blühn^ 

Der  Wangen  Farbe  gleich  Rubin. 

0!  sprach  er:  Freyheits-Klippen ! 

Corallen  dieser  Lippen! 

0  Schnee  vermischt  mit  Rosen! 

Wer  wird  dich  nicht  liebkosen? 

Du  lockigt  Haar,  das  sie  bekränzt. 

Bist  Wolken  gleich,  draus  Venus  glänzt. 

Des  Leibes  schlanke  Zierde, 
Ihr  Fuss  erweckt  Begierde, 
Der  Arme  Milch  entzücket; 
Ein  Feld  von  Schönheit  blicket 
Aus  ihr  hervor,  darinn  man  irrt. 
Das  jeden  reizt  und  ihn  verwirrt. 

Doch,  das  was  mir  gefallen, 
Ist  freylich  unter  allen 
Am  würdigsten  zu  loben. 
Schnell  ward  ihr  Kleid  gehoben. 
Der  lose  Zephir  hauchte  drein; 
0  Anblick,  voll  von  süsser  Pein! 

Ja  Locken  mit  den  Lippen, 
Ihr  seyd  der  Freyheit  Klippen, 
Glückselig,  wer  euch  wehleti 
O  Reitz,  der  Götter  quälet, 
Rief  Amor,  gieb  mir  doch  Gehör, 
0  Zephir  säussle  mir  noch  mehr! 

Drauf  grif  er  nach  dem  Bogen; 
Ein  Pfeil  kam  angeflogen 
Nach  dieser  Schönen  Herzen. 
Schnell  wachte  sie  voll  Schmerzen: 
Sie  schrie:  0  liebster  Venus -Sohn! 
Allein,  der  Lose  war  entflohn. 


254  Sauer,  Mittheilungen  über  B.  v.  Kleist. 

Der  Umstand,  dass  Lange  das  Gedicht  veröffentlichte^ 
gibt  uns  einen  äusseren  Anhalt  für  die  Entstehungszeit. 
Denn  gewiss  wird  es  aus  der  zweiten  Hälfte  der  vierziger 
Jahre  stammen,  wo  Gleim,  Lange  und  Kleist  durch  innige 
Freundschaft  verbünden  waren ,  während  später ,  nach 
Kleists  Verbindung  mit  Lessing,  seine  Beziehungen  zu 
Lange  erkalteten.  Auch  innere  Gründe  weisen  das  Ge- 
dicht der  ersten  Dichtungsperiode  Kleists  zu,  in  der  er 
unter  dem  Einfluss  Gleims  und  der  Anakreontik  stand. 
Der  Apparat  derselben  ist  fast  vollständig  verwendet,  der 
Stoff  conventionell  anakreontisch ,  die  Form  spielend.  Es 
fehlt  an  künstlerischer  Durcharbeitung:  der  Ausdruck  lässt 
Schärfe  und  Anschaulichkeit  vermissen  und  eine  Anzahl 
Wiederholungen  fallen  störend  auf.  Das  Ganze  macht  noch 
weit  mehr  als  die  andern  anakreontischen  Gedichte  Kleists 
aus  derselben  Zeit  (Sauer  1,  21.  39.  52)  den  Eindruck 
äusserlicher  Nachahmung.  Das  Spielen  der  Sylphen  und 
Amoretten  um  die  schlafende  Geliebte,  das  wetteifernde 
Preisen  ihrer  Beize,  das  neugierige  Blasen  Zephirs  sind 
typische,  aus  der  romanischen  Anakreontik  übernommene 
Züge.  Der  ernsteti  Natur  Kleists  sagte  die  Gattung,  der 
unser  Gedicht  angehört,  nicht  zu,  und  er  ward  wohl  nur 
durch  die  Autorität  Gleims  veranlasst,  sich  ihr  vorüber- 
gehend zuzuwenden.  Immerhin  verdient  es  aber  als  Jugend- 
product  des  Dichters  und  als  charakteristisches  Erzeugniss 
der  anakreontischen  Mode  Beachtung. 

Leipzig.  Georg  Witkowski. 


Neue  Mittheilungen  über  Ewald  von  Kleist 

Seit  dem  Abschluss  meiner  Ausgabe  von  Kleists  Werken 
sind  mir  durch  Freunde  und  Pachgenossen  mancherlei  wich- 
tige Nachträge  und  Ergänzungen  zugeführt  worden,  welche 
ich  hier  zusammenfasse.  Insbesondere  hat  Carl  Schüdde- 
kopf  in  Wolffenbüttel  nicht  nur  meine  Auszüge  aus  Ramlers 
Briefen  an  Gleim  yervollständigt  und  durch  die  Mittheilung 


Saaer,  Mittheilungen  über  £.  v.  Kleist.  255 

der  entsprechenden  Antworten^)  erst  benutzbar  gemacht, 
sondern  mir  auch  die  beiden  Briefe  Kleists  an  Kamler  zur 
Publication  überlassen  und  meine  einschlägigen  Arbeiten 
seit  Jahren  durch  die  treueste  Theilnahme  gefördert,  so 
dass  ich  ihm  in  erster  Reihe  zum  Danke  verpflichtet  bin, 
wenn  ich  meine  älteren  Forschungen  jetzt  um  einen  Schritt 
weiter  bringen  kann. 

I.    Kleist  und  Ramler. 

In  meiner  Untersuchung:  Ober  die  Ramlerische  Be- 
arbeitung der  Gedichte  E.  C.  v.  Kleists  S.  21  habe  ich  die 
Yermuthung  ausgesprochen,  dass  Ramler  bei  seiner  Um- 
arbeitung des  ^Frühlings'  nach  Kleists  Tode  seine  ältere, 
in  den  Jahren  1749  und  1750  vorgenommene  Umarbeitung, 
die  sich  naturgemäss  an  die  erste  Kleistische  Fassung  {F  ^) 
anlehnen  musste,  benutzt  habe.  Da  aber  in  den  mir  da- 
mals zugänglichen  Papieren  und  Drucken  von  jener  älteren 
Ramlerischen  Umarbeitung  nichts  erhalten  war,  blieben 
Zweifel  an  meiner  Argumentation  nicht  ausgeschlossen, 
vgl.  SeufFert  im  Anzeiger  f.  deutsches  Alterth.  und  deutsche 
Litt.  7,  440.  Jetzt  kann  ich  nicht  nur  an  der  Hand  des 
Briefwechsels  zwischen  Gleim  und  Ramler  die  Entstehung 
von  Ramlers  älterer  Arbeit  genauer  verfolgen,  sondern  ich 
kann  auch  mehrere  Bruchstücke  davon  zur  Yergleichung 
vorlegen. 

Ramler  lernt  den  Trühling'  schon  im  ersten  Entwürfe 
1746  durch  Gleims  Vermittlung  kennen;  er  schreibt  an 
diesen: 

15.  October  1746.  Das  Gedicht  des  Herrn  von  Kleist  schicken 
Sie  mir  gantz  gewiss  mit.  Ich  will  es  zum  wenigsten  von  dem 
Freunde  bekommen  der  mir,  den  8*®°  dieses  schrieb:  *Ich  habe 
den  Anfang  von  dem  Landleben  des  H.  v.  El.  mit  gebracht,  aber 
sie  sollen  nichts  davon  lesen,  als  nur  auf  meinem  Zimmer.  Doch 
ja,  ich  will  es  ihnen  schicken;  denn  sie  sollen  sich  schämen, 
dass  ein  Oflicier,  der  unaufhörlicli  prügeln  muss,  dem  es  nicht 
erlaubt  ist  aus  der  Stadt  zu  gehen,  fleissiger  diclitet,  als  sie.' 
So  weit  dieser  Freund,  der  sein  Wort  halten  muss. 


*)  Vgl.  seine  Schrift:    Karl  Wilhelm  Ramler  bis  zu   seiner  Ver- 
bindung mit  Lessing,  Wolfenbüttel  1886. 


256  Sauer,  MitÜheiliingen  über  E.  ▼.  E[lei8t. 

Darnach  scheint  es,  dass  Gleim  Ende  September  1746 
in  Potsdam  war  —  wozu  auch  sein  Brief  an  Kleist  vom 
7.  October  1746  (Werke  3,  24  «.  'So  oft  ich  nicht  mehr 
bei  Ihnen  bin,  bedaure  ich,  dass  ich  Sie  nicht  mehr  ge- 
nutzt habe^)  ganz  gut  stimmt  —  und  das  Manuscript  des 
Frühlings'  mitnahm.^)  Ramler  gehört  also  zu  jenen  Freun- 
den, von  denen  Gleim  bei  der  Rücksendung  des  Manu- 
scriptes  an  Kleist  im  Januar  1747  (Werke  3,  32)  spricht. 
Bald  nachdem  Ramler  und  Kleist  in  Berlin  Anfang  Januar 
1749  sich  persönlich  kennen  gelernt  hatten  (Werke  2,  136), 
sucht  Gleim  die  ihm  selber  aufgetragene  Herausgabe  des 
Gedichtes  auf  Ramler  abzuwälzen  (8.  Februar  1749): 

Wissen  Sie  was,  mein  Liebster?  Ich  werde  ihnen  was  zu 
thun  geben,  und  ich  hoffe,  dass  sie  damit  zufrieden  seyn  werden. 
Herrn  v.  Kleists  Frühling  soll  endlich  unter  die  Presse;  er  hat 
ihn  mir,  zum  Druck  fertig,  übersand,  dass  ich  ihn  einem  Verleger 
geben  möchte.  H.  Sulzer  hat  dazu  H.  Nicolai  vorgeschlagen,  und 
ich  bin  damit  zufrieden,  nur  muss  er  an  Sauberkeit  des  Drucks 
und  überhaupt  des  Äusserlichen  nichts  fehlen  lassen,  die  Kosten 
auf  eine  gute  Vignette  nicht  schonen,  und  in  allem  ihrem  Ver- 
langen ein  Genüge  thun.  Denn  sie  werden  hiemit  zum  Aufseher 
und  Corrector  bestellt,  und  kraft  dieses  bevollmächtigt,  den  Ver- 
leger zu  dem,  was  er  an  einem  so  schönen  Werke  zu  leisten 
schuldig  ist,  anzuhalten.  Aber  was  nehmen  wir  für  eine  Vignette? 
Es  muss  eine  nach  dem  schönsten  Geschmack  seyn,  sonst  wäre 
keine,  besser.  Solte  des  Marggrafen  Mahler  der  H.  v.  N.  [?]  wohl 
Geschicklichkeit  genug  haben  eine  zu  erfinden?  Eine  kleine  Land- 
schaft mit  den  Schätzen  des  Frülings,  und  mit  einigen  im  Ge- 
dichte selbst  befindlichen  kleinen  Gemählden  solte  sich  nicht  übel 
schicken.  Z.  £.  der  Bock  der  ernsthaft  herunter  sieht.')  Viel- 
leicht weiss  H.  Nicolai  einen  besseren  Erfinder  in  Leipzig  oder 
Dresden.  H.  v.  Kleist  verlangt  zum  Format  gross  S^^.  Am 
besten  wäre  wohl,  wenn  jeder  Vers  unabgebrochen  in  einer  Zeile 
stehen  könte,  aber  dann  müssen  wohl  all  zu  kleine  Lettern  ge- 
nommen werden.  Es  müssen  alle  Exemplare  Schreibpapier  haben, 
überdem  2  Dutzend  recht  feines  für  den  H.  v.  Kleist  und  1  Dutzend 
für  mich.  So  bald  sie  mir  antworten,  will  ich  ihnen  das  Manu- 
script zusenden,  in  welchem  sie  ein  paar  Stellen  antreffen  werden, 
die   mir  H.  v.  Kleist   bey  seiner  Freundschaft  zu  verändern   ver- 


*)  Meine  Vermnthnngen  Werke    1,  136  und    3,  30   Anmerkung 
sind  hinfällig. 

«)  Werke  1,  Nr.  89  Vers  270. 


Saner,  Mittheilungen  über  E.  y.  fi^leist.  257 

bothen  hat,  und  deshalb  mir  die  Correctur  nicht  wollen  machen 
lassen.     Können  sie  es  nicht  thun?  — 

Damit  war  das  Werk  in  Ramlers  Hände  gegeben,  durch 
den  Schluss  des  Briefes  aber  auch  der  Same  der  Besse- 
rungssucht  in  seine  Seele  gestreut.  Am  15.  Februar  oder 
bald  darnach  sandte  Gleim  das  Manuscript  nach  Berlin 
(Werke  3,  96.  99)  und  unmittelbar  nach  einer  heftigen  Er- 
krankung treffen  wir  Ramler  an  der  Arbeit. 

1 3.  März  1 749.  Dass  ich  ietzt  besser  bin,  sehen  sie  daraus, 
dass  ich  ihnen  schreiben  kann ;  denn  dieses  wurde  mir  im  Fieber 
zu  sauer.  Meine  Augen  konten  nicht  so  lange  sehen,  wenn  mein 
Kopf  gleich  so  lange  denken  konte.  Jetzt  kan  ich  mir  schon 
wieder  einen  angenehmen  Zeitvertreib  machen,  mit  Briefeschreiben, 
mit  Lesung  der  Briefe  des  Abb6  le  Blanc,  mit  Tirannisirung  des 
Kleistischen  Frölings.  Von  meinen  gemachten  Veränderungen  will 
ich  ihnen  hier  eine  Probe  beylegen,  und  auf  diese  Art  werde  ich 
ihnen  das  gantze  Gedicht  noch  einmal  zusenden,  ich  bitte  mich 
wieder  zu  corrigiren,  oder  auch  Kleisten  selber,  wo  ich  zu  nach- 
lässig gewesen  bin.  Ich  solle  ihnen  einen  Vorwurf  machen,  dass 
sie  zu  wenig  daran  ausgefeilt  haben,  aber  da  sie  es  ietzt  nach- 
holen werden,  habe  ich  kein  Recht  es  zu  thun  .  .  .  Was  meinen 
sie,  wenn  wir  lateinische  Buchstaben  zu  unserm  Frülinge  nähmen? 
Der  gantze  Druck  wird  so  prächtig,  sollen  die  Buchstaben  nicht 
auch  'die  besten  seyn?  Herr  Sulzer  stimmt  auf  gross  octav.  Er 
meint  es  Hesse  sich  gross  Quarto  nicht  recht  binden,  er  will 
gern  einen  schicklichen  Band,  und  glaubt  die  Zeilen  litten  nicht 
drunter. 

Diese  erste  Tyrannisirungsprobe  ist  nicht  erhalten ;  Gleim 
scheint  mit  ihr  nicht  unzufrieden  gewesen  zu  sein;  er  ant- 
wortet am  17.  März  1749: 

Der  arme  Kleist,  er  soll  wieder  in  den  Krieg.  Was  wird  er 
da  wieder  ausstehen  müssen,  und  wie  werden  wir  für  sein  Leben 
besorgt  seynl  Sie  werden  sich  ihm  durch  ihre  bessere  Critik 
seines  Frülings  sehr  verbindlich  machen,  sie  dürfen  nicht  zweifeln, 
dass  er  nicht  völlig  damit  zufrieden  seyn  wird;  ich  bin  nicht 
fähig  gewesen,  ihn  so  gründlich  zu  beurtheilen,  und  ich  bin  es 
noch  weniger  ietzo,  da  meine  itzigen  Arbeiten,  mich  immer 
trockener  machen.  Ich  sende  ihnen  den  Anfang  so  gleich  wieder 
zurück;  denn  ob  ich  gleich  besorgt  bin,  sie  möchten  sich  allzu 
viel  zu  thun  machen,  so  wünsche  ich  doch  den  Früling  bald 
gedruckt  zu  sehen.  Ich  habe  ihrem  Verlangen  gemäss  etwas 
weniges  angemerkt;  wo  ich  schweige,  da  unterschreibe  ich  ihre 
Veränderung.  Das  Sylbenmass  ist  mir  auch  all[zu]  wenig  ge- 
läufig, als  dass  ich  hie  und  da  noch  etwas  bessern  könte.    Wenn 


258  Sauer,  Mittheilungen  über  E.  v.  Kleist. 

sie  aber  fortfahren,  wie  sie  angefangen  haben,  so  wird  nicht  viel 
übrig  bleiben.  Ich  lasse  mir  alles  gefallen,  was  sie  und  H.  Sulzer 
wegen  des  Druckes  belieben,  nur  könten  sie  den  H.  v.  Kleist 
selbst  befragen,  ob  er  Lust  habe,  zu  lateinischen  Lettern.  Er 
wird  nicht  dawieder  seyn,  nur  wäre  zu  überlegen,  ob  es  nicht 
scheinen  möchte,  dass  man  all  zu  viel  besonderes  haben  wollte, 
da  die  Poesie  schon  so  sehr  von  der  gewöhnlichen  abweicht. 
Wenn  die  Verse  auf  8^°  in  eine  Zeile  sollen,  so  werden  ziemlich 
kleine  Lettern  dazu  nöthig  seyn,  sonst  wäre  dis  Format  freylich 
das  beste.  — 

Ramlers  nächster  Brief  vom  9.  April  1749  gewährt  uns 
einen  lehrreichen  Einblick  in  seine  Arbeitsweise,  zeigt  uns 
insbesondere,  wie  er  bei  seiner  Umgestaltung  wesentlich 
von  formellen  Gesichtspunkten  ausgieng.    Er  schreibt: 

Doch  wül  ich  .  .  .  erst  von  grammaticalischen  Kleinigkeiten 
reden,  ehe  ich  von  häusslichen  anfange.  Sie  fragen,  welches  ist 
besser  Athem  oder  Odem?*)  Das  Wort  Athem  muss  gut  seyn, 
weil  es  ein  Stammwort  ist.  Es  kommen  davon  her:  athmen, 
einathmen  etc.  Odem  ist  sehr  gebräuchlich  im  gemeinen  Leben 
und  in  der  Bibel.  <Er  bliess  ihm  einen  lebendigen  Odem  ein. 
Du  lassest  aus  deinen  Odem,  so  vergehen  sie'  etc.  Wenn  ich  so 
glücklich  wäre  als  01ivct[anus],  wolte  ich  folgenden  Unterscheid 
wagen,  und  wenn  ich  eine  Academie  wäre,  ihn  ätabliren:  Athem, 
bedeutet  die  Luft,  die  ich  einziehe,  Odem,  die  Luft,  die  ich  aus- 
lasse. Also  heisst  es  von  der  ersten  Art  mit  Recht:  zum  Athem- 
holcn  ist  die  Lunge  gemacht:  dieser  Fisch  hat  auf  dem  Rücken 
ein  kleines  Athemloch.  Athem  rauben  (die  Luft  benehmen,  die 
ich  einziehen  soll:)  Ich  kan  noch  nicht  zum  Athem  kommen:  ia 
selbst  das  Wort  athmen  heisst:  Luft  einziehen. 

Von  der  letzten  Art  heisst  es  billig:  Er  bliess  ihm  einen 
Odem  ein:  Du  lassest  aus  deinen  Odem:  Sein  Odem  ward  ge- 
fühlt: Wer  weiss  wohin  der  Odem  des  Menschen  fährt  etc. 

Den  Athem  an  sich  halten  =  die  eingezogene  Luft. 

Ein  stinckender  Odem  =  die  ausgelassene  Luft. 

Aber  warum  suche  ich  einen  Unterschied  auf!  Es  mag 
vieleicht  nur  ein  unterschiedener  Dialect  seyn.  Wenn  dieses  ist, 
so  wehle  ich  lieber  Athem  als  Odem.  Herr  Langemack  hat 
grosse  Lust  Synonimes  allemandes  zu  schreiben.  Vieleicht  ist  er 
hierin  glücklich,  den  er  hat  ia  einen  logicalischen  Kopf.  Wir 
wollen ,  wenn  uns  ohngefehr  etwas  aufstosst ,  ihm  ein  Present 
damit  machen.  Gestern  fiel  mir  bey  Kleists  Frülinge  folgender 
Unterscheid  ein: 


♦)  Vgl.  dazu  meine  Beobacbtung:  Über  die  Ramlerische  Bearbei- 
tung S.  81. 


Sauer,  Hittheilungen  über  E.  y.  Kleist.  259 

Acker    =  das  Getrayde-Land. 

Feld       =  der  allgemeine  Nähme  von  Acker  und  von  Wiese. 

Gefilde  =  noch   allgemeiner  als  Feld,   (Wald   und   Wasser 
mit  eingeschlossen). 

Wiese    =  das  Grase-Land. 

Aue       =  Ein  besonderes  und  angenehmes  Grase-Land  der 
Schafe,  nebst  einem  Bach  etc. 

Trift      =  Grase-Land    für  Vieh,    das   gehütet    wird,    (be- 
sonders für  Schafe). 

Gegend  =  Lage  eines  Landes. 

Revier   =  Begräntzte  Gegend. 

Flur       =  die  Gegend  vor  einer  Stadt  oder  einem  Dorfe. 

Anger    =  ist  vieleicht  mit  dem  Wort  Acker  einerley. 

Weil  ich  doch  bey  der  Arbeit  bin,  will  ich  noch  diese  Seite 
mit  dergleichen  füllen: 

Wald     =  ein    grosser  Platz  voll    grosser   Bäume;    Eichen, 
Fichten  etc. 

Busch    =  hält  kleinere  Bäume,  Tannen,  Bircken. 

Hayn     =  ein  heiliger  Wald. 

Forst     =  ein  Jagd- Wald. 

Weide   =  Ein  Busch,  worin  geweidet  wird. 

Wollen  sie  auch  so  spielen,  wie  ich  hier  thue,  so  werden 
wir  einen  Tractal  zusammenspielen,  einen  Theil  zur  künftigen 
deutschen  Grammatic.  Als  Poeten  werden  wir  aber  allzuoft  solche 
Gesetze  brechen. 

Bald  werde  ich  wieder  einen  Theil  des  Frülings  fertig  haben. 
Ich  weiss  nicht  wie  es  zu  geht,  dass  ich  nicht  mehr  so  ge- 
schwinde censire,  wie  zuvor.  Solte  es  die  Neuigkeit  zuvor  ge- 
than  haben,  oder  thut  es  letzt  das  Gedicht  selber,  oder  thut  es 
endlich  meine  eigene  Seele?  Freylich  hat  sie  Schuld,  sie  hat 
Haussorgen  .  .  . 

Vier  Wochen   später,  9.  Mai   1749   ist  er   endlich   so 

weit,   um  Gleim    wieder   ein   Stück    seiner  Überarbeitung 

senden  zu  können: 

Nun  ich  einmal  den  Tod  los  geworden  bin,  nun  will  ich 
machen,  dass  er  mir  nicht  zur  Last  wird,  wenn  er  wieder  kommt. 
Ich  grämte  mich  dass  ich  keine  geistlichen  Kinder  hinterliesse. 
Sehen  sie,  bald  will  ich  Vater  werden,  und  zwar  zuerst  Stief- 
vater. Hier  ist  sogleich  ein  Zeichen  meiner  Unbarmhertzigkeit. 
Geben  sie  dem  H.  v.  Kleist  noch  nichts  davon  zu  lesen.  Ich  habe 
ihm  auch  nichts  mitgebracht,  als  ich  ihn  ehegestern  mit  Herr 
Sulzern  besuchte.  Ein  gewisser  v.  Arnheim^)  nahm  uns  in  seine 
sechsspännige  Carosse.  Ich  habe  mich  in  die  marmorne  Göttin 
verliebt,  die  sie  selbst  einmal  angebetet  haben,  und  dem  kleinen 

»)  vgl.  Kleiats  Werke  2,  148, 


260  Sauer,  MittheiluDgen  über  £.  r.  Kleist. 

Cupido  bin  ich  so  gut,  als  wenn  er  mein  ßruder  wäre.    Scliade 
dass  ich  den  H.  v.  Kleist  nur  sieben  Stunden  sprach. 

Die  Absendung  dieses  Briefes  verzögerte  sich.  Fol- 
gende Nachschrift  dürfte  erst  zwei  Tage  später  geschrieben 
sein:  ^Das  Exemplar  welches  ich  ihnen  vom  Frülinge  zu 
lesen  und  zu  bessern  gebe  ist  das  neueste.  Die  alte  Les- 
art sollen  sie  auch  bekommen^  denn  die  Beilage,  auf  welche 
sie  sich  bezieht,  ist  vom  11.  May  1749  datirt  (vgl.  Werke 
1,  Nr.  89  Vers  74—137);  ich  nenne  das  Bruchstück  R\ 

Hier,  wo  der  halbnackende  Fels  mit  Strauch  und  Tannen  be- 
wachsen, 

Zur  Hälfte   den   bläuligten  Strom,    sich    drüber  neigend,    be- 
schattet 

Und  weint  lebendige  Quellen,  hier  will  ich,  im  Mosse  gelagert 

Zu  Wundem  mein  Auge  bewafnen;   und   danken   dem  glück- 
lichen Künstler, 
&  Der  erst  Dich  hellen  Grystall  gewölbt  und  gehölt  und  in  Röhre 

Gepflanzt  hat,  ein  himmlisches.  Auge,  gemacht,  auf  blauen  Ge- 

bürgen 

Die  weidenden  Schafe  zu  schaun,    desgleichen  dem  fleckigten 

Monde 

Nach  Klippen  und  Meeren  zu  spähn.     Nichts  bleibt  des  Sterb- 
lichen Tiefsinn 

Verschlossen,   auch  niclit  der  Natur  geheimste  Werkstatt:    er 

stirbet, 
10  Und  iässt  zu  forschen  noch  übrig  selbst  einer  ewigen  Nachwelt. 

Ach  Schade!  die  Künste  vergehn,  und  Überschwemmung  und 

Flamme 

Frass  tausendjährigen  Witz. 

0  welch  ein  Gelächter  der  Freude 
Belebt  rund  um  mich  das  Land !  Friedfertige  Dörfer,  vne  dieses, 
Und  Hügel  schliessen  uns  ein  und  tragen  den  niedrigen  Himmel: 
15  Auch  kräntzt  und  röthet  daselbst  ein  Zaun  von  blühenden  Domen 
Das  fern  sich  verliehrende  Feld;  Hier  läuft  der  Weitzen  vorüber, 
Mit  buntem  Mohne  vermischt,    in  langen   sich  schmälernden 

Beeten, 
Gestört  durch  weiblichen  Flachs.     Feldrosen-Hecken  und  Schlee- 

strauch 
Mit  ihrer  Blüte  besprengt  umringen  drey  spiegelnde  Teiche. 
20  Scheint  dort  aus  Mitternacht  nicht,  vom  Sonnenstrale  getroffen, 
Das   blaue   sich    welzende    Meer    mit   spielenden    Sternen   ge- 
gründet? 
Es  schimmert  sein  gelbes  Gestade  von  Muscheln  und  farbigten 

Steinen 


Sauer,  Mittheilangen  über  E.  v.  Kleist.  26t 

Und  Lieb  und  Freude  in^ird  wol  in  kleiner  Fische  Geschwadern 
Und    in    den    Riesen    des  Wassers    die    gantze  Fläche   durch 

taumeln. 
ii^  Die   dort   mich  tiefsinnig  empfing,   und   aus  dem  dichtrischen 

Schatten 
Hieher  mich  lockte,  die  Wiese  sieht  finstere  Rosse  den  Nacken 
Gen    Himmel    werfen    und    stampfen    mit    freudig    wiehernder 

Stimme 
Der  Fichtenwald  wiehert  zurück.     Gehörnte  Kühe  durchwaten 
Geführt  vom  denckenden   Stier,    des  Meyerhofs  Sümpfe   sanft 

kauend 
30  Und  rühren  Ohren  und  Schweif  —  Hier  zieht  sich  mein  Auge 

durch  Linden 
Und  Espenschatten  zurück;  die  frölichen  Linden  am  Bache 
Beschatten  das  milde  Gewässer,  das  weiter  durch  Binsen   sich 

windet 
Von  hellen  Schwänen  besucht;  und  hinten  sehn  Rebengebürge, 
Das  Haupt  mit  Epheu  gekrönt,    stoltz  über  den  Garten,    und 

stehen 
35  Ein  Theil  mit  Schimmer  um  webt,  in  Flohr  der  andre  gehüllet; 
Es  flieht  die  Wolcke,   der  Schimmer  eilt  Staffel  weis  über  den 

andern. 
Die  Lerche  besteiget  die  Luft,    sieht  wieder  beblümete  Thäler, 
Bleibt  schweben,  und  singet  entzückt.     Der  Klang  des  wirbeln- 
den Liedes 
Ergötzt  den  ackernden  Landmann;  er  horcht  eine  Weile,  dann 

lehnt  er 
M  Sich  über   den  wühlenden   Pflug,    wirft   braune  Wellen    aufs 

Erdreich 
Verfolgt  von  Krähen  und  Älstern ;  der  SäeMann  schreitet  gemessen 
Giesst  goldenen  Hagel  ihm  nach,  der  gleich  von  zackigter  Egge 
Mit  ebener  Decke  bewelzt  wird.     0  streute  der  mühsame  Land- 

wirth 
Für  sich  den  Seegen  doch  aus !  wenn  ihn  sein  Weinstock  doch 

tränckte 
*^  Zu    seinem    Munde    die    Zweige    mit    saftigen    Früchten    sich 

beugten ! 
Allein,  der  gefrässige  Krieg,  vom  Zähnebleckenden  Hunger 
Und  wilden  Schaaren  begleitet,  macht  Hoffnung  und  Freude  zu 

nichte. 
Gleich  Hagel  vom  Sturme  geschleudert  zerschlägt  er  die  nähren- 
den Halmen, 
Reisst  Stab  und  Rebe  zu  Boden ,  entzündet  Dörfer  und  Forste 
M  Zur   Lust;   das    unschuldige  Wild,    von    lauffenden   Flammen 

ereilet, 
Brüllt  ängstlich  gen  Himmel,  und  fsillt.     Nun  blitzen  die  Thäler 

von  Waffen, 


262  Sauer,  Mittheilnngen  über  £.  y.  Kleist. 

Es  welzen  sich  Wolcken  voll  Feuer  aus  offenen  ehernen  Rachen 
Und    donnern ,     und     werfen    mit    Keilen    umher ;    zerrissene 

Menschen 
Erfüllen    den   schrecklichen   Sand.      Des  Himmels    allsehendes 

Auge 
M  Bedeckt  sich,  die  Grausamkeit  scheuend,  mit  blauer  Finstemiss. 

Siehe  I 
Der  schönste  Sterbliche  lehnt  sein  Haupt  an  seinen  Gefährten, 
Und  hielte  das  strömende  Blut  und  seine  fliehende  Seele 
Noch  auf,  und  würde  die  Braut  noch  wiedersehen,  und  glücklich 
In  ihren  Armen  den  Lohn  der  langen  Treue  geniessen: 
60  Ein  Schwerd  zerspaltet  ihn    letzt.     Sie  wird   in  Thränen  zer- 
rinnen, 
Es  wird  ein  Vater  des  Landes  in  ihr  und  ein  Weiser  erblassen. 

Ihr  denen  die  Völcker  freywillig  die  Macht  und  die  Schätze 

der  Erden 
Ertheilten,  ach!  wollt  ihr  sie  nun  mit  ihren  eigenen  Waffen 
Verderben,  oder  begehrt  ihr  Väter  der  Menschen  mehr  Kinder, 
65  Und  kauft  sie,   nicht  ohne  das  Blut  der  ältesten?     Ist  es  zu 

wenig 
Viel  tausend  Burger  beglücken,  erheischt  es  wenige  Sorgen? 
Seyd  menschlich,  ihrPrintzen,  seyd  göttlich!  Gebt  eure Schwerdter 

den  Schnittern. 
Die  Lantze  dem  Pflüger  zurück!     Lasst  eure  Seegel  den  Reich- 

thum 
Aus  allen  Inseln  des  Meers  in  Schatten  nehmen ;  sucht  Gärtner 
70  Für  menschliche  Baumschulen    auf;    Belohnt  mit  Ansehn  und 

Ehre 
Die  deren  nächtliche  Lampe  den  gantzen  Erdball  erleuchtet; 
Forscht  nach  in  den  Hütten,  ob  nicht,  von  Gold  und  Schmeich- 
lern entfernet. 
Ein  Weiser  sich  selber  dort  lebt,  und  schenckt  ihn  dem  Volke 

zum  Richter: 
74  Er  schlage  das  Laster  im  Pallast  und  helfe  der  weinenden  Un- 
schuld. 

Zwei  andere  Blätter  enthalten  dieselben  Yerse  gleich- 
lautend mit  F  ^  bis  auf  folgende  Varianten :  Nr.  89  Vers  82 
Beete\  91  voU  FbKtis^;  99  traurt\  103  ins  Erdreich;  110 
verheert)  118  Flamme;  offenbar  'die  alte  Lesart'  d.h.  Kleists 
eigenen  Text.     Gleim  antwortete  18.  Mai  1749: 

Sie  sind  ein  fürtreülicher  Stiefvater  des  Frülings,  aber  machen 
sie  nur,  dass  sie  das  Kind  bald  zur  Vollkommenheit  bringen.  Ich 
habe  bey  diesem  Blat  nichts  zu  erinnern,  als  einige  kleine  Sünden 
wieder  die  Construction  gleich  anfangs, -und  weint  lebendige 
Quellen  [Vers  3]  item:  und  danken  [V.  4]  —  dem  fleckigten 


Sauer,  Mittheilungen  über  £.  v.  Kleist.  263 

Monde  [V.  7]  soll  woll  heissen  :  im  fleck.  Monde.  Das  übrige 
moste  ich  wohl  erst  mit  dem  Original  vergleichen.  Aber  es 
scheint  mir  alles  unverbesserlich. 

Weder  Gleim  noch  Raraler  selbst  theilten  Kleist  vor- 
erst diese  Verbesserungen  mit,  obgleich  dieser  sie  wieder- 
holt zu  sehen  begehrte:  Werke  2,  148  f.  153.  156.  Ramler 
scheint  im  Laufe  des  Sommers  die  Arbeit  nur  langsam  ge- 
fördert zu  haben ;  er  schreibt  an  Gleim  8.  Juli  1 749 : 

Was  ihnen  beym  Frülinge  einfallen  wird,  schreiben  sie  mir 
fleissig  und  getreulich,   damit  er  etwas  weitläuftiger  werden  kan, 

etwan  tausend  Zeilen  stark Dies  ist  das  gewöhnliche  Maass 

der  Tragödien,  der  Helden  Bucher  und  andrer  grossen  Gedichte, 
wenn  ich  richtig  überschlagen  habe.  Vielleicht  sammelt  der  H. 
V.  Kleist  jetzt  auch  noch,  und  wird  es  einstreuen,  wann  sein  Ge- 
dicht wieder  zu  ihm,  als  zu  ]etz[t]en  Instanz,  kommt. 

Gleim  mahnt  4.  September  1749: 

Haben  sie  den  Fröling  bald  fertig?  Seyn  sie  doch  um  so 
vieler  Freunde  willen ,  die  darnach  verlangt ,  etwas  fleissiger. 
H.  V.  Kleist  wird  hernach  desto  mehr  Lust  bekommen,  den  Sommer 
zu  singen.  Es  wäre  freylich  gut,  wenn  er  zuvor  einen  Plan 
machte,  und  ihn  zum  vorgängigen  Urtheil  communicirte ,  aber 
dann  machte  er  es  vielleicht  wie  sie,  mit  den  Plans  zu  ihren 
Oden.     Sie  werden  nimmermehr  bebauet. 

Bald   darauf,    noch   im  September  sendet  Ramler  das 

fertige  mit  einem  undatirten  Briefe  an  Gleim: 

Hier  haben  sie  die  Abschrift  seines  Frülings,  so  weit  ich 
nemlich  damit  fertig  bin.  Nicht  wahr  das  Gedicht  kommt  zeitig 
genug  zum  Druck,  wenn  es  auch  gleich  nicht  eilig  dazu  kommt. 
Herr  Hcmpel  wird  die  Zeichnungen  zu  den  Kupfern  machen. 
Treiben  Sie  diesen  berühmten  Faullenlzer  etwas  an.  Am  natür- 
lichsten nimmt  man  wo!  auf  das  Titelblatt  einen  persöhnlichen 
Früling;  auf  die  erste  Seite  des  Gedichts  das  erste  Bild  das  uns 
aufstösst,  und  dieses  ist  eine  schöne  Landschaft,  die  man  dort 
übersehen  kan,  dort,  sage  ich,  wo  der  halbnackende  Fels  sich 
über  den  Strom  bückt.  Auf  die  letzte  Seite  komt  ein  Bild  das 
den  Schluss  des  Gedichts  gemacht  hat,  und  dieses  Bild  kenne  ich 
noch  selber  nicht.  Seyn  sie  doch  so  gut  und  critisiren  etwas 
stark,  damit  Bodmer  in  den  neuen  Critischen  Briefen  recht  be- 
hält, wenn  er  die  goldenen  Tage  ankommen  sieht.  (Haben  Sie 
Bodmem  geantwortet?)  Ich  weiss  wol  dass  ich  mir  sehr  viel 
Freyheit  herausgenommen  habe  mit  dem  letzten  Theil  den  ich 
ihnen  schon  überschickt  habe,  und  ich  werde  mir  noch  oft  diese 
Freyheit  nehmen,  ob  es-mich  gleich  jammert  ein  würklich  schönes 
Haus  einzureissen   um  an  die  Stelle  ein   andres  zu  bauen,    das 


264  Sauer,  Mittheilungen  über  £.  v.  Kleist. 

etwan  nur  einen  andern  Schornstein  und  eine  andre  Treppe  hat. 
Indessen  hoffe  ich  dass  unser  Kleist  meinen  Eifer  nicht  übel 
nimmt.  Hätte  ich  sein  Gedicht  gemacht  und  er  hätte  es  so  stark 
verändert,  so  würde  ich  sehr  zufrieden  seyn;  ich  beurtheile  ihn 
nach  mir  selbst,  also  ist  er  auch  zufrieden.  Wie  habe  ich  mich 
über  sein  Avancement  gefreut,  und  wie  sehr  werden  sie  es  thun, 
wie  viel  Gläser  werden  sie  ausgetrunken  haben,  und  zwar  über 
ihren  Durst!  Er  schreibt  an  Sulzern,  dass  er  dadurch  zum 
wenigsten  die  Freyheit  erhalten  hätte  vor  das  Thor  zu  gehen, 
ohne  Furcht,  in  Arrest  zu  kommen.  Also  hat  er  den  Früling 
nicht  in  den  schönen  Gegenden  um  Potsdam  gemacht,  sondern 
in  vier  weissen  Wänden?  Welch  ein  Wunder!  Und  wie  gut 
muss  nun  der  Sommer  gerathenl  Er  wird  uns  doch  einen  Plan 
davon  geben,  ehe  er  uns  das  ganze  Gedicht  fertig  liefert?  Er- 
suchen sie  ihn  darum,  damit  wir  uns  unsere  Gedanken  mittheilen 
können.  Wäre  dieses  beym  Frülinge  geschehen,  so  wäre  die 
Critik  nicht  so  einreissend  und  verheerend  wie  sie  ietzt  oft  ist. 

Als  Kleist  Anfang  October  auf  Urlaub  in  seine  Hei- 
mat reiste,  lernte  er  endlich  in  Berlin  Ramlers  Umarbei- 
tung kennen ;  am  4.  October  schreibt  dieser  an  Gleim : 

Was  für  Vergnügen  wartet  auf  sie,  wann  unser  Kleist  zurück 
kommt!  Am  Donnerstage  wurden  wir,  Sulzer,  Sucre  und  ich, 
durch  ihn  und  Krause  recht  angenehm  überrascht.  Er  hielt  sich 
nicht  länger  als  eine  Nacht  und  einen  halben  Tag  auf,  und  im 
December  vrird  er  erst  wiederkommen.  Nein,  im  November.  Sie 
werden  seine  Gesellschaft  am  längsten  geniessen,  und  es  ist  auch 
billig,  so  schwer  mir  dieses  zu  sagen  ankömmt.  Ich  habe  ihm 
den  Früling  vorlesen  müssen,  und  was  ich  von  ihm  glaubte,  und 
was  sie  von  ihm  glaubten,  ist  wahr  gewesen,  nemlich  er  war 
nicht  böse  über  meine  verwegne  Arbeit,  sondern  nahm  sie  so 
gut  auf,  als  ich  sie  von  ihm  aufgenommen  hätte.  Ich  habe  seit 
dem  noch  mehr,  besonders  in  dem  ersten  Theil  des  Gedichtes 
verändert,  seit  dem  ich  es  wieder  von  ihnen  zurück  bekommen 
habe.  Ich  weite  die  Veränderungen  gern  auf  ihre  Rechnung 
schreiben,  weil  sie  mehr  Recht  haben,  dreist  zu  seyn,  als  ich; 
aber  aus  Furcht  für  der  Hölle  kont  ich  es  nicht.  Ich  werde 
ihnen  nächstens  so  viel  überschicken  als  fertig  ist,  von  fernen 
an,  bis  auf  Sie.^) 

Auch  diese  Sendung  verzögerte  sich  wieder ;  am  8.  De- 
cember 1749  ist  sie  noch  nicht  in  Gleims  Händen  und  am 
24.  Januar  1750  meldet  Bamler: 

Der  Früling,  meine  sonst  so  angenehme  Beschäftigung,  liegt 
auch   darnieder,  wenn   sie  mir  nicht  Recensionen    [zu  den  kriti- 

•)  Nr.  89  Vers  236:  'Und  Du,  mein  redlicher  Qleim.' 


Sauer,  Mittheilungen  Über  E.  v.  Kleist.  265 

sehen  Nachrichten]  schaffen  wollen.  Doch  es  ist  gut,  dass  der 
PrüJing  liegen  bleibt,  bis  alle  Jahreszeiten  fertig  sind.  Nein,  es 
ist  nicht  gut,  wenn  es  möglich  wäre  durch  den  FrOling  ein  Glück 
zu  machen. 

Die  wahre  Ursache  der  Stockung  liegt  aber  zweifellos 
in  dem  Urtheile,  das  Kleist  über  die  Umarbeitung  gefallt 
hat  und  das  wir  aus  dessen  Briefen  an  Gleim  (Werke  2, 
158.  160.  165)  kennen;  bei  allem  Lobe,  das  er  den  Ver- 
besserungen des  Freundes  spendete,  musste  er  gestehen, 
dass  er  ihm  doch  das  Exercitium  ein  Bisschen  zu  stark 
corrigirt  habe,  musste  er  es  ablehnen,  das  so  gänzlich  um- 
geformte Qedicht  für  sein  Eigenthum  auszugeben  und  ent- 
schloss  sich  nun  trotz  Ramlers  Widerrede  zur  raschen  Ver- 
öffentlichung des  Originals.  Ramler  an  Gleim  12.  Februar 
1750: 

Kleists  Früling  ist  gedruckt.  Ich  bin  mit  meiner  Widerrede 
zu  spät  gekommen.  Was  meinen  sie,  soll  mich  dieses  in  der 
angefangenen  Arbeit  hurtiger  oder  behutsamer  machen?  Mir  ge- 
fallt indessen  der  Früling,  wie  er  jetzt  ist,  ungemein  wohl,  und 
obngeachtet  ich  alle  meine  Augen  für  die  Fehler  desselben  auf- 
gemacht hatte,  so  schliesse  ich  doch  eines  nach  dem  andern  zu, 
nun  ich  das  Gedicht  als  ein  gantz  fremdes  Werk  betrachte.  Ich 
habe  schon  eine  Recension  davon  im  Kopf,  worinn  ich  mehr 
vom  Gantzen  als  von  eintzelnen  Dingen  reden  möchte.  Von  der 
Art  Gedichte  wozu  es  gehört:  (hieher  kommen  die  Lehrgedichte 
von  Lucretz,  Horatz,  Virgil,  Thomson)  hernach  von  dem  Plan 
dieses  Frülings,  von  seinen  grossen  Episodischen  Parthien,  von 
seinen  Sprüchen,  Mahlereyen,  und  von  dem  Sylbenmaasse.  Ich 
will  nur  diejenigen  Stellen  anführen,  die  künftig  am  meisten  un- 
verändert bleiben,  diese  sind  ohnedem  die  besten.  Zuletzt  will 
ich  einen  Brief  des  Verfassers  vorgeben,  worinn  er  verspricht 
seinen  Früling  selber  herauszugeben,  weil  der  gegenwärtige  durch 
einen  guten  Freund  nach  einer  unrechten  Handschrift  gedruckt 
sey.  Ich  habe  unserm  lieben  Kleist  geschrieben,  dass  er  mir  er- 
lauben möchte,  versteckt  zu  bleiben.  Warum  soll  die  Welt  nebst 
seinen  sechs  Buchstaben  auch  meine  sechs  Buchstaben  im  Kopf 
behalten,  die  ohnedem  so  unglücklich  zusammengesetzt  sind.  Er 
wolte  haben,  dass  ich  den  Früling  zum  andernma,!  herausgeben, 
und  in  der  Vorrede  melden  solte,  dass  mir  der  Verfasser,  der 
mein  Freund  sey,  die  Erlaubnis?  gegeben  habe,  ihn  nach  meinem 
Gefallen  zu  verändern.  Aber  glauben  sie  wohl,  dass  ich  dieses 
thun  werde?  und  ist  es  nicht  genug  für  mich,  wenn  ich  die 
guten  Urtheile  davon,  ohne  Schamröthe,  anhören  darf?  Ist  es 
nicht  genug,    wenn   wir    ein  schönes  Gedicht   bekommen I     Soll 

YierteUAtunchrift  für  Littenttoigesclüchte  III  18 


266  Sauer,  Mittheilungen  über  £.  v.  Kleist. 

man  uns  Deutschen  vorwerfen,  dass  wir  niemals  etwas  machen 
könten,  ausser  wenn  zwey  Seelen  ihre  Kräfte  zusammen  brächten? 
Die  wenigen  Freunde  die  darum  wissen ,  werden  von  ihrer  Mei- 
nung abgebracht  werden,  wenn  ich  ihnen  sage,  dass  Kleist  sich 
meine  Erinnerungen  zwar  zu  Nutze  gemacht,  aber  alles  selbst 
weiter  umgearbeitet  habe.  Und  dieses  muss  er  und  sie  selbst 
müssen  es  auch  thun,  damit  ich  wahr  rede. 

Über  die  Recension,  welche  in  den  Critischen  Nach- 
richten 6.  März  1750  erschien,  vgl.  Werke  1,  160.  Zu  einer 
selbständigen  Yeröffentlichung  der  Umarbeitung,  die  Kleist 
seinen  Freunden  ankündigte  (Werke  2,  165  f.),  kam  es 
nicht.  Es  wäre  aber  ein  Irrthum  zu  glauben,  dass  die  per- 
sönlichen Beziehungen  der  beiden  Dichter  durch  diese  Hei- 
nungsverschiedenheiten getrübt  worden  wären.  Wie  herz- 
lich diese  vielmehr  gerade  damals  waren,  beweist  ein  neu- 
aufgefundener Brief  Kleists ,  den  ich  hier  einschiebe  (vgl. 
Werke  2,  180  f.): 

Kleist  an  Ramler. 
Allerliebster  Freund 

Ich  bin  auf  der  Wache  da  ich  ihr  Schreiben  erhalte,  ich 
muss  Ihnen  aber  doch  hurtig  antworten.  Entschuldigen  Sie  wenn 
ich  Ihnen  verwirrtes  Zeug  schreibe,  ihr  Brief  hat  mich  ganz  in 
Unruhe  gesetzt,  mein  Kopf  kan  nicht  denken,  aber  mein  Herz 
will  nur  sprechen.  Mein  Gott  ist  es  denn  in  dieser  besten  Welt 
nicht  möglich  dass  gute  Menschen  zusammen  bleiben  können! 
und  werde  ich  denn  endlich  gar  keinen  Freund  in  der  Nähe  be- 
halten! Wir  sind  zwar  selten  genug  zusammen  gewesen,  es  war 
mir  aber  doch  immer  ein  Trost  dass  ich  wusste  dass  Sie  nicht 
weit  waren,  und  nun  soll  ich  Sie  in  meinem  Leben  nicht  wieder- 
sehen !  Ach !  dieser  blosse  Gedanke  macht  mich  ganz  wehmüthig 
dass  ich  gleich  wünschte  zu  sterben,  was  würde  ich  nicht  leiden'') 
wenn  Sie  wirklich  sich  so  weit  von  mir  entfernten.  Doch  Sie 
werden  dieses  nicht  thun,  Gleim  wird  so  woll  vor  das  Nein  seyn, 
als  Herr  Langemack  und  ich,  und  der  wird  schon  so  viel  Ge« 
walt  über  Sie  haben ,  dass  er  Sie  zum  Entschluss  bringen  wird 
hier  zu  bleiben,  und  hier  eine  Bedienung  abzuwarten.  Zwar 
glaube  ich  dass  Ihrer  zufriedenen  Gemüthsart  nach  das  Land 
ihnen  woll  gefallen  würde,  weil  ich  glaube  dass  einem  zufriedenen 
alle  Gegenden  der  Welt  gefallen,  sonst  aber  hat  Dänemark  nichts 
vorzügliches  vor  andern  Ländern.  Es  herrscht  daselbst  eine  sehr 
stille  und  schlaaf-machende  Lebensart,  und  die  Dummheit  auf 
einem  Trohne  von  Eis  sitzend,   den  Kopf  auf  einen  Grützbeutel 


^)  Zutrat:  empfinden 


Sauer,  Mittheilunge n  über  £.  v.  Kleist.  267 

gestützt,  gebiethet  dem  ganzen  Lande.  Sie  ist  schuld  dass  ich 
den  Stand  habe  erwehlen  müssen,  in  dem  ich  bin,  weil  sie  mir 
etliche^)  Jahre  durch,  die  einfältigsten  Tröpfe*),  die  kaum  lesen 
und  schreiben  konten  aber  einen  guten  Reverence  zu  machen 
wüsten,  zu  den  schlechtsten  Secretariats-Stelleu,  die  ich  aus  Noth 
suchte,  vorzog.  Doch  in  diesem  Falle  wird  sie  Ihnen  nicht  mehr 
schaden  können,  da  Sie  nicht  nöthig  haben  werden  was  zu 
suchen ;  indessen  wird  sie  ihnen  doch  vielleicht  zu  weilen  Ver- 
druss  machen.  Gesetzt  aber  auch  dass  sich  in  meinem  Urtheile 
von  dem  Lande  etwas  Partheylichkeit  mit  einschliche,  welches 
auch  wieder  meinen  Willen  geschehen  könte,  gesetzt,  es  sey  das 
beste  der  Welt,  werden  Sie  auch  daselbst  so  viele  Freunde  wie 
hier,  und  solche,  antrefifen?  Ich  bin  nicht  der,  der  Sie  zurück- 
halten kan,  aber  bedenken  [Sie]  was  Sie  sonst  verliehren.  Gleim, 
Klopstock  ,  Spalding ,  Sulzer ,  Sukrow ,  Krause  ,  Langemack, 
Schmidt  etc.  was  vor  genies !  was  vor  Charactere !  welche  Freunde  I 
Diess  sind  vielleicht  die  besten  Menschen  die  auf  der  Welt  sind, 
die  Blumen  des  menschlichen  Geschlechts!  Der  Himmel  giebt 
nur  denen  solche  Freunde,  die  er  beglücken  will.  Ich  wenigstens 
wünschte  mir  keinen  Augenblick  zu  leben,  wenn  ich  sie  nicht 
hätte,  denn  wäre  mir  die  ganze  Welt  ein  finstres  Loch.  Über- 
legen Sie  dieses  also  doch  bey  Leibe  recht  ^^),  ehe  Sie  sich  ent- 
schliessen,  wenigstens  engagiren  Sie  sich  nicht  auf  ewig,  sondern 
denken  Sie  auf  eine  Rückkehr,  wenn  sich  einmahl  Gelegenheit 
finden  solte  dass  Sie  hier  eine  Bedienung  bekommen  könten. 

Ich  küsse  Sie  und  bin  unaufhörlich 

Potsdam  den   12*«°  August  1750.         Ihr  getreuster 

Kleist 

[Randschrift  auf  S.  4:]  Mein  alter  Seidlitz  und  ich,  wir 
möchten  gerne  etwas  Tulpen ,  Tazetten  und  Hiacinthen  Zwibeln 
in  unsere  Gärten  haben.  Bitten  Sie  doch  den  H.  Langemack  in 
meinem  Nahmen,  dass  er  sich  bey  dem  Hr.  Geheimtenrath  Gause, 
oder  H.  Hofrath  Bergius  die  Blumisten  sind,  nach  einem  Gärtner 
erkundige  der  welche  verkauft,  und  mir  den  Nahmen  desselben, 
wie  auch  was  der  Rummel  Bacchetten  Zwibeln,  und  das 
Dutzend  von  den  andern  benandten  Sorten  kostet,   wissen  lasse. 

Yon  Ramlers  Umarbeitung  hören  wir  lange  nichts. 
Erst  nach  dem  Eingehen  der  Critischen  Nachrichten  scheint 
er  sich  wieder  lebhafter  mit  ihr  beschäftigt  zu  haben;  die 
'Stelle  von  seiner  Arbeit',  welche  er  Ende  des  Jahres  1 750 
an  Kleist  übersandte  und  welche  dieser  ^ganz  ausnehmend 

')  corrigirt  aiM:  ganse 
*)  corrigirt  aus:  Köpfe 
^*)  corrigirt  aus:  Bedenken  Sie  sich  alao  —  erst 

18  ♦ 


268  Sauer,  Mittheilungen  über  £.  y.  Kleist. 

schön'  fand,  so  dass  sie  die  seinige  ganz  verlösche,  ist 
offenbar  dieselbe,  von  der  Ramler  14.  Mai  1751  an  Oleim 
schreibt: 

Habe  ich  oder  hat  er  [Kleist]  ihnen  das  Lob  der  Gottheit, 
das  ich  in  seinen  Früling  hineingebracht  habe,  zugeschickt?  Wo 
nicht,  so  federn  sie  es  von  mir,  weil  sie  doch  ein  Paar  Zeilen 
von  meiner  Muse  haben  wollen.  Dieses  faule  Mädchen  wird  in 
Kleists  Frülinge  mehr  plaudern,  als  sie  in  ihrem  Leben  ge- 
plaudert hat. 

Auf  Gleims  Bitte  übersendet  er  die  Verse,  in  einem 
undatirten  Briefe,  Anfang  October  1751  (vgl.  Nr.  89  Vers 
337);  ich  nenne  das  Bruchstück  R^: 

Durch  dich   ist  alles  was  gut  ist,   vollkommenstes  Wesen  und 

Erstes! 

Du,  Vater  der  ewigen  Welt,  gleich  gross  im  zärtlichen  Vogel 

Der  hier  im  Dornstrauch  hüpft,  gleich  gross  in  der  Sonne,  die 

schweigend 

Rund  um  sich  an  goldenen  Seiten  bevölkerte  Welten  herumführt, 
•^  Im  Wurme  der  einen  bestäubeten  Erntetag  lebt,  und  im  Cherub, 

Der  lange  Jahrtausende  schon  die  Kunst  der  Schöpfung  durch- 
denket 

Und  viele  Glieder  bereits  an  der  Kette  der  Wesen  verknüpft  sieht 

Er  selbst  der  oberste,  doch  in  deiner  Grösse  verschwindet, 

0  Fülle  deiner  unendlichen  Welt!  alleuchtcnde  Fülle! 
10  Von  unterschiedenen  Zungen  der  Weisen  Jehova  gegrüsset 

Und  Oromazes  und  Gott.     Die  Feuermeere  der  Sterne 

Sind  Widerscheme   von  Tropfen   des  Lichts,   mit  welchem   du 

blendest. 

Ja  fleuch  durch  den  Raum,  und  fleuch  ewig,  und  Sphären  um- 

fliessen  dein  Antlitz, 

0  Seraph,   du   theilest  umsonst  den  flammenden  Abgrund  der 

Gottheit, 
15  Kein  Pünctchen   nälier  dem  Grunde,   dann  vor   bey  der  Aus- 
flucht —  schaudernd. 

Und  einsam,  bey  Nacht,  im  heiligsten  Walde,  versenk  ich  mich 

in  Ihn: 

Und  0  wie  verschwindet  mir  dann  die  niedere  Wollust!     Wie 

werden 

Mir  alle  Begierden  erhöht!     Du  Weltgeist,    hier  steh  ich  ver- 

lohren 

Auf  einem  Staube  des  Gantzen  und  breite  die  Hände  zu  dir  aus ! 
20  Erhältst  du  wann  einst  das  Gewebe   des  schönen  Leibes  sich 

auflöst. 

Ein  höheres  Antheil  von  mir:  so  soll  die  Bewunderung  deiner 

Mein  Janges  Geschäfte  verbleiben,  mein  langer  Gesang. 


Sauer,  Mittheilungen  über  £.  y.  Kleist.  269 

Noch  ein  drittes  BruehBtück  aus  Kamlers  Umarbeitung 
(R^)  hat  sich  erhalten,  ist  sogar  im  Jahre  1753  gedruckt 
worden.  Werke  1,  XCI  und  2,  253  f.  habe  ich  auf  eine  von 
Krause  veranstaltete  für  die  Oeschichte  des  Gesellschafts- 
liedes  äusserst  wichtige  Odensammlung  hingewiesen,  welche 
ich  nachträglich  3,  325  in  den  1756—1763  bei  Breitkopf 
in  Leipzig  erschienenen  drei  Heften  ^Berlinischer  Oden 
und  Lieder'  gefunden  zu  haben  glaubte;  aber  die  be- 
treffenden Briefstellen  beziehen  sich  vielmehr  auf  die  ^Oden 
mit  Melodien  Berlin,  gedruckt  und  verlegt  bey  Fr.  Wilh. 
Birnstiel'  (zwei  Theile  o.  J.,  die  Vorreden  datirt  vom  l.  Oc- 
tober  1753  und  vom  22.  April  1755),  welche  mir  Schüddc- 
kopf  im  Besitze  der'  Berliner  Egl.  Bibliothek  nachwies, 
welche  Lindner  -  Erk  in  der  Geschichte  des  deutschen 
Liedes  S.  52  ff.  ausführlich  besprechen,  und  deren  ersten 
Theil  auch  Lessing  1753  anzeigte  (Werke,  Hempel  12, 
525).  Der  erste  Theil  ist  einem  Fürsten  Lobkowitz,  der 
zweite  dem  aus  Kleists  Briefwechsel  bekannten  Herrn  von 
Arnim  gewidmet.  Die  bei  Lindner  -  Erk  mitgetheilte  Vor- 
rede des  ersten  Theiles  ist  mit  Benutzung  eines  Briefes 
von  Krause  an  Gleim,  den  ich  in  Kleists  Werken  2,  253  f. 
abdrucken  liess,  von  Ramler  verfasst  (vgl.  Schüddekopf 
S.  35).  Darin  ist  auch  von  den  Veränderungen  die  Rede, 
welche  die  Liedertexte  erfahren  hatten :  zum  Theile  rührten 
sie  von  den  Verfassern  selbst  her,  einige  wenige  Verände- 
rungen seien  'wegen  versäumter  Anfrage  einigermassen  un- 
gebeten hinzugekommen'.  Wir  wissen,  dass  diese  Ver- 
änderungen von  niemandem  andern  als  von  Ramler  stam- 
men: 'H.  Ramler  hat  alle  Texte  vorher  noch  die  Revue 
passiren  lassen,  ehe  sie  componirt  worden  und  er  hat  die 
Hagedornes  excellent  gemacht'  (Kleists  Werke  2,  254).  Im 
ersten  Theile  dieser  Sammlung  stehen  zwei  Lieder  von 
Kleist,  als  Nr.  5  'Ja  liebster  Dämon'  ('Phyllis  an  Dämon' 
Werke  1,  51)  componirt  von  Graun  jun.  und  'Sie  fliehet 
fort'  ('Amynt'  Werke  1,  74)  componirt  von  Bach  jun., 
das  erstere  sehr  stark  corrigirt,  so  dass  es  nur  an  drei 
Stellen  von  der  Fassung  in  Ramlers  Lyrischer  Blumen- 
lese 1778  (6,  4)  abweicht:  V.  2  Ich  fühl,  ich  fühl  es 
V.  4  Dass  ich  dich  liebe  V.  10  Ein  heftig  Fetter  löste  meine 


270  Sauer,  Mittheilungen  tiber  E.  v.  Kleist. 

Olieder^^)]  der  *Amynt'  gleichlautend  mit  der  AuBgabe  von 
1760.^^)  Im  zweiten  Theile  aber  stehen  als  Nr.  8  mit  der 
Überschrift  'Das  Landleben'  die  Verse  200—211  des  'Früh- 
lings' (Nr.  89  'O  dreimal  seliges  Volk'  u.  s.  w.)  und  zwar 
gleichlautend  mit  der  Fassung  in  der  Ramlerschen  Ausgabe 
von  1760  (Nr.  90  V.  160—172);  blos  Vers  165  fehlt  Nur. 
Diese  letztere  Thatsache  macht  eine  ausführliche  Unter- 
suchung überflüssig.  Es  ist  jetzt  bewiesen,  dass  Ramler 
an  dieser  Stelle  seine  ältere  Umarbeitung  R^  in  die  erste 
Ausgabe  der  Eleistschen  Werke  einfach  herübernahm ;  das 
Bruchstück  B^  fallt  in  jene  Partie  des  Qedichtes,  welche 
Bamler  1760  und  später  unangetastet  liess;  es  weicht  so 
sehr  von  der  Eleistschen  Vorlage  ab,  dass  es  eine  Ver- 
wendung dort  nur  hätte  finden  können,  wenn  der  Heraus- 
geber die  ganze  zweite  Hälfte  des  Gedichtes  dement- 
sprechend umgearbeitet  hätte,  wozu  ihm  Zeit  und  Lust 
fehlte.  Das  Bruchstück  B^  zeigt  uns  aber  nun  deutlich, 
Yfie  Ramler  eklektisch  vorgieng,  wie  er  älteres  und  jün- 
geres ,  eigenes  und  fremdes  mit  kecker  Hand  mischte. 
Den  einzigen  grösseren  Zusatz  der  Ausgabe  1760  (Anhang 
Nr.  104  Vers  76—82  meiner  Ausgabe),  den  ich  (Über  die 
Ramlerische  Bearbeitung  S.  14)  richtig  als  Ramlerische 
Mache  erkannte,  steht  fast  wörtlich  schon  in  JR*  Vers  55 
— 61;  ja  die  ganze  Stelle  R  72—94,  in  deren  Anordnung 
ich  ebendort  den  näheren  Anschluss  an  F^  nachzuweisen 
versucht  habe,   hat  Ramler  mit  geringen  Kürzungen  und 

^^)  Ramler  ist  also  1760  hier  conservativer  gewesen,  als  ich: 
Über  die  Ramlerische  Bearbeitung  S.  10  annahm;  da  V.  3.  4  in  dieser 
Fassung,  wie  sich  später  zeigen  wird,  von  Kleist  selbst  herrühren,  so 
scheinen  auch  die  wenig  gelungenen  Änderungen  in  V.  11,  12  und 
14  auf  den  Dichter  selbst  zurückzugehen,  und  erst  in  den  späteren 
Auflagen  griff  Ramler  auf  seine  ältere  Umarbeitung  zurück. 

*•)  Die  Umarbeitung  des  *Amynt'  (Nr.  22  meiner  Ausgabe)  ist  also 
hier  zuerst  gedruckt,  da  die  'Oden  mit  Melodien'  früher  erschienen 
als  die  Zürcher  Ausgabe  des  Frühling  1754  (F^),  und  sie  rührt  von 
Ramler  her,  der,  fälschlich  das. 'Trinklied*  an  Stelle  von  'Phyllis  an 
Dämon*  nennend,  an  Gleim  19.  November  1755  schreibt:  'Herr  v.  Kl. 
hat  seinen  Amint  und  seinen  'Weisen  Dämon,  dessen  Haupt*  so  drucken 
lassen,  wie  wir  ihn  hier  zugerichtet  hatten  und  also  kan  es  seinen 
Nahmen  fuhren*:  Ramler  muss  seine  Correcturen  vor  dem  Druck  von 
J^  Kleist  übergeben  haben. 


Sauer,  Mittheilungen  über  E.  y.  Kleist.  27  t 

Änderungen  seinem  älteren  Manuscripte  entnommen.    Dass 

der  Vers  B  88  f.  'Spannt  eure  Segel  den  Ost  auf  und  erntet 

den  Reichthum  der  Inseln  im  Meer'  nicht  ohne  Grund  für 

Ramler  in  Anspruch  genommen  wurde,  bezeugt  dessen  Fas> 

sung  in  22*  68  f.:    ^Lasst  eure  Segel  den  Reichthum  |  Aus 

allen  Inseln  des  Meers  in  Schatten   nehmen'  u.  dgl.  mehr. 

Ein  Vergleich  des  Bruchstücks  i2*  mit  R  1760  lehrt  femer, 

dass  auch  die  metrischen  Grundsätze,  welche  Ramler  bei 

seiner  Correctorthätigkeit  leiteten,  innerhalb  der  zehn  Jahre 

wesentlich  dieselben  geblieben  sind,  womit  die  Stelle  seines 

Briefes  an  Gleim  yom   12.  November  1749    in  Verbindung 

zu  bringen  ist: 

Der  Hexameter  [in  Uzens  Frühlingsode]  aber  ist  der  aller- 
wohlklingendste ,  und  hat  die  Cäsur  da,  wo  ich  sie  in  Kleists 
Früling  so  gern  setzen  mag.  Doch  weil  es  eine  grosse  Voll- 
kommenheit vom  Hexameter  ist  dass  er  sich  abändern  lässt,  so 
wolle  ich  ihm  nicht  gern,  auch  nicht  in  Lyrischen  Gedichten,  eine 
Fessel  anlegen.  Horatz  thut  es  auch  nicht.  Der  Abschnitt  aber 
müste  wohl  bleiben,  weil  er  zur  Harmonie  oder  vielmehr  zur 
Respiration  unentbehrlich  ist.  Kleist  hat  etliche  Uzische  Verse 
z.  E.  Ich  will  die  V^ollust  in  mich  mit  eurem  Balsamhauch  ein- 
ziehn  etc.  (V.  IS);  Scheint  dort  aus  Mitternacht  nicht,  vom 
Sonnenstrale  getroffen  etc. 

Wie  Ramler  immer  mehr  vom  Originale  sich  entfernt 

hat,  möge  die  Vergleichung  einiger  Stellen  beweisen: 

F^  96  f.  iJ»  33  f.  JB  1760,  56  f. 

Gebirge,  die  Brüste  und  hinten  stehu  Re-  und  hinter   ihm  hebt 

derReben,  bengebürge,  sich 

Stehn   fröhlich   um  DasHaupt  mitEpheu   Ein   Rebengebirg 
ihn  herum;  gekrönt,  st oltz über     empor,  mit  Thyr- 

den  Garten,  susstäben        be- 

pflanzet; 

JPi  100  f.  ü»  37  f.  jB  mO,  60  f. 

Die  Lerche  steigt  in  Die  Lerche  besteiget  Die  Lerche  besteiget 

die  Luft,  sieht  unter  die  Luft,  sieht  wie-     die  Luft,  sieht  unter 

sich  Klippen  und  der     beblümete     sich  seel ige  Thäler, 

Thäler ;  Thäler, 

Entzückung   tönet  Bleibt  schweben,  und  Bleibt  schweben  und 

aus  ihr.  singet  entzückt.          jubiliret. 

Diese  Andeutungen  mögen  genügen,  da  doch  die  Unter- 
suchung im  ganzen  Umfange  nicht  ein  zweites  Mal  ge- 
macht werden  kann.    Ich  glaube  aber  wenigstens  noch  auf 


272  Sauer,  Mittheilungen  über  £.  v.  Kleist. 

zweierlei  Schwierigkeiten  hinweisen  zu  müssen,  die  bei 
einer  genaueren  Yergleichung  sich  ergeben.  Obgleich  die 
oben  besprochene  Vorlage  Ramlers  dem  1749  gedruckten 
Texte  (F^)  sehr  nahe  steht,  so  scheint  er  doch  ursprüng- 
lich nach  einer  Fassung  gearbeitet  zu  haben,  welche  noch 
einige,  später  veränderte,  Lesarten  aus  dem  zu  Nr.  89  mit- 
getheilten  Manuscripte  des  Trühlings'  (M)  enthielt,  wie 
folgende  drei  Stellen  beweisen: 

M  F'  Ä* 

76   ins   Moos  mich  ins     Grüne     mich  3  im  Mo sse  gelagert 

setzen  setzen 

79    Ein  Kranz  von  Ein  Zaun    von   blü-  15Auchkräntzt  und 

blühenden  Dornen        henden  Dornen  röthet    daselbst    ein 

Umschliesstundröthet  Umschliesst  und  röthet  Zaun   von   blühen- 
den Domen 

131   wenige  Sorgen      wenige  Mühe  66  wenige  Sorgen 

Ferner;  so  wie  Kleist  in  F^  die  Ramlerische  Umarbei- 
tung des  'Amynt'  aus  den  'Oden  mit  Melodien'  herüber- 
nahm, so  scheint  er  dies  auch  in  F^  (1754)  bei  einer 
Stelle  des  Frühlings'  gethan  zu  haben,  wie  folgende  Zu- 
sammenstellung beweist : 

F^  206  B«  F^  160 

DeristeinGünstling  Nur  der  ist  ein  Lieb-  Der  ist  ein  Liebling 
des  Himmels,  den,  ling  des  Himmels,  des  Himmels,  den, 
fern  von  Foltern  der,  fern  vom  6e-  fern  von  Lastern 
der  Laster,  tümmel   der     Tho-     und  Thorheit, 

ren, 

Die  Ruh"*  an  Quellen  am  Bache  schlummert  Die  Ruh*  an  Quellen 
umschlingt.  umschlingt 

Directen  Antheil  hatte  Bamler  weder  an  den  späteren 
Einzelausgaben  des  ^Frühlings'  noch  an  der  Gesammtausgabe 
des  Jahres  1756;  wollte  Gleim  in  letzterer  'sogleich  beim 
ersten  Anblick'  Ramlers  Meisterhand  erkannt  haben  (27.  Oc- 
tober  1756),  so  versicherte  ihn  dieser  vielmehr  (17.  No- 
vember 1756):  *Sein  Frühling  ist  von  ihm  selbst  verbessert 
worden,  ohne  dass  ich  einen  eintzigen  Pinselstrich  hinzu- 
gethan  habe'.  Erst  bei  der  im  Jahre  1759  geplanten  Aus- 
gabe der  Werke  tritt  Ramler  wieder  helfend  und  bessernd 
ein.  Der  glückliche  Zufall  hat  uns  Kleists  entscheidenden 
Brief  über  die  Anordnung  dieser  Sammlung  erhalten: 


Saaer,  Mittheilungen  über  E.  v.  Kleist.  273 

Kleist  an  Ramler. 

Liebster  Freund 

Für  Ihr  schönes  Geschenk  des  Batteux,  bin  ich  Ihnen  sehr 
verbunden.  Ich  blättre  fleissig  darein,  und  sehe  mit  Vergnügen 
wie  ihn  mein  lieber  Ramler  zum  deutschen  Original  gemacht  hat. 
Dass  Sie  mich  nun  nicht  besuchen  können,  ist  mir  sehr  leid,  ich 
werde  mich  nun  nach  dem  Sommer  sehnen,  wie  ich  mich  nach 
dem  Winter,  sonst  wieder  meine  Natur,  gesehnt  habe.  Herr 
Lessing  stellt  sich  auch  noch  nicht  ein,  er  wird  woll  zu  mir 
kommen  wenn  die  Campagne  angeht,  und  wenn  ich  nicht  mehr 
hoffen  werde  dass  er  komt.  — 

Ihre  verbesserten  Stellen  im  Früling,  kan  ich  nicht  adop- 
tiren,  ich  habe  Ihnen  ohnedehm  schon  die  Erfindung  der  Emire 
und  Agathocles,  und  sonst  verschiedene  Gedanken  und  Verbesse- 
rungen abgeborgt.  Wenn  ich  einmahl  todt  bin,  den  mögen  Sie 
ausbessern  was  Sie  wollen,  oder  vielmehr  den  sollen  Sie  alle 
meine  Sachen  ausbessern,  und  dieser  Brief  soll  mein  Testament 
seyn,  darin  ich  Ihnen  legire,  dass  Sie  alles  nach  ihrem  Gefallen 
ändern,  und  ein  Pflegevater  meiner  Poesien  seyn  und  diess  in 
der  Vorrede  sagen ^^)  sollen.  Herr  Lessing  wird  Ihnen  doch  woil 
überliefert  haben,  wie  jetzo  meine  Kleinigkeit[en]  gedruckt  werden 
sollen.     Nemiich  im  ersten  Theil: 

1)  Vorbericht  des  Verlegers,  (ohne  das  geringste  Lob) 

2)  Dedication  an  die  Freyfrau  von  der  Goltz. 

Oden  (ein  apartes  Titelblatt) 

1)  Der  Vorsatz 

2)  Hymne 

3)  An  die  preussische  Armee  im  Martz  1757  [4]^^) 

4)  Einladung  aufs  Land  im  December  an  Herrn  Hofrath  E. 
(NB.  so  muss  es  gedruckt  werden)  Der  Westwind  flieht 
nun  Flur  und  Weiden,  die  nicht  mehr  blühn  etc.  [5] 

5^  An  Herrn  Rittmeister  Adler.  [3] 

6)  Das  Landleben,  an  Herrn  Ramler  [7] 

7)  An  Herrn  Gammerherrn  v.  W.^*)  (Mein  Tirsis  lass  dich 
nicht)  [6] 

Lieder  Titelblat. 

1)  Phillis  an  ihren  Dämon 

2)  An  Dämon  (Weiser  Dämon  dessen  Haupt  etc.) 

3)  Galathee 

4)  Die  Heilung 


")  ü.  d.  Z. 

**)  Wo  die  Ramlerische  Ausgabe  1760  von  der  Kleistiscben 
Beihenfolge  abweicht,  setze  ich  die  Zählung  der  ersteren  in  Klam- 
mem bei. 

")  Zuerst:  an  Tirsis. 


274  Sauer,  Mittheilungen  über  E.  v.  Kleist. 

5^  Lied  eines  Canibalen 

6)  Lied  eines  Lappländers 

7)  Liebslied  an  die  Weinflasche 

8)  Trinklied  an  —  (Freund  versäume  nicht  zu  leben) 

9)  Lesbia  und  Damöt 

10)  Cfaloris  (nach  dem  Zappi)  [11] 

11)  Gedanken  eines  betrunkenen  Sternsehers  (hat  H.  Voss)  [10] 

12)  Grablied 

13)  Gebuhrtslied. 

Idyllen.     Titel[blatt]. 

1)  Menalk 

2)  Gephis  (NB.  nicht  an  Gessner)  Mreil  es  lässt,  als  wen  ich 
ihn  anrede:  Sey  mir  gegrässt  etc. 

3)  Amint  [4] 

4)  Milon  und  Iris  [3] 

5)  Nach  dem  Bion  [6] 

6)  Irin,   an  Herrn  Gessner   den  Verfasser    der  prosaischen 
Idyllen.  [5] 

Erzählungen  und  Fabeln.     T[itelblatt] 

1)  Die  Freundschaft  an  H.  Gleim  [i] 

2)  Emire  und  Agathocles  [1] 

3)  Arist 

4)  Die  Seefarth  (wird  Ihnen  Gleim  schicken)  [fehlt] 

5)  Der  gelähmte  Kranich.  [4] 

Sinngedichte  T[itelblatt]. 
Ausser  denen  die  in  der  alten  Auflage  stehen 


1)  Grabschrift  auf  den  M.  v.  Bl.  etc.  [15] 
iS  Über  2  einäugigte  Geschwister  etc.  [7] 
3;  Auf  den  Altindes  (wird  Ihnen  Gleim  schicken)  [20] 


4)  Ein  Gemähide  (Portrait  ist  woU  besser)  [13] 

5)  Auf  den  Tod  eines  grossen  Mannes  (NB.  Dies  war  Geliert 
den  man  todt  sagte)  [1] 

6)  Über  das  Bildniss  Raphaels  von  ihm  selbst  etc.  [2] 

Unausgearbeitete  Gedichte.     T[itelblatt]. 

Lob  der  Gottheit 
Sehnsucht  nach  Ruh 
Fragment  eines  Gedichts  an  den  König. 

2*«'  Theil. 
Dedication  an  den  Hauptmann  von  ManteuSSel,  (unten  muss 
der  datum  stehen  an  dem  ich  sie  gemacht  habe  den  18.  Sept. 
1758,  denn  jetzo  ist  er  erschlagen) 

1)  Cissides  und    Faches   nach    dem    beykommenden   Exem- 
plar [2] 

2)  Der  FrQling,  (italiänisch  an  der  Seite)  [1] 

3)  Die  Unzufriedenheit  der  Menschen  an  H.  P.  Sulzer. 


Sauer,  Mittheiluiigeii  über  E.  v.  Kleist.  275 

4)  Seneka  ein  Trauerspie),  [steht  am  Schlüsse  des  ersten 
Theües] 

Ende. 

Ob  Sie  die  Vorberichte  wollen  cassiren  oder  stehen  lassen, 
das  soll  von  Ihnen  dependiren.  Klein  Oetav  hätte  ich  am  lieb- 
sten, wenn  Sie  es  aber  besser  finden,  kan  man  auch  gross  8^^ 
nehmen,  aber  30  Bogen  (jeder  Theil  zu  15)  müssen  es  werden. 
NB.  wenn  es  angeht 

Hier  haben  Sie  noch  einige  Verbesserungen,  die  ich  zu 
notiren  bitte: 

1)  In  dem  Vorbericht  zum  FrGling,  stat  unnachahmbar,  un- 
nachahmlich. [Werket,  138] 

2)  Im  Fröliug  nicht  weit  vom  Anfange  stat:  die  unabseh- 
bare Fläche  (des  Meers),  unabsehliche.  [Nr.  90  Vers  60; 
Nr.  104  Vers51]>») 

3)  Hier  wo  das  hohe  Gebürge,  bekleidet  mit  Sträuchen 
und  Tannen  etc.  im  Früling  [Nr.  90  Vers  45;  Nr.  104 
Vers  40] 

4)  Im  Früling:  auf  der  Insel: 

Die  Blüthen  küssen  einander,   und  scheinen  eine 

am  Athem 
Der  andern  sich  zu  ergötzen  etc. 
stat:  Es  küssen  die  jungen  Blüthen  etc.    [Nr.  90  Vers 
343  f.] 

5)  Im  Lob  der  Gottheit:  Tausend  Sternenheere  loben  meines 
Schöpfers  Huld  und  Starke  etc.  [Nr.  4  Vers  IJ 

6)  Die  nahen  Felsen   und  Hügel   hiedurch  zum  Mitleid    be- 

wogen 
Erheben  ein  zärtlich  Gcwinsel  etc. 
stat:    Die  strauchichten  Hügel  etc.   im  Früling:    wo    die 

Nachtigal  gefangen  wird.    [Nr.  90  Vers  225] 

7)  Im  Arist:  oft,  wenn  er  schwieg 

Fiel  schnei  ein  Wolkenbruch,  mit  wildem  Lerm 
Zur  bangen  Erd  herab  etc.  [Nr.  72  Vers  4  f.]    NB.  Die 
Fabel  die  Geliert  nachgeahmt  ist. 

8)  In  dem  sapphischen  Liede  Phillis  an  ihren  Dämon  [Nr. 
11  Vers  1-4]: 

Ja,  liebster  Dämon!  ich  bin  überwunden 
Mein  Geist  empfindet  was  er  nie  empfunden. 
Dein  Harm  von  dem  dein  Angesicht  erbleichet 

hat  mich  erreichet.    (Den  Rest 
hat  H.  Lessing.) 

9)  Im  Früling :  Mit  Arbeit  würtzt  er  die  Kost  (NB.  Ramler) 
[Nr.  104  Vers  171]  —  Diess  ist  nun  auch  bald  alles. 
Die    übrigen  Verbesserungen,    wird   Ihnen   Herr   Lessing 

^*)  Von  hier  ab  in  Klammem  die  Nummern  meiner  AuBgab?, 


276  Sauer,  MiitheiluDgen  über  £.  v.  Kleist. 

gegeben  haben.  NB.  die  Stücke  dürfen  nicht  numerirt 
werden,  ob  ich  es  gleich  hier  gethan.  Noch  eine  Ver- 
besserung im  Früling  [Nr.  90  Vers  73—76;  Nr.  104 
Vers  62—65]: 

—  —  Er  horcht  eine  Weile,  den  lehnt  er 

Sich  auf  den  gleitenden  Pflug,  zieht  braune  Wellen  ins 

Erdreich  — 
Der  Sämann  schreitet  gemessen,  giesst  gleichsahm  trocke- 
nen Regen 
Von  Saamen,   hinter  ihm  her.    —    0  dass  der  müh- 

sahme  etc.  etc. 
(Die  Krähen  und  die  Egde  kommen  weg  NB) 

[Randschrifl]  Was  werden  Sie  für  Mühe  haben  allerliebster 
Freund!  Aber  Sie  sollen  mir  [nie]  wieder  einmahl  dergleichen 
machen.     Ich  bin  ewig 

Ihr  getreuster 
Zwickau  den  ^ß^^  Januar  1 759.  Kleist,  sonst  Menalk. 

[Randschrift  auf  S.  3]  NB.  In  der  Fabel:  Die  Seefarth,  muss 
der  Anfang  heissen  [Nr.  82  Vers  1—4] 

Filind  und  Egle  fuhr  mit  Daphnis  auf  dem  Meer 
Im  Kahn.     Der  Himmel  war  von  Wolken  anfangs  leer 
So  wie  ihr  Geist  von  Schmerz.     Sie  sahn  im  Wasser  blühen 
Den  Strand,  und  ihn  dem  leichten  Kahn  entfliehen  etc.  etc.  — 

und  nicht  wie  ihn  Gleim  schicken  wird. 

[Randschrift  auf  S.  2]  P.S.  Machen  Sie  doch  an  den  Herrn 
Stallmeister  v.  Brandt  meine  gehorsahmste  Empfehlung,  und 
fragen  Sie  ihn,  ob  kein  Printz  oder  Printzessin  etc.  Pagen  ge- 
braucht. 4  junge  Edelleute  2  Plötzen,  1  Manteufel,  und  1  Kleist, 
bitten  mich  sie  unterzubringen,  und  ich  bin  sehr  ohnmächtig. 
Sie  sind  14  bis  15  Jahr  alt,  und  sollen  gut  aussehen.  Mir  ge- 
schähe woll  eine  ungemeine  Freundschaft,  wenn  es  möglich  wäre 
sie  zu  employiren. 

[Randschrift  auf  S.  1]  Tausend  Grüsse  an  unsere  Freunde. 
Herrn  Lessing  bin  ich  eine  Antwort  schuldig,  aber  ich  besorge,  dass 
sie  ihn  nicht  mehr  in  Berlin  findet,  daher  will  ich  sie  schuldig 
bleiben. 

Die  Erfindung  der  Vignetten  etc.  überlasse  ich  Ihnen  gänz- 
lich. Zum  2^^^  Gesang  des  Cissides  könte  allenfals  die  Geschichte, 
da  Paches  dem  sterbenden  Cissides  den  Pfeil  aus  dem  Rücken 
zieht,  und  zum  3**"  der  Waffenträger  der  bey  dem  Todten  liegt, 
gestochen  werden  etc.     Verzeihen  Sie  mein  Geschmier. 

^  Aus  diesem  Briefe  geht  folgendes  mit  Sicherheit  her- 
vor: 1)  Von  der  letztwillig  angeordneten  Reihenfolge  der 
Gedichte    wich  Eamler   ohne    sichtbare   Qründe    mehrfach 


Sauer,  Mittheilungen  über  E.  y.  Kleist.  277 

ab ;  das  Gedicht  'Die  Seefahrt'  blieb  gegen  Kleists  Ver- 
fügung aus  der  Sammlung  weg.  2)  Von  den  ihm  hier  mit- 
getheilten  Änderungen  des  Dichters  nahm  Ramler  nur  zwei 
unversehrt  in  seine  Ausgabe  auf,  in  'Arist'  und  in  Thyllis 
an  Dämon';  die  unter  1  —  6  yerzeichneten  Besserungsvor- 
Bchläge  Hess  er  ganz  unbeachtet.  3)  Ramlers  ältere  Um- 
arbeitung des  'Frühlings'  wurde  allerdings  yon  Kleist  an 
6iner  Stelle  Nr.  104  Vers  171  gebilligt  und  angenommen; 
denn  nur  auf  diese  kann  sich  das  'NB.  Ramler  in  Punkt  9 
beziehen.  4)  Ramler  aber  sah  diese  partielle  Verfügung 
als  einen  allgemeinen  Freibrief  an,  schob  seine  Fassung 
auch  dort  unter,  wo  Kleist  sie  nicht  gebilligt,  yielmehr 
eigene  Besserungsyorschläge  gemacht  hatte ,  und  putzte 
sein  Erzeugniss  gelegentlich  mit  einem  Fetzen  aus  Kleists 
Nachlass  auf.  Es  genügt  wohl,  dies  hier  an  einer  Stelle 
des  ^Frühlings'  zu  zeigen,  die  die  mannigfachsten  Schick* 
sale  durchgemacht  hat. 

Vers  104  f.  lautet  ursprünglich  {F^):  'Der  Säemann 
schreitet  gemessen,  Giesst  güldne  Tropfen  ihm  nach'.  Im 
Briefe  an  Gessner  16.  Mai  1753  schlägt  Kleist  die  Ände- 
rung yor:  'und  streut  den  Samen  ihm  nach'  mit  der  Be- 
gründung 'Die  goldenen  Tropfen  sind  gar  zu  sehr  getadelt 
worden';  so  steht  auch  in  F^\  in  F^  und  G  (1756)  ähnlich: 
'Und  wirfk  den  Samen  ihm  nach'.  Die  Änderung  nun, 
welche  der  obige  Brief  bietet,  ist  nur  eine  halbe  und  zag- 
hafte Rückkehr  zum  ursprünglichen  kühnen  Tropus,  der 
yon  beiden  Seiten  abgeschwächt  und  yerklausulirt  wird: 
'giesst  gleichsahm  trockenen  Regen  Von  Saamen,  hinter 
ihm  her',  eine  Rückkehr,  die  aber  immerhin  beweisen 
mag,  dass  Kleist  für  seine  letzte  Umarbeitung  die  älteren 
Drucke  seines  Gedichtes  bei  der  Hand  hatte.  Oder  ist 
hier  gleichfalls  ein  Einfluss  Ramlers  zu  constatiren,  der 
1749  geschrieben  hatte:  'giesst  goldenen  Hagel  ihm  nach'? 
Ramler  beharrt  auf  seiner  Fassung,  nur  den  'Hagel'  lässt  er 
1760  in  'Regen'  zerfliessen.  An  derselben  Stelle  opfert  er 
zwar  die  'Egge',  die  Kleist  ja  schon  1756  hinausgeworfen 
hatte,  auf;  aber  die  'Krähen'  nimmt  er  gegen  Kleists  Verdam- 
mungsurtheil  auch  fernerhin  in  Schutz.  Auch  von  dieser 
Seite  kommen  wir  also  zu  demselben  Urtheile,  dass  Ramler 


278  Sauer,  Mittheilungen  über  £.  y.  Kleist. 

die  falschen  Münzen  seiner  älteren  Umarbeitung  als  echtes 
Kleistisches  Gepräge  ausgegeben  hat. 

Für  den  Herausgeber  der  Kleistischen  Werke  aber 
wäre  dieser  Brief  von  der  höchsten  Wichtigkeit  gewesen; 
wäre  ihm  auch  die  Untersuchung  nicht  eben  vereinfacht 
worden,  jedenfalls  hätte  ihm  mancher  Fehlschluss  erspart 
bleiben  können  und  mit  grösserer  Sicherheit  hätten  sich  die 
Ramlerischen  Zusätze  nachweisen  lassen;  vielleicht  auch 
hätte  er  sich  dadurch  bestimmt  gefühlt,  von  der  geraden 
Linie  der  chronologischen  Reihenfolge  zu  Kleists  eigener 
künstlerischer  Gruppirung  abzuschwenken,  was  jetzt  spä- 
teren Ausgaben  vorbehalten  bleiben  muss. 

Ramler  selbst  hatte  ein  schlechtes  Gewissen,  als  er 
den  Freunden  des  dahingeschiedenen  Dichters  über  seine 
Arbeit  Rechenschaft  gab;  ja  er  wagte  es  trotz  seiner  Be- 
rufung auf  das  Testament  nicht,  ihnen  seinen  eigenen  An- 
theil  an  der  Textesgestaltung  im  ganzen  Umfange  einzu- 
gestehen; an  Gleim  6.  November  1759: 

Jtzt  suche  ich  alle  seine  Briefe  mit  Herrn  Lessing  durch, 
worin  er  uns  Lesearten  über  seine  Gedichte  geschrieben  hatte. 
Einen  Brief  hebe  ich  noch  immer  auf,  worinn  er  es  mir  gleich- 
sam als  in  einem  Testamente  vermachte,  dass  ich  nach  seinem 
Tode  nach  meinem  Gefallen  Lesearten  darin  machen  könne,  und 
dass  er  sie  schon  im  voraus  als  die  seinigen  adoptirte.  Der 
gute,  der  mir  allzuviel  zutrauende  Freund,  Dichter,  Mensch!  Es 
müssten  unendliche  Kleinjgk[eiten]  ^^)  seyn,  die  ich  hineinsetzen 
könnte;  ich  mag  seinen  schönen  Cha[rakt er] ^'')  der  sich  so  sicht- 
bar in  allen  seinen  Worten  mahlt,  durch  fremde  [Zusätze] ^'^) 
nicht  unkenntlich  machen.  Sein  melancholischer,  oft  kühner 
Pinsel  geßLllt  mir  allzusehr,  als  dass  ich  ihn  mit  meinem  allzu 
furchtsamen  Pinsel  verunstalten  sollte. 

Gleim    traute    dem  Erzkritikus   doch    nicht  ganz    und 

ahnte,    dass    das    Gespenst   des    verbesserten   'Frühlings' 

noch   nicht    zur  Ruhe    gelangt   sei;    24.  Februar   1760    an 

Ramler: 

So  fürtreflich  Ihre  ehemaligen  Veränderungen  seines  Frü- 
lings  waren,  so  billige  ich  doch  den  Vorsatz  sehr,  dass  Sie  uns 
den  wahren  Kleist  liefern  wollen;  ich  könte  Ihnen  mit  einem 
Briefe  beweisen,  dass  Er  Ihren  Zusätzen  und  Verbesserungen  den 
vollkommensten  Beyfall  gegeben,    aber  nie  gewünscht  hat,    dass 

")  ausgerissen. 


Sauer,  Mittbeilungen  aber  £.  y.  Kleist.  279 

es  Ihnen  Ernst  seyn  möchte,  sein  Gedicht  damit  zu  verschönern. 
Er  sagt  in  angeführtem  Schreiben  ohngefehr,  Herrn  Ramlers 
Früling  würde  unendlich  viel  schöner  seyn,  als  der  meinige,  aber 
er  würde  nie  der  Meinige  seyn.  Bei  dem  allen  wünschte  ich 
doch  sehr,  dass  es  möglich  wäre,  dass  sie  Ihre  schönen  Zusätze, 
uns  auch  zu  lesen  geben  könten.  Vielleicht  finden  Sie  ein  Mittel, 
entweder  dadurch,  dass  Sie  sie  als  Fragmente  liefern,  weil  sie 
doch  mit  Ihrer  Idee  der  höchsten  Vollkommenheit,  schwerlich  es 
dahin  bringen,  dass  sie  uns  ein  ganzes  Stück  geben,  oder,  dass 
sie  —  doch,  wenn  noch  ein  anderes  Mittel  ist,  so  werden  sie  es 
besser  wissen  als  ich. 

Er  wusste   ein  besseres  Mittel  und   scheute  sich  nicht 

es  anzuwenden,    hatte    aber  doch  nicht  den  Muth  Gleim 

die  volle  Wahrheit  zu  sagen,  wie   das  folgende  Schreiben 

Qleims  •—  ein  Vorläufer  des  späteren  Bruches  mit  Ramler  — 

beweist: 

22.  August  1760.  Dann,  liebster  Freund,  verlangten  Sie  von 
mir  das  Leben  unsers  Kleists.  Wenn  Sie  in  den  dreyen  Wochen 
ihres  Hierseyns  nur  einen  Tag  davon  mit  mir  hätten  sprechen 
wollen,  welches  ein  so  grosser  Trost  für  mich  gewesen  wäre,  so 
würde  dieses  mich  nicht  befremden.  Aber  sie  beobachteten  so 
wohl  hievon,  als  von  der  Ausgabe  der  Gedichte  unsers 
Kleists,  ein,  wie  es  mir  vorkommen  muste,  wohlbedächtiges 
Stillschweigen,  und  wenn  ich  sie  darauf  bringen  wolte,  so  eilten 
sie  von  dieser  Materie,  auf  eine  andere;  und  mir  war  dieses 
allerdings  ein  Rätzel,  welches  dadurch,  dass  Sie  Herrn  Lessing 
zum  Herausgeber  machten,  und  auf  ihn  desshalb,  dass  man  mich 
nicht  zu  Rathe  zöge,  alle  Schuld  schoben,  nicht  aufgeiöset  wurde. 
Oft  fieng  ich  von  den  Briefen  unsers  Kleists  an  zu  sprechen, 
und  da  mag  Ihnen  eingefallen  seyn,  dass  ich  Ihnen  von  einem 
gesagt  habe,  darinn  Er  alle  Veränderungen  seiner  Gedichte  ver- 
bittet; den  werden  sie  vielleicht  nicht  haben  sehen  wollen,  um 
die  Freiheit  zu  verändern;  die  sie,  aus  einem  andern  Schreiben 
sich  anmassen,  von  mir  nicht  streitig  machen  zu  lassen  —  Diese 
Ursach  Ihrer  Zurückhaltung  so  bald  ich  von  meinem  Kleist  mit 
Ihnen  sprechen  wolte,  ist,  ich  gestehe  es,  mir  noch  die  erträg- 
lichste .... 

Gleim  lieferte  die  früher  in  Aussicht  gestellte  Lebens- 
beschreibung Kleists  nicht.  Ein  ausführlicheres  Urtheil 
über  das  fertige  Werk  fehlt  uns  von  ihm;  er  tadelt  nur  den 
hohen  Preis  und  schlüpft  über  den  wesentlichen  Punkt 
rasch  hinweg  (10.  December  1760): 

Kaum  habe  ich  noch  hineinsehen  können!  Viele  fürtref- 
liche  Besserungen    habe   ich   wahrgenommen ;   ich   muss   meine 


280  Sauer,  Mittheilnngen  über  E.  v.  Kleist. 

Augen  erst  mehr  daran  gewöhnen,   ehe  ich  sie  mit  Fleiss  lesen, 
und  mit  Ihnen  mehr,  als  itzo,  davon  sprechen  kan. 

Erst  bei  der  zweiten  Auflage  von  1761  rückt  er  mit 
seiner  wahren  Meinung  heraus.  Auf  diese  beziehen  sich  zu- 
nächst zwei  Stellen  aus  Ramlerischen  Briefen ;  aus  der  ersten 
(3.  December  1760):  *Das  Wörtchen,  was  von  einer  neuen 
verbesserten  Ausgabe  in  der  Vorrede  vorkömmt,  werden 
Sie  für  einen  Buchhändierkniff  halten,  und  er  ist  es  auch. 
Indessen  macht  Voss  wirklich  zu  einer  wohlfeilen  Aus- 
gabe Anstalt,  damit  diese  Anstalt  kein  anderer  Buchhändler 
machen  möge'  ist  mit  Sicherheit  zu  schliessen,  dass  die 
von  mir  gesuchte  kleinere  Ausgabe  mit  der  Jahreszahl  1 760 
gar  nicht  existirt  (vgl.  Über  die  Raralerische  Bearbeitung 
8.28);  an  der  zweiten  Stelle  (16.  October  1761)  charak- 
terisirt  sie  Ramler:  ^Die  Edition  ist  sehr  sauber  und  findet 
fast  mehr  Liebhaber  als  die  vorige.  Mit  Recht,  weil  sie 
vollständiger  ist.  Drei  Gedichte  die  durch  Herrn  Lessings 
Übersehen  ausgelassen  waren,  sind  itzt  hinzugekommen. 
Auch  sind  ein  Paar  Correcturen  in  den  kleinen  Gedichten, 
die  schon  bey  seinem  Leben  lange  abgedruckt  waren,  an 
ihren  Stellen  eingeschaltet.'  Vgl.  Werke  1,  XCIV  f.  und 
Über  die  Ramlerische  Bearbeitung  S.  28  f. 

Gleim  geht  in  seinem  Dankbriefe  von  einem  verhält- 
nissmässig  geringfügigen  Fehler  aus,  den  er  gewiss  nur 
deshalb  so  heftig  tadelt,  weil  er  mit  der  ganzen  Sudel- 
arbeit nicht  einverstanden  war,  und  Ramler  entschuldigt 
sich  nur  deshalb  so  umständlich,  weil  er  sich  um  das  Ein- 
geständniss  seines  eigenmächtigen  Vorgehens  herumdrücken 
will. 

Gleim  an  Ramler  22.  November  1761  (nach  dem  Con- 
cepte).  Sie  haben  mir  die  neue  Ausgabe  der  Kleistischen  Werke 
in  sauberm  Bande  geschickt ,  ohne  mir  zu  sagen,  von  wem  ich 
dafür  Schuldner  geworden  bin.  Angenehm  würde  sie  mir  seyn, 
wenn  ich  nicht  argwohnen  müsste,  dass  man  die  Jahrzahl  1739 
über  dem  Gedicht  an  Adler  mit  Vorsatz  habe  stehen  lassen. 
Sie  werden  sich  erinnern,  lieber  Ramler,  dass  ich  bey  meinem 
Dortseyn^^)  sie  recht  sehr  bat  diesem  Gedicht  die  rechte  Jahr 
Zahl  zu  geben,  und  dass  sie  in  Ihrer  Schreibtafel  diese  Bitte  auf- 
schrieben ;  da  sie  nun  nicht  allein  dieselbe  nicht  gewehrt,  sondern 

")  Juni,  JuH  1761. 


Saaer,  Mittheilangen  über  E.  r,  Kleist.  28 1 

überdem  das  Stehenbleiben  derselben  mit  keinem  Worte  entschul- 
digen, so  kan  ich  wohl  nicht  anders  als  meine  verschiedenen  Be- 
schwerden über  meinen  Ramler  mit  dieser  vermehren  —  Diese 
Offenherzigkeit y  mein  liebster  Freund,  wovon  ich  Ihnen  schon 
mehr  Proben  gegeben  verdienet,  dass  sie  mir  sagen,  womit  ich 
sie  beleidigt  haben  mag.  Denn  es  ist  mir  unerträglich  von 
meinem  Freunde  etwas  zu  denken ,  das  ich  von  mir  nicht 
möchte  gedacht  wissen.  Sagen  Sie  mir  es  bald  und  unverholen, 
denn  ich  bin  ja  beständig  Ihr  getreuer  Gleim. 

Ramler  an  Gleim  9.  Januar  1762.  Ich  habe  ihr  Bildniss 
gerade  vor  mir  hängen,  es  lächelt  mich  an,  wenn  ich  glaube, 
dass  sein  Original  etwan  böse  werden  möchte.  Aber  in  der 
That  schreibt  mir  mein  Gleim  etwas  böse  über  den  Druckfehler 
in  der  Jahreszahl  über  Kleists  Gedichte  an  Adler.  Allein  mein 
Gleim  thut  seinem  Ramler  unrecht  —  So  bald  ich  den  Fehler 
in  meiner  Schreibtafel  aufgezeichnet  hatte,  lief  ich^  grosser  Freund 
der  Symmetrie,  und  Feind  aller  Druckfehler,  sporenstreichs  nach 
dem  Garten  hinaus,  wo  Voss  sich  damals  aufhielt.  (Ich  schämte 
mich  nachmals  für  meinen  Eyfer,  dass  ich  in  der  Sonnenhitze, 
um  einer  kleinen  Symmetrie  willen,  mich  so  abgemattet  hatte.) 
Doch  ich  lief  hinaus,  und  verkündigte  es  dem  Buchhändler,  der 
mir  sagte,  er  würde  nach  Leipzig  schreiben,  und  es  Breitkopfen 
erinnern,  wofern  es  nicht  zu  spät  wäre.  Als  ich,  nach  wenigen 
Tagen,  wider  Nachfrage  that,  berichtete  er  mir,  es  wäre  zu  spät 
gewesen:  dieser  Bogen  und  zwey  nachfolgende  wären  bereits  ab- 
gedruckt gewesen.  Er  selbst  schien  diesen  Druckfehler  für  un- 
erheblich zu  halten,  ich  aber  zeigte  ihm  die  Unschicklichkeit; 
Man  sagt  in  der  Lebens  Beschreibung,  Kleist  sey  erst  Anno  40, 
beym  Antritt  der  Regierung  des  jetzigen  Königs,  nach  Potsdam 
gekommen,  und  durch  diese  Jahrzahl  39  giebt  man  ihm  doch 
schon  eine  potsdamrasche  Bekanntschaft  zu  den  Lebzeiten  des 
höchst  seeligen  Königs.  Ferner  wird  des  Krieges  in  der  Ode  er- 
wähnt, an  den  Anno  39  doch  noch  nicht  gedacht  war  etc.  etc. 
Ich  sprachs,  und  gieng  weg,  und  vergass  bald  darauf  diese  ganze 
nunmehr  abgethane  Sache.  Als  ich  endlich  nachher  einige 
Exemplare  von  ihm  erhielt,  fand  ich  noch  einen  andern  Fehler, 
nehmlich  auf  dem  Titelbl.  heisst  unser  seliger  Freund  Christian 
Ewald,  und  in  der  Lebens  Beschreibung  Ewald  Christian.  Ein 
Fehler,  den  ich  Vossen  gleich  anfangs,  bey  der  Ausgabe  mit 
Kupfern,  künftig  zu  ändern  gebeten  hatte.  Aber  genug  von 
dieser  Sache.  Wenn  alle  Klagen,  die  mein  Gleim  über  mich 
führen  zu  können  sich  merken  lässt,  eben  so  leicbt  zu  entschul- 
digen sind,  als  diese  Anklage,  so  bin  ich  gewiss  die  Unschuld 
selber. 

Die   beiden   Briefe    sind   wichtig,    weil    auch    sie    auf 

den  drohenden  Bruch  vorbereiten,  der  ja  wesentlich  durch 

Vierteljahrsohrift  filr  lii  ttoratorgoüchichte   111  15) 


282  Sauer,  Mittbeilungen  über  E.  v.  Kleist. 

Ramlers  Besserungssucht  veranlaBst  wurde.  Ramlers  Yer- 
halten  nach  Kleists  Tod  gab  der  alten  Freundschaft  mit 
Gleim  den  ersten  Stoss,  wie  dieser  selbst  nach  der  Ent- 
zweiung im  Briefe  vom  4.  Januar  1765  hervorhebt:  'Seit 
der  Zeit,  da  mir  berichtet  wurde,  dass  Ramler  verlangt 
hätte,  in  Kleists  Leben  eine  gewisse  Stelle  wegzulassen, 
die  aus  Kleists  Briefe  so  natürlich  eingeflossen  war,  seit 
dieser  Zeit  ward  mir  sein  Caracter  verdächtig.' 

IL    Zwei  Briefe  Kleists  an  Gessner. 

Yon  den  in  alle  Welt  zerstreuten  Briefen  Kleists  an 
Gessner^*)  sind  neuerdings  wieder  zwei  in  Autographen- 
sammlungen aufgetaucht.  Den  ersten  verdanke  ich  der 
Güte  des  Besitzers  A.  Meyer  Cohn  in  Berlin  (vgl.  dessen 
Katalog  einer  Autographen  -  Sammlung  1886  8.  3),  der 
zweite  ist  auszugsweise  in  dem  Oatalogue  de  lettres  auto- 
graphes  composant  le  cabinet  de  M.  Alfred  Bovet,  Series 
V  et  VL  Paris  1884  Nr.  1001  gedruckt  und  mir  von  Ed- 
mund Goetze  mitgetheilt  worden. 

1.    Kleist  an  Gessner. 
Mein  liebster  Freund 

Eben  da  ich  ihr  werthes  Schreiben  erhalte,  erzeigt  mir  der 
Herr  Baron  v.  Escher  der  von  hier  nach  Zürich  reisen  will,  die 
Ehre  und  besucht  mich,  ich  kan  Ihnen  also  bey  dieser  Gelegen- 
heit gleich  antworten.  Sie  haben  mir  mit  ihrem  Portrait  eine 
ausnehmende  Freude  gemacht,  es  ist  eine  zierde  meiner  Stube, 
und  ich  danke  es  unserm  Hirzel  (den  ich  in  meinem  Nahmen  zu 
küssen  bitte:)  sehr,  dass  er  Gelegenheit  zu  diesem  meinem  Ver- 
gnügen gegeben  hat.  Ihr  Ursprung  der  Gärte  ist  sehr  schön. 
Sie  sind  ein  Meister  in  der  poetischen  Mahlerey,  wie  in  der  Mah- 
lerey  mit  dem  Pinsel,  und  ich  bin  sehr  begierig  ihre  Idyllen  zu 
sehen.  Herr  Ewald  empfiehlt  sich  Ihnen.  Er  wird  ihrem  Rath 
folgen,  und  seine  Sammlung  fortsetzen  er  hat  schon  wieder  einen 
ziemlichen  Vorrath  Lieder  und  Epigrammen  gemacht.  Vielleicht 
hat  das  eine  Epigranie:  Vorzug  der  Schweitz,  Sie  choquirt.  Allein 
es  ist  eine  badinerie,  und  wenn  die  Samlung  wirklich  vors  publi« 

**)  Auf  diese  Briefe  scheint  sich  Lenz^  Anfrage  in  einem  Briefe 
an  Sarasin  (Derer -Egloif  S.  237)  zu  beziehen:  *Ich  höre  von  Herrn 
Hathsherm  Gessner,  Herr  Rathschreiber  Iselin  habe  noch  eine  Samm- 
lang originelle  Briefe  des  seligen  von  Kleist,  Dichter  des  FrQhlings 
liegen*. 


Sauer,  Mittheilungen  über  E.  y.  Kleist.  283 

cum  gedruckt  wird,  soll  alles  was  darin  wieder  die  respectable 
Schweitz  enthalten  ist,  wegbleiben.*)  Ich  habe  aus  Spas,  und 
Rache,  über  meine  zörchische  Affaire,  die^®)  mich  wegen  der 
Suiten  ganz  erstaunend  ärgerte,  auch  einige  Singedichte  in  dem 
selben  Thon  gemacht,  davon  ich  ein  paar  Ihnen  aufschreiben 
will.  Sie  sollen  aber  niemahls  gedruckt  werden.  So  viel  Tugend 
und  Gottheit  als  ich  sonst  gepriesen  habe,  schickt  sich  mit  Käse 
nicht  gut  zusammen.  Ich  schicke  Sie  Ihnen  nur  zum  lachen. 
Zu  meinem  Sommer  habe  ich  in  Ernst  niemahls  Hofnung  gemacht, 
und  kau  es  auch  noch  nicht.  Ich  muste  einmahl  in  eine  ruhi- 
gere Lebensart  kommen,  wenn  ich  noch  lange  Gedichte  verfertigen 
solte.  Jetzo  ist  es  genug  für  mich  wenn  ich  ein  Odchen  oder 
ein  Liedchen  trillere.  Die  Welt  wird  auch  nichts  dadurch  ver- 
liehren.  In  Zürich  und  Braunschweig  sind  jetzo  genies  die  mich 
verdunkeln  würden,  wenn  ich  auch  aus  allen  Kräfften  arbeitete. 
Machen  Sie  doch  an  Herrn  Bodmer,  Wieland  (den  ich  sonst 
nur  hochgeachtet  aber  nicht  geliebt  habe  weil  er  meine  Freunde 
zu  attaquiren  schien,  jetzo  aber  beydes  im  höchsten  grade  thue, 
obngeachtet  ihm  daran  woll  wenig  gelegen  ist)  Machen  Sie  diesen 
beyden  grossen  Männern,  und  HE.  Breitingern ,  und  unsern  Crito- 
Freunden  insgesamt,  meine  grosse  Empfehlung.  Ich  umarme  Sie 
tausendmahl  und  bin  mit  der  grössten  Aufrichtigkeit 

Ihr 
Potsdam  d.  1 9*®"  October  1 755  getreuster  Freund 

Kleist. 

Wie?  Gessner  noch  in  Zürch?  [u.  s.  w.  vgl.  Werke  1,  81] 

NB.    hier  solte  eine  Note   unten  kommen,    worin   ich    alle 
unsere  Freunde  auch  wolte  Lands  verweisen  lassen. 
Der  Blumist  und  der  Schweizer  [vgl.  1,  80] 
Görgen  aus  Zürich  und  Belidor.  [vgl.  1,  82] 
Auf  Blasen  einen  erzürnten  Schweitzer,  [vgl.  1,  80]. 
Warum  verstellst  du  dein  Gesicht  und  zürnest  liebster  Blase? 
Sieh  herl  (er  sieht  und  wird  schon  gut)  sieh  her!  hier  hast  du 

Käse. 
Die  schweitzerische  Nachtigall.  [Nur  der  Titel;  vgl.  1,  80] 

Ich  werde  durch  jemand  gehindert,  fortzufahren.  Ohel 
jam  satis  est  ineptiarum?  Noch  was,  das  aber  soll  gedruckt 
werden: 

Christoph  und  Adelgunde.  [vgl.  1,  81] 

[am  Rande  S.  3]  Verzeihen  Sie  mein  Geschmier.  Idi  habe 
nicht  Zeit. 

*)  [am  Rande]  Es  sind  nur  ohngefehr  10  [?]  exemplare  ge- 
druckt worden. 

••)  zuer^:  meinen  zürchiscben  Verdrusa,  der 

19* 


284  Sauer,  Mittheilungen  über  E.  y,  Kleist.' 

[am  Rande  S.  1]  Mein  Brief  ist  zu  spät  gekommen  dHE. 
B.  V.  Escher  ist  schon  abgereiset,  ich  muss  ihn  also  auf  die  Post 
geben. 

2.    Kleist  an  Gessner. 

Leipzig  15.  April  1758. 

II  remercie  Gessner  de  Pindulgence  avec  laquelle  il  a  juge 
ses  po6sies  et  la  piäce  de  th^ätre  quUI  lui  a  envoy^s,  et  ajoute : 
'Vielleicht  wenn  ich  lebe  und  Zeit  habe,  mache  ich  einmal  was 
besseres  von  dieser  ArtT  —  11  a  bien  requ  sa  lettre,  niais  on 
ne  lui  a  pas  encore  remis  le  'po^me  de  la  mort  d'AbeP;  il  se 
r^jouit  de  lire  le  chef-d'oeuvre  de  son  eher  Gessner,  car  ce  sera 
un  chef-d'oeuvre,  ä  en  juger  par  ses  Idylles.  —  'Dann  werde 
ich  das  grosse  Vergnügen  haben,  meines  lieben  Meister  Gessners, 
Meisterstuck  zu  lesen.  Ich  bin  versichert  dass  es  ein  Meisterstück 
sein  wird  da  seine  Idyllen  schon  ein  so  grosses  sind.'  II  le  loue 
surtout  d'avoir  cherch6  ä  imiter  la  simplicit^  des  Anciens.  — 
Consid^rations  interessantes  sur  le  r61e  du  po§te;  louanges  et 
critiques  des  Idylles  de  Gessner.  —  II  parle  de  Geliert  et  de  Les- 
sing qui  le  fait  saluer.  'Herr  Lessing  macht  Ihnen  sein  grosses 
compliment.'  II  annonce  en  post-scriptum  qu'il  vient  de  recevoir 
ordre  de  marche  et  qu'il  va  rejoindre  le  corps  du  prince  Henri. 
—  Gleim  est  le  grenadier  qui  compose  les  chants  de  victoire. 
'Gleim  ist  der  Grenadier  der  die  Siegeslieder  singt.'  —  Int6r- 
essants  et  piquants  d^tails  sur  Zachariae,  Bodmer,  Gleim,  Uz. 
11  lui  demande  s'il  connait  un  ouvrage  intitule:  TOrgueil  national, 
dont  le  style  rapelle  celui  de  Montesquieu  et  de  Rousseau. 

[Unterschrift]  ganz  der  ihrige 

Kleist. 

III.    Kleist  und  Christian  August  Clodius. 

Über  den  Verkehr  Kleists  mit  Clodius  habe  ich  Werke 
1,  LV  wenig  beizubringen  gewusst  und  daher  dessen  Innig- 
keit in  Zweifel  gezogen.  Edmund  Goetze  weist  jetzt  in 
Goedekes  Grundriss  4,  39  einen  Aufsatz  in  ^Scipio  Der 
neuen  vermischten  Schriften  von  Christian  August  Clodius 
zweyter  Theil'  Leipzig  1780  S.  89— 127  nach,  in  welchem 
Kleistische  Briefe  und  Gespräche  mitgetheilt  sind  und  den 
ich  mit  Weglassung  der  eingestreuten  Verse  des  Verfassers 
und  mit  starker  Kürzung  seiner  überschwänglichen  Lobes- 
hymnen auf  Kleist  im  nachfolgenden  wiedergebe.  Er 
scheint  an  jenen  Grafen  von  Reuss  gerichtet  zu  sein,  den 
Kleist  Werke  2,  570  so  liebevoll  charakterisirt  hat. 


Sauer,  Mittheilungen  über  E.  y.  Kleist.  285 

Kleist. 

ich  wage  es  nicht  zu  entscheiden,  ob  Gottes  ewige  Weisheit 
der  unsterblichen  Seele  ein  geheimes  ahndendes  Gefühl  der  Zu- 
kunft aus  Mitleiden  gegeben,  oder  versagt  hat;  so  viel  weiss  ich, 
vortreiTlicher  Graf,  dass  mein  Herz  blutete,  da  ich  zum  letzten- 
mal den  Tyrtäus  und  Thomson  der  Deutschen,  den  Vater  des 
Frühlings,  Ihren,  und  meinen  Kleist  umarmte.  — 

Er  stand  an  der  Spitze  seines  nach  Thätigkeit  und  Sieg 
dürstenden  Bataillons. ^^)  Auf  seiner  Stirn  ruhete  stiller  Ernst, 
mit  einer  Heiterkeit  gemildert,  die  den  ruhigen  Mann  und  den 
entschlossenen  Helden;  aber  auch  den  warmen  theilnehmenden 
Freund  verrieth.  Er  bemerkte  meine  Thränen,  und  belohnte  sie 
durch  eine  stillschweigende  Umarmung,   die  ich  itzt  noch  fühle. 

—  Nichts  war  rührender,  als  die  Idtzte  Unterhaltung  mit  dem 
ehrwürdigen  alten  Cl[odius]^^)  ....  Er  liebte  den  Major,  wie 
ein  Greis  seinen  Bruder.  —  Mit  welcher  edlen  Heftigkeit  dieser 
zweite  Palämon  um  den  Hals  des  Helden  fiel !  —  ....  'Mir  will 
das  gar  nicht  in  den  Kopf,  Herr  Major,  sagte  der  Greis:  dass 
Sie,  wie  man  glaubt,  wider  die  Russen  gehen.  Sie,  Herr  Major, 
sind  brav,  und  werdens  nicht  zugeben  wollen,  dass  die  Leute  so 
fest  stehen;  und  überhaupt  die  Kanonen  sind  gar  nicht  meine 
Sache*  Du  scherzest,  alter  Silberkopf,  antwortete  der  Major,  ich 
hätte  dich  für  stärker  gehalten;  aber  deine  Thränen  verrathen 
dich.  Leb  wohl,  und  freue  dich  vielmehr,  wenn  mich  der  König, 
mein  Herr,  dahin  ruft,  wo  Gefahr,  aber  auch  Ehre  zu  erwerben 
ist.  —  Kleist  umarmte  seine  Freunde.  —  Das  Bataillon  brach 
auf.  — 

Wer  sollte  in  dem  heftigen,  zürnenden  und  glühenden  Aus- 
fall zum  Cissides  und  Pacches,  bey  allem  Eifer  für  die  Mensch- 
heit, den  Kleist  erkennen,  der,  gerührt  von  den  Schrecken  der 
eisernen  Schlacht,  und  dem  Tode  eines  blühenden  Jünglings,  in 
seinem  Frühling  ausrufl:  —  Väter  der  Mensehen,  wollt  ihr  noch 
mehr  glückselige  Kinder,  o  so  erkauft  sie  nicht  mit  dem  Blute 
der  Erstgebohrnen.  —  Höret  mich,  Fürsten,  dass  Gott  euch  höre. 

—  Wie  viel  Sanftmuth? 

Ich  erkläre  mir  diesen  Kontrast  der  Empfindung  sehr  natür- 
lich. Denn  ich  war  eben  bey  ihm,  als  er  die  Nachricht  erhielt, 
dass  zwo  seiner  geliebtesten  Niecen,  bey  einem  Ueberfall  unregel- 
mässiger Truppen,  geplündert  und  in  die  Gefahr  des  Todes  ge- 
kommen waren.  Er  las  den  Brief  dreymal  mit  Thränen,  und 
schrieb  unmittelbar  darauf  die  Stelle  —  'Ich,  der  ich  dieses  sang.' 
[Werke  1,  266.] 

Eben  so  les*  ich  den  Monolog  eines  Engländers  in  den  pro- 
saischen Aufsätzen  [Werke  1,  310  f.]  mit  mehr  Rührung,  weil  ich 

*^)  Beim  Abmarsch  aus  Zwickau,  Anfiuig  Mai  1759. 

")  Christian  Augusts  Vater,  Rector  der  Lateinschule  in  Zwickau. 


286  Sauer,  Mittheilnngen  über  E.  t.  Kleist. 

die  malerische  Gegend  auf  dem  Berge  an  der  rauschenden  Mulde 
weis,  wo  er  sie  schrieb,  und  der  Ort  mir  noch  ehrwördig  ist, 
wo  er  im  Ernst,  auf  seiner  poetischen  Bilderjagd,  beym  Anblick 
dieser  Berghemischen  Natur,  eine  stille  Thräne  fallen  liess. 

....  So  rührt  mich  der  gelähmte  Kranich  [Werke  1, 
104];  ....  weil  ich  weiss,  dass  die  erste  Idee  durch  das  wirk- 
liche Unglück  eines  Leidenden  geweckt  wurde,  der  eben  vom 
Tode  errettet  war. 

Die  Hymne  auf  Gott  hörte  ich  ihn  vorlesen,  da  sie  noch 
warm  aus  seiner  Einbildungskraft  kam,  und  fibersendete  sie  zu- 
erst an  meinen  verehrungswürdigen  Freund  Weisse. 

Von  dem  einfachen,  sich  überall  gleich  ernsthaften,  milden 
und  strengen  Charakter  dieses  vortrefflichen  Mannes,  der  gleich 
unserm  verewigten  Hagedorn  mit  tiefen  Kenntnissen  des  Natur- 
und  Völkerrechts,  weise  Politik,  Menschenliebe,  Geist  und  Er- 
findungskraft verband ,  will  ich  nichts  sagen  ....  Nur  noch  ein 
Wort  von  seiner  strengen  Liebe  zur  Wahrheit,  und  seiner  scharfen 
kritischen  Einsicht  in  die  Werke  des  Geistes  .... 

Eine  der  würdigsten  Damen,  von  grosser  Geburt,  und  er- 
habenen Eigenschaften  des  Geistes,  warm  für  die  Religion,  und 
edel  in  ihren  Gesinnungen^'),  übersetzte  aus  einer  Absicht,  die 
dem  Unternehmen  einen  höhern  Werth  gab ,  das  lehrreiche  Ge- 
dicht des  jungem  Racine  von  der  Religion. ^^)  ...  die  Übersetzung 
übertraf  ihre  eigne  bescheidne  Hoffnung,  und  Sie  wagte  es,  durch 
mich,  mit  der  Bedingung,  ihren  Namen  zu  verschweigen,  den 
Major  um  sein  Urtheil  zu  bitten.  Er  las  es  mit  Sorgfalt,  und 
hier  haben  Sie  Sein  Urtheil  ....  Der  zweyte  Brief  betrifft  mich. 

Liebster  Gl[odius]. 

Wider  die  Übersetzung  der  fürtreftlichen  Dame  habe  ich 
nichts.  Was  ich  anders  möchte,  sind  Kleinigkeiten,  z.  E.  Dass 
Ketten  seinen  Stolz  so  Kraft  als  Freyheit  rauben  etc.  ist  ein 
wenig  genirt  —  den  tobenden  Verstand  zum  Zweck  legen,  soll 
heissen,  unterdrücken  etc.  Rührt  es  der  Erde  Glanz  etc.  berührt 
es  die  Erde,  so  etc.  —  Der  Gnadenquell  goss  Licht  etc.  Hier  ist 
die  gnädige  Übersetzerinn  nicht  bey  einer  Metapher  geblieben.  — 
Dein  Ton  dringt  in  der  Gottheit- Gründen,  darinn  sie  sich  ver- 
birgt etc.  soll  heissen,  in  die  Gründe,  darinn  die  Gottheit  sich 
verbirgt.  —  Der  Sinn  des  Rousseau  ^'^)  ist  zuletzt  auch  nicht  ge- 
troffen.    Denn  er  sagt:  was  wartest  du,  was  verziehst  du,   uns 


")  Etwa  die  Gräfin  Solms,  über  die  Kleist  Werke  1,  570  an  Gleim 
schreibt? 

**)  La  religion  von  Louis  de  Racine  1746,  vgl.  Haller,  Göttinger 
Gelehrte  Anzeigen  1748  8.  62  (Tagebuch  seiner  Beobachtungen  1,  41). 

'■)  Kleist  schreibt  im  ganzen  Briefe  irrthümlicb  Rousseau  statt 
Racine. 


Sauer,  Mittheilungen  über  £.  v.  Kleist.  287 

die  Geheimnisse  der  Gottheit  etc.  aufzudecken?  Und  in  der 
Übersetzung  heisst  es:  willst  du  sterben?  —  Doch  diess  letztere 
ist  gewiss  mit  Fleiss  verändert,  und  nicht  übel.  —  Aber  warum 
erinnre  ich  dergleichen  Kleinigkeiten,  da  das  Ganze  schön  ist? 
Und  ist  es  nicht  zu  dreust  und  zu  unhöflich,  so  sans  faqon  seine 
MeynuDg  zu  sagen?  Ich  habe  sonst  keine  Neigung  zur  Unhöf- 
lichkeit,  aber  wenn  sie  mit  der  Ehrlichkeit  in  CoUision  kommt? 
—  Ha!  dann  bin  ich  Soldat.  Uberdem  wäre  es  Schade,  dass 
ein  Fleckchen  in  dieser  sonst  schönen  Übersetzung  bliebe,  und 
die  Übersetzerinn  muss  eine  unvergleichliche  Dame  seyn,  die  ich 
adorire. 

Wider  den  Rousseau  habe  ich  mehr.  Er  will,  dass  das 
todte  Ding,  der  Wille,  an  unsern  Fehlem  Schuld  seyn  soll,  und 
Ideen  sind  immer  daran  Schuld.  Will  man  den  Willen  bessern, 
so  bessre  man  vorher  seine  Begriffe,  seinen  Verstand.  —  Rous- 
seau wurde  vielleicht  sagen:  Es  ist  ausgemacht,  dass  uns  Leiden- 
schaften verführen,  und  die  kommen  aus  dem  Herzen.  —  Nein, 
sie  kommen  aus  Ideen.  Die  untern  Kräfte,  die  Einbildungs- 
kraft etc.  übertäuben  die  obere,  die  Vernunft.  Aber  diess  hat 
Rousseau  gemeint,  —  so  hätte  er  es  sagen  sollen. 

Ich  wünsche  Ihnen  nochmals  eine  glückliche  Überkunft  nach 
Leipzig,  und  tausend  Glück. 

Zwickau  den  15*«°Jun.  1759. 

Kl. 

Kleists  Urtheil  über  den  Conradin  von  Glodius. 

In  Ihrem  Trauerspiel  geföllt  mir  der  Ausdruck,  und  die 
natürliche  Schreibart  sehr,  und  so  weit  ich  gelesen  habe,  find 
ich  wenige  kleine  Fehler,  was  diesen  Punkt  betrifft,  darinn. 
Allein ,  die  viele  und  lange  Moral  verdrängt  die  Action  etc.  Die 
zwey  ersten  Scenen  sind  so  lang,  wie  ein  Trauerspiel,  und  es 
wird  gewiss  das  längste  Trauerspiel,  das  jemals  ist  gemacht 
worden.  Nahe  an  zweytausend  Verse  zähle  ich  schon;  und  es 
sind  erst  drey  Acte.  Indessen  macht  diess  alles  nichts.  Sie 
werden  dem  allen  abhelfen,  und  leicht  hie  und  da  was  weg- 
werfen können.  Machen  Sie  es  nur  immer  zu  Ende;  alsdenn 
will  ich  oder  Herr  Weiss  es  ganz  durchgehen,  und  es  muss  doch 
ein  gutes  Stück  werden.  Ehe  Sie  zu  arbeiten  anfiengen ,  hätten 
Sie  sollen  einige  Meisterstücke  der  Alten,  oder  Voltairs  etc.  in 
der  Absicht  lesen,  um  etwas  ähnliches  zu  machen.  Diess  hätte 
Ihnen  viele  Mühe  und  Weitläuftigkeit  erspart.  Sie  haben  aber 
gleichsam  das  Trauerspiel  neu  erfunden.  Man  muss  immer  Lehr- 
geld geben.  Ich  predige  gut,  habe  aber  eben  so  gehandelt. 
Übrigens  sind  Sie  doch  ein  braver  Mann,  und  Sie  werden  den 
Deutschen  gewiss  einmal  ....  Wenn  ich  nicht  Ihr  Freund  wäre, 
würde  ich  Ihnen  die  Wahrheit  und  alles  diess  nicht  gesagt  haben. 

KI. 


288  Sauer,  Mittheilungen  über  £.  v.  Kleist. 

Conradin. 

....  Gonradin  . .  .  war  der  Gegenstand  meines  ersten  dra- 
matischen Versuchs  .  .  .  Mein  fünfter  Akt  war,  nach  Herr  Weissens 
lachender  Anmerkung,  ein  gottseliges  Gespräch  der  hohen  Leid- 
tragenden über  den  im  4ten  leider  zu  frQh  verschiedenen  Helden 
,  .  .  Ich  liess  Amalien,  nach  vielen  Monologen,  auf  dem  Theater 
ihre  edle  Seele  aushauchen,  ohne  daran  zu  denken,  dass  sie  ge- 
rettet werden  konnte.  — 

Schicken  Sie  doch,  sagt  Weisse,  lieber  nach  Aerzten  und 
Barbier,  um,  wo  möglich,  eine  der  edelsten  Seelen,  die  Sie 
sich  denken,  zu  retten.  —  So  Weisse,  und  in  eben  dem  Tone, 
Kleist. 

Bey  einer  der  sössen,  schmelzenden,  sanften  Ideen,  mit  der 
man  so  allgenügsam  und  selbstzufrieden  ist,  schrieb  Kleist: 

(Ridebis,  et  licet  rideas,  — )  'kostbar  —  gezwungen  —  corri- 
gatur.'  — 

Carl,  in  einer  gewissen  Entfernung,  den  Brief  aus  Rom  in 
der  Hand  —  sagt  zu  sich  selbst,  nach  einem  Monolog  vom  ersten 
Range : 

'Der  Tod  des  Conradin  ist  Carl  des  Königs  Leben, 
Das  Leben  Conradin  ist  Carl  des  Königs  Todt.' 

Kleist  schreibt  hinzu: 

'Warum  muss  Carl  den  Brief  aus  Rom  in  der  Hand  haben? 
Diess  geföllt  mir  nicht.  In  einem  Schlosse  wird  man  nicht  so 
lange  mit  einem  Briefe  in  der  Hand  spatzieren  gehen.  Sie 
haben  hier,  LTieber]  CFlodius]  das  Theater  zu  viel  im  Kopfe  ge- 
habt.'   

Auf  einmal,  da,  Carl,  wider  die  metaphysische  Möghchkeit 
eines  auch  erdichteten  Charakters,  (und  diess  war  hier  der  Fall 
nicht,)  von  Grossmuth  gegen  die  Feinde  und  erhabenen  Gesin- 
nungen pathetisch  spricht  —  schrieb  Kleist  hinzu  —  'Aber  er 
hatte  doch  dem  jungen  Prinzen  die  Krone  geraubt?'  — 

Carl  sagt: 
'Gott  rief  mich  auf  den  Thron  die  Tugend  zu  belohnen'  — 

'Er  denientirt  seinen  Charakter.  Herr  M[agister]  Cl[odius] 
spricht,  sagt  Kleist;  doch  vielleicht  bat  Gonzalvo  Sicilien  con- 
quetirt,  und  Carl  hat  nur  den  Namen  darzu  hergegeben:  wenn 
dieses  ist,  so  hätte  man  es  sagen  sollen.  —  Recht  gut  —  ge- 
zwungen —  stärker.  Es  scheint,  als  wenn  Carl  sich  vorgenom- 
men hätte,  durch  seine  Rhetorik  Gonzalvo  zur  Empfindung  zu 
bewegen.  —  Es  muss  weg.  —  Nach  so  viel  grossen  Zügen  er- 
wartet man  etwas  stärkeres.  Hierbey  könnte  ein  Schwachgläu- 
biger denken  —  Ja.'  — 

Einmai  schrieb  Kleist:  —  'Sehr  schön'  —  und  wo  schrieb 
ers?  Bey  einem  Gedanken,  der  aus  der  Rede  des  Cicero  für 
den  Marcellus  genommen  war.     Hier  ist  er. 


Sauer,  Mittheilnngen  über  £.  ▼.  Kleist.  289 

Fusciniens  grossen  Sieg  erfocht  ich  nicht  allein, 
Mein  Heer  (heilt  ihn  mit  mir;  doch  dieser  Sieg  ist  mein. 
Wie  viel  Wahrheit  und  Richtigkeit  in  der  Beurlheiiung!  .  •  . 

Damöt  und  Lesbia. 

....  Noch  einen  Zug  seiner  ausserordentlichen  Bescheiden- 
heit. —  Wer  liebt  nicht  den  röhrenden  Dialog,  Damöt  und  Lesbia 
[Werke  1,  84]?  Einer  seiner  Freunde  verglich  einmal  in  Beyseyn 
des  Majors  die  lyrische  Wendung  dieses  kleinen  Liedes  mit  seinem 
Original,  dem  Horaz,  und  Hagedorns  Selim  und  Zulima,  und  be- 
hauptete, dass  die  Anlage,  die  stufenweise  Erhöhung  der  Leiden- 
schaft, die  feinen  Zöge  der  Eifersucht,  die  Auflösung  dieser  kleinen 
Katastrophe,  und  besonders  der  vortreffliche  Schluss,  von  Hage- 
dorn näher  erreicht  wäre  als  von  ihm.  Kleist  war  dadurch  so 
wenig  beleidigt,  dass  er  vielmehr  die  Horazische  Ode  selbst,  bis 
auf  ihre  feinsten  Nöancen,  zergliederte,  und  das  Urtheil  seines 
Freundes  unterstötzte.  Die  Unterhaltung  fiel  unvermerkt  auf  Hage- 
dorns Geist  in  Nachahmung  der  Alten;  man  zog  verschiedene 
Parallelen,  und  fand  zuletzt  bey  der  Zusammenstellung  des 
Schwätzers  von  Regnier,  Hagedorn  und  Horaz,  dass  es  auch  den 
trefflichsten  Genies  schwer  werde,  die  naive  Leichtigkeit,  Einfalt, 
Körze,  und  den  glucklichen  Dialog  der  Alten  zu  erreichen.  .  .  . 

IV.   Kleine  Nachträge  und  Verbesserungen. 

Werke  1,XIII:  Nach  Schüddekopfs  Mittheilung  wurden 
am  15.  September  1729  in  die  zweite  Klasse  des  Gymna- 
siums zu  Danzig  aufgenommen:  Tranz  Casimir  de  Kleist 
und  Ewaldus  Christianus  de  Kleist.  Equ.  Pom.' 

1,  XVI  Z.  15:  vgl.  L.  Fromm,  Geschichto  der  Familie 
V.  Zepelin.    Schwerin.    1876. 

1,  LXI:  Nach  Schüddekopfs  Mittheilung  Vierteljahr- 
schrift 2,  136  ist  der  Eintrag  in  das  Stammbuch  von 
Krünitz,  das  sich  jetzt  im  Britischen  Museum  befindet, 
datirt:  'Francof:  14.  Aug.  1759'. 

1,  LXXXII:  Die  Ausgabe  JP'^  war  am  10.  April  1750 
fertig  vgl.  Anzeiger  für  deutsches  Alterthum  und  deutsche 
Litt.  10,  260. 

1,  4:  Langes  ^Kritische  Beschäftigungen'  wurden  nach- 
träglich in  Halle  und  Berlin  aufgefunden  vgl.  Deutsche 
Litteraturdenkmale  22,  XL  VI  und  t63.  Das  Gedicht  Kleists 
liegt  mir  seit  Jahren  in  Burdachs  Abschrift  Tor;  vgl.  auch 
Goedeke^  Grundriss  4,  39. 


290  Sauer,  MittheiluDgen  über  £.  y.  Kleist 

l,  89  Nr.  50:  vgl.  Waldberg,  Die  deutsche  Renaissance- 
Lyrik  S.  44.  Nr.  5t  :  vgl.  Lichtenbergs  Werke  4,  320  f.  und 
Hamburger  Musenalmanach  für  1780  S.  12t. 

1 ,  99  Nr.  63 :  Den  ersten  Druck  hat  Lier  aufgefunden 
vgl.  Archiv  für  Litteraturgeschichte  13,  409,  wo  auch  eine 
Grabschrift  auf  den  Major  von  Goetze  mitgetheilt  ist,  die 
möglicher  Weise  von  Kleist  herrührt. 

1,107:  Zu  Nr.  70  Vers  4  'Die  Erde  weinete,  der  Him- 
mel freute  sich'  verweist  Bernays  auf  den  Anfang  von 
^Franco  Sacchettis  Canzone  auf  Petrarkas  Tod  (1374):  Gran 
festa  ne  fa  il  ciel,  piange  la  terra,'  mitgetheilt  von  Lami  in 
den  Deliciae  Eruditorum,  Florentini  1743  p.  LXXXVHI 
(am  Schlüsse  des  Bandes). 

1,  108:  Hamburger  Musenalmanach  1786  S.  13  Lied 
eines  Lappländers.    Nach  dem  ^SchefFer'  von  v.  Halem. 

1,120:  Einfluss  des  Hamletmonologes  ^Sein  oder  Nicht- 
sein' auf  das  Geburtslied  wurde  schön  nachgewiesen  von 
D.  Jacoby  Sonntagsbeilage  der  Yossischen  Zeitung  5.  Mai 
1889. 

1,  130:  Zu  Nr.  86  vgl.  Bürgers  Aesthetik  2,  291. 

1,  146:  Über  die  Kleistischen  Hexameter  vgl.  Bürger, 
Strodtmann  4,  29. 

I,  154:  Eine  Übersetzung  Thomsons  von  D.  W.  Soltau 
erschien  Braunschweig  1823;  den  ersten  Druck  der  Ewal- 
dischen  Übersetzung  des  Hymnus  Frankfurt  a.  d.  O.  1754 
weist  Lier  nach  im  Archiv  f.  Litteraturgeschichte  14,  284. 

1,  163:  Ein  directes  Urtheil  aus  dem  Gottschedischen 
Kreise  über  den  ^Frühling'  weist  mir  Bernays  im  ^Neuen 
Büchersaal'  (1750)  9,  301  nach;  vgl.  auch  Muncker  im  Lit- 
teraturblatt  für  germanische  und  romanische  Philologie  1881 
Nr.  10. 

1,  184:  Die  Yerse,  welche  nach  Hamels  Klopstock- 
ausgabe  I,  LY  Klopstock  in  einem  Briefe  als  aus  Kleists 
^Frühling'  stammend  citirt:  ^Der  Liebling  wärmet  die  Hand 
im  warmen  Pelze  des  Mädchens.  Es  lacht  das  Mädchen 
und  hindert  ihn  falsch'  sind  offenbar  nur  ein  sehr  unge- 
naues Citat  von  Nr.  89  Vers  179  f. 

1,  224:  Zu  Vers  251  und  262  vgl.  Bürgers  Stilistik 
S.  205.  372. 


Saaer,  Mittheilungen  über  £.  ▼.  Kleist.  291 

2,  29  letzte  Zeile  v.  u.  lies :  'Die  Siege  Friedrich8\ 

2,  48  f. :  Die  Beilage  zu  diesem  Briefe  hat  sich  unter 
den  Briefen  Gleims  an  Uz  in  Halberstadt  erhalten:  Die 
Ode  von  Uz:  ^Wohin,  wohin  reisst  mich  die  strenge  Gluth' 
(später  'Die  Lyrische  Muse'  überschrieben)  in  Kleists  Ab- 
schrift und  mit  dessen  Bemerkung  am  Schlüsse :  'Die  letzten 
2  Strophen  wird  er  woll  verändern  müssen,  er  kann  ja 
leicht  Dianen  stat  der  Yenus  setzen,  mit  veränderten  neben 
Umständen'  vgl.  Deutsche  Litteraturdenkmale  33,  43.  Dar- 
nach ist  die  Anmerkung  3,  17  zu  verbessern. 

2,63:  Über  Garths  Armen  -  Apothek  vgl.  Mahler  der 
Sitten*  2,  415;  über  Murcky  vgl.  Lindner-Erk  S.  16. 

2,  72:  Das  Original  des  Billetes  an  Hirzel  befindet  sich 

im    L.  Meisterschen  Nachlass    auf  der  Stadtbibliothek   in 

Zürich;   aus  derselben  Sammlung  theilt  mir  Baechtold   ein 

zweites   undatirtes   Billet   an    Hirzel   mit,    das    gleichfalls 

während  dessen  Potsdamer  Aufenthalt  geschrieben  sein  muss, 

Herbst  1746  —  Ostern  1747: 

Liebster  Freund 
Meine  Landlust  ist  mir  gantz  eckelhaft  geworden.  Schicken 
Sie  mir  doch  den  Thomson  bis  Morgen,  dass  er  mich  wieder  be- 
geistere. Was  ich  Ihnen  neulich  weggenommen,  kommt  hiebey. 
Fahren  Sie  doch  fort,  der  Anfang  ist  gut.  Schlafen  Sie  wohl 
mein  geliebtester,  schlafen  Sie  sich  gesund. 

2,76 :  Nach  Nr.  38  fehlt  ein  Brief  Kleists  wie  aus  dem 

undatirten  Briefe  Gleims  an  Ramler  hervorgeht,   der   am 

18.  April  1747  (vgl.  Werke  3,  41)  geschrieben  sein  muss: 

Kleist  schreibt:  'Koramen  sie  mit  H.  Ramlern  zu  mir,  als- 
dann soll  mich  der  Frühling  vergnügt  machen.*  —  —  Bodmer 
hat  an  Hirzel  geschrieben  [Ostern  1747  vgl.  Briefe  der  Schweizer 
S.  45  f.].  Kleist  schreibt:  'Er  hat  sie  so  caracterisirt ,  wie  sie 
wahrhaftig  sind.  Er  kennt  sie  so  gut,  als  wenn  er  10  Jahre  mit 
Ihnen  umgegangen  wäre,  und  ich  wundre  mich  über  die  Einsicht 
dieses  Mannes  der  sie  bloss  aus  ihren  Schriften  so  gut  kennt,  als 
ich/  Ich  möchte  es  doch  lesen,  was  kan  er  denn  von  mir  sagen, 
als  dass  ich  ein  lustiger  ehrlicher  Kerl  sey!  — 

2,  136:  vgl.  Ramler  an  Gleim,  Anfang  Januar  1749: 

Ich  habe  ihren  Kleist  gesehen  und  ihn  auch  in  meinen  ver- 
wandelt. Herr  Sulzer  hat  ein  grosses  Verdienst  um  mich  be- 
kommen, dass  er  ihn  aus  Potsdam  entführt  hat.  Ich  bin  mit 
ihm  in  der  Gomödie,  in  der  Oper,  aber  in  allzu  weniger  Ge- 
sellschaft gewesen.     Den  Tag  seiner  Abreise  erwarteten   ihn  bey 


292  Sauer,  Mittheilungen  über  E.  ▼.  Kleist. 

Herr  Krausen  zwölfe  und  den  folgenden  Tag  bey  Herr  Germers- 
hausen etliche  wenige.  Die  Gesellschaft  bey  Herr  Krausen  war 
in  der  Thal  für  einen  Fremden  und  zwar  für  einen  heimlichen 
Gast  zu  zahlreich.  Indessen  gieng  es  bey  dieser  Anzahl  wie  ge- 
wöhnlich.   Nach  zwey  Stunden  Betrübniss,  die  mir  Kleistens 

Abschied  machte,  ward  ich  erst  ein  Theil  der  Gesellschaft. 

Wer  jetzt  auf  meine  Stube  gerälh,  der  kommt  nicht  ohne  den 
Horatz  herunter.     H.  v.  Kleist  hat  sie  auch  anhören  müssen  — . 

2,  164:  SeufFert  hat  nachgewiesen  Anzeiger  f.  deut- 
sches Alterth.  u.  deutsche  Litt.  10,  262,  dass  Nr.  88  in  den 
Januar  1750  zu  setzen  und  vor  Nr.  103  einzureihen  sei. 

2,  172:  Um  dieselbe  Zeit  (20.  Juni  1750)  schrieb  Kleist 
über  Ewald  an  Ramler,  vgl.  des  letzteren  undatirten  Brief 
von  Ende  Juni  (Archiv  f.  Litteraturgeschichte  14,  281)  an 
Gleim : 

Kleist  hat  mir  geschrieben,  dass  er  in  Potsdam  einen  Freund 
gefunden  habe,  Ewald  heisst  er,  und  soll  mir,  ich  weiss  nicht 
worinn,  sehr  gleichen.  Er  übersendet  mir  zugleich  einen  Brief 
von  diesem  Freunde,  worinn  ein  Paar  Anakreontische  Oden  stehn, 
worüber  er  sich  ein  Urtheil  ausbittet.  Dieses  liefert  mir  B[leist 
als  einen  Beytrag  zu  den  crit.  Nachrichten.  Ich  habe  aber  viel 
Mühe  mit  meiner  Antwort  gehabt,  worinn  ich  vom  Anakreon 
discuriren  muss  und  zugleich  eine  Tour  finde,  Ewalds  Oden  in 
Prosa  umzusetzen. 

2,  206 :  4ch  habe  neulich  in  langer  Zeit  nicht  vergessen 
können,  dass  ich  sie  aus  Mangel  eines  dienstfertigen  Ka- 
meraden so  bald  musste  von  mich  reisen  lassen'  vgl.  Gleim 
an  Kamler  20.  Februar  1752: 

Wären  Sie  doch  nur  noch  mit  nach  Potsdam  gereist,  Viel- 
leicht hätten  Sie  da,  einen  Tag  mit  mir  zufrieden  seyn  können. 
Aber  nur  einen  Tag,  denn  ich  bin  nur  den  Sonntag  da  geblieben ; 
mein  lieber  Kleist  muste  den  Montag  auf  die  Wache,  sonst  hätte 
ich  den  Tag  noch  zugegeben.  Wenn  ehr  werde  ich  nun  ein- 
mahl wieder  Neun  Wochen  abwesend  seyn  dürfen!  — 

2,  209  ff. :  Über  den  Zürcher  Aufenthalt  haben  Seuffert 
im  Anzeiger  10,  262  und  Baechtold  im  Feuilleton  der  Neuen 
Zürcher  Zeitung  Januar  —  März  1883  aus  Briefen  und 
Actenstücken  neues  Licht  verbreitet. 

2,  235 :  Das  Wort  'Dudenkopf  findet  sich  z.  B.  auch  in 
Pyras  'Erweis'  S.  29:  'wer  ist  ein  so  erstaunlicher  Duden- 
kopf, dass  er  nicht  mit  leichter  Mühe  den  eigentlichen  Sinn 
einsehen  solte?'   vgl.  Grimms  DWB. 


Sauer,  Mittheilungen  über  E.  v.  Kleist.  293 

2,236:    Zwischen  Nr.  141  und  142  föllt  ein  verlorener 

Brief  an  Ramler,   vgl.  dessen  Brief  an  Gleim  vom  Anfang 

December  1753: 

Ich  schicke  ihnen  hiebey  die  Lieder  die  in  den  zweyten  und 
dritten  Theil  unsrer  Sammlung  gehören  [vgl.  oben  S.  269],  und 
die  ich  bald,  bald  wieder  haben  muss.  in  Potsdam  sind  sie 
schon  gewesen,  aber  unser  liebster  Kleist,  der  noch  ein  wenig 
fauler  ist,  als  icb,  hat  allzu  wenig  dabej  erinnert.  Was  er  aber 
erinnert  hat,  ist  strenger  gewesen,  als  ich  es  vermuthet  hatte. 
Es  betraf  eines  Ihrer  Lieder,  welches  unter  lausenden  von  Ihnen, 
wie  er  schreibt,  ihm  allein  allzuwitzig  dünkte.  Es  lassen  sich  die 
todten  Fürsten  balsamiren  etc.  Ich  weil  ich  mich  schon  im  Leben 
balsamire  um  desto  länger  lebendig  zu  seyn,  darf  nicht  erst  Im 
Tode  balsamirt  werden.  Dieses,  sagt  er,  hängt  nicht  genug  zu- 
sammen und  ist  nicht  wahr  genug.  —  Ich  habe  ihm  durch  eine 
kleine  Veränderung  diese  Falschheit  zu  benehmen  gesucht.  Sehen 
sie,  ob  es  so  recht  ist.  Ferner  dünkt  ihm  die  Laura,  die  in 
einer  schönen  Wildnis  besungen  wird,  allzuwilzig.  Mich  jammert 
die  Laura,  ohngeachtct  d.  H.  v.  Kleist  wol  Recht  haben  mag. 
Vielleicht  wird  sie  dem  Componisten  zu  schwer  werden  und  also 
weg  bleiben  müssen. 

Vgl.  ferner  Qleims  Antwort  vom  20.  Januar  1754: 

Das  [Lied]  welches  H.  v.  Kleist  getadelt  hat,  ist  aus  dem 
französischem;  es  hat  mir  schon  einmahl  gefallen,  dass  seine 
Gritik  just  ein  übersetztes  betroffen  hat,  deren  doch  nur  wenige 
sind.  Ihre  Änderung  dünkt  mich,  hebt  den  Grund  der  Gritik. 
Es  thut  mir  leid,  dass  ich  für  etwas  bitten  soll,  wieder  welches 
mein  Kleist  ist,  aber  ich  kan  es  nicht  ändern,  ich  bitte  für  Laura. 

2,  260:    Zwischen   Nr.   143  und    144   fallt  ein   Besuch 

Qleims  vgL  dessen  Brief  an  Ramler  15.  März  [verschrieben 

für  Februar]   1754  aus  Brandenburg: 

Gestern  Abend  hat  der  Herr  v.  Kleist  mit  uns  im  Wirths- 
hause  gegessen.  Wir  waren  bis  um  12  Uhr  beysammen,  und 
recht  vergnügt. 

2,  271  :    ^Sie    empfangen    hiebe!  Ramlers   SchachspieF 

vgl.  Ramler  an  Gleim  11.  August  1754: 

Zwey  Tage  habe  ich  leicht  abwesend  seyn  können,  und  die 
habe  ich  bey  dem  H.  v.  Kleist  zugebracht,  zur  Antwort  auf  seinen 
letzten  Brief,  worinn  er  mir  schrieb:  meine  Freunde  werden 
ihnen  alsdann  mein  Grab  zeigen  und  sagen:  hier  liegt  der,  dem 
sie  so  nahe  wohnten,  und  den  sie  niemals  besuchten.  Geschwinde 
setze  ich  mich  den  Frey  tag  Abend  auf  die  Journal  iere  und  blieb 
zwey  gantze  Tage  und  drey  Nächte  dort,  und  fuhr  den  Mon- 
tag früh  wieder  nach  Berlin.     So  kann  ich  es  oft  machen,  aber 


294  Sauer,  Mittheilungen  iSber  £.  v.  Kleist. 

unser  Kleist  sagt:  man  muss  so  lange  bey  einander  bleiben,  bis 
man  M^ieder  etwas  kalt  geworden  ist.  Wenn  man  weiss,  dass 
man  sich  nur  zwey  Tage  geniessen  kan,  so  greift  man  sich  so 
heftig  an ,  dass  man  ermüdet  .  .  .  Das  Schachspiel  hat  der  H. 
y.  Kleist  noch  bey  sich  und  er  soll  es  ihnen  zu  ihren  Anmer- 
kungen, aber  nicht  zum  Drucke  schicken. 

2,  309:  Der  Inhalt  von  Gleims  verlorener  Antwort 
6.  Februar  1756  ergibt  sich  aus  Ewalds  Brief  an  Ramler 
10.  vom  Februar,  Archiv  f.  Litteraturgeschichte  14,  286. 

2,  310:  vgl.  Ramler  an  Oleim  2t.  Januar  1756: 

Unser  theurer  H.  v.  Kleist  ist  zum  zweitenmale  bey  mir  ge- 
wesen und  hat  die  feindlichen  Brüder  ['II  fratelli  nemici'  Oper  von 
Graun,  Text  von  Tagliazucchi]  mit  angesehn,  er  der  das  voll- 
kommene Gegentheil  eines  feindlichen  Bruders  ist. 

2,  361  f.:  Nr.  203  habe  ich  jetzt  mit  dem  Original  im 
Besitze  Alexander  Meyer  Cohns  vergleichen  können;  dar- 
nach ist  zu  lesen:  S.  362  Z.  4  gtisammen  gerafft;  Z.  16  zu- 
sammen gezogen;  Z.  17  Oerten;  Z.  19  Thiele;  an  S.  362  Z.  26 
schliesst  durch  ein  Yerweisungszeichen  S.  363  Z.  24  ff.  das 
Kleistische  Begiment  u.  s.  w.  an;  S.  363  Z.'19 Frühlinge;  7i,  20 
setzen  etc.  Z.  21—23  steht  auf  Seite  1  am  Rand.  Das- 
selbe gilt  für  Brief  208  S.  376 ;  es  ist  zu  bessern  S.  377 
Z.  9  unser;  378  Z.  2  sä  fehlt;  379  Z.  19  Über  7  Tage; 
379  Z.  2  V.  u.  dauret .  .  .  Stunde. 

2,  509:  Z.  12  ist  vor  Briefe  zu  ergänzen  [keine]  vgl. 
Anzeiger  10,  262. 

2,  538:  Ziemlich  gleichzeitig  ging  ein  Brief  mit  ähn- 
lichem Inhalt  an  Lessing  ab,  den  dieser  am  8.  December 
1758  empfieng,  vgl.  Ramler  an  Gleim  9.  December  1758. 

2,  543:  Nach  Nr.  303  ist  einzuschieben  der  Brief  an 
Gleim,  Zwickau  13.  Januar  1759,  Archiv  für  Litteraturge- 
schichte 14,  248  f. 

3,  41:  Zu  Zeile  1  vgl.  den  undatirten  Brief  von  Gleim 
an  Ramler,  der  an  demselben  Tag  geschrieben  sein  muss: 

Ich  wolte  schon  Morgen  nach  Potsdam  abreisen;  allein  man 
sagte,  der  König  kommt  morgen  her.  Ich  habe  also  in  omnem 
eventum  eine  Supplique  an  H.  v.  Kleist  geschickt,  der  sie  noch 
heute  immediate  eingeben  soll. 

3,  77  Z.  16:  H.  von  Rosee,  Ramlers  Prinzipal  1747  bis 

1748. 


Bob^,  E.  y.  Kleist  in  dänischen  Diensten.  295 

3,  143:  Zwischen  Nr.  53  und  54  fehlt  ein  Brief  Gleims, 

auf  den  Nr.  99  in  Theil  2  die  Antwort  ist,  vgl.  Gleim  an 

Ramler  9.  November  1750: 

Ich  war  eben  recht  traurig,  als  ich  diesen  Morgen  ihren 
Brief  bekam.  Ich  hatte  nemlich  in  den  Zeitungen  gelesen,  dass 
ein  U.  V.  Kleist  Krieges  Rath  in  Königsberg  geworden  sey,  und 
ich  dachte  gleich,  weil  keine  Nachricht  dabey  stand :  Das  ist  dein 
Kleist.  0  wie  solte  es  mir  so  nahe  gehen,  wenn  er  es  wäre! 
In  Königsberg  wäre  er  ja  ganz  Tod  für  mich,  so  wie  er  es  in 
Potsdam  halb  ist.  Ich  schrieb  den  Augenblick  an  meinen  lieben 
Kleist,  und  wünschte  eben  das  was  sie  wünschen,  neml.  dass 
wir  einen  Theil  unsers  Lebens  bey  einander  möchten  zubringen 
können. 

3,  247:  Nr.  98  war  dem  Briefe  Ewalds  an  v.  Brandt 
vom  19.  October  1757  beigeschlossen,  hätte  also  mit  Nr.  99 
seine  Stelle  zu  tauschen ;  vgl.  Archiv  f.  Litteraturgeschichte 
13,  465  f. 

3,  321:  An  den  Schluss  der  Briefe  rückt  jetzt  der  lang 
nach  Kleists  Tod  geschriebene  von  Ewald  aus  Neapel  8.  Ja- 
nuar 1760,  Archiv  f.  Litteraturgeschichte  14,  270  f. 

3,324:  Suphan  verrauthet  als  Schreiber  von  Nr.  132 
den  Major  Guichard,  Quintus  Jcilius,  vgl.  Deutsche  Litte- 
raturzeitung  1882  Nr.  42. 

Prag.   •  August  Sauer. 


Ewald  Yon  Kleist  in  dänisclieii  Diensten. 

Da  über  Kleists  Lebenslauf  in  Dänemark  sehr  spar- 
same Nachrichten  erhalten  sind,  so  mögen  die  folgenden 
Mittheilungen  der  Beachtung  werth  sein,  obwohl  sie  nur 
der  äusserlichen  Biographie  dienen.  Sie  sind  entnommen 
aus  den  sog.  ^Keferierten  Sachen'  der  dänischen  Kriegs- 
kanzlei, aufbewahrt  im  dänischen  Reichsarchiv. 

Kleists   Oheim,    Friedrich  Wolldemar  von  Fölckersam 

(s.  Sauers  Kleist- Ausgabe  1,XVI.  2,  370),  wendet  sich  an 

den  Konig  mit  folgendem  Gesuche: 

Ewer  Königliche  Majestät  geruhen  Allergnädigst  zu  vernehmen, 
welcher  Gestalt  meiner  Frauen  Bruder  Sohn  Ewald  Christian  von 
Kleist  beynahe  Ein  Jahr  bey  des  Capitaine  Schestedts  Compagnie 


296  Bob^,  E.  Y.  Kleist  in  dänischen  Diensten. 

des  mir  Allergnädigst  anbetrauten  Regiments  gedienet,  und  wäh- 
rend er  solcher  Zeit  sich  nicht  nur  fleissig  apphciret ,  sondern 
auch  sich  aliemahl  gut  und  wohl  verhalten ,  anjetzo  aber  das 
Malheur  hat,  dass  ihm  sein  Vater,  der  ihn  studiren  lassen  und 
sonst  viel  an  ihn  gewandt,  abgestorben.  Wann  nun  derselbe 
wegen  sothanen  Trauer-Falls  gemüssigel  ist,  nach  Hause  zu  reisen, 
um  mit  seinen  übrigen  Geschwistern  die  Erbtheilung  des  väter- 
lichen Nachlasses  vorzunehmen ,  und  doch  nicht  gerne  sonder 
Garactere  von  Officier  die  Reise  thun  mögte:  So  flehe  Ewer 
Königlichen  Majestät  ich  hiedurch  allerunterthänigst  an,  mir  die 
hohe  Gnade  wiederfahren  zu  lassen  und  dem  ermeldten  von  Kleist 
den  Garactere  als  Fähndrich  reform^  im  Regiment  Allergnädigst 
beyzulegen,  und  im  Fall  Ewer  Königliche  Majestät  mir  diese 
meine  allerunterthänigste  Bitte  in  Gnaden  •  gewähren  wollten,  dem- 
selben einen  Reise- Pass  nach  seiner  Heymath  in  Preussisch- 
Pommern,  wie  auch  nach  Dantzig,  Allergnädigst  zu  ertheilen.  Ich 
lebe  der  allerunterthänigsten  Hoffnung ,  Ewer  Königliche  Majestät 
werdet)  meiner  alten  SchwiegerMutter,  welche  durch  den  schmertz- 
lichen  Verlust  dieses  ihres  eintzigen  Sohnes  gar  sehr  gerOhret 
worden,  die  hohe  Gnade  angedeyen  lassen,  und  zu  ihrem  Trost 
und  Erquickung,  den  allerunterthänigst  gebethenen  Garactere  dem 
gedachten  ihrem  Enkel  allergnädigst  schencken.  Ffir  welche  be- 
sondere Königliche  Gnade  ich  Lebenslang  in  allerunterthänigster 
Devotion  verharren  werde 

Ewer  Königlichen  Majestät 
Gitadelle  Friderichshafen,  allerunterthänigster 

den  23"***°  Aprilis,  anno  1737.  und  treu  gehorsambster 

Knecht 
Friedrich  Wolldemar  von  Fölckersam. 

Die  Bitte  hatte  Erfolg.  Den  29.  April  erhielt  Kleist 
die  königliche  Ernennung  zum  Fähnrich  reformÄ  im  see- 
ländischen  geworbenen  Infanterieregiment. 

Unterm  30.  Januar  1738  verwendet  der  General  Fölcker- 
sam sich  wiederum  für  seinen  jungen  Schützling  und  Ver- 
wandten beim  König.  Er  empfiehlt  'den  Fähndrich  Re- 
form6  Ewald  Christian  von  Kleist,  so  ein  Mensch  von  sehr 
guten  Studiis  ist,  und  eine  Zeit  hero  dem  Regiment  in 
der  Dantziger  Werbung  schon  gute  Dienste  gethan  hat, 
zum  würcklichen  Fähndrich  bey  der  Leib-Compagnie  zu 
avanciren'.  Demgemäss  wurde  Kleist  am  10.  Februar  zum 
wirklichen  Fähnrich  befördert. 

Den  8.  Juni  1739  empfiehlt  der  Oeneral  'den  ältesten, 
bey     der    Loib  -  Oompagnift     stehenden     Fähndrich    Ewald 


Bobd,  E.  V.  Kleist  in  d&niachen  Diensten.  297 

Christian  von  Eleisten,  zum  würcklichen  Second-Lientenant 
bey  des  Capitaine  Arnoidts  Compagnie,  ....  weil  gedachter 
Kleist  den  Sommer  über  jederzeit  in  Dantzig  auf  Werbung 
lieget ,  die  Leib  -  Compagnie  aber ,  in  Abwesenheit  des 
Capitaine  -  Lieutenants  eines  Lieutenants  nicht  entbehren 
kann'.  Kleist  erhielt  diese  Charge  durch  kgl.  Patent  vom 
19.  Juni. 

Den  3.  Februar  1741  reichte  Fölckersam  ein  Gesuch 
um  Dienstentlassung  für  E.  C.  y.  Kleist  ein : 

Aller  Durchlauchtigster,  Grossmächtigster 

Erb  -  König ! 
Allergnädigster  König  und  Herr! 

Ewer  Königlichen  Majestät  habe  hiemit  in  allertiefster  Sou- 
mission  vorstellen  sollen,  wie  der  Second-Lieutenant  Ewald  Chri- 
stian von  Kleist  mir  berichtet,  dass  er  von  Ihre  Königlichen 
Majestät  in  Preussen  Befehl  erhalten,  unter  Dero  Trouppen  Dienste 
zu  nehmen,  und  er  dahero,  weilen  er  ein  Landes-Kind,  sfch  ge- 
müssiget  sehe,  um  seinen  Abschied  geziemend  anzuhalten,  mit 
Bitte,  ihm  dabey  den  Caractere  als  Premier -Lieutenant  auszu- 
würcken.  Wann  nun  Allergnädigster  König  und  Herr,  beregter 
Kleist,  so  lange  er  bey  dem  mir  Allergnädigst  anbetrauten  Re- 
giment gestanden,  sich  allemahl  wohl  aufgeführet,  und  einige 
Jahre  her  in  der  Werbung  zu  Dantzig  dem  Regiment  gute 
Dienste  gethan  hat,  anjetzo  aber,  da  ein  Vasall  und  Landsass  in 
Hinter-Pommern ,  schuldig  ist,  seines  Landes-Herrn  hohen  Befehl 
in  aller  Unterthäuigkeit  zu  gehorsamen:  So  kann  nicht  umhin, 
Ewer  Königlichen  Majestät  hiedurch  allerunterthänigst  zu  ersuchen, 
ermeldtem  Kleist  die  hohe  Gnade  angedeyen  zu  lassen,  und  ihm 
den  gebethenen  Abschied,  als  Premier-Lieutenant,  zur  Vergeltung 
seiner  allerunterthänigst  treu  geleisteten,  absonderlich  in  der  Wer- 
bung bewiesenen  guten  Dienste  allergnädigst  zu  ertheilen. 

Ewer  Königlichen  Majestät 

allerunterthänigster  undt  gehorsamster 

Knecht 
Friederich  WoUdemar  v.  Fölckersam. 

Copenhagen,  den  3*«'' Februarii  1741. 

Das  Gesuch  wurde  unterm  13.  Februar  t74t  vom  König 
bewilligt. 

Kopenhagen.  Louis  Bob 6. 


Viorteljahxvchrift  Ar  UttentoiKesohichte  m  20 


298  R--  M.  Meyer,  Lessings  Theater. 


Lesslngs  Theater. 

Die  folgenden  Erörterungen  wollen  in  der  gesammten 
dramatischen  Thätigkeit  Lessings  einen  Zug  nachweisen, 
der  in  einzelnen  Theilen  derselben  schon  oft  bemerkt  und 
besprochen  worden  ist.  Es  handelt  sich  um  die  Art,  wie 
Lessing  sich  zu  seinen  Vorgängern  stellt.  Denn  directe 
Vorgänger  hat  er  auf  theatralischem  Gebiet  allemal.  Les- 
sing ist  der  einzige  deutsche  Dramatiker  mindestens  der 
neueren  Zeit,  dessen  dichterische  Production  völlig  der- 
jenigen der  von  ihm  verehrten  antiken  Vorbilder  verglichen 
werden  kann.  Wie  die  Meister  der  athenischen  Tragödie 
legt  auch  er  auf  Erfindung  der  Fabel  nicht  das  geringste 
Gewicht:  der  gesammte  dramatische  Vorrath,  wie  er  vor 
seinen  Augen  liegt,  ist  für  ihn  —  gerade  wie  die  Welt- 
geschichte auch  —  nur  ein  Repertorium  dankbarer  Stoffe. 
Ein  litterarisches  Eigcnthumsrecht  erkennt  Lessing  nur  für 
die  Behandlung  dieser  Themata  an;  hier  hat  er  wieder- 
holt Nachahmungen  und  Plagiate  gerügt,  bei  Wieland  wie 
bei  Voltaire. 

Lessing  selbst  ist  nun  aber  äussert  bescheiden  in  der 
Ausbeutung  dieses  allgemeiner  Benutzung  verstatteten 
Schatzes.  Wesentlich  sind  es  nur  gerade  die  berühmtesten 
und  am  häufigsten  behandelten  Stücke  des  allgemeinen 
Motivvorraths,  die  er  —  wenigstens  in  ausgeführten  Stücken 
und  nicht  in  blossen  Entwürfen  —  angefasst  hat;  ich 
nenne  die  Motive  Faust,  Phädra,  Lucretia,  Regulus,  Oedipus. 
Und  in  der  Art,  wie  er  diese  in  allen  Zeiten  und  bei  allen 
Völkern  beliebten  Themata  sich  zu  eigen  gemacht  hat,  be- 
dient er  sich  ausnahmslos  ein  und  derselben  Methode:  er 
modernisirt  sie,  er  versetzt  sie  in  seine  Gegenwart. 

Beides  aber  hängt  untrennbar  zusammen.  Denn  eben 
deshalb  sind  jene  Motive  überall  behandelt  worden,  weil 
typische  Gegensätze  von  grosser  Wirkung  ihnen  zu  Grunde 
liegen,  die  in  den  Verhältnissen  der  Menschheit  selbst  be- 
gründet und  deshalb  unsterblich  sind.  So  z.  B.  der  Gegen- 
satz des  strengen  Vaters  und  des  leichtlebigen  Sjohns,  für 


B.  M.  Meyer,  Leasings  Theater.  299 

die  Komödie  ein  unerschöpflicher  Vorwurf,  aber  auch  für 
die  Tragödie  fruchtbar  in  den  Alexisdramen.  Solche  Mo- 
tive also  lassen  sich  modernisiren ,  d.  h.  der  dauernde 
Gegensatz  kann  in  zeitlich  wechselnde  Formen  eingekleidet 
werden.  Motive ,  deren  veraltete  Voraussetzungen  eine 
wahrhafte  Erneuerung  verbieten,  hat  Lessing  nie  berührt; 
so  z.  B.  die  wirksame  Fabel  des  Vaters,  der  sein  Kind 
auf  göttlichen  Befehl  opfern  soll  (Abraham,  Jephthah,  Aga- 
memnon). 

Nun  beschränkt  sich  aber  die  Erneuerung  Lessings 
keineswegs  auf  einen  Wechsel  der  Kostüme.  Er  versetzt 
die  Stoffe  in  seine  Gegenwart,  das  will  heissen,  er  zieht 
sie  mitten  hinein  in  seine  persönlichen,  augenblicklichen 
Interessen;  er  findet  in  ihnen  den  Ausdruck  für  Fragen, 
die  ihn  selbst  berühren. 

Wie  Lessing  zwischen  der  Neigung  zur  Einsamkeit 
und  dem  Bedürfniss  nach  Unterhaltung  fast  periodisch 
schwankt,  so  wechselt  bei  ihm  auch  die  Lust  an  theoreti- 
scher Untersuchung  mit  der  Freude  an  deren  praktischer 
Bethätigung  ab.  Besonders  stehen  seine  Dramen  fast 
stets  zu  seiner  wissenschaftlichen  Arbeit  in  Beziehung: 
dieser  verdanken  sie  in  der  Regel  den  Stoff,  seinem  Leben 
die  Auffassung  desselben.  Daher  eben  die  Analogie  mit 
der  Thätigkeit  der  alten  Dramatiker:  ein  uralter  Tradition 
entnommener  Stoff  wird  individuell  erneuert.  Nur  in  den 
beiden  allerbedeutendsten  seiner  Dramen  thut  Goethe  das 
Gleiche,  in  Iphigenie  und  in  Faust;  Schillers  Arbeitsweise 
aber  ist  eine  völlig  andere:  seine  wesentlich  mythologisch 
gerichtete  Denkart,  in  der  wie  in  den  Urzeiten  Dichter 
und  Denker  zu  einem  untrennbaren  Ganzen  verwuchsen 
und  deren  Kraft  eine  mythologische  Figur  von  der  Bedeu- 
tung des  Marquis  Posa  schaffen  konnte,  hat  fast  stets  für 
die  ihn  bewegenden  Gedanken  die  dramatisch  wirksame 
Verkörperung  erst  suchen  müssen.  — 

Jene  Eigenart  Lessings  zeigt  sich  schon  im  Gesammt- 
bestande  seiner  theatralischen  Gestalten.  Julian  Schmidt 
bemerkte,  dass  Lessings  Neuerung  grossentheils  auf  der 
Einführung  der  Technik  des  Lustspiels  in  die  Tragödie  be- 
ruhe;   dies  aber  wieder  besteht  hauptsächlich  darin,    dass 

20* 


300  Br.  M.  Meyer,  Leasings  Theater. 

er  die  Beschrankung  auf  eine  bestimmte  Anzahl  fester 
Rollenfacher,  die  für  die  Komödie  immer  gegolten  hat,  auf 
die  Tragödie  übertrug.  Und  zwar  nicht  bloss  die  Be- 
schränkung selbst,  sondern  wirklich  did  Rollenfacher;  so 
dass  von  seinem  Odoardo  R.  M.  Werner  mit  Recht  äussern 
durfte,  er  rücke  dem  polternden  Alten  der  Komödie  öfters 
schon  zu  nahe,  —  Ohne  Zweifel  verdankt  Lessing  diese 
Neuerung  seiner  persönlichen  Bekanntschaft  mit  den  fähren- 
den Schauspielern  seiner  Zeit.  Was  er  aber  aus  dem 
Studium  des  lebenden  Theaters  gewonnen  hatte,  erwarb  er 
sich  völlig  erst  durch  eine  Umformung  der  ganzen  Truppe 
nach  seinem  Bilde.  Seine  Hauptfiguren  sind  allemal  der 
edle  Jüngling  und  der  biedere  Greis  —  Rollen,  über  die 
das  Beste  Lessings  einsichtsvollster  Freund  gesagt  hat: 
^Am  glücklichsten  war  er  in  solchen  Charakteren,  die  an 
den  seinigen  grenzten',  schreibt  Mendelssohn  an  Karl  Les- 
sing. ^Tellheim  und  der  Tempelherr  werden  mit  den  Jahren 
Odoardos.  Just  wird  durch  Religion  zum  Klosterbruder.' 
Am  merkwürdigsten  zeigt  sich  diese  Durchdringung  alter 
Typen  mit  seinem  eigenen  Blut  in  den  kleinen  Gelegen- 
heitsdramen der  Polemik  Lessings,  wo  der  Autor  selbst 
auf  die  Bühne  springt  und  den  Gegner  heraufzerrt,  um  in 
wirkungsvoll  extemporirtem  Wortkampf  den  Pedanten  oder 
den  Intriganten  in  einem  raschen  Maskenspiel  zu  entlarven; 
da  erinnert  er  denn  sich  selbst,  den  dort  oben  ringenden 
Protagonisten  ,  an  seines  Vaters  Irascibilität ,  an  den  guten 
und  zugleich  so  hitzigen  Mann,  wie  er  die  Zähne  knirschte 
—  es  ist  Odoardo ,  es  ist  Lessings  Vater ,  es  ist  der  geal- 
terte Lessing,  der  auf  der  Stegreif  bühne  gegen  Dottore  und 
Ruffiano  kämpft.  —  Besass  er  so  für  die  Hauptträger  seiner 
Dramen  in  sich  selbst  ein  Modell,  das  grade  seiner  eigenen 
Verwandlungen  und  Schwankungen  wegen  dem  Dichter 
immer  neuen  Anhalt  bieten  konnte,  so  hat  er  für  andere 
Gestalten  nicht  versäumt,  lebende  Vertreter  der  festen 
Rollen  auszuwählen  und  abzubilden.  Schreiben  wir  über 
Lessings  dramatische  Production,  so  haben  wir  wesentlich 
also  über  zwei  Dinge  zu  handeln:  über  seine  Motive  — 
und  über  seine  Modelle.  Wie  beides  sich  bei  ihm  durch- 
dringt, sei  an  den  wichtigsten  Beispielen  gezeigt.  — 


R.  M.  Meyer,  Leasings  Theater.  301 

In  seinem  ersten  Theaterstück  hat  Lessing  seine  Ma- 
nier noch  nicht  gefunden.  'Der  junge  Gelehrte'  wird 
gewöhnlich  als  eine  That  der  Selbstbefreiung  aufgefasst, 
und  Scherer  sagt,  mit  diesem  Lustspiel  habe  Lessing  den 
Kampf  zwischen  Pedanterie  und  Weltleben  ein  für  alle- 
mal abgethan,  während  Wieland  lebenslänglich  mit  dem 
Streit  zwischen  Schwärmerei  und  Sinnenlust  zu  thun  ge- 
habt habe,  der  für  seine  Production  die  gleiche  Bedeutung 
habe.  Wieland  aber  hat  später  mit  dem  Schwärmer  völlig 
abgeschlossen ,  während  Lessing  die  polyhistorische  Art 
Dämons  nie  ganz  aufgegeben  hat,  ja  selbst  im  Alter  noch 
manches  zeigt,  was  geradezu  an  den  eigentlichen  Schulfuchs 
erinnert.  Man  denke  nur  an  die  Art,  wie  er  Italien  sah. 
Andererseits  ist  er  aber  auch  nie  ein  Pedant  gewesen,  der 
sich  an  Dissertatiönchen  läppisch  gefreut  hätte.  Des  fer- 
neren ist  es  eine  selten  trügende  Bemerkung,  dass  in 
Besserungsstücken  solcher  Art,  die  ihre  pädagogische  Ten- 
denz gegen  den  Autor  selbst  richten,  kaum  je  eine  Com- 
plementärfigur  (wie  ich  die  symmetrischen  Gegenbilder  der 
Charakterfiguren  nenne)  fehlt,  die  der  getadelten  Eigenart 
ein  nachahmenswerthes  Idealbild  gegenüberstellt,  wie  bei 
Lessing  selbst  z.  B.  der  frei  denkende  Geistliche  dem  in- 
toleranten Freigeist.  In  Damis'  glücklichem  Gegner  Yaler 
wird  man  ein  Ideal  Lessings  nicht  sehen  wollen;  er  ist 
der  typische  farblose  Liebhaber,  und  wenn  Damis  einmal 
von  Yaler  aussagt,  was  Lessing  in  dem  berühmten  Briefe 
von  1749  über  seine  eigene  Umwandlung  berichtet  hatte  ^), 
so  stellt  sich  das  nur  in  die  Beihe  zahlreicher  aus  dem 
Leben  aufgenommener  Züge,  die  auch  sonst  das  Stück 
erfüllen.  Dennoch  modernisirt  Lessing  hier  nicht  in  jenem 
grossen  Sinne,  sondern  kleinlicher  durch  Anhängen  und 
Einstopfen  actueller  Beziehungen.  Schon  Danzel  hat  be- 
merkt, dass  Damis  mit  der  Declamation  'die  Zeiten  ändern 
sich  nicht'  (S.  265)  Lessings  pedantische  Glückwunschrede 
parodirt.  Professor  Christ,  dessen  Einfluss  auf  Lessing  ja 
bekannt  ist,  hatte  die  ältere  Schrift  'ob  die  Frauenzimmer 
auch  Menschen    seien'  hervorgezogen,   und  Damis  spricht 


>)  Lachmann-Maltzahn  1,  307  vgl.  E.  Schmidt,  Leasing  1,  127. 


302  R-  M.  Meyer,  Leasings  Theater. 

(S.  306)  über  das  'Mulier  non  homo\  Die  ästfaetischen 
Streitigkeiten  werden  hineingezerrt,  wobei  wieder  Leasings 
yiel  bestaunte  und  doch  durch  Kästners  Beispiel  leicht  er- 
klärte Neutralität  sich  zeigt:  die  Helden  der  Schweizer, 
Milton  und  Haller  werden  (S.  313)  rühmlich  genannt,  aber 
der  Spott  auf  die  'neuen  Wörter'  (8.  397)  geht  von  Gott- 
scheds Antipathie  gegen  die  Neologisten  aus.  Massenhaft 
drängen  sich  theologische  und  sociale  Zeitfragen  herein: 
das  Sakrament  des  Ehestandes  (S.  275),  die  Frauenbildung 
(S.  278),  der  Eosmopolitismus  der  Gelehrten  (S.  294.  341. 
343).  Aber  die  Figuren  selbst  bleiben  noch  fast  unberührt 
die  der  alten  Komödie,  und  Leasings  Freude  an  diesen 
Typen  ruft  zu  den  handelnden  Gestalten  noch  verschiedene 
andere  gleicher  Art  wie  den  Adelsstolzen  (S.  279),  den 
Advocaten  (S.  287),  den  für  Reclame  sorgenden  ZeitungST 
Schreiber  (S.  290),  ^en  politischen  Kannegieser  (S.  310). 
Manche  dieser  Rollen  hat  Lessing  später  selbständig  ge- 
macht, manchen  dieser  Züge  später  breiter  ausgeführt. 
Und  dabei  zeigt  sich  wieder,  wie  nah  bei  ihm  (wie  bei 
Schiller)  die  satirische  und  die  tragische  AuiFassung  sich 
berühren:  was  hier  über  die  gelehrte  Frau  gespottet  wird, 
soll  später  die  Orsina  in  ganz  anderem  Sinne  wiederholen ; 
und  wenn  Damis  distinguirt,  dass  er  den  Yater  zwar  nicht 
qua  Yater  schlagen  dürfe ,  wohl  aber  qua  Mensch  (S.  295 ; 
bekanntlich  eine  Entlehnung  von  Holberg  oder  vielleicht 
auch  direct  von  Aristophanes) ,  so  setzt  nicht  lange  darauf 
Soliman  im  Giangir  (1,417)  auseinander,  der  Sohn,  der 
sich  empöre,  sei  sein  Kind  nicht  mehr: 

'Drum  wenn  der  Vater  strafft,  strafft  er  als  Vater  nicht.' 
Motive  von  allen  Seiten,  sieht  man,  Typen  in  Menge 
zusammengetrommelt  —  aber  weder  die  Auffassung  der 
alten  Elemente  noch  ihre  Verjüngung  ist  klar  und  con* 
sequent.  Denn  noch  weiss  Lessing  nicht  Modelle  zu  be* 
nutzen,  um  Einheit  in  seine  Gestalten  zu  bringen:  die 
neuen  Kleider  schlottern  um  die  alten  Gestelle.  Und  doch 
ein  Ansatz  schon  hier  dazu:  Damis  ist  nicht  schlechtweg 
Lessing,  aber  in  dem  Augenblick,  wo  er  mit  seinem  Corre- 
spondenten  in  Dialog  geräth  (S.  340)  —  da  ist  er  einmal 
Lessing.  — 


R.  M.  Meyer,  Leasings  Theater.  303 

Wir  übergehen  ^Damon\  'Die  alte  Jungfer^  und  andere 
kleinere  Stücke,  um  einen  Augenblick  bei  dem  merkwür- 
digen Vorläufer  und  Gegenstück  des  'Nathan',  den  'Juden' 
von  1749  Halt  zu  machen.  Wenn  Schiller  vom  'Nathan' 
mit  Becht  gesagt  hat,  dass  man  schwer  ein  gutes  Trauer- 
spiel daraus  machen  könnte,  aber  sehr  leicht  ein  gutes 
Lustspiel,  so  gilt  von  diesem  Stück  das  Oegentheil.  Es 
wäre,  um  ihm  eine  tragische  Spitze  zu  geben,  nur  der  Zug 
erforderlich,  dass  die  Tochter  des  Barons  von  dem  Beisen- 
den geliebt  würde,  wovon  bei  Lessing  nicht  die  Bede  ist. 
Aber  in  tieferem  Sinn  gehören  die  beiden  Stücke  zu- 
sammen nicht  bloss  wegen  der  gleichen  Tendenz,  sondern 
auch  wegen  der  identischen  Technik:  beidemal  ist  der  Jude 
der  Prüfstein  für  die  anderen,  an  dem  ihre  Toleranz  oder 
Intoleranz  sich  darthut.  Es  sind  umgekehrte  Charakter- 
stücke :  während  in  Charakterdramen  alle  Nebenfiguren  nur 
dazu  dienen,  den  Charakter  der  Hauptgestalten  zu  ex- 
poniren,  während  dort  ein  einzelner  Typus  von  lauter 
'Beagenzfiguren'  umgeben  ist,  kreisen  hier  die  Typen  (wie 
in  der  mittelalterlichen  'Satire  auf  alle  Stände')  um  eine 
einzelne  Beagenzfigur.  Um  die  beiden  Stücke  als  Cha- 
rakterkomödien zu  bezeichnen,  brauchte  man  nur  das  eine 
'die  Intoleranten',  das  andere  etwa  'die  Unweisen'  zu 
nennen,  wie  Goethe  ein  Stück  ähnlicher  Art  'die  Auf- 
geregten' genannt  hat.  —  Und  vielleicht  haben  beide  Stücke 
noch  mehr  gemein. 

Lessing  schreibt  in  den  Jahren  des  Kampfes  mit  Goeze 
an  Elise  Beimarus:  'Sobald  ich  mit  Semlern  fertig  bin  und 
auch  Lessen  geantwortet  habe,  arbeite  ich  meinen  Frommen 
Samariter,  ein  Trauerspiel  in  5  Aufzügen,  nach  der  Er- 
findung des  Herrn  Jesu  Christi,  aus.  Der  Levit  und  der 
Priester  werden  eine  gar  brillante  Bolle  darin  spielen'.^) 
Vielleicht  nun  kehrte  Lessing  mit  dieser  —  schwerlich 
ernst  gemeinten  —  Ankündigung  nur  zu  einem  schon  1 749 
ausgeführten  Plane  zurück.  Dass  er  in  jenen  Jahren  mit 
dem  Problem  des  Kampfes  zwischen  Sekten  und  Ortho- 
doxie  sich   ernstlich  beschäftigte,    zeigen  die  bedeutenden 


*)  Briefe  hg.  von  Redlich  1,  793. 


304  R«  M.  Mejer,  Leasings  Theater. 

'Gedanken  über  die  Herrenhuter'  (Werke  11,  I  26)  von 
1750.  Man  hat  bei  der  Fabel  von  den  drei  Ringen  öfters 
an  Swifts  'Märchen  von  der  Tonne'  und  die  fromme  Um- 
deutung  desselben  in  Gellerts  'Geschichte  von  dem  Hute' 
erinnert;  auf  beides  aber  bezieht  sich  Lessing  schon  in 
diesem  Erstling  seiner  Toleranzbetrachtungen:  'Ich  be- 
haupte also:  es  erging  der  Religion  wie  der  Weltweiss- 
heit',  sagt  er,  und  spielt  an  auf  Geliert:  'Es  ging  dem  Hute 
fast  wie  der  Philosophie'.  Beschäftigte  sich  so  Lessing 
schon  damals  mit  der  Frage  nach  dem  Werth  der  reli- 
giösen Minoritäten,  so  durfte  er  wohl  die  Lage  der  Sa- 
mariter unter  den  Juden  mit  der  damaligen  Stellung  der 
Juden  unter  den  Christen  parallelisiren.  Yen  Räubern 
überfallen  findet  der  Yerletzte  Schutz  und  Rettung  nur 
durch  den  Angehörigen  eines  verstossenen  und  verachteten 
Volkes.  —  Das  wäre  denn  der  erste  Fall,  wo  Lessing 
einen  alten  Stoff  dramatisch  verjüngt  hätte.  — 

Zweifelhaft  wie  hier  bleibt  es  auch  beim  'Henzi'  1753, 
ob  wirklich  die  Modemisirung  eines  alten  Problems  an  der 
Hand  eines  neuen  Ereignisses  vorliegt.  Danzel  bejaht  die 
Frage,  und  seine  Aufi^assung  wird  durch  Lessings  bekannten 
Plan,  den  'rasenden  Herkules'  am  Masaniello  zu  erneuen, 
gestützt:  auch  hier  dramatische  Ausbeutung  eines  histori- 
schen Revolutionsdramas.  Aber  E.  Schmidt  hat  doch 
schwerwiegende  Gegengründe  vorgebracht;  und  mehr  als 
eine  Parallele  des  Verhältnisses  zwischen  Henzi  und 
Ducret  zu  dem  zwischen  Brutus  und  Cassius  lässt  sich  aus 
den  Fragmenten  nicht  gewinnen.  — 

Volle  Sicherheit  gewinnt  man  auch  noch  nicht  für 
Lessings  erstes  grosses  Drama,  'Miss  Sara  Sampson' 
1755.  Mit  den  'theatralischen  Vorstellungen  der  Alten' 
beschäftigte  sich  ja  in  demselben  Jahre  das  dritte  Stück 
seiner  'Theatralischen  Bibliothek',  und  so  wäre  eine  Medea 
als  Grundlage  seines  bürgerlichen  Trauerspiels  von  vorn- 
herein wahrscheinlich  genug.  Scherer  hat  denn  auch  die 
Behauptung  erneuert,  es  sei  eine  modemisirte  Medea,  und 
hierauf  deuteten  die  eigenen  Worte  der  Marwood :  'Sieh  in 
mir  eine  neue  Medea'  —  grade  wie  am  Ende  der  'Emilia 
Galotti'    die    Heldin    ihren    Vater    an   Virginius    erinnert. 


R.  M.  Meyer,  Leasings  Theater.  305 

Gegen  diese  Auffassung  hat  zwar  schon  Danzel  vorgebracht, 
dass  für  die  Bolle  der  Medea  gerade  der  Mord  der  eigenen 
Kinder  bezeichnend  sei,  während  Marwood  den  Mord  der 
Arabella  gar  nicht  ernstlich  beabsichtigt.  Jedoch  vor  allem 
ist  Medea  die  verlassene  Ckttin,  welche  aus  beleidigter 
Liebe  oder  noch  mehr  aus  gekränkter  Ehre  rachsüchtig 
die  glückliche  Nebenbuhlerin  ermordet  Und  so  vergiftet 
Marwood  die  Sara  wie  Medea  die  Creusa.  —  Daneben  hat 
Lessing  aber  zur  Bekleidung  der  alten  Fabel  noch  Lillo's 
Drama  'Der  Kaufmann  von  London'  und  Bichardsons  Bo- 
man  ^Clarissa  Harlove'  benutzt  und  beide  sogar  für  die 
Namen  ausgebeutet.  Es  ist  zu  bemerken ,  dass  Lillo's 
Stück  eine  alte  Yolksballade  dramatisirt  und  also  eine  ge- 
wisse poetische  Durcharbeitung  des  Stoffes  schon  voraus- 
setzt. —  Somit  ist  für  'Miss  Sara  Sampson'  die  Benutzung 
wenigstens  alter  Motive,  die  schon  durch  mehrere  Hände 
gegangen  waren,  zweifellos,  wenn  auch  nicht  völlig  die 
einer  antiken  Fabel.  Was  aber  Lessings  specifische  Art 
der  Erneuerung  angeht,  so  macht  er  wahrscheinlich  hier 
den  ersten  Schritt  in  jener  Bichtung,  durch  Einführung 
moderner  Modelle  zu  verjüngen.  Wenn  nämlich  wirklich 
dem  Schwanken  Meilefonts  zwischen  Marwood  und  Sara 
die  unsichere  Stellung  Jonathan  Swifts  inmitten  zweier 
Geliebten  zum  Vorbild  gedient  hat  (wie  bekanntlich  zu- 
erst Caro,  Lessing  und  Swift,  Jena,  1869  behauptete),  so 
könnten  wir  zum  ersten  Mal  ein  solches  modernes  Modell 
nachweisen.  Doch  würde  es  der  Oharakterzeichnung  nur 
insofern  gedient  haben,  als  es  für  einen  neuen  Typus  die 
bestimmende  Grundidee  geliefert  hätte  —  eben  für  den 
Typus,  den  Goethe  in  Weislingen,  Ferdinand,  mit  Modifi- 
cation  auch  in  Olavigo  ausgebildet  hat  und  der  dann  in 
Grillparzers  Theater  zum  eisernen  Bestand  gehört.  Im 
einzelnen  hat  Meilefont  von  Swift  gewiss  so  wenig  wie 
möglich  —  und  doch  hätte  dessen  Charakter  so  leicht  und 
gut  von  Lessing  nachgezeichnet  werden  können,  der  ihm 
in  so  vielem  verwandt  war,  in  theologischem  und  litterari- 
schem Interesse,  im  Trotz  der  Isolirung,  zuletzt  fast  in  der 
Menschenverachtung!  Höchstens  ein  Zug  Mellefonts,  der 
freilich  fast  allein   für  ihn  charakteristisch  ist,    kann   von 


306  ^-  ^*  Meyer,  Leasings  Theater. 

Swift  stammen:  es  ist  die  beinahe  pathologisch  wirkende 
Ehescheu,  deren  eigentlicher  Dramatiker  dann  späterhin 
Immermann  geworden  ist,  in  'Gardenie  und  Gelinde'  der 
weiblichen,  in  Tetrarca'  der  männlichen.  —  Lessing  hat 
mit  der  ^Miss  Sara'  nach  den  verschiedensten  Richtungen 
hin  eifrige  Nachahmer  und  Nachbeter  gefunden,  selbst  für 
die  kleinsten  Einzelheiten'),  und  die  grosse  Hauptscene, 
Marwood  und  Sara,  hat  Schiller,  Lessings  grösster  Schüler, 
zweimal  nachgebildet,  in  der  Begegnung  zwischen  Lady 
Milford  und  Luise,  und  im  Streit  der  Königinnen  in  ^Maria 
Stuart^  für  Lessing  selbst  aber  bedeutete  das  Stück  nur 
eine  rasch  zurückgelegte  Etappe  seiner  dramatischen  Ent- 
Wickelung.  — 

Das  Jahr  1759  ist  reich  an  dramatischen  Entwürfen 
Lessings,  unter  denen  mehrere  berühmte  Themata  erneuern, 
vor  allem  der  'Faust'  und  der  'Philo tas'.  An  dem  letz- 
teren lässt  sich  recht  deutlich  die  Geschichte  eines  Motivs 
studiren.  Dreimal  hat  eine  Lieblingsfigur  Lessings ,  der 
waffenlose  Offizier,  in  seinen  Dramen  Verwirklichung  ge- 
funden: im  'Philo tas'  beherrscht  er  allein  das  Stück,  in 
der  'Minna  von  Barnhelm'  ist  er  immer  noch  die  Haupt- 
figur, im  'Nathan'  ist  er  eine  noch  immer  bedeutende 
Nebenfigur  geworden.  Dass  Teilheim  und  der  Tempelherr 
mit  einander  und  mit  Lessing  verwandt  sind,  sprachen  wir 
schon  mit  Mendelssohns  Worten  aus;  aber  auch  Philotas 
ist  aus  derselben  Sippe.  Diese  interessante  Situation  des 
kampfgewöhnten  und  kämpf  bedürftigen  Mannes,  den  äus- 
sere Umstände  aus  seinem  Element  geworfen  haben,  ha>t 
Lessing  an  Gh.  E.  von  Kleist  studiren  können,  eh  dieser 
in  dem  ersehnten  Felddienst  den  Tod  fürs  Vaterland  fand, 
den  Philotas  verfehlt;  er  sollte  das  Tragische  dieser  Situa- 
tion noch  inniger  empfinden  lernen,  als  ihm  der  weitere 
Kampf  gegen  die  Theologen  verboten  ward.  Das  Motiv 
aber  ist  uralt:  es  hat  seine  klassische  Gestalt  in  der  Volks- 
sage Roms  von  Regulus  gefunden  und  die  höchste  Blüthe 
auf  dem  spanischen  Theater  in  Galderons  'Standhaftem 
Prinzen'.     Die  Waffenlosigkeit  des  Soldaten   wird  dadurch 


*)  Vgl.  Sauer,  Quellen  und  Forschungen  30,  80  f. 


R.  M.  Meyer,  Lessings  Theater.  307 

verschlimmert)  dass  er  zugleich  als  Geissei  in  den  Händen 
der  Feinde  ist,  dass  er  so  selbst  als  Waffe  gegen  sein 
Volk  gebraucht  wird ;  dies  unterscheidet  den  Stoff  des  Be- 
gulus  von  dem  des  Philoktet,  welch  letzterer  gleichsam 
der  ins  Heroische  übersetzte  gefesselte  Prometheus  ist. 
Und  wieder  hat  Lessing  ein  Thema  ergriffen,  das  leicht 
auch  komisch  zu  gestalten  war:  in  Eomödienform  bildet  es 
dasjenige  Stück,  welches  Lessing  für  das  beste  erklärt, 
das  je  eine  Bühne  beschritten:  die  ^Captivi^  des  Plautus. 
—  Hier  also  finden  wir  sicher  alte  Motive,  vielleicht  mo- 
derne Modelle;  aber  die  ideale  Ferne  bleibt  gewahrt,  wie 
bei  all  den  zahlreichen  Entwürfen  dieses  Jahres.  — 

Das  Jahr  1760  führte  Lessing  durch  sein  ^Leben  des 
Sophokles'  von  neuem  zu  jener  für  seine  theoretische  und 
praktische  Dramaturgie  so  bedeutsamen  Gestalt  des  ver- 
lassenen Dulders  Philoktet.  Und  bald  reift  unter  dem 
Einfluss  seiner  Breslauer  Umgebung  in  ihm  sein  Drama 
vom  ^Soldatenglück',  in  dem  der  entwaffnete  Offizier 
abermals  in  der  Mitte  steht,  nun  aber  völlig  erneut  und 
mit  Lessings  eigenem  Blute  belebt.  Teilheim  ist  unzweifel« 
haft  die  Hauptfigur,  nicht  Minna;  und  die  Wiedererobe- 
rung des  grollenden  'Krüppels'  für  die  menschliche  Gesell- 
schaft ist  die  Aufgabe,  zu  deren  Lösung  erst  mit  nur 
scheinbarem  Erfolge  die  List,  dann  zu  dauerndem  Siege 
die  Aufrichtigkeit  angewandt  werden.  Dass  die  körper- 
liche Wunde,  welche  den  Philoktet  isolirt,  in  eine  geistige 
Verletzung  umgewandelt  werden  musste ,  ist  erklärlich ; 
wenn  Teilheim  sich  zweimal  mit  sichtlich  gewollter  Wieder- 
holung *an  der  Ehre  gekränkt ,  ein  Krüppel ,  ein  Bettler' 
nennt,  so  zeigt  diese  Folge,  wie  viel  mehr  Bedeutung  er 
der  Kränkung  beilegt  als  der  Lähmung  und  gar  der  Ver- 
armung. Der  steife  Arm  wird  denn  auch  nur  nebenbei  er- 
wähnt, als  Just  sich  deswegen  unentbehrlich  nennt.  Aber 
die  Kränkung  ist  die  Wunde,  die  den  Major  in  die  Ein- 
samkeit getrieben  hat,  die  ihm  auch  dort  noch  diejenigen 
verdächtigt ,  welche  ihn  der  Gesellschaft ,  dem  Leben 
wiedererobern  wollen.  Was  der  Überredung  und  der  List 
nicht  gelang,  gelänge  kaum  der  Liebe,  käme  nicht  wie  im 
Thiloktet'  schliesslich  der  deus  ex  machina  —  Friedrichs 


308  R*  M.  Meyer,  Lessings  Theater. 

Brief;  wie  in  Moliöres  ^Tartuffe''  ersetzt  königliche  Gerech- 
tigkeit das  Eingreifen  der  Götter. 

Wie  ganz  ist  aber  die  alte  Fabel  in  neue  Form  ge- 
kommen! Modernes  Empfinden  durchdringt  jede  Figur  — 
es  ist  das  älteste  uns  noch  lebende  Drama  der  deutschen 
Litteratur.  Es  sind  Deutsche,  die  vor  uns  stehen,  Deut- 
sche des  achtzehnten  Jahrhunderts  in  ihren  Yorzügen  wie 
in  ihren  Schwächen.  Wenn  in  dem  klassischen  Drama  der 
Franzosen,  welches  Lessing  bekämpfte,  antik  gekleidete 
Figuren  moderne  französische  Empfindungen  aussprachen, 
so  hat  er  diesen  Zwiespalt  überwunden,  indem  er  den 
Geist  der  neuen  Zeit  sich  auch  einen  entsprechenden 
Körper  bauen  liess.  Nicht  dass  die  französische  Tragödie 
zu  sehr  modernisirt,  tadelt  er,  sondern  dass  sie  es  zu 
wenig  thut,  und  nicht  consequent  wie  er  selbst.  Das  also 
ist  das  Wesentliche,  und  nicht  einzelne  actuelle  Züge,  die 
benutzt  sind,  wie  jene  von  E.  Schmidt  glücklich  auf  die 
Ausfragerei  des  Wirths  bezogene  preussische  Polizeiver- 
ordnung,  oder  irgend  ein  Vorgang  in  der  ^Goldenen  Gtans* 
zu  Breslau,  der  nach  dem  Bericht  von  Garve's  Mutter  zu 
Grunde  liegt.  Lessings  Mittel  aber,  diese  Modernisirung 
durchzufahren ,  ist  wieder  das  lebendige  Modell.  Ein 
preussischer  Offizier  Marschall  von  Biberstein  soll  für  den 
Tellheim  das  erste  Vorbild  gewesen  sein  und  ihm  auch 
durch  seinen  Beinamen  ^der  Teil'  zum  Namen  verholfen 
haben;  Paul  Werner  hat  es  in  der  preussischen  Armee 
bis  zum  General  gebracht,  und  an  Riccauts  kann  es  nicht 
gefehlt  haben.  Dieser ,  nebenbei  bemerkt ,  ist  aber  so 
wenig  wie  die  anderen  einfach  aus  der  Wirklichkeit  auf 
die  Bühne  verpflanzt:  er  ist  ein  Abkömmling  des  Kapitäns 
von  Schlag  in  der  ^ Alten  Jungfer',  der  gerade  thut,  was 
Tellheim  gethan  zu  haben  scheinen  könnte,  folgte  er  so- 
gleich der  Werbung  Minna*s:  der  seine  Schulden  durch 
eine  reiche  Heirat,  zu  der  er  aufgefordert  wird,  deckt. 
Der  Kapitän  ist  das  dramatische  Gegenbild  des  Majors :  er 
ist  der  verabschiedete  Offizier,  der  es  nicht  verschmäht, 
nach  Möglichkeit  sein  Glück  zu  machen.  So  wirken  selbst 
in  dieser  scheinbar  episodischen  Figur  theatralische  Ge- 
wöhnung,  theatralisches    Bedürfniss  und   Zeichnung   nach 


R.  M.  Meyer,  Lesäings  Theater.  309 

dem  Leben  zusammen;  und  ein  schalkhafter  Zug  thut  das 
Letzte:  für  Lessing  muss  Biccaut  das  Hazardspiel  ver- 
theidigen. 

Wie  vollkommen  aber  Lessing  damals  schon   die  dra- 
matische Form  beherrschte,    beweist  das  Gelingen  zweier 
hier   gewagter   Experimente.     Für   Franziska  hat  Lessing 
einen  Wink  Oellerts  ausgeführt,  der  in  seiner  von  unserm 
Autor  wieder  abgedruckten  Abhandlung  Tro  comoedia  com- 
movente'  die  zierlichen  und  witzigen  Kammermädchen   der 
üblichen   Komödie   mit   Recht  tadelt.     ^Allein    wenn    man 
voraussetzt^   fährt  er  fort,  ^dieses  Mädchen  sei,   von  ihren 
ersten  Jahren  an,   in  ein  vornehmes  Haus  gekommen,    wo 
sie  Gelegenheit  gefunden  habe,  ihre  Sitten  und  ihren  Geist 
zu  bessern:    so  wird  alsdann  die  zuerst  unwahrscheinliche 
Person  wahrscheinlich^  (Lachmann-Maltzahn  4,  152).    Diese 
Andeutung  hat  Lessing   in  der  ausgezeichneten  Fremden- 
buchscene  wirklich  ausgeführt.    —    In  derselben  Richtung, 
in  der  Tendenz  auf  ein  ernstes  Lustspiel,   bewegt  sich  ein 
tiefer  gehender  Yersuch.    Lessing  hat  in  der  Tragödie  von 
den  beiden  ^Leidenschaften\    die  Aristoteles  nennt,  jeder- 
zeit  mehr   das  Mitleid   betont;   und    mittelst   eben    dieser 
^Leidenschaft'    sucht    er    das    Trauerspiel    in     die    ernste 
Sphäre  zu  erheben.    Am  deutlichsten  spricht  das  Tellheim 
selbst   aus:    'Ärgemiss  und  verbissene  Wuth  hatten  meine 
ganze  Seele  umnebelt,   die  Liebe  selbst,   in  dem  vollsten 
Gange  des  Stückes,   konnte  sich  darin  nicht  Tag  schaffen. 
Aber  sie  sendet  ihre  Tochter,    das  Mitleid,   die,   mit  dem 
finstern  Schmerze  vertrauter,  die  Nebel  zerstreuet  und  alle 
Zugänge    meiner    Seele   den   Eindrücken    der   Zärtlichkeit 
wiederum  eröffnet'  (1,  624).     So    macht  also  Lessing   eine 
Triebfeder  der  Tragödie  zum  treibenden  Motiv  seines  Lust- 
spiels statt  der  in  dieser  Sphäre  sonst  herrschenden  Liebe. 
Es  entspricht   das  völlig  jener  schon  citirten  allgemeinen 
Beobachtung  Julian  Schmidts.  — 

Recapituliren  wir  die  Entstehung  der  'Minna'.  Mir 
liegt  daran,  zu  zeigen,  dass  sie  nicht  (wie  die  übliche  An- 
sicht ist)  plötzlich  aus  den  Einwirkungen  des  siebenjährigen 
Krieges  und  der  militärischen  Umgebung  auf  den  Dichter 
entstand ,  sondern  dass  auch   sie  wie  alle  poetischen  Pro- 


310  R.  M.  Meyer,  Leasings  Theater. 

ductionen  Leseings  mit  seinen  wissenschaftlichen  Arbeiten 
zusammenhing.  Zarte  Fäden  spinnen  sich  herüber  vom 
'Leben  des  Sophokles'  wie  zum  'Laokoon'  so  zur  'Minna'. 
Es  ist  die  Gestalt  des  Philoktet,  die  Lessing  in  Anspruch 
nimmt.  Eine  einzelne  Gestalt  —  nicht  wie  bei  der  Vir- 
ginien-Fabel  in  der  'Emilia'  und  vielleicht  bei  der  Medea- 
Fabel  in  der  'Sara'  das  Problem,  die  grosse  Scene.  Auch 
nimmt  daher  Lessing  nicht  wie  in  jenen  Fällen  völlig 
systematisch  eine  Erneuerung  vor.  Sondern  jene  Gestalt 
beschäftigt  ihn,  die  Figur  des  durch  Unglück  vereinsamten, 
durch  Unglück  und  Vereinsamung  verbitterten  braven 
Mannes,  der  der  Gesellschaft  wiedergewonnen  werden  soll. 
Das  Zurücktreten  der  körperlichen  Verwundung  neben  der 
seelischen  lag  so  nahe,  dass  selbst  jener  betrübte  Ghateau- 
brun,  dessen  französirten  'Philoktet'  Lessing  im  'Laokoon' 
verspottet,  statt  der  Wunde  ihre  psychologische  Folge,  die 
Verbitterung  des  Helden',  zum  Grund  seiner  Vereinsamung 
gemacht  hat.  So  rückt  von  selbst  jene  Gestalt  dem  ge- 
wohnten. Lessing  so  sympathischen  Typus  des  empfind- 
lichen ehrgeizigen  Mannes  näher;  in  Anlehnung  an  die 
antike  Fabel,  die  den  Philoktet  mit  dem  Raub  der  Waffen 
wenigstens  bedroht,  bringt  er  ihn  in  seine  Lieblingssituation, 
die  des  waffenlosen  Offiziers.  Nun  übertragen  sich  fast 
unwillkürlich  auf  diese  Gestalt  Züge  seines  liebsten  Freun- 
des; hatte  er  doch  Kleist  in  ähnlicher  Lage  lange  be- 
dauert, wie  er  krank,  dann  als  Hüter  des  Lazareths  un- 
geduldig in  den  Kampf  zu  ziehen  begehrte.  Und  schon 
zur  Zeit  der  Litteraturbriefe  war  ihm  Kleist  der  typische 
Vertreter  des  edelen  Offiziers  geworden.  Von  Kleist  noch 
mehr  als  von  Lessing  selbst  stammt  das  idyllische  Ver- 
langen nach  Frieden;  und  eine  gewisse  Ironie  liegt  ja  frei- 
lich darin,  wenn  der  weltscheue  Mann  vor  der  Welt  doch 
etwas  zu  viel  Ruhe  hat.  —  Alles  gruppirt  sich  nun  um 
diese  Gestalt;  den  Nathan  ausgenommen  hat  Lessing  keine 
Figur  mit  solcher  Liebe  geschaffen  wie  diese:  in  ihnen 
liebte  er  Kleist  und  Mendelssohn.  —  Allerlei  Zeitereignisse 
werden  Fermente  der  Neuschöpfung.  Das  Ganze  aber 
durchdringt  Lessings  freie  und  milde  Stimmung,  die  in  der 
Behandlung  gleichsam  Tragödie  und  Komödie  wie  Sachsen 


R.  M.  Meyer,  Lessings  Theater.  311 

und  Preussen  aussöhnt.  Familienbande  schlingen  sich  aus 
einem  Lager  ins  andere  wie  im  'Nathan'  (oder  wie  am 
Schluss  der  mittelhochdeutschen  'Kutrun') ;  Technik  des 
Lustspiels  und  Motive  des  Trauerspiels  arbeiten  Hand  in 
Hand  und  das  Stück  gipfelt  in  jenem  von  E.  Schmidt 
schön  gewürdigten  Lobe  König  Friedrichs,  des  grossen  und 
guten  Mannes.  — 

1772  erschien  Lessings  grösstes  Trauerspiel:  'Emilia 
Galotti'. 

Wenn  man  den  Zusammenhang  zwischen  Lessings 
theoretischer  und  dichterischer  Thätigkeit  bei  der  'Minna' 
vielleicht  unterschätzt  hat,  so  hat  man  ihn  bei  der  'EmiHa' 
wohl  übertrieben.  Man  hat  dies  Drama  geradezu  'eine 
Probe  auf  das  Exempel'  genannt,  nämlich  als  Ausführung 
der  Regeln,  welche  die  'Hamburgische  Dramaturgie'  predigt. 
Es  sollte  die  Lösung  jener  Wette  sein,  die  Lessing  dem 
grossen  Corneille  geboten  hatte:  kraft  seines  Glaubens  an 
Aristoteles,  kraft  seiner  Methode  jede  Tragödie  besser  zu 
machen  als  er.  Aber  dann  hätte  der  deutsche  Dichter 
doch  einen  Stoff  aussuchen  müssen,  den  auch  der  französi- 
sche behandelt  hätte,  gerade  weil  nach  seiner  Ansicht  nicht 
der  Stoff,  sondern  nur  seine  Yerarbeitung  dem  Autor  eigen- 
thümlich  ist. 

Vielmehr  interessirte  dieser  Stoff  Lessing  ja  seit  langer 
Zeit.  1754  hatte  er  in  der  'Theatralischen  Bibliothek'  die 
französirende  'Virginia'  eines  Spaniers  analysirt,  1 757  selbst 
eine  'Virginia'  in  Angriff  genommen^),  die  Januar  1758  sich 
in  das  bürgerliche  Trauerspiel  'Emilia'  verwandelte.  Er- 
zählt er  doch  anschaulich  genug  von  der  Arbeitsweise 
seines  'jungen  Tragicus'. 

Aber  dann  ruht  die  Arbeit  lange.  Ebert,  dessen  Ver- 
dienste um  Lessing  noch  nicht  genügend  anerkannt  sind, 
um  die  Vollendung  von  Lessing  Plänen  besorgt  wie 
Schiller  für  die  Goethes,  mahnt  fortwährend.  Nun  kam 
sie  endlich  zu  Stande,  um  den  13.  März  1772  zum  Ge- 
burtstag der  Herzogin  aufgeführt  zu  werden. 


*)  Vgl.  jetzt  Boethe,  Vierteljahrachrift  2,  516  ff. 


312  R.  M.  Meyer,  Lessing^  Theater. 

Das  Motiv  ist  eins  der  ältesten  und  wichtigsten  der 
Weltlitteratur.  Es  lässt  sich  kurz  so  fassen:  ein  Vater 
wird  gezwungen,  seine  Tochter  zu  tödten.  Denn  dies  ist 
der  eigentliche  tragische  Yorwurf,  dass  der  Vater  zum 
Mord  gezwungen  wird,  und  nicht  (wie  bei  der  ^Lucretia'), 
dass  die  Tochter  stirbt;  Odoardo  ist  so  gut  wie  Teilheim 
die  Hauptfigur  und  nicht  die  Namensheldinnen  beider 
Stücke.  Und  zwar  ist  das  Specifische  dieses  Vorwurfs, 
dass  der  Vater  die  Tochter  um  ihre  Ehre  zu  retten  tödten 
muss ;  dies  scheidet  unser  Thema  von  dem  schon  oben  be- 
rührten des  Jephthah  oder  Agamemnon,  der  sie  um  seinet- 
willen opfern  soll.  —  Das  Virginia-Motiv  setzt  also  voraus, 
dass  die  Tochter  in  ihrer  Unschuld  von  einem  Versucher 
bedroht  wird,  dem  überlegene  Mittel  zu  Gebot  stehen; 
denn  sonst  müsste  der  Vater  zu  ihrer  Rettung  andere 
Wege  statt  dieses  verzweifelten  Auswegs  einschlagen 
können.  Es  ist  also  gegeben ,  dass  ein  Mächtiger  die 
Schutzlose  bedroht.  —  Die  komische  Kehrseite  des  Motivs 
bietet  die  Amphitryon  -  Fabel.  Heinrich  v.  Kleist  hat  die 
Jungfrau  (oder  Gattin),  die  ein  Übermächtiger  in  ihrer 
Ehre  bedroht,  sowohl  tragisch  (in  einer  Episode  der  ^Her- 
mannsschlacht') als  komisch  (im  ^Amphitryon')  behandelt. 
—  In  epischer  Form  hat  Thümmel  in  der  'Wilhelmine' 
den  gleichen  Stoff  lustig  angefasst  und  auch  dem  ver- 
zweifelten Vater  der  Tragödie  die  frohlockende  Mutter 
gegenübergestellt.  Angedeutet  ist  aber  deren  Stellung 
schon  im  Trauerspiel:  meint  doch  Marinelli,  jede  Mutter 
fühle  sich  geschmeichelt  durch  den  Gedanken  eines  Prinzen 
Schwiegermutter  zu  werden.  Auch  darin  ahmt  Schiller  in 
'Kabale  und  Liebe'  die  'Emilia'  nach. 

Aber  wenn  Lessing  in  den  Eltern  der  Emilia  die  Füh- 
lung mit  den  komischen  Alten  des  Lustspiels  im  Trauer- 
spiel zu  wahren  wagte,  hat  er  durch  ein  anderes  Vorgehen 
die  Virginia-Fabel  noch  weiter  aus  den  gewohnten  patheti- 
schen Pfaden  gelenkt.  Mit  der  Ermordung  der  Tochter 
kann  das  Stück  ja  schliessen.  Aber  alte  Tradition  ver- 
bindet damit  die  Staatsumwälzung,  welche  den  Tyrannen 
bestraft.  Das  Verlangen  nach  der  'poetischen  Gerechtig- 
keit' hat  diese  Verbindung  festgehalten;   deshalb  verletzte 


R.  M.  Meyer,  Leasings  Theater.  313 

auch  die  Straflosigkeit  des  Prinzen  seine  Zeitgenossen  und 
regte  sie  zu  antityrannischen  Declamationen  auf,  während 
in  unsern  Tagen  Yictor  Hugo  mit  seinem  unerträglichen 
^Le  roi  s'amuse'  gerade  durch  die  schneidende  Yerhöhnung 
dieses  Verlangens  wirken  wollte.  —  Den  ursprünglichen 
Anlass  zu  solcher  Verbindung,  die  aus  dem  Opfer  der 
Wollust  ein  Opfer  der  Tyrannei  macht,  gab  wohl  die 
historische  Wahrheit.  Wie  die  sicilianische  Vesper  und 
der  Volksaufstand  des  Wat  Tyler  durch  derartige  AngriiTe 
der  Höhergestellten  auf  die  sittliche  Ehre  von  Jungfrauen 
aus  dem  Volk  hervorgerufen  sein  sollen,  so  mag  auch  der 
Tod  der  Lucretia  und  der  der  Virginia  (freilich  zeigen 
beide  eine  verdächtige  Ähnlichkeit!)  wirklich  zur  Befrei- 
ung der  Stadt  geführt  haben.  So  hat  auch  Kleist  dies  er- 
regende Motiv  verwerthet.  Aber  Lessing  verfolgt  auch 
hier  den  Plan  der  strengsten  Vereinfachung.  Jene  Be- 
schränkung auf  das  If othwendigste ,  die  seine  TheiM-ie  der 
Fabel  beherrscht,  jene  Anschauung  die  man  als  ^ästheti- 
schen Utilitarismus'  bezeichnen  könnte,  lässt  ihn  auch  hier 
den  Stoff  auf  seine  kürzeste  Forroulirung  zurückführen. 
Er  beschränkt  sich  völlig  auf  das  Grundmotiv:  der  Vater 
wird  zur  Ermordung  der  Tochter  gezwungen.  ^Was  hat 
die  gekränkte  Tugend  mit  der  Bache  des  Lasters  zu  thun  ?' 
fragt  Odoardo  ausdrücklich  (2,  170). 

Dadurch  wird  nun  freilich  die  Tragödie,  wenn  sie  auch 
eine  politische  zu  sein  aufhört,  noch  keine  bürgerliche.  So 
wenig  wie  'Eabale  und  Liebe^  wie  ^Othello',  welche  man 
auch  ^bürgerliche  Tragödien^  genannt  hat,  ist  'Emilia  Ga- 
lotti^  dies  im  vollen  Sinn.  Denn  der  Hof  spielt  nicht  etwa 
bloss  äusserlich  herein,  sondern  alle  die  Voraussetzungen, 
welche  das  bürgerliche  Drama  zurückweist,  werden  hier 
unabweislich  gefordert ;  auf  der  Übermacht  der  social 
Höhergestellten  beruht  eben  die  Katastrophe.  Aber  6in 
Charakter  wird  aus  der  Sphäre  der  alten  Virginia^  Tragödie 
gerückt:  der  Träger  der  Handlung  hört  auf,  Leiter  der 
Staatsumwälzung  zu  sein.  Also:  die  Umwandlung  der 
'Virginia'  in  die  'Emilia'  beruht  ganz  und  gar  auf  der  Um- 
wandlung des  Vaters. 

Der  Virginius  der  alten  Fabel   ist  eine  Wiederholung 

Vierte^ahnchrift  fOr  Litteratoigeflchichte  m  21 


314  B.  M.  Meyer,  Lessinga  Theater. 

jenes  Typus  des  strengen  und  sittenreinen  römischen  Re- 
publicaners,  des  Fabricius,  Regulus,  Brutus,  Cato,  der  dem 
Gesetz  und  der  Pflicht  jedes  Opfer  unbedenklich  bringt  — 
jenes  Typus,  den  Kleists  Trinz  von  Homburg'  so  schön 
mit  einem  modernen  Ideal  des  Staatsmanns  und  Vaters 
contrastirt.  Odoardo  dagegen  ist  bei  all  seiner  rauhen 
Tugend  nicht  frei  von  jener  moralischen  Unsicherheit,  die 
die  ganze  Zeit  charakterisirt.  So  misstraut  auch  Tellheim 
seinem  Charakter  —  wie  Emilia  —  und  seinem  Verstände 
—  wie  Odoardo  —  (1,  559.  615).  Der  Alte  weiss  —  wie 
Lessing  und  wie  sein  Vater  —  dass  er  heftig  ist,  und  das 
beirrt  ihn.  Er  will  den  Prinzen  erdolchen  —  da  tritt 
dieser  auf  ihn  zu  und  sagt  freundlich:  ^Fassen  Sie  sich, 
lieber  Galotti.'  Und  er  steckt  den  Dolch  wieder  ein.  Ge- 
wiss ist  dies  psychologisch  fein  beobachtet.  Solche  Mah- 
nungen haben  den  Odoardo  oft  von  Unbesonnenheiten  ab- 
gehalten ,  und  dies  Wort  wirkt  deshalb  auch  diesmal. 
Aber  wäre  es  hier  nicht  männlicher,  unbesonnen  zu  sein? 
Hier  zeigt  es  sich,  wie  sehr  das  Modell  wirkt.  Dieser 
Virginius  lebt  wirklich  im  achtzehnten  Jahrhundert;  es  ist 
ein  Zeitgenosse  seines  Autors. 

Diese  Unsicherheit  zusammen  mit  der  der  Claudia,  die 
ich  schon  andeutete,  überliefern  Emilien  ihrem  Verhäng- 
niss.  Für  diese  braucht  man  schwerlich  ein  Modell  zu 
suchen.  Lessing  hat  ausdrücklich  erklärt,  er  kenne  an 
jungen  Mädchen  keine  andere  Tugend  als  Frömmigkeit 
und  Gehorsam.  Aus  diesen  beiden  Eigenschaften  bildete 
er  Odoardos  Tochter;  der  Emilia  gegen  seine  Worte  an- 
dere Eigenschaften  beizulegen  sind  wir  nicht  berechtigt. — 
Wohl  aber  fliesst  in  Appiani  wieder  das  Blut  der  Kleist 
und  Lessing,  wie  in  Tellheim  und  dem  Tempelherren: 
auch  er  gehört  in  die  Gruppe  der  schwermüthigen  Offiziere, 
Man  hat  über  seine  Melancholie  viel  gesagt,  diese  aber  ist 
wohl  auch  in  Lessings  Absicht  begründet.  In  der  'Drama- 
turgie'  hatte  er  sich  gegen  die  'Überraschung'  erklärt  und 
gemeint,  er  wolle  wohl  ein  Stück  so  schreiben,  dass  alles 
von  Anfang  an  vorauszusehen  sei,  und  deshalb  solle  es 
nur  mehr  rühren.  Appiani  ist  schwermüthig,  damit  wir 
auf  seinen  Tod  vorbereitet  sind. 


R.  M.  Meyer,  Lessings  Theater.  315 

Auch  sonst  ist  die  Zeichnung  der  Figuren  in  diesem 
Drama  durchaus  dem  Interesse  der  Handlung  unterge- 
ordnet. Das  ganze  Stück  ist  auf  den  ^inen  Moment  an- 
gelegt, in  dem  der  Yater  seine  Tochter  ermorden  muss. 
Die  Frage  ist:  wie  kann  ein  Odoardo  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  in  diese  Situation  gebracht  werden?  Und  in 
dieser  Berechnung  sind  nun  wirklich  alle  Charaktere  und 
Umstände  mit  feinster  Überlegung  abgezirkelt.  Yor  allem 
ist  die  Bolle  des  Prinzen  danach  abgemessen.  Ein  wilder 
Tyrann  wie  Appius  Claudius  würde  den  Dolch  heraus- 
fordern. Der  Fürst  muss  deshalb  nach  Möglichkeit  ent- 
lastet werden,  damit  er  die  Gegenpartei  nicht  zu  heftig 
reizt,  auch  damit  der  Zuschauer  seine  Straflosigkeit  er- 
trägt. Hettore  ist  daher  ein  ganz  gutmüthiger  Mensch 
und  voll  feiner  Gewandtheit.  Aber  er  ist  nicht  einmal 
eine  roh  sinnliche  Natur.  Von  dieser  Seite  hat  ihn  die 
treffliche  Conti-Scene  zu  exponiren,  die  im  Übrigen  gleich- 
sam Lessings  Abschied  an  den  Gedankenkreis  des  ^Laokoon' 
ist.  Der  Prinz  ist  ein  ästhetisirender  Epikureer;  der 
Mensch  ist  ihm  lediglich  ein  —  gelungenes  oder  miss- 
lungenes  —  Kunstwerk«  Den  innern  Werth  vergisst  er  so 
völlig,  wie  er  ihn  entbehrt.  Es  ist  ganz  gut,  heut  die 
Orsina  malen  zu  lassen  und  morgen  ihr  Bild  wegzustellen ; 
der  Mensch  aber  empört  sich  gegen  solches  Yerbrauchen. 
Die  herrlichen  Züge,  die  den  Maler  begeistern,  entflammen 
den  Prinzen  zu  sinnlicher  Leidenschaft  und  diese  Leiden- 
schaftlichkeit malt  auch  die  meisterhafte  kleine  Scene  mit 
Rota.  Hier  hat  Lessing  einen  älteren  Zug  aufgenommen: 
sein  Abdallah  in  der  Tatime'  ist  in  der  Aufwallung  bereit, 
Todesurtheile  vollziehen  zu  lassen.  In  der  'Emilia'  aber 
sollen  wir  sehen,  wie  Hettore  über  dem  augenblicklichen 
Ziel  alles  vergisst  und  zuerst  seine  Pflicht.  —  Und  endlich 
ist  dieser  Mann  noch  in  den  Händen  Marinellis.  Damit 
entschuldigen  ihn  die  Schlussworte  (welche  äusserlich  an 
die  der  ^Matrone  von  Ephesus'  auffallend  erinnern);  aber 
scharf  doch  treffend  hat  Börne  über  diese  Worte  bemerkt: 
'Die  Yerantwortlichkeit  der  Minister  gilt  nur  in  Staats- 
angelegenheiten\  — 

Wir  sehen:  Lessings  Dramaturgie  hat  hier  eine  völlig 

21* 


316  R.  M.  Meyer,  Lessings  Theater. 

andere  Stufe  erreicht.  In  den  'Juden'  —  unsere  Vermu- 
thungen  als  zutreffend  angenommen  —  Modernisirung  der 
Fabel  ohne  alle  feste  Gharakterzeichnung ;  in  'Miss  Sara' 
mit  Hilfe  des  zeitgenössischen  Modells  Swift,  das  aber 
nur  ganz  allgemein  benutzt  wird;  im  'Philotas'  bei  Wah- 
rung der  idealen  Ferne  zuerst  Spuren  Lessingischer  Charak- 
teristik. Dann  völliger  Umschwung:  nunmehr  beherrscht 
der  moderne  Charakter  das  Stück ,  zuerst  und  mit  gründ- 
licher Umwandlung  der  Fabel  in  'Minna  von  Barnhelm', 
dann  in  der  'Emilia'  so  unumschränkt,  dass  sein  Verhält- 
niss  zu  dem  alten  Motive  die  einzige  Richtschnur  für  alle 
anderen  Charaktere  und  Momente  wird.  Einen  modernen 
Charakter  in  eine  typische  Situation  von  dramatischer  Be- 
deutung hineinzudenken  —  das  ist  nunmehr  Lessings  klare 
Technik.  Wenn  auch  nicht  'un  coin  de  la  nature',  sondern 
vielmehr  'un  coin  de  la  litt^rature'  zu  Grunde  zu  liegen 
pflegt,  so  ist  es  doch  nun  stets  'vu  ä  travers  d'un  tempe- 
rament';  durch  Lessings  Augen  gesehen  verjüngen  sich  die 
berühmten  Dramenstoffe. 

Vereinzelte  Zeiteinflüsse  übrigens  aufzunehmen  bleibt 
durch  alle  Phasen  seine  Gewohnheit.  So  mag  Winckel- 
manns  Mörder  dem  Banditen  Angelo  zu  seinem  Namen  ver- 
helfen  haben;  der  Überfall  durch  (hier  scheinbare)  Räuber 
aber,  ein  uraltes  Hilfsmotiv  schon  vom  altgriechischen  Ro- 
man her,  war  von  Lessing  bereits  in  den  'Juden'  benutzt 
worden.  —  In  der  Art  wie  Marinelli  dem  Appiani  unver- 
schämt (aber  freilich  ebenfalls  nur  scheinbar)  Freundschaft 
aufzudrängen  sucht,  hat  sich  wohl  der  Beginn  des  Streites 
mit  Klotz,  welcher  für  Lessing  nun  einmal  der  typische 
Intrigant  geworden  war,  leise  abgespiegelt.  Andere  An- 
spielungen suchten  die  Zeitgenossen  wohl  mit  Unrecht. 

Erst  in  der  'Emilia'  hat  Lessing  vollkommen  seine 
eigene  Sprechweise  den  Figuren  zu  leihen  gewagt.  Man 
hat  die  Sprache  als  zu  sentenziös  getadelt  und  selbst 
Emiliens  schöne  letzte  Worte  als  zu  schön  gerügt.  Aber 
mit  Recht  ist  darauf  erwiedert  worden ,  dass  dies  Lessings 
eigne  Art  war,  dass  er  wirklich  in  Noth  und  Verzweiflung 
Briefe  voll  bitteren  Witzes  schreibe.  Individuelle  Wahr- 
heit lässt  sich  dem  nicht  abstreiten,  gerade   wie  die  Bon- 


R.  M.  Meyer,  Lessings  Theater.  317 

mots  vor  der  Guillotine  die  effectvollen  Abgänge  der  fran- 
zösischen Tragödie  vor  dem  Tadel  der  Unwahrheit  retten. 
—  Hierin  also  ist  das  Modell  Herr  geworden  selbst  über 
den  kunstvollen  Rechner,  als  den  die  Romantiker  den 
Autor  der  'Emilia^  darstellen.  Emilia  spricht  wie  Les- 
sing  als  Mensch  sprach,  nicht  wie  er  als  Dramaturg  for- 
derte. — 

Für  den  ^Nathan'  können  wir  uns  kurz  fassen.  Dass 
Lessing  hier  ein  altes  vielbehandeltes  Motiv  aufgriff,  ist 
weltbekannt;  dass  er  es  zu  einem  Mittel  des  Kampfes 
gegen  die  moderne  Intoleranz  umformte ,  nicht  minder. 
Dass  für  den  Nathan  Moses  Mendelssohn  als  Vorbild  ge- 
dient hat  und  für  den  Patriarchen  Goeze  hat  Züge  liefern 
müssen,  all  das  ist  allgemein  anerkannt;  ebenso  dass  in 
dem  Tempelherrn  ein  verwandtes  Herz  schlägt  wie  in 
Teilheim  und  Lessing.  Nur  ein  Mittelglied  der  Ent- 
stehungsgeschichte des  'Nathan'  wird  oft  übersehen,  ob- 
wohl z.  B.  der  Herausgeber  von  Mendelssohns  Schriften 
(1,  2t)  darauf  aufmerksam  gemacht  hat.  Wie  kam  Lessing 
plötzlich  auf  die  Geschichte  von  Melchisedech  Giudeo  im 
Boccaccio?  Wohl  hatte  er  —  wie  erwähnt  —  schon  in 
den  'Betrachtungen  über  die  Herrenhuter'  1750,  die  ver- 
wandten Fabeln  Swifts  und  Gellerts  gestreift  und  in  der 
Rettung  des  Cardanus  1 754  sich  dem  gleichen  Thema  noch 
mehr  genähert;  in  der  'Dramaturgie'  hatte  er  andererseits 
bei  der  Besprechung  von  Cronegks  'Olint  und  Sophronia' 
das  Gebiet,  auf  dem  Christen  und  Mahommedaner  neben- 
einander lebten,  betreten  und  die  letzteren  gegen  den  Vor- 
wurf der  Götzendienerei  vertheidigt.  Wie  aber  kam  beides 
jetzt  plötzlich  zusammen?  Es  war  wohl  jene  berüchtigte, 
übrigens  nicht  so  übel  gemeinte  als  taktlos  ausgeführte 
Herausforderung  Mendelssohns  durch  Lavater,  welche  ver- 
mittelte. Lavater  forderte  von  Lessings  Freund,  dass  er 
Bonnets  Vertheidigung  des  Christenthums  widerlegen  oder 
dies  selbst  annehmen  solle.  Hier  wiederholte  sich  die  Si- 
tuation des  Juden  jener  alten  Novelle:  er  ward  in  die  Ver- 
legenheit gesetzt,  seine  Religion  gegenüber  den  Bekennern 
eines  anderen  Glaubens,  unter  denen  er  nur  geduldet  lebte, 
zu  behaupten.     Mendelssohn  hielt  sich  trefflich;   auf  Les- 


318  B.  M.  Meyer,  Leasings  Theater. 

sing  aber  musste  dieser  Kampf  grosBen  Eindruck  machen. 
Als  nun  ihm  das  Gleiche  wiederfuhr,  als  Goeze  von  ihm 
ein  Glaubensbekenntniss  ausdrücklich  forderte,  gerade  weil 
ihm  bekannt  war,  wie  gefahrlich  dies  abzulegen  wäre  — 
da  stand  von  neuem  jene  Scene  vor  den  Augen  Lessings 
und  um  ihretwillen  ward  die  Fabel  von  den  drei  Bingen 
einem  idealen  Abbild  Mendelssohns  als  Abwehr  intoleranter 
Forderungen  in  den  Mund  gelegt. 

Die  Erzählung  von  den  drei  Ringen  ist  durchaus 
Mittelpunkt  des  Dramas;  und  wie  bei  der  Begegnung 
zwischen  Mellefonts  Geliebten  in  der  ^Miss  Sara\  wie  bei 
Emiliens  Tod  in  der  ^Emilia'  kündigt  die  Hauptscene  sich 
durch  eine  gewisse  Nervosität  des  sonst  so  sorgsam  moti- 
virenden  Autors  an,  den  nun  eine  entschiedene  Ungeduld 
zur  Hauptsache  treibt.  Wie  jene  Zusammenkunft  nur 
durch  den  unverantwortlichen  Leichtsinn  Meilefonts  er- 
möglicht wird,  yne  der  Dolch  etwas  leicht  in  Odoardos 
Hände  kommt,  so  wird  auch  das  Beligionsgespräch  über- 
stürzt. Aber  welche  Fülle  von  Licht  giesst  sich  von  seiner 
Höhe  über  das  ganze  Drama  aus!  wie  wahr  und  einfach 
wirkt  diese  Scene  noch  heut,  wo  wir  ihre  grosse  Nach- 
ahmung —  Posa  vor  Philipp  —  nur  noch  zweifelnd  wür- 
digen können! 

Nur  die  beiden  Charaktere,  die  diese  Scene  confrontirt, 
sind  ^primär';  alle  anderen  dienen  —  wie  in  dem  frühen 
Gegenstück,  den  'Juden'  —  der  Exposition  der  Haupt- 
figuren. Wir  treffen  wieder  den  gefangenen  Offizier, 
Templer  aber  noch  nicht  Freimaurer,  noch  nicht  Nathan: 
gegen  vermeintliche  Intoleranz  ruft  er  die  wirkliche  In- 
toleranz an ,  unbesonnen  aber  edel  wie  seine  Genossen 
Philotas  und  Teilheim.  Daneben  Typen  aus  Lessings 
letzten  Kämpfen:  der  Patriarch  als  Wortführer  der  starren 
lieblosen  Orthodoxie,  der  Bruder  Bonafides  als  Vertreter 
herzlichen,  ungelehrten  Glaubens;  und  Daja,  nicht  ohne 
eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  Frau  Marthe  Schwerdtlein, 
hat  direct  jene  Seelenwerbung  für  die  allein  selig  machende 
Kirche  zu  vertreten,  welche  gleich  wohlwollend  und  gleich 
beschränkt  Lavater  vorgenommen  hatte.  Sie  sind  Prüf- 
steine für   die  Toleranz    des  Herrschers  und  des  Weisen; 


B.  M.  Meyer,  Lessings  Theater.  319 

sie   alle    dienen   der  Durchleuchtung    der  beiden    auf  der 
Menschheit  Höhen  wohnenden  Charakterfiguren. 

Noch  hat  auf  die  Gestaltung  des  Stückes  eine  Idee 
eingewirkt,  die  stärker  und  stärker  Lessings  letzte  Jahre 
beherrscht.  Es  ist  seine  Lieblingsidee  von  der  Umwände- 
lung  willkürlicher  Mittel  in  nothwendige,  ^künstlicher'  in 
^natürliche'.  Diese  Idee  sollte  den  ^Laokoon'  krönen:  weil 
im  Drama  ^Eunst  sich  in  Katur  verwandelt',  darum  eben 
sollte  es  den  Gipfel  seiner  ästhetischen  Betrachtungen 
bilden.  Doch  noch  stärker  regirt  diese  Idee  seine  Philo- 
sophie. Es  ist  eine  gedankliche  Tendenz,  die,  wie  schliess- 
lich wohl  jede,  von  der  psychologischen  Veranlagung  des 
Autors  bestimmt  wird.  Eine  so  entschieden  verstandes- 
mässig  angelegte  Natur  wie  die  Lessings  fühlt  sich  beun- 
ruhigt, wenn  in  seine  scharfen  Rechnungen  als  unberechen- 
bares fremdes  Element  der  Zufall  hineinspielt.  Und  daraus 
erwächst  ihm  der  Wunsch,  dies  Element  zu  beseitigen. 
Praktisch  beherrscht  ja  eben  diese  Tendenz  die  gesammte 
Yolkswirthschaft  unserer  Tage.  Wenn  wir  etwa  ein  Haus 
versichern,  so  beabsichtigen  wir  durch  eine  genau  zu  be- 
rechnende regelmässige  Abgabe  die  Möglichkeit  abzu- 
wehren, dass  ein  unberechenbarer  plötzlicher  Unglücksfall 
uns  alles  nimmt.  Der  Ring  des  Polykrates  ist  in  eine 
regelmässige  Steuer  umgewandelt,  welche  den  Neid  der 
Götter  nicht  verhüten  aber  unschädlich  machen  soll.  Was 
so  der  einzelne  für  sich  anstrebt,  dass  wollte  Lessing  der 
Menschheit  gesichert  wissen.  Wenn  Leibniz  die  Erschei- 
nungsformen und  Lebensbedingungen  seiner  Monaden  zwar 
von  einem  göttlichen  Willen  regeln  liess,  dessen  Bestim- 
mungen aber  doch  für  menschliche  Urtheilskraft  zufallig 
und  willkürlich  erscheinen,  so  vermeidet  Lessings  Lehre 
von  der  Seelenwanderung  alle  Willkür.  Jeder  Monade 
wird  gleichsam  ein  fester  Cursus  der  Erziehung  vorge- 
schrieben, der  ganz  äusserlich  sich  durch  die  drei  nach 
Pope  und  Haller  von  Lessing  pointirt  ausgedrückten  Stufen 
Thier  —  Mensch  —  Engel  ausdrücken  lässt:  ^bald  weniger 
als  Thier  bald  mehr  als  Engel'  sagt  Nathan  (2, 180).  Diese 
Abneigung  gegen  die  ^Gotteslästerung'  des  Zufalls  wird  für 
Lessings  letztes  grosses  Werk  ich  möchte  fast  sagen  ver- 


320  ^*  ^*  Meyer,  Leasings  Theater. 

hängnissYoU.  Er  führt  eine  Anzahl  Typen  zusammen,  die 
eine  geistige  Verwandtschaft  bindet;  aber  diese  ^künstliche 
Familie',  um  mich  eines  freilich  anders  gemeinten  Ter- 
minus der  Culturgeschichte  zu  bedienen,  wandelt  er  in 
eine  wirkliche  Familie  um;  er  ersetzt  die  'Wahlverwandt- 
schaft' durch  physische  Verwandtschaft.  Freilich  sind  auch 
in  den  ältesten  Formen  der  Fabel  die  Viörtreter  der  drei 
Religionen  Brüder  (wie  Sem,  Ham,  Japhet),  deren  Ver- 
hältniss  zu  dem  gemeinsamen  Vater  eben  für  ihren  Werth 
bezeichnend  ist ;  und  diese  naheliegende  Symbolik  hat  Les- 
sing auch  in  der  'Familie  Philalethes'  (tl,  II  19)  durch- 
geführt. Aber  dass  die  Verwandtschaft  zwischen  Saladin, 
Recha  und  dem  Tempelherren  von  vornherein  nicht  be- 
kannt ist,  sondern  nach  dem  Erwachen  ihrer  gegenseitigen 
Zuneigung  als  eine  Steigerung  gegeben  wird  —  das  grade 
ist  die  eigenthümliche  Anwendung  jener  Lieblingsidee. 
Sie  wirkt  nicht  glücklich;  der  Zuschauer  theilt  die  Ent- 
täuschung des  Tempelherren  und  sieht  überrascht  ein 
Stück  von  so  hohem  Anlauf  als  analytisches  Drama  (wie 
es  tragisch  der  'Oedipus',  komisch  der  'Zerbrochene  Erug' 
sind)  enden:  man  empfindet  die  beabsichtigte  Steigerung 
als  Rückgang.  Aber  wie  schön  ist  dennoch  die  Lehre, 
nicht  aus  subjectivem  Behagen  die  Nebenreligionen  zu 
lieben,  sondern  als  Glieder  der  gleichen  Familie! 

Noch  in  einem  anderen  Punkt  führt  Lessing  die  Um- 
wandlung künstlicher  in  natürliche  Mittel  durch.  Er 
nimmt  die  Sage  von  der  Wunderkraft  des  echten  Ringes 
wieder  auf,  die  jüngere  Fassungen  der  Parabel  verloren 
hatten:  er  aber  erklärt  die  Siegeskraft  des  Ringes  psycho- 
logisch. Das  heisst  denn  doch  wohl  im  vollsten  Sinne 
modernisiren !  Etwas  spricht  freilich  in  solchen  Dingen 
auch  der  Rationalismus  des  achtzehnten  Jahrhunderts  mit, 
die  Wundererklärung  der  'Aufklärer',  zu  denen  Lessing 
übrigens  sonst  durchaus  nicht  in  jeder  Beziehung  zu  rechnen 
ist.  — 

Im  'Nathan'  also  schaltet  Lessing  völlig  frei  nicht  bloss 
mit  dem  Stoff,  sondern  auch  mit  der  Form.  So  bietet  sein 
schönstes  Drama  uns  den  Höhepunkt,  von  dem  aus  virir 
noch    einmal   deutlich   Lessings  dramaturgische  Entwicke- 


R.  M.  Meyer,  Lessings  Theater.  321 

lung  übersehen  können.  Wie  bisher  übergehen  wir  dabei 
die  kleineren  Stücke  und  Entwürfe,  um  in  den  wichtigeren 
Arbeiten  die  Marksteine  dieses  stetigen  Fortschrittes  zu 
verfolgen.  —  Lessing  übernimmt  von  der  theatralischen 
Production  aller  Zeiten  die  wichtigsten  Motive,  von  der 
seiner  eigenen  Zeit  die  beliebtesten  Typen.  Anfangs 
arbeitet  er  völlig  in  der  Weise  seiner  Genossen:  von  den 
Vertretern  der  stehenden  Rollenfächer  lässt  er  Charakter- 
komödien  wie  den  Pedanten,  die  alte  Jungfer,  den  Weiber- 
feind aufführen  und  würzt  die  alte  Technik  nur  durch 
actuelle  Anspielungen.  Aber  je  mehr  seiner  durchaus 
dramatisch  angelegten  Natur  die  Bühne  (wie  er  im  Kampf 
mit  Goeze  sagt)  zur  gewohnten  Kanzel  wird,  desto  mehr 
rückt  er  sie  in  das  wirkliche  Leben.  In  den  ^Juden'  zu- 
erst versucht  er,  ein  ewiges  Problem,  das  ihm  gerade 
damals  zur  brennenden  Frage  wurde,  auf  die  Bühne  zu 
bringen ;  aber  erst  im  Thilotas'  wagt  er  es  auch  Personen, 
die  ihn  interessiren,  dort  auftreten  zu  lassen.  Erst  sind  es 
Naturen,  die  ihm  menschlich  befreundet  oder  geistig  ver- 
wandt sind,  wie  Kleist  und  Swift ;  endlich  nimmt  er  muthig 
Züge  zur  Ausstattung  der  Gestalten  aus  seinem  Innern. 
Und  nun,  seitdem  er  gleichsam  selbst  mitspielt  wie  der 
grosse  Moli^re,  gewinnt  auch  das  Motiv  für  ihn  ein  ver- 
ändertes Aussehen:  statt  der  Betonung  des  Bleibenden  in 
den  grossen  Problemen  studirt  er  besonders  die  Wande- 
lung der  Formen.  Der  zukünftige  Verfasser  der  ^Erziehung 
des  Menschengeschlechtes^  verfolgt  die  Seelenwanderung 
der  theatralischen  Typen.  Wie  sieht  ein  moderner  Phi- 
loktet  aus?  kann  ein  Yirginius  heut  noch  vorkommen?  das 
sind  Fragen,  die  ^Minna  von  BarnheW  und  'Emilia  Ga- 
lotti'  lösen.  Noch  macht  es  ihm  öfters  Mühe,  seine  neuen 
Modelle  —  gleichsam  Dilettanten  auf  der  Bühne  neben 
den  alten  Berufsschauspielem  —  an  die  neuen  und  doch 
uralten  Aufgaben  zu  gewöhnen ;  und  nur  eine  geringe  Zahl 
neuer  Typen  hat  er  geschaffen,  die  aber  sind  für  unser 
Theater  ein  dauernder  Erwerb.  Doch  näher  und  näher 
dringen  die  grossen  Probleme  ihm  selbst  an  den  Hals ;  der 
Kampf  des  ^inen  Toleranten  gegen  vielerlei  Intoleranz,  der 
in  den  ^Juden'  ihn   nur   theoretisch  interessirt  hatte,    wird 


322  B-  M.  Meyer,  Leseings  Theater. 

Ereigniss  seines  Lebens.  Und  jetzt  gebietet  er  YÖllig  über 
seine  neue  Technik:  das  alte  Motiv  in  neuer  Beleuch- 
tung ,  das  lebende  Modell  in  ideali'&irender  Einkleidung 
yerscbmelzen  ihm  in  eins:  da  steht  die  grosse  Scene,  die 
er  wohl  mit  Augen  gesehen  haben  mag  wie  Otto  Ludwig 
die  Kernscene  seines  'ErbfSrsters'.  — 

Für  unser  Drama  aber  war  ein  Grosses  gewonnen. 
In  den  ältesten  Zeiten  hatte  der  Dichter  wohl  selbstver- 
ständlich  für  die  Theaterfiguren  lebende  Modelle  benutzt, 
schon  weil  er  selbst  mitspielte  und  aus  seiner  Eigenart 
Nutzen  ziehen  musste.  Das  war  wohl  überall  so,  und  ge- 
wiss auch  bei  den  volksthümlichen  Schauspielern  Deutsch- 
lands. Aber  hier  greift  das  plötzliche  Entstehen  eines  be- 
rufsmässigen Schauspielerstandes  verhängnissvoU  in  die  Ent- 
wickelung:  statt  der  concreten  bestimmten  Personen,  denen 
eine  Bolle  auf  den  Leib  geschrieben  werden  konnte,  sind 
nun  abstracto  Rollenvertreter  zur  Hand,  der  Liebhaber, 
der  komische  Alte.  Wie  deutlich  fühlt  man  z.  B.  bei 
Gryphius  die  damit  gegebene  Yerallgemeinerung  der  Cha- 
raktere! Lange  ging  es  dann  so  weiter,  im  gelehrten  Be- 
trieb wie  im  volksthümlichen,  nur  mit  dem  Unterschied, 
dass  die  typischen  Figuren  dort  aus  Büchern,  hier  aus  der 
Praxis  stammen.  Erst  bei  Lessing  tritt  neben  die  Tra- 
dition wieder  das  Leben:  moderne  Fragen,  moderne  Ge- 
stalten. 

Die  beiden  grossen  Dramatiker,  die  dem  Neubegründer 
der  deutschen  Litteratur  folgten,  theilten  sich  hier  in  seine 
Erbschaft.  In  grossem  Stile  wagte  Goethe  sich  mit  seinen 
Figuren  zu  identificiren  und  so  verdanken  wir  Lessing  zum 
Theil  den  ^Tasso'  und  den  ^Faust'.  In  grossem  Stile  wagte 
Schiller  alte  Probleme  mit  neuen  zu  identificiren  und  so 
verdanken  wir  Lessing  zum  Theil  den  ^Don  Carlos'  und 
den  ^Tell'.  In  grossem  Stile  also,  in  grossartigerem  Wurfe 
als  er  es  gethan ,  schritten  sie  auf  seinen  Bahnen  fort ; 
was  aber  auf  der  Bühne  ihm  selbst  noch  anhaftete  von  zeit- 
genössischer Kleinlichkeit,  das  hat  Lessing  selbst  im  Leben 
überwunden.  Wie  in  der  Polemik  so  wandelte  auch  sonst 
seiner  dramatischen  Natur  die  künstliche  Form  des  Bühnen- 
stücks sich  zur  natürlichen,  nothwendigen ;  und  das  grösste 


Raiz,  Goethes  Fanstredaction  1790.  323 

und  vor  allen  unsterbliche  seiner  Dramen  wurde  dasjenige, 
in  dem  mit  so  hohem  Glanz  uralte  Fragen  neu  durchge* 
kämpft  werden  sollten,  das  Drama  der  Erziehung  Teil- 
heims zu  Nathan  dem  Weisen  —  das  Trauerspiel  seines 
Lebens! 

■ 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 


Ooethe's  Faustredaetlon  1790. 

Die  Veränderungen,  welche  die  Scenen  der  Goch- 
hausen'schen  Abschrift  des  sogenannten  Urfaust  auf  dem 
Wege  zum  Faustfragmente  vom  Jahre  1 790  erfahren  haben, 
sind  bisher  zumeist  auf  den  allgemeinen  Eindruck  hin  be- 
urtheilt  worden.  Nur  gelegentlich  wurden  einzelne  be- 
zeichnende derselben  hervorgehoben  und  auf  ihre  Gründe 
geprüft.  Ich  suche  im  folgenden  sie  im  Zusammenhange 
und  annähernd  vollständig  vorzulegen,  ihre  Gründe  aufzu- 
decken, soweit  diese  greifbar  oder  wenigstens  mit  Wahr- 
scheinlichkeit zu  vermuthen  sind,  endlich  ihre  Wirkung 
auf  Form  und  Sinn,  unbekümmert  ob  sie  vom  Dichter 
beabsichtigt  gewesen  ist  oder  nicht,  zu  charakterisiren, 
wo  sich  Anlass  dazu  bietet.  Ausgeschlossen  habe  ich  übers 
Redigiren  hinausgehende  Änderungen ,  welche  aus  be- 
sonderen und  andern  Gesichtspunkten  betrachtet  werden 
wollen,  als  denen,  die  für  die  Mehrzahl  der  Scenen  mass- 
gebend erscheinen.  So  fällt  aus  dem  Rahmen  meiner  Be- 
trachtung die  Scene  ^Auerbachs  Eeller\  so  weit  sie  pro- 
saisch ist,  da  sie  mit  der  Yersificirung  der  Prosa  zugleich 
eine  weiter  greifende  Umgestaltung  als  die  übrigen  Scenen 
theils  erforderte  theils  gestattete.  Doch  habe  ich  nicht 
unterlassen,  aus  dieser  Scene  analoge  Fälle  denen,  die  sich 
sonst  ergaben,  an  die  Seite  zu  stellen.  In  ähnlicher  Weise 
sind  auch  hie  und  da  jene  Scenen  aus  dem  Urfaust  heran- 
gezogen worden ,  welche  in  dem  Fragmente  keine  Auf- 
nahme fanden.  Umgestaltung  des  Planes  oder  veränderte 
Auffassung  der  Personen  ist  nur  in  so  weit  berücksichtigt, 
als  sie  ihre  Spuren  in  Veränderungen  des  Textes  oder  der 


324  S^iz,  Goethes  Faustredaction  1790. 

Scenenanweisungen    im    einzelnen    hinterlassen    hat.      Mit 
diesen  beginne  ich  die  Reihe  der  sachlichen  Änderungen.^) 

Dass  der  Mutter  Qretchens  im  ursprünglichen  Faust- 
plane eine  grössere  Rolle  zugedacht  war,  als  wir  sie  that- 
sächlich  in  der  Handlung  spielen  sehen,  darauf  deutet 
neben  jenem  in  der  Eerkerscene  angeschlagenen,  aber 
nirgends  ausgeführten  Motive  ({7Z.  86  ff.)  und  anderem  die 
Angabe  der  Domscene  'Exequien  der  Mutter  Gretgens'. 
Mit  dem  Zurücktreten  der  Mutter  musste  diese  Angabe  in 
S  fallen,  wodurch  das  weitere  'öretgen  alle  Verwandte' 
gegenstandslos  und  in  S  durch  'Grethchen  unter  vielem 
Volke'  ersetzt  ward. 

Das  abgerissene  Stück  von  U  Taust .  Mephistopheles' 
(V.  1398  ff.),  hinter  der  Domscene  liegend  und  wahrschein- 
lich die  Begegnung  mit  Valentin  vorbereitend,  ist  von 
V.  1408  ab  in  einen  ganz  andern  Zusammenhang  aufge- 
nommen worden.  Die  Verquickung  dieses  Theiles  mit  dem 
in  S  neu  auftretenden  Stücke  der  'Wald  und  Höhle'  be- 
titelten Scene  erforderte  äusserlich  nur  geringe  Änderungen. 
In  U  ist  Faust  auf  dem  Wege  zu  Qretchen,  hier  treibt 
ihn  Mephistopheles  dazu;  daher  mussten  die  V.  1408—10 
'Nur  frisch  dann  zu!  Das  ist  ein  Jammer  Ihr  geht  nach 
eures  Liebgens  Kammer  Als  gingt  ihr  in  den  Tpdt'  in 
diesem  Sinne  geändert  werden.  S  hat:  'Nur  fort,  es  ist 
ein  grosser  Jammer !  Ihr  sollt  in  eures  Liebchens  SLammer, 
Nicht  etwa  in  den  Tod'.  Was  in  den  folgenden  Versen 
geändert  ward,  hat  seine  Ursache  in  Fausts  besonderer 
Seelenstimmung,  wie  sie  durch  das  in  S  Vorhergehende 
erregt  wird.  In  U  fühlt  sich  Faust  über  sein  zweck- 
und  ruhloses  Leben  unglücklich  und  fragt:  das  Glück  in 
Liebchens  Armen  'Verdrängt  es  diese  (Fausts)  Seelen 
Noth?';  in  S  dagegen  hat  er  eben  das  Glück  der  Natur- 
betrachtung genossen,  seine  Klage  muss  sich  daher  vor 
allem  Gretchens  Schicksale  zuwenden:  'Lass  mich  an  ihrer 
Brust    erwarmen!    (=   wie   ich    auch  an    ihrer  Brust   er- 


*)  Ich  citire  nur  nach  ü  =  Göchhauseneche  Abschrift,  aus- 
nahmsweise  auch  nach  8  =  Fragment  1790,  was  ich  durch  den  der 
Versziffer  beigesetzten  Buchstaben  kenntlich  mache. 


Baiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  325 

warmen  mag)  Führ  ich  nicht  immer  ihre  (Gretchens) 
Noth  ?' 

Eine  zweite  Verschmelzung  von  Altem  und  Neuem 
hat  in  der  Schülerscene  stattgefunden.  Die  burschikos- 
triviale Belehrung  über  'Logie'  und  'Tisch'  (V.  263-332) 
ward  gestrichen,  die  Lücke  durch  14  Verse  {S  361—374) 
ausgefüllt,  welche  den  Gedanken  von  V.  262  ausspinnen  und 
zur  Frage  nach  der  Facultät  überleiten,  wo  U  V.  333 
wieder  einsetzt.  Um  den  Kreis  der  Facultäten  zu  er- 
schöpfen, ward  nach  U  V.  394  ein  Abschnitt  von  37  Versen 
{S  443 — 479)  eingeschoben,  welcher  die  Rechtsgelehrsam- 
keit und  Theologie  behandelt,  mit  Anknüpfung  an  den 
Gedanken  von  U  393  f.  und  Wiederholung  der  Frage  nach 
der  Facultät.  Dies  machte  die  Tilgung  des  Verses  335 
'Soll  zwar  ein  Mediziner  werden^  ü  nothwendig,  dessen 
Platz  aus  dem  Gedanken  des  Folgenden  ausgefüllt  ward 
S  V.  377:  'Ich  wünschte  recht  gelehrt  zu  werden'.  Zugleich 
musste  auch  ü  V.  431  ^Das  sieht  schon  besser  aus  als  die 
Philosophie'  geändert  werden,  weil  in  S  nicht  wie  in  ü 
unmittelbar  vorher  und  einzig  von  der  Philosophie  die  Rede 
ist.  S  bietet  dafür:  'Das  sieht  schon  besser  aus!  Man 
sieht  doch  wo  und  wie.' 

Der  'Student',  den  Mephistopheles  in  dieser  Scene 
empfangt,  ist  in  S  in  einen  'Schüler'  umgetauft,  nur  um- 
getauft natürlich,  denn  er  bleibt  ebenso  Student,  wie  die 
'Schüler'  in  der  Scene  des  vollständigen  Faust  'Vor  dem 
Thor'  Studenten  sind.  Mephistopheles ,  der  gewiss  den 
'Professorton'  gegen  den  Studenten  persiflirend  anschlägt, 
sagt  in  S  nicht  mehr  (V.  403):  'Bin  des  Professor  Tons 
nun  satt',  sondern  ohne  den  Professor  zu  verunglimpfen: 
'Ich  bin  des  trocknen  Tones  satt'.  Überhaupt  ward  das 
Wort  'Professor'  in  S  ganz  vermieden;  es  trat  dafür  'Ma- 
gister' ein:  V.  7  'Heisse  Docktor  und  Professor  gar'  ü 
'Heisse  Magister,  heisse  Doctor  gar'  S;  V.  14  'Professors'  ü 
'Magister'  /S,  während  doch  eigentlich  Wagner  der  Magister 
ist  vgl.  V.  195.  Goethe  liess  hier  eine  Standesrücksicht 
walten,  die  uns  heute  wenig  begreiflich  ist.  Oder  glaubte 
er  die  Scene  durch  die  ungewohnteren  Titel  mehr  der 
Gegenwart  zu  entrücken  in  alte  Zeit?    Erklärlicher,  wenn 


326  Raiz,  Goethes  Fausiredaction  1790. 

auch  für  unsere  Auffassung  ebenso  unnöthig  ist  die  Vor- 
sicht Goethes,  der  nun  an  einem  Fürstenhofe  lebte  ^  gegen 
fürstliche  Personen;  er  lässt  Mephistopheles  nicht  mehr 
sagen  wie  in  ü  V.  588  ein  Schmuck  'Um  eine  Fürstin  zu 
gewinnen',  sondern  ganz  allgemein  'Um  eine  andre  zu  ge- 
winnen'. An  der  Hand  dieses  Beispieles  hof männischer 
Zurückhaltung  verstehen  wir  auch ,  warum  die  Y.  526 — 9 
'Er  thut  als  war  er  ein  Fürsten  Sohn  Hätt  Luzifer  so  ein 
Duzzend  Prinzen  Die  sollten  ihm  schon  was  vermünzen 
Am  Ende  kriegt'  er  eine  Comission'  weniger  anzüglichen 
weichen  mussten:  'Gleich  schenken?  Das  ist  brav!  Da 
wird  er  reüssiren!  —  Ich  kenne  manchen  schönen  Platz 
Und  manchen  alt  yergrabnen  Schatz,  Ich  muss  ein  Bisschen 
revidiren'. 

Hier  schliesse  ich  an  die  Änderung  von  Y.  688  'ach 
kristlich  so  gesinnt'  U  zu  'So  ist  man  recht  gesinnt'  5, 
wo  das  'kristlich'  ausfiel.  Doch  hat  hier  wohl  ebenso  ein 
formeller  Anstoss,  nemlich  der  elliptische  Satz  die  Ände- 
rung bewirkt  wie  Schonung  der  Religion ;  jedesfalls  sollte 
das  Wort  'kristlich'  nicht  stehen  bleiben.  Mehr  formell  als 
sachlich  begründet  scheint  mir  die  Änderung  Y.  1307  'Hilf 
retten  mich'  ü  'Hilf!  rette  mich'  S;  stilistisch  ist  letzteres 
stärker  und  besser,  rhythmisch  dagegen  schlechter,  weil 
der  Auftakt  durch  den  Ton  und  die  eingetretene  Pause 
übermässig  schwer  wird;  sachlich  ist  die  Auffassung  Marias 
der  katholischen  Lehre  von  ihrer  Machtstellung  genähert, 
wohl  nur  eine  Folge  der  Änderung  (vgl.  aber  unten  zu 
Y.  1117  unter  Apokope). 

Dagegen  hat  ohne  Zweifel  ein  sachlicher  Grund,  eine 
Änderung  der  Ansicht,  die  Tilgung  der  Y.  194  f.  'Was 
Yortrag!  der  ist  gut  im  Puppenspiel  Mein  Herr  Magister 
hab  er  ErafFt'  bedingt ;  es  sollte  dem  Yortrage,  der  schönen 
Form,  wie  die  für  {7  197  eingesetzten  Yerse  zeigen  (vgl. 
'mit  wenig  Kunst',  also  doch  mit  Kunst!)  nicht  mehr  jede 
Berechtigung  so  schroff  abgesprochen  werden.  Durch  diesen 
Strich  verwaisten  die  Y.  193  und  197  in  Bezug  auf  ihren 
Reim;  193  ward  etwas  anders  gewendet  und  zu  einem 
Reimpaare  erweitert:  'Allein  der  Yortrag  macht  des  Red- 
ners Glück;  Ich  fühl'  es  wohl,  noch  bin  ich  weit  zurück'. 


Raiz,  Gh>ethe8  Faustredaction  1790.  327 

An  Stelle  von  194  f.  trat  ein  neuer  Vers  'Snch'  er  den 
redlichen  Gewinn!'  Zur  Herstellung  des  Reimes  musste 
197  ^Und  FreundschaiFt,  Liebe,  BrüderschafFt'  fallen,  an 
seinen  Platz  trat,  mit  Umgestaltung  des  Folgenden:  ^Es 
trägt  Verstand  und  rechter  Sinn  Mit  wenig  Kunst  sich 
selber  vor'.  Also  statt  der  Empfindungen  Verstand,  der 
nach  dem  Rechten  zielt,  statt  der  Kraft  ein  wenig  Kunst. 

Verstärkungen,  welche  indess,  der  Absicht  des  Dichters 
nach,  mehr  als  stilistische  denn  als  sachliche  Verstärkungen 
aufzufassen  sein  dürften,  haben  stattgefunden  mit  der  Er- 
weiterung von  ^enthüllen'  ü  (V.  85)  zu  ^ring's  um  mich  her 
enthüllen'  S  und  der  Änderung  V.  348  ^Irrlichtelire  den 
Weeg  daher'  ü  zu  ^Irrlichtelire  hin  und  her'  S. 

Moderner  möchte  ich  die  Auffassung  des  Königs  in 
Tule  nennen,  die  sich  zeigt  in  den  Änderungen  von  V.  620 
'seine  Stadt  und  Reich'  U  zu  'seine  Stadt'  im  Reich'  S 
und  V.  621  'seinen  Erben'  U  zu  'seinem  Erben'  8:  6\n 
Reich,  6in  Erbe.  —  Nicht  mit  Bestimmtheit  lässt  sich  eine 
veränderte  Auffassung  "Wagners  aus  der  Änderung  V.  168 
'der  trokne  Schwärmer'  ü  zu  'der  trockne  Schleicher'  S 
erkennen,  da  vielleicht  der  äusserliche  Widerspruch  zwischen 
dem  Nomen  und  dem  Epitheton  in  ü  anstössig  erschienen 
ist;  dann  hätten  wir  einen  Fall  von  falscher  Correctheit 
vor  uns,  unter  der  die  Charakteristik  zu  Schaden  kam.  — 
Wohl  aus  einem  fiachlichen  Grund  scheint  V.  404  'Will 
wieder  einmal  den  Teufel  spielen'  U  zu  'Muss  wieder  recht 
den  Teufel  spielen'  8  geändert  worden  zu  sein,  da  sich 
ein  formeller  Orund  höchstens  in  der  zweisilbigen  Senkung 
entdecken  lässt,  dem  Rhythmus  aber  Goethe  sonst  nur 
wenig  Sorgfalt  widmete;  die  Änderung  kann  der  Reflex 
einer  schwärzeren  Auffassung  des  Mephistopheles  sein,  wie 
umgekehrt  und  deutlicher  der  Erdgeist  lichter  gefasst  ist; 
er  erscheint  nicht  mehr  wie  in  U  (Scenenanweisung  vor 
V.  130)  'in  wiederlicher  Gestallt'.  —  Die  Charakteristik 
Gretchens  wird  um  einen  Zug  bereichert  und  vertieft,  wenn 
nach  V«  748  U  in  8  zwei  Verse  eingeschaltet  werden,  wo- 
rin Gretchen  nach  dem  Spender  des  Schmuckes  fragt: 
'Wer  konnte  nur  die  beiden  Kästchen  bringen?  Es  geht 
nicht  zu  mit  rechten  Dingen';   doch  fällt  dieser  neugierig- 


328  B^iZ)  Goethes  Faustredaction  1790. 

ängstliche  Zusatz  so  wie  ein  zweiter,  später  anzuführen- 
der, auch  unter  den  formellen  Gesichtspunkt  der  strengern 
Dialogcomposition. 

Hiemit  gehe  ich  zum  Theatralischen  über  und  finde 
zunächst  eine  Beschleunigung  der  Zeit,  weiche  für  den 
Verlauf  der  Handlung  gedacht  ist,  zu  verzeichnen,  wenn 
in  V.  1055  'Schon  lange  lieb  ich  dich'  ü  zu  'Von  Herzen 
lieb'  ich  dich'  geändert  und  somit  die  weit  zurückweisende, 
wenn  auch  allgemeine  Zeitbestimmung  beseitigt  ist;  sach- 
lich ist  hier  zugleich  ein  äusserliches  Moment  durch  ein 
seelisches  ersetzt.  Beschleunigt  ist  die  Zeit  ferner,  ohne 
dass  dies  auf  die  Handlung  weitem  Bezug  hätte,  wenn  in 
V.  494  die  'sieben  Tage'  zu  'sieben  Stunden'  verkürzt 
wurden ;  es  ist  damit  wohl  nicht  mehr  beabsichtigt,  als  die 
Ungeduld,  die  für  Fausts  Liebesleidenschaft  bezeichnend 
ist,  bis  zur  Übertreibung  zu  verstärken. 

Die  Angaben  des  scenischen  Locales,  in  ü  zum  Theil 
bis  ins  einzelne  genau,  haben  in  5  an  Bestimmtheit  da 
und  dort  verloren.  Dem  Dialoge  'Faust  .  Mephistopheles' 
(V.  879  ff.)  ward  zwar  die  Localangabe  'Strasse'  vorange- 
stellt, ein  rein  äusserlicher  Zusatz,  da  man  sich  diese 
Scene  wohl  schon  in  ü  auf  die  Strasse  verlegt  denken 
muss.  Dagegen  hat  der  vorausliegende  Dialog  zwischen 
denselben  Sprechern  (V.  657  ff.)  statt  der  bestimmten 
Scenenangabe  'Allee'  die  allgemeinere  'Spatziergang'  er- 
balten. Aus  dem  Locale  der  Scene  'Zwinger'  ist  der 
Brunnen  entfernt:  'Gretgen  gebeugt  schwenckt  die  Krüge 
im  nächsten  Brunn  füllt  sie  mit  frischen  Blumen  die  sie 
mitbrachte'  Z7,  'Grethchen  steckt  frische  Blumen  in  die 
Krüge'  S.  Dadurch  wird  dem  Locale  nach  diese  Scene 
von  der  vorangehenden  weggerückt  und  beider  Zusammen- 
hang, sofern  man  einen  solchen  für  den  ursprünglichen 
Plan  beanspruchen  will,  gelöst. 

Derselbe  Zug  nach  Verkürzung  und  Beseitigung  des 
individuellen  Colorites  lässt  sich  auch  weiter  in  den  Scenen- 
anweisungen  verfolgen.  Unter  andern  Gesichtspunkten 
habe  ich  bereits  den  Wegfall  des  'in  wiederlicher  Gestallt' 
bei  der  Erscheinung  des  Erdgeistes  und  der  Angabe  'Exe- 
quien    der   Mutter   Gretgens'   bei   der  Domscene  erwähnt. 


Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  329 

Aus  'Auerbachs  Keller'  lassen  sich,  wo  die  Scenenanwei- 
Bungen  in  U  und  8  correspondiren,  noch  folgende  Fälle 
beibringen:  nach  Zeile  22  'den  Krug  auf  den  Tisch  stos- 
send'  U  heisst  in  8  allgemeiner  'auf  den  Tisch  schlagend'; 
nach  Z.  75  'leise  zu  Frosch'  U  =  'leise'  S;  nach  Z.  180 
Siebel  'lässt  den  Pfropf  fallen,  es  fliesst  auf  die  Steine  und 
wird  zur  Flamme  die  an  Siebein  hinauf  lodert'  U^=^  'trinkt 
unvorsichtig,  der  Wein  fliesst  auf  die  Erde  und  wird  zur 
Flamme'  8.  Dass  der  Wein  an  dieser  Stelle  in  8  aus  dem 
Olase,  nicht  aus  dem  Tische  fliesst,  hängt  mit  der  doppel- 
ten Verwendung  des  Motives  in  8  zusammen  (vgl.  8  nach 
V.  777  u.  789);  sie  machte  eine  Abstufung  nothwendig, 
die  damit  erreicht  ward,  dass  der  Wein  zunächst  aus  dem 
Glase  vergossen  und  zur  ^Flamme'  wird,  beim  zweiten 
Male  als  'Feuer'  aus  dem  Tische  springt.  Schon  deshalb 
musste  der  starke  Zusatz  'die  an  Siebein  hinauf  lodert' 
verschwinden;  aber  auch  scenisch  ist  das  Hinaufschlagen 
der  Flamme  schwer  darstellbar  und  zudem  überflüssig. 
Man  beachte  noch  die  Änderung  des  Wortes  'Steine'  in 
das  allgemeinere  'Erde'  (==  Boden).  Dem  also  modificirten 
Vorgänge  entsprechend  musste  in  der  folgenden  Scenen- 
anweisung  für  Faust  (nach  Z.  183)  'er  verstopft  die  Öff- 
nung und  spricht  einige  Worte,  die  Flamme  flieht'  ge- 
ändert werden ;  sie  ward  gleichzeitig  auch  verkürzt :  Mephi- 
stopheles  'die  Flamme  besprechend'  (der  Wechsel  der 
Person  unterliegt  meiner  Besprechung  nicht).  Allgeraeiner 
gewendet  ward  (nach  Z.  208)  'er  visitirt  die  Pfropfen'  IJ 
=  'sich  nach  dem  Tische  wendend'  iS,  auch  aus  einem 
durchaus  sachlichen  Grunde :  die  Pfropfen  sollen  nur  Schein 
gewesen  sein. 

Verkürzung  zeigen  noch:  nach  Z.  191  derselben  Scene 
'sie  stehn  in  frohem  Erstaunen  auf  einmal'  U  =  'sie  stehn 
erstaunt'  8  und  nach  Z.  196  'Es  gehen  ihnen  die  Augen 
auf,  sie  fahren  mit  Geschrey  aus  einander'  ü  =  'die  Ge- 
sellen fahren  aus  einander'  8.  Hier  sind  äussere  Vorgänge, 
wie  das  Aufgehen  der  Augen,  oder  seelische  Affecte,  wie 
das  'frohe'  Erstaunen,  welche  für  die  Bühnendarstellung  zu 
subtil  sind,  beseitigt.  Ganz  entzieht  sich  der  Darstellung 
die  Anweisung  vor  V.  1054  'Margrete  mit  Herzklopfen  her- 

Vierte^ahrschrift  fOr  Littentnigeochichte  III  22 


330  Raiz,  Goethes  Faustredaction  1700. 

rein';  das  Unsichtbare  musste  einem  Sichtbaren  weichen 
'Margarethe  springt  herein'.  Dem  gleichen  theatralischen 
Gebote  trug  Goethe  Rechnung,  als  er  bei  der  Überarbei- 
tung der  prosaischen  Eerkerscene  die  Anweisung  nach 
Z.  12  Faust  ^hört  die  Ketten  klirren  und  das  Stroh 
rauschen'  in  Worte  des  Faust  umwandelte.  Der  Zu- 
schauer erfasst,  selbst  wenn  er  das  Klirren  und  Rauschen 
hört,  dessen  seelische  Wirkung  auf  Faust  nicht,  ohne  dass 
es  dieser  selbst  ausspricht;  und  für  den  Zuschauer  ist 
das  Klirren  und  Rauschen  nicht  von  Belang,  er  braucht 
es  gar  nicht  zu  hören,  wofern  es  nur  der  nahestehende 
Faust  hört. 

Mit  den  zuletzt  angeführten  Beobachtungen  bin  ich 
bereits  stark  auf  das  Gebiet  der  formellen  Änderungen  ab- 
gewichen; denn  die  Änderungen  der  scenischen  Angaben 
gründen  sich,  obgleich  sie  Sachliches  betreffen,  doch  wesent- 
lich auf  grössere  Strenge  im  Theatralischen,  sind  also  aus 
formellen  Rücksichten  geflossen.  Auch  vorher  hatte  ich 
öfter  Gelegenheit,  dort,  wo  sachliche  Änderungen  vorzu- 
liegen schienen,  darauf  zu  deuten,  dass  ebenso  leicht,  ja 
zuweilen  mit  grösserer  Wahrscheinlichkeit  Gründe  formaler 
Natur  angenommen  werden  können.  Ich  finde  mich  zu 
letzterer  Annahme  um  so  geneigter,  als  ich  die  Hartnäckig- 
keit vor  Augen  habe,  mit  der  Goethe,  wie  aus  dem  Fol- 
genden ersichtlich  wird,  nach  Correctheit  der  Form  strebte, 
dieser  sogar  bisweilen  den  bessern  Sinn  aufopferte.  Ich 
habe  aber  gerade  deswegen  alles,  was  auf  sachliche  Ände- 
rung irgend  hindeutet ,  gesondert  zusammengestellt ,  um 
nicht  unter  den  Gesichtspunkt  der  Correctheit  vielleicht 
etwas  zu  ordnen,  was  nicht  unbedingt  oder  nicht  völlig 
von  ihm  aus  zu  fassen  ist. 

Die  formellen  Änderungen  sind  so  mannigfacher  Art, 
dass  eine  feste  Gliederung  in  Gruppen  schwer  fallt.  Ein 
mehr  inneres  Eintheilungsprincip,  wie  etwa  in  sprachlicher 
Hinsicht  die  Provenienz  des  Geänderten  aus  Dialekt,  alter 
Sprache  u.  s.  w.  zu  Grunde  zu  legen,  wäre  vielleicht  lehr- 
reicher gewesen,  allein  der  Versuch  scheiterte  an  der 
Schwierigkeit,  jeden  Fall  einer  bestimmten  Gruppe  sicher 
zuzuweisen.     So  nahm  ich  denn  die  äusserlichen  gramma- 


Baiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  331 

tischen  Kategorien  zu  Hilfe,  wo  sie  mir  dienlich  schienen, 
ohne  mich  indess  an  das  hiemit  gegebene  Schema  strenger 
zu  halten,  als  es  für  die  Darlegung  des  Stoffes  bequem 
war. 

Correctheit  ist  vor  allem  angestrebt  durch  Beseitigung 
von  Verstümmelungen  des  Wortes:  Apokopen  vor  Conso- 
nanten,  Synkopen,  Verschleifungen  und  Kürzungen,  mögen 
dieselben  dialektisch,  archaistisch,  idiotistisch  oder  Freiheiten 
der  Umgangssprache  sein;  besonders  dieser  möchte  ich  die 
Mehrzahl  der  ursprünglichen  Formen  zurechnen.  Jedes- 
mal tritt  die  schriftdeutsche  Form  dafür  ein. 

Die  Apokope  vor  Consonanten ,  in  U  ungemein  zahl- 
reich, wurde  in  S  in  vielen  Fällen  aufgehoben.  Belege 
dafür  sehe  man  im  Eingangsmonologe  V.  1.  10.  11.  16.  17. 
18.  19.  23.  41,  in  der  Schülerscene  V.  259.  262,  im  Ratten- 
liede  von  'Auerbachs  Keller'  V.  27.  28.  30.  32  f.  37.  39. 
48 f.,  in  der  Scene  'Strasse'  V.  504.  508,  'Abend'  V.  645 
(wo  übrigens  wahrscheinlich  ein  Schreibversehen  vorliegt), 
'Allee'  V.  657.  658,  'Ifachbarinn  Haus'  V.  740.  749.  753. 
755.  769.  776.  845.  875.  876  ,  'Garten'  V.  996 ,  'Garten- 
häusgen'V.  1065,  'Marthens  Garten' V.  1164,  'Am  Brunnen' 
V.  1258.  In  der  Prosa:  Scenenanweisung  nach  V.  546  'am 
Bett'  TJ  =  'am  Bette'  S  am  Satzschlusse.  Apokope  vor 
consonantischem  Anlaute  liegt  femer  in  ü  vor  und  ist  in  S 
beseitigt  V.  994  'Bald  wenns  nicht  schweigen  wollt  vom 
Bett  aufstehn'  U  =  'Bald,  wenn's  nicht  schwieg,  vom  Bett' 
aufstehn'  S;  veranlasste  die  Apokope  allein  schon  die 
Änderung?  In  V.  1117  'Wie  lang  bist  du  zur  Kirch  zum 
Nachtmal  nicht  gegangen  ?'  erscheinen  mir  als  erster  Grund 
zur  Änderung  die  zwei  Apokopen  (ausser  'Nachtmal');  ein 
'lange'  und  'Kirche'  würde  den  Rhythmus  verworren  ge- 
macht haben;  darum  wurden  die  Worte  anders  gewählt, 
freilich  nun  so  dass  sie  auch  den  Katholicismus  der 
Sprecherin  hervortreten  lassen  (vgl.  oben  zu  V.  1307):  'Zur 
Messe,  zur  Beichte  bist  du  lange  nicht  gegangen'.  Wie 
viel  natürlicher  aber  ist  die  Frage  {ü)  als  die  Behauptung 
(S)  in  Gretchens  Munde! 

Obwohl  also  eine  beträchtliche  Zahl  von  Apokopen  vor 

Consonanten    beseitigt    wurde,    so   blieb   doch    eine   noch 

22* 


332  UsLiZy  Goethes  Faustredaction  1790. 

grössere  unangetastet,  ohne  dass  ich  hiefür  ein  Princip 
entdecken  könnte.  Dies  ist  um  so  auffälliger,  als  selbst 
vor  Yocalischem  Anlaute  der  apokopirte  Vocal  gelegent- 
lich eingesetzt  wurde,  wo  offenbar  dem  Ohre  des  Dichters 
die  Äpokope  empfindlicher  war  als  der  Hiatus.  Deutlich 
ist  dies  in  V.  680  'mit  Himmels  Mann'  erfreun'  ü  =  'mit 
Himmelsmanna  erfreun'  S,  Ein  Fall  leichterer  Art  ist  Y. 
369  'die  Theil  in'  U  =  'die  Theile  in'  S  und  leichtester 
Art  in  der  Prosa,  nach  V.  168  'im  Schlafrock  und'  ü  = 
'im  Schlafrocke  und'  S.  Umgekehrt  wurde  in  8  apokopirt 
Scenenanweisung  vor  1054  'Thüre'  ü  =  'Thur'  S. 

Die  Apokope  oder  Aphäresis  bei  Enklise  ist  gelegent- 
lich beseitigt:  V.  1243  'hat  's'  U  =  'hat  sie'  S;  V.  182 
'Wenns'  ü  =  'Wenn  es'  8  (vgl.  jedoch  denselben  Fall 
V.  199  u.  ö.,  wo  sie  in  S  verblieb). 

Die  Yerschleifung  des  Artikels  mit  der  vorhergehen- 
den Präposition  ist  getilgt :  Scenenanweisung  nach  Y.  450 
'übern'  ü  =  'über  den'  S  (vgl.  indess  S  1220  'über  'n'). 
Hieher  zu  zählen  sind  auch:  Scenenanweisung  nach  596 
'in  Schrein'  U  =  'in  den  Schrein'  S,  Y.  601  4n  Hörsaal'  U 
=  'in  den  Hörsaal'  S,  wo  die  Yerschleifung  den  Schein 
hervorruft,  als  wäre  der  Artikel  ausgelassen. 

Fälle  von  Synkope^),  härtere  sowohl  als  auch  leichtere, 
sind  beseitigt:  bei  dem  Präfix  Y.  755  'gnug'  U  =  'genug' S 
(238  blieb 'gnug'  stehen);  bei  dem  Adjectivsuffix  —ig  Y.  153 
'ewges'  ü  =  'ewiges'  S,  vgl.  noch  die  Y.  158.  345.  629.  908, 
951;  bei  dem  Adjectivsuffix  —  isch  Y.  344  'Spansche'  U 
=  'Spanische'  S;  im  Wortinnem:  Rattenlied  Z.  46  'Yer- 
gifftrinn'  U  =  'Yergifterinn'  S,  Y.  520  'Nachbrinn'  U  =  'Nach- 
barinn'  S,  768  'frohre'  U  =  'frohere'  Ä,  811  'Erinnrung' 
Z7= 'Erinnerung'  S ;  in  der  Nominalflexion :  nachY.  1 29  'Geists' 
U  =  'Geistes'  Ä,  Y.  403  'Tons'  U  =  'Tones'  8  (258  'Eim'  U 
ward  anderweitig  beseitigt),  752  und  862  'Praun'  ü  = 
^Frauen'  /S,   besonders  zwischen  gleichartigen  Consonanten 

*)  Vielleicht  infolge  Wechsels  des  Goetheschen  (und  allgemeinen) 
Sprachgebrauches,  wohl  auch  zu  Gunsten  des  Wohllautes  wurde  in 
der  Umgebung  von  Liquiden  anders  synkopirt:  V.  843.  895.  1007 
»eurem'  U  =  *euerm*  S  (doch  1024  schon  in  U) ,  1088  'Lachlen*  U  = 
Lächeln'  S;  vgl.  Kerkerscene  Z.  79  *lauren\ 


Baiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  333 

40t  'ein'  U=  'einen'  S,  Plohlied  Z.  103  'sein'  U=  'seinen' 
S,  V.  458  'Mein'  U  =  'Meinen'  S\  in  der  Verbalflexion 
zwischen  gleichartigen  Consonanten  Y.  460  'ohngeleit'  U 
=  'ungeleitet'  S,  503  'geknät'  U  =  'geknetet'  S,  664 
'kleidt'  U  =  ^kleidet'  S.  Ganz  geändert  musste  werden 
462  'Die  hat  was  in  mir  angezündt'  U,  da  die  synkopirte 
Form  im  Reime  steht;  S  hat  dafür  den  lückenbüssenden 
Vers  'So  etwas  hab'  ich  nie  gesehn'  im  Zusammenhange 
mit  der  Änderung  des  Vorhergehenden:  'Das  ist  ein  herr- 
lich schönes  Kind'  U  zu  'Bey'm  Himmel ,  dieses  Kind  ist 
schön!'  S.  Dagegen  sind  unter  dem  Schutze  des  Reimes 
unangetastet  geblieben:  Rattenlied  Z.  28  'angemäst',  V.  503 
'zugericht\  1065  'findt\  In  S  ward  synkopirt,  um  einen 
Auftakt  zu  gewinnen  V.  1161  'Liebes  Kind'  U  =  'Lieh's 
Kind'  S. 

Durch  Abwerfung  von  Silben  verstümmelte  Formen 
sind  hergestellt  oder  ersetzt:  V.  356  und  1331  *rüber'  U 
=  'herüber'  8,  1331  'nüber'  ü  =  'hinüber'  S,  601  "nein' 
U  ==  'hinein'  8,  1255  'n'abe'  (soll  wohl  sein:  'nahe)  U  = 
'hinunter'  8  (des  Rhythmus  wegen) ,  366  'worden'  U  = 
^geworden'  fif,  1242  'gangen'  U  =  'gegangen'  8,  1231 
'borgnen'  U  =  'verborg'nen'  iS,  492  'Gebt  mir  zum  wenigst 
vierzen  Tag'  ü  =  'Ich  brauche  wenigstens  vierzehn  Tag" 
8  (der  Rhythmus  dürfte  die  Änderung  der  übrigen  Worte 
bewirkt  haben),  895  'Es  ist  gewiss  das  erst  in  eurem  Leben^ 
ü  =  ^Ist  es  das  erstemal  in  euerm  Leben'  8  (man  beachte^ 
wie  die  Verwandlung  der  behauptenden  Form  in  die  fra- 
gende, welche  wohl  geschehen  ist,  um  den  Vers  nicht 
übermässig  auszudehnen ,  die  Ironie  abgeschwächt  hat). 
Als  Verstümmelung  dürfte  aufzufassen  sein  die  Form  4nn' 
(aus  'innen')  im  V.  58  'Sich  inn  in  deinem  Busen  klemmt'; 
8  weicht  zugleich  der  Eakophonie  der  gleichlautenden 
Wörter  aus,  indem  es  den  räumlichen  Begriff  'innen'  durch 
den  seelischen  'bang'  ersetzt. 

Befremdend  ist,  dass  die  eben  beobachtete  Unduld- 
samkeit gegen  Kürzungen  auch  die  in  der  gleichzeitigen 
Litteratur  sehr  geläufige  Form  'Jungfer'  (V.  872)  verpönte 
und    das    dem  hohen  Stile  allein  gerechte  ^Jungfrau'   ein- 


334  I^iz>  Goethes  Faustredaction  1790. 

setzte,    obwohl  nur  ^Jungfer'  als   die  übliche  Anrede   am 
Platze  ist. 

Noch  habe  ich  der  mannigfach  synkopirten  (und  im 
Druck  gekürzten)  Formen  des  Namens  'Margarethe'  in  den 
Anführungen  desselben  als  des  Namens  der  sprechenden 
Person  zu  erwähnen;  dieselben  sind  einheitlich  durch  die 
Yolle  Form  ersetzt.  Das  Diminutivum  ^Gretchen'  bleibt 
davon  unberührt;  es  wird  nicht  nur  in  den  Scenen  bewahrt, 
in  welchen  ü  diese  Form  allein  hatte,  sondern  auch  in  der 
Scene  ^Marthens  Garten^  in  S  durchgeführt,  weil  die  Kose- 
form hier  schon  in  ü  überwog.  Das  heisst  also:  der  Ge- 
brauch der  beiden  Formen  'Margarethe'  und  'Gretchen'  ist 
innerhalb  der  einzelnen  Scenen  geregelt. 

In  einer  Anzahl  von  Wörtern,  deren  Lautbestand  der 
schriftdeutschen  Form  nicht  entsprach,  sei  es  nun  dass  sie 
mit  Absicht  der  altern  Sprache  entnommen  sind  oder  dia- 
lektischen Charakter  haben,  bedurfte  es  nur  der  Änderung 
eines  Yocales  oder  Consonanten  oder  der  Zusetzung  eines 
solchen,  um  sie  correct  Schriftdeutsch  zu  machen.  Dort 
freilich ,  wo  das  derartig  zu  bessernde  Wort  im  Beime 
stand ,  wurde  eine  weitergreifende  Umgestaltung  noth- 
wendig.  Ein  solcher  Fall  begegnet  gleich  in  Vers  1 ,  wo 
die  alterthümelnde  Endung  des  Wortes  Thilosophey^  zu 
beseitigen  war;  es  musste  'Philosophie'  dafür  eintreten. 
Da  jenes  den  Eeim  trägt,  in  der  modernisirten  Form  aber 
einen  Reim  auf  Y.  3  ergibt ,  genügte  eine  Umstellung  in 
V.  2  und  die  leichte  Änderung  von  'Müh'  zu  'Bemühn' 
in  Y.  4,  um  das  zweite  Reimband  herzustellen;  nur  dass 
S  nunmehr  nicht  zwei  Reimpaare,  sondern  im  Gegensatze 
zur  folgenden  Yersgruppe  bis  Y.  32  zwei  sich  kreuzende 
Reime  hat.  Mit  dieser  Änderung  ward  zugleich  die  Über- 
einstimmung in  den  Endungen  —  'Theologie'  steht  in  ü 
vereinzelt  neben  'Philosophey',  'Juristerey'  —  erzielt.  Zwei 
Yerse  wurden  berührt  durch  die  Beseitigung  des  dialekti- 
schen 'umsunst'  im  Y.  885:  'Doch  gehts  nicht  ganz  um- 
sunst';  S  drückt  den  Gedanken  anders  aus:  'Doch  wird 
auch  was  von  uns  begehrt'.  Dieses  neue  Reimwort,  her- 
vorgerufen durch  das  'werth'  des  nächsten  Yerses,  ver- 
langte   die   Yerschiebung   des   folgenden    'Eine    Gunst  ist 


Raiz,  Goethes  Faastredaction  1790.  335 

worth  der  andern  Gunst^  U  zu  ^Ein  Dienst  ist  wohl  des 
andern  werth'  S;  das  Wort  'Gunst'  ist  vielleicht  nur  darum 
mit  'Dienst'  vertauscht,  um  den  zweisilbigen  Auftakt  'Eine' 
zu  vermeiden.  Leichter  war  die  Änderung,  weil  der  Reim 
mit  geringer  Umgestaltung  des  Ausdruckes  beibehalten 
werden  konnte,  in  Y.  587  'Ich  sag  euch  es  sind  Sachen 
drein'  U  =  'Ich  that  euch  Sächelchen  hinein'  S.  Ich  er- 
blicke in  dem  dialektischen  Gebrauche  von  'drein'  für 
schriftdeutsches  'drin'  den  Grund  zur  Änderung,  obwohl  in 
Y.  3669  des  ganzen  Faust,  einer  in  U  nicht  vorhandenen 
Stelle,  'drein'  in  gleichem  Sinne  gewahrt  ist:  'Sind  herr- 
liche Löwenthaler  drein'.  Weiter  wurde  dem  Schrift- 
deutschen entsprochen  im  Präfixe  —  un:  Y.  438  'ohnmög- 
lich'  ü  =  'unmöglich'  S ,  460  'ohngeleit'  U  =  'luigeleitet' 
S,  853  und  1 1 52  'ohugefähr'  U  =  'ungefähr'  S. 

Die  Präposition  'für',  welche  in  U  noch  als  'vor'  er- 
scheint, ist  in  S  fast  ausschliesslich  (nur  Y.  508  ist  'vor' 
geblieben)  in  der  schriftdeutschen  Form  vorhanden :  Scenen- 
anweisung  nach  Y.  402.  857.  861  'vor  sich'  U  =  'für  sich' 
S,  daher  consequenter  Weise  auch  928  'vorlieb'  U  =  'für- 
lieb' S  und  mit  rein  äusserlicher  Consequenz  im  Ratten- 
liede  Z.  42  'vor  Angst'  U  =  'für  Angst'  S,  wenngleich  die 
Präposition  hier  eine  andere  Bedeutung  hat. 

Nicht  so  durchaus  geregelt  ist  der  Gebrauch  der  For- 
men 'dann'  und  'denn',  zwischen  welchen  dem  damaligen 
Sprachstande  gemäss  Schwanken  herrscht;  doch  überwiegt 
in  S  schon  'denn'  gegenüber  dem  in  U  vorherrschenden 
'dann'.  In  der  Frage  ward  'dann'  zu  'denn'  geändert: 
Y.  659.  767.  1058.  1106.  Da  es  an  letztcitirter  Stelle  den 
Reim  trägt,  so  musste  der  ganze  Satz  geändert  werden: 
'Was  ist  dann'  ü  =  'Was  ich  kann'  S.  Hier  ist,  abge- 
sehen von  einem  metrischen  Bedenken,  wohl  auch  der 
Grund  zur  Änderung  der  ersten  Yershälfte  zu  suchen: 
'Sag  mir  doch  Heinrich'  U  =  'Yersprich  mir,  Heinrich!', 
da  die.  Antwort  'Was  ich  kann'  auf  letzteres  besser  passt; 
jedoch  ist  'Yersprich'  sinnwidrig,  da  im  Yerlaufe  des  Dia- 
loges von  einem  Yersprechen  weiter  nicht  die  Rede  ist« 
'Denn'  steht  in   l'Y.  860.     Stets  'denn'  hat  TJ  im  behaup- 


336  Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790. 

tenden  Satze  vgl.  227,  1259.    An  ersterer  Stelle  ist  es  so- 
gar in  S  durch  'dann^  ersetzt. 

Beim  consonantischen  Lautstande  kommt  zunächst  die 
Vertretung  von  dialektischem  g  durch  hochdeutsches  ch 
im  Yerkleinerungssuffix  und  im  Präteritum  des  Yerbums 
^mögen'  in  Betracht.  Das  Yerkleinerungssuffix,  welches  in 
U  ohne  Ausnahme  als  — gen  auftritt,  ist  durch  die  hoch- 
deutsche Form  — chen  ersetzt;  die  Fälle  sind  überaus 
zahlreich,  da  die  Yerkleinerung  sehr  beliebt  ist.  Ebenso 
ist  'mögt^  in  ^möchte^  gewandelt;  auch  diese  dialektische 
Form  weist  in  U  keine  Ausnahme  auf. 

Yereinzelt,  und  wie  mich  dünkt  ohne  charakterisirende 
Absicht,  in  U  auftretendes  dialektisches  'nit'  ist  dem  cor- 
recten  'nicht'  gewichen ;  am  häufigsten  kommt  es  in  'Auer- 
bachs Keller'  vor  (Z.  54.  69.  94.  102.  201  ohne  Unterschied 
der  Personen),  sonst  einmal  von  Mephistopheles  (Y.  676), 
einmal  von  Marthe  (735)  und  zweimal  von  Gretchen  (1061 
und  1273)  gesprochen. 

Alte,  wohl  im  Dialekte  noch  bewahrte  Formen,  'ehe' 
in  comparativem  Sinne  (402)  und  'hie'  (571)  wurden  zu  den 
geläufigen  'eher'  und  'hier'  ergänzt;  durch  den  Beim  ge- 
schützt blieb  'hie'  Y.  605. 

An  diese  Gruppe  sohliesse  ich  die  Änderung  von  'thö* 
rig'  (238  und  610)  zu  dem  in  der  Schriftsprache  festge- 
setzten 'thöricht'  an,  obwohl  es  sich  hier  um  eine  Yer- 
schiedenheit  in  der  Wortbildung  handelt. 

Einen  vereinzelten  Fall  von  Änderung  des  Genus 
schalte  ich  ein:  im  Battenliede  Z.  26  wird  das  dialektische 
Masculinum  'ein  Ratt'  zum  correcten  Femininum  'eine 
Batt"  gebessert. 

Der  Ersatz  der  im  Dat.  Sing,  belegten  Form  'Pulten' 
durch  die  gebräuchliche  Form  'Pult':  Scenenanweisung  vor 
Y.  1  'am  Pulten'  ü  =  'am  Pulte'  S  (letztere  Form  schon  in 
U  36  'An  diesem  Pult')  leitet  uns  zu  den  Flexionsände- 
rungen hinüber.^) 

')  Ygl.  Yierteljahrschrift  1,  55.  291.  Albert  Leitzmann 
in  Halle  sendet  mir  folgende  Notiz :  'Der  Dativ  'am  Pulten' 
begegnet    noch   ein  drittes  Mal   beim  jungeo  Goethe:    im 


Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  337 

In  der  nominalen  Flexion  zeigt  sich  das  Streben  nach 
Einheitlichkeit  darin ,  dass  die  Flexion  von  ^Sinn'  und 
'Wurm'  geregelt  wurde.  Bei  ersterem,  welches  in  U  starke 
und  schwache  Form  im  Plural  hat,  ist  in  S  die  schwache 
Pluralflexion  durchgeführt,  vielleicht  der  Consequenz  halber, 
weil  'Sinnen'  zweimal  im  Reime  gebunden  ist.  Vgl.  V.  78 
Acc.  und  586  Nora.  'Sinnen'  U  =  S^  beidemal  im  Reime; 
127  Nom.  'Sinne'  U  =  'Sinnen'  S  im  Versinnem  (die  bei- 
den andern  Fälle  von  [7  331  Acc.  'Sinnen'  und  Prosascene 
'Faust .  Mephistopheles'  Z.  63  Acc.  'Sinne'  fehlen  in  8). 
Von  'Wurm'  findet  sich  in  U  zweimal  die  alte  Pluralbil- 
dung 'Wärme'  (V.  50  und  'Auerbachs  Keller'  Z.  65),  da- 
neben einmal  die  jüngere  Form  'Würmer'  (V.  248);  S  hat 
letztere  durchgeführt. 

Der  Plural  auf  s  ist  beseitigt:  V.  14  'Docktors'  U  = 
'Doctoren'  8  ('Professors'  ebenda  fiel  aus  andern  Gründen), 
1008  'Frauens'  U  =  'Frauen'  8  (vgl.  Vierteljahrschrift  2, 
551  f.). 

Eine  syntaktisch  richtige  Flexion  ist  zu  Gunsten  des 
Wohllautes  geändert:  V.  257  'allem  gutem'  U  =  'allem 
guten'  8;  umgekehrt  nach  Goethes  Sprachgebrauch  (vgl. 
Scenenanweisung  nach  V.  1035  'ihre  beyde  Hände'  8):  V. 
693  'meine  lieben  Frauen'  U  =  'meine  liebe  Frauen'  8. 

Die  verbale  Flexion  ward  von  dialektischen  und  archai- 
stischen Formen  gereinigt.  Der  dialektische  Imperativ  im 
Flohliede  (Z.  106  f.)  'mess'  wurde  zu  'miss'  berichtigt,  das 
archaistische  Präteritum  'stund'  (V.  990)  in  das  schrift- 
deutsche 'stand'  geändert.  Von  den  archaistischen  Präte- 
ritalformen  'hett  (hette)'  und  'thät',  welche  die  beiden 
volksmässigen  Lieder  in  'Auerbachs  Keller'  zahlreich  auf- 
weisen, ist  nur  erstere  zu  'hatte'  oder  'hätte'  modernisirt, 
wogegen  letztere  unberührt  blieb.    Dass  im  'König  in  Tule' 


Concept  zu  einer  später  geänderten  Stelle  des  'Werther' 
bei  Scholl,  Briefe  und  Aufsätze  ^  S.  144  heisst  es:  'Albert 
stand  am  Pultem',  wo  'Pultem'  sicher  für  'Pulten'  verdruckt 
oder  verschrieben  ist.  Grammatisch  scheint  mir  die  Form 
trotz  Kögels  Zweifel  als  schwach  flectirter  Dativ  eines 
Hasculinums  aufzufassen  zu  sein.'  Sift. 


338  Baiz,  Goethes  Fauetredaction  1790. 

(V,  612)  'hett'  im  Reime  steht,  hat  eine  vollständige  Um- 
gestaltung der  Strophe  nothwendig  gemacht.  Die  Form 
'thät'  gab,  wohl  zugleich  mit  der  dialektischen  Umschrei- 
bung und  der  grammatisch  unrichtigen  Wortstellung,  An- 
lass  zur  Änderung  in  V.  1269  'Wenn  thät  ein  armes 
Mägdlein  fehlen'  U  =  'Sah  ich  ein  armes  Mägdlein  feh- 
len' 8. 

Unflectirte  attributive  Adjectiva  erhalten  gelegentlich 
die  Flexion  r  V.  370  'Das  geistlich  Band'  U  =  'Das  gei- 
stige Band'  S,  258  'Eim  leidlich  Geld'  U  =  'Leidlichem 
Geld'  S,  832  'Mein  wohlgemessen  Theil'  U  =  'Mein  wohl- 
gemessnes  Theil'  S.  Doch  bleibt  noch  eine  Anzahl  solcher 
Fälle  stehen  vgl.  52.  217.  384.  394.  398  u.  ö.  Zur  Ver- 
meidung des  unflectirten  Pronomens  dürfte  in  V.  875  ge- 
ändert worden  sein  'vor  solch  Herrn'  IT  =  'vor  dem  Herrn' 
S ,  zum  Schaden  des  Sinnes ,  da  das  ausgefallene  'solch' 
den  Inhalt  der  vorhergehenden  Verse  in  sich  begreift;  die 
Flexionsendung  beizufügen,  liess  der  Rhythmus  nicht  zu.  — 

Ferner  wurden  frei  attributiv  gebrauchte  Substantiva, 
welche  im  Sinne  eines  ersten  Compositionstheiles  unflectirt 
an  andere  angerückt  sind ,  flectirt  und  somit  aus  ihrer 
engen  Verbindung  gelöst:  Scenenanweisung  vor  V.  719 
'Nachbarinn  Haus'  V  =  'Der  Nachbarinn  Haus'  S,  882 
'Nachbaar  Marthen'  V  ==  'Nachbars  Marthen'  S, 

Freie  oder  ungebräuchliche  Zusammensetzungen  wurden 
beseitigt  oder  durch  die  gebräuchlichen  ersetzt:  V.  957 
'Liebaustheilenden'  V  =  'liebevoll  austheilenden'  S,  1328 
'ahnde  voller'  JJ  ===  'ahndungsvoller'  S  (so  schon  U  1*186), 
31  'Würkungskrafft'  IJ  =  'Wirkenskraft'  S.  Die  unge- 
heuerliche Zusammensetzung  'Brandschande  Maalgebuti:' 
(1326  vgl.  Vierteljahrschrift  t,  60)  wurde  ganz  fallen  ge* 
lassen;  aber  damit  ging  auch  der  charakteristische  Zug  von 
Gretchens  Aberglauben,  welcher  dessen  Seelenpein  er- 
höht, verloren.  Dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  gab 
Goethe  nach,  indem  er  für  das  Compositum  'Herzenswille' 
das  üblichere 'Herzenswunsch'  setzte:  V.  599  'Nach  eurem 
Herzens  Will'  JJ  =  'Nach  Herzens  Wunsch  und  Will'  S, 
wodurch  allerdings  das  Compositum  'Herzenswille'  nicht 
beseitigt  ist,  aber  doch  nicht  unmittelbar  ins  Ohr  fällt. 


Raiz,  Goetlies  Faustiedaction  17dO.  339 

Es  erhellt  schon  aus  dem  bisher  Betrachteten,  dass 
sich  Goethe  in  der  Wahl  der  Formen  und  Worte  strenger 
an  das  anschliesst ,  was  im  schriftdeutschen  Sprachge- 
brauche conventionell  eingebürgert  ist.  Die  Reihe  der 
folgenden  Fälle  wird  diese  Beobachtung  noch  erweitern 
und  verstärken.  Was  Goethe  als  archaistisch  oder  dialek- 
tisch der  Form,  aber  auch  der  Bedeutung  nach  empfunden 
haben  mag,  ja  was  nur  nicht  der  gewählten  Sprache  an- 
gehörte, suchte  er  zu  berichtigen,  zu  beseitigen,  zu  er- 
setzen. Deshalb  musste  auch  Idiotistisches  entfernt,  Derbes, 
Drastisches,  Sinnliches  gemildert,  die  Spuren  seines  Jugend- 
stiles getilgt  werden. 

Als  Archaismen,  die  im  Dialekte  vielleicht  noch  leben- 
dig waren,  dürften  aufzufassen  sein  Y.  763  ^Schmeid',  855 
^Geding\  wenn  nicht  ersteres  unter  die  bei  Goethe  sehr 
beliebten  Kürzungen  gehört;  jenes  erhielt  die  schriftdeut- 
sche Form  'Geschmeide',  dieses  ward,  da  es  durch  den 
Reim  geschützt  ist,  durch  die  Änderung  in  'Beding'  ihr 
wenigstens  genähert. 

Aus  dem  Bibeldeutschen  stammt  die  Form  ^ehrbietig' 
(Scenenanweisung  nach  Y.  442  und  752);  sie  ward  zum 
geläufigen  ^ehrerbietig'  erweitert. 

Dialektische  Bildungen  sind  berichtigt:  Y.  367  4ebigs' 
U  =  'lebendiges'  S,  368  'Muss  erst  den  Geist  herauser 
treiben'  U  =  'Sucht  erst  den  Geist  heraus  zu  treiben'  S, 
1244  'ein  gespatzieren'  [7=  'ein  Spatzieren'  S,  1267  'Häxel' 
U  =  'Häckerling'  S.  Ersetzt  ward  als  im  Schriftgebrauche 
nicht  geläufig  und  kaum  verständlich:  185  'einweil'  U  = 
'nur  immer'  S,  1016  'letzt'  U  =  'jüngst'  S.  Als  incorrect 
der  Bedeutung  nach  musste  das  'gar',  dessen  ursprüng- 
lichen Sinn  im  Schriftdeutschen  nur  mehr  feste  Yerbindungen 
gewahrt  haben,  in  der  Z.  179  von  'Auerbachs  Keller': 
'Uns  ist  gar  kannibalisch  wohl'  einem  'ganz'  weichen.  Mit 
ungewöhnlicher  Bedeutung  erscheint  das  Wort  'taub'  im 
Y.  1282  'Mit  tauben  Schmerzen'  gebraucht  (vgl.  Yiertel- 
jahrschrift  1,  59);  es  ward  in  'tausend'  geändert  und  so- 
mit die  sinnliche  Yorstellung,  welche  'taub'  noch  gibt,  ver- 
geistigt. 

Als  dialektisch  beschränkte  oder  der  Umgangssprache 


340  Raiz,  Goethes  Fauetredaction  1790. 

angehörige  Wörter  durften  vielleicht  noch  gelten  und 
niussten  den  gemeingiltigen  und  gewählten  Platz  machen: 
V.  659  'petzt'  U  =  'kneipt'  S,  1 432  'brozzelt'  U  =  'siedet' 
5.  Aber  das  Streben,  die  Sprache  zu  heben,  ergriif  auch 
ein  Wort  wie  'Spinnrocken'  (Scenenanweisung  vor  V.  1066) 
und  änderte  es  in  'Spinnrad';  und  das  volksthümlich  an- 
klingende, naive  'heime'  (Scenenanweisung  nach  Y.  1267) 
ward  zu  dem  vornehmern  'nach  Hause'  erhöht.  Dagegen 
stellt  sich  ein  vereinzelter  Fall  ein,  in  welchem  ein  volks- 
thümlicheres  Wort,  seiner  präciseren  Bedeutung  wegen,  in 
S  eingeführt  ward:  Plohlied  Z.  123  'jagen'  U  =  'jucken' 
5,  allerdings  an  einem  Orte,  wo  die  volksthümliche  Form 
durchaus  herrscht. 

Eine  idiotistische  Neubildung  Y.  767  'Neugierde'  (als 
Yerbum!)  ist  durch  'Yerlange'  ersetzt;  das  ohne  sprach- 
liche Berechtigung  in  reflexivem  Sinne  gebrauchte  'ab- 
wendend' (Scenenanweisung  nach  Y.  130)  zu  'abgewendet' 
gebessert. 

Der  Ausdruck  sollte  aber  nicht  bloss  der  Form  nach 
gewählt,  sondern  auch  inhaltlich  edel  und  massvoll  sein. 
Auf  diese  Weise  ging,  durch  Beseitigung  oder  Milderung 
eines  Wortes,  mancher  naturalistische  Zug,  einem  derbern 
Striche  in  der  Charakterzeichnung  gleichend ,  verloren. 
Goethe  verfuhr  wie  hinsichtlich  der  äussern  sprachlichen 
Form,  so  auch  in  Bezug  auf  die  in  den  Worten  gegebene 
Charakteristik  nivellirend  im  Sinne  des  hohen  Stiles.  So 
erschien  ihm  zu  drastisch  das  'Guckguck'  in  Gretchens 
Munde:  Y.  637  'Was  Guckguck  mag  dadrinne  seyn'  ?7; 
es  wurde  daraus  'Es  ist  doch  wunderbar!  Was  mag  wohl 
drinne  seyn?'  S,  Zu  gewöhnlich  lautet  ihm  nun,  was  Lies- 
chen als  Mädchen  aus  dem  Yolke  sagt  in  Y.  1264  'Er  ist 
auch  durch';  gewählter  klingt,  was  in  /S  steht:  'Er  ist  auch 
fort'.  Zu  derb  ist  es,  wenn  Frosch  in  'Auerbachs  Keller' 
Y.  445  zum  'sauffen'  auffordert;  in  S  spricht  er  gemässigter 
vom  'trinken'.  Etwas  gemildert  ist  wohl  auch  die  Derb- 
heit, wenn  ebenda  Y.  451  f.  'Esel!  Schwein!  Muss  man 
mit  euch  nicht  beydes  seyn'  umgestaltet  ward  zu  'Doppelt 
Schwein!  Ihr  wollt'  es  ja,  man  soll  es  seyn!'.  Als  zu 
niedrig  wurden  einige,    vermuthlich  der  Yolkssprache  ent- 


Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  341 

nommene  Redensarten  befunden  und  entweder  umschrieben: 
Y.  372  'Bohrt  sich  selbst  einen  Esel'  U  =  'Spottet  ihrer 
selbst'  /S,  oder  ganz  gestrichen:  Y.  667  f.  'Hätt  einer  auch 
Engelsblut  im  Leibe,  Er  würde  da  zum  Heerings  Weibe' 
U.  Durchaus  anstossig  war  der  unverhüllte  Ausdruck  der 
Sinnlichkeit  Y.  1098  'Mein  Schoos!  Qott!  drängt  sich  nach 
ihm  hin'  ü;  der  Gedanke  ward  in  S  so  gewendet,  dass  er 
auch  seelisch  zu  verstehen  ist:  'Mein  Busen  drängt  sich 
nach  ihm  hin'. 

In  einigen  Fällen  zeigt  sich  das  Streben  nach  Correct- 
heit  in  der  Präoisirung  des  Ausdruckes:  Y.  1050  ist  ^Oe- 
spräch'  durch  das  präcisere  'Gered'',  Scenenanweisung  nach 
Y.  634  'Sachen'  durch  'Kleider'  ersetzt,  welch  letztere  die 
Yolkssprache  unter  'Sachen'  an  und  für  sich  versteht. 
Einem  unklaren ,  missverständlichen  Worte  ward  ausge- 
wichen durch  die  Änderung  Y.  1314  'Und  im  verblätterten 
Bücheigen'  U  =  ^Aus  dem  vergriffnen  Büchelchen'  S. 
Auch  mit  der  Änderung  Y.  580  'weggeschmolzen'  ü  == 
'hingeschmolzen'  S  ist  der  Wortsinn  verdeutlicht  worden. 
Y.  987  steht  in  U:  ^Wars  freundlich  zappelich  und  gros'. 
Der  Sinn  ist:  in  meinem  Schoos  war  das  Eind  freundlich 
und  zappelig  und  ward  gross,  wobei  das  'ward'  aus  Y.  985 
in  U  ergänzend  vorschweben  mochte.  Für  S  war  dieser 
Bezug  nicht  genau  genug,  es  wurde  vor  'gross'  ^ward'  ein- 
gesetzt; danach  störte  die  asyndetische  Zusammenstellung 
'freundlich  zappelich'  im  ersten  Satzgliede  und  so  wurde 
aus  'zappelich'  ein  selbständiges  Prädicat  gebildet,  wodurch 
der  Satz  wieder  dreigliedrig  wurde:  'War's  freundlich, 
zappelte,  ward  gross'  S. 

Strengere  Bildlichkeit  ward  erreicht,  indem  der  Aus- 
druck der  sinnlichen  Anschauung  gemäss  berichtigt  ward: 
Y.  815  'am  Rand  des  Todts'  C7,  eine  Metapher,  die  für 
Goethe  mehr  conventionell  und  verblasst  als  sinnlich  vor- 
gestellt scheint  (dieselbe  Metapher  in  'Götter,  Helden  und 
Wieland'  Der  junge  Goethe  2,  392  Z.  2  v.  u.) ;  in  S  liest  man 
richtiger:  'am  Rand  des  Grab's'. 

Dagegen  hat  die  Deutlichkeit  der  Anschauung  unter 
der  Änderung  von  'besteckt'  zu  'umsteckt'  und  'bestellt'  zu 
'umstellt'  in  Y.  52  f.  gelitten ;    sie  ward  vermuthlich  durch 


342  Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790. 

das  'rings'  vor  'bestellt'  hervorgerufen.  Überhaupt  macht 
diese  Stelle,  besonders  die  V.  51  f.  in  5^  der  Interpretation 
Schwierigkeit.  U  hingegen  gewährt  eine  vollkommen  klare 
Anschauung  des  'Mauerloches',  wenn  man  in  V.  52  das 
'Mit'  der  Handschrift  festhält  und  die  V.  51  f.  nicht,  wie  S 
thut,  in  den  Relativsatz  einbezieht,  sondern  das  'besteckt' 
als  Participium  den  übrigen  Participien  von  'Beschränkt' 
bis  'gestopft'  gleichstellt  und  auf  das  gemeinsame  Subject 
'Mauerloch'  bezieht.  Dieser  Deutung  gegenüber  kann  in 
S  nur  ein  Missverständniss ,  veranlasst  durch  das  schlecht 
verstandene  'und',  vorliegen;  das  'besteckt'  ist  irrthümlich 
mit  dem  'bedeckt'  syntaktisch  verbunden  worden:  der 
'Bücherhauff,  den  ein  angeraucht  Papier  umsteckt,  ist  eine 
völlig  unklare  Vorstellung. 

Die  ursprüngliche  strenge  Anschaulichkeit  wird  etwas 
verflüchtigt  durch  die  Änderung  in  den  ersten  Versen 
der  Scene  'Zwinger'.  Zu  dem  Bilde  der  Mater  dolorosa, 
welches  zum  Gekreuzigten  aufblickt,  fleht  Gretchen :  'Ach 
neige  Du  schmerzenreiche  Dein  Antliz  ab  zu  meiner  Noth'. 
Goethe  ersetzte  das  'ab  zu'  in  S  durch  'gnädig',  wahr- 
scheinlich um  die  etwas  auffällige  Zusammenstellung  dieser 
Wörtchen  zu  vermeiden  und  weil  die  Composition  'ab- 
neigen'  keine  gangbare  ist. 

Wie  Goethe  sprachlichen  Eigenheiten  auszuweichen 
und  der  Norm  des  festgesetzten  schriftdeutschen  Sprach- 
gebrauches gerecht  zu  werden  sucht,  zeigt  eine  Anzahl  von 
Fällen,  in  denen  einfache  Verba,  in  U  mit  der  vollen 
Stärke  ihrer  Bedeutung  als  Transitiva  verwendet,  in  8 
theils  durch  Zusammensetzung,  theils  in  der  Rection  mit 
Präpositionen  ausgestattet  wurden:  V.  493  die  Gelegenheit 
'zu  spüren'  U  =  'auszuspüren'  S ,  922  'Der  hälts'  ü  = 
'Behält's'  S,  1021  'Dass  ihn  sogleich  die  Lust  mögt  wan- 
deln' U  =  'Es  schien  ihn  gleich  nur  anzuwandeln'  iS,  915 
'und  alle  höchsten  Worte  greife'  ü  =  'Nach  allen  höch- 
sten Worten  greife'  S,  1119  'Ich  glaub  einen  Gott'  U  = 
'Ich  glaub'  an  Gott'  S.  Daneben  tritt  auch  für  den  ein- 
fachen Dativ  der  Präpositionalausdruck  ein  V.  665  'den  ich 
Margreten  schafft'  U  =  'für  Grethchen  angeschafft'  (vgl. 
'Auerbachs    Keller'    ?7  143    'Schafft  mir  einen  Bohrer'  = 


Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  343 

S  736  'Schafft  einen  Bohrer  an';  U  153  'Nun  schafft 
Wachs'  ==  S  745  'Verschafft  ein  wenig  Wachs') ;  doch  blieb 
das  einfache  Verbum  öfter  vgl.  U  b\\.  513;  dabei  Ersatz 
des  Dativs  durch  Präposition  V.  912  f.  'Und  dem  Gefühl 
und  dem  Gewühl  Vergebens  Nahmen  such'  U  ==  'Für  das 
Gefühl,  für  das  Gewühl  Nach  Namen  suche'  S.  —  Aber 
auch  der  umgekehrte  Fall  findet  sich;  es  ist  die  präposi- 
tionale  Zusammensetzung  als  ungebräuchlich  aufgegeben 
in  V.  1315  'Deinen  Gebeten  nachlalltest'  U  =  'Gebete 
lalltest'  /S,  womit  der  vorhergehende  Vers  'Und  im  ver- 
blätterten  Bücheigen'  U  in  Übereinstimmung  gebracht  ward 
'Aus  dem  vergriffnen  Büchelchen'  S, 

Verbale  Composita ,  wie  'durcherschüttern ,  durcher- 
warmen',  welche  das  Gepräge  des  Sturms  und  Dranges 
tragen,  mussten  getilgt  werden;  es  trat  an  der  bezüglichen 
Stelle  V.  1412  ein  dem  veränderten  Zusammenhange  der 
Scene  entsprechender  Vers  ein. 

Überhaupt  sind  gröbere  Spuren  des  Goetheschen 
Jugendstiles  möglichst  beseitigt.  Ungemein  häufig  kommt 
Goethes  Lieblingswort  'all',  meist  in  Verbindung  mit  folgen- 
dem Artikel  oder  Pronomen,  in  gewissen  Partien  von  U 
vor.  Es  ward  in  der  Form  geändert  43  'all  dem'  U  = 
'allem'  8 ,  ganz  vermieden  49  'all  dem'  U  =  'diesem'  iS, 
61  'all  der'  U  =  'der'  S  (was  des  Rhythmus  halber  die 
Änderung  von  'lebenden'  ü  zu  'lebendigen'  S  verlangte), 
82  'all  das'  ü  =  'mir  das'  S,  112  'All  Erden  weh  und  all 
ihr  Glück'  U  =  'Der  Erde  Weh,  der  Erde  Glück'  S,  201 
'Und  all  die  Reden'  U  =  'Ja,  eure  Reden'  S.  Sämmtliche 
eben  angeführte  Stellen  sind  aus  der  ersten  Scene.  Durch 
eine  tiefergreifende  Änderung,  deren  Grund  mit  in  der 
Häufung  des  'all'  zu  suchen  ist,  ist  dies  Wort  entfernt  in 
der  Schülerscene  336  ff.  'Doch  wünscht  ich  rings  von  aller 
Erden ,  Von  allem  Himmel  und  all  Natur  So  viel  mein 
Geist  vermögt  zu  fassen'  U  =  'Und  möchte  gern,  was  auf 
der  Erden,  Und  in  dem  Himmel  ist,  erfassen,  Die  Wissen- 
schaft und  die  Natur'  S;  beachtenswerth  ist  hier,  dass  in 
S  neben  der  Natur  auch  die  Wissenschaft  zur  Geltung 
kommt  (vgl.  oben  zu  V.  197  f.  wo  Verstand  für  Empfin- 
dungen eintritt).     Stehen  blieb  V.  1420  'all  ihr'.     Um   das 


344  Baiz,  Goethes  Faustredaction  1790. 

Yorkommen  diesem  'all'  in  U  vollständig  übersehen  zu 
lassen ,  weise  ich  noch  folgende  Stellen  aus  Theileh  nach, 
die  S  nicht  enthält:  Schülerscene  263.  270  f.,  Monolog  des 
Valentin  1374  'Und  all  und  all  mir  all  den  Flor'(!),  1379. 
1389  'alle  die  Lober',  Kerkerscene  Z.  33.  77. 

Eine  Phrase  der  Goetheschen  Jugendsprache  (vgl.  Der 
junge  Goethe  1  ,  14  Z.  7  'Wie  grosser  Hass  in  meinem 
Busen  schlug'  und  S.  143  Z.  3  v.  u.  'es  schlägt  mein  wal- 
lend Blut')  ist  beseitigt:  Y.  898  'und  was  ihm  in  Eopf  und 
Herzen  schlägt'  U  =  'was  sich  ihm  in  Eopf  und  Herzen 
regt'  iS,  infolge  dessen  in  dem  vorhergehenden  Yerse  das 
Reimwort  geändert  werden  musste  'was  sich  drinne  regt' 
U  =  'was  sich  d'rin  bewegt'  S;  ferner  1325  'Schlägt  da 
nicht  quillend  schon'  U  =  'Regt  sich's  nicht  quillend 
schon'  8. 

Als  incorrect  ward  ein  kühner  Gebrauch  eines  steigern- 
den Comparativs  vermieden  und  dem  Gedanken  durch  die 
neue  Fassung  freilich  eine  Wendung  gegeben,  die  im  Zu- 
sammenhange nicht  begründet  ist :  Y.  !  66  'Nun  werd  ich 
tiefer  tief  zu  nichte'  U  =  'Es  wird  mein  schönstes  Glück 
zu  nichte'  S. 

AufPallend  und  incorrect  mochte  Goethe  in  Y.  602 
'Als  stünden  grau  leibhafftig  vor  euch  da'  U  die  unver- 
mittelte Zusammenstellung  der  beiden  Epithet  erscheinen; 
er  lässt  in  8  das  erste  fallen  'Als  stund'  leibhaftig  vor 
euch  da',  und  schwächt  damit  das  Sinnlich  -  Anschauliche 
des  Bildes. 

Wie  Idiotistisches,  so  durfte  auch  •  Dialektisches  in  der 
Ausdrucksweise  nicht  stehen  bleiben.  Y.  584  'wo  anders- 
wo genommen'  wurde  zu  'wo  anders  hergenommen'  ge- 
bessert, die  dialektische  Construction  tl67  'Des  Menschen 
sein  Gesicht'  richtig  gestellt  'Des  Menschen  widrig  Ge- 
sicht'. Ich  glaube,  dass  in  dem  'widrig'  nur  eine  Yerstär- 
kung,  kein  sachlicher  Zusatz  liegt,  geschweige  eine  be- 
sondere Auffassung  des  Mephistopheles  angedeutet  ist ; 
denn  Gretchen  wenigstens  muss  Mephistopheles  auf  jeden 
Fall  widrig  vorkommen.  Hieher  stelle  ich  Y.  443  'dem 
Spruch  von  meiner  Muhme'  U  =  'dem  Spruch  und  meiner 
Muhme'  5,  indem  ich  annehme     die  der  Umgangssprache 


Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  345 

geläufige  Umschreibung  des  einfachen  Qenetiys  durch  den 
Fräpositionalausdruck  habe  Goethe  als  incorrect  empfunden 
und  in  /S,  allerdings  mit  einer  kleinen  Störung  des  Sinnes, 
yermieden. 

Die  Negation,  nach  dialektischem  Gebrauche  doppelt 
gesetzt,  ist  vereinfacht  Y.  495  ^Braucht  keinen  Teufel  nicht 
dazu'  TJ  =  'Brauchte  den  Teufel  nicht  dazu'  S.  Hier 
möge  der  Fall  einer  ano  tlocvov  verwendeten  Negation 
Platz  finden:  Y.  739  f.  'Darf  mich  ach  leider  auf  der  Gassen 
Nicht  in  der  Kirch  mit  sehen  lassen'  U;  in  S  liest  man 
correcter  'Darf  mich,  leider,  nicht  auf  der  Gassen  Noch  in 
der  Kirche  mit  sehen  lassen'. 

In  Y.  1257  'Auf  der  Thürbanck  und  dem  dunckeln 
Gang'  gehört  die  Ausdrucksform  'auf  dem  Gang'  vor- 
wiegend der  Umgangssprache  an;  S  hat  daher  rein  Schrift- 
deutsch 4m  dunkeln  Gang'.  Nicht  die  gewählte  Präposi- 
tion ,  sondern  der  von  ihr  abhängige  Casus  ist  Y.  475  'Ich 
schlich  mich  hart  am  Stul  herbey'  anstössig;  diese,  viel- 
leicht dialektische,  Unrichtigkeit  umging  Goethe  auf  un- 
glückliche Weise ,  indem  er  'herbey'  in  'vorbey'  änderte 
und  damit  den  Sinn  schädigte. 

Der  Form  nach  dialektisch  ist  Y.  1175  'Es  ist  ein 
Kautz  wie's  mehr  noch  geben'  (vgl.  Yierteljahrschrift  1,  54); 
S  wendet  anders  'Es  muss  auch  solche  Käuze  geben'  und 
macht  aus  dem  Satze  mit  persönlicher  Beziehung  eine 
Sentenz.  Eine  dialektische  Ausdrucksweise  enthält  Y.  1253 
'Bedauer  sie  kein  Haar';  in  8  ist  der  Aussagesatz  in  einen 
Ausruf  gewandelt:  'Bedauerst  sie  noch  gar!'  wodurch  zu- 
gleich die  Apokope  der  Flexionssilbe  des  Yerbums  ver- 
mieden ist. 

In  syntaktischer  Beziehung  sind  eine  Reihe  von  Ände- 
rungen zu  verzeichnen,  als  deren  Princip  sich  im  allge- 
meinen wieder  sprachliche  Correctheit  im  Sinne  des  Schrift- 
deutschen geltend  macht;  hiezu  tritt  noch  einerseits  die 
RQcksicht  auf  Wohllaut  und  stilistisch  glatte,  auch  auf 
rhethorisch  wirksame  Yerknüpfung  von  Sätzen  und  Satz- 
gliedern, andererseits  die  Abneigung  gegen  syntaktische 
Eigenheiten,  namentlich  des  Jugendstiles. 

Mangelnde  Satzglieder  wurden  eingefügt.     So  gelegent- 

VierteUahischrift  für  LitteratuKeschichte  III  23 


346  RaiZ)  Goethes  Faustredaction  1790. 

lieh  ein  ausgelassenes  pronominales  Subjeet  Y.  403  ^Bin 
U  =  ^Ich  bin'  S,  480  'Sprichst'  U  =  'Du  sprichst'  S,  616 
'Trank  draus  bey  jedem  Schmaus'  U  =  'Er  leert'  ihn 
jeden  Schmaus'  S  wo  der  Binnenreim  zugleich  beseitigt 
ist,  768  'Ach  wollt  hätt'  U  =  'Ich  wollt'  ich  hätt"  S,  844 
'Betrauert'  U  =  'Betraurt'  ich'  S  trotz  der  lautlichen 
Härte;  dagegen  blieb  ohne  Subjeet  Y.  904.  Die  fehlende 
Copula  ward  eingesetzt  Y.  1149  'Kahme  Schall  und  Rauch' 
U  =  ^Name  ist  Schall  und  Bauch'  S  mit  empfindlichem 
Hiatus.  Ein  fehlendes  unbestimmtes  'es'  ward  eingesetzt  : 
bei  unpersönlichem  Prädicate  Y.  499  'Was  hilft  so  grade 
zu  geniessen'  U  =  'Was  hilft's  nur  g'rade  zu  gemessen'  S, 
508  'Geht  ein  vor  allmal  nicht  geschwind'  U  =  'Geht's 
ein-  vor  allemal  nicht  geschwind'  S  (vgl.  1325  'Schlägt  da 
nicht  quillend  schon'  ü);  als  Object  Y.  652  'man  lässt 
auch  alles  seyn'  U  =  'man  lässt's  auch  alles  seyn'  5,  242 
'Wir  müssen  diesmal  unterbrechen'  U  =  'Wir  müssen's 
diesmal  unterbrechen'  S  (umgekehrt  457  'darf  ichs  wagen' 
U  =  'darf  ich  wagen'  S  weil  der  folgende  Yers  das  Ob- 
ject gibt);  endlich  bei  der  Inversion  Y.  801  'Ist  eine  der 
grösten  Himmelsgaben*  U  =  'Es  ist  eine  der  grössten 
Himmelsgaben'  S. 

Für  ein  nachdruckloses  demonstratives  'das',  welches 
sich  in  U  mehrmals  findet  und  wohl  in  dieser  Yerwendung 
der  Umgangssprache  angehört,  tritt  das  schwächere  'es' 
ein:  Y.  68  'Ist  dir  das  nicht  Geleit  genug'  U  ==  'Ist  dir 
es  nicht  Geleit  genug'  5,  852  'das  konnte  gehn  und  stehen' 
U  =  'so  könnt'  es  gehn  und  stehen'  S,  1145  'Nenn  das 
dann'  U  ==  'Nenn  es  dann'  S\  als  überflüssig  ward  es 
ganz  ausgelassen  1118  'Mein  Kind  wer  darf  das  sagen'  U 
=  'Mein  Liebchen ,  wer  darf  sagen'  8.  Ein  den  Ton 
tragendes,  flectirtes  'der'  ist  durch  die  Wahl  einer  andern 
Ausdrucksweise  beseitigt,  wobei  indess  wohl  in  erster  Linie 
der  Rhythmus  gebessert  werden  sollte  Y.  28  'Rede  von 
dem  was  ich  nicht  weiss'  U  =  'Zu  sagen  brauche ,  was 
ich  nicht  weiss'  S. 

Die  Kakophonie,  welche  der  Yerbindung  eines  solchen 
betonten  Demonstrativs  mit  folgendem  flectirtem  relativem 
'der'    anhaftet,   ist   durch  Entfernung   der  relativen   Satz- 


Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  347 

fügung  vermieden  V.  1225  'Dass  der  nun  den  sie  liebt 
verlohren  werden  soll'  U  =  ^Dass  sie  den  liebsten  Mann 
verloren  halten  soll'  S.  In  einer  Art  ano  %oivov  gesetzt 
ist  'die'  in  V.  Uli  'Für  die  ich  liebe  lies  ich  Leib  und 
Blut'  U^  auch  hier  wird  die  relative  Unterordnung  ver- 
mieden 'Für  meine  Lieben  Hess'  ich  Leib  und  Blut'  S.  Ein 
ähnlicher  Gebrauch  otvo  xocvov  findet  sich  383  'Für  was 
drein  geht  und  nicht  drein  geht',  wo  Goethe  in  S,  natür- 
lich ohne  Erfolg,  mit  einem  Beistriche  nach  'Für'  abzu- 
helfen suchte. 

Doppeltes  flectirtes  relatives  'der'  hintereinander  musste 
der  starken  Eakophonie  halber  und  um  Satzschachtelung 
zu  vermeiden  getilgt  werden  Y.  144  'der  den  kaum  mein 
Hauch  umwittert'  U  =  'der,  von  meinem  Hauch  umwittert' 
S;  leider  musste  das  den  Sinn  wesentlich  bestimmende 
'kaum'  wegen  des  Rhythmus  ausfallen. 

V.  1323  'Die  durch  dich  sich  in  die  Pein  hinüber- 
schlief' U  mit  seiner  Folge  von  einsilbigen,  gleichklingen- 
den Wörtern  ist  kakophon  und  musste  deshalb  geändert 
werden,  abgesehen  davon,  dass  das  Yerbum  reflexiv  nicht 
gebraucht  wird ;  S  hat  mit  Verstärkung  'Die  durch  dich 
zur  langen,  langen  Pein  hinüberschlief'.  Zu  Gunsten  des 
Wohllautes  ist  die  Wiederholung  desselben  Wortes  in  un- 
mittelbarer Nähe  vermieden  V.  387  'Fünf  Stunden  nehmt 
ihr  jeden  Tag'  ü  (vorher  geht  'Nehmt  euch  der  besten 
Ordnung  wahr'),  S  setzt  statt  'nehmt'  'habt'  und  benimmt 
so  dem  Satze  die  Sinnnüance  des  Rathes.  Wegen  des  un- 
mittelbar vorangehenden  'kommen'  mag  wohl  das  'Komm, 
Komm'  in  V.  582  zu  'Fort!  Fort!'  geändert  worden  sein. 
Einen  dritten  Fall  der  Wiederholung,  Y.  953,  behandle  ich 
unten.  S.  352. 

Vielleicht  hat  in  V.  548  'In  Freud  und  Schmerz  in 
offnen  Arm  empfangen'  die  missklingende  Wiederholung 
derselben  Präposition  zur  Änderung  geführt  'Bey  Freud* 
und  Schmerz  in  offnen  Arm  empfangen',  wofern  nicht,  wie 
aif  den  folgenden  Stellen ,  die  Wahl  der  Präposition  selbst 
dem  Dichter  unpassend  schien.  Während  an  dieser  Stelle 
'bei'  wenigstens  ebenso  gut  ist,  kann  der  Wechsel  der 
Präposition  in  V.  49  'beschränkt  von  all  dem  BücherhauflF' 

23* 


348  ^^z>  Goethes  Faustredaction  1790. 

J7,  wo  S  'mit'  einsetzt,  kein  glücklicher  genannt  werden, 
weshalb  seit  1816  die  alte  Lesart  wieder  auftaucht.  Cor- 
recter  gemacht  sind  V.  1205  umhüllen  'In  tiefen  Schlaf  U 
=  'Mit  tiefem  Schlaf  S,  609  Mir  läuft  ein  Schauer  'am 
ganzen  Leib'  ü  =  'über  'n  Leib'  S,  914  'in  der  Welt  — 
schweife'  U  =  'durch  die  Welt  —  schweife'  S.  Wechsel 
der  Präposition,  zugleich  mit  strengerer  syntaktischer  Ver- 
knüpfung, trat  ein  V.  644  'Drinn'  U  =  'Mit  dem'  S. 

In  der  Wortfolge  ward  gebessert  V.  121 1  'Ich  habe 
schon  für  dich  so  viel  gethan'  U  =  'Ich  habe  schon  so 
viel  für  dich  gethan'  S.  Verschoben  ist  die  Wortfolge  V. 
1241  'Sie  füttert  zwey,  wenn  sie  nun  isst  und  trinkt'  S 
gegenüber  dem  ursprünglichen  'Sie  füttert  zwey  letzt  wenn 
sie  isst  und  trinkt'  {7,  ohne  dass  ich  einen  stichhaltigen 
Grund  erkennen  kann.  Eine  im  Zusammenhange  der  Sätze 
fehlerhafte  Wortstellung  ist  berichtigt  V.  1178  Kommt  er 
einmal  zur  Thür  herein  'Er  sieht  immer  so  spöttisch 
drein'  U  =  'Sieht  er  immer  so  spöttisch  drein'  8  vgl.  V. 
1188  f. 

Bei  nebengeordneten  Sätzen,  welche  in  U  mit  dem 
Subjecte  anheben,  verwendet  S  die  Inversion  als  ein  Mittel, 
den  Fluss  der  Rede  zu  befördern  und  dadurch  ihre  Leb- 
haftigkeit zu  steigern :  V.  339  'Ihr  seyd  da'  U  =  'Da  seyd 
ihr'  S ,  670  'Es  fängt  ihr  heimlich  an  zu  grauen'  U  == 
'Gleich  föngt's  ihr  heimlich  an  zu  grauen'  5,  vgl.  664  'Es 
kleidt  dich  gut'  ü  =  'Dich  kleidet's'  S,  wo  indess  der  erste 
Grund  der  Änderung  ein  lautlicher  ist,  und  852  'das  konnte' 
JJ  =  ^80  könnt'  es'  S. 

Auf  den  Anschluss  und  die  Verbindung  der  Sätze 
untereinander  verwendete  Goethe  auch  in  logischer  Be- 
ziehung Sorgfalt  und  berichtigte  demgemäss  ihre  äussere 
Form.  In  V.  1018  'Es  konnte  niemand  von  dir  Übels 
sagen'  U  fällt  es  auf,  dass  Gretchen  sich  selbst  apostro- 
phirt,  während  erst  der  nächste  Vers  das  dafür  entschei- 
dende 'dacht  ich'  bringt;  logischer  ist,  wie  S  thut,  den 
Vers  an  das  Vorhergehende  anzuschliessen  und  'mir'  statt 
'dir'  zu  setzen.  Logischer  und  gefalliger  im  Anschlüsse, 
auch  wohlklingender  ist  V.  1252  die  Fassung  von  S  'Da 
ist  denn  auch  das  Blümchen  weg',  aber  für  Lieschen  pas- 


Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  349 

Bender  die  eckigere  Form  ^Ja  da  ist  dann  das  Blümgen 
weg'  TT.  Ein  logisch  abhängiger  Satz  ward  auch  äusser- 
lich  als  solcher  gestaltet  Y.  673  f.  Und  riechts  einem  ieden 
Meubel  an  ^Ist  das  Ding  heilig  oder  profan'  U  =  'Ob  das 
Ding  heilig  ist  oder  profan'  S.  In  der  Satzfolge  ist  for- 
mell gebessert  Y.  t429  'Was  muss  geschehn,  mag^s  gleich 
geschehn'  S,  wogegen  U  logisch  richtiger  den  wichtigern 
Satz  vorausnimmt  'Mags  schnell  gesehen  was  muss  ge- 
schehn'. 

Eine  der  Umgangssprache  entlehnte  Freiheit  in  der 
Yerwendung  des  Infinitivs  mit  'zu'  liegt  vor  Y.  1 79  f.  'Man 
weis  nicht  eigentlich  wie  sie  zu  guten  Dingen  Durch  Über- 
redung hinzubringen'  U;  formell  strenger  und  in  der  Aus- 
drucksweise gehoben  ist  'Kaum  durch  ein  Fernglas,  nur 
von  weiten,  Wie  soll  man  sie  durch  Überredung  leiten'  S^ 
was  zur  Hälfte  den  Gedanken  von  Y.  178  fortsetzt.  Ähn- 
lich frei  gebaut  und  auch  logisch  bedenklich  ist  Y.  849 
'Ihm  fehlte  nichts  als  allzugern  zu  wandern'  {7,  was  S  in 
die  Form  'Er  liebte  nur  das  allzuviele  Wandern'  umgiesst. 
Formell  und  dem  Sinne  nach  untadelig  scheint  Y.  926 
'Herab  sich  lässt  bis  zum  Beschämen'  (7,  und  doch  ändert 
S  in  sinnstörender  Weise:  'mich  zu  beschämen'. 

Zu  knapp  und  gedrungen,  gleichsam  zu  scharfkantig 
mochte  Goethes  am  Ebenmasse  antiker  Bildwerke  ge- 
schultem Auge  das  Satzgebilde  Y.  1356—8  'Yerbirgst  du 
dich!  Blieben  verborgen  Dein  Sund  und  Schand!'  ü  er- 
scheinen ;  aber  wie  viel  sprechen  die  wenigen  Worte,  deren 
keines  entbehrlich  ist ,  in  concentrirter  Form  aus ,  wie 
wirkungsvoll  und  mit  wie  einfachen  syntaktischen  Mitteln ! 
Nur  die  Frageform  im  ersten  und  die  Optativform  im 
zweiten  Theile,  kein  Formwort  bezeichnet  das  logische 
Yerhältniss  beider  Sätze.  Wie  scharf  klingt  die  unmittel- 
bare Gegenüberstellung  der  contrastirenden  Worte ,  wie 
wuchtig  der  Abschluss!  Selbst  der  jähe  Übergang  des 
steigenden  in  den  fallenden  Rhythmus  prägt  den  Contrast 
aus.  Alles  dies  ist  in  8  abgeschwächt,  ausgeglichen,  stili- 
sirt:  'Yerbirg  dich!  Sund*  und  Schande  Bleibt  nicht  ver- 
borgen'. Der  zweite  Satz  ist  seiner  Beziehung  auf  Gret- 
chen  äusserlich  entkleidet  und  zur  Sentenz  geformt. 


350  Baiz,  Goethes  Faustredaction  1790. 

Dasselbe  Bedürfniss  ausgleichenden  Stilisirens  faeisst 
kurze  Ausrufe,  in  denen  der  Gedanke  zusammengefasst  ist, 
in  Sätze  auflösen:  V.  144  'Du!'  U  =  'Bist  du  es?'  S  (vgl. 
Kerker  Z.  55  'Du?'  =  Bist  du  es?),  1336  'Der  Posaunen 
Klang!'  U  =  'Die  Posaune  tönt'  S,  Hier  setzt  S  über- 
dies statt  des  Plural  von  U  den  collectiven  Singular;  bei 
dieser  Gelegenheit  will  ich  der  Änderung  in  V.  465  'Der 
Lippen  Roth  der  Wange  Licht'  U  gedenken.  Sollte  ein 
Ausgleich  zwischen  dem  Plur.  'Lippen'  und  dem  Sing. 
'Wange'  stattfinden,  so  würde  man  beidemal  den  Plural, 
als  der  Wirklichkeit  entsprechend,  erwarten ;  allein  Goethe 
zog  den  Singular  vor,  also  die  Lippe,  die  Wange  an 
und  für  sich  —  wieder  ein  Entfernen  vom  Naturalisti- 
schen. 

Ein  elliptischer  Satz  ward  beseitigt:  'König  in  Tule' 
(615)  'Der  Becher  war  ihm  lieber'  (sc.  als  alles  andere)  U 
=  'Es  gieng  ihm  nichts  darüber'  8. 

In  der  Verknüpfung  der  gleichartigen  Satzglieder  eines 
zusammengezogenen  Satzes,  welche  in  U  meist  durch  'und' 
verbunden  sind,  zeigt  S  eine  Vorliebe  für  Wiederholung 
des  gemeinsamen  Satzgliedes.  So  wird  gerne  die  Ana- 
phora angewendet:  V.  7  'Heisse  Docktor  und  Professor 
gar'  C  =  'Heisse  Magister,  heisse  Doctor  gar'  S,  1000 
'Doch  schmeckt  dafür  das  Essen  und  die  Ruh'  U  =  'Doch 
schmeckt  dafür  das  Essen,  schmeckt  die  Ruh'  8^  112  'AU 
Erden  weh  und  all  ihr  Glück'  U  =  'Der  Erde  Weh,  der 
Erde  Glück'  S,  wo  das  wiederholte  Wort  zugleich  die 
durch  Beseitigung  des  'all'  ausfallende  Hebung  ersetzen 
musste. 

Nach  demselben  Principe  ward  verknüpft  V.  605  'so 
schwül  und  dumpfig'  ü  =  'so  schwül,  so  dumpfig'  8^  mit 
Wiederholung  des  Relativums  140  'und  mit  Freude  Beben' 
U  =  'die  mit  Preudebeben'  S,  ebenso  51  'Und  bis  ans 
hohe  Gewölb  hinauf  U  =  'Den  bis  an's  hohe  Gewölb 
hinauf  8. 

Diese  Vorliebe  hat  im  V.  850  'Und  fremde  Weiber 
und  der  Wein'  U  sogar  das  'fremd'  in  8  wiederholt  'Und 
fremde  Weiber  und  fremden  Wein',  wodurch  der  Wein  in 
ganz  überflüssiger,  ja  sinnstörender  Weise  specialisirt  wird. 


Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  351 

Zeigt  sich  in  den  angeführten  Fällen  die  Neigung,  das 
'und'  durch  bedeutungsvolle  Wörter  zu  ersetzen,  was  den 
Satz  ohne  Zweifel  rhetorisch  wirksamer  macht,  so  ist  an 
einer  andern  Stelle  das  'und'  ausgefallen,  wo  es  gehäuft 
als  rhetorisches  Mittel  sehr  wohl  am  Platze  war:  Y.  91t 
— 15  'Wenn  ich  empfinde  Und  dem  Gefühl  und  dem  Ge- 
wühl Yergebens  Nahmen  such  und  keine  Nahmen  finde. 
Und  in  der  Welt  mit  allen  Sinnen  schweife  Und  alle  höch- 
sten Worte  greife'  U=  'Wenn  ich  empfinde,  Für  das  Ge- 
fühl, für  das  Gewühl  Nach  Namen  suche,  keinen  finde. 
Dann  durch  die  Welt  mit  allen  Sinnen  schweife.  Nach 
allen  höchsten  Worten  greife'  S.  Neben  dem  Polysyndeton 
hat  hier,  wie  ich  schon  ausgeführt  habe,  die  Verbindung 
der  Prädicate  mit  directem  Objectscasus ,  auch  wohl  das 
doppelte  'Nahmen'  Anstoss  erregt.  —  Der  Charakteristik 
nachtheilig  ward  die  Yereinfachung  der  Ausdrucksweise, 
bei  welcher  auch  ein  'und'  ausfiel,  V.  985  'Mit  Wasser  und 
mit  Milch,  und  so  wards  mein'  U  =  'Mit  Milch  und 
Wasser,  so  ward's  mein'  S;  wie  gut  spiegelt  sich  in  der 
wortreichen  Ausführlichkeit  Gretchens  Yolksart !  S  geht  der 
naturalistischen  Treue  der  Nachahmung  aus  dem  Wege. 
Vgl.  noch  V.  1 203  'Hier  ist  ein  Fläschgen  und  drey  Tropfen 
nur'  U  =  'Hier  ist  ein  Fläschchen,  drey  Tropfen  nur'  S, 
664  'das  Rasen  und  das  Toben'  U  =  'wie  ein  Rasender 
zu  toben'  S. 

'Und'  ist  durch  das  bedeutendere  'auch'  ersetzt  V.  793 
'Und  er  bereute'  ü  =  'Auch  er  bereute'  S,  was  eine  dem 
Sinne  nach  incorrecte  Wortstellung  ergab.  Eine  syntak- 
tisch freie  Ausdrucksweise  ward  geregelt,  wodurch  das  ver- 
bindende 'und'  ausfiel,  V.  951  'Und  weit  verständger'  U  = 
'Sie  sind  verständiger'  S. 

Anderwärts  erachtete  Goethes  Geschmack  eine  An- 
knüpfung mit  'und'  für  passend,  wo  sie  in  U  fehlt:  V.  702 
'Sie  wahren  sehr  erbaut  davon'  U  =  'Und  sie  waren  sehr 
erbaut  davon'  S^  ein  pointirter,  abschliessender  Satz,  dessen 
Wirkung  durch  den  Anschluss  ans  Vorhergehende  ge- 
schwächt ward.  Eine  Besserung  dagegen  ist  V.  821  'Ich 
konnte'  U  =  'Und  konnte'  S. 

Anstössig   erschien  dem  Dichter   das  Asyndeton ,  viel- 


352  ^iz»  Goethes  Faustredaction  1790. 

leicht  auch  die  herauszulesende  Steigerung  der  Begriffe 
V,  1120  'Magst  Priester,  Weise  fragen'  £/,  daher /S:  'Magst 
Priester  oder  Weise  fragen'.  Ein  gleicher  Fall  ward,  je- 
doch auf  andere  Weise,  beseitigt  Y.  1414  'Ha  bin  ich 
nicht  der  Flüchtling,  Unbehauste'  U  =  'Bin  ich  der  Flücht- 
ling nicht,  der  Unbehauste'  S. 

Satzschachtelung  und  die  unpoetische  subordiqirte  Satz- 
fügung ward  vermieden  und  der  Fluss  der  Sprache  und 
des  Rhythmus  dadurch  gehoben  Y.  952  f.  'Glaube  dass 
was  man  so  verständig  nennt,  Mehr  Kurzsinn,  Eigensinn 
und  Eitelkeit  ist'  U  =  'Glaube,  was  man  so  verstandig 
nennt,  Ist  oft  mehr  Eitelkeit  und  Kurzsinn'  S.  Zugleich  ist 
der  Kakophonie  'Kurzsinn  Eigensinn'  hiemit  ausgewichen. 
Auch  sonst  noch  sind  durch  Änderungen,  welche  aus  an- 
deren Gründen  erfolgten  und  die  ich  schon  besprochen 
habe,  subordinirte  Sätze  beseitigt,  und  zwar:  kurze  Re- 
lativsätze durch  Yerwendung  des  Participiums  Y.  144,  665, 
von  Substantiven  Y.  IUI.  1225,  ein  dass-Satz  durch  Yer- 
wandlung  in  einen  Hauptsatz  Y.  1021. 

Ich  trage  nun  eine  Anzahl  von  Fällen  nach,  welche 
bisher  nicht  wohl  einzureihen  waren,  weil  sie  vereinzelt 
stehen  oder  nicht  sicher  beurtheilt  werden  können. 

Da  ist  zunächst  eine  rhetorische  Hervorhebung  Y. 
1367  'Schauerts  ihnen.  Den  Reinen'  ü  =  'Schauert's  den 
Reinen'  S  und  ein  auffalliger  Dativus  ethicus  Y.  386  'Nehmt 
euch  der  besten  Ordnung  wahr'  U  =  'Nehmt  ja  der  besten 
Ordnung  wahr'  S  beseitigt.  Eine  ungewöhnliche  Ausdrucks- 
weise  hinter  Y.  1035  ^er  fasst  ihr  beyde  Hände'  U  ist  zur 
gangbaren  umgeformt  'er  fasst  ihre  beyde  Hände'  S.  Der 
Singular  Y.  1316  'Einderspiel'  U  ist  wohl  nur  deshalb  in 
den  Plural  abgeändert  worden,  weil  das  Wort  im  abstracten 
Sinne  nicht  üblich  ist. 

In  folgenden  Fällen  ward  der  bestimmte  Artikel  als  in 
dem  gegebenen  Zusammenhange  weniger  gebräuchlich  in 
S  weggelassen;  denn  man  pflegt  nicht  zu  sagen  'ich  stu- 
dire  die  Philosophie  (Y.  1),  die  Theologie  (Y.  2)',  auch 
seltener  'ich  glühe  vom  neuen  Wein'  (Y.  110  U)  als  'von 
neuem  Wein'  (jS).  Der  Umgangssprache  entstammt  der 
Gebrauch  des   Artikels  bei  Eigennamen  Y.  480    'wie    der 


Eaiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  353 

Hanns  Lüderlich'  U;  er  ward  in  8  vermieden:  'wie  Hanns 
Liederlich'. 

Eine  Angleichung  hat  stattgefunden,  wenn  im  ^Eönig 
von  Tule'  (V.  619)  'Und  als  es  kam  zu  sterben'  ü  das 
persönliche  Subject  aus  den  folgenden  Versen  herüber* 
genommen  ward:  'Und  als  er  kam  zu  sterben'  S;  beides  ist 
sprachlich  nicht  ganz  correct ,  jedoch  ersteres  richtiger. 
Ein  äusserlich  gleicher,  aber  wesentlich  verschiedener  Fall 
ist  V.  1434  f.  'Wo  so  ein  Köpfgen  keinen  Ausgang  sieht, 
Stellt  es  sich  gleich  das  Ende  vor'  CT,  wo  S  'er'  für  'es' 
setzt;  dies  föllt  auf,  da  es  dem  sonst  beobachteten  Streben 
nach  sprachlicher  Correctheit  zuwider  läuft ;  wozu  die  Deut- 
lichkeit, da  ja  der  Zusammenhang,  besonders  Y.  1430  f., 
die  Stelle  nur  auf  Faust  beziehen  lässt?  Oder  sollte  dem 
Miss  Verständnisse  vorgebeugt  werden,  dass  der  Leser  oder 
Zuschauer,  verführt  durch  V.  1433,  unter  dem  'Köpfchen' 
Oretchen  verstehe? 

Angeglichen  scheint  an  das  Folgende  Y.  1152  'Ohn- 
gefahr  sagt  das  der  Cathechismus  auch'  CT,  indem  S  statt 
der  Sache  die  Person,  statt  des  'Cathechismus'  den  'Pfarrer' 
einführt;  denn  Y,  1155  sind  'alle  Herzen'  und  1157  'ich' 
entgegengestellt. 

Ich  habe  schon  zu  Y.  51  f.  vermuthet  und  ausgeführt, 
dass  ein  Missverständniss  der  Stelle  vorliege,  dadurch  ver~ 
ursacht,  dass  Goethe  die  zu  Grunde  liegende  Anschauung 
abhanden  kam  und  bei  der  Durchsicht  der  alten  Scene  sich 
vielleicht  eine  neue  unterschob.  Einen  ähnlichen  Yorgang 
glaube  ich  annehmen  zu  sollen,  um  die  Umgestaltung  der 
Yerse  1 1 36  f.  zu  erklären :  'Und  steigen  hüben  und  drüben 
Ewige  Sterne  nicht  herauf  U  =  'Und  steigen  freundlich 
blickend  Ewige  Sterne  nicht  hierauf  S.  'hüben  und  drü- 
ben', offenbar  im  Ost  und  West,  zu  beiden  Seiten  des 
Sprechenden,  dagegen  in  S  'hier',  zwischen  Himmel  und 
Erde.  Sprachlich  konnte  Goethe  das  'hüben  und  drüben' 
nicht  beanstanden,  da  es  zu  seinen  Lieblingswendungen, 
auch  später  noch,  gehört  (vgl.  DWB.  unter  'hüben'  und 
Lehmann,  Goethe's  Sprache  S.  339  f.).  Ein  seelisches  Ele- 
ment kam  mit  dem  'freundlich  blickend'  in  die  früher  rein 
sinnliche  Yorstellung  hinein. 


354  Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790. 

Nicht  mehr  verstanden  hat  Goethe  augenscheinlich  Y. 
1027  'Keinen  Straus?'  U,  indem  er  die  in  ihrer  Form  sehr 
berechtigte  Frage  positiv  wendete  'Einen  Straus?'  (vgl. 
Vierteljahrschrift  1,59);  vielleicht  auch  V.  885,  wo  Fausts 
Bemerkung  'Sie  ist  mir  lieb',  welche  man  sieh  wohl 
zwischen  die  Worte  des  Mephistopheles  hineingeworfen 
denken  muss,  dem  rücksichtslosen,  frivolen  'So  recht' 
wich. 

In  Y.  900  f.  scheint  Goethe  das  'in  Geist  und  Brust' 
(es  Gorrespondirt  genau  mit  Y.  898  'in  Kopf  und  Herzen') 
entweder  nicht  mehr  ganz  verständlich  oder  wegen  der 
Zusammenstellung  von  Unsinnlichem  und  Körperlichem  an- 
stössig  gewesen  zu  sein ,  was  Anlass  zur  Yerschiebung 
des  Gedankens  und  zu  der  Erweiterung  gab:  'Brust' 
blieb  als  Reim  wort  stehen,  es  ward  jedoch  der  Yers  ganz 
geändert  und  dem  vorhergehenden  angeschlossen ;  zwischen 
ihn  und  den  folgenden  sodann  ein  Reimpaar  eingeschoben, 
welches  auf  seinen  Gehalt  geprüft  zum  Theile  bedeutungs- 
loses Füllsel  aufweist  ('ihr  müsst  es  g'rad  gestehen!'). 

Schwer  zu  beurtheilen  ist,  warum  Y.  80  'Fühl  neue 
Glut'  U  zu  'Neuglühend  mir'  geändert  ward;  das  doppelte 
'Fühle'  konnte  nicht  stören,  da  doch  die  Anaphora  beliebt 
ist.  Es  ist  möglich  daran  zu  denken,  dass  das  Yerbum  in 
jedem  der  Yerse  79.  80  in  U  eine  etwas  verschiedene  Be- 
deutung hat,  aber  auch,  dass  'Fühl'  eine  Apokope  vor 
Consonant  darstellt  und  in  der  correcten  Form  einen  zu 
schweren  Auftakt  gäbe. 

Geringfügig  ist  die  Änderung  Y.  169  'hört  ich'  U  = 
'hör  ich'  S,  aber  sie  ist  eine  Yerschlechterung,  weil  nur 
ersteres  sachlich  richtig  ist  und  zu  dem  folgenden  Präteri* 
tum  'Ihr  last'  stimmt;  ziemlich  indifferent  und  lediglich  in 
Goethes  Sprachgefühl  begründet  scheinen  mir  die  Ände- 
rungen Y.  26  'werde'  U  =  'würde'  S,  700  'Als  wenns'  U 
=  'Als  ob's'  S,  446  'Ich  werd'  U  =  'Ich  will'  S,  1176 
'Mögt  nicht'  U  =  'Wollte  nicht'  S. 

Es  sei  mir  noch  gestattet,  eine  Beobachtung  zu  er- 
gänzen, welche  ich  bisher  an  zwei  Fällen  hervorzuheben 
Gelegenheit  hatte:  es  erhalten  nämlich  einige  Sätze  von 
durchaus  individuellem  Bezüge  durch  anderweitig  begrün- 


Raiz,  Goethes  Faustredaction  1790.  355 

dete  Änderungen  in  S  eine  sentenziöse  Färbung.  Der- 
gestalt ergaben  sich  die  Sätze  ^Es  muss  auch  solche  Käuze 
geben'  und  ^Sünd'  und  Schande  Bleibt  nicht  verborgen' 
aus  U  Wlb  und  1357  f.  Recht  deutlich  ist  die  Neigung 
zur  sentenziösen  Yerallgemeinerung  von  ursprünglich  sub- 
jectiv  ausgesprochenen  Gedanken  an  einigen  Stellen  yon 
^Auerbachs  Keller'  wahrzunehmen.  Ich  stelle  die  corre- 
spondirenden  Fassungen  nebeneinander:  17  4  f.  ^Kann  ich 
davor  dass  das  verflucht  niedrige  Gewölbe  so  wieder- 
schallt' =  S  564  f.  'Wenn  das  Gewölbe  wiederschallt, 
Fühlt  man  erst  recht  des  Basses  Grundgewalt';  U  159  iF. 
'Die  Franzosen  kann  ich  nicht  leiden,  so  grosen  Respeckt 
ich  vor  ihren  Wein  hab'  =  S  751  f.  'Ein  echter  Deutscher 
Mann  mag  keinen  Franzen  leiden,  Doch  ihre  Weine  trinkt 
er  gern'.  Neu  ist  in  S  744  der  allgemeine  Satz  'Das 
Vaterland  verleiht  die  allerbesten  Gaben'  hinter  17  150  f. 
derselben  Scene.  Auch  unter  den  vier  Versen,  welche  S 
am  Schlüsse  der  Scene  'Wald  und  Höhle'  hinzufügt,  haben 
drei  sentenziösen  Inhalt:  'Es  lebe,  wer  sich  tapfer  hält' 
und  'Nichts  abgeschmackters  find'  ich  auf  der  Welt,  Als 
einen  Teufel  der  verzweifelt'.  —  Aber  auch  schon  in  ü 
finden  sich  sentenziös  gefärbte  Sätze ,  von  denen  die 
meisten ,  wie  zu  erwarten  ist ,  Mephistopheles  angehören : 
V.  432  f.  777.  867  f.  886;  von  den  übrigen  spricht  je  einen 
Wagner  (205  f.),  Faust  (921  f.)  und,  wenig  passend,  Gret- 
chen  (654—6). 

Von  den  Einschaltungen,  welche  nicht  im  Gefolge 
einer  Änderung  zu  verzeichnen  waren,  ist  die  Frage  nach 
dem  Bringer  des  Schmuckes  S  1356  f.  auf  den  sachlichen 
Werth  hin  schon  behandelt  worden;  mehr  äusserlich  ist, 
dass  jS^  im  V.  862  von  U  auch  Gretchen  den  Abschieds- 
gruss  'Lebt  wohl'  sprechen  lässt;  beides  mag  von  Goethe 
im  Zusammenhange  der  Scene  vermisst  worden  sein  und 
weist  auf  grössere  Strenge  in  der  Dialogcomposition. 

Aus  rein  metrischem  Grunde,  um  ein  Reimpaar  zu  er- 
halten, ward  V.  154  zu  zwei  Versen  erweitert:  'Ein  wech- 
selnd Leben'  U  =  'Ein  wechselnd  Weben,  Ein  glühend 
Leben'  S.  Im  allgemeinen  ist,  wie  aus  der  vorgelegten 
Untersuchung    zur   Genüge    hervorgeht,    bei    AnderungeQ, 


356  "RbIz,  Goethes  Fauetredaction  1790. 

mögen  sie  sachlich  oder  formell  sein,  auf  den  Rhythmus 
nur  secundäre  Rücksicht  genommen  und  eine  Verlängerung 
und  Verkürzung  des  Verses  nicht  gescheut  worden.  Dies 
war  um  so  leichter  möglich,  als  ja  in  U  selbst  die  Verse 
über  das  Mass  der  vier  Hebungen,  das  nur  in  gewissen 
Partien,  in  dem  ersten  Theile  des  Faustmonologes  bis  V.  76 
und  dem  Monologe  Valentins,  rein  durchgeführt  jst,  je  nach 
den  einzelnen  Scenen  öfter  oder  seltener  hinausgehen  oder 
hinter  ihm  zurückbleiben.  Sehr  häufig  ward  in  Folge  von 
Änderungen  der  regelmässige  Qang  des  Rhythmus  gestört, 
in  andern,  den  seltenern  Fällen  allerdings  erst  hergestellt. 
Jcdesfalls  kam  die  metrische  Form  für  Goethe  nur  in 
zweiter  Linie  in  Betracht,  ein  Umstand,  der  mein  XJrtheil 
im  einzelnen  beeinflusst  hat.  Nichts  desto  weniger  bleibt 
ein  Rest  von  Änderungen  übrig ,  welche  sich ,  wie  es 
scheint,  allein  aus  metrischen  Gründen  erklären  lassen;  dem- 
nach ward  im  Rhythmus  gebessert:  V.  333  'Sagt  mir  erst^ 
U  =  ^Erklärt  euch'  S,  389  'Habt  euch  zu  Hause  wohl 
preparirt'  U  =  'Habt  euch  vorher  wohl  präparirt'  /S,  729 
'Frau  Marthe!  Gretgen  was  soUs?'  U  =  'Frau  Marthe! 
Grethelchen,  was  soll's?'  S,  998  'Und  immer  so  fort  heut 
und  morgen'  U  =  'Und  immer  fort  so  heut  wie  morgen' 
5,  1161  'Liebes  Kind'  U  =  'Lieb's  Kind'  S.  — 

Das  Ergebniss  dieser  Beobachtungen  gipfelt  in  folgen- 
den Sätzen:  Weitaus  die  meisten  Änderungen  sind  for- 
meller Art  und  zielen  auf  schriftdeutsche  Correctheit  ab; 
demnach  ward  Archaistisches,  Dialektisches,  Idiotistisches 
abgestreift.  Naturalistische  Wahrheit  in  Form  und  Wort- 
charakteristik, worunter  sich  Drastisches,  Derbes,  Sinn- 
liches begreift,  ward  vermieden.  Dies  zusammengefasst : 
Sprache  und  Ausdruck  wurden  dem  Niveau  des  hohen 
Stiles  genähert.  Soweit  diese  Änderungen  Gelegenheit 
boten,  und  auch  selbständig,  ward  das  individuelle  Gepräge 
verwischt  zu  Gunsten  einer  stilisirten  Allgemeinheit,  die 
sinnliche  Anschaulichkeit  zurückgedrängt  zu  Gunsten  des 
seelischen  Elementes.  Selbst  die  Änderungen  in  den 
Scenenanweisungen  entsprechen  weniger  den  theatralischen 
Anforderungen  als  diesen  allgemeinen  Stilgesetzen.  Diese 
elementaren  Züge  stimmen  durchaus   zu  der  Entwickelung, 


RaIz,  Goethes  Fausiredaction  1790.  357 

welche  der  Qoethesche  Stil  in  der  Zeit,  die  zwischen  der 
Abfassung  der  Scenen  des  Urfaust  und  der  Herausgabe 
des  Fragmentes  liegt,  genommen  hat.  Sie  zeigen  Goethe 
als  den  gereiften  Künstler,  der  von  den  Schlacken  der 
Jugendperiode  in  AuiFassung  und  Stil  befreit,  die  schöne, 
massvolle  Form  schätzen  gelernt  hat  und  die  Kraft  des 
Dichtergenius  in  die  Fesseln  der  Kunst  zwingt. 

Ergänzend  treten  zu  diesem  Bilde  die  wenigen  sach- 
lichen Änderungen,  soweit  sie  nicht  durch  Verschiebung 
im  Plane  bedingt  sind.  In  ihnen  erscheint  Goethe  überdies 
als  der  Weltmann,  der  duldsam  und  taktvoll  die  Schwächen 
und  die  Herzensmeinungen  der  ihm  nahestehenden  Kreise 
schont. 

Freilich  ging  bei  dieser  Umformung  des  Fragmentes 
gar  manchmal  die  Kraft  des  Ursprünglichen  verloren ;  doch 
der  Verlust  mag  leicht  ersetzt  sein  durch  die  höhere  Kunst. 
Bedauerlicher  ist,  dass  der  Form  bisweilen  auch  der  Inhalt 
zum  Opfer  fiel.  An  einer  nicht  ganz  unbedeutenden  Zahl 
von  Fällen  musste  eine  offenbare  Verderbniss,  an  andern 
wenigstens  eine  Verschlechterung  des  Sinnes  im  Gefolge 
von  formellen  Änderungen  constatirt  werden.  Mag  für 
Goethe  die  Correctheit  der  Form  immerhin  bis  zu  dem 
Grade  bindend  gewesen  sein,  dass  er,  um  ihr  zu  genügen, 
hie  und  da  eine  Schädigung  des  Inhalts  nicht  scheute,  so 
drängt  sich  doch,  wie  mich  dünkt,  die  Vermuthung  auf,  es 
habe  ihm  an  liebevoller  Versenkung  in  das  Einzelne  der 
alten  Scenen  gemangelt;  dafür  sprechen  am  eindringlich- 
sten die  missverständlichen  und  verschobenen  Auffassungen, 
welche  sinnlich  zu  vergegenwärtigende  Objecto  (wie  Fausts 
Studirzimmer)  oder  ebensolche  Vorgänge  (wie  das  Zer- 
pflücken der  Blume,  welchem  Fausts  Frage  ^Kein  Strauss?' 
gilt,  oder  das  Aufsteigen  der  Sterne  'hüben  und  drüben') 
erfahren  haben.  Ausserdem  spricht  für  die  ja  auch  sonst 
bekannte  Hast  der  Redaction,  dass  sich  die  Veränderungen 
in  ihrer  Gesammtheit,  mit  wenigen  besondem  Ausnahmen, 
ziemlich  auf  der  Oberfläche  halten,  und  vor  allem,  dass 
noch  manches  ungeändert  stehen  bleibt,  was  aus  denselben 
Gründen  hätte  geändert  werden  müssen  und^ebenso  leicht 
zu  ändern   war.     Es  kann  uns  nicht  wundem,    dass   nach 


358  Raiz,  Goethes  Faastredaction  1790. 

den  mannigfachen  Innern  und  äussern  Wandlungen,  welche 
Goethe  in  der  Zwischenzeit  erlebt  hatte,  und  nach  den 
mehrfachen  Pausen,  welche  in  der  Arbeit  am  Faust  sicher* 
lieh  eingetreten  waren,  seinem  Bewusstsein  die  Details  der 
alten  Dichtung  entrückt  und  ohne  hingebende  Vertiefung, 
zu  welcher  er  sich  die  erforderliche  Ruhe  und  Einkehr 
nicht  gönnte  oder  vielmehr  die  genügende  Selbstverläug- 
nung  seines  neuen  Wesens  nicht  besass ,  nicht  mehr  mit 
der  nöthigen  Starke  lebendig  wurden.  Dem  widerspricht 
nicht,  dass  Goethe,  ehe  er  das  Fragment  herausgab,  das 
Vorhandene  auch  dichtend  erweiterte;  wo  es  galt,  Altes 
mit  Neuem  zu  verquicken  oder  Altes  durch  Neues  in  grös- 
serem Masstabe  zu  ersetzen,  dort  finden  wir  mehr  Sorgfalt 
und  Genauigkeit;  und  wo  er  Neues  schlechtweg  schuf,  be- 
durfte es  einer  derartigen  Vertiefung  in  das  Einzelne  der 
alten  Gedanken  und  Worte  überhaupt  weniger. 

Altes  und  Neues  zu  scheiden,  geben,  wie  ich  glaube, 
die  vorstehenden  Beobachtungen  Kriterien  an  die  Hand. 
Wir  sind  berechtigt  anzunehmen,  dass  auch  die  Theile  von 
Ä,  welche  uns  in  [7  nicht  überliefert  sind,  nicht  sorgfaltiger 
redigirt  wurden  als  diejenigen,  deren  Vergleichung  möglich 
ist;  wir  dürfen  wohl  auch,  weil  Nachlässigkeiten  von  S  in 
den  vollständigen  Faust  übergingen,  voraussetzen,  dass 
auch  dieser  nicht  aufs  strengste  redigirt  ward.  Nehmen 
wir  noch  hinzu,  dass  es  Goethe  trotz  der  gelegentlich  aus- 
gesprochenen Absicht,  das  Neue  dem  Alten  völlig  anzu- 
passen, nicht  gelang  seinen  neuen  Stil  zu  verläugnen, 
weil  er  ihn  ja  so  beherrschte,  dass  er  zuweilen  selbst  den 
alten  Text  vergewaltigte ,  so  kommen  wir  zu  dem  Satze : 
da  wo  im  vollständigen  Faust  noch  Formen  und  Wen- 
dungen ,  wie  sie  von  U  zu  S  zumeist  beseitigt  sind ,  vor- 
kommen, da  ist  die  Vermuthung  erlaubt,  dass  die  betref- 
fende Stelle  aus  früher  Zeit  stammt.  Aber  auch  im  Rah- 
men des  sog.  Urfaust  haben  manche  Erscheinungen  (ich 
verweise  nur  auf  das  'all')  ein  mehr  oder  weniger  be- 
grenztes Verbreitungsgebiet  und  können  als  Kriterien  mit 
gelten,  um  das  zeitliche  Verhältniss  der  einzelnen  Scenen 
und  Theile  in  erschliessen ;  nicht  minder  sondert  eine 
Vergleichung    der    metrischen    Gestalt     die     Theile    von 


Schönbach,  Sprüche  und  Spruchartiges  aus  Handschriften.     359 

einander  ab.  Doch  sollen  diese  Beobachtungen  hier,  wo 
ich  die  stilistischen  Absichten  der  Redaction  des  Trag- 
mentes^  Faust  erschliessen  wollte,   nicht  vorgelegt  werden. 

Graz.  Agid  Raiz. 


Sprüche  und  Spruchartiges  ans  Hand- 
schriften. 

1.  Die    Handschrift   Nr.    692    der    Stiftsbibliothek    zu 

Set.  Gallen,  Papier,   15.  Jahrhundert,   enthält  auf  S.  491 

folgende  Sprüche: 

Manchman  meint,  er  sig  ouch  ein  man; 
Wenn  aber  manchman  kumet  do  manchman  ist, 
Manchman  weisset  nüt  wer  manchman  ist. 
Wist  manchman  wer  manchman  were, 
&     Manchman  det  manchman  ere. 
Manchman  wennet  manchman  sin 
Und  triltet  her  in  grossem  schin. 
Wenn  manchman  kumet  do  manchman  ist, 
So  endowet  manchman  mitt  einem  ßst. 

V.  4.  5  dieses  Spruches  sind  noch  jetzt  allenthalben  ver- 
breitet. V.  2 — 5  stehen,  mangelhaft  überliefert,  auch  im 
Liederbuch  der  Hätzlerin,  Haltaus  S.  LXIX*. 

2.  In  der  Handschrift  folgt: 

Alte  IQt  crauwent  sich, 
Kön  lüt  höwent  sich, 
Suberlich  lüt  schöwent  sich, 
Wise  lüt  versinnent  sich, 
&     Jung  lüt  minnent  sich. 

3.  Die  Papierhandschrift  der  kgl.  Hof-  und  Staats- 
bibliothek zu  München,  Cod.  Germ.  Monac.  384,  15.  Jh., 
enthält  F.  85^  zwischen  Recepten  den  Spruch: 

Tätt  liegen  als  we  als  stein  tragen, 
Es  beschlus  menger  sinen  kragen. 

Bei  Simrock,  Sprichwörter  S.  354  heisst  es:  'Wäre  Lügen 
so  schwer  wie  Steine  tragen,  würde  mancher  lieber  die 
Wahrheit  sagen'. 


360    Schönbach,  Sprüche  und  Spruchartiges  aus  Handschriften. 

4.  Die  Papierhandschrift  Nr.  2977  der  k.  Hofbiblio- 
thek zu  Wien,  15.  Jh.,  enthält  auf  dem  Vorsetzblatt  als 
Pederprobe  den  Vers: 

Wer  das  beste  gerne  ramet 
und  sich  des  bossen  schämet, 
der  hat  das  wordinet  woll 
das  man  in  dar  urame  loben  sol.^) 

5.  Die   Papierhandschrift  Nr.  3011    der  k.  Hofbiblio- 

thek  zu  Wien,  15.  Jh.,  enthält  F.  62^  die  Verse: 

Ich  pin  laider  unmare 

da  ich  gern  lieb  bare; 

oft  mir  da  Heb  geschach 

da  ich  mich  liebes  nicht  versach, 

1 .  2  davon  stehen  Freidank  1 10,  3  f. 

6.  Dieselbe  Handschrift  liest  F.  165»: 

Wer  das  puech  stel, 
des  selben  chel 
muzze  sich  ertoben 
hoch  an  eim  galgen  oben. 

Das  Wort  'ertoben'   ist  in   dieser  Verwendung   sicher  un- 

gewöhnlieh,   wird  aber  durch  eine  von  den  Wörterbüchern 

citirte    Stelle    aus   Eonrad    von    Würzburgs    Trojanischem 

Krieg  bestätigt,  wo  es  verwünschend  heisst  V.  3088  ff. : 

Swer  iemer  des  getürre  jehen, 
er  kunne  vihes  hüeten, 
der  müeze  sich  erwuelen 
und  iemer  §wecliche  erloben. 

7.  Aus  der  gleichen  Handschrift  F.  20 1^ 

Tempora  mutantur  et  homines  deteriorantur. 
Qui  verum  dixerit  caput  confractum  habebit. 
Audi,  Uli,  tace,  si  tu  cupis  esse  cum  pace. 

Zu  2  vgl.  Simrock,  Sprichwörter  S.  607:  'Wer  die  Wahr- 
heit geigt ,  dem  schlägt  man  den  Fiedelbogen  um  den 
Kopf.  —  Zu  3  vgl.  Simrock  8.  506:  'Harren,  sehn  und 
schweigen  verhütet  manchen  Erieg\  Sicherlich  muss  es 
da  'Hören'  statt  'Harren'  heissen;  'Sohn'  statt  'sehn'  halte 
ich  für  möglich,  aber  nicht  für  wahrscheinlich. 

8.  Die  Handschrift  Nr.  3000    der  k.  Hofbibliothek  zu 
Wien,  Papier,  15.  Jh.,  enthält  F.  70**  von  einer  Hand  des 

')  in  fehlt  der  Hs. 


Schönbach,  Sprüche  und  Spruchartigea  aus  Handschriften.    361 

16.  Jahrhunderts  folgende  Verse,  die  wohl  einem  Volks- 
liede  angehören,  welches  ich  aber  jetzt  nicht  nachweisen 
kann. 

Wein  mirs  aber  heben  an 

und  welln  auch  singen  was  ich  kan, 

durch  niemant  welen  mirs  lassen : 

Das  ungelt  das  ys  kumen  ins  land, 
5    das  hört  man  auf  der  gassen. 

Dy  Prawnawer  sind  aller  eren  wol  werd, 
das  ungelt  hat  so  lang  gewerd, 
es  ist  auch  vi!  gesommen. 
Der  AfTehaimmer  ist 

Die  letzten  Zeilen  sind  verwischt,  mit  ihnen  bricht  das 
Stück  ab.  —  Bei  'Braunau'  hat  man  die  Wahl  unter  ver- 
schiedenen Städten;  am  nächsten  liegt  es  vielleicht,  da  die 
Handschrift  aus  Schloss  Ambras  bei  Innsbruck  stammt,  an 
das  oberösterreichische  Braunau  am  Inn  zu  denken.  Aber 
auch  das  böhmische  Braunau  wäre  nicht  zu  weit.  —  Ist 
^Affenheimer'  ein  Spottname,  dann  würde  es  sich  zu  den 
'Aflfenbergern',  'Affenthalern',  ^Eselsheimern'  u.  dgl.  stellen, 
über  welche  Wackernagel,  Die  deutschen  Appellativnamen, 
Kl.  Schriften  3,  125  if.  ausführlich  handelt. 

9.    Die  Handschrift  Nr.  2967  der  k.  Hofbibliothek   zu 
Wien,  Papier,  15.  Jh.,  enthält  P.  !•>  Folgendes: 

1  Ich  wolt  dir  gute  ding  practiziern,  magst  du  mir  der  gryln 
wem. 

2  Und  also  werden  auch  für  war.  zwo  finsternüss  in  dysem 
jar.  die  erst  ist  so  sich  die  maid  enpleckt.  und  sich  under 
den  knecht  streckt. 

3  Die  ander  ist  so  man  yn  erwischt,  so  knört  man  yn  daz 
ym  (lies:  yms)  liecht  erlischt. 

4  Die  allmach  ist  gedieht,  nach  den  judischen  pösswicht.  und 
geben  den  cristen  ertzeney.  da  ist  genssschmaltz  und  seil- 
dreck  pey.  Mich  wundert  daz  sy  gelauhen  dar  an.  wann 
sy  thöten  manigen  cristenmon. 

5  Wer  sich  ertzeney  gebrachen  (lies:  gebrächet)  dar.  und 
nimpt  der  zaichen  nit  wol  war.  auch  sein  sach  nie  richtt 
dar  nach,  die  gelid  ob  er  schad  enpfacli.  hüt  dich  nit  las 
das  glid  an  dir.  so  yetlichs  zaichen  sein  ader  rür. 

6  Es  sein  nit  alle  zerbreche  (lies :  zerbrochen)  ding  wider  gantz 
zu  machen,  dann  der  sich  selbs  nit  gesundt  wille  haben, 
(des:  getilgt)  dem  hilfft  kain  artzett. 

Vierteljahnohrift  fQr  Litteratniveschichte  III  24 


362      Schönbach,  Sprüche  und  Spracbartiges  ans  Handschriften. 

7  Sy  sein  und  wollen  es  nit  sein,   und  wenn   sy  es   nit  sein, 
so  weren  sy  es  geren. 

8  Es  mag  nit  sein  daz  ein  ding  ein  dinck  sey,  woll  mag  sein 
daz  ist  nayn  und  zwir  nayn  daz  ist  ja. 

1 — 3  bilden  eine  Scherzrede;  3  ^knören'  bedeutet:  puffen, 
knuffen,  mit  den  Knöcheln  stossen.  DWB.  5,  1490.  — 
4  wendet  sich  wohl  gegen  die  jüdischen  Ärzte.  Wenn 
'allmach'  =  Almanach  ist,  dann  wäre  es  wahrscheinlich 
der  älteste  Beleg  dieses  Wortes  im  Deutschen.  —  5  ist 
nicht  ganz  klar,  ich  denke,  es  wird  sich  auf  die  Beob- 
achtung der  richtigen  Zeit  zum  Aderlassen  beziehen.  — 
6—8  sind  allgemeine  Sprüche,  ich  halte  7  nicht  für  ein 
Rathsel. 

10.  Diese    Handschrift   enthält   femer   F.    128^  f.    zu- 
nächst folgende  Sprüche: 

1  Sag  nymant  deinen  (lies:  deinen)  taugen  daz  es  dir  nit 
geworffen  werd  under  die  afigen. 

2  Hab  lieb  in  styl  daz  ist  alzeitt  meyn  will. 

3  Ich    bynn    gangen   berg    und    tal    und    Rnd    kain    treu 
überall. 

4  Es  kenn  und  mag  nit  änderst  sein  wer  hie  sOndet  der 
leidet  dortt  pein. 

5  Gerechtikaitt  ist    ain   hört    und    pringt  uns  dortt    zum 
ewigen  wordt. 

6  Wer  stelt  nach  gerechtikait  der  hat  dem  onrecht  wider 
sagt  (lies:  sait). 

[129*]  7  Hörett  yeder  man  die  warhait  gern    so  wOrd  man   vil 
sQnd  enbern. 

8  Manger  weiss  des  rechten  vil    der  es  doch   nit  wissen 
will. 

9  Für  reichtüm   und   für   alles   gut    so  ist  der  hortl  der 
recht  thütt. 

10  Der  weisshait  pflegen  willen  (lies:  will)   der  hütt  sich 
vor  allen  b6sen  gesellen  und  spillen  (lies:  spill). 

11.  Zwischen  den  Nummern  8  und  9  dieser  Sprüche 
stehen  folgende  Räthsel: 

1  Welicher  mensch   ist  gestorben    und   nit   geboren?   daz   ist 
Adam  und  Eva. 

2  Welicbe  menschen  sein  geboren  und  nit  gestorben?   daz  ist 
Enoch  und  Elyas. 

3  Welicher  mensch  hat  geredt  e  daz  er  geborn  word?  Johannes 
der  taüffer. 

4  Weliche  menschen  haben  krieget  in  irem  haOs  e  si  geboren 
warden?  Jacob  und  Esaü. 


J.  Meier,  Zur  Genovefa-Legende.  363 

5  Welicher  mansch  halt  nach  seinem  tod  geredt?  Laserüs. 

6  Wer  lebt  in  seinem  haüs  e  daz  es  geboren  wirtt?  ain  kind 
in  mütter  leib. 

7  Wer  ist  in  dem  himel  und  sein  haubt  auff  ertrich?  daz  ist 
ain  yeder  cristenmensch. 

8  W^elicher  mensch  ist  nit  gewessen  in  dem  himel  noch  aulT 
erden  noch  in  dem  mer?  daz  ist  Abacück,  da  er  von  dem 
engel  gotes  in  dem  lufft  bey  schopflf  gefört  ward  zu  dem 
hol  Daniel. 

9  Wer  hat  in  im  ain  brindenten  sun?  der  [129**]  kysling 
stain. 

10  Wer  wirt  gebom  vor  vatter  und  mütter?  daz  ist  der  rauch. 

11  Wer  ist  trüncken  an  trincken?  ain  thor. 

Von  diesen  Nummern  finde  ich  1  und  2  in  Simrocks  Deut- 
schem Räthselbuch  (Deutsche  Yolksbücher  7.  Band)  S.  415, 
bei  2  lautet  dort  die  Antwort:  ^Henoch  und  du  8elber\ 
5  steht  bei  Simrock  S.  421  mit  der  Antwort:  'Christus', 
10  ebenda  mit  der  Antwort:  'Adams  Kinder\ 

Graz.  Anton  E.  Schönbach. 


Zur  Entstehungsgeschichte  der  Genovefa- 
Legende. 

SeufFert  hat  in  seiner  Habilitationsschrift  Die  Legende 
von  der  Pfalzgräfin  Genovefa  (Würzburg  1877)  die  Ent-' 
stehungsgeschichte  dieser  Sage  zu  erforschen  gesucht.  Er 
weist  in  überzeugender  Weise  die  einzelnen  Elemente  nach, 
aus  denen  sie  zusammengeschweisst  wurde.  Die  meiste 
Schwierigkeit  macht  es,  die  Einfügung  des  Namens  Geno- 
vefa in  die  Fabel  zu  erklären.  SeufFert  ist  der  wohl  richtigen 
Meinung  (S.  20  f.) ,  dass  der  Name  von  der  Pariser  Hei- 
ligen genommen  sei,  aber  es  fehlt  ihm  ein  äusserer  Be- 
weis, dass  ihr  Cultus  in  jenen  alten  Zeiten  in  der  Nähe 
von  Laach  in  Blüthe  gestanden  habe.  Doch  auch  diese 
erwünschte  Bestätigung  finden  wir,  und  zwar  in  einer 
Urkunde  vom  Mai  1255  (Mrh.  Urkdb.  3,  941.  Mrh.  Reg. 
3,  1207):    'Die  Abtei  Malmedy  vererbpachtet  dem  Cister- 

zienser-Nonnenkloster  Namedy  (Namendeth)  einen  Wald, 

24* 


364  J*  Meier,  Zur  Genovefa-Legende. 

que  communiter  sancte  Genofeve  Gerenht^)  appel- 
latur,  für  den  Zins  von  6  Köln.  Denaren,  zahlbar  jährlich 
in  Andernach.  Da  diese  Pachtsumme  aber  dem  Werthe 
des  Grundstücks  gegenüber  viel  zu  niedrig  bemessen  ist, 
so  verpflichten  sich  die  Nonnen  von  Namedy  von  allen 
Gütern  und  Nutzungen,  welche  a  monasterio  nostro 
Malmundariensi  vel  capella  S.  Genofeve  Ander- 
nachensi  herrühren,  den  kleinen  und  grossen  Zehnten  zu 
bezahlen.' 

Durch  dieses  Zeugniss  ist  die  Yerehrung  der  heiligen 
Genovefa  in  der  dortigen  Gegend  —  Namedy  und  Ander- 
nach liegen  in  nächster  Nähe  von  Laach,  dem  Entstehungs- 
orte der  Legende  —  für  das  erste  Viertel  des  13.  Jahr- 
hunderts gesichert.  Denn  in  die  zwanziger  oder  dreissiger 
Jahre  dürfen  wir  nach  den  Angaben  der  Urkunde  den  Be- 
ginn des  Gultus  mindestens  zurückschieben ,  da  die  Ge- 
novefacapelle  schon  einige  Zeit  bestanden  haben  muss, 
und  wir  ein  längeres  Weilen  des  Cultus  an  jenem  Orte 
anzunehmen  haben,  ehe  der  Name  zur  Flurbezeichnung  ver- 
wandt werden  konnte. 

Soweit  gehen  die  Thatsachen;  eine  nicht  allzu  ge- 
wagte Muthmassung  möchte  ich  hier  nicht  unterdrücken. 
Seuffert  erwähnt  (S.  25)  die  Vorliebe  und  die  Kunst  des 
Verfassers  der  Legende,  mit  der  er  es  verstanden  hat 
'durch  Verwerthung  von  Ortsnamen  aus  der  Umgegend 
seines  Klosters  und  der  zu  feiernden  Capelle  seiner  Er- 


')  So,  nnd  nicht  Gereuht,  wie  Mrh.  Urkdb.  nnd  Mrh.  Reg.  (a.  a.  0.) 
angeben,  steht  in  dem  zu  Coblenz  im  Staatsarchive  befindlichen  Ori- 
ginal. Diese  Mittheilung  verdanke  ich  dem  Vorstande  des  Coblenzer 
Staatsarchivs ,  Staatsarchivar  Dr.  Becker ,  der  auf  meine  Anfrage  in 
liebenswürdigster  und  eingehendster  Weise  Auskunft  gab.  —  Was 
gerenht  bedeutet,  ist  nicht  ganz  sicher  zu  bestimmen;  man  kann 
an  Zweierlei  denken:  1)  gerente  =  nhd.  rente,  vgl.  Frisch,  Teutsch- 
Lateinisches  WB.  111  a.  Hierfür  spricht  die  Erwähnung  der  Ge- 
novefa-Capelle  zu  Andernach;  man  mag  annehmen,  dass  der  Wald 
ursprünglich  eine  Rente  dieser  Kirche  war.  2)  man  kann  es  aber 
auch  als  Collectivbildung  zu  rante,  Schössling,  schlanker  Fichten- 
stamm (vgl.  Schmeller  '  2, 126,  Lexer  in  Frommanns  Zeitschrift  f.  deut- 
sche Mundarten  6,  193)  stellen.  Mir  ist  eigentlich  das  erstere  wahr- 
scheinlicher. 


Tille,  Anspielungen  auf  die  Faustsage.  365 

Zählung  jene  Glaubwürdigkeit  zu  verleihen,  die  sich  neue 
äussere  Anhaltspunkte  schafft'.  Und '  so  möchte  ich  es 
nicht  für  unmöglich  halten,  dass  derYerfasser  der  Legende 
oder  seine  Zeitgenossen,  an  die  Flurbezeichnung  anknüpfend, 
als  den  Auffindungsort  der  Oenovefa  jenen  Wald  bezeich- 
neten, und  dass  auf  diesem  Platze  später  die  Capelle  in 
Frauenkirchen,  welche,  wie  Seuffert  a,  a.  0.  angibt,  auf 
dem  Maifelde  zwischen  Ochtendung  und  Niedermendig  liegt, 
erbaut  ist. 

Halle  a.  S.  Juni  1889.  John  Meier. 


Anspielimgeii  auf  die  Faustsage. 

In  den  ^Deliciae  biblicae  oder  Biblische  Ergötzlich- 
keiten^  hg.  von  Misander  (Johann  Samuel  Adami,  Pfarrer 
zu  Pretzschendorff  in  der  Ephorie  Dipoldiswalde  in  Sachsen), 
Bd.  17  (Nov.  Test.  1.)  Januarius  1692  finden  sich  zwei  Er- 
wähnungen Fausts. 

S.  387  ....  Hieher  gehöret  alles  dasjenige,  was  man  von 
D.  Fausten  schreibet,  den  man,  ob  er  gleich  kein  Doctor 
gewesen,  daher  den  Doctor  genennet,  weil  er  so  gelehrt  soll  ge- 
wesen seyn.  Von  diesem  ist  ein  eigen  Buch  heraussen,  so  ein 
Theologus  mit  vielen  Theologischen  Anmerckungen  heraus  ge- 
geben hat,  als  darinne  lauter  Verblendungen  zu  finden,  als  wenn 
er  einst  einem  Bauer  Schweine  verkaufTt,  und  hernach  aus  den- 
selben Stroh-Wische  worden  sind,  item,  dass  einer  einmahl  dem 
Fausto,  der  jenem  schuldig  gewesen,  ein  Bein  ausgerissen, 
so  alles  Blendwerck  gewesen,  it:  da  er  einem  Bauer  den 
Wagen  mit  sammt  dem  Heue  gefressen,  davon  ein  mehrers 
hin  und  wieder  kan  gelesen  werden 

S.  389—391  ....  Der  andere  vortreffliche  Held,  welcher 
von  uns  soll  auffgefflhret  werden,  ist  Käyser  Carol  der  V.  dieses 
Nahmens,  welcher  dergleichen  Blendung  einsten  mit  seinen  Augen 
auch  mit  angesehen.  Denn  als  er  mit  seiner  Hoffstatt  nach  Ins- 
pruck .  verrückt,  ward  auch  mit  dahin  gebracht  D.  Job.  Faustus, 
weil  er  durch  seine  Kunst  vielen  Freyherren,  Graffen  und  Edlen 
geholffen  hatte,  und  von  allerley  sclimertzlichen  Kranckheiten  be- 
freyet,  auch  ihnen  durch  seine  schwartze  Kunst  viel  wunder- 
liche Sachen  gewiesen.  Dieses  D.  Fausts  Händel  wurden  dem 
Käyser  auch  förgetragen,  und  ihm  das  Gemütli  dadurch  lüstern 
gemacht,   dass  er  denselbigen   vor  sich  fordern   liess,    und  von 


366  Tille,  Anspielungen  auf  die  Faustsage. 

ihm  begehrete,  dass  er  durch  seine  Kunst  den  allerberiihmtesten 
Käyser  Alexandrum  den  Grossen,  und  sein  Gemahl  in  der 
Form  und  Gestalt,  so  sie  im  Leben  geführet,  herfür  bringen 
solte.  Faust  antwortete,  er  wolte,  so  viel  er  durch  Hülffe  seines 
Geistes  vermöchte,  Ihr  Käyserl.  Majest.  Bitte  gewähren,  und  be- 
gehrte Personen  erscheinen  lassen:  Aber  das  solte  Ihre  Majestät 
wissen,  dass  ihre  Leibe  nicht  auffstünden,  und  aufT  dissmal  aus 
der  Erden  herfür  kämen :  Aber  die  uhralten  Geister ,  welche 
Alexandrum  und  sein  Gemahl  gesehen  haben,  die  könten  sich 
in  ihre  Form  und  Gestalt  verwandeln,  dadurch  wolte  er  beyde 
Personen  wahrhafftig  Ihrer  Majest.  sehen  lassen,  in  aller  Gestalt, 
wie  sie  geleibet  und  gelebet.  Allein  Ihre  Majestät  solte  ihm  sagen, 
dass  sie  nichts  mit  ihm  reden  wolte,  aber  besichtigen  möchte 
er  sie  stillschweigend  mit  allem  Fleisse.  Hierauff  gieng  Faust 
aus  des  Käysers  Gemache,  sich  mit  seinem  Geiste  hiervon  zu 
unterreden,  und  da  sie  der  Sachen  eins  worden,  gieng  er  wieder- 
um hinein  zum  Käyser,  und  Hess  die  Thür  offen.  Alsbald  trat 
nach  ihm  hinein  Käyser  Alexander  M.  in  der  Gestalt,  wie  er 
gelebet;  Ein  wohlgesetztes  Männlein,  mit  rothen  oder  gleichfalben 
und  dicken  Barte,  rothen  Backen,  und  eines  gestrengen  Angesichts, 
als  ob  er  Basilisken  -  Augen  hätte,  hatte  einen  gantzen  schönen 
vollkommenen  Harnisch  an,  trat  zum  Käyser,  und  bückte  sich  für 
ihme  mit  tieffer  Reverentz.  Der  Käyser  wolte  auffstehen  und  ihm 
die  Hand  bieten,  aber  Faust  winckete  ihm,  dass  ers  nicht  thun 
solte.  Hierauff  neigte  sich  der  Käyser  Alexander  und  gieng 
zur  Thür  hinaus.  Bald  darauff  trat  hinein  sein  Gemahl  in  einem 
blauen  Sammet-Rocke  mit  güldenen  Stücken  und  Perlen  gezieret, 
Sie  war  aus  der  massen  schöne  und  rothbäckigt,  wie  Milch  und 
Blut,  länglicht,  und  eines  rundten  Angesichts.  Wie  sie  nun 
Käyser  Carl  lange  mit  Verwunderung  angeschauet,  fiel  ihm  ein, 
dass  er  gelesen  und  gehöret  hätte,  sie  solte  im  Nacken  eine 
grosse  Wartzen  gehabt  haben,  stund  derhalben  auff  von  seinem 
Stuhle,  und  gieng  zu  ihr,  zu  besichtigen,  ob  er  diss  Wahr- 
zeichen auch  an  ihr  finden,  und  also  erkennen  könte,  dass  der 
Geist  in  ihrer  beyder  Gestalt  sich  wahrhaffliglich  verwandelt 
hätte,  und  ihn  nicht  mit  falscher  Form  betrogen,  sie  stund  stille, 
bückte  den  Kopff  und  Halss,  dass  er  die  Wartze  sehen,  und 
augenscheinlich  erkennen  kunte.  Hierauff  neigte  sie  sich  für  ihm, 
gieng  zur  Thür  hinaus  und  verschwand.  Also  gewähret  D.  Faust 
dem  Käyser  seine  Bitte,  trieb  sonst  viel  lächerliche  Abentheur 
am  Hofe,  und  erlangete  eine  gute  Verehrung,  darmit  zog  er  hin- 
weg. 

Der  'Theologischen  Anmerkungen'  wegen,    welche  das 

nach   der  ersten    Stelle    dem   Pfarrer    Adami    vorliegende 

Faustbuch  enthält,  liegt  es  am  nächsten  an  Widmann  oder 

an  Pfitzer  als  Quelle   zu  denken.     Es  ist  jedoch  fraglieh, 


Geiger,  Ein  Brief  von  Cbr.  Mylius  an  Haller.  367 

ob  Adaini  diese  kannte,  da  sie  die  zweite  von  ihm  angezogene 
Stelle  an  Eeyser  Maximilianus ,  nicht  an  Karl  Y.  knüpfen. 
Auch  hält  sich  Adami  offenkundig  an  das  Spiessische  Faust- 
buch. Es  stimmen  ganze  Wendungen  wie  der  umständ- 
liche Gang  der  Erzählung  zu  Kap.  33  (S.  t32)  desselben. 
Man  vergleiche  nur  die  ^allerley  schmerzlichen  Krank- 
heiten', von  denen  Faust  die  Edelleute  befreit,  mit  Spiess' 
Worten:  ^namhaiften  Schmertzen  vnd  Kranckheiten',  die 
Erklärung,  dass  ^ihre  Leibe  nicht  aufstünden'  mit  Spiess' 
Satz:  ^dass  jre  sterbliche  Leiber  nicht  von  den  Todten 
aufferstehen',  die  Beschreibung  Alexanders  als  ^ein  wohl- 
gesetztes Männlein,  mit  rothen  oder  gleichfalben  und  dicken 
Barte,  rothen  Backen,  und  eines  gestrengen  Angesichts, 
als  ob  er  Basilisken  -  Augen  hätte'  mit  Spiess'  Abmalung: 
^ein  wolgesetztes  dickes  Männlein,  rohten  oder  gleichfalben 
vnd  dicken  Baris,  roht  Backen,  vnd  eines  strengen  An- 
gesichts, als  ob  er  Basilisken  Augen  hett'. 

Leipzig.  Alexander  Tille. 


Ein  Brief  Yon  Chr.  Mylius  an  Haller. 

Der  nachstehende  Brief,  dessen  Original,  10  SS.  in  4^ 
eigenhändig,  seit  mehreren  Jahren  in  meinem  Besitz  ist,  darf 
wohl  einiges  Interesse  beanspruchen.  Über  die  Beziehungen 
seines  Yerfassers  Chr.  Mylius^)  zu  dem  Adressaten  A.  v. 
Haller  hat  L.  Hirzel  in  seiner  ausgezeichneten  Einleitung 
zu  Hallers  Gedichten  (besonders  S.  CCCXVn  flf.)  gehandelt. 
Die  von  ihm  erwähnten  Briefe  befinden  sich,  wie  er  mich 
freundlichst  belehrt,  handschriftlich  auf  der  Berner  Stadt- 
bibliothek. Hirzel  fahrt  in  seiner  Mittheilung  (26.  September 
1889)  fort:  ^Gedruckt  ist  von  diesen  Briefen  nichts  oder 
soviel  wie  nichts;  ich   erinnere  mich  augenblicklich  nicht, 


^)  Fehlt  in  der  Allg.  deutschen  Biographie;  am  ansfährlichsten 
über  ihn  handelt  Jördens  3,  770—776;  seine  schriftstellerische  Bedeu- 
tung wird  sehr  gnt  bei  Erich  Schmidt.  Lessing  1,  59—65,  290—292 
auseinandergesetzt. 


368  Geiger,  Ein  Brief  von  Ohr.  Mylius  an  Haller. 

auch  nur  einen  gedruckt  gesehen  zu  haben.'  Ich  darf 
daher  wohl  auch  den  nachfolgenden  Brief  als  ungedruckt 
in  Anspruch  nehmen.  Yorauszuschicken  ist  dem  Briefe  nur 
die  Erinnerung,  dass  Haller  an  der  Spitze  einer  Qesellschaft 
stand,  welche  Mylius  nach  Amerika  zur  Vornahme  natur- 
wissenschaftlicher Untersuchungen  schicken  wollte.  Dass 
Mylius  die  auf  ihn  gesetzten  Erwartungen  nicht  erfüllte,  die 
für  wissenschaftliche  Untersuchungen  zusammengebrachten 
Summen  zu  seinem  Yortheile  und  seinem  Vergnügen  ver- 
wendete und  sich  in  Briefen,  die  er  an  Freunde  richtete, 
über  den  grossen  Gelehrten  lustig  machte,  den  er  in  unserm 
Schreiben  als  Gönner  zu  verehren  scheint,  ebenso  wie  er 
ihn  ehedem  offen  und  versteckt  heftig  angegriffen  hatte,  — 
alle  diese  bekannten  Thatsachen  sollen,  wenn  sie  auch  nicht 
unmittelbar  zum  Verständniss  dieses  Briefes  nothwendig 
sind,  wenigstens  kurz  vorangeschickt  werden. 

Der  Brief  lautet: 

Hochwohlgeborner  Herr 

Insonders  hochzuehrender  Herr  Hofrath 

Hochgeschätzter  Gönner. 

Ew.  Hochwohlgeb.  Letztes  nebst  dem  Recommendations- 
schreiben  des  Hrn.  Geh.  Raths  von  Hardenberg  an  den  Gouver- 
neur von  Surinam  habe  ich  vorgestern  mit  grösstem  Vergnügen 
erhalten.  Ich  bitte,  diesen  rechtschaffenen  Cavalier  dafQr  meiner 
beständigen  Ehrfurcht  und  meines  unterthänigen  Dankes  zu  ver- 
sichern. Ich  hoffe  damit,  wenn  die  andern  Recommendationen 
dazu  kommen  werden  viel  auszurichten.  Dem  Hrn.  von  Swieten 
habe  ich  nunmehr  aufs  höflichste  den  Kauf  aufgesagt,  nachdem 
ich  ein  zweytes  Schreiben  vom  6.  September  von  ihm  erhalten, 
welches  hier  in  Abschrift  beyliegt.  Ich  hatte  Um  in  meiner  ersten 
Antwort  um  einige  Wochen  Bedenkzeit  gebeten,  damit  ich  meiner 
Reisekostengesellschaft  Nachricht  geben  und  ihr  Gutachten  ein- 
ziehen könnte.  Und  darauf  beziehet  sich  sein  aequum  est,  quod 
peiis.  Übrigens  scheint  er  so  von  der  Vortrefflichkeit  seines  Vor- 
schlages eingenommen  gewesen  zu  seyn,  dass  er,  da  ich  es  ihm 
nicht  gleich  abgeschlagen,  geglaubt,  ich  wäre  alles  sogleich  ohne 
Bedenken  eingegangen  und  sey  schon  auf  dem  Sprunge  nach 
Wien  zu  kommen.  Aber  mein  letzter  Brief  wird  ihm  zeigen, 
dass  er  sich  sehr  geirret  hat.  Ja,  ich  bleibe  gewiss  bei  der 
ersten  Partey  und  unter  Dero  Direction,  ob  der  Hr.  v.  Swieten 
gleich  wieder  grosse  und  lockende  Versprechungen  thut.  Dero 
letzteres  ist  mir  mehr  als  alle  diese  grossen  Worte  und  ich  habe 


-■*-" 


Geiger,  Ein  Brief  von  Chr.  Mylius  an  Haller.  369 

nuDmehr  so  wenig  einen  Zweifel  an  der  gewissen  Ausführung 
des  Vorhabens,  als  wenn  ich  des  Hm.  v.  Swieten  seine  3000  ThI. 
schon  in  Händen  hätte.  So  gut  sich  übrigens  die  Adspecten 
immer  noch  in  Göttingen  anlassen,  so  gut  lassen  sie  sich  auch 
hier  an.  Der  Hr.  Graf  von  Kamecke,  ein  sehr  reicher  Herr,  hat 
mich  eigenhändig  schriftlich  versichert,  dass  er  jährlich  50  Tbl.  geben 
will.  Er  schrieb  zugleich,  dass  er  die  ersten  50  Till,  so  bald  er 
nach  Berlin  käme,  an  Ew.  Hochwohlgeb.  übermachen  wolle. 
Da  er  nun  gestern  gekommen,  so  kann  es  seyn,  dass  Dieselben 
diese  50  Tbl.  mit  diesem  Briefe  zugleich  erhalten.  Der  Hr.  Asdorf 
in  Lübeck  wird  seine  Assignation  nun  wohl  auch  geschickt  haben. 
Der  Staatsminister,  Hr.  von  Arnim,  ein  gleichfalls  sehr  reicher 
Herr,  hat  mir  durch  den  Hrn.  Prof.  Kies  einen  ansehnlichen 
Beytrag,  welchen,  wenn  er  sterben  sollte,  sein  Hr.  Sohn  gewiss 
fortsetzen  wird,  versprochen.  Hierauf  kann  ich  ganz  sicheren 
Staat  machen.  Er  kommt  aber  erst  künftigen  Monat  von  seinen 
Gütern  zurück.  Der  Staatsminister,  Graf  v.  Podewils,  der  jüngere, 
hat  auch  sein  Versprechen  nochmals  wiederholt:  er  ist  nur  auch 
auf  den  Gütern  noch.  Die  Frau  Gräfin  von  Bentink  ist  ganzer 
3  Wochen  in  Oranienburg  bei  den  sehr  lustigen  Festins  ge- 
wesen, welche  der  Prinz  von  Preussen  daselbst  gegeben.  Gleich 
nach  ihrer  Rückkunft  bin  ich  zweymal  hingegangen  um  den  Brief 
selbst  zu  überreichen.  Beydemal  aber  hatte  sie  einen  vornehmen 
Besuch;  und  das  dritte  mal  auch,  da  ich  denn  den  Brief  nicht 
länger  auflialten  wollte,  und  ihn  ihrem  Kammerdiener  gegeben. 
Sie  hat  seitdem  gesagt,  sie  würde  mich  zu  sich  bitten,  und  wenn 
dieses  auch  nicht  geschähe,  so  werde  ich  doch  gewiss  meine  Auf- 
wartung nächstens  machen;  und  überhaupt  bin  ich  dieser  Dame 
wegen  ohne  Sorgen.  Hr.  Cuno  wird  um  Ew.  Hochwohlgeb.  willen 
gerwiss  thun,  was  er  kann  wenn  er  auch  gleich  durch  den  Hrn. 
Denso  erfahren  haben  sollte,  dass  ich  einmal  etwas  an  seinem 
Gartengedicht  ausgesetzt.  An  den  Hrn.  Prof.  Spielmann  will  ich 
noch  schreiben.  Ich  muss  je  länger  je  mehr  Dero  besondere 
Gütigkeit  gegen  mich  bewundern  und  verehren.  Sie  tragen  eine 
väterliche  Sorgfalt  für  meine  Gesundheit.  Ich  hoHe,  sie  durch 
Massigkeit  und  Diät  zu  behalten.  Die  Veränderung  des  Wetters 
und  die  herumgehenden  Staupen  (ausser  die  Blattern  und  Masern) 
haben  mir  niemals  was  anhaben  können,  und  niemand,  der  mich 
sieht,  will  mir  es  glauben,  dass  ich  sonst  niemals  ordentlich  krank 
gewesen.  Starke  Getränke  liebe  ich  nicht;  aber  den  Taback. 
Jenes  ist  schädlich,  und  dieses  nützlich  für  einen  Reisenden.  Über- 
dieses  werde  ich  mir  die  Lehren  aller  Erfahrenen  und  besonders 
Ew.  Hochwohlgeb.  wohl  zu  nutzen  machen.  Ferner  so  denken 
Sie  schon,  ausser  den  Reisekosten  auf  eine  Belohnung.  Daran 
hat  der  Hr.  v.  Swieten  nicht  gedacht;  er  redet  nur  von  so  vielem, 
als  ich  zur  Reise  brauche.  Ich  erkenne  auch  diese  Dero  Gütig- 
keit mit  gehorsamstem  Dank,   und  sie  wird  gewiss  meinen  Eifer 


370  Geiger,  Ein  Brief  von  Chr.  Mylius  an  Haller. 

verdoppeln.  Aber  ich  nehme  hierbey  Gelegenheit,  Ew.  Hoch- 
wohlgeb.  mit  einem  ökonomischen  Vortrage  zu  beschweren.  Ich 
würde  Ihnen  die  kostbare  Zeit  dadurch  nicht  wegzunehmen  mich 
unterstehen,  wenn  mich  nicht  die  Nothwendigkeit  dazu  triebe, 
und  wenn  nicht  eben  diese  Dero  Gewogenheit  mir  im  Voraus 
Verzeihung  verspräche.  Ew.  Hochwohlgeb.  haben,  wie  gedacht, 
die  Gewogenheit,  und  denken  schon,  mir  mit  dem  Ueberschuss 
des  Reisegeldes  ein  Geschenk  zu  machen.  Dieselben  werden 
dabey  auch  wohl  überlegt  haben,  dass  ich  zu  dem  ersten  Termine 
mehr  nöthig  habe,  als  zu  den  beyden  andern.  Denn  von  dem 
ersten  muss  ich  nicht  nur  die  Hinreise  bestreiten,  sondern  auch 
mich  auf  3  Jahr  und  auf  eine  so  weite  Reise  equipiren;  und 
mich  nicht  allein,  sondern  auch  meinen  Bedienten.  Wenn  ich 
selbst  ein  Capitalist  wäre,  so  wollte  ich  mich  nicht  nur  von 
meinem  eigenen  Gelde  equipiren,  sondern  auch  von  meinem 
eigenen  Gelde  reisen.  So  aber  habe  ich  nur,  was  ich  mir  ver- 
diene, und  ich  habe  mir  noch  nicht  mehr  verdienen  können,  als 
ich  gebraucht.  Was  mir  Hr.  Sulzer  vorgeschossen,  habe  ich 
nöthig  gehabt,  um  mich  meiner  beschwerlichsten  Geschäfte  zu 
entschlagen  und  mich  zur  Reise  vorzubereiten.  Ich  wende  diese 
Zeit  an,  mir  die  Länder  wohin  ich  reisen  will,  bekannt  zu  machen, 
wie  auch  allerley  dazu  nöthige  Bücher  in  der  bist.  nat.  besonders 
Dero  Enum.  stirp.  Helvetiae,  um  mir  recht  Dero  Methode  geläufig 
zu  machen,  etc.  Da  nun  meine  Reise  gar  nahe  bevorstehet,  und 
ich  auf  das  neue  Jahr  wohl  von  hier  abgehen  möchte:  so  muss 
ich  wirklich  keine  Zeit  versäumen,  mich  zu  equipiren.  Mit  Klei- 
dern, und  besonders  mit  Wäsche,  muss  ich  mich  nothwendig  auf 
ganze  3  Jahr  versehen ;  denn  wenn  ich  diese  Vorsichtigkeit  nicht 
brauchte,  so  wäre  es  so  gut,  als  bekäme  ich  100  Tbl.  weniger 
Reisegeld.  Ich  muss  mir  auch  diese  Sachen  an  einem  Orte  ttn- 
schaffen,  wo  ich  am  meisten  Bekanntschaft  habe,  und  wo  ich 
durch  Hülfe  guter  Freunde  alles  am  wohlfeilsten  bekommen  kann. 

Und  nun  folgt  in  der  gleichen  lästigen  Weitschweifig- 
keit eine  Berechnung  dessen  was  er  für  Kleider,  Schuh 
und  Stiefeln,  für  den  Bedienten  u.  s.  w.  nöthig  habe,  mit 
der  ich  nicht  beschwerlich  fallen  will.  Kurz,  MyliuS  bettelt, 
ihm  sofort  200  Thir.  zu  senden.     Dann  fahrt  er  fort: 

Wenn  nun  über  1 000  Thaler  jährlich  einkommen  sollten,  so 
würde  ich  doch  fast  1000  Tbl.  nach  Surinam  mitnehmen,  wo  ich 
damit  ein  Jahr  gar  wohl  auszukommen  gedenke,  wenn  es  auch 
nur  800  Tbl.  wären,  weil  ich  dahin  ganz  besonders  gute  Recom- 
mendationen habe.  In  Georgien  ist  auch  der  Prediger  Bolzius, 
mein  Landsmann  (ein  Lausitzer)  nebst  Dero  Bekannten,  welche 
alle  mich  keine  Noth  werden  leiden  lassen,  dass  ich  also  diese 
200  Tbl.  gar  wohl  im  voraus  zu  der  ein  für  allemal  unumgäng- 


Geiger,  Ein  Brief  von  Chr.  Mylius  an  Haller.  371 

lieh  nöthigen  Equipirung  auf  3  Jahr,  wegnehmen  kann.  Dass  ich 
damit  wohl  umgehen  werde,  das  werden  mir  Ew.  Hochwohlgeb. 
vermuthlich  zutrauen;  weil  davon  meine  ganze  Ehre  und  Glück- 
seligkeit abhängt.  Doch  ich  glaube,  meine  persuasoria  sind  hier 
sehr  überflussig.  —  Die  zugesandten  gedruckten  Zettel  sind  bald 
alle.  Könnte  ich  nicht  noch  einige  bekommen?  —  Wenn  in 
meinem  Namen  die  geringste  Spur  einer  Ausradirung  wäre,  würde 
mich  dieses  nicht  sehr  des  Betrugs  verdächtig  machen?  Des 
Herrn  R.  Königs  Appel  au  Public  habe  ich  mit  grosser  Freude 
gelesen,  auch  gehörigen  Orts  eine  Recension  eingeschickt.  Kaum 
hatte  Hr.  Euler  diesen  Appel  gelesen,  so  hatte  er  gleich  in 
12  Stunden  darauf  (in  der  ersten  Hitze!)  die  Antwort  fertig, 
welche  auch  schon  fast  gedruckt  ist.  Sie  ist  in  Form  eines 
Briefes  an  den  jeune  auteur  de  la  piöce  singuli^re:  Gogito,  ergo  sum. 
Ich  habe  alles  dem  Hm.  Pr.  König  schon  vor  8  Tagen  selbst 
berichtet,  welcher  mir  letztlich  durch  den  Ganal  des  holländischen 
Gesandten  ein  Gompliment  machen  Hess ;  welches  ich  für  ein  gut 
Zeichen  halte.  Ich  habe  ihn  in  meinem  Briefe  zugleich  um  Vor- 
sprache bei  der  Prinzessin  Gouvernantin  gebethen.  Seine  in 
London  zu  druckende  Schrift  wird  grausam  Lärmen  machen. 
Mit  Hrn.  Euler  bin  ich  (wie  Ew.  Hochwohlgeb.  werden  gesehen 
haben)  ordentlich  in  den  Zeitungen  in  Streit  gerathen.  Mit  dem 
Verklagen  hat  es  keine  Noth.  Ich  habe  deswegen  hinlängliche 
Nachricht  aus  Hamburg  eingezogen.  In  Erwartung  hochgeneigter 
Antwort  habe  ich  die  Ehre  mit  grösstem  Respect  zu  seyn 

Ew.  Hochwohlgeb. 
Berlin,  den  26.  September  1752.         gehorsamster  Diener 

Ghristlob  Mylius. 

Mit  der  Erklärung  der  Einzelheiten  will  ich  mich  und 
die  Leser  nicht  lange  aufhalten;  es  wäre  überflüssig,  über 
alle  in  dem  Schreiben  erwähnten  Hofleute  und  Fürstlich- 
keiten biographische  Daten  zu  bringen.  Nur  kurz  seien 
daher  die  Personen  hervorgehoben,  an  die  sich  ein  litterari- 
sches Interesse  knüpft.  Über  Bolzius  in  Georgien  weiss 
ich  nichts  zu  sagen.  Prof.  Spielmann  ist  wohl  der  Strass- 
burger  Mediziner  (1722—1783),  dessen  auch  Goethe  als  seines 
Lehrers  in  Strassburg  gedenkt  (Dichtung  und  Wahrheit 
9.  Buch).  Ueber  Cuno  s.  AUg.  deutsche  Biographie  4, 
642  f.;  das  Gartengedicht  ist  die  1749  erschienene  ^Ode 
an  seinen  Garten'.  Denso  ist  Naturforscher  (vgl.  Allg. 
Deutsche  Biographie  5,  57  f.)  und  als  solcher  wohl  mit 
Mylius  bekannt.  Die  *  gedruckten  Zettel',  die  gegen  Ende 
des  Briefes  erwähnt  werden,  sind  wohl  Subscriptionsauffor' 


372  Geiger,  Ein  Brief  von  Chr.  Mylius  an  Haller. 

deruDgen ,  die  Haller  an  die  Grossen  und  Vermögenden 
richtete.  Die  Konig- Eulersche  Angelegenheit  verdient, 
weil  ja  auch  Voltaire  hineinverwickelt  wurde  und  weil 
sie  eine  damals  sehr  berühmte  Streitsache  war,  eine  kurze 
Beleuchtung.^)  Sam.  König  (1712—1757)  hatte  durch  seine 
in  den  Leipziger  Acta  eruditorum  1751  veröffentlichte  ^Disser- 
tatio  de  universali  principio  aequilibrii  et  motus'  viel  Staub 
aufgewirbelt;  besonders  Maupertuis  aufgestachelt,  der  die 
von  König  als  Leibnizsche  Gedanken  angeführten  Gesetze 
(das  Gesetz  de  la  moindre  quantite  d'action)  selbst  entdeckt 
zu  haben  glaubte.  Er,  als  Präsident  der  Berliner  Akademie, 
hatte  diese  gelehrte  Körperschaft  für  sich  und  hatte  nicht 
blos  erwirkt,  dass  die  Akademie  selbst  sich  in  seinem 
Interesse  erklärte,  sondern  dass  eines  der  bedeutendsten 
Mitglieder  derselben  Leonh.  Euler  eine  'Dissertatio  de  prin* 
cipio  minimae  actionis  una  cum  examine  objectionum 
Koenigii'  (Berlin  1752)  schrieb  und  dazu  beitrug,  dass  jene 
Leibnizschen  Briefe,  aus  denen  König  ein  Plagiat  seitens 
Maupertuis  erwiesen  zu  haben  meinte,  als  gefälscht  erklärt 
wurden. 

Wo  der  litterarische  Streit  zwischen  Euler  und  Mylius 
ausgefochten  ist,  vermag  ich  nicht  nachzuweisen.  In  den 
beiden  damaligen  Berliner  'Zeitungen^  der  Vossischen  und 
der  Spenerschen  jedenfalls  nicht.  Die  Spenersche  Zeitung 
steht  durchaus  auf  Seiten  Maupertuis'.  Am  10.  Juni  lobt 
sie  sehr  seine  ^Lettre  sur  le  progr&s  des  sciences'  als  Zeug- 
nisB  seiner  Menschenliebe  und  tiefen  Einsichten ;  am  11.  Juli 
zeigt  sie  das  gegen  König  gerichtete  '  Jugement  de  Tacademie 
royale'  an,  das  den  von  König  vorgebrachten  Brief  Leib- 
nizens  für  falsch  erklärt,  in  einer  Weise,  die  erkennen  lässt, 
dass  die  Zeitung  Maupertuis  für  den  siegreichen  hält. 
Übrigens  wird  auch  Mylius  gelegentlich  gelobt.  Bei  der 
Anzeige  (29.  April)  von  'H.  E.  v.  Spilckers  Übersetzung 
der  Satyren  des  Prinzen  von  Cantemir'  wird  von  der  Vor- 
rede ^des  gelehrten  Herrn  Mylii'  gesagt,  ^sie  enthält  unver- 
gleichliche Recepte   wider  die  hässlichen   Vorurtheile'.    — 


*)   König   stand    auch   mit  Haller  in   Verbindung,    vgl.   Hirzel 
S.CCXLff.  und  S.  133.  358. 


Harnack,  Ans  dem  Nachlasse  H.  Meyers.  373 

Die  YosBische  Zeitung  steht  Mylius  näher,  bringt  z.  B.  ge- 
naue Inhaltsverzeichnisse  der  einzelnen  Hefte  der  'Physi- 
kalischen Belustigungen',  enthält  aber  nichts  von  dem  im 
Briefe  erwähnten  Streit. 

Berlin.  Ludwig  Qeiger. 


T^otizen  aus  dem  Naehlasse  Heinrich  Meyers. 

Die  nachfolgenden  Notizen  sind  mir  bei  einer  leider 
nur  flüchtigen  Durchsicht  des  auf  der  Weimarer  Bibliothek 
befindlichen  Nachlasses  von  Qoethes  langjährigem  Kunst- 
freunde Meyer  aufgestossen  und  sollen  dazu  beitragen,  die 
Autorschaft  der  vielfach  noch  zweifelhaften  Aufsätze  der 
W.  K.  F.  festzustellen.«  Wenn  ich  dabei  die  jüngst  er- 
schienene Arbeit  Paul  Weizsäckers  zu  ergänzen,  hin  und 
wieder  auch  zu  berichtigen  hoffe,  so  liegt  dem  nicht  die 
Absicht  kleinlicher  Kritik,  sondern  der  Wunsch  nach  ge- 
deihlicher Fortarbeit  auf  dem  von  ihm  eingeschlagenen 
Wege  zu  Grunde.  Ich  gebe  in  Folgendem  nur  eine  Ma- 
terialsammlung und  verweise  im  Übrigen  auf  meinen  im 
Novemberheft  der  Treussischen  Jahrbücher'  abgedruckten 
Aufsatz:  'Goethe  und  Heinrich  Meyer'. 

1.  Der  1794  erschienene  Aufsatz  Meyers  'Über  ein 
altes  Gefass  von  gebrannter  Erde  etc.'  (Weizsäcker,  Deut- 
sche Litteraturdenkmale  25  Nr.  8)  zeigt  in  seinem  Manu- 
script  eigenhändige  Correcturen  Goethes. 

2.  Die  im  dritten  Bande  der  'Propyläen'  erschienenen 
Aufsätze  'Neue  Art  die  Malerei  zu  lehren',  'Versöhnung 
der  Bömer  und  Sabiner',  'Der  hülflose  Blinde'  sind  nicht 
von  Meyer,  sondern  von  Wilhelm  Humboldt ,  wie  auch 
Weizsäcker  vermuthet ;  doch  sind  die  beiden  letztgenannten 
Aufsätze  überarbeitet  worden ,  sowie  dem  ersten  und 
zweiten  eine  Einleitung  hinzugefügt  (vgl.  Goethes  Brief- 
wechsel mit  den  Gebrüdern  von  Humboldt  S.  117 — 118. 
120-122.  126-130). 

3.  Von  der  Meyer  vermuthungsweise  zugeschriebenen 
Recension  über  das  'Leipziger  Mode>Magazin',  sowie 


374  Hamack,  Aus  dem  Nachlasse  H.  Meyers. 

4.  Über  'Hempel,  Abbildung  und  Beschreibung  der 
Völkerstämme'  u.  s.  w.  (beide  in  der  Jenaischen  Allgemeinen 
Litteraturzeitung  1804)  finden  sich  die  Originalmanuscripte 
Meyers  im  Nachlass. 

5.  Separatabdrücke,  sowie  Reinschriften  von  Schreiber- 
hand liegen  Ton  vielen  in  der  Litteraturzeitung  erschienenen 
Aufsätzen  in  Meyers  Nachlass ;  jedoch  auch  von  solchen, 
welche  unzweifelhaft  Goethe  zum  Verfasser  haben. 

6.  Die  Vermuthung  Weizsäckers,  dass  von  den  Auf- 
sätzen des  Frogrammes  zur  Jenaischen  Litteraturzeitung 
1808  die  sechs  ersten  von  Meyer,  der  siebente  von  Goethe 
herrühren,  wird  durch  Briefe  Goethes  an  Meyer  vom  11. 
und  14.  December  1807  bestätigt. 

7.  Die  ausführliche  Recension  'Albrecht  Dürers  christ- 
lich mythologische  Handzeichnungen'  in  der  Litteratur- 
zeitung von  1808  und  1809,  welche  Strehlke  in  Goethes 
Werke  aufgenommen  hat  und  an  welcher  auch  Weizsäcker 
Meyer  nur  einen  unbedeutenden  Antheil  zuschreiben  will, 
gehört  fast  ganz  diesem  an,  wie  das  Originalmanuscript 
von  seiner  Hand  erweist.  Dasselbe  unterscheidet  sich  von 
dem  Abdrucke ,  der  jedenfalls  Goethes  Redaction  erfahren 
hat,  nur  in  folgender  Weise:  Nachdem  es  bis  zu  den 
Worten  'Eunstzügen  des  Schreibemeisters'  (Hempel  28,  820) 
übereingestimmt ,  folgen  einige  Zwischenbemerkungen. 
Daran  schliesst  sich  die  Beschreibung  der  einzelnen  Zeich- 
nungen, die  erst  im  nächsten  Jahre  in  der  Litteraturzeitung 
abgedruckt  wurde  (Hempel  S.  826—831).  Dann  folgt  nach 
einer  abermaligen  Zwischenbemerkung  die  Charakteristik 
der  Zeichnungen  nach  ihren  Haupteigenschaften,  jedoch  in 
einer  anderen  Reihenfolge  als  sie  später  im  Druck  beob- 
achtet worden  (Hempel  8.  820—824),  nämlich:  Hohes  und 
Würdiges,  Edles  und  Zartes,  Humoristisches,  Allegorisch- 
Bedeutendes,  Naives,  Malerische  Freiheit,  Zieraten,  Christ- 
liches, Künstlerische  Behandlung.  Die  Abschnitte:  Humori- 
stisches und  Naives  unterscheiden  sich  von  der  gedruckten 
Fassung,  und  der  Abschnitt:  'Malerische  Freiheit'  enthält 
einige  Sätze,  die  nicht  abgedruckt  wurden.  Endlich  lässt 
in   dem   letzten  Theile:    'Anderweitige  Betrachtungen  und 


Harnack,  Aus  dem  Nachlasse  H.  Meyers.  375 

Schlu88'  das  Manuscript  einige  Sätze   des  Abdruckes   ver- 
missen. 

8.  Bafaels  Gemälde  in  Spanien  (Programm  der  Je- 
naer Litteraturzeitung  von  1809)  ist  in  der  That,  wie  auch 
Weizsäcker  in  dieser  Zeijtschrift  2,  600  vermuthet  hat,  von 
Karoline  von  Humboldt.  Schon  1799  schrieb  Humboldt  an 
Goethe  (Briefwechsel  S.  147):  ^Meine  Frau  macht  sich  ein 
eigenes  Geschäft  daraus,  (die  Gemälde) ....  zu  beschreiben ; 
sie  bestimmt  diese  Arbeit  Ihnen'.  Goethe  theilte  dieses 
Manuscript  Meyer  mit;  vgl.  den  Brief  des  letzteren  vom 
22.  Januar  1807:  ^In  diesen  Tagen  habe  ich  zuerst  die 
Geschichte  der  Malerei  in  Spanien  von  Fiorillo  gelesen,  wo- 
raus sich  recht  viel  zum  besseren  Verstehen  des  Manu- 
scripts  der  Frau  von  Humboldt  lernen  lässt\ 

9.  Die  Recension  in  der  Allg.  Litteraturzeitung  vom 
19.  December  1809  über  ^  Handzeichnungen  berühmter 
Meister  aus  dem  königlich  baierischen  Eunstkabinette  \ 
welche  Strehlke  in  Goethes  Werke  aufgenommen  hat,  ist, 
wie  schon  Weizsäcker  vermuthet,  von  Meyer.  In  einem 
Briefe  vom  5.  September  1809  bittet  Goethe  ihn,  die  be- 
treffende Recension  abzufassen.  . 

10.  Dass  Meyer  den  Aufsatz  ^Uber  die  Bronze-Pferde 
von  Venedig'  (Journal  für  Litteratur,  Kunst,  Luxus  und 
Mode  1817)  verfasst  hat,  wird  wahrscheinlich  durch  eine 
Aufzeichnung:  ^Vergleich  zwischen  einem  venetianischen 
und  einem  Pferdekopf  vom  Parthenon'. 

11.  Zu  dem  Aufsatze  in  ^Eunst  und  Alterth'um'  I  3, 
113 — 188  'Abendmahl  von  Leonardo  da  Vinci'  (Hempel  28, 
502 — 530),  der  unbestritten  für  ein  ausschliessliches  Werk 
Goethes  gilt,  findet  sieh  ein  flüchtiges  Bleistiftconcept  von 
Meyers  Hand  auf  vier  Quartseiten,  welches  hauptsächlich 
die  Gedanken  des  dritten  Abschnittes  ^Das  Abendmahl' 
skizzirt  und  in  manchem  abweichend,  in  anderem  auch 
wörtlich  übereinstimmt.  Bei  dem  grossen  Interesse  und 
der  hohen  Wichtigkeit,  welche  die  Bestimmung  des  Ver- 
hältnisses dieser  Skizze  zu  Goethes  Aufsatze  beansprucht, 
glaube  ich  sie  wörtlich  (mit  Auflösung  der  Eürzungen)  hier 
mittheilen  zu  dürfen. 


376  Harnack,  Aus  dem  Nachlasse  H.  Meyers. 

Abendmahl  von  Leonardo. 

Meister  mit  Jüngern 

göttlicher  Meister  weil  ältere  dem  jQngern  sich  offenbar  Sub- 
ordiniren. 

Ruhigster  Zustand  —  Gastmahl. 

unterbrochene  Ruhe  Gastmahl  mit  leidenschaftlicher  Bewegung 

Der  Meister  hat  einen  wichtigen  gefährlichen  Punkt  ge- 
äussert; der  ihm  und  der  Societät  den  Umsturz  droht  —  Einer 
unter  euch 

Das  Wort  hat  gewirkt  Er  wiederholt's  durch  Mienen  —  ja 
es  ist  nicht  anders   Amen. 

Er  sitzt  in  der  Mitte  mit  dieser  hohen  Resignation.  Dj  XII 
zu  beyden  Seiten  je  3  und  3 

Motive  der  4  Gruppen 

I.   links  zu  der  er  spricht 
passive  Theilnahme 

1.  Thomas  Zweifel  ablehnend  mit  einer  Art  von  Jüdischer  Cari- 
katur  —  was  soll  mir  das!  was  sagt  der  Herr 

2.  .  .  .  Hippochondrische  Zustimmung  mit  aufgehobenem  Finger 
Ich  habe  Dir's  lange  gesagt  dass  Du  zu  zutraulich 
bist. 

3.  Jugendliche  Figur.  Hände  nach  der  Brust  gerichtet.  Gut- 
mülhig.  Egoistische  Verlegenheit.  Auf  mich  ist's  nicht 
gesagt.     Ich  bin's  gewiss  nicht. 

II.  Gruppe  Recht's 
Active  Theilnahme 

1.  Johannes  Pendant  zu  Christus.  Nach  der  rechten  gebogen 
in  sich  versenkt  traurig  zärtlich  resignirt. 

2.  Petrus.  Hinter  Judas  her  dem  Johannes  dj  Schulter  be- 
rührend mit  der  linken  —  Forsche  wer  es  sey  In  der 
rechten  hält  er  das  Messer  um  die  Exekution  wj  nachher 
mit  Malchus  kurz  und  gut  abzuthun. 

3.  Judas  zwischen  beyden  fahrt  in  den  Tisch  herein  wj  Einer 
der  Platz  macht  —  Er  hat  das  Salzfass  umgestossen  In  der 
Rechten  hält  er  den  Beutel  mit  fester  Faust  dj  Linke  macht 
eine  verlegene  Bewegung. 

III.  Gruppe  Links  am  Ende  des  Tisches 

Rath 

1.  Ein  junger  lebhafter  Mann  deutet  mit  beyden  Händen  gegen 
Christus  als  wollt  er  sagen  so  gehts  dem  trefflichen 
Manne 

2.  Hinter  Ihm  Ein  Alter  schlägt  von  oben  herab  mit  der  um- 
gewendeten Hand  in  dj  Flache  und  betheuert  verdriesslich 
So  habe  es  gehen  müssen 

3.  Edle  ruhig  sitzende  Figur  mit  vor  sich  hingehaltenen  Händen 
—  Was  wäre  nun  zu  thun 


Harnack,  Aus  dem  Nachlasse  H.  Meyers.  377 

III.  Gruppe  Rechts  am  Ende  des  Tisches 
leere  Theilnahme 

1.  Reine  Verwimdrung  und  Aprähension. 

2.  lehnt  sich  über  den  vorhergehenden  weg  um  durch  den 
fragenden  Petrus  an  Johannes  zu  fragen  Wer  gemeint  sey 

3.  am  Ende  des  Tisches  dunkler  Neugieriger  Horchend  und 
lauernd  .  hat  sich  aufgerichtet  und  biegt  sich  auf  die  Hände 
gestützt  über  den  Tisch  hin. 

[Strich] 

Zu  betrachten  im  Allgemeinen 

1.  Dj  Motive  als  Charakteristisch  bezüglich  auf  dj  einzelnen 
Personen  Sittlich  leidenschaftlich 

2.  Gebärdensprache.     Händesprache. 

3.  Im  Kunstbezug  als  künstl[erische]  Anordnung. 

Betrachtung. 
1   Tafel    2  Speisen   3  Tischtuch  Tisch  ftisse   und   Füsse   der 
Personen  beygebracht  ist. 

Lokal  Bestimmung  als  4**  Seite  der  Refeclorien  wo  die  Tische 
sich  fortsetzen. 

Zustand  des  Bildes  A.  1797. 

Zeichnung  durch  wen  und  Ausführung  einer  alten  Copie. 

12.  Eine  Reihe  von  Manuscripten  findet  sich  im  Nach- 
lasse, welche  in  Zeitschriften  abgedruckt  sind,  die  Weiz- 
säcker in  seinem  Verzeichniss  der  Meyerschen  Schriften 
unberücksichtigt  gelassen  hat: 

a)  in  'Wiener  Jahrbücher  für  Litteratur'  1818—1849.  Die 
Aufsätze  sind  zum  Theil  umfangreich,  so  z.  B.  die 
Anzeige  der  ^Annali  delFinstituto  di  corrispondenza 
archeologica  per  Tanno  1829'  und  des  Bulletins  des- 
selben Instituts. 

b)  in  Boettiger,  Amalthea  oder  Museum  der  Kunstmytho- 
logie, Leipzig  1820—1825. 

13.  In  dem  Briefe  Goethes  an  Meyer  vom  16.  No- 
vember 1795  (Riemer,  Briefe  von  und  an  Qoethe  S.  18 
Z.  16)  ist  nach  dem  Original  statt  ^Benannten'  zu  lesen 
^Bramanten'. 

Berlin.  Otto  Harnack. 


Vierteljahrschrift  fdi  Litteratargeschichte   III  25 


378  Suphan,  Ein  Brief  von  Bückert  an  Goethe. 


Ein  ongedruekter  Brief  Ton  Friedricli  Mekert 

an  Goethe. 

Das  Wenige,  was  über  persönliche  Beziehungen  Rückerts 
zu  Goethe  zu  sagen  ist,  habe  ich  in  meinem  Vortrage  an 
Rückerts  hundertjährigem  Geburtstage  8.  7  ff.  zur  Sprache 
gebracht  und  bei  diesem  Anlass  den  Dedicationsbrief  des 
Dichters  zu  den  'Ostlichen  Rosen'  veröffentlicht.^)  Es  ist 
dies  nicht ,  wie  dort  gesagt  ward ,  der  einzige ,  den  das 
Goethe-  und  Schiller- Archiv  verwahrt.  Bei  der  Durchsicht 
Goethischer  Briefconcepte  hat  sich  noch  ein  zweiter  ge- 
funden, ein  Begleitwort  zu  einer  älteren  Widmung. 

Höchstzuverehrender  Herr  Geheimeralh! 

Von  äussern  Umständen  beschränkt,  musste  ich  bisher  das 
Glück  mir  versagen,  £w.  Excellenz  persönlich  aufzuwarten,  da 
mein  Vorsatz,  auf  hiesiger  Lehranstalt  die  Laufbahn  eines  aka- 
demischen Lehrers  als  Privatdocent  zu  beginnen,  mir  ein  Recht 
und  eine  Pflicht  zu  geben  scheint,  Ew.  Excellenz  meine  ehr- 
furchtsvollste Huldigung  darzubringen.  Ich  wage  es  also,  das 
erste  Product  meines  wissenschaftlichen  Strebens,  so  sehr  auch 
seine  wohlerkannte  Unbedeutendheit  mich  zurückschrecken  mag, 
Ew.  Excellenz  als  ein  Opfer  meiner  tiefsten  Verehrung  zu  weihen, 
bittend,  dass  Höchstdieselben  die  jugendliche  Mangelhaftigkeit  mit 
gnädiger  Schonung  aufnehmen,  nicht  besorgend,  dass  Ew.  Ex- 
cellenz allumfassender  Blick  das  etwa  neue  Streben  desselben 
wegen  seiner  Neuheit  unbedingt  verdammen  werden.  Zugleich 
bitte  ich  Ew.  Excellenz  demüthig  um  Verzeihung  wegen  einer 
poötischen  Unbesonnenheit,  von  der  ich  allerdings  fCirchten  muss, 
dass,  wenngleich  nunmehr  vergessen,  doch  mein  Name  sie  Höchst- 
denselben  ins  Gedächtniss  zurückrufen  werde.  Ich  bin  in  tiefster 
Prosa 

Ew.  Exceilenz 
Jena  den  9.  Mai  1811  unterthäniger  Verehrer  und  Diener 

Fr.  Rückert. 

Das  Product,  welches  Rückert  dem  Meister  mit  diesem 
Schreiben  darbietet,  ist  seine  ^Dissertatio  philologico-philo- 
sophica   de    idea   philologiae\   über   die   er    am    30.  März 

*)  Friedrich  Rückert.  Vortrag  gehalten  in  Weimar  am  16.  Mai 
4888.    Weimar,  Böblaa  1888  S.  32. 


Suphan,  Ein  Brief  von  Bückert  an  Goethe.  379 

Öffentlich  disputirt  hatte.  Ein  merkwürdiges  Schriftchen, 
von  dessen  Inhalt  und  Tendenz  man  sich  hinlänglich  aus 
den  Proben  und  Auszügen  unterrichten  kann,  die  C.  Beyer 
in  sein  ^Biographisches  Denkmal^  Rückerts  (Frankfurt  a.  M. 
1868)  8.  41 — 50  aufgenommen  hat.  Der  speculativ- poeti- 
sche Charakter  des  Verfassers  ist  diesem  ersten  wissen- 
schaftlichen Versuch  deutlich  aufgeprägt.  Die  weitsinnige 
Fassung  des  Begriffs  der  Sprachwissenschaft,  im  Zusammen- 
hang mit  ihr  der  Ausblick  auf  eine  Weltpoesie,  die  Wür- 
digung des  Deutschen  als  des  geeignetsten  Organs  für  eine 
solche,  dies  und  manches  andere  war  wohl  dazu  angethan, 
Goethes  Interesse  für  den  Verfasser  zu  wecken.  Gleich- 
wohl, scheint  es,  ist  das  Schreiben  unerwidert  geblieben, 
und  so  bleibt  es  sogar  fraglich,  ob  Goethe  das  Büchlein  in 
Betracht  gezogen  hat.  Erklären  lässt  sich  dies  (wenn  nicht 
das  schon  Erklärung  genug  ist,  dass  es  manchem  Brief- 
und  Widmungs  -  Schreiber  ebenso  ergangen)  daraus,  dass 
die  Sendung  zu  ungünstiger  Zeit  kam.  Goethe  trat  schon 
am  12.  Mai  die  Reise  nach  Böhmen  an.  Vielleicht  auch 
war  etwas  Persönliches  im  Spiele.  Der  demuthsvolle  De- 
dicant  (und  Goethe  gegenüber  war  er  aus  innigster  Über- 
zeugung demüthig)  war  auf  dem  Katheder  keck  genug  auf- 
getreten. Er  war  bei  der  Disputation  dem  alten  Eichstädt 
über  den  Mund  gefahren,  hatte  vor  dem  alten  philologi- 
schen Grundbesitz  überhaupt  wenig  Respect  bewiesen. 
Sollte  nicht  hiervon  etwas  nach  Weimar  gedrungen  sein? 
Goethe  konnte  den  Geruch  der  Arroganz  nicht  ausstehen, 
zumal  bei  Jüngeren.  Und  kam  es  auf  Mittelspersonen  an, 
so  war  der  junge  Docent  jedenfalls  übel  empfohlen.  Den 
Fall  gesetzt,  Riemer  hätte  über  die  4dea  philologiae'  dieses 
Neologen  das  Wort  gehabt,  so  würde  das  ungefähr  so  ge- 
lautet haben,  wie  das  Urtheil  des  ihm  nahe  stehenden 
Franz  Passow,  der  die  Dissertation  rundweg  für  das  Opus 
eines  Narren  erklärte. 

Schon  ein  Mal  hatte  sich  Rückert,  wie  wir  nun  er- 
fahren, vergeblich  bemüht,  Goethes  Aufmerksamkeit  auf 
sich  zu  lenken.  Die  Worte,  mit  denen  er  im  Frühjahr 
1811  verschämt  daran  erinnert,  besagen,  dass  das  nicht 
unlängst,  sondern   vor  Jahr   und  Tag  geschehen   war.     Er* 


380  Philippsthal,  Maitre  Jacques. 

hat  ein  Qedicht  übersandt,  jedenfalls  doch  in  der  Hand- 
ßchrift.  Welches?  wird  sich  schwerlich  ermitteln  lassen. 
So  hat  er  denn  wiederholt  umsonst  um  die  Gunst  des 
Meisters  geworben.  Und  nach  Goethes  Tode  durfte  er  sich 
in  der  That  das  Zeugniss  ausstellen,  dass  er  sonder  'Eigen- 
nutz^ sein  Anhänger  und  Herold  gewesen  sei  und  bleibe. 
'Hat  er  mich  gelobt,  genannt?  Mich  gehoben,  anerkannt?^ 
Das  Wort,  das  Goethe  öffentlich  den  'Östlichen  Rosen'  ge- 
gönnt hatte,  war  ja  eine  Anerkennung,  aber  eine  spärlich, 
ja  kärglich  zugemessene. 

Weimar.  Bernhard  Suphan. 


Maitre  Jacques. 

In  demselben  Sinne  wie  Goethe  —  vgl.  Vierteljahr- 
schrift f.  Litteraturgesch.  1,  286  f.  —  den  Ausdruck  Mattre 
Jacques  gebraucht,  verwendet  ihn  bereits  Helfrich  Peter 
Sturz  in  dem  ^Brief  über  das  deutsche  Theater',  den  er 
seinem  Trauerspiel  'Julie'  beigegeben  hat.  Die  Stelle 
lautet:  ^Unsere  Schauspieler  werden  sich  nie  der  YoII- 
kommenheit  nähern,  wenn  man  sie  wie  Maitre  Jacques  zu 
allen  Verrichtungen  braucht,  und  denn  tragische,  denn 
comische  Rollen  von  ihnen  fordert'  (Schriften  von  H.  P. 
Sturz.  2.  Samml.  Carlsruhe,  Schmieder  1784  S.  2t  1). 
Vermuthlich  ist  der  Ausdruck  aus  derselben  oder  aus  frü- 
herer Zeit  noch  öfter  zu  belegen,  da  er  im  Französischen 
in  vertraulicher  Rede  üblich  war  und  noch  ist.  Auch 
Littr6,  Dictionnaire,  und  Sachs-Villatte,  Wörterbuch,  geben 
als  Quelle  der  Redensart  Moli^res  Avare  an.  Die  Phrase 
ist  also  keine  private  Liebhaberei  Goethes. 

Hannover.  Robert  Philippsthal. 


Hauffen,  Fischarts  Enlenspiegel.  38t 


Flscharts  ^Enlenspiegel  Beimensweiss% 

Fischart  erscheint  in  seiner  Bearbeitung  des  Volks- 
buches vom  Eulenspiegel,  wie  ich  bereits  an  einer  anderen 
Stelle  nachzuweisen  versucht  habe/)  insoferne  von  Scheidts 
^Qrobianus'  abhängig,  als  er  hier  im  Gegensatze  zur  ein- 
fachen, objectiven  Darstellungsweise  des  Volksbuches  mit 
stark  hervortretender  Subjectivität  sich  seinem  Helden  wie 
ein  Lehrmeister  seinem  Schüler  und  Schützling  gegenüber 
stellt.  Er  ermahnt  und  belehrt  Till  Eulenspiegel,  rühmt 
oder  tadelt  dessen  Thaten,  begründet  oder  entschuldigt  gar 
zu  grobe  Streiche,  nimmt  regen  Antheil  an  dessen  Charakter- 
entwicklung und  innerem  Leben,  schildert  seine  Angst  und 
seine  Freuden,  seine  Pläne  und  Absichten,  versucht  Erklä- 
rungen für  seinen  häufigen  Berufswechsel  und  verwandelt 
den  Schalksnarren,  indem  er  den  ihm  angebornen  Zug 
eigennütziger  Genusssucht  bedeutend  verstärkt,  zum  echten 
Grobianer  um. 

Doch  damit  ist  die  Beurtheilung  der  freien  Bearbeitung 
Fischarts  bei  weitem  noch  nicht  erschöpft.  Fischart  hat 
seinen  gereimten  *Eulenspiegel'  zu  einem  ganz  neuen  Werk 
umgeschaffen  und  weit  mehr  aus  der  Vorlage  gemacht,  als 
er  von  Scheidt  allein  hätte  lernen  können.  Auf  dem  enger 
umgrenzten  Felde  der  grobianisch-satirischen  Litteratur  hat 
ihn  Scheidt  sicher  kräftig  gefördert  und  vielleicht  auch  der 
lehrhaften  Tendenz  seiner  Satire  die  Richtschnur  gegeben, 
aber  dem  genialen,  weitausblickenden  Geist  des  Schülers 
konnte  er  nicht  als  einziger  Lehrer  genügen.  Fischart  hat 
vielmehr  schon  sehr  früh  seine  angebornen  reichen  Talente 
in  der  Schule  des  Lebens  zur  Reife  gebracht,  er  hat  bereits 
vor  der  Abfassung  seines  Eulenspiegels  weite  Reisen  unter- 
nommen und  Universitäten  besucht,  viel  gesehen  und  be- 
obachtet, gelesen  und  studirt  und  seine  eigenen  Fähigkeiten 

')  Caspar  Scheidt  (Quellen  und  Forschungen  66)  Strassburg  1889 
S.  113—120.  Hier  auch  über  divs  Bibliographische  und  das  Abfassungs- 
jahr des  Enlenspiegel. 

VierteUahnchrift  fOr  littaratuveschichte  m  26 


l 


382  HaufFen,  Fischarts  Eulenspiegel. 

durch  Nachahmung  grosser  Vorbilder  gefördert,  darum  er- 
weist er  bereits  in  diesem  Jugendwerke  eine  schier  erstaun- 
liche Kenntniss  der  Geschichte  und  Eigenart  des  deutschen 

Volkes,  einen  scharfen  Blick  und  ein  tiefes  Urtheil  in  der 
Beobachtung  der  politischen  und  kirchlichen  Streitigkeiten 

und  der  gesellschaftlichen  Misstände  der  Zeit. 

Der  Eulenspiegel  ist  Fischarts  erste  Umarbeitung  einer 
fremden  Quelle;  aber  er  hält  sich  hier  noch  enger  an  die 
Vorlage,  er  wollte  'keinen  eingriff  in  die  Ordnung'  der 
Schwanke  thun,  er  hat  diese  nur  'gereutert,  gereimpt  vnd 
explicirt'  und  noch  nicht  wie  später  den  Gargantua  'inn  einen 
newen  Model  vergossen'.  Doch  in  Einzelheiten  ändert  er 
Form  und  Inhalt  ab.  Er  belebt  den  Ausdruck,  er  sorgt 
für  drastische  Vergleiche  und  würzt  den  Vortrag  mit  einer 
Fülle  volksthümlicher  Redensarten;  er  überbietet  sich  in 
neuen  Wortbildungen,  kühnen  Sprach  Verrenkungen  und 
Reimspielen,  er  schaltet  völlig  selbständig  in  seinen  umfang- 
reichen Zusätzen,  die  er  nicht  nur  ^an  wenig  verführerischen 
Stellen'^)  sondern  in  jedem  Kapitel  zu  wiederholten  Malen 
anbringt.  Er  führt  jede  Andeutung  der  Vorlage  weiter  aus, 
erfindet  neue  Züge  der  Handlung  und  Motivirung,  unter- 
drückt auch  derbe  Cynismen  nicht,  wo  sie  die  Situation 
heraufbeschwört,  und  trifft  mit  seinen  witzigen  Anspielungen 
allemal  ins  Schwarze.  Der  frohe  Ubermuth  seines  frei 
herrschenden,  echten  Humors,  die  reichen  Bezüge  auf 
Heimat  und  Gegenwart  bilden  klar  erkennbar  eine  Vorstufe 
zur  'Geschichtklitterung'. 

Fischart  kehrt  im  Eulenspiegel  wieder  einen  sehr  anti- 
katholischen Standpunkt  hervor,  aber  seine  grosse  satirische 
Kraft,  die  er  in  seinen  ersten  Schriften  gegen  die  Geistlich- 
keit übt,  bewährt  er  nun  im  Kampfe  gegen  die  Schälke 
und  Narren  aller  Stände,  gegen  Fürsten  und  Gelehrte, 
Richter  und  Kaufleute^  Advocaten  und  Handwerker.  Dies 
war  auch  der  Hauptzweck  seiner  Bearbeitung.  Er  wollte 
damit  nicht  die  Unterhaltungslitteratur  seiner  Zeit  ver- 
mehren, sondern  benutzte  die  Schwanke  als  Mittel.  Und 
wie  er  später  im  ^Flöhfaatz'  in  einer  tollen  Einkleidung  das 

')  Gervinus,  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  3*,  200. 


Hauffen,  Fischarts  Eulenspiegel.  3g3 

Überheben,  die  Unzufriedenheit  mit  dem  eigenen  Stande 
geisselt,  so  hat  er  sich  bestrebt  bei  den  Eulenspiegeleien, 
*allerley  zu  errathen'  was  des  ersten  Verfassers  ^bedeneken, 
vorhaben  vnd  endt  in  Moraliteten  vnd  sittlichen  Lehren 
gewesen  seye'  und  hat  darnach  'Morische,  Thorische,  Eulen - 
spieglische  Moraliteten,  wie  es  sich  geschickt  genug  ge- 
stellet'.») 

Da  Till  Eulenspiegel  den  ganzen  Kreis  damaliger 
Thätigkeit  durchprobirte  und  an  den  verschiedensten  Orten 
seine  Possen  trieb,  so  bot  das  Volksbuch  den  satirisch-lehr- 
haften Absichten  Fischarts  die  beste  Handhabe  dar. 

Fischart  folgte  dem  Volksbuche  nach  der  Erfurter  Aus- 
gabe vom  Jahre  1532.  Er  lässt  die  97.  Historie  'Von  Eulon- 
spiegels  angeblicher  Ehefrau'  weg,  zieht  einige  Male  je 
zwei  Historien  zu  einem  ^Kapitel'  zusammen  und  ändert 
hie  und  da  die  Reihenfolge  ab.^)  Historien,  die  ihn  inhaltlich 
nicht  weiter  interessiren,  weil  er  durch  sie  nicht  eine  lehr- 
hafte oder  satirische  Tendenz  aussprechen  kann,  schweisst 
er  ohne  nennenswerthe  Änderungen  einfach  in  Verse  um, 
so  z.  B.  Nr.  16:  'Eulenspiegel  und  das  kranke  Kind  zu 
Peyne'.  Seine  Kapitelüberschriften  sind  fast  ausnahmslos 
den  Titeln  der  Historien  in  der  Vorlage  gleichlautend,  ja 
auch  an  den  Wortlaut  der  fortlaufenden  Erzählung  hält 
sich  Fischart  dort,  wo  ihm  keine  neue  Bemerkung  oder 
Abänderung  nothwendig  erschien,  so  genau,  als  es  ihm 
nur  Vers  und  Reim  gestatteten;  so  z.  B.  Erfurter  Text, 
Historie    69  'Got  grüss   euch   herr  vnd   ewer  haussgesind 

*)  Vorrede  zum  Eulenspiegel  bei  Wackernagel,  Fischart  von  Strass- 
burg  S.  144. 

♦)  Lappenberg,  Mumera  Ulenspiegel,  Leipzig  1854  gibt  S.  187 
eine  Nebeneinanderstellung  der  Kapitel  Fischarts  und  der  Historien 
des  Volksbuchs.  Die  Erfurter  Vorlage  schreibt  immer  Vlenspiegel, 
Fischart  hingegen  Eulenspiegel.  Die  Holzschnitte  zu  den  einzelnen 
Kapiteln  sind  oifenbar  Nachahmungen  derjenigen  in  der  Vorlage,  nur 
im  Detail  besser  ausgeführt;  stammen  sie  ja  doch  aus  dem  Verlage 
Feyerabends  und  Jobins.  Zu  jenen  Kapiteln,  die  in  der  Vorlage  ohne 
Bild  sind,  wiederholte  Fischai-ts  Verleger  einfach  eines  von  den  früher 
verwendeten  Bildern,  ohne  Rücksicht  ob  es  zum  Texte  passt  oder 
nicht,  also  ähnlich  wie  die  älteste  (Strassburger)  Ausgabe  des  Volks- 
buches (vgl.  Braune's  Neudrucke  55.  56  S.  IV). 

26* 


384  Hauffen,  Fischarts  Eulenspiegel. 

vnd    alle    die   ich   ynn   diesem    reinhauss   find\     Fischart 

Bl.  205»: 

Gott  grfiss  euch  Herr  vnd  Gsindt 
Vnd  all  die  ich  im  Reinhauss  iindt. 

Oder  Erfurter  Historie  38:  'ein  klein  seuberlich  wacker  pferd' 
Fischart:  'ein  klein  sauber  wacker  Pferdt'.  Endlich  Erfurt. 
Hist.  29:  'stirbet  der  Rector  so  bin  ich  frey,  stirb  dann  ich, 
wer  wil  mich  manen,  stirbt  dann  mein  diszipel,  so  bin  ich 
aber  ledig'.     Fischart  83^: 

Stirbt  der  Rector,  so  bin  ich  frey 
Vnd  stirb  dann  ich,  wer  wil  mich  manen? 
Stirbt  mein  diszipel  dann  von  dannen 
—  —  bin  ich  gantz  ledig. 

Im  übrigen  aber  weiss  Fischart  in  seiner  Bearbeitung 
den  Ausdruck  mannigfaltiger,  den  Vortrag  lebendiger  zu 
gestalten;  er  huldigt  der  Vorliebe  seines  Jahrhunderts  für 
gepaarte  Ausdrücke  z.  B.  Volksbuch:  'vngeheissen\  Fischart 
j49b.  'vngeheissen  vnd  vnbefohlen' ;  Volksbuch:  'gut  meister', 
Fischart  4^:  'Gauckler  vnd  Spiegelfechter';  Volksbuch: 
'sprach',  Fischart  109  •:  'schalt  vnd  flucht'.  Er  liebt  die 
Zusammenstellung  von  drei  und  mehr  Gliedern  und  zeigt 
schon  hier  die  Ansätze  zu  seinem  später  so  übermässig 
hervortretenden  Stilprincip  der  Häufung:  Das  Erfurter 
Volksbuch  erzählt,  dass  beide  Narren  AiFenspiel  trieben, 
krumme  Mäuler  machten  u.  s.w.  Fischart  67^  fügt  hinzu: 
'narrentheiding ,  gaucklen ,  springen ,  zanplecken ,  lachen, 
schreyen,  Zung  aussstrecken';  oder  Volksbuch:  'von  dem 
heubt  Brandonis',  Fischart  90*: 

Predigt  von  Roche,  Grillo,  Lande 
F&rnemlich  von  eim  der  hiess  Brande. 

Bilder  und  Vergleiche  hat  Fischart  immer  zur  Hand, 
gern  entnimmt  er  sie  der  Thierwelt,  4*  'wie  ein  aussgelassen 
Pferdt',  108*»  'wie  ein  Hund,  der  grass  bekompt',  223 **  'ein 
stachlechter  gsträubter  Igel',  224^  'ein  Fledermauss' ;  häufig 
sind  sie  derb,  immer  anschaulich:  143*  (vor  Schreck  sahen 
sie  aus)  'wie  die  gelbe  Bieren';  153^  (Eulenspiegel  kroch 
unter  den  Fellen  hervor)  'wie  der  Teufi^el  auss  der  Hellen'; 
10**  (Schuhe  flogen  im  Streit  hin  und  wieder)  'wie  die 
Schifflein  auff  dem  Meer'. 


Hauffen,  Fischarts  Eulenspiegel.  385 

Mit  Yollen  Händen  aber  schöpft  Fischart  für  seine 
Bearbeitung  aus  dem  reichen  Schatze  volksthümlicher 
Redensarten  und  Sprichwörter,  die  er  bereits  in  früher  Zeit 
in  erstaunlichem  Grade  beherrscht.  Yor  allem  liebt  er,  ab- 
weichend Yon  der  Vorlage,  mit  einem  Sprichwort  das  Ka- 
pitel zu  eröffnen  und  diesem  dadurch  einen  Stempel  auf- 
zudrücken, der  den  Inhalt  der  folgenden  Erzählung  andeutet. 
Ein  besonders  anschauliches  Beispiel  hiefür  ist  der  Anfang 
des  67.  Kapitels  (Volksbuch  Hist.  70,  Fischart  Bl.  207<>): 

Dieweil  wir  bey  der  Milch  nun  sein 
So  fehlt  mir  jetzt  ein  Sprichwort  ein. 
Man  sagt,  man  macht  auss  Sfissmilch 
Ein  Sawrmilch  vnd  auss  warmer  kalt, 
Das  ist  auss  leid  trawrigkeit 
Dess  wil  ich  geben  hie  bcscheidt.  ' 

In  ähnlicher  Weise  schliesst  er  andrerseits  häufig  ein 
Kapitel  mit  einem  Sprichwort,  das  die  Moral  der  Historie 
kurz  und  bündig  darthun  soll.  So  Kap.  84  (Bl.  254*):  ^Wer 
schälcken  glaubt,  ist  krank  im  Haupt^  oder  Kap.  47  (Bl.  143^): 
^Wer  sich  an  schalck  vnd  Meelsack  reibt.  Das  Meel  ge- 
wisslieh  an  jm  bleibt\  Diese  bekannte  Wahrheit,  welche 
eigentlich  als  Grundlehre  aller  Eulenspiegeleien  betrachtet 
werden  kann,  setzt  Fischart  in  den  mannigfaltigsten  Wen- 
dungen an  den  Schluss  vieler  Kapitel.  Und  wo  ihm  nicht 
gleich  ein  Sprichwort  in  die  Feder  fliesst,  da  füllt  er  dessen 
Stelle  doch  durch  eine  abschliessende,  zusammenfassende 
Wendung  aus. 

An  vielen  Stellen  häuft  er  in  langer  Reihe  Sprichwort 
auf  Sprichwort.  Eine  stilistische  Eigenthümlichkeit,  die  er 
später  besonders  im  'Gargantua'  auf  die  Spitze  getrieben 
hat,  und  die  wir  im  16.  Jahrhundert  auch  sonst  öfters  finden, 
etwa  im  Volksbuch  vom  Doctor  Faust,  oder,  um  ein  fremd- 
ländisches Beispiel  der  Zeit  zu  nennen,  in  den  Reden 
Sancho  Pansas.  Eulenspiegel  ruft  bei  Fischart  dem  ruhm- 
redigen Wirth,  der  vor  einem  todten  Wolf  erschrak,  zu: 
Kap.  75  (Bl.  231%  vgl.  Volksbuch  Hist.  78): 

Aber  verba  sunt  ist  Gerbers  Hund, 
Mit  Worten  gsundt,  in  wercken  wundt 


386  Hauffen,  Fischarts  Eulenspiegel. 

Hoch  wort  on  werck  vnd  keck  on  sterk 

Den  setzt  man  kein  Triumphgemerck 

Es  seind  Kuhschellen  on  die  K6h u.  s.  w. 

Auf  jedem  Blatt  des  gereimten  Eulenspiegel  finden 
wir  mehr,  als  ein  Beispiel  dafür,  dass  Fischart  die  Darstel- 
lung der  Vorlage  jeden  Augenblick  durch  eine  Kedensart 
oder  einen  Spruch  unterbricht,  der  den  Kern  des  Erzählten 
genau  bezeichnet,  ja  oft  dem  besondern  Gewerbe  entnommen 
ist,  von  welchem  in  dem  betreffenden  Kapitel  gerade  die  Rede 
ist.  Er  setzt  häufig  an  Stelle  des  Sprichworts  der  Vorlage 
ein  neues,  das  ihm  besser  taugt,  und  erfindet  während  des 
Niederschreibens  manches  schöne  geflügelte  Wort.  Volks- 
thümliche  Betheuerungen  und  Schwüre,  kräftige  Flüche  und 
saftige  Schimpfnamen  verstreut  er  besonders  reichlich  in 
die  Reden  der  auftretenden  Personen.  Auch  ergreift  er 
jede  günstige  Gelegenheit,  statt  der  einfachen  Andeutung 
in  der  Vorlage  die  Gespräche  oder  den  Gedankengang  der 
handelnden  Personen  in  breiter,  derbkomischcr  Ausführung 
dem  Wortlaut  nach  vorzutragen.  Wenn  z.  B.  das  Volks- 
buch 7.  Historie  kurz  berichtet,  der  Bauer  habe  die  Kinder 
durch  Schläge  gezwungen,  übers  Mass  zu  essen,  so  sagt 
dafür  Fischart  Bl.  18»: 

So  wolt  er  mit  der  Gerten  sie 
Die  Rfiben  lehren  essen  hie 
Vnd  trulz  keiner  von  dannen  gang 
Dass  ich  jn  nit  hesslich  empfang 
Verwendt  nur  keiner  nit  den  fuss 
Ich  wiJ  euch  gsegnen  hie  das  muss 
Dass  jr  ein  weil  dran  dencken  werdt 
Vnd  darnach  sein  nit  mehr  begert 
Es  wird  heissen  auff  dieser  kirb 
Sech  zu  Vogel,  friss  oder  stirb. 

Ähnlich  an  zahllosen  anderen  Stellen.  Doch  wie  Fischart 
seinen  Helden  und  die  übrigen  Figuren  der  Schwanke  laut 
denken  lasst,  so  verschweigt  er  auch  nicht,  was  ihm  selbst 
bei  jedem  einzelnen  dargestellten  Vorgang  einfällt.  Der 
Schalk  sitzt  ihm  jeder.  Zeit  im  Nacken  und  er  verläugnet 
seine  Gesellschaft  nicht.  Sein  Muthwillen  bricht  an  ernsten 
und  heiteren  Stellen  durch  und  sprudelt  über  in  witzigen 
Anspielungen,  boshaften  Bemerkungen  und  humoristisehea 


Hauffen,  FischarU  Enlenspiegel.  387 

Wendungen.  Wenn  z.  B.  die  Vorlage  den  Vater  Eulen- 
spiegels nennt,  so  fügt  Fischart  hinzu  P: 

Wie  alt  das  gschlecht  sey  niemandt  weiss 
On  zweiffel  auss  dem  Paradeiss. 

Im  Volksbuch  36.  Historie  lässt  Eulenspiegel  dem 
Bauernweibe  den  Hahn  zum  Pfand  und  nimmt  die  Hennen 
mit,  bei  Fischart  105  **  fügt  er  zur  Beruhigung  der  Frau 
hinzu,  der  Hahn  sei  geil  und  darum  könne  er  ihn  nicht  von 
den  Hennen  auf  lange  Zeit  scheiden.  Ist  Eulenspiegcl 
hungrig,  so  eilt  er  bei  Fischart  22P  ins  nächste  Dorf,  ^dass 
er  sein  Magenweh  da  heilt';  schläft  er  auf  einer  Bank,  so 
erwacht  er  früh  233'  'Weil  jn  gar  sehr  die  federn  stachen\ 
Der  Pfarrer  schlemmte  gern:  Fischart  197*»  *Da  man  jm 
nichts  andoriFte  kreiden'.  Meisterhaft  versteht  es  Fischart, 
die  Komik,  die  häufig  in  den  vom  Volksbuch  erzählten 
Situationen  unbenutzt,  gewissermassen  latent  liegt,  zu  hu- 
moristischer Wirkung  zu  verwenden.  Die  erste  Historie 
berichtet,  dass  Eulenspiegel  nach  der  Taufe  ins  Wirthshaus 
getragen  wurde,  Fischart  betont  nun  ausdrücklich  2^: 

Also  kam  fein  das  Kindlein  Tyl 
Zeitlich  ins  Wirtshauss  on  sein  will. 

In  der  9.  Historie  wird  Eulenspiegel  im  Bienenkorb  bei 
Nacht  von  zwei  Dieben,  die  Honig  zu  stehlen  vermeinen, 
davon  getragen.  Eulenspiegel  rupft  nun  bald  den  einen, 
bald  den  anderen  beim  Haar  und  denkt  sich  dabei  22': 

Du  will  jn  zeigen  die  Bienenstich 

Wollen  sie  meinen  Honig  essen 

So  m&ssen  sie  mein  stich  auch  fressen. 

In  der  29.  Historie  blättert  der  Esel  im  Messbuch  herum, 
weil  er  den  Hafer  sucht;  Fischart  bemerkt  hiezu  84': 

Vmbs  Habern  willen  lass  er  Metten 
Der  Hunger  lehret  ein  wol  betten. 

Da  Eulenspiegel  in  der  68.  Historie  ein  grünes  Tuch  für 
blau  ausgibt,  spricht  er  zu  sich  bei  Fischart  20 P:  ^Dass 
du  jm  machst  ein  blawen  dunst'.  Und  der  in  ein  Hasenfell 
eingenähten  Katze  der  55.  Historie  gibt  Fischart  158^  die 
köstliche  Bezeichnung:  ^Der  Eetzrisch  Hase\ 


"v 


3gg  Hauffen,  Fischarts  Eulenspiegel. 

Zu  den  Städten,  Ländern  und  Yolksstämmen,  welche 
das  Volksbuch  erwähnt,  fügt  Fischart  gern  eine  historische 
Notiz.  Hier  liegen  die  Anfange  seiner  späterhin  so  be- 
wunderungswürdigen, ausgebreiteten  und  tiefen  Eenntniss 
der  deutschen  Heimat.  Doch  verwerthet  er  hier  nicht  nur 
das,  was  er  selbst  erfahren  und  gesehen,  sondern  zweifellos 
auch  einige  der  zu  seiner  Zeit  allbeliebten  geographischen 
und  polyhistorischen  Compendien,  wenn  er  bei  Erwähnung 
Berlins  seine  Leser  belehrt  Bl.  138:  'welches  dann  leidt, 
im  Land  Brandenburg  an  der  Spree^  oder  zu  Quedlinburg 
bemerkt  Bl.  104^:  'welches  ist  beschreit  vom  f&rstlichen 
Kloster  darinnen,  Sonst  nichts  als  Qräffin  wohnen  kunnen\ 
und  zu  Wismar  Bl.  188^:.  'Dahin  man  bringt  viel  Dänisch 
Pferdt'.  Lübeck  nennt  er  Bl.  162*»  'das  haupt  in  der  H^nse 
ynd  in  Seest^dten^,  an  Rostock  rühmt  er  Bl.  tl5*  'die  gute 
Hoheschul  vund  wolbestellten  Predigtstul'.  Von  den 
Schwaben  behauptet  er  Bl.  155*,  dass  sie  gerne  reisen,  viel 
schwätzen  und  mit  Kindern  reich  gesegnet  sind;  von  den 
Sachsen  Bl.  266%  dass  sie  den  Speck  lieben,  u.  s.  w. 

Bei  diesen  Ansätzen  von  Gelehrsamkeit  sei  auch  eines 
andern  Wissens  erwähnt.  Fischart  nennt  öfter  den  'hörnen 
Seyfriedt',  Dietrich  von  Bern  und  die  Helden  der  Home- 
rischen Gesänge,  um  mit  ihnen  den  thatendurstigen  Eulen- 
spiegel zu  vergleichen. 

Den  breitesten  Raum  unter  allen  Zusätzen  nehmen 
Fischarts  satirische  Bemerkungen  über  die  verschiedenen 
Stände  ein,  die  in  den  Schwänken  auftreten.  Allen  Miss- 
bräuchen und  Unsitten,  all  dem  Jammer  im  heiligen  deut- 
schen Reiche  seiner  Zeit  rückt  er  bei  dieser  Gelegenheit 
zu  Leibe,  in  sehr  deutlichen  Anspielungen,  gewaltigen  Ab- 
kanzelungen oder  hämischen  Witzen.  Vor  allem  nimmt  er 
die  'Schälke  und  Lauren'  aufs  Korn,  sucht  und  findet  in 
jedem  Stande  Narren,  die  er  ans  Tageslicht  zieht  und  un- 
barmherzig verspottet. 

Die  Schälke  sind  fromm,  sagt  Fischart  Bl.  265^,  aber 
'hinder  sich': 

Man  sagt,  das  vor  zween  grossen  Schäleken 
Der  Galgen  weich  vnd  muss  erwelcken. 

Sie  sind  gleich  Fledermäusen  Bl.  93":   'Bey  nacht  han  sie 


Hauffen,  Fischarts  Eulenspiegel.  389 

jr  Narrenweis8\  Und  doch  sieht  man  überall  die  Narren 
gern.  Schalkheit  bringt  einen  durch  alle  Lande.  ^Mit 
Lotterwerk'  wird  man  reich,  ^Qaussknechte'  gelten  mehr  als 
Helden  Bl.  19t*  und  Possen  gefallen  besser  als  weise 
Lehren.    Aber  Bl.  67*: 

—  nirgendt  find  meh  Narheil  platz 
Als  zu  Hof  in  dem  Narrenhatz 
Vnd  wo  kein  Narren  sie  verschaffen 
Da  suchens  Meerkatzen  vnd  Affen 
Oder  suchen  vieleicht  ein  gscheiden 
Der  muss  sich  ffir  ein  Narren  leiden. 

Fischart  nennt  einmal  die  ganze  Welt  einen  Eselstall 
Bl.  85^  oder  'eine  stoltze  Fassnachtbutz'  Bl.  289^  und  klagt 
in  einem  langen  Excurse  zur  73.  Historie :  ^Yom  Schälkc- 
säen^  Bl.  216^:  es  gebe  allüberall  böse  Schälke.  Die 
ärgsten  seien  jene,  die  durch  Wucher  betrügen,  anderer 
Leute  Oeld  und  Gut  an  sich  ziehen  'durch  den  finantz, 
durch  Wechsel,  Handschrifft  vnd  quittanz',  und  jene,  die 

In  den  Häusern  Federn  spitzen 

In  Sammet,  Seiden  daher  glitzen 

Darumb  sie  die  Stulräuber  sein 
Gleich  wie  die  Reuter  Sattelriuber ; 

und  jene  endlich,  die 

Das  Land  ausssaugen  und  ausnagen 
Seind  selbst  die  Thewrung  in  eim  Landt 
Der  Hunger  selbst,  Mord,  Hagel,  Brandt. 

Auch  Bl.  128»: 

die  Bawren  sind  offl  arg  Lauren 
Drumb  hab  ich  mit  jn  kein  dauren. 

Schon  durch  die  neuen  durch  Wortverdrehung  ent- 
standenen Namen,  mit  denen  er  die  verschiedenen  Stände 
tauft,  bezeugt  er  ihnen  seine  Verachtung.  Die  Juristen 
nennt  er  Luristen,  die  Advocaten  nennt  er  Schadvocaten 
Bl.  268»,  die  Apotheker:  Lappotheker  Bl.  275 ^  die  Amt- 
leute: der  Empter  Leid  Bl.  259*,  den  Rector:  Rechttor 
Bl.  79»»  und  Doctor  leitet  er  Bl.  262  »>  ab  von  'Deck  den 
Thoren,  Duckt  euch,  dass  man  nicht  seh  den  Thoren\ 
Ahnlich  geisselt  er  die  trügerischen  Kaufleute,  am  häufig- 
sten  die   'Rosstäuscher^   mit  deren  Gewerbe  er  sich  sehr 


390  Hauffen,  Fischarte  Enlenspiegel. 

vertraut  erweist,  wenigstens  schildert  er  im  85.  Kapitel 
einen  Rosskauf  in  sehr  launiger  und  völlig  sachgemässer 
Weise  Bl.  255*: 

Er  hub  jn  binden  vornen  auff 
Fragt  was  er  trab  und  wie  er  lauflf 
Er  zahlt  die  Zahn,  besah  das  Maul 

Ja  zahlet  auch  die  ffiss  dem  Gaul 

Vnd  wie  er  mit  dem  Hindern  steht 

Drau  SS  stelt  er  die  Nativitet, 

Er  strich  den  Rucken,  Bauch  und  gleich 

Vnd  ander  abergläubisch  brauch 

Trieb  er,  wie  andre  Rosskämm  all 

Fragt,  wie  er  aussging  auch  vom  Stall 

Auf  allen  vieren,  antwort  er 

Vnd  wann  er  viel  trägt,  geht  er  schwer  u.  s.  w. 

Am  nächsten  aber  berührt  sich  mit  Fischarts  eigenem 
Berufe  der  Oelehrtenstand.  Das  Gehaben  der  Professoren, 
das  Treiben  auf  den  Universitäten  war  ihm  damals  aus 
eigener  Anschauung  bekannt  und  er  verwcrthet  diese  Kennt- 
nisse in  seinem  Jugendwerk  in  reichlichem  Masse.  Das 
Volksbuch  bietet  Fischarten  einige  Male  die  Gelegenheit 
biezu  dar,  aber  während  dieser  die  Erfurter  Alma  mater, 
welche  in  der  29.  Historie  'ein  grosse  merckliche  vnd  hoch- 
berümpte  vniversität'  genannt  wird,  nur  kurzweg  als  'hohe 
SchuP  Bl.  82^  bezeichnet  und  nicht  weiter  darauf  eingeht, 
widmet  er  der  Prager  Universität  im  27.  Kapitel  Bl.  78*— Sl'* 
(28.  Historie)  den  umfangreichsten  Zusatz  seiner  Bearbeitung. 
Er  rühmt  sie  als  'die  f&rnemst  nach  gemeiner  sag'  und  ent- 
wirft  an  Stelle  des  einfachen  Berichtes  in  der  Vorlage: 
'Des  andern  tags  versamleten  sich  alle  doctores  vnd  ge- 
lerten'  eine  breite  ergötzliche  Schilderung  ihres  Aufmarsches, 
die  augenscheinlich  nach  eigener  Beobachtung  aus  frischer 
Erinnerung  niedergeschrieben  ist: 

Dess  morgens  kamen  her  getrolt 
Doctores,  wie  ein  jeder  solt 
Mit  jrn  vierecketen  Paretlin 
Aufif  Achssien,  Fatznetlin  vnd  Pastetlin 
Francisci  Bracca  bey  dem  halss 
Vnd  rote  Nasen,  wie  ein  Maltz 
Mit  langen  Rficken  biss  auff  d'  f&ss 
Mit  jren  Liripipijs 


Hauffen,  Fischarte  Eulenspiegel.  391 

Die  waren  rot,  blaw,  oder  schwartz 
Die  brauchen  sie  f&r  eine  Tartzsch 
Dessgleichcn  die  Magistri  noch 
Die  trugen  zu  gross  Bficher  hoch 
Die  armen  Baccalaurij 

Die  lieffen  zu  gleich  wie  das  Vieh 

Den  höchsten  Sitz  sie  nit  vergassen 
F&r  Rechtorn  mit  der  langen  Nasen 
Der  kam  getrolt  mit  zween  Pedellen 
Die  waren  nit  vnsauber  Gsellen 
Dann  jeder  trug  ein  Szepter  vor 
Vnd  theten  auff  all  Thor  vnd  Thor 
Wie  er  nun  trat  hinein  in  Saal 
Da  war  ein  rauschen  vberal 
Mit  f&ssen,  welchs  das  auflstehn  gab 
Sie  zuckten  all  das  Hutlin  ab 
Biss  mein  Rector  Magnißcus 

Sich  hett  gesetzt  mit  guter  muss 

Dann  jeder  must  sich  räuspern  hell 
Auff  dass  man  auch  seh,  wo  er  stell,*) 

Hierauf  folgt  die  Disputation,  die  Fischart  noch  mit  vielen 
Erweiterungen  versieht,  in  denen  er  so  wie  später  im 
89.  Kapitel  (Eulenspiegel  in  der  Sorbonne)  die  geschraubte 
mit  lateinischen  Brocken  gespickte  Redeweise  der  Gelehrten 
seiner  Zeit  persifflirt.  Gelegentlich  des  grünen  Tuchs  in 
der  68.  Historie   behauptet  Eulenspiegel  -  Fischart  Bl.  203^: 

Die  Gelehrten  han  ein  hatz 
Dass  man  für  gwiss  nichts  soll  bestreyten 
All  ding  sey  zweifelhaft  bey  Leuten 
Denn  in  dem  Bach  der  Pfed  scheint  krumm 

Wird  doch  herauss  schlecht  wiederumb 

Vnd  Bawren  schwören  einen  Eidt 
Dass  Berg  vnd  Himmel  von  der  weyt 
Blaw  weren.*) 

Am  schlechtesten  kommen  im  Eulenspiegel  die  Priester 
weg.     Schon  das  Volksbuch   lässt  nichts  Gutes  an  ihnen, 

*)  Vgl.  dazu  die  Diaputation  in  Fischarts  *S.  Dominici  Leben* 
V.  535  ff. 

•)  Vgl.  dazu  Piacharts  Vorrede  zum  Todagrammisch  Trostbüchlein', 
Scheibles  Kloster  10,  643:  'Seitainmal  so  der  geniain  Man  auch  inn 
sichtbarn  vnd  vor  äugen  schwebenden  Sachen  sehr  gröblich  irrete,  als 
wenn  er  die  Berg  von  ferre  plaw,  den  Stab  im  Wasser  krumm,  die 
Sonn  so  gros  als  wie  ein  rund  Tafelplatt  achtete,  so  würde  er  erst' . « , 


392  Hauffen,  Fischarfcs  Eulenspiegel. 

Fischart  aber  springt  noch  ärger  mit  den  Qeistlichen  um. 
Mit  unverhüllter  Freude  benutzt  er  jeden  Zug  der  Vorlage, 
um  den  Pfarrern  und  Mönchen  am  Zeuge  zu  flicken.  Narr- 
heit und  Geistlichkeit  reimen  sich  Bl.  43*,  das  ist  der  lei- 
tende Gedanke  seiner  Spottreden.  Die  Mönchskutte,  so  be- 
hauptet Fischart  Bl.  271»,  macht  jedermann  noch  böser, 
weil  sie  den  Schalk  versteckt;  das  Gewand  und  die  gleiss- 
nerische  Heiligkeit  der  Geistlichen  verblendet  die  Laien 
Bl.  201  **.  Fischart  nennt  die  Priester  ihrer  Tonsur  wegen 
^gezeichnete  Leute',  vor  denen  man  fliehen  solle  Bl.  245^, 
Geld  sei  ihr  bestes  Lied,  Geld  ihr  Heiligthum  B.  89** ;  wie 
Geier  auf  ein  Aas,  stürzen  sich  die  Mönche  auf  gestohlenes 
Gut  BL  286 \  Er  citirt  'Bäpstische  Sprichwörter':  ^Dass 
nicht  die  TeuflFel  vnderstehn,  Was  alt  Weiber  vnd  Munch 
begehn'  Bl.  265*,  oder:  'Je  näher  Rom,  je  böser  Christ; 
Je  näher  Bapst,  je  grösser  List';  'Rom,  aller  schalckheit  ein 
Krön'  Bl.  98*.  Und  in  einem  patriotischen  Ausbruch,  der 
uns  an  Walther  von  der  Vogelweide  erinnert,  beklagt 
Fischart  Bl.  176**  die  vielen  Kriege, 

Welche  die  BApst  durch  jhr  betriegen 

Erregt  nun  hatten  lange  Zeit 

Zwischen  den  Tcutschen  jm  zur  beut 

Dass  er  durch  jr  vneinigkeit 

Sein  Reich  vnd  gwalt  mach  weit  und  breit. 

Die  eigenthümliche  Fischartsche  Manier  der  Über- 
arbeitung können  wir  recht  deutlich  erkennen,  wenn  wir 
einen  vergleichenden  Blick  auf  jene  Fastnachtspiele  von 
Hans  Sachs  werfen,  die  Eulenspiegelsche  Schwanke  zum 
Inhalt  haben.  Hans  Sachsens  brave  spiessbürgerliche  Auf- 
fassung verlangt  von  jeder  Dichtung  den  Freipass  einer 
allgemeingiltigen  Moral.  Die  38.  und  die  71.  Historie,  die 
er  bearbeitete,  tragen  eine  beherzigenswerthe  Lehre  offen 
zur  Schau.  Li  der  ersteren  ereilt  den  Pfarrer  gerechte 
Strafe,  weil  er  Köchin  und  Pferd  mehr  liebt,  als  sein  geist- 
liches Amt,  in  der  letzteren  gerathen  Wirth  und  Pfaffe 
ihrer  Geldgier  wegen  in  peinlich -lächerliche  Situationen. 
Bei  den  anderen  zwei  Historien  aber,  die  nur  tolle  Possen 
Eulenspiegels  vorführen,  hilft  Meister  Hans  diesem  Übel- 
stande  durch  kühne  Erfindungen  ab.    Bei  der  68.  Historie, 


Hauffen,  Fischarts  Eulenspiege].  393 

Der  Bauer  mit  dem  blauen  Tuch,  kommt  er  auf  die  ergetz- 
liche  Idee,  der  Bauer  habe  das  Geld  für  das  Tuoh  seinem 
Weibe  gestohlen  und  weil  ^Eain  glueck  sey  pey  ynrechtem 
guet',  so  habe  er  es  rasch  wieder  verloren.  Ähnlich  wendet 
er  die  30.  Historie,  Eulenspiegel  als  Pelzwäscher,  einen  der 
zwecklosesten  Streiche  des  Yolksnarren.  Die  verschieden- 
artige Weise,  in  welcher  sich  nun  Hans  Sachs  und  Fischart 
bemühen  diesem  gemeinschädlichen  Schabernack  einen  Sinn 
beizulegen,  wirft  helles  Licht  auf  die  schriftstellerischen 
Charaktere  beider  Männer.  Hans  Sachs  stellt  die  Bäuerinnen 
als  überaus  neubegierig  dar,  alle  Heimlichkeiten  Eulen- 
spiegels wollen  sie  erfahren,  glauben  ihm  die  ungereimtesten 
Dinge  und  müssen  zur  Strafe  dafür  durch  seine  Verschlagen- 
heit leiden.    Die  Moral  gibt  Eulenspiegel  selbst  kund : '') 

Die  weit  die  wil  petrogen  sein 
Ist  an  den  pewerin  wol  schein 
Die  ir  alt  pelz  lassen  vernewen 
Das  sie  ir  lebtag  wirt  gerewen 
Sos  irer  pelz  geraten  müesen 
Iren  f&rwicz  mit  schaden  püesen. 

So  zu  Nutz  und  Frommen  aller  Zuschauer!  Qanz  anders 
Fischart  Bl.  88*.  Dieser  sieht  den  Streich  schon  mit  den 
Augen  des  Flöhhatzdichters  von  der  komischen  Seite  aus 
an.  Noch  schalkhafter,  als  sein  Liebling  Till,  behauptet 
er,  mit  den  Pelzen  seien  doch  auch  die  Flöhe  verbrannt: 

Die  Weiblin  selten  dir 
Gar  hfichlich  dancken  darumb  schier 
Dass  du  jn  abhilffst  so  der  flöh 
Die  dann  sie  plagen  jmmer  meh 
Doch  ist  vndanckbar  so  die  weit 
Dass  jr  gut  ding  ofift  nit  gefeit. 

Und  noch  einen  Nutzen  schuf  dieses  Autodaf6: 

Aber  dess  wilschens  mögen  lachen 
Die  Kfirschner,  wenn  sie  newe  machen. 

Die  übrigen  Änderungen,  die  Hans  Sachs  an  den 
Schwänken  vornahm,  geschahen  der  Dramatisirung  wegen. 
Er  hat  alle  Schilderung  in  Handlung  umgesetzt,  kurze  An- 

'')  S&mmtliche  Fastnachtspiele  von  Hans  Sachs,  herauflgegeben  von 
Goctze,  6,  129  (Braune's  Neudrucke  Nr.  60.  61). 


394  Distel,  Jahrmarktelied  von  1685. 

deutungen  der  Vorlage  zur  Ausarbeitung  längerer  Zwie- 
gespräche benutzt,  die  Geschehnisse,  die  sich  im  Volksbuch 
über  mehrere  Tage  erstrecken,  zusammengezogen,  mit  Ge- 
schick die  Komik  der  Situation  erhöht  und  hübsche  neue 
Züge  erfunden,  um  eine  bessere  Verbindung  und  Motivirung 
der  Fabel  zu  erreichen.  Der  gutmüthige  moralisirende 
Dramatiker  siegte  in  der  Gunst  der  Leser  über  den  spöt- 
tischen, schadenfrohen  Erzähler.  Hans  Sachsens  Fastnacht- 
spiele sind  wiederholentlich  neu  gedruckt  worden,  Fischarts 
Eulenspiegel  ist  nur  mehr  in  vier  Exemplaren  der  ersten 
und  einzigen  Ausgabe  vorhanden.  Wenn  Jacob  Grimm  be- 
reits im  Jahre  1816  an  Freiherrn  von  Heusebach  schrieb: 
'Ich  meine  doch,  dass  seine  Arbeit  (seil,  der  Eulenspiegel) 
noch  einmahl  seiner  übrigen  Bücher  wegen  gedruckt  zu 
werden  verdient',**)  so  dürfen  wir  heute  wohl  hinzufügen: 
die  Arbeit  verdient  auch  ihres  eigenen  Werthes  wegen  einen 
Neudruck. 

Prag.  Adolf  Hauffen. 


Ein  Jahrmarktslied  aus  dem  Jahre  1685. 

Bei  amtlichen  Arbeiten  in  den  ^Dänischen  Sachen'  der 
dritten  Abtheilung  des  E.  S.  Hauptstaatsarchivs  kam  ich  auf 
ein  dürftig  ausgestattetes  Flugblatt  von  8  Octavseiten,  das 
in  keinem  zweiten  Exemplare  erhalten  sein  dürfte.  Dass 
es  hier  (Bd.  28  fol.  5  Nr.  1  Bll.  4—7)  aufbewahrt  ist,  ist 
dem  Umstände  zu  danken,  dass  die  darin  genannten  Geist- 
lichen, gleich  nachdem  sie  die  pasquillanten  Verse  von 
einem  ihnen  ^sonst  unbekannten  Pastore  zu  Panthenau  in 
Schlesien'  mit  der  Leipziger  Post  erhalten  hatten,  am 
16.  October  1685  sich  bei  dem  Kurfürsten  Johann  Georg  III. 
zu  Sachsen  über  den  Missbrauch  ihres  Namens  beschwerten, 
das  Lied  beifügten  und  um  Rückgabe  desselben  —  aller- 
dings vergeblich  —  baten  (ebenda  Bl.  1.  10).  Sie  haben 
auch    öffentlich    ihre    ^Unschuld'    dargethan    in    einer    bei 


*)  Wendeler,  Meusebachs  Fischartstudien  S.  810. 


Distel,  Jahrmarktslied  yon  1685. 


395 


Christoph  Baumann  in  Dresden  gedruckten,  von  Martin 
Gabriel  Hübner  daselbst  verlegten  Plugschrift  von  4  Quart- 
blättern, welche  dem  Acte  ebenfalls  beiliegt  (Bl.  2,  3,  8,  9). 
Der  Druck  des  schlimmen,  nicht  in  Verse  abgetheilten 
Gedichtes,  welches  diese  Klage  veranlasste,  zeigt  auf  der 
ersten  Seite  zwei  Bilder;  das  eine  stellt  den  im  Liede  ge- 
nannten Prediger  Lassenius  auf  der  Kanzel  vor  versammelter 
Gemeinde,  auch  vor  König  und  Königin,  das  andere  ihn 
auf  der  Bibel  (todt)  liegend  dar.  Auf  der  zweiten  Seite  be- 
ginnt der  Text: 

Warhafflige  Relation,  welche  sich  des  lauffenden  1685*^*"* 
Jahrs,  den  25.  Aprilis  in  der  Königl.  Residentz-Stadt  Koppenhagen 
in  Dänemarck  zugetragen,  mit  dem  vornehmen  und  grund- ge- 
lehrten Theologo,  Generali  Superintendente  und  Königl.  Hoff- 
Prediger,  Nahmens  D.  Lassenius,  welcher  ob  der  reinen  Wahrheit 
Zeugnüss,  so  er  in  ofTentlicher  Predigt  dem  Könige  sambt  seinen 
Räthen,  wegen  schändlich  geschlosener  Alliantz  mit  Frankreich, 
als  ein  ander  Johannes  dem  Herodi  unter  die  Augen  gesagt,  hat 
sollen  enthauptet  werden,  vermittelst  aber  Göttlicher  Disposition 
auss  der  Bibel,  nehmlich  dem  Propheten  Jeremia,  seelig  ge- 
storben und  todt  gefunden  worden.  Auf  Bewilligung  derer  vor- 
trefflichen Theologorum,  Doctoris  Samuelis  Benedicti  Carpzovii, 
M.  Ghristiani  Lucii,  M.  Bernardi  Schmidt,  M.  Pauli  Posse,  M.  Jo- 
annis  Seebist,  und  M.  Joannis  Henrici  Khune.^)  Gesangsweiss  in 
Druck  gegeben.  Im  Thon:  Herztlich  thut  mich  verlangen  etc.^) 
Gedruckt  im  Jahr  1685. 


Das  Lied  selbst  lautet  genau  also: 


1. 

Ach  kommt  herbey  ihr  Christen, 

Merckt  was  ich  singen  werd, 
Welchs  ihr  zu  keinen  fristen, 

Gehört  auff  dieser  Erd, 
Wie  Gott  die  lieben  Seine, 

So  wunderlich  bewahre, 
(Die  Ihm  dienen  alleine,) 

Vor  Seel-  und  Leibsgefahr. 


2. 


In  der  Stadt  Koppenhagen, 

Im  Dähnschen  Königreich, 
Hat  sich  in  wenig  Tagen, 

Ihr  Christen  merckets  euch, 
Ein  Grausamkeit  begeben, 

Mit  Herrn  Lassenius, 
Dass  er  nicht  mehr  sol  leben. 

Ob  der  Wahrheit  Zeugnüss. 


^)  Die  Prediger  an  der  Kreuzkirche  zu  Dresden  waren  damals 
C.  als  Superintendent,  L.  als  Stadtprediger  und  Senior,  S.  als  Archi- 
diakonus,  P.  (Böse),  S.  (Seebisch),  K.  (Kilhn)  als  Diakoni. 

*)  Die  Melodie  stammt  wahrscheinlich  von  Michael  Gasteritz,  der 
1580  (oder  1577  oder  noch  früher)  Organist  in  Amberg  war;  anders 
Böhme,  Altdeutsches  Liederbuch  S.  305. 


396 


Distel,  Jahrmarktelied  yon  1685. 


3. 

Ein  Prediger  dess  Königs, 

Und  grundgelehrter  Mann, 
War  dieser  Herr  Lassenius, 

ßekandt  auch  jederman, 
Dass  er  bey  Lebens- Zeiten, 

Im  Gotts- Dienst  eyflfrig  war, 
Ja  stündlich  thät  arbeiten, 

Vor  Leut  und  Lands -Gefahr, 

4. 

Daher  als  er  erkunde, 

Das  Dännemarck  mit  Franck- 

reich. 
Sich  liederlich  verbunden. 

Mein  Christ  was  that  er  gleich ; 
Er  gieng  zu  seinem  Jesu, 

Bath  Ihn  umb  guten  Rath, 
Ach!   hilff  deim  Voick  o  Jesu, 

Und  strafl'  dess  Königs  That. 

5. 

Bald  draufif  in  einer  Predig, 

War  er  des  Geistes  voll, 
Er  achtet  nicht  den  König, 

Sagt  zu  Ihm  du  bist  toll. 
Du  handelst  wie  ein  Wütterich, 

Dass  du  mit  diesem  Volck, 
Dein  Land  verbindst  so  thörich. 

Und  plagt  hiermit  dein  Volck. 

6. 
Und  übergiebst  sie  denen, 

Bei  weichen  ist  kein  Glaub, 
Kein  Lieb,  wie  wir  vernehmen. 

Zu  Gott  und  Kaysers  Haupt, 
Kein  Treu  auch  zu  dem  Nechslen, 

Ach!  Jesu  hilfif  uns  doch 
Und  lass  uns  im  geringsten, 

Nicht  kommen  in  das  Joch. 

7. 
Ach  wie  viel  tausend  Thränen, 

Der  Arm  bedrängten  Leut, 
Thust  du  nun  auff  dich  nehmen. 

Die  dich  einmal  mit  der  Zeit, 
Bei  Jesu  soUn  anklagen, 

Auch  deinen  falschen  Rath, 


Die  dir  sonst  nichts  vortragen 
Als  Bossbeit  früh  und  spat. 

8. 

Nach  bald  geendter  Predig, 

Kam  vom  König  ein  Both, 
Der  sagt,  dass  er  behändig. 

Zur  Mahlzeit  eyle  fort. 
Es  war  dess  Königs  Wille; 

Er  unerschrocken  gieng, 
Biss  an  den  Hoff  gantz  stille. 

Da  man  ihm  schön  eimpfieng. 

9. 

Da  die  Mahlzeit  geendet, 

Du  Doctor,  bald  darauff, 
Der  König  scharff  vorwendet, 

Schlag  mir  die  Bibel  auff. 
Und  was  du  heut  gepredigt. 

Beweise  mir  darauss. 
Und  auff  den  Silbern  Teller 

Schick;   oder  dein  Kopff  soll 

drauff. 

10. 

Bald  unverzagt  dem  König, 

Er  schrifftlich  darthun  wolt, 
Dahero  auch  ein  wenig. 

Nach  Hauss  er  gehen  solt; 
Nachdem  er  dieses  thate. 

Und  in  sein  Hauss  eintratt, 
Sein  Liebste  er  drauff  bathe, 

Sie  folge  meinem  Rath. 

11. 

Bey  Kindern  und  Gesinde, 

Ein  wenig  bleibt  allein. 
Ich  muss  eylen  geschwinde. 

In  mein  Studir-Stüblein, 
Was  wichtigs  auffzuschlagen. 

Im  fall  jemand  mit  mir, 
Wolt  reden  oder  fragen, 

Lass  sie  ihn  ja  nicht  für. 

12. 

Kaum  war  eine  halbe  Stunde, 
Kommt  hin  ein  Königs  Both, 


Distel,  Jahrmarktslied  von  1685. 


397 


Der  sagt  mit  Hertz  und  Munde, 
Bezeugt  es  auch  vor  Gott, 

Auff  diesem  Silbern  Teller, 
Der  König  sehen  muss, 

Die  Bibel  bald  ohnfehlbar, 
Sagts  ihm  doch  ohnverdruss. 

13. 
Mein  Freund,  sagt  ihm  die  Fraue, 

Ich  darfT  nicht  unterstehn, 
Dass  ich  hingieng  und  schaue, 

Ob  er  möcht  herbey  gehn. 
Er  wird  sich  selbst  darstellen, 

Wenn  er  studiret  hat. 
Nach  Königlichem  Gefallen 

AufTwarten  in  der  That. 

14. 
Nachdem  der  Both  dem  König, 

Anbrachte  die  Antwort, 
Sagt  Er:  Die  Möh  ist  wenig. 

Geht  hin  sprengt  auff  die  Pfort, 
Den  Vogel  herauss  nehmet. 

Wo  er  nicht  schon  ist  fort, 
Ob  schon  sein  Weib  sich  grämet. 

Geht  folget  meinem  Wort. 

15. 
Als  man  die  Thur  aufifbrache. 

Lag  der  nun  seelige  Mann, 
Gestorben  aufT  dem  Buche, 

Dem  Prophet  Jeremiam, 
Mit  dem  Händen  Creutzweisig, 

Auff  den  sein  Haupte  lag, 


Viel  Tausend  habens  fleissig, 
Gesehen  und  behaubt. 

16. 
Bestürtzt  der  König  sasse, 

Gar  sehr  Ihn  diss  anficht, 
Die  Sach  er  gantz  vergasse, 

Als  er  bekam  Bericht, 
Ob  solcher  schnellen  Thate, 

Und  uhrplötzlichent  Tod, 
Mit  seinem  gantzen  Rathe, 

Rieff  Er  ernstlich  zu  Gott. 

17. 
Für  kummer  und  für  Leyde, 

Die  Königin ')  auffgab, 
Ihm  Geist  und  Leben  beyde, 

Und  fuhr  ins  traurig  Grab; 
Der  König  es  ward  inne. 

Bereuet  seine  That, 
Die  Er  in  seinem  Sinne, 

Ihm  vorgenommen  hat. 

18. 
Nun  Jesu  wir  dich  loben, 

Dass  du  dein  treuen  Knecht, 
Von  Grausamkeit  und  Toben, 

Der  Welt  und  falschem  Recht, 
Gnädiglich  hast  entnommen. 

In  Freuden  Himmels- Saal, 
Bitten,  auch  lass  hinkommen, 

Uns  «Jesu  altzumahl. 

[Vignette.] 


Die  Personen  dieses  Liedes  sind:  der  dänische  Hof- 
prediger Dr.  th.  Johann  Lassenius,  gestorben  22.  August  1692; 
vgl.  Allg.  deutsche  Biographie  17, 788  flf.,  wo  übrigens  Carstens 
nichts  hierher  Bezügliches  erwähnt;  einige  von  Carstens  ab- 
weichende Daten  siehe  in  Zedlers  Universallexikon  16, 872  ff. ^) 

•)  Die  Wittwe  König  Friedrichs  TIT.,  Sophie  (Amnlie)  von  Braun- 
schweig-Lüneburg  starb  allerdings  1685,  doch  nicht  am  oder  nach  dem 
25.  April,  sondern  bereits  am  20.  Februar. 

*)  Ich  verweise  hier  noch  auf  die  bei  Mol  1er,  Cimbria  litt  2,  449/50 
angefahrten  Quellen  und  bemerke,  dass  erzählt  wird,  Lassenius'  Wohl- 
thiltigkeit  wäre  so  weit  gegangen,  dass  er  seine  letzte  Hose  einem 

Vierteljahrschrift  fQr  Litteratargoschichto   III  27 


398        ^'  Weilen,  Lessing  und  die  Hambnrgische  N.  Zeitung. 

Der  König  ist  Christian  V.  von  Dänemark,  seine  Gemahlin 
Charlotte  (Amalia)  Landgräfin  von  Hessen-Kassel,  gestorben 
27.  März  1714.  Schon  diese  Sterbedaten  erweisen,  dass  das 
Lied  Unwahrheiten  enthält,  und  so  begreift  sich,  dass  die 
Dresdner  Geistlichkeit  ihre  Namen,  die  noch  dazu  zum 
Theil  unrichtig  geschrieben  waren*),  dabei  nicht  prostituirt 
haben  wollte;  sie  forderte,  dass  ihre  'Exculpation'  dem 
dänischen  Könige  hinterbracht  und  der  Magistrat  zu  Breslau, 
der  Herzog  zu  01s  und  andere  Obrigkeiten  Schlesiens  er- 
sucht werden,  den  Delinquenten  zu  verhaften,  den  Drucker 
zu  erforschen.  Über  das  Weitere  konnte  ich  leider  nichts 
ermitteln.  Die  Vertheidigung  war  für  die  genannten  Theo- 
logen um  so  nöthiger,  als  das  Lied  nach  ihrem  Berichte 
'öffentlich  auff  den  Jahrmärckten  in  Schlesien  von  Land- 
streichern abgesungen  und  nebst  dem  praefigirten  albernen 
Holtzschnitt  verkauffet'  worden  war.  In  Schlesien  konnte 
für  dies  Lied  kaum  ein  anderes  Interesse  als  das  allgemeine 
an  einer  tragischen  Geschichte  vorhanden  sein.  Der  poli- 
tische Ausgangspunkt  des  Liedes,  das  Bündniss  Christians 
mit  Ludwig  dem  XIV.  für  den  sog.  zweiten  Raubkrieg  des- 
selben, der  durch  den  Frieden  von  Nym wegen  1678  beendigt 
wurde  ^),  hatte  in  Schlesien  keine  Bedeutung. 

Dresden.  Theodor  Distel. 


Lessings  Beziehungen  zur  Hamburgischen 

Neuen  Zeitung. 

Redlich  verzeichnet  in  seiner  Lessing -Bibliographie 
(Hempel  19,  702)  die  Beiträge,  welche  Lessing  für  die 
1767  von  dem  Legationsrathe  Polycarp  August  Leisching 
gegründete    und     von    Johann   Wilhelm    Dumpf   redigirte 

Bedürftigen  geschenkt  habe  und  im  blossen  Ornate  zur  Kirche  ge- 
gangen sei. 

»)  Die  Namen  der  Geistlichen  kannte  der  Reimschmied  ii^end 
woher,  die  Beifügung  derselben  sollte  der  Erzählung  den  Stempel  der 
Geschichte  aufdrücken. 

*)  Später  trat  Christian  auf  die  antifranzösische  Seite. 


V.  Weilen,  Lessing  und  die  Hamburgiache  N.  Zeitung.        399 

Hamburgische  Neue  Zeitung  lieferte.  Die  grosse  Sym- 
pathie, welche  das  Blatt  dem  Hamburger  Dramaturgen 
entgegenbrachte,  spricht  sich  an  zahlreichen  Stellen  der 
Jahrgänge  1767  und  1768,  der  einzigen,  die  mir  zugäng- 
lich waren,  aus,  sowohl  in  persönlichen  Notizen  über  Les- 
sing (vgl.  Redlichs  Anm.  zu  Hempel  20,  1,  262  und  306) 
als  auch  in  Recensionen  über  ^Minna  von  Barnhelm'  und 
die  ^Hamburgische  Dramaturgie',  welche  zum  Theile  viel- 
leicht Gerstenberg,  dessen  Beiträge  ich  in  meiner  Ein- 
leitung zur  Ausgabe  der  'Briefe  über  Merkwürdigkeiten  der 
Litteratur'  (Deutsche  Litteraturdenkmale  29.  30),  soweit  es 
meinem  Thema  entsprach,  zu  ermitteln  suchte,  zuzuschreiben 
sind. 

Als  Mitarbeiter  der  Zeitung  wurde  Lessing  hauptsäch- 
lich durch  die  ^Antiquarischen  Briefe'  bekannt,  welche  zum 
Theil  daselbst  zum  ersten  Abdruck  kamen.  Natürlich 
glaubte  man,  besonders  da  seine  innige  Verbindung  mit 
der  Redaction  in  Gelehrtenkreisen  jener  Zeit  bekannt 
wurde  (s.  den  Brief  Reiskes  vom  7.  Januar  1770  20,  2,  331 
vgl.  333  und  349),  ihn  auch  in  andern  Beiträgen,  wie  in 
der  Recension  über  Riedel  (20,  l,  315  Anm.  Redlichs)  zu 
erkennen.  Während  aber  dieser  Artikel  wohl  aus  Gersten- 
bergs Feder  hervorgegangen,  finden  sich  im  Jahrgange  1768 
zwei  Anzeigen,  bei  denen  man  zunächst  wohl  aus  äusser- 
lichen  Gründen  versucht  ist,  Lessings  Autorschaft  zu  ver- 
muthen. 

Ausser  den  'Antiquarischen  Briefen'  und  einigen  Notizen 
zur  'Hamburgischen  Dramaturgie'  hat  Lessing  der  Ham- 
burgischen Neuen  Zeitung  einige  Epigramme  geliefert,  die 
er  selbst  in  seine  Schriften  aufgenommen.  Es  sei  neben- 
bei bemerkt ,  dass  in  der  neuen  Lessing  -  Ausgabe  von 
Muncker  der  Titel  des  einen  Epigramms  (1,  33)  falschlich 
als  'Seufzer  in  einer  Krankheit'  angegeben  ist;  er  lautet 
'Seufzer  in  meiner  Krankheit'.  Die  meisten  dieser  poeti- 
schen Beiträge  sind  mit  zwei  Sternen  *  *  unterzeichnet. 
Diese  Chiffre  findet  sich  ausserdem  in  den  zwei  Jahr- 
gängen 1767  und  1768  nur  noch  unter  zwei  Recensionen. 
Bereits  Redlich  hat  (20,  1 ,  293)  eine  derselben  Lessing  zu- 
zusprechen versucht,  er  hat  aber  die  unbedeutende  Notiz, 

27* 


400        ^'  Weilen,  Lessing  und  die  Hamburgische  N.  Zeitung. 

ein  kleiner  Freundschaftsdienst  für  Ramler,  nicht  mitge- 
theilt.  Ich  gebe  sie  hier  aus  dem  148.  Stücke  vom  21.  Sep- 
tember 1 767  : 

Ramlers  Oden.  Nur  wenig  Lesern  wird  der  Nähme  eines 
R amiers  unbekannt  seyn.  Die  Welt  kennt  in  ihm  einen  eben 
so  grossen  Poeten  als  Kritiker  und  Deutschland  kann  auf  seinen 
Landsmann  stolz  seyn.  Wir  können  ihn,  ohne  Schmeichdey, 
unsern  Pindar,  unsern  Horaz  nennen,  und  alle  unsere  Nachbarn 
auffordern  uns  einen  Mann  darzustellen,  der  ihm  gleiche.  — 
Auch  konnte  Ramler  in  keinem  glücklichern  Zeitpuncte  gebohren 
werden.  Grosse  Helden  haben  allezeit  grosse  Dichter  gefunden 
und  kein  König  ist  vielleicht  jemals  schöner  besungen  worden. 
Die  Wiederkunft  des  Königs,  An  die  Muse,  An  die  Stadt  Berlin, 
und  mehrere  sind  mit  den  prächtigsten  Oden  des  Horaz  Descende 
coelo  etc.  Caelo  tonantem  etc.  in  eine  Reihe  zu  setzen.  Ptole- 
mäus  und  Berenice  ist  wenigstens  eben  so  zärtlich,  eben  so  vor- 
treflich  amöbäisirt  als  donec  gratus  eram  etc.  Auf  ein  Ge- 
schütz, ist  eine  Nachahmung  von  lUe  et  nefasto  etc.  Und  dieser 
Dichter  ist,  wenn  er  reimt,  eben  so  gedrungen,  als  er  in  dem 
Atcäischen  Sylbenmasse  harmonisch  ist.  Der  öftere  Gebrauch 
der  Götterlehre  würde  bey  jedem  andern  zu  tadeln  seyn,  für  ihn 
scheint  die  Mythologie  erfunden.  Möchten  doch  gewisse  feind- 
selige  Züge,  die  im  Kriege  gemacht  sind,  der  Nachwelt  kein 
Denkmal  der  Stärke  unsers  Flasses  überliefern.  Eine  Ode  von 
einem  sanften  Inhalte  nehme  hier  den  Raum  ein. 

Es  folgt  das  Gedicht  'An  Hymen'. 

Viel  wichtiger  wäre  es,  ivenn  die  zweite  Recension, 
die  zu  den  ausführlichsten  der  Zeitschrift  zählt,  Lessing 
mit  Sicherheit  zuzuweisen  wäre.  Ausser  der  Chiffre  Hessen 
sich  vielleicht  noch  einige  Umstände  für  Lossings  Autor- 
schaft geltend  machen.  Der  Bemerkung  über  die  Ge- 
dankenstriche entspricht  eine  Stelle  aus  einer  Recension 
aus  dem  Jahre  1753:  'Wann  in  der  bunten  Reihe  häu- 
figer?, declamatorisches !  und  geheimniss voller das 

Erhabene  steckt!'  (12,  490)  Arnolds  Kirchen-  und  Ketzer- 
historie, die  Apologie  des  Simon  Lemnius  wird  citirt, 
Petrus  Martyr  Anglerius  wird  auch  anderweitig  (z.  B.  19, 
207;  14,74)  von  Lessing  erwähnt.  Von  dem  ^sowohl  wegen 
seiner  Gelehrsamkeit,  als  wegen  seiner  Narrheit  bekannten 
Professor  Ebertus'  und  seinen  Beziehungen  zu  Spanien 
spricht  Lessing  in  einem  Briefe  vom  November  1750  (20, 
l,  90).     Wendungen,  wie  'Allein,  wie  unglücklich  bin  ich!' 


y.  Weilen,  Lessing  und  die  Hamburgiscbe  N.  Zeitung.        401 

oder  ^Doch  ich  nehme  an  diesem  Schlüsse  keinen  TheiP 
scheinen  in  Lessings  Sprachgeist. 

Diesen  Vermuthungen  setzt  Erich  Schmidt  eine  Reihe 
von  Bedenken  entgegen,  die  als  Beilage  folgen. 

Der  nachstehende  Abdruck  möge  die  Entscheidung  er- 
leichtern. Die  Recension  geht  durch  Nr.  34,  35  und  36 
(Montag  den  29. Februar,  Dienstag  den  I.März  undDonners- 
tag  den  3.  März  1768).  Zum  Verständnisse  sei  Folgendes 
bemerkt:  Sandoval  ist  Prudencio  de  Sandoval:  Historia  de 
la  vida  y  hechos  del  emperador  Carlos  Y.  1.  Ausgabe  1604. 
Die  deutsche  Übersetzung,  die  Adam  Ebert,  Professor  zu 
Frankfurt  a.  O.  anfertigte,  befindet  sich,  nach  Jöcher  2, 
264  f.  in  Berlin.  Mit  'Mezeray'  kann  sowohl  dessen  Histoire 
de  France  1643 — 1651  als  auch  dessen  Histoire  des  Turcs 
1662  gemeint  sein.  Mornay  ist  Philipp  MornUy^  Sieur  du 
PlessiS'Marly:  Mystere  d'iniquite  1611. 

Carl  Renatus  Hausens,  ordentlichen  Lehrers  der  Philosophie 
auf  der  Königl.  Preussischen  Universität  zu  Halle,  Pragmatische 
Geschichte  der  Protestanten  in  Deutschland.  Erster  Theil  mit 
Beilagen  und  Urkunden.  Halle,  gedruckt  und  verlegt  von  Joh. 
Jac.  Gurt.  1767. 

Der  Herr  Professor  hat  schon  vor  einigen  Jahren  den  Plan 
dieser  Geschichte  bekannt  gemacht  und  hernach  auch  das  Publi- 
kum unterrichtet,  dass  es  eine  pragmatische  Geschichte  der  Prote- 
stanten von  ihm  erwarten  sollte.  Das  Publikum  erwartete  sie 
als  ein  ausserordentliches  Werk,  und  das  einzige  in  seiner  Art. 
Diesen  Begriff  hatte  man  sich  davon  aus  dem  Plan  gemacht,  und 
der  Herr  Prof.  lässt  in  der  Vorrede  seine  Leser  auch  etwas  ganz 
neues  und  sonderbares  hoffen.  'Die  grossen  und  mannigfaltigen 
Schicksale  der  Protestanten  in  Deutschland^  sagt  er,  'den  Geist 
der  Religion  von  einer  Periode  zur  andern,  und  die  durch  diesen 
Geist  entstandenen  Veränderungen  an  den  Höfen  der  Fürsten,  die 
neuen  Sitten  und  den  ganz  umgebildeten  Charakter  unserer  Vor- 
fahren hatte  zuvor  noch  kein  Schriftsteller  beschrieben.  Denn 
Sleidans  und  Seckendorffs  Plan  war  von  dem  seinigen  weit  unter- 
schieden. Man  hatte  ausserdem  die  Triebfedern  der  Reformation 
grösstentheils,  aber  sehr  irrig,  von  dem  Charakter  und  den  Ver- 
diensten Martin  Luthers  herleiten  wollen.  Der  Gegenstand,  den 
der  Verfasser  demnach  richtig  und  lebhaft  vorzustellen  wagte, 
war  ganz  neu.  Das  Nachdenken  über  den  Plan,  wie  er  ver- 
sichert, ist  bei  ihm  eine  Beschäftigung  von  beynahe  einem  Jahre 
gewesen.  Dieses  Nachdenken  führte  ihn  zu  der  Erkenntniss 
einiger  grossen  Wahrheiten.     Er  sähe  in  vollem  Lichte  eine  Ur- 


402        ^-  Weilen,  Lessing  und  die  Hambnrgische  N.  Zeitnng. 

Sache  nach  der  andern  von  der  Verbesserung  der  Glaubenslehre, 
und  zitterte,  da  abermals  das  Vorurtheil  und  der  Geist  der  Un- 
einigkeit  Trennungen  verursachte,  die  noch  nicht  aufgehört  haben. 
Diese  Betrachtungen,  da  er  stets  auf  seine  Zeiten  zurück  sähe, 
zeigten  ihm  endlich  die  letzte  grosse  Wahrheit,  die  dem  Be- 
schlüsse dieser  Geschichte  gewidmet  ward/  (Wir  werden  sie 
hernach  sehen.)  'Er  war  nunmehr  von  der  Wichtigkeit  seines 
Planes  und  von  der  Grösse  der  Wahrheiten  unterrichtet,  allein 
es  war  doch  schwer,  selbst  ein  Gemälde  zu  entwerfen,  dass  die 
Neigungen  seiner  Glaubensbrüder  verändern,  ihr  Herz  bessern, 
und  sie  zu  grossen  und  edlen  Wünschen  bewegen  könnte.  Bei 
einem  so  erhabenem  Gegenstande  waren  die  bekannten  Geschicht- 
schreiber gar  nicht  die  Wegweiser  —  —  die  Handschriften  zeigen 
allererst  seinem  Geiste  eine  grosse  Reihe  von  Wahrheiten.  Allein 
diese  Erforschung  der  Wahrheit  war  mit  vielen  Schwierigkeiten 
verbunden  — .  Nachdem  diese  überwunden  waren,  konnte  der 
Verfasser  allererst  den  Weg  getrost  und  muthig  antreten.  —  Die 
Beschreibung  der  Schicksale  der  Protestanten  erfordert  grosse  und 
eigne  Schönheiten,  —  Allein,  wie  der  Dichter  und  Redner  wenige 
glückliche  Augenblicke  hat,  in  welchen  sein  Geist,  von  dem  Feuer 
der  Begeisterung  entflammt,  die  Pracht  und  Hoheit  der  Natur 
nachahmen  kann :  ebenso  sind  dem  Geschichtschreiber  nur  einige 
Stunden  günstig.  —  —  Den  Geist  des  Verfassers  haben  auch 
andere  Zerstreuungen  gefesselt.  —  Er  verlangt  daher,  dass  man 
ihm  wegen  der  Länge  der  Zeit,  und  wegen  der  schwachen  An- 
zahl  der  Bogen,  aus  welchen  dieser  erste  Theil  bestehet,  ent- 
schuldigen soll'.  Die  letzte  Entschuldigung  ist  sehr  nöthig  (be- 
sonders da  diese  wenige  Bogen,  worunter  doch  auch  ein  guter 
Theil  dem  Herrn  Prof.  keine  Arbeit  gekostet  hat,  so  unmässig 
theuer  verkauft  werden):  'Derselbe  enthält  die  Triebfedern  der 
grossen  und  ausserordentlichen  Veränderungen  im  sechszehnten 
Jahrhundert.  —  —  Diese  ertheilen  den  Stoff  zu  den  folgenden 
Theilen,  —  —  Bey  welchen  Herr  H,  noch  eine  weit  grössere 
Aussicht  hat.  Ausser  den  Veränderungen  der  Religion  und  den 
besondem  Schicksalen  der  Protestanten,  will  er  zeigen,  in  wie 
fern  diese  Begebenheiten  in  jeder  Periode  den  Geist  und  die 
Sitten  unserer  Nation  entweder  verschönert  oder  verschlimmert 
haben'.  Der  Verfasser  klagt  hernach,  'dass  der  Plan  seines 
Buches  ihm  schon  unzähliche  Verleumdungen  zugezogen  habe, 
und  er  hält  es  also  für  eine  Pflicht,  sich  mit  seinen  Freunden 
noch  von  den  besonderen  Materien  zu  unterreden.  —  —  Er  ver- 
sichert, dass  er  in  dem  ersten  Hauptstücke  nur  als  Geschichts- 
schreiber die  Schicksale  der  Religion  betrachtet,  dass  er  nicht 
den  geringsten  Einfall  in  das  Gebiet  der  Gottesgelehrten  gewagt 
—  —  und  dass  er  mit  Liebe  der  Wahrheit  und  mit  Ober- 
zeugung die  Religion  selbst  von  der  sklavischen  und  unnützen 
Verehrung  der  Ceremonien  —  —  zu  trennen,  gesucht  habe\  — 


y.  Weilen,  Leasing  and  die  Hamburgische  N.  Zeitung.         403 

—  Er  erklärt  sich  auch,  dass  alle  Urtheile  der  Kunstrichter  ihm 
angenehm  sein  werden.  —  Er  wünschte  besonders  wegen  der 
Theorie  des  Plans  von  einem  Sulzer,  Iselin  und  Zimmermann 
unterrichtet  zu  sein.  Äbbt  ist  todt,  und  also  konnte  er  dessen 
Urteil  nicht  hören.  Ob  er  die  eigenen  Schönheiten  der  Ge- 
schichte —  —  ganz  verfehlet,  oder  einigermassen  erreicht  habe, 
sollen  Herr  Klotz  und  der  Verfasser  der  Fragmente  unterscheiden*. 

Hier  hat  der  Leser  kürzlich  dasjenige,  was  der  Verfasser 
selbst  von  seinem  Buche  saget,  und  welches  ich  mit  seinen 
eignen  Worten  aus  der  Vorrede  angeführet  habe.  Ich  muss  hie- 
bey  gestehen,  dass,  da  ich  das  Buch  selbst  zu  lesen  anfing,  und 
an  die  hohe  Idee,  welche  der  Verfasser  schon  längst  der  Welt 
davon  gegeben ,  und  an  den  besonderen  Ton ,  womit  er  seine 
neuen  und  grossen  Wahrheiten  in  der  Vorrede  ankündigt,  ge- 
dachte, mir  dabei  die  Fabel  von  dem  kreissenden  Berge  einge- 
fallen sei.  Allein  ich  will  nicht  voreilig  in  der  Anwendung  sein. 
Auf  dem  Titelkupfer  erscheint  die  Religion  in  einer  sehr  trau- 
rigen Gestalt.  Ich  habe  jemanden  daraus  den  Schluss  machen 
hören,  dass  sie  wohl  auch  in  dem  Buche  eine  elende  Figur 
machen  würde.  Doch  ich  nehme  an  diesem  Schlüsse  keinen 
Theil. 

Herr  H.  hat  dem  Werke  den  Titel:  'Pragmatische  Ge- 
schichte' vorgesetzt,  und  dieser  erste  Theil  besteht  aus  neun 
Hauptstücken.  Diese  sind :  L  Allgemeine  Betrachtungen  über  die 
Religion.  II.  Die  Geschichte  oder  das  System  Europens  von  1500 
— 1518.  III.  Die  Staatsverfassung  der  europäischen  Reiche  bei 
dem  Anfange  des  sechzehnten  Jahrhunderts.  IV.  Allgemeine  Be- 
trachtungen über  die  Verfassung  des  deutschen  Reiches.  V.  Be- 
sondere Betrachtungen  über  einige  Fürsten  Deutschlands  in  dem 
sechzehnten  Jahrhundert.  VI.  Der  Geist  der  Religion  in  dem 
sechzehnten  Jahrhundert.  VII.  Die  Sitten  und  der  Charakter 
der  Deutschen  bei  dem  Anfange  des  sechzehnten  Jahrhunderts. 
VIII.  Charakter  Martin  Luthers.  IX.  Freye  Gedanken  über  den 
Ursprung  der  Reformation.  —  Diese  neun  Abhandlungen  haben 
keine  Verbindung  unter  sich,  und  keine  andere  Ordnung,  als  die 
ihr  der  Zufall  gegeben  hat.  Daher  ist  es  gleichviel,  welche  von 
ihnen  man  zuerst  lieset.  Man  kann  es  von  Vorne,  oder  von 
Hinten,  oder  in  der  Mitte  anfangen,  ohne  dabei  etwas  zu  ver- 
lieren. Wenn  nun  alle  diese  Abhandlungen  noch  so  vortreiTlich 
und  unverbesserlich  wären,  so  würden  sie  doch  den  Titel  einer 
pragmatischen  Geschichte  nicht  verdienen.  Der  Herr  Professor 
hätte  besser  gethan,  wenn  er  sie  historische  und  philosophische 
Rhapsodie  über  die  Reformation  genannt,  oder  ihnen  den  neuen 
Modetitel,  den  er  selbst  auch  schon  gebraucht  hat,  'Fragmente 
der  Reformationshistorie*  gegeben  hätte.  Denn  Fragmente  sind  es 
nur  in  der  That  und  nichts  mehr.  In  dem  ersten,  achten  und 
neunten  Hauptstücke  äussert  Herr  H.  eine  ganz  eigne  Denkungs- 


404        ▼•  Weilen,  Lessing  und  die  Hamburgische  N.  Zeitung. 

art  in  vielem,  was  die  Religion  überhaupt  und  die  Reformation 
insbesondere  betrifft.  Aber  in  diese  Philosophie  werde  ich  mich 
nicht  einlassen,  weil  ich  nicht  zweifele,  dass  andere  sie  be- 
leuchten werden.  Ich  will  den  Verfasser  bloss  in  soweit  als  er 
einen  Geschichtsschreiber  hat  vorstellen  wollen,  beurtheilen. 

Herr  H.  ist  oft  zusehr  von  Vorurtheilen  eingenommen, 
wenn  er  von  gewissen  Personen,  die  ihm  in  seiner  pragmati- 
schen Historie  vorkommen,  urtheilt,  und  beweist  sich  daher  nicht 
immer  unpartheyisch  genug.  Er  thut  zuweilen  Machtsprüche. 
Seine  Urtheile  über  Konstantin  den  Grossen  und  Julian  den  Ab- 
trünnigen bezeugen  dieses.  S.  7  sagt  er,  und  S.  8  wiederholt 
er  es  fast  mit  eben  den  Worten  *Man  kann  kaum  ohn  Wider- 
willen diejenigen  Lobsprüche  lesen,  welche  die  vorhergehenden 
und  auch  noch  unsere  Zeiten  gegen  diesen  ersten  christlichen 
Fürsten  verschwendet  haben.  —  Es  ist  einmal  Zeit  diese  Un- 
wahrheit aus  der  Geschichte  zu  vertilgen.  Die  Zeitgenossen  und 
Nachkommen  nicht  länger  zu  hintergehen,  es  ist  endlich  Zeit  zu 
sagen :  dass  Constanlin  der  grösste  Bösewicht  gewesen  sey*.  Herr 
H.  tritt  hier  mit  einem  solchen  Wortgepränge  auf,  als  wenn  er 
der  erste  wäre,  der  ein  wahres  Urteil  von  Constantin  gefället 
hätte.  Und  hierin  betrügt  er  sich  sehr.  Denn  schon  vor  68 
Jahren  hat  Arnold  die  Laster  dieses  ersten  christlichen  Kaysers 
der  Welt  aufgedeckt,  ob  er  gleich  nicht  sagt,  dass  er  der  grösste 
Bösewicht  gewesen  sey.  Diesen  zu  harten  Ausspruch  zu  thun, 
war  unserm  pragmatischen  Geschichtschreiber  vorbehalten.  So 
sehr  aber  derselbe  den  Constantin  verdammt,  so  hoch  und  allzu- 
hoch erhebt  er  dagegen  den  Julian,  S.  8,  9,  10,  welcher  bey 
ihm  der  beste  und  vernünftigste  Fürst  heisst,  und  welchem  er, 
unter  andern,  auch  dies  zu  einem  Verdienste  anrechnet,  dass  er 
aufrichtig  genug  gewesen  sei,  seinen  Abfall  vom  Christenthume 
bekannt  zu  machen.  —  Arnold  hat  dem  Julian  auch  schon  Ge- 
rechtigkeit widerfahren  lassen,  und  seine  Tugenden  nicht  ver- 
schwiegen, aber  so  uneingeschränkte  Lobsprüche  als  unser  Ver- 
fasser konnte  er  ihm  nach  der  Wahrheit,  nicht  beylegen.  Herr 
H.  würde  wohl  gethan  haben,  wenn  er  vor  seinem  Ausspruche 
andere  Gelehrten  zu  Rathe  gezogen  hätte.  Hätte  er  Mosheims, 
der  gewiss  seinen  Vorgängern  nicht  nachbetet,  'Kirchenhistorie' 
nachgeschlagen,  so  würde  er  vielleicht  darin  Anleitung  gefunden 
haben,  richtiger  und  der  Wahrheit  gemässer  von  Konstantin  und 
Julian  zu  urtheilen. 

Das  zweyte  Hauptstück  überschreibt  der  Verfasser  in  dem 
Inhalt  (Seite  XIV)  die  Geschichte  Europens  von  dem  Jahre  1500 
bis  auf  dem  Tod  Maximilian  des  ersten  1518.  Aber  in  dem 
Buche  selbst,  Seite  24,  heisst  es:  das  System  Europens  von  dem 
Jahre  1515  bis  auf  die  Wahl  Kayser  Karl  des  Fünften,  Königs 
von  Spanien,  zum  römischen  Kayser.  Er  scheint  wegen  der 
Überschrift,    die   er  dieser  Abhandlung  geben  sollte,    zweifelhaft 


y.  Weilen,  Lessing  und  die  Hambnrg^sche  N.  Zeitang.        405 

gewesen  zu  sein.  Ich  meyne,  dass  sich  so  wenig  die  erste  als 
die  andere  dazu  schicke.  Er  hätte  sie  nennen  sollen:  Fragment 
einer  Beschreibung  der  Kriege  in  Italien  von  1494  bis  1517. 
Denn  diese  Beschreibung  macht  den  Hauptinhalt  aus.  Allein  ich 
kann  nicht  einsehen,  was  sie  für  eine  Verbindung  mit  der  Re- 
formation, oder  welchen  Einfluss  sie  in  die  Begebenheiten,  die  in 
der  pragmatischen  Geschichte  der  Prolestanten  erzählet  werden, 
habe.  Dies  ganze  Fragment,  dass  über  drey  Bogen  einnimmt, 
hätte,  der  pragmatischen  Historie  unbeschadet,  daraus  wegbleiben 
können.  Besser  wäre  es  gewesen,  wenn  er  statt  dieser  Italieni- 
schen Kriege  den  Zustand  der  römischen  Kirche  und  des  päbst- 
lichen  Stuhls,  die  verderbten  Sitten  der  hohen  und  niedem  Geist- 
lichkeit geschildert  hätte.  Denn  hier  sind  Begebenheiten,  welche 
zur  Reformation  das  ihrige  beygetragen  haben.  Allein  so  wäre 
Herr  H.  auf  dem  gemeinen  Wege,  wie  andere  Geschichtsschreiber 
gegangen;  und  das  wollte  er  nicht.  S.  S8  will  Herr  H.  zur 
Ehre  der  Menschheit  wünschen,  'dass  Amerika  nie  wäre  entdeckt 
worden,  und  dass  Europa  die  Unschuld  der  Sitten,  die  Schönheit 
der  Tugenden  und  die  Dauer  einer  beständigen  Glückseeligkeit 
diesen  geplünderten  (amerikanischen)  Schätzen  niemals  aufge- 
opfert hätte'.  Sind  denn  die  Menschen  in  Europa  vor  dieser 
Entdeckung  unschuldiger  und  tugendhafter  gewesen,  und  haben 
sie  eine  beständige  Glückseeligkeit  genossen?  die  Historie  be- 
zeuget dieses  nicht.  S.  38  wird  Carl  VIII.  Ludwigs  XU.  Vater 
genannt.  —  Dies  wird  unser  pragmatischer  Geschichtsschreiber 
doch  wohl  nicht  in  seinen  Handschriften  gelesen  haben.  —  Ich 
fmde  ihn  hier  wieder  sehr  eigensinnig  in  Austheilung  des  Lobes. 
Manche  Personen,  die  er  auf  den  Schauplatz  fähret,  werden  seine 
Lieblinge,  ohne  dass  er  sie  genug  zu  kennen  scheinet.  S.  44.  45 
sagt  er  von  Gonsalvo  de  Cordova,  'dass  ihn  die  Geschichte  den 
grossen  Feldherrn  nenne,  aber  dass  er  selbst  auf  den  Titel  des 
grossen  Mannes  Anspruch  machen  könne\  Und  gleich  setzt  er 
hinzu,  'dass  dieser  grosse  Mann  das  Beispiel  seines  Königs  nach- 
geahmet  und  durch  Falschheit  und  Untreue  die  traurigen  Schick- 
sale eines  unglücklichen  Prinzen  (Friederichs,  Königs  von  Neapel) 
recht  sinnreich  vergrössert  habe'.  —  —  Ist  dies  die  Handlung 
eines  grossen  Mannes?  Muss  der  grosse  Mann  nicht  tugendhaft 
sein?  —  Das  recht  sinnreich  wird  hier  vielleicht  nur  zur  Aus- 
füllung der  Periode  dienen  sollen:  denn  in  der  boshaften  Hand- 
lung ist  es  nicht  zu  ßnden.  S.  57  heisst  es  von  eben  diesem 
grossen  Manne:  'Er  besass  die  wahre  Grossmuth,  deren  Original- 
Geister  jederzeit  föhig  seyn'.  Wo  hat  Gonsalvo  eine  Probe  von 
dieser  wahren  Grossmuth  gegeben?  Vielleicht  in  dem  Meyneide, 
wodurch  er  den  Prinzen  Ferdinand  um  seine  Freiheit  brachte. 
Zeigt  er  sich  vielleicht  hier,  als  einen  Original-Geist?  Und,  was 
sind  denn  Original -Geisler?  S.  51  wird  des  Königs  Friederich 
von  Neapel  Sohn    unrecht  Alphonsus   genannt.  —  Er  hiess  Fer- 


406        V.  Weilen,  Lessing  und  die  Bamburgiscfae  N.  Zeitung. 

dinand.  S.  62  'die  Seestädte  von  Sicilien  waren  durch  vorge- 
schossene Geldsummen  in  ihrer  (Vonetianer)  Gewalt*.  Nicht  in 
Sicilien,  sondern  auf  der  östlichen  KOste  von  Neapel  lagen  diese 
Städte.  S.  78.  80  lieset  man,  dass  Ludwig  XII.  mit  uneinge- 
schränkter Gewalt  in  Frankreich  regiert  habe,  und  dass  unter 
Ludwig  XI.  die  heutige  Verfassung  Frankreichs  gebildet  worden. 
Ludwig  XII.  hat  so  wenig  als  seine  Nachfolger  bis  auf  Ludwig  XIII. 
unumschränkt  regieret.  —  Die  heutige  Verfassung  Frankreichs  ist 
weit  jünger  und  ein  Werk  des  Kardinals  Richelieu.  —  S.  83 
mischt  der  Verfasser  das  zusammen,  was  von  zween  Zaren  Iwan 
Basilowitz  I.  und  Iwan  Basilowitz  II.  geschehen  ist,  und  macht 
aus  ihnen  eine  Person.  Iwan  Basilowitz  I.  befreyete  sein  Reich 
von  der  Oberherrschaft  der  Tartaren:  aber  Iwan  Basilowitz  IL, 
dei*  Tyrann,  eroberte  Kasan  und  Astrachan.  S.  84  hat  Isabella, 
Königin  von  Spanien,  die  Schicksale  der  Monarchie  völlig  dem 
Kardinal  Ximenes  übergeben  — .  Das  konnte  und  wollte  sie 
nicht,  weil  sie  nur  Königin  von  Gastilien  war,  und  sie  hat  bis 
an  ihr  Ende  selbst  regieret,  wozu  sie  Verstand  und  Muth  genug 
hatte.  Ximenes  verwaltete  die  Regierung  erst  nach  König  Fer- 
dinands Tode.  —  S.  85  sagt  Herr  H.  wieder  von  dem  Kardinal 
Ximenes:  'Karl  V.  entfernte  ihn  von  allen  Staatsgeschäften.  Er 
verliess  den  Hof  und  starb  einige  Zeit  darnach*.  Ximenes  ist  gar 
nicht  an  Karl  V.  Hofe  gewesen.  Seinen  Abschied  erhielt  er 
schrifllich,  sobald  Karl  in  Spanien  angekommen  war.  S.  93  ent- 
setzen die  schwedischen  Stände  den  Erzbischof  Gustav  Trollen 
1518  der  Regierung  und  seines  Erzbissthums.  Das  letzte  ist  nur 
wahr.  Denn  die  Regierung  führte  nicht  er,  sondern  der  Reichs- 
vorsteher Sten  Sture.  S.  99  heisst  es :  *Karl  (König  von  Spanien) 
besass  Länder,  die  sehr  weit  von  Deutschland  entfernt  waren; 
Franz  I.  gränzte  sehr  nahe  an  unser  Vaterland\  Aber  wie? 
Gränzten  denn  die  Niederlande,  die  unter  Karls  Herrschaft  stunden, 
nicht  in  einem  langen  Striche  unmittelbar  an  Deutschland?  S.  135 
sagt  Herr  H.,  'dass  selbst  Könige  wider  den  Petrus  Waldus  die 
Wafifen  ergriffen  haben*  Und  in  einer  Anmerkung  nennt  er  diese 
Könige  Ludwig  den  dritten  von  Frankreich  und  Heinrich  II.  von 
England.  Diese  beyden  Könige  kamen  hier  sehr  wunderbar  zu- 
sammen. Aber  Ludwig  der  dritte  gehört  nicht  in  die  Gesellschaft. 
Denn  dreihundert  Jahre  nach  seinem  Tode  hat  er  den  Waldus 
nicht  bekriegen  können. 

Diese  Exempel  von  den  historischen  Sünden  unsers  prag- 
matischen Geschichtsschreibers  mögen  genug  sein,  ob  man  gleich 
die  Zahl,  wenn  man  wollte,  vermehren  könnte.  Wer  soviele 
Streifereien  als  Herr  H.  in  das  weite  Gebiet  der  Geschichte  thut, 
muss  die  Stellen,  die  er  berühren  will,  wohl  kennen,  oder  einen 
Wegweiser  zu  Hülfe  nehmen,  sonst  wird  er  sich  verirren.  Dieses 
ist  Herrn  H.  aus  Mangel  der  nöthigen  Kenntniss  und  Vorsicht 
wiederfahren.     Er  hüte  sich  künftig  vor  solchen  Fehlern!     Aber 


V.  Weilen,  Lessing  und  die  Hambargische  N.  Zeitung.         407 

nun  rauss  ich  auch  noch  die  grosse  Reihe  der  Wahrheilen  be- 
schauen, welche  (S.  Xlll)  *die  vortrefflichen,  aber  meistens  ver- 
borgenen  Schätze    der   Bibliotheken,    die   Handschriften,    seinem 

Geiste  gezeigt  haben'. Da  er  viele  von  verschied nen  Orten, 

aus  Königl.  und  Forstlichen  Bibliotheken  (S.  XXV)  bekommen  hat; 
so  erkennt  er  dieses  auch  pflichtmässig  mit  dem  verbindlichsten 
Dank  —  *Er  preiset  (S.  XXXI)  unsere  Zeiten  glucklich,  in  welchen 
grosse  Könige  und  weise  Forsten  dem  menschlichen  Geschlecht 
die  grösste  Wohllhat,  die  Ausbreitung  der  Künste  und  Wissen- 
schaften schenken;  und  niemals  wird  er  aufhören,  sich  mit  den 
feurigsten  Wünschen  für  so  liebenswürdige  und  grosse  Fürsten 
dem  Thron  der  Gottheit  zu  nahen.'  Die  Begeisterung  womit 
Herr  H.  hier  redet,  verspricht  schon  zum  voraus  sehr  wichtige 
aus  seinen  Handschriften  gemachte  Entdeckungen.  Wohlan  denn! 
ich  will  sie  dem  Leser  auch  nicht  vorenthalten ,  sondern  ihm 
treulich  vorlegen.  Allein,  wie  unglücklich  bin  ich?  Da  ich  das 
Buch  noch  einmal  von  einem  Ende  bis  zum  andern  durchlaufe, 
um  die  grosse  Reihe  neuer  Wahrheiten  zu  entdecken,  so  finde 
ich  nichts,  das  nicht  schon  längst  in  gedruckten  Büchern  stünde. 
Und  gleichwohl  sagt  Herr  H.  in  der  Vorrede  (S.  Xlli),  'dass  bei 
einem  so  erhabenen  Gegenstande,  den  er  sich  gewählt,  die  be- 
kannten Geschichtschreiber  gar  nicht  seine  Wegweiser  wären'. 
Aber  wie?  ist  denn  der  gute  Arnold  kein  bekannter  Geschicht- 
schreiber? Alles  was  wir  von  des  Ghurfürsten  Alberts  von  Mainz 
Verkaufung  des  Reichssiegels  an  den  kayserlichen  Minister  Gran- 
villa, von  der  Undankbarkeit  der  Wittenberg'schen  Theologen 
gegen  ihren  Herrn,  den  Kurfürsten  Johann  Friedrich,  von  der 
Verrälherei  seiner  Minister,  von  den  Umständen  der  unglücklichen 
Schlacht  bei  Mühlberg,  von  der  Untreue  und  dem  geheimen  Ver- 
ständnis des  Landgrafen  Philipp  von  Hessen  mit  dem  Kaiser  (und 
diese  Begebenheiten  sind  nun  vornämlich  die  grossen  und  neuen 
Wahrheiten)  bei  unserm  pragmatischen  Geschichtschreiber  in 
seinem  Buche  (S.  104 — 108.  113 — 114)  und  hernach  in  den 
Urkunden  (S.  99 — 130)  lesen,  findet  man  bei  dem  Arnold  in 
einer  Handschrift,  die  derselbe  hat  drucken  lassen,  und  zwischen 
welcher  und  der,  welche  Herr  H.  gebraucht  hat,  in  den  eben 
angeführten  Begebenheiten  kein  wesentlicher  Unterschied  ist.  Und 
dennoch  sagt  er  S.  1 07  mit  einer  stolzen  Miene :  'Wie  viele  Ver- 
läumdungen  (von  dem  Ghurfürsten  Johann  Friedrich)  werden  nicht 
aufhören,  wenn  meine  Zeitgenossen  die  Verrätherei  eines  Philipps 
von  Hessen,  welche  meine  Vorgänger  die  Geschichtschreiber  mit 
eineni  tiefen  Stillschweigen  unterdrückt  haben,  betrachten  werden'. 
Also  hat  Herr  H.  diese  Anekdote  zuerst  entdeckt.  Mit  gleicher 
Dreistigkeit  sagt  er  (S.  1 08)  'Wie  unrichtig  ist  nicht  bis  auf  unsere 
Tage  die  Schlacht  bei  Mühlberg  beschrieben  worden?'  —  Er  ist 
also  der  erste,  der  sie  richtig  beschrieben  hat.  —  Ist  es  möglich, 
dass  einer,  der  schreibt,  und  dabey  denkt,  so  schreiben  und  noch 


408        V*  Weilen,  Lessing  und  die  Hamburgische  N.  Zeitung. 

dazu  —  (S.  113)  die  Wahrheit  auffordern  könne,  dass  sie  selbst 
hervortreten,  und  allein  reden  sollte?  —  Unser  pragmatischer  Ge- 
schichtschreiber hätte  die  Wahrheit  hier  wohl  in  Ruhe  lassen 
können.  Denn  es  ist  ihre  Gewohnheit  nicht,  etwas,  das  alt  und 
bekannt  ist,  für  was  neues  und  unbekanntes  auszugeben.  Wahr- 
haftig, wer  glaubt,  dass  er  dadurch,  dass  er  längst  bekannte  und 
gedruckte  Sachen  erzählt,  und  Handschriften  zum  Beweise  anführt, 
ein  Erfinder  neuer  Wahrheiten  werden  könne,  der  kann  dieselben 
mit  leichter  Mühe,  bey  hunderten  und  tausenden  entdecken. 
Denn  es  giebt  noch  Handschriften  von  allen  alten  Autoren.  Allein 
das  Publikum  wird  neue  Entdeckungen  von  diesem  Schlage  ver- 
bitten. Denn  wenn  sie  Mode  werden  sollten,  so  würden  gewiss 
jede  Messe  die  pragmatischen  Historien  hundertweise  erscheinen. 
Herr  H.  muss  eine  sonderbare  Begierde  gehabt  haben,  seinem 
Buche  durch  Handschriften  ein  Ansehen  zu  geben.  Denn  wes- 
wegen sonst  hätte  er  die  fünftehalb  Bogen  starke  Apologie  des 
Lemnius  ganz  abdrucken  lassen,  ungeachtet  er  selbst  sagt,  dass 
sie  zum  Beweise  nicht  tauge.  Wenn  ihm  darin  vielleicht  die 
anzüglichen  Stellen  gegen  Luthern  ein  Vergnügen  machten,  so 
hätte  er  sie  auszugsweise  anführen  können.  Solchergestalt  würden 
die  Urkunden,  die  itzo  fast  neun  Bogen  anfüllen,  nur  ungefähr 
einen  eingenommen  haben.  Aber  alsdann  würde  das  Büchlein 
allzuklein  gewesen  seyn  —  Lächerlich  ist  es,  wenn  Herr  H.  S.  79 
zum  Beweise  eines  Satzes,  an  dessen  Wahrheit  niemand  zweifelt, 
die  von  weil.  Adam  Eberti,  Spanischen  Gedächtnisses,  in  das 
Lateinische  übersetzte  Historie  des  Sandovals  anführet,  eine  Hand- 
schrift von  vier  Foliobänden,  die  in  der  Bibliothek  liegt.  Wozu 
war  es  nöthig,  diese  Handschrift  hervorzusuchen ,  da  Sandovals 
Leben  Karls  V.  gedruckt  ist.  Das  ist  ja  eben  so,  als  wenn  je- 
mand z.  B.  statt  den  gedruckten  Mezeray  anzuziehen,  sich  auf 
eine  irgendwo  in  einer  Bibliothek  steckende  deutsche  oder  latei- 
nische ungedruckte  Übersetzung  dieses  Geschichtschreibers  be- 
rufen wollte,  um  dadurch  zu  zeigen,  dass  er  Handschriften  ge- 
braucht habe. 

Herr  H.  ist  sonst  kein  Freund  vom  allegiren ;  aber  in  diesem 
Buche  thut  er  es  oft,  und  zuweilen  ohne  Noth  z.  B.  Seite  57 
steht  der  kurze  Satz:  Philipp  (König  von  Gastilien)  stirbt.  —  Und 
hiebey  werden  Petri  de  Angleria  Epistolae  angeführt.  Wer  ver- 
langt wohl  einen  Beweis,  dass  Philipp  gestorben  sey?  Der  an- 
gezogene Autor  nennt  sich  Petrus  Martyr  Anglerius.  Allein  Herr 
H.  ist  überhaupt  sehr  unrichtig  in  den  Namen  der  Schriftsteller 
und  den  Titeln  der  Bücher,  die  er  anführt.  Also  nennt  er  den 
Guicciardini  immer  Guicciardino ;  und  Seite  60  muss  es,  anstatt 
Müllers  Reichsstaat,  wohl  heissen:  Reichstagsstaat.  In  den  AUe- 
gaten  macht  er  den  Leser  auch  bekannt,  dass  er  Pasquillorum 
Tomos  II  mit  prüfenden  Urteile  und  mit  Eifer  für  die  Wahrheit 
übersehen,    und   Mornayi  Mysterium  Iniquitatis  gelesen  habe.     Es 


y.  Weilen,  Leasing  und  die  Hatnburgische  N.  Zeitung.        409 

ist  Schade,  dass  die  Früchte  dieses  Übersehens  und  Lesens  in 
seiner  pragmatischen  Historie  unsichtbar  sind. 

Die  Schönheit  des  Styls  ist  eine  Vollkommenheit,  worauf 
Herr  H.  besonders  Anspruch  macht,  und  er  hat  auch  schon  in 
der  Vorrede  zween  Richter  ernannt,  die  entscheiden  sollen,  ob  er 
in  seinem  Buche  diese  Scliönheit  verfehlt  oder  erreicht  liabe.  Ich 
habe  diese  Entscheidung  noch  nicht  gesehen;  ob  ich  es  gleich 
gewünscht,  weil  das  Urtlieil  dieser  berühmten  Männer  das  meinige 
hätte  leiten  können.  Wenn  ich  indessen  nach  meiner  eigenen 
Empfindung  urtheiien  soll,  so  muss  ich  aufrichtig  bekennen,  dass 
ich  zwar  Fehler,  aber  keine  Schönheiten  in  der  pragmatischen 
Geschichte  gefunden  habe.  Der  Verfasser  ist  darin  von  dem 
historischen  Styl  der  Alten,  die  er  doch  sonst  zu  Mustern  empfiehlt, 
gänzlich  abgewichen.  In  seiner  Schreibart  herrscht  ein  unnatür- 
licher und  afTektirter  Enthusiasmus,  und  ein  Deklamationston,  der 
sich  für  den  Geschichtschreiber  nicht  schickt.  Überall  findet  man 
gesuchten  Witz,  Gegensätze,  die  oft  blosse  Wortspiele  sind,  hyper- 
bolische Ausdrücke  und   leere  Töne,   öftere  Wiederholungen  und 

abgebrochene   Gedanken,   die   durch  eine  Menge  —  — — 

bezeichnet  werden.  Wenn  die  Mode,  dies  Letztere,  wie  es  scheint, 
zum  unterscheidenden  Kenntzeichen  der  heutigen  schönen  Geister 
gemacht  hat,  so  ist  Herr  H.  der  schönste  unter  den  schönen 
Geistern.      Diese    viel  bedeutenden    und    vielleicht    eine    magische 

Kraft  habenden  Striche erblickt  man  sehr  häufig  in 

dem  Buche.  Aber  ich  muss  die  Vorwürfe,  welche  ich  dem  Ver- 
fasser wegen  seiner  Schreibart  gemacht  habe,  auch  wenigstens 
durch  etliche  Beyspiele  rechtfertigen.  Hier  sind  sie:  S.  57.  Das 
Glück  sammelete  alle  seine  Macht,  um  sich  mit  diesem  Fürsten 
auszusöhnen.  —  S.  62.  Kleine  Fürsten  hatten  ihre  Städte  ver- 
pfändet, um  grosse  Thorheiten  nachzuahmen.  —  S.  64.  Julius  II., 
dessen  Ehrgeiz  ganz  Italien  mit  seinem  Blute  nicht  würde  be- 
sänftiget haben.  —  S.  71.  Diese  Unordnung  in  dem  Finanzwesen 
ist  ein  besonderer  und  hell  hervorschimmernder  Staatsfehler  des 
Hauses  Österreich  gewesen.  —  S.  80.  Die  grossen  Herren,  welche 
kleine  Tyrannen  gewesen  waren.  —  S.  90.  Hier  verlasse  ich  diese 
Princessin  (Margaretha,  Königin  von  Navarra,  Franzen's  I.  Schwester) 
oder  vielmehr  die  Tugend,  und  eile,  um  das  Laster  zu  betrachten. 
Diese  Ehre  in  die  Tugend  verwandelt  zu  werden,  hat  die  gute 
Margarethe  wohl  bloss  dem  Gegensatze:  Laster,  zu  danken.  — 
Zuweilen  erlaubt  der  Verfasser  sich  auch  satyrische  Züge  gegen 
Personen,  die  ausser  den  Grenzen  seiner  Geschichte  sind,  als 
S.  48:  Friedrich  August,  den  seine  Sachsen  in  Vergleichung  nur 
immer  den  Grossen  nennen  können.  Dergleichen  AngrifTe  schicken 
sich  nicht  in  die  Historie,  und  wir  haben  die  Alten  auch  darin 
nicht  zu  Vorgängern.  Einmal  lässt  Herr  H.  sich  allzusehr  von 
der  Hitze  des  Zornes  überraschen,  wenn  er  Seite  106  schreibt: 
'Jeder  sächsischer  Patriot  wird,  wenn  er  sich  ihren  (der  verräthe- 


410        y.WeiIeD,  Lessing  nnd  die  Hamburgische  N.  Zeitung. 

Tischen  Minister  des  Churfiirsten  Johann  Friedrichs)  Grähern 
nähert,  die  gerechte  Rache  des  Hinnmels  auffordern'.  Was  soll 
die  Folge  dieser  Aufforderung  der  göttlichen  Rache  seyn?  Die 
Männer  sind  ja  lange  todt,  und  schon  vor  ihrem  Richter.  Oder 
soll  etwa  der  Donner  in  ihre  Gräber  schlagen?  Wem  könnte 
dieses  was  helfen?  Christen  müssen  nicht  so  rachgierig  seyn. 
Zuweilen  braucht  Herr  H.  undeutsche  Redensarten,  als  S.  46: 
der  ihm  die  Krone  geplündert  hatte.  Dies  ist  ein  Favoritausdruck 
des  Verfassers,  dessen  er  sich  oft  bedienet.  Aber  wer  redet  oder 
schreibt  so?  Man  sagt  die  Krone  rauben  —  Es  ist  eine  Regel 
des  hystorischen  Styls,  dass  der  Ausdruck  den  Sachen  und  Per- 
sonen angemessen  seyn  muss.  Und  hiewieder  handelt  Herr  H. 
auch  zuweilen.  —  S.  34  sagt  er:  Ludwig  bestieg  den  Thron 
Maylands.  S.  63.  Ehe  das  Haus  Medicis  den  Thron  bestieg,  und 
S.  75.  Maximilian  Sfortia  bestieg  den  Thron. Den  Aus- 
druck: den  Thron  besteigen,  braucht  man  allein  von  Kaysern  und 
Königen.  —  S.  63  heisst  es:  der  Herzog  konnte  seine  Ländereyen  nur 
solange  behaupten  —  Ländereyen  sind  Landgüter,  und  die  sollen 
hier  doch  wohl  nicht  verstanden  werden.  —  Endlich  so  verunzieren 
den  Styl  unseres  pragmatischen  Geschichtschreibers  einige  allzu 
oft  gebrauchte  Flickwörter,  als  Kurz  und  Mit  einem  Worte,  die 
man  zuweilen  auf  einer  Seite  etliche  mal  lisl.  —  Andere  Fehler 
übergehe  ich.  —  Diesem  allem  ungeachtet  soll  doch  das  Buch, 
(wie  zu  glauben  ist,  auf  eigne  Bemühungen  des  Verfassers)  in  das 
Französische  übersetzt  werden,  oder  ist  schon  übersetzt.  —  Dieses 
war  nöthig,  damit  sich  auch  die  Franzosen  daraus  erbauen,  und 
die  neuen  grossen  Wahrheiten  lernen  möchten. 

Noch  einen  besondern  Übelstand  entdecke  ich  zuletzt  in 
unserm  Geschichtschreiber.  Er  hat  allzuviel,  und  fast  beständig 
mit  seinem  eigenen  Individuo  zu  thun.  Weder  Livius  in  seinen 
übrigen  Büchern,  noch  der  P.  Daniel,  noch  Rapin  in  ihren  zehn 
Quartanten,  sprechen  so  viel  von  sich  selbst,  als  Herr  H.  in 
seinem  Oktavbüchlein  von  140  Seiten  thut.  Lasst  uns  ihn  ein 
wenig  auf  seiner  Laufbahn  begleiten,  und  seine  Bewegungen 
beobachten.  —  S.  12.  Er  liebt  die  Wahrheit,  und  kann  sie  aus 
keinen  Absichten  bey  sich  unterdrücken.  S.  13.  Er  eilt  in  seinen 
Betrachtungen  fort.  —  S.  24.  Er  nähert  sich  immer  mehr  dem 
grossen  Gegenstande.  —  S.  51.  Unter  dem  mächtigen  Schutze 
der  Wahrheit,  will  er  die  Triebfedern  der  Begebenheiten  auf- 
suchen, und  —  nach  der  Natur  abzeichnen.  —  S.  52.  Er  eilt 
den  Gesandten  in  das  Cabinet  ihres  Königs  nach.  —  S.  53. 
Tausend  Begebenheiten  muss  er  sich  vorstellen,  um  eine  völlig  zu 
überdenken.  —  Er  sähe  schon  die  hellsten  Strahlen  des  Lichts, 
und  auf  einmal  wird  es  Nacht.  Er  soll  unter  dem  Volke  sein 
und  königliche  Palläste  bewundern,  nicht  beschreiben.  S.  54. 
Mit  der  Geschichte  in  der  Hand,  will  er  noch  einmal  versuchen, 
sich  unter  unzähliehen  Auftritten  und  mannigfaltigen  Gegenständen 


y.  Weilen,  Lessing  und  die  Hamburgische  N.  Zeitung.       411 

durchzudrängen  y  und  die  Schicksale  Europens  beschreiben.  Er 
verliert  den  Muth  und  sein  Plan  bleibt  unvollendet.  —  S.  61. 
Kaum  wird  er  das  Gemähide  abkopiren  —  können.  —  S.  71.  Er 
verlässt  den  Leser,  dieser  soll  selbst  die  Geschichte  unserer  Tage 
überdenken.  —  S.  77.  Er  hat  seinen  Weg  vollendet.  —  Er  er- 
innert die  Leser,  dass  er  einzig  und  allein  den  Geist  und  die 
Sitten  der  Könige  und  Forsten,  der  Helden  und  der  Staatsmänner 
vorzustellen  gewagt  habe.  —  S.  83.  Er  schreibt  für  keine  Jüng- 
linge. —  S.  94.  Er  wünscht,  dass  er  die  Namen  beyder  Tyrannen 
(Christians  II ,  Königs  von  Dänemark  und  des  Erzbischofs  von 
Upsal,  Gustav  Troll)  auf  ewig  aus  der  Geschichte  vertilgen  könne. 
Sehr  oft  nähern  seine  Gedanken  sich  beyden  Tyrannen. 
Allein  die  Empfindungen  des  Schmerzes  überwältigen  sein  Herz 
und   unterdrücken   das  Nachdenken.      Er    sieht    dies    vergossene 

Blut. Er  höret  die  Seufzer er  empfindet  alle  Schmerzen, 

welche  die  unglücklichen  gequält  haben.  —  Der  Leser  soll  selbst 
denken?  —  S.  103.  Unter  dem  mächtigen  Schutze  der  Wahrheit 
tritt  er  (noch  einmal)  getrost  hervor.  —  S.  119.  Mit  stillen 
Thränen  sieht  er  auf  seine  Vorfahren  zurück.  —  S.  122.  Er  eilt 
in  den  Tempel  der  Geschichte  um  Luther  ganzes  Leben  zu  be- 
trachten. Allein  welches  Labyrinth?  Hier  erblickt  er  Ehren- 
säulen, mit  diesen  prächtigen  Sinnschriflen  geziert:  Dem  Erretter 
des  menschlichen  Geschlechts!  dem  Apostel  der  neuern  Zeilen; 
dort  stehen  Altäre,  und  auf  denselben  Priester,  die  noch  immer 
seinen  Namen,  als  einer  Gottheit  opfern.  —  Er  eilet  fort,  und 
entdeckt  ebenso  viele  Satyren  auf  diesen  Stifter  einer  neuen 
Sekte,  als  Lobsprüche,  unzählige  Verläumdungen.  Getrost  nimmt 
er  die  Wahrheit  bey  der  Hand.  Sie  soll  ihn  an  den  Klippen 
vorbeyführen ,  wo  er  leichfc  scheitern  könnte.  —  —  Wir  haben 
bisher  unsern  Verfasser  auf  seinem  Wege  begleitet  ohne  uns  mit 
ihm  zu  unterhalten.  Allein  bey  diesem  Galimathias  wird  er  uns 
erlauben  zu  fragen:  wie  Schmeicheley  (denn  davon  sind  die 
Sinnschriften  der  Ehrensäulen  und  die  Priester  auf  den  Altären 
Zeichen)  und  Satyre  und  Verläumdungen  in  dem  Tempel  der 
Geschichte  kommen  ?  Er  ist  ja  allein  der  Wahrheit  gewidmet.  — 
Doch  Herr  H.  ruft  bey  dem  Eintritt  in  den  Tempel  aus:  welches 
Labyrinth!  —  Er  muss  also,  man  weiss  nicht  wie,  aus  dem 
Tempel  in  ein  Labyrinth  gerathen  seyn  und  dort  jene  seltsamen 
Erscheinungen  gesehen  haben.  Er  nimmt  die  Wahrheit  bey  der 
Hand.  War  sie  denn  auch  in  dem  Labyrinth?  Sie  soll  ihn  an 
den  Klippen  vorbeyführen.  —  Wie,  waren  denn  in  dem  Laby- 
rinthe Klippen?  Dies  beyläufig.  —  Wir  folgen  ihm  noch  einige 
Schritte,  und  da  hören  wir  ihn  (Seite  134)  die  grossmüthige  Er- 
klärung thun,  dass  er  von  einigen  wenigen,  aber  weisen  Freunden 
geliebt,  die  Sprache  der  Verläumdung  nicht  achten  werde.  — 
Nun  eilen  wir  mit  ihm  zu  Ende,  damit  er  uns  noch  die  letzte 
grosse  Wahrheit  entdecke,  welche  nach  dem  Versprechen,  das  er 


412      £.  Schmidt,  Lessing  und  die  Hamburgische  N.  Zeitung. 

in  der  Vorrede  gethan,  dem  Beschliisse  dieser  Geschichte  gewidmet 
war.  Hier  ist  sie  mit  seinen  eignen  Worten:  *  Weder  unsere 
Tugenden,  noch  auch  unsere  Laster  sind  neu,  sondern  das  Erb- 
theil  unserer  Vorfahren'.  —  Führwahr  ich  erstaune  über  diese 
grosse  Wahrheit,  um  so  vielmehr,  als  jeder  aufmerksame  Leser 
sie  aus  der  Geschichte  eines  jeden  Staates,  ja  aus  der  Chronik 
einer  jeden  Stadt  ziehen  kann.  Warum  hat  sicli  denn  unser 
pragmatischer  Geschichtschreiber  die  beschwerliche  Mühe  gemacht, 
da  diese  grosse  Wahrheit  so  handgreiflich  und  längst  bekannt  ist, 
ihrentwegen  ein  Büchlein  von  1 40  Seiten  zu  schreiben,  demselben 
eine  Vorrede  von  46  Seiten  vorzusetzen,  und  ihm  sehr  entbehr- 
liche Beylagen  und  Urkunden,  die  134  Seiten  betragen,  anzu- 
hängen. Dieses  begreife  ich  nicht.  Er  hätte  ja,  wenn  er  seine 
grosse  Wahrheit  nicht  bey  sich  behalten  konnte ,  sich  ihrer  auf 
eine  ihm  selbst  leichtere  und  für  die  Leser  weniger  kostbare  Art 
entledigen  können. 

Wien.  Alexander  von  Weilen. 

Beilage. 

Meinen  Zweifel  an  der  Berechtigung,  Lessings  Werke 
um  diese  Recension  gegen  Hausen  zu  vermehren,  worin 
weder  Redlich,  noch  ich,  noch  irgend  ein  anderer  Leser 
der  Hamburgischen  Zeitung  die  Löwenklaue  wahrgenommen, 
möchte  ich  mit  einigen  Worten  begründen.  In  Lessings 
Briefen  deutet  keine  Spur  auf  einen  solchen  vorläufigen 
Tanz  mit  den  Klotzianern  hin;  auch  wäre  es  wunderbar, 
dass  er  nach  so  eingehender  Beschäftigung  nirgends  in  den 
antiklotzischen  Schriften  und  Entwürfen  von  dem  'prag- 
matischen Geschichtschreibcr^  gesprochen  haben  sollte. 
Ich  sehe  Lessing  damals,  wo  die  lange  Kritik  geschrieben 
sein  muss,  nur  mit  der  'Hamburgischen  Dramaturgie'  be- 
schäftigt und  zu  archäologischen  Auseinandersetzungen  ge- 
rüstet. Warum  hätte  er  seine  geringe  Müsse  gerade  an 
jenes  liederlich  zusammengeklaubte  Machwerk  übelster 
kirchenhistorischer  'Aufklärung'  verschwenden  sollen?  Die 
Collectanea  bieten  keine  einschlägige  Notiz.  Doch  will  ich 
von  solchen  Argumenten  ex  silentio  absehen.  Das  Zeichen 
**  fallt  kaum  ins  Gewicht;  auch  Lessings  Autorschaft  der 
dürftigen  Ramleranzeige  ist  mir  unglaublich.  Die  gegen 
Hausen  angestrengten  historischen  Detailkenntnisse  standen 
Lessing   gewiss   zu   Gebote;   aber   wer  die  'Antiquarischen 


£.  Schmidt,  Leasing  und  die  Hamburgische  N.  Zeitung.      413 

Briefe'  oder  nur  die  kleine  Kritik  des  Meuselschen  Apollodor 
daneben  hält,  wird  gegen  den  Lessingschen  Ursprung  dieser 
weitschweifigen,  mit  einem  Biesencitat  einsetzenden  und 
trotz  ein  paar  blank  und  scharf,  meinetwegen  Lessingisch 
geschliffenen  Sätzen  doch  zu  oft  .ermattenden  Kritik  unüber- 
windliche Bedenken  hegen.  Würde  Lessing  sein  Urtheil 
so  an  Einzelheiten  geheftet  haben,  ohne  die  ganze  schale 
Darstellung  des  sechzehnten  Jahrhunderts  nach  Gebühr  zu 
züchtigen?  Ob  er  so  auf  die  ^Fragmente'  Herders  gestichelt 
hätte?  Die  Art,  wie  des  Lemnius  gedacht  ist,  scheint  mir 
eher  wider  als  für  Lessing  zu  zeugen,  den  übrigens  Hausen 
S.  XXVII  ehrerbietig  als  den  'berühmten  Herrn  Lessing'  an- 
führt. Die  Sprache  ist  schleppender  als  alles  was  Lessing, 
besonders  im  Polemischen,  damals  geleistet  hat.  Eine 
Relativconstruction  wie  'die  .  . .  und  zwischen  welcher  und 
der,  welche'  möchte  ich  einmal  aus  Lessings  reifer  Prosa 
belegt  sehen !  Und  die  scheinbaren  Übereinstimmungen  sind 
doch  gar  zu  äusserlich,  als  dass  sie  der  ganzen  Haltung, 
den  vielen  Umständlichkeiten  und  Schwächen  dieser  Kritik 
gegenüber  irgendwie  entscheiden  könnten.  Ein  'Litteratur- 
briefchen',  wie  Lessing  nach  dem  Schreiben  an  Nicolai 
(2.  Februar  1768)  eines  gegen  die  'jungen  Herren'  versuchen 
wollte,  liegt  hier  jedenfalls  nicht  vor.  Gäbe  es  in  solchen 
Fragen  eine  Abstimmung,  so  würde  ich  unbedingt  mit  Nein 
Yotiren  und  mir  einen  kleineren  Mann,  der  an  sich  recht 
gescheit  und  brav,  aber  an  Lessing  gemessen  doch  nur 
mittelmässig  schreibt,  als  Verfasser  denken. 

•Hausen  selbst,  der  wie  alle  Klotzianer  über  Recensir- 
angelegenheiten  immer  genau  unterrichtet  war,  weiss  offenbar 
nichts  von  Lessings  Autorschaft,  oder  will  mindestens  nichts 
davon  wissen.  Er  antwortet  in  seiner  Allgemeinen  Biblio- 
thek der  Geschichte  2,  1 30  ff.  (vom  Sommer  1 768)  denjenigen 
Gegnern,  die  er  durch  das  ganze  Buch  und  durch  einen 
directen  Angriff  auf  die  Wittenberger  Nachkömmlinge  S.  XXIX 
herausgefordert  hatte ,  den  Orthodoxen,  Wemsdorf,  Güling. 
Man  hatte  sogar  lateinische  Schmähdisticha  auf  den  schamlosen 
Hausenius  geschmiedet.  Übrigens  gibt  Hausen  S.  138  seiner 
Beplik  zu,  dass  des  Lemnius  Apologie  besser  weggeblieben 
wäre.    Kein  Wort  von  einer  Hamburgisehen  Recension. 

VierteljahTBchrift  für  Litterataigeschichte  III  28 


414       1^-  Schmidt,  Lessing  und  die  Hamburgische  N.  Zeitung. 

Klotzens  Acta  litteraria  und  Deutsche  Bibliothek  igno- 
riren  das  todtgeborene  Werk,  das  auch  keine  Fortsetzung 
fand.  Erstere  machten  noch  1,  456  und  3,  164iF.  (Qeschichte 
des  menschlichen  Geschlechts  I,  mit  einem  Hinweis  S.  179 
auf  die  versprochene  Protestantengeschicfate)  für  Hausen 
Reclame,  um  dann  nur  noch  7,  229  bei  Gelegenheit  der 
Mangelsdorfschen  Tita  den  undankbaren  Pamphletisten  ver- 
ächtlich abzuthun.  Hausen  ist  1767  ein  eifriger  Partei- 
Journalist  und  stösst  —  wenn  anders  der  Redacteur  auch 
hier  der  Verfasser  ist  —  1768,  als  Mensel  den  Caylus  über- 
setzt, Klotz  ihn  eingeleitet  hatte,  in  die  Trompete,  Klotzens 
verhängnissvolle  Erklärung  der  romischen  Ahnenbilder  rüh- 
mend, Allg.  Bibliothek  der  Geschichte  2,  35.  Aber  er  zerfiel 
eben  1 768  vollends  mit  seinem  werthen  Freund  und  Gönner. 
Und  da  ihm  von  Lessings  Seite  kein  unmittelbarer  Streich 
widerfahren  war,  übte  er  nach  Klotzens  Tode  die  gemeine 
Taktik,  in  einem  Athem  den  Verstorbenen  zu  beschimpfen 
und  Lessing  zu  schmeicheln.  Sein  berüchtigtes  Pasquill, 
wo  auch  ein  persönliches  Gesprach  mit  Lessing  über 
historiographische  Dinge  wiedergegeben  ist,  erzählt  S.  20  f. : 
'Die  letzte  Veranlassung  zu  der  völligen  Trennung  gab 
endlich  die  von  dem  Herrn  Hausen  abgefasste  Geschichte 
der  Protestanten.  Herr  Hausen  hatte  jeden  Bogen  dieser 
Geschichte  dem  Herrn  Klotz  in  der  Handschrift  vorgelesen, 
sich  mit  ihm  über  das  Ganze  und  über  einzelne  Ausdrücke 
unterredet,  und  nicht  selten  die  Heftigkeit  dieses  und  jenen 
Ausdrucks  mildem  wollen,  wenn  sein  Freund  die  Verände- 
rungen billige :  allein  Herr  Klotz  billigte  die  ganze  äusser- 
liche  Einkleidung  der  Begebenheiten,  ja  er  beehrte  sie  mit 
den  grösten  Lobsprüchen.  So  bald  aber  dies  Buch  heraus- 
gekommen war:  so  äusserte  Herr  Klotz  in  Gesellschaften 
und  in  Briefen  an  seine  Correspondenten  die  bittersten  Ur- 
theile  über  dieses  Buch;  ja  er  war  es,  so  ein  grosser  Be- 
wunderer derselbe  auch  anfangs  von  diesem  Geschichtsbuche, 
wenigstens  gegen  seinen  Freund  gewesen  war,  der  ihm  die 
ersten  öffentlichen  nachtheiligen  Urtheile  über  diese  Arbeit 
zuzog\  —  Vielleicht  auch  jenes  Hamburgische?  —  *Herr 
Hausen,  der  sowol  seinen  Briefwechsel  unterhielt,  als  Herr 
Klotz,  erhielt  von  diesem  Betragen  unleugbare  Beweise.' 


E.  Schmidt,  Lessing  und  die  Hamburgische  N.Zeitung.      415 

In  Hagens  Sammlung  der  Briefe  deutscher  Gelehrten 
an  den  Herrn  Geheimen  Rath  Klotz  2,  40  zieht  der  Berliner 
Conrad  schon  am  27.  November  1767  über  Hausens  Buch 
wie  über  das  Machwerk  eines  preisgegebenen  Scriblerfi  los: 
'Sagen  Sie  mir  doch  in  aller  Welt,  was  Herr  H***  mit 
seiner  ****  Geschichte  will?  überall  höre  ich  von  Ken- 
nern sie  einmüthig  verdammen ;  die  ganze  Ausführung  miss- 
ßlllt;  der  Ton,  der  ganze  Ton,  mit  dem  er  gegen  die  Re- 
formatores  deklamirt,  ist  verdächtig,  und  seine  Feder  dabey 
in  Gift  getaucht;  ich  kann  Ihnen  versichern,  dass  er  sich 
Leute  zu  Feinden  macht,  die  ihm  das  können  vergelten,  und 
einmal  empfinden  lassen.  Die  Formeyische  Übersetzung  — 
Formey  ist  in  der,  gleichfalls  Halle  1767  erschienenen, 
Histoire  des  Protestans  en  Allemagne  nicht  als  Dolmetsch 
genannt;  das  soheussliche  Kupfer  fehlt  hier  —  'soll  erbärm- 
lich seyn  —  ich  hoffe  nicht,  dass  weder  diese,  noch  das 
Original  irgendwo  wird  gelobt  werden.  Was  für  ein  Unter- 
schied zwischen  seinem  Styl  und  dem  in  der  Schröckhschen 
Biographie!' 

So  hat  der  'pragmatische  Geschichtschreiber'  bei  dem 
Haupt  und  bei  den  Gliedern  des  Klotzianismus  gründlich 
Fiasco  gemacht.  Sein  Buch  wurde  gleich  nach  dem  Er- 
scheinen von  Freund  und  Feind  abgelehnt,  am  heftigsten 
von  der  lutherischen  Orthodoxie.  Die  unverdrossene  Be- 
mängelung einer  so  nichtsnutzigen  und  so  allgemein  für 
nichtsnutzig  erkannten,  im  eigenen  Lager  todtgeschwiegenen 
Scharteke  sollte  Lessings  Feldzug  gegen  die  Hallenser  Sippe 
eingeleitet  haben?  Nimmermehr.  Oder  hätte  er  sich  etwa 
die  langathmige  Kritik  in  matten  Stunden  abgequält,  um 
seinem  lutherischen  Freunde,  dem  Hauptpastor  Goeze, 
ein  Vergnügen  zu  machen?     Schwerlich. 

Berlin.  Erich  Schmidt. 


28* 


4t  6      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 


Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bfirger  und 

Goecklngk.  ^) 

II.    Mai  1778  —  Juli  1784.«) 

Aus  den  Briefen  vom  Anfang  des  Jahres  1 778  war  der 
alte  herzliche  Ton  geschwunden  und  es  dauerte  längere 
Zeit,  bis  er  sich  wieder  einstellte.  Am  2t.  Mai  1778  ver- 
langt Goeckingk  (Strodtmann,  Bürgerbriefe  Nr.  486)  das 
Manuscript  seines  ^Adlerkant'  und  ^was  vom  Yorigen  Göt- 
tingschen  Almanach  übrig  geblieben  ist'  zurück.  Ein  zweiter 
Brief,  der  diese  Bitte  wiederholt  haben  rouss  (vgl.  Nr.  50  t), 
ist  nicht  erhalten. 

Bürger  antwortete  erst  sehr  spät: 

42.    Bürger  an  Goeckingk. 

Wöilmershausen  den  19*<^°  August  1778. 

Ihr  schriebet  einmal,  lieber  Goeckingk,  und  reklamirtet  einige 
Gedichte,  welche  noch  in  dem  Dieterichsehen  Musenalmanachs 
Archiv  befindlich  wären.  Wenn  ich  mich  auch  zu  Tode  suchte, 
so  kan  ich  doch  Euern  Brief  nicht  wieder  finden.  Ich  weiss 
also  nicht  eigentlich,  was  für  welche  Ihr  zurück  verlanget.  In- 
dessen habe  ich  noch  einige  ungedruckte  Stücke  von  Euch,  auch 
eins  von  Nantchen  und,  wenn  ich  nicht  irre,  von  Stamford  nun- 
mehr aufgefunden.  Ihr  müst  mir  notwendig  einen  neuen  Finger- 
zeig geben.  Aber  bald!  Denn  sonst  —  so  wahr  der  Herr  lebt 
und  meine  Seele  lebt!  —  sonst  vergreife  ich  mich  eben  so  in 
der  Not  dran,  als  der  König  David  sich  in  seinem  Hunger  an  den 
Schaubroden  vergrif.  Solchen  Mist,  als  dies  Jahr  zum  Almanach 
eingelaufen  ist,  könt  Ihr  Euch  gar  nicht  vorstellen.  Gott  weis! 
wie  ich  nur  fünf  erträgliche  Bogen  volmachen  sol,  zu  geschweigen 

^)  Das  Fragezeichen  zu  dem  Namen  ROtgeroth ,  oben  S.  98,  ist 
unnöthig.  Das  Bild  dieses  in  Einbeck  wirklich  geräderten  Mörders 
Rüttgerodt  erhielt  Lavater  von  Zimmermann  und  schloss  daraus  auf 
ein  'schöpferisches  Urgenie'.  Zimmermann  sandte  ihm  dann  auch  den 
Lebensahriss,  und  nun  erklärte  Lavater  in  den  Physiognomischen  Frag- 
menten Th.  II  Frgmt.  XVIII  S.  194,  wo  er  das  Abbild  vorlegte,  den 
Mann  f&r  einen  'lebendigen  Satan*.  Auch  Lichtenberg  erwähnt  Rüttge- 
rodt Werke  4, 117. 

Berlin  21.  2.  90.  Richard  M.  Meyer. 

<)  s.  oben  S.  G2  ff. 


Sauer»  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      417 

denn  ein  ganzes  Duzend.  Fast  kein  einziges  Stück  von  den  bis- 
her abgedrukten  habe  ich  reinweg,  sob  wie  es  ein  gekommen  ist, 
brauchen  können,  sondern  das  meiste,  was  noch  einiger  massen 
war,  fast  ganz  umarbeiten  müssen,  ihr  braucht  mir  nicht  des 
Almanachs  wegen  zu  fluchen;  mich  trift  ohnehin  des  Fluchs  so 
▼iel,  dass  ich  mich  vor  Desperation  bei  dem  Gewerbe  aufhängen 
möchte.  Und  mus  gerade  diesen  Sommer  über  so  viel  andre 
Geschäfte  haben!  Aber  dafür  wil  ich  auch  mein  Mütchen  an 
den  poetisclien  Mistmachern  in  der  Vorrede  recht  kühlen.  Da  es 
mir  ganz  gewis  an  Materie  fehlen  wird,  die  Bogenzahl  nur  er- 
träglich zu  füllen,  so  werde  ich  zur  erlaubten  GemütsErgözung 
einige  Bogen  von  dem  ganz  extradummen  Zeuge  volmachen,  es 
wäre  denn,  dass  Ihr  barmherzig  genug  wäret,  mir  die  reklamirten 
Stücke  ganz  oder  zum  Theil  noch  abzu  treten. 

Übrigens  dient  von  mir  zu  wissen,  dass  ich  mich  diesen 
ganzen  Sommer  über  gar  elend  befunden  habe.  Ich  habe  zwar 
Brunnen  und  Bad  zu  Hofgeismar  gebraucht;  bin  aber  um  wenig 
oder  nichts  gebessert  worden.  Meine  Frau  und  mein  Mädel  be- 
linden sich  wohl.  Ich  wünsche  von  den  Eurigen,  die  ich  grüsse 
und  küsse,  ein  gleiches  zu  hören.  Meine  älteste  Schwägerin 
Annchen,  wird  in  einigen  Tagen  mit  einem  wackern  Knaben, 
dem  Amtsvoigt  Elderhorst  in  Bissendorf  Hochzeit  machen.  Woll- 
mershausen  steht  übrigens  noch  auf  dem  alten  Flecke;  und 
Bettelmann  wird  nachgerade  alt  und  stumpf.     Vale 

G  ABürger. 

Antwortet  mir  bald! 

Am  30.  August  wiederholte  Goeckingk  sein  Verlangen 
zum  dritten  Mal  (Nr.  501),  den»  Bürger  nun  endlich  nach- 
kam. 

43.   Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  den  10.  September  1778. 

Die  beiden  Fabeln,  welche  ich,  um  das  Manuscript,  worauf 
noch  andre  ungedruckte  Stücke  standen,  nicht  zu  zerreissen,  ab- 
geschrieben habe,  erfolgen  hiemeben.  Im  Manuscript  habe  ich 
sie,  so  wie  das  bewuste  Gedicht  von  Nantchen,  ausgestrichen, 
damit  sie  ein  Nachfolger  nicht  noch  einmal  drucken  last.  Von 
Herzen  danke  ich,  dass  Ihr  mir  die  übrigen  Stücke  überlasset. 
Den  Adlerkant  habe  ich  mit  heutiger  Post  an  Bolen  abgesendet. 
Es  scheint,  als  glaubtet  Ihr,  ich  hätte  aus  Vorsaz  gezögert,  so 
wol  jene,  als  dieses  Stück  herauszugeben.  Aber  um  des  Himmels 
willen!  was  solte  mich  denn  wohl  dazu  bewogen  haben?  Nichts, 
als  Zerstreuung,  Reisen  und  Plackereien  sind  an  dem  Verzuge 
Schuld.  Das  ist  manchmal  so  weit  gegangen,  dass  ich  den  Brief, 
den  ich  heute  erhalten  und  gelesen,  morgen  schon  wieder  ver- 
gessen hatte. 


418      Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Eures  Bruders  Ehre  ^)  hatte  ich  schon  in  den  Zeitungen,  die 
ja  ein  Philister  wie  ich,  wenigstens  zu  jeziger  Zeit  wol  mithält, 
gelesen  und  mich  Euertwegen  drüber  gefreuet.  Er  mus  wol  ein 
weidlicher  Knabe  seyn.  —  Aber  Eure  Reise  nach  Berlin  und  rer- 
niutliche  Beförderung  an  einen  andern  Ort,  wohin  ich  warschein- 
lich  in  meinem  Leben  nicht  kommen,  mithin  Euch  nicht  wieder- 
sehen werde,  macht  mir  das  Herz  so  dick,  dass  ich  weinen 
mögte.  Standen  mir  nicht  so  viele  Hindernisse  im  Wege,  so 
trabte  ich  zu  Euch,  um  Euch  wenigstens  noch  einmal  auf  der 
Oberwelt  zu  sehen.  Mir  ist  neulich  eine  Stelle  am  Rhein  ange- 
tragen worden;  die  sehr  vortheilhafl  schien.  Ich  habe  mich  da- 
rauf vorläufig  erst  nach  diesem  und  jenem  erkundigt;  und  laure 
nun,  wie  ein  Narr,  von  einem  Posttage  zum  andern,  auf  Ant- 
wort. Ich  gienge  wol  nach  Otaheite,  so  fatal  ist  mir  mein  hie- 
siger Aufenthalt,  der,  wenn  er  noch  lange  dauren  solte,  meine 
ganze  Menschheit  vernichten  wird.  Hätte  ich  keinen  Kloz  an  den 
Füssen,  so  wär^  ich  schon  längst  aufgebrochen.  Euch  kan  es 
nicht  fehlen ;  dass  Ihr  nicht  ein  erwünschtes  Glük  machen  soitet. 
Dass  ich  es  aber  nicht  weiter,  als  höchstens  in  einem  verhunzten 
Konterfey  vor  der  Allgemeinen  deutschen  Bibliothek*  zu  figuriren, 
bringen  kan,  daran  ist  mein  Gros  Vater,  Gott  habe  ihn  seiig! 
Schuld.  Ich  bin  in  einen  so  abgelegenen  Winkel  hin  hoffirt,  wo- 
hin kein  Schwein  stänkert.  Die  Königin  von  Grosbfitannien  wird 
mir  schwerlich,  sogar  den  Subscriptionsthaler  nur  und  die  Aus- 
lage für  den  schönen  marmorirten  und  auf  dem  Schnitte  ver- 
guldeten  Band  bezalen.  Nun!  ich  wil  mich  Eurer  Gönnerschaft 
empfolen  haben.  Denn  nachgerade,  denk  ich,  wird  man  das  wol 
können.  Wenn  ich  noch  solte  Minister  werden  —  denn  wol  zu 
merken,  die  mir  angetragene  Stelle,  ist  eine  Art  von  Minister- 
stelle, an  einem  kleinen  Hofe  —  so  wil  ich  wiederum  Euer 
Gönner  seyn. 

Adiol   Meine  ganze  Haushaltung  grüst  die  Eurige      GAB. 

Ich  möchte  denn  doch  wol  wissen,  warum  wir  nicht  mehr 
sooft  an  einander  schreiben.  Es  war  denn  doch  sonst  keine 
kleine  Freude,  wenn  ein  Brief  voll  Schnurren  Einen  von  einem 
Posttage  zum  Andern  in  Gleichgewicht  erhielt. 

In  Goeckingks  Umgebung  hatte  der  Streit  um  den  Al- 
manach  grosses  Aufsehen  gemacht  und  man  nahm  für  und 
gegen  ihn  Partei.  In  einem  solchen  Streite  wandte  sich 
ein  Lieutenant  Behm,  damals  auf  Commando  zu  Sachs- 
werfen bei  Nordhausen  an  Bürger  um  Aufklärung,  die 
dieser  in  ausführlicher  Weise  mit  Beifügung  aller  Beilagen 


*)  Der  damalige  Major  v.  Goeckingk  erhielt  nach  dem  Gefecht 
bei  Gabel  den  Orden  pour  le  märite. 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      4 1 9 

gab.  Zu  diesem  Zwecke  offenbar  versah  er  das  Prome- 
moria  Nr.  432  mit  den  Randbemerkungen,  die  bei  Strodt- 
mann  mit  abgedruckt  sind,  und  schrieb  auf  Goeckingks 
Brief  Nr.  436  die  seinerzeit  gegebene  Antwort  aus  dem 
Oedächtnisse  nieder.  Auf  diesen  Streit  bezieht  sich 
Goeckingks  Schreiben  Nr.  520  vom  14.  December  und 
Bürgers  Antwort: 

44.    Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  den  22.  December  1778. 
Liebster  Goeckingk 

Wenn  der  Teufel  Lust  zu  Unlust  hat,  mus  es  ja  wol  so 
icommen.  Glaubt  mir  ich  bin  mit  Haaren  dazu  gezogen,  diesen 
Drek  von  neuen  wieder  umrühren  zu  helfen.  —  Der  Lieut. 
Behni  schrieb  mir  hisce  ipsissimis  verbis: 

^Gestern  befand  sich  eine  grosse  Gesellschaft  bei  dem  Amt- 
man  von  WüUen  zu  llfeld,  und  da  kaum  einige  Löffel  Suppe  hin- 
unter geschlürft  waren,  so  fiel  auch  schon  die  Rede  auf  Bürger 
und  Goeckingk.  Einer  aus  der  Gesellschaft  nahm  besonders  das 
Wort  und  sagte:  Es  ist  doch  von  Bürger  sehr  unverantwortlich 
gehandelt,  dass  er  Goeckingk  nur  desfals  überredet  hat,  die 
Besorgung  des  Dietrichschen  Almanachs  abzugeben,  um  selbige 
nebst  dem  damit  verbundenen  Vortheil  an  sich  zu  ziehen,  und 
dieses  Betragen  räumet  sich  mit  dem  Liede  vom  braven  Manne 
sehr  schlecht  u.  s.  w.  Meine  aufrichtige  Verehrung  gegen  Sie, 
liebster  Freund,  ist  Ihnen  völlig  bekant;  und  deswegen  wurde 
ich  gleich  so  heftig  aufgebracht,  dass  ich  öffentlich  sagte:  Ich 
kenne  den  Amt.  Bürger  von  aller  eitlen  Ehre  und  Gewinsucht 
ganz  frei,  und  deswegen  glaube  ich  diese  Beschuldigung,  sie  mag 
kommen,  aus  welcher  Quelle  sie  wolle,  mit  recht  eine  schänd- 
liche Verläumdung  nennen  zu  können\  — 

Bis  hieher  hätte  ich  stille  geschwiegen  und  keine  Erläute- 
rungen von  mir  gegeben,  aber  mein  Korrespondent  fährt  weiter 
fort: 

'Ich  versichere,  mein  Herr  .  .  .,  dass  Sie  und  die  ganze 
Tischgeselschaft  noch  während  meines  hiesigen  Aufenthalts  von 
der  Sache  unterrichtet  werden  sollen,  und  kan  Bürger  sich  nicht 
völlig  verantworten,  so  wil  ich,  weil  ich  das  Wort  für  ihn  ge- 
sprochen, bei  der  ganzen  Geselschafft  öffentlich  Abbitte  thun,  und 
Bürger  als  keinen  braven  Mann  erklären.  Verzeihen  Sie,  1.  Fr., 
dass  ich  Ihnen  eine  kleine  Bemühung  verursache ;  es  ist  meinerseits 
alles  aus  wahrer  Hochachtung  und  Liebe  geschehen.  —  Sie  ant- 
worten baldmöglichst  u.  s.  w.' 

Nie  ist  wol  ein  römischer  Schuldner  härter  ans  Ohr  gepackt 
und  vor  den  Prätor  geschlept  worden,   als  ich   in  diesem  Falle 


420      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

zu  meiner  Erläuterung.  —  Diese  habe  ich  denn  dem  Lieut.  Behm 
mit  den  erforderlichen  Beilagen  zugeschickt,  und  zuschicken  müssen, 
wlewol  ich  das  fatale  Stadt-  und  Landgeträtsch,  dass  daraus  ent- 
stehen mäste,  voraussah.  —  Den  Lieut.  Behm  kan  ich  wegen 
seiner  wahren  und  warmen  Freundschaft  nicht  anders  als  doppelt 
hoch  schätzen,  ob  ich  gleich  wünschte,  dass  er  seiner  Verthei- 
digung  nicht  diese  Provocationsmässigc  Wendung  gegeben  hätt;. 
Denn  ich  kan  mir  leicht  dergleichen  Controversen  bei  der  Suppen- 
schüssel vorstellen;  wo  das  Pro  und  Contra  nicht  eben  imnoer 
zum  besten  abgedrechselt  wird.  Indessen  hat  mir  der  Vorfal  sehr 
wehe  gethan,  weil  er  mich  so  viel  unangenehmes  wieder  kafien 
gemacht  hat.  Glaubt  mir,  lieber  Goeckingk,  hätte  ich  ihn  ignorren 
können,  wie  gern  hätt^  ichs  getlian!  Ja,  wenn  mir  auch  noch 
10  mal  was  ärgers  nachgesagt  wäre.  Von  Herzen  bin  ich  Eurer 
Meinung,  dass  man  die  Acten  dicht  und  fest  nun  zubinde,  sie 
in  den  abgelegensten  Winkel  lege  und  handhoch  bestauben  lasse. 
Daher  bitte  ich  Euch,  den  Amtsschreiber  Lüder  zu  bitten,  dass  er, 
wenn  ich  ihn  über  lang  oder  kurz  sehen  und  kennen  lernen  solte, 
diesen  Vorfal  durchaus  vergessen  seyn  lasse,  da  ich  ohnehin  geneigt 
bin,  das  beste  zu  glauben,  so  würde  eine  weitere  Rechtfertigung 
überflüssig  seyn  und  nur  dazu  dienen,  mir  diese  nun  nieder- 
geschlukte  Pille  von  neuem  aufstossen  zu  machen. 

Gern,  lieber  Freund,  nahm  ich  Eure  Einladung  an,  damit 
die  Leute  sähen,  dass  wir  gar  nicht  über  den  Fus  gespant 
sind.  Diesen  Ausdruck  habe  ich  leider  nun  schon  in  so  manchen 
Fragen  hören  müssen,  dass  ich  mir  ihn  schier  in  einem  öffent- 
lichen Avertissement  verbitten  mögte.  Was  sich  doch  die  Menschen 
Kinder  in  manchen  Dingen  um  einen  zu  bekümmern  belieben? 
Ob  man  aber  Brod  im  Hause  hätte,  oder  keines,  darum  würde 
sich  kein  Sterblicher,  als  höchstens  ein  Schmarozer,  bekümmern.  — 
Um  aber  auf  Eure  Einladung  wieder  zu  kommen  —  wie  an- 
nehmlich Ihr  sie  mir  auch  macht  —  so  kann  ich  sie  doch  cliesmal 
nicht  annehmen;  denn  1)  saugt  meine  Frau  ihr  Kind  noch  2) 
Ist  Weg  und  Wetter  gar  abscheulich  3)  Size  ich  in  Arbeit  bis 
über  die  Ohren  4)  Muss  ich,  und  dies  ist  die  Hauptabhaltung, 
in  Kurzem  auf  ein  14  Tage  in  das  Hildesheimische  verreisen,  bei 
welcher  Gelegenheit  ich  denn  auch  Hannover  bestreiclien  werde. 
Komt  aber  der  Frühling  erst  ins  Land,  dann  last  sich  weiter 
davon  sprechen.  Ich  sähe  Euch  für  mein  Leben  gern,  das  könt 
Ihr  mir  glauben,  um  wieder  in  das  alte  Gleis  mit  Euch  zu  kommen. 
Es  hat  mir  nicht  wenig  wehe  gethan,  dass  Ihr  mir  so  davon  ab- 
gesprungen seyd,  wie  oft  ich  auch  nach  Euch  gegriffen  habe,  um 
Euch  darin  festzuhalten.  Um  den  übermütigen  .  .  .  [Voss]  ist  mirs 
nur  wenig  leid  gewesen;  aber  destomehr  um  Euch.  Denn  ich 
lies  mir  nicht  träumen,  dass  Ihr  das  Ding  so  aufnehmen  würdet, 
als  Ihr  gethan  habt.  —  Doch  —  ich  fange  schon  wieder  an  — 
Weg  damit!    —   Aber  doch  noch  eins,  und   dann   ewig    nichts 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      421 

mehr:  Ich  war  über  Eur  zurückziehen  und  stilschweigen  einige- 
mal so  empfindlich,  dass  ich  fast  schwur,  ich  wolte  kein  Wort 
mehr  zu  Euch  reden.  Ich  seh  aber,  Eure  Reise  ist  dran  Schuld 
gewesen.     Nun  Punctum ! 

Wie  übel  ich  übrigens  in  meinem  Drecknest,  unter  so 
mancherlei  fatalen  Geschäften  belaunt  sey,  davon  last  mich 
schweigen.  Schikt  mir  hübsch  bisweilen  einige  Brocken  von 
Eurer  Reise.     Adio!  GAB. 

Damit  war  das  Eis  gebrochen.  Goeckingk  antwortete 
augenblicklich,  herzlicher  denn  je  und  erneuerte  den  alten 
Freundschaftsbund  in  förmlicher  Weise:  'Mein  trauter  Bürger! 
loh  hab  auf  den  beiden  langen  Reisen,  welche  ich  im  ver- 
gangnen Herbst  gethan  habe,  viele  Menschen,  und  Männer 
von  Ruf  und  •  Ruhm  kennen  gelernt.  Eure  Freundschaft, 
Euer  Briefwechsel,  Euer  Umgang  ist  mir  nach  allen  diesen 
Bekanntschaften  desto  unentbehrlicher  geworden.  Das  erste 
und  andre  steht  zwar  aller  Orten  und  Zeiten  in  unsrer  Ge- 
walt, das  3te  nur  so  lange  als  wir  eine  Tagereise  (das 
weiteste  was  der  Sekel  eines  Poeten  bestreiten  kann)  von 
einander  wohnen.  Leider!  wird  das  nicht  immer  der  Fall 
seyn.  Die  Noth  zwingt  uns  beide,  einen  bessern  Aufent- 
halt zu  suchen,  und  ich  werde  nach  Verlauf  eines  Jahrs, 
dieses  Wunsches  gewährt  werden.  Dann  werd  ich  freilich 
satt  zu  essen  und  zu  trinken,  aber  vielleicht  keinen  Freund 
in  der  Nähe  haben'  (25.  December  1778  Nr.  521).  Freudig 
meldete  Bürger  an  Boie:  'Goeckingk,  der  lange  Zeit  ganz 
kalt  gegen  mich  gewesen  ist,  thauet  wieder  gegen  mich 
auf,  und  wir  fli'essen  wieder,  wie  vorher  zusammen'  (7.  Januar 
1779  Nr.  523),  und  ähnlich  muss  auch  Goeckingk  an  Boie 
geschrieben  haben  (Nr.  526).  Der  Briefwechsel  nahm  jetzt 
wieder  einen  rascheren  Verlauf. 

45.  Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  d.  25.  Januar  1779. 

Damit  wir  ja  nicht  wieder  aus  der  Routine  kommen,  so  wii 
ich,  weil  mein  Postbote  die  Stiefeln  noch  bei  dem  Schuster  hat, 
während  dem,  dass  dieser  den  Drat  zieht,  noch  ein  Paar  Zeilen 
hierher  krizeln.  Aller  Warscheinlichkeit  nach,  liebster  G.,  sehe 
ich  Euch  noch  vor  Ostern ;  denn  ich  wil,  um  des  lieben  Friedens 
willen,  meine  Schwägerin  nach  Biankenburg  bringen.  Ich  wolte 
lieber  mit  ihr  in  die  elisäischen  Felder  reisen  --  Puh!  Hinunter 
mit  dir,  hysterica  passio!   —  sagt  der  König  Lear. 


422     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  and  Goeckingk. 

Ich  höre,  dass  ihr  Euch  mit  der  zweiten  Auflage  der  Lieder 
zweier  Liebenden  beschäftigt.  Gratulor!  Meine  Opera  sind  auch 
zur  2^^  Auflage  reif.  Wer  hätte  uns  das  auf  dem  Pädagogio 
ansehen  sollen ! 

Ich  habe  in  Eurem  Werklein  hin  und  wieder  was  angestrichen, 
das  ich  verändert  wünschte.  Ich  kans  Euch  aber  ohnmöglich  alle 
abschreiben.  Ihr  werdct^s  auch  wol,  wo  ich  etwa  Recht  haben 
mag,  von  selbst  ünden.  Dennoch  mögte  ich  Euch  wol  damit  be- 
stechen, dass  Ihr  mir  den  nemlichen  Liebesdienst  erwieset. 

Ich  verdolmetsche  al leweile  cn  passant  den  Ossian.  Denn 
ich  kan  ein  hübsch  Stüklein  Geld  damit  verdienen,  und  dann  ists 
ja  so  leicht,  eine  bessere  Übersezung,  als  die  bisherigen  zu 
machen.  Ich  kam  von  ohngefähr  drauf,  dass  ich  verschiedene 
Übersezungen  mit  dem  Original  verglich,  und  über  die  Mängel 
derselben  erstaunte.  Denis  ist  ganz  ausser  dem  Ton  des  Origi- 
ginals  und  Harold*)  mus  vollends  gar  erst  teutsch  lernen.  Schlechter 
als  dieser  konte  kein  Schüler  übersezen.  Die,  welche  das  Fräu- 
lein Iris  zu  Markte  bringt,  lispelt  gar  zu  sehr');  und  Wittenbergs*) 
seine  klingt,  wie  sein  vol  gesabbeltes  Reichsposthorn. 

Übrigens  kasteie  ich  meinen  Leib  mit  dem  Macbeth,  den  ich 
Schrödern  schon  seit  2  Jahren  alle  Posltage  schicken  wil,  und 
doch  immer  noch  nicht  schicke,  ob  ich  gleich  seine  Mahnbriefe 
vel  quasi  auf  meine  Werkstat  genagelt  habe. 

Sonst  dient  zu  wissen,  dass  wir  den  Aufenthalt  in  diesem 
Dreckloch  Tagtäglich  immer  mehr  vermaledeien.  Sintemalen  wir 
mit  der  grössten  Unbehaglichkeit  an  die  900  Rth.  jährlich  verzehren 
müssen  und  mit  Ach  und  Krach  kaum  600  einzunehmen  haben, 
dannenhero  wir  spornstreichs  auf  den  Bankrot  losmarschiren.  Das 
rechnen  habe  ich  ganz  abgeschworen,  nachdem  ich  gefunden,  dass 
ich  von  meinen  Gedichten  baar  800  Rth.  eingenommen  habe,  die 
der  Teufel  schon  allezu  sammen  geholt  hat.  Dennoch  liegt  da  noch 
eine  Menge  Neu  Jahrsgratulationen ,  auf  welche  ich  kein  Gegen 
Compliment  machen  kan.    Adio!    Die  Stiefeln  sind  fertig.     GAB. 

Goeckingks  Antwort  siehe  Nr.  535,  vom  12.  Februar  1779, 

46.    Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  den  22.  Februar  1 779. 

....  Schier  mus  ich  zweifeln,  dass  aus  der  bewusten  Reise 
was  wird.  Vorher  wurde  ich  mit  tausend  Thränen  bestochen,  die 
Anstalt  zur  Reise  zu  beschleunigen,  damit  man  doch  endlich 
einmal  sein  Hißrzchen  in  Ruhe  brächte.    Und  nun?    Nun  es  zum 


*)  Die  Ossianflbersetzang  von  Edmund  Frhm.  von  Harold  erschien 
in  8  Bänden  Düsseldorf  1775. 

*)  Ossian  fürs  Frauenzimmer  (Fingal)  von  Lenz. 
')  Wittenberg  übersetzte  den  Fingal  Hamburg  1764. 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      423 

Klappen  kommen  sol,  fliessen  zehntausend  Thränen,  dass  es  — 
doch  nicht  geschehen  möge.  Damit  mirs  nun  nicht  gehe,  wie 
Ihm,  dass  ich  erst  die  Reisekosten  dran  spendire  und  dann  so 
klug  wieder  zurückkomme,  als  ich  aus  gereist  bin,  so  wil  ich  den 
Spas  lieber  bleiben  lassen,  und  es  gehn  lassen,  wie  es  wil.  Meine 
Frau,  die  wol  einsieht,  dass  nach  der  Trennung  mit  mir  eben- 
fals  nicht  viel  gescheites  anzufangen  seyn  wird,  bestehet  nun  selbst 
auf  dem  Hierbleiben.  0  Goeckingk,  solche  Situationen,  worin 
ich  schon  verflochten  gewesen,  und  noch  verflochten  bin,  kommen 
in  keinem  Roman  vor.  Man  mögte  drüber  aus  der  Welt  laufen. 
Gott  weis  allein,  wie  es  am  Ende  noch  werden  sol.  Ich  bin 
meines  Lebens  von  Herzen  sat.  Die  Aflare  spant  mich  ganz  ab. 
Nach  so  langen  sauren  und  doch  vergeblichen  Streben  von  allen 
Interessenten  ist  fast  keine  Heilung  mehr  in  diesem  Leben  zu 
hoffen.  Jeder  Theil  fühlt  das,  und  wird  drüber  noch  desperater. 
Wären  weltliche  Gcseze  nicht  entgegen,  ich  glaube,  so  wäre  längst 
die  Geschichte  des  Grafen  von  Gleichen  wiederholt.  Und  traun! 
Alle  Theile  würden  sich  dabei  am  besten  stehen. 

Ihr  schriebt  mir,  dass  Ihr  mir  vielleicht  behülflich  seyn 
köntet,  den  Ossian  gut  zu  verschachern.  Mit  Dietrich  glaube  ich 
wird  nichts  rechtes  anzufangen  seyn.  Himburg  scheinet  von 
2  Duc.  für  den  Bogen  nicht  abgeneigt  zu  seyn.  Noch  habe  ich 
nicht  näher  mit  ihm  contrahirt.  Plus  licitans  kriegt  ihn.  Wist 
Ihr  so  einen,  so  seid  Ihr  mir  ein  willkommener  Gast.  Es  wird 
nächstens  eine  Probe  davon  ins  Museum  kommen,  um  die  Ugo- 
linos  lüstern  darnach  zu  machen. 

Ich  habe  so  vielerlei  gelahrte  Projecte,  dass  ich  sie  schier 
so  hoch,  wie  einst  Gleim  seinen  Pult  Vorrat  anschlagen  könte. 
Habe  ichs  Euch  wol  erzält,  dass  dieser  einmal  zu  mir  sagte: 
Herr,  in  diesem  Pult  stekt  wenigstens  für  30000  Rth.  Waare?  — 
Es  steht  aber  alles  noch  gar  zu  tief  in  herba.  Wird  auch  grossen- 
theils  wol  auf  den  Klauen  sterben. 

Was  habt  Ihr  denn  alle  für  das  Museum  gescribbelt?  In 
den  Briefen  eines  Reisenden  an  den  Drost  B.'')  deucht  mir,  habe 
ich  Euch  gewittert.  Ihr  hättet  von  Wölmershausen  auch  wol 
einen  Brief  handeln  lassen  können.  Ists  wahr,  dass  Ihr  Verfasser 
davon  seyd,  so  ist  eine  Unrichtigkeit  drin.  Zur  Verbesserung  der 
Baumannshöle  hat  der  Herzog  keinen  Dreier  hergegeben.  Der 
Gammersecr.  Schädler  hat  in  Blanken  bürg  umher  milde  Beisteuren 
gesammelt;  davon  ist  die  Einfart  ausgebessert  worden.  So  ist 
mir  wenigstens  für  gewis  erzält. 

Meine  poetische  Ader  hat  wenigstens  in  einem  halben  Jahre 
nicht  ein  Tröpfchen  gegeben.     Ich  glaube  beinahe  es  ist  aus  mit 


0  Deutsches  Museum  Jahrgang  1778  und  1779, 


424     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

mir.    Adio!     Baldige  Besserung!    Grüsst    die   Eurigen   Tausend- 
mal !  GAB. 

Ich  will  dennoch  möglich  zu  machen  suchen,  Euch  und  die 
Eurigen  bald  einmal  zusehen. 

In  seiner  Antwort  (Nr.  537,  2t.  März  1779)  geht 
Goeckingk  über  die  Familienverhältnisse  schweigend  hinweg 
und  beschäftigt  sich  blos  mit  ihren  beiderseitigen  littera- 
rischen Versuchen.  In  den  Sommer  dieses  Jahres  fällt  ein 
misslungenes  Rendezvous,  von  dem  wir  aus  Goeckingks 
Brief  vom  1.  Juli  Nr.  547  Kunde  haben.  Darin  entwickelt 
dieser  zugleich  den  Plan  zu  einer  Sammlung  seiner  Gedichte. 
Bürger  antwortet  erst  im  Herbst: 

47.    Bürger  an  Goeckingk. 

WöUmershausen  den  23.  September  1779. 

Wenn  man  so  erst  in  dem  Nichtschreiben  eine  Routine  er- 
langet, dann  tröste  Gott  die  guten  Freunde,  die  auf  Antworten 
hoffen.  Plackerei  und  die  edle  Faulenzerei  sind  Schuld  dran, 
mein  liebwehrtester  Herr  Gevatter,  dass  Er  so  lange  hat  warten 
müssen,  indessen  bekomt  Er  heute  doch  nocli  nichts,  was  den 
Namen  eines  Briefes  verdient,  indem  mir  das  Haarburger  Meyerchen 
so  eben  auf  der  Hacke  sitzt,  mit  dem  ich  die  lezten  Stunden 
seines  Hierseyns  gern  verplaudern  mögte. 

Ich  höre  von  Signor  Dietrich,  dass  der  Herr  seine  Opera 
omnia  durch  ihn  in  die  Welt  schicken  wil,  und  daran  thut  er 
recht  wohl.  Der  Dietrich  ist  immer  ein  gutherziger  Knabe,  der 
eher  sich  selbst,  als  Euch  vervortheilen  wird.  Dass  ihr  sie  aber 
ohne  Kupfer  geben  wollt,  ist  wegen  des  nur  leider!  alzugewissen 
Nachdrucks  nicht  gut.  Komt  dann  ein  Nachdruck,  so  seyd  Ihr 
viel  ärger  geschlagen,  indem  Eure  Ausgabe  nur  alzuwenig  vor 
dem  Nachdruck  voraus  hat.  Man  kan  Euer  Werk  mit  Kupfern 
auch  nicht  so  genau  taxiren,  als  ohne  Kupfer.  Ihr  könnet  ein 
paar  Groschen  bona  üde  mehr  nehmen.  Troz  meiner  Kupfer 
werden  dennoch  2  Nachdrücke  von  meinen  Gedichten  im  Reich 
vertrieben;  und  rathet,  wie  hoch?  —  für  20  Kreuzer!!!!  Hätte 
ich  nicht  noch  Chodowieckysche  Kupfer  zum  Voraus,  so  sässe  ich 
bis  über  die  Zähne  in  der  Seh . . . 

Ich  habe  mit  Dietrich  nur  einen  mündlichen  Contract  ver- 
abredet. Ich  überliess  ihm  die  ganze  Auflage  so  stark  zu 
machen,  als  er  wolte.  Kamen  1000  Subscribenten  zusammen, 
so  muste  er  mir  700  Exemplare  pro  honorario  geben.  Von  jedem 
100  Subscribenten  über  1000  bekam  ich  20  Exemplare.  Nun 
könnt  Ihr  meinen  gehabten  Profit  von  selbst  nachrechnen.  Es 
geht  allemal  ein  guter  Theü  bei  solcher  Veranstaltung  in  die 
Kräze.     Fünf  bis  Sechshundert  Thaler   mag   ich   woi   baar   ein- 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk.     425 

gestrichen  haben;  womit  ich  wol  zufrieden  seyn  kan.  Wenn  Ihr 
Eure  Gedichte  auf  eigne  Kosten  drucken  lasset  und  Euch  selbst 
mit  der  Versendung  abgeben  wollt,  so  ladet  Ihr  Euch  eine  un- 
geheure Last  auf;  und  überlasset  Ihrs  Dietrich,  so  werdet  Ihr  ihm 
dochwol  aparte  Vergütung  dafür  thun  müssen.  Allein,  ich  sage 
zum  voraus,  dass  Ihr  weidlich  mit  Mahnbriefen  von  allerlei  feinem 
und  groben  Inhalt  bombardirt  werden  werdet.  Denn  bei  mir 
ging  die  Versendung  etwas  unordentlich.  Wenn  ich  meinte,  nun 
hätte  jeder  sein  bescheiden  Theil  empfangen,  so  mahnte  mich 
bald  Hinz  bald  Kunz  noch,  der  noch  keine  Exemplare  gesehn 
und  gehört  hatte.  Das  war  ein  übler  Umstand.  Doch  vielleicht 
hat  sich  die  berühmte  Dietrichsche  Buchhandlung  seit  dem  ge- 
bessert. Meine  bona  officia  stehen  Euch  in  dieser  Angelegenheit 
ohne  alle  Bedingung  zu  Gebote  .... 

Euren  Almanach  finde  ich  Diesjahr  vorzüglich  gut;  so  dass 
ich  mich  mit  dem  Meinigen  schier  neben  Euch  schäme.  Es  ist 
was  ganz  unsägliches,  was  für  ein  Cloak  hieher  seinen  Abfluss 
hat.  Mit  allen  scheuren,  puzen,  hobeln,  fäden,^)  abspülen  u.  s.  w. 
habe  ich  kaum  was  erträgliches  herausgebracht.  Aber  nehmt 
Euch  vor  dem  künftigen  Jahr  in  acht.  Denn  ich  spanne  alle 
meine  Seegel  bis  an  die  Wimpel  auf  und  bin  cumpabel  den  ganzen 
Almanach  ex  propriis  zu  füllen.  Gott  behüte  Euch  mit  Weib 
und  Kind!  GAB. 

Goeckingks  Brief  Nr.  554  vom  19.  October  und  Bürgers 
nächster  vom  1.  November  beschäftigen  sich  mit  den  Prä- 
numerationsangelegenheiten.  Auf  Goeckingks  Einladung 
muss  Bürger  hinhaltend  antworten: 

48.  Bürger  an  Goeckingk. 

...  So  gern  ich  Euch  und  die  Eurigen  einmal  sehen  und  sprechen 
mögte,  so  zweifle  ich  doch  an  meinem  Abkommen  können  um 
so  mehr,  als  ich  diesen  Sommer  schon  verschiedentlich  aus- 
gerutscht bin,  und  einen  ziemlichen  Bei^  Expedienda  vor  mir 
liegen  habe.  Herbst  und  Winter  habe  ich  die  meisten  Scherereien. 
Weitet  Ihr  aber  zu  mir  herüber  traben,  so  solte  mir  das  ein 
grosses  Gaudium  seyn.  Thut  es,  liebster  Goeckingk,  ich  verspreche 
Euch  dann  auch  künftigen  Frühling  mit  Weib  und  Kind  in  EUrich 
heimzusuchen.  Ich  bin  erst  kürzlich  mit  meiner  Frau  im  Hildes- 
heimischen und  in  der  Grafschaft  Spiegelberg  gewesen.  Es  kostet 
einem  einen  hübschen  Thaler  Geld,  wenn  man  mit  Weibs  Volk 
reiset.  Daher  ist  denn  alleweile  mein  Beutel  noch  ziemlich 
schmächtig;  ob  ich  gleich  neulich  100  rth.  in  der  Lotterie  ge- 
wonnen  habe.      Künftige   Weinachten   werde  ichs  wieder   nicht 

>)  Verschrieben  ftbr  fädmen,  fädnen?  (DWB.  3, 1230  f.  Weigand 
1, 492  f.) 


426     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Umgang  haben  können,  nach  Hannover  und  Bissendorf  zu  meinem 
Schwager  Elderhorst  zu  reisen,  wo  sich  —  proh  dolor !  —  mein 
Liebliebchen,  lieb  Herzchen  seit  Johannis  schon  aufhält.  Wenn 
einem  das  Podagra  in  den  Leib  trit,  so  sagen  die  Ärzte,  ists  aus 
mit  dem  Menschen.  Noch  mehr  ists  aus  mit  einem,  wenn  die 
Liebe  erst  ins  Herz  trit.  Da  sey  einem  Gott  gnädig.  Ich  sieche 
nun  schon  über  5  Jahre.  Adio!  Macht  mir  die  Freude,  und 
kommt  bald.  GAB. 

Schon  die  bisherigen  Bekenntnisse  beweisen  uns,  dass 
Bürger  in  Goeckingk  einen  Vertrauten  seiner  iNTeigung  zu 
MoUy  gefunden  hatte,  vor  dem  er  die  letzten  Schleier  von 
dem  unseligen  Geheimnisse  abziehen  zu  dürfen  meinte.  Wer 
die  bei  Strodtmann  gedruckten  Briefe  Goeckingks  aufmerksam 
liest,  dem  kann  es  nicht  entgehen,  dass  im  Dichterhause 
zu  EUrich  ähnliche  innere  Kämpfe  sich  abspielten,  wie  in 
dem  zu  Wöllmershausen ;  aber  es  ist  aus  diesen  Briefen 
auch  zu  ersehen,  dass  Goeckingk  mehr  sittlichen  Ernst 
und  mehr  Selbstbeherrschung  besass  als  sein  schwächerer 
Freund.  Als  Goeckingk  in  dem  fehlenden,  offenbar  Ton 
Bürger  vernichteten  Briefe,  der  die  Antwort  auf  den  vor- 
stehenden Brief  bildete,  um  den  zerrütteten  Freund  auf- 
zurichten und  zu  trösten,  diesen  in  seine  eigenen  häus- 
lichen Wirrnisse  einweihte,  Hess  ihn,  wie  auch  Bürger 
selbst  annahm,  dieses  Bestreben  die  Farben  dunkler  auf- 
tragen, als  es  der  Wirklichkeit  entsprach.  Wir  verdanken 
diesem  verlorenen  Briefe  Goeckingks  die  freimüthige  Er- 
zählung von  Bürgers  Herzenstragödie  und  das  Bruchstück 
eines  seiner  Briefe  an  Molly:  das  glühendste,  offenste, 
wahrste  Document,  das  wir  aus  seiner  Feder  besitzen: 

49.    Bürger  an  Goeckingk. 

Wöllmershausen  den  12.  November  1779. 

Herr  Gevatter,  Euer  Brief  komt  gerade  in  der  Minute  bei 
mir  an,  da  ich  folgende  Stelle  an  meine  Einzige  fertig  geschrieben 
habe.  —  ^Wie  brünstig  ich  dich  im  Geist  umfange,  lässt  sich  mit 
Worten  nicht  beschreiben.  Es  ist  ein  Aufruhr  aller  Lebens 
Geister  in  mir,  der,  wenn  er  sich  bisweilen  legt,  mich  in  solcher 
Ermattung  an  Leib  und  Seele  zuröcklässt,  dass  ich  schier  den 
lezten  Odem  zu  ziehen  meine.  Jede  kurze  Stille  gebiert  noch 
heftigere  Stürme.  Oft  mögte  ich  in  der  finstersten  Sturm-  und 
Regenvollsten  Mitternacht  aufspringen,  dir  zueilen,  mich  in  dein 
Bette,  in  deine  Arme,  kurz  in  das  ganze  Meer  der  Wonne  stürzen 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      427 

und  —  sterben.  0  Liebe,  Liebe!  was  für  ein  gewaltiges  wunder- 
sames Wesen  bist  du,  dass  du  Leib  und  Seele  so  gefangen  halten 
kanst!  Siehe,  du  Einzige,  sie  fesselt  mich  an  dich  so  fest  und 
innig,  dass  ich  nirgends  hin  kan,  weder  zur  Rechten  noch  zur 
Linken.  Aller  andern  Neigungen,  aller!  wären  sie  auch,  noch  so 
sehr  mit  meinem  Charakter  und  Wesen  verwebt,  kan  ich  mich 
entschlagen,  aber  unmöglich  unmöglich!  des  Gefühls,  welches 
macht,  dass  du  mir  das  liebste  süsseste  Geschöpf  in  Gottes  un- 
ermesslicher  Schöpfung  bist.  Ich  lasse  meine  Fantasie  ausfliegen 
durch  alle  Welten,  ja  durch  alle  Himmel,  und  aller  Himmel 
Himmel,  lasse  sie  betrachten,  was  nur  irgend  wünsohenswQrdig 
ist,  und  es  neben  dir  wägen,  aber  bei  dem  ewigen  Gott!  sie 
findet  nichts,  was  ich  so  feurig  wünschen  könte,  als  ich  dich, 
du  himmelsüsse,  in  meine  Arme  wünsche.  Könte  ich  dich  mir 
damit  erkaufen,  dass  ich  nackend  und  baarfus  durch  Dornen  und 
Disteln,  über  Felsen,  Schnee  und  Eis  die  Erde  umwanderte,  o  so 
würde  ich  mich  noch  heute  aufmachen,  und  dann,  wenn  ich 
endlich  verblutet,  mit  dem  lezten  Fünkchen  Lebenskraft,  in  deine 
Arme  sänke,  und  aus  deinem  liebevollen  Busen  Wollust  und 
frisches  Leben  wiedersöge,  dennoch  glauben,  dass  ich  dich  für 
ein  Spotgeld  erkaufet  hätte  — ' 

Lieber  G.,  das  sind  nicht  die  Aufbrausungen  der  höchsten 
Flut,  die  etwa  nur  kurze  Zeit  dauert.  Ach!  ich  weiss  seit  5 
Jahren  nichts  von  Ebbe,  und  sie  weiss  es  eben  so  wenig.  Wir 
sind  so  tief  gekommen,  dass  in  diesem  Leben  kein  Aufkommen 
mehr  ist.  Nunc  scio  quid  sit  amor.  Ich  habe  nur  einmal 
gelieht  und  werde  nur  einmal  lieben.  Eine  einzige  ewige 
Liebe  war  mir  sonst  Thorheit.  Aber  die  rechte  wahre  Liebe 
verwebt  sich  endlich  so  in  das  ganze  Wesen  des  Menschen,  dass 
sie  davon  nicht  mehr  geschieden  werden  mag.  Hätte  die  meinige 
blos  in  den  untern  Theilen  des  Leibes  ihren  Siz,  so  könte  ich 
hoffen,  davon  zu  genesen,  und  wäre  längst  schon  genesen.  Aber 
wehe!  wehe!  wenn  der  Aufruhr  in  und  um  dem  Herzen  ist. 
Euer  Rath,  lieber  G.,  und  Eure  Procedur  mögen  ganz  zuträglich 
seyn ,  wenn  man  noch  nicht  so  tief  in  den  Text  gekommen  ist. 
Schwerlich  ist  es  zwischen  Euch  und  Eurer  Malchen  zu  so  deut- 
licher Erklärung  gekommen,  als  zwischen  uns  beiden.  Wir  haben 
mehr  denn  einmal  beide  gegen  diese  unglückliche  Leidenschaft 
mit  allen  unsern  Kräften  gekämpft.  Wir  haben  alles  versucht, 
was  sich  erdenken  last;  wir  haben  beide  uns  anderwärts  zu  ver- 
lieben gestrebet,  und  Liebe  mit  Liebe  zu  vertreiben  gesucht. 
Aber  alles  vergeblich !  Wie  ein  Pferd  oft  desto  tiefer  nur  in  den 
Moor  sinkt,  je  mehr  es  sich  herausarbeiten  wil,  so  ist  es  uns  er- 
gangen. Wir  hoffen  in  diesem  Leben  keine  Genesung  mehr. 
Wie  wäre  sie  auch  möglich?  Kan  ich  kalt  und  gleichgültig  gegen 
sie  werden,  von  der  ich  weiss,  dass  sie  mich  mit  der  höchsten 
Liebe  liebt,  womit  nur  jemals  ein  Sterblicher  geliebt  worden  ist? 


428      Saaer,  Ana  dem  Briefwechsel  zwiscben  Bfirger  und  Goeckingk. 

Kalt  und  gleichgültig  gegen  sie,   die   mir  an  Seel  und  Leib  das 
liebenswürdigste  Geschöpf  dQnket  und,  obschon  ohne  vollkommene 
regelmässige  Schönheit,    es   wa*klich   ist?  —  Kan  sie  kalt   und 
gleichgültig  gegen  mich  werden,   so  lange  sie  weiss,  das  ich  sie 
mehr  liebe,    als  je   ein   Sterblicher    sein    Mädchen    geliebt  hat? 
Kan  sie  mit  ihrer  Engelseele  das?  —  Ach!  wir  könten  uns,  wie 
wir  öfter  gethan  haben,   wol  tauschen,   und  einer  dem  andern 
Kälte  und  Gleichgültigkeit  vorlügen;  aber  wäre  damit  was  gewonnen? 
Erfahrung  hat  uns  gelehrt,  dass   wir  nur  noch   mehr  an  unsrer 
Ruhe  verlieren.     Unsre  Herzen  haben  sich  nun  ewige  Liebe  und 
Treue   zugeschworen.     Sie    wird    nie    einen    andern    heuratben, 
ohnerachtet  sie  mit   Anwerbungen   belagert   worden   ist,    denen 
schwerlich  ein  andres  Mädchen  widerstehen  würde.    Ich  beschwor 
sie  einst  mit  Thränen  bei  allem,  was  heilig  ist,  einer  Anwerbung 
Gehör  zu  geben,  wenn  sie  nur  irgend  fände,  dass  sie  der  Ruhe 
ihres    Lebens    nur    etwas    zuträglicher,    als    unsre    unglückliehe 
Situation  wäre.     Ich  misbrauchte  sogar  den  Eid  zum  erstenmal 
in  meinem    Leben   und  schwur  ihr,   wider  die   Stimme   meines 
Herzens,  dass  ich  mich  fassen  und  zufrieden  geben  würde,  wenn 
ich  nur  sie  einigermaassen  glücklich  wüste.     Ich  würde  sie  ent- 
hehren  lernen  u.  s.  w.     Sie  aber  schalt  diese  meine   Äuserung 
als  Mistrauen   in  ihre  unwandelbare  Beständigkeit,  und  schwur 
laut  und  feierlich,  wenn  mein  Herz  auch  die  schnödeste  Untreue 
an  ihr  begehen  würde,  sie  dennoch  nie  einem   andern   Manne 
sich  überlassen   würde.     'Mistrauischer !   rief  sie,   fodere  von  mir 
ein  Zeichen,  das  theureste  heiligste  Zeichen!    Nim  von  mir  alles, 
was  ich  dir  geben  kan,  was  du  mir  bis  hieher  durch  nichts  hast 
abdringen  können,   und  wenn  ich  dir   alsdenn  jemals  ungetreu 
werde,  und  mich  einem  andern  Manne  ergebe,  so  wil  ich  als  eine 
Ehebrecherin  dereinst  vor  Gott  erscheinen*.  —  Gott  im  Himmel  1 
was  fiir  eine  Scene  war  das!     Meint  ihr  nun  noch  das  wir  ge- 
nesen können?  Wir  würden  unter  der  Cur  den  Geist  aufgeben.  — 
Hätte  man  gleich  im  Anfang  ein  Ding  gethan  ehe  man  sich  so 
weit  gegeneinander  heraus  gelassen   hatte,  hätte  man   vermutet, 
dass  es  so  kommen  würde,   wäre   man   nicht  unvermerkt,  man 
weiss  nicht  wie,  dahin  gekommen,   von  wannen  keine  Rückkehr 
ist,  so  war  es  was  anders.     So   viel  ist   wenigstens  ausgemacht, 
dass  wenn   ich  von   dieser  Leidenschaft  frei  wäre,    mich   gewiss 
und  warhaftig  keine  zweite   so  weit   wieder  fortschleppen  solte, 
als  diese  gethan  hat.     Sie  selbst  war   noch  ein  blutjunges  Mäd- 
chen von  14  Jahren,  als  das  Ding  anhub,  hatte  aus  nichts  was 
arges.     Auch  dieser  Umstand  dienet  dazu,   mich  desto   fester  an 
sie  zu  fesseln;  dass  sie  mir  die  so  ganz  und  gar  reinen,  unbe- 
fiekten  und  unbelekten  Erstlinge  der  Liebe  zugewendet  hat.    Und 
in  einem  solchen  Massel    0  Himmel!  was  hilft  alles  singen  und 
sagen?  —  Kurz  um  ich  kan  nicht,   weil  ich  nicht  wil  und  nicht 
mag;  ich  wil  nicht,  ich  mag  nicht,  weil  ich  —  nicht  kan.    Dabei 


Sauer,  Ana  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.    429 

bin  ich  einer  der  unglücklichsten  Menschen  auf  Gottes  Erdboden. 
Andre  Elende,  ob  ihnen  schon  alles  mangelt,  haben  doch  noch 
Hofnungen  und  Wünsche  übrig.  Ich  der  Elendeste  aller  Elenden 
habe  weder  Hofnungen  noch  Wünsche.  Wünsche  und  Hofnungen 
sind  bei  mir  Verbrechen.  — 

Mit  Freude,  Herr  Gevatter,  habe  ichs  gelesen,  dass  Ihr  kommen 
wollet.  Herzlich  wilkommeu  seyd  ihr  mir  allein  und  noch  wil- 
kommner  mit  Weibern,  Kindern  und  Hunden.  Im  ersten  Falle 
könl  Ihr  kommen,  wenn  ihr  wollet,  im  zweiten  Falle  aber  bleibt 
Euch  unverhalten,  dasss  die  Oberstube  und  Gammer  noch  erst 
unter  Kelle  und  Pinsel  des  Weisbinders  schwizen  werde,  welches 
theils  unsrer  Reise  wegen,  theils  um  der  unermesslich  vielen 
Fliegen  los  zu  werden,  die  sonst  die  Eleganz  gar  bald  wieder 
volhofüren  würden,  so  lange  ausgesezt  geblieben  ist.  Alle  weile 
sieht  die  Stube  dem  Hallischen  Garcer,  die  gelbe  Stube  genannt 
ähnlicher,  als  einem  Zimmer,  woran P  so  hohe  Herschaften  logirt 
werden  können.  Eure  Person  allein  kan  ich  in  meine  Kammer, 
die  ich  seit  Kurzem  zu  dem  Range  eines  Schreib-Gabinets  erhoben 
habe,  in  ein  Feldbette,  welches  schon  die  Gampagne  bei  Herzberg 
mitgemacht  hat,  neben  mich  betten.  Mein  Flox  stehet  Euch  so 
weit  Ihr  wolt  zu  Diensten.  Wenn  Ihr  mit  der  ganzen  Familie 
komt,  so  schreibt  mir,  um  welche  Zeit  Ihr  ohngefähr  abkommen 
könnet,  und  ich  wil  Euch  schreiben,  ob  ich  Euch  alsdann  auf- 
nehmen kan.  Doch,  da  Ihr  selbst  sagt,  dass  Ihr  noch  3  Wochen 
erst  abwarten  wollet,  so  soite  ich  denken,  dass  alsdann  alles  wieder 
im  Stande  wäre.  — 

An  Eurer  Städteliste  habe  ich  mich  krum  und  lahm  gelesen. 
Die  besten  Orter  habt  Ihr  grösstentheils  schon,  indessen  wil  ich 
die  Avertissements  noch  so  gut  vertheilen,  wie  möglich.  Vor- 
läufig aber  dient  Euch  zur  betrübten  Nachricht,  dass  Freund 
Schönfeld  schon  seit  länger  als  einem  halben  Jahre  von  Stras- 
burg abwesend  ist  und  in  Italien,  Gott  weiss  wo?  seiner  musi- 
calischen Profession  nachreist.  Das  habe  ich  erst  seit  ein  Paar 
Tagen  von  seinen  Freunden  und  Gorrespondenten  in  Göttingen 
erfahren.  Indessen  ist  mein  Brief  an  ihn  abgegangen.  Ob  er 
ihn  noch  früh  genug,  um  für  Euch  etwas  wirken  zu  können, 
erhalten  werde,  das  stehet  dahin.  Der  Minister  von  Derschau  hat 
Euch  in  der  That  einen  Übeln  Streich  gespielt.  Ich  würde  mich 
indessen ,  ohne  Umstände,  an  seinen  Nachfolger  adressiren.  Ihr 
könnet  ohnmassgeblich  hin  zu  fügen:  Wenn  er  nicht  wolte,  so 
könte  er  Euch  im  Ars  lecken.  Gebt  acht!  dann  wird  er^s  gleich 
thun.  Denn  so  was  sollen  die  Herrn  Minister  nicht  gern  thun. 
Lieber  lassen  sie  sich  von  den  schönen  Geistern  im  Ars  lecl^en, 
wozu  sich  denn  auch  leider !  die  schönen  Geister  in  dieser  besten 
Welt  gar  oft  bequemen  müssen. 

Von  allen  Gollecteurs  wird  sich  ohnstreitig  Boie  am  besten 
erweisen.    Das  ist  wahr,  auf  Gottes  weiter  Welt  ist  kein  brauch- 

Vierteljalirschrift  flir  Litteratoxi^eschiGhte   lil  29 


430     Sauer,  Aus  dem  BrieiVechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

bareres  Subject  zu  einer  solchen  Entreprise,  als  Er.  Ich  glaube 
an  die  300  Subscribenten  habe  ich  ihm  und  seiner  Vermittelung 
zu  danken.  Aber  er  presst  sie  auch  zusammen,  wie  man  in  Eng- 
land die  Matrosen  presst.  Das  kan  man  immer  geschehen  lassen, 
thut  man's  doch  nicht  selber.  Für  ejnen  andern,  als  z,  B.  für 
Euch,  kan  ich  ebenfais  einen  Philister  obtorto  coUo  zur  Subscriplion 
herbei  schleppen.  Schade  nur,  dass  ich  keinen  Zirkel  hier  habe. 
Doch  1  zu  1  macht  2,  und  2  zu  2  schon  4.  Diese  verwandeln 
sich  zu  Tropfen,  und  Tropfen  in  Regen,  und  Regen  in  Bäche  und 
Ströme.  Glück  auf!  es  wird  schon  gehen.  Ich  hofte  anfangs 
nicht  auf  ^liiel  der  Zal,  die  ich  zusammen  gebracht  habe.  Zulezt 
wurden  s  mir  fast  zu  viele.  Hätte  ich  sie  mit  allen  Klunkern 
die  um  ihre  Namen  herum  bammelton,  abtrucken  lassen  wollen, 
so  hätte  ich  2  Tomos  machen  müssen,  wovon  der  Erste  blos  die 
Subscribenten  enthalten  hätte.  Ich  mögte  wol  bald  wieder  eine 
kleine  Contribulion  im  wehrten  Publikum  ausschreiben.  Die  Briefe 
mit  Geld  sind  gar  Angenehme  Gäste.  Aber,  wie's  komt,  so  geht*s 
denn  auch  wieder.  Neulich  hat  mich  Fortuna  mit  günstigen 
Augen  angesehen,  und  mir  100  rth.  in  der  Lotterie  gewinnen 
lassen.  Aber  ein  Schelm  hat  noch  einen  Heller  davon.  Mein 
Patrimöncben  in  Aschersleben  schmilzt  auch  zusammen.  Ich  muss 
hol  mich  der  T.  alle  Jahre  an  die  ^/c  rth.  zu  sezen.  Wie  es  am 
Ende  noch  werden  wird,  das  mag  Gott  wissen.  Frisch  auf,  mein 
Herz!  Ich  habe  schon  drauf  gedacht,  ob  sich  nicht  ein  Roman 
aushecken  Hesse.  Die  lassen  sich  am  besten  versilbern.  —  Der 
Bogen  ist  vol.  Einen  neuen  kan  ich  heut  ohnmöglich  dran 
wenden.  Das  Papier  ist  theuer;  und  seht,  ich  schreibe  auf  Bogen, 
worauf  ich  an  die  Minister  auch  schreibe.  Denkt,  wie  ich  Euch 
honorire!     Adio!  GAB. 

[Randbemerkung  auf  der  ersten  Seite.]  Von  nebenstehenden 
Thema  mag  mein  Mädchen  nun  wol  schon  ein  Hundert  Variationen 
haben.  Wenn  sie  gedruckt  würden,  solte  sich  wol  ein  hübsches 
Stück  Geld  damit  verdienen  lassen. 

Auf  diesen  Lebensbrief  meinte  Goeckingk  die  Antwort 

nur  mündlich  überbringen  zu  können.     In  Nr.  562,  14.  De- 

eember,  stellt  er  seinen  Besuch  für  den  Januar  in  Aussicht: 

^Dann  werd  ich  auch  mit  Euch  ein  langes  und  breites  über 

den  Hauptpunkt  Eures  lezten   Briefes  schwatzen,  weil  ich 

der  Sache  oft  und  viel  nachgedacht  habe\   Der  Brief  selbst 

behandelt  nur  allotria,   wie  Goeckingk    sagt.     Aber  auch 

dieser  Besuch  unterblieb. 

50.    Bürger  an  Goeckingk. 

WölJmershausen  d.  24*«*»  Februar  1780. 
Herr  Gevatter,    Herr  Gevatter I    seht  was   der    Teufel  thun 
kan!     Dis  wird  wol  der  lezte  Brief  seyn,  den   ich  aus  dem  be- 


Saaer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      431 

rühmten  Wöllmershausen  an  Euch  schreibe.  Nun  denkt  Ihr 
vielleicht  gar,  ich  sey  irgend  wo  ein  Geheimer  rath  geworden. 
Nä!  Nä!  so  arg  ists  nicht.  Ich  bin  und  bleibe  nach  wie  vor, 
Amtmann  —  zwar  nicht  zu  Wöllmershausen  —  sondern  zu 
Altengleichen.  Der  Casus  ist  nur  der»  dass  ich  ein  adeliges  Güt- 
chen, innerhalb  meines  Gerichts  Bezirks,  genannt  Appenrode,  ge- 
pachtet habe,  und  in  8  Tagen  dorthin  ziehen  werde.  Es  liegt 
eine  Stunde  weiter  von  Euch  und  näher  nach  Göttingen.  Hättet 
Ihrs  Euch  träumen  lassen,  dass  aus  dem  Musensohne  noch  ein 
aus-  und  eingemachter  Mistfinke  werden  solle?  Dafür  wird  aber 
auch  künftig  der  Musensohn,  anstat  armseelig  auf  seinem  bejahrten 
Plox  einher  zu  rabnern,  en  Garosse  mit  vier  Hengsten  auffahren. 
Bei  dem  allen  wünschte  ich  nur,  dass  mein  nun  mehriges  Schloss 
eine  etwas  bessere  Miene  machte.  Es  ist  kein  Fenster,  kein  Ofen, 
keine  Thür,  kein  &c.  darinnen  heil.  Sonst  ist  das  Gütchen  und 
die  Lage  ganz  artig  und  bequem.  Im  Ernst,  Herr  Gevatter,  ich 
konte  es  nicht  mehr  aushalten,  auf  dem  Lande  jeden  Quark  für 
theures  baares  Geld  zu  kaufen.  Wenn  gleich  die  Pachtung  nicht 
gross  ist,  denn  ich  gebe  450  rth.,  wenn  gleich  keine  Schäze, 
sonderlich  bei  den  jezigen  erfreulichen  Kornpreisen  zu  erobern 
stehen;  so  hoffe  ich  doch  künftig  wenigstens  den  grösten  Theil 
meiner  häuslichen  Consumption  draus  zu  ziehen.  Die  Musen 
sind  darüber  seit  einigen  Monaten  gewaltig  versäumet.  Denn  ich 
habe  mich  um  nichts,  als  Oeconomica  bekümmert,  daher  ich 
denn  auch  troz  dem  besten  Mistfinken,  überal  mein  Wort  mit- 
sprechen kan. 

Künftig,  Herr  Gevatter;  besucht  Ihr  mich  also  in  Appenrode, 
dicht  unter  den  Alten  Gleichen ;  und  ich  kan  Euch  meine  Carosse 
mit  Vieren  entgegen  schicken.  Ich  bekomme  auch  Plaz  genug 
zum  logiren,  so  bald  nur  der  alte  Sauerteig  ausgefeget  und  die 
nötige  Baubesserung,  die  der  Gutsherr  vornehmen  lassen  muss, 
geschehen  seyn  wird.  Bis  dahin  muss  ich  mich  freilich  in  einem 
Titularsch weinstalle  behelfen. 

Übrigens  denkt  ihr  wohl,  ich  hätte  gar  keine  Subscribenten 
für  Euch.  Bons  dies!  Ich  habe  wenigstens  ein  Duzend  und 
warte  noch  auf  einige,   da  Ihr  sie  denn  nächstens  haben  sollet. 

Dass  Ihr  mich  diesen  Winter  nicht  besucht  habt,  ist  mir  nun 
mehro  ganz  lieb.  Denn  ich  habe  des  Teufels  Schererei  gehabt, 
bin  auch  verschiedentlich  nicht  zu  Hause  gewesen.  Bis  an  Ostern 
wird  die  Unruhe  wohl  fort  gehen,  und  so  lange  bleibt  mir  auch 
nur  weg.  Aber  hernach  mögt  Ihr  mit  Sack  und  Pack  kommen, 
wenn  Ihr  wollt.  Am  liebsten  wäre  mirs  dann,  wenn  mein 
Schwager  Elderhorst  von  Bissendorf  mit  Familie  mich  auch  be- 
suchen wird.  Das  yn\  ich  Euch  zeitig  notificiren,  und  dann: 
wollen  wir  recht  lente  leben.  Ich  habe  mir  einen  Transport 
Wein  und  Waaren  von  Bremen  für  200  rth.  kommen  lassen. 
Auch  habe  ich  eine  Schmerlenfischerei  bei  meiner  Pachtung.    Wir 

29* 


432      Saner,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk. 

wollen  oben  auf  der  Spize  der  Gleichen  über  den  Wolken  freie 
Tafel  halten.  Lebt  für  heute  herzlich  wohl.  Ihr  und  die  Eurigen 
werdet  von  uns  umarmet.  GA  Bürger. 

Damit  kreuzte  sich  Goeckingks  Brief  vom  28.  Februar 
Nr.  568. 

51.    Bürger  an  Goeckingk. 

Appenrode  d.  23.  März  1780. 

Schon  vor  14  Tagen,  Herr  Gevatter,  hätte  ich  Ihm  mein 
armsejiges  Contingenl  zu  Seiner  Subscrlbeoten  Arm^  schicken 
können,  wenn  ich  nicht  durch  den  Spectakel  meines  Umziehens 
und  tausenderlei  Zerstreuung  drüber  hingekommen  wäre.  Meinen 
Brief,  worin  ich  meldete,  dass  ich  ein  Pachter,  oder  wie  die  Ober- 
hessen sagen,  Pfachter,  geworden,  wird  Er  erhalten  haben, 
nachdem  Er  Seinen  lezten  schon  abgeschickt  hatte.  Über  leztern 
muss  der  Teufel  seine  Hand  halten;  denn  ich  kann  ihn  nicht 
ßnden.  So  viel  ist  mir  troz  aller  meiner  Zerstreuung  noch  er- 
innerlich; dass  der  Herr  Gevatter  wohl  persönlich  überkommen 
wollte,  um  die  Dietrichschen  Pressen  von  hier  aus  zu  accouchiren. 
Warum  kömt  Er  nicht?  Er  ist  mir  in  meinem  verfallenen  Schloss 
herzlich  wilkommen.  Wenneher  soll  ich  den  Flox  nach  Duder- 
stadt schicken?  Oder  ists  nun  schon  zu  spät?  Ich  Schlingel 
hätte  wohl  eher  ein  Wort  deshalb  schreiben  können.  Aber,  Herr 
Gevatter,  Er  glaubt  gar  nicht,  wie  ich  diese  ganze  Zeit  über  aus 
einer  Ecke  in  die  Andere  gezerrt  worden  bin.  Ich  habe  kaum 
zur  Post  schicken,  zu  geschweigen  schreiben  können. 

Übrigens  erinnere  ich  mich,  dass  Ihr  in  Eurem  Briefe  klagt, 
dass  so  wenig  Subscribenten  einkommen.  Ich  denke,  das  komt 
von  nichts  anderm,  als  von  dem  vielen  Subscriptions-  und  Prä- 
numerations  Ausschreiben  der  jezigen  Zeiten  her.  Bei  Gott! 
Jeder  Lumpenhund  schreibt  ja  auf  seine  Disputation  oder  Tractäl- 
lein  eine  Subscription  aus.  Mir  ist  es  noch  so,  glaube  ich,  zum 
lezten  Male  geglückt.  Jezt  getraute  ich  mich  schon  nicht  das 
Vierthel  meiner  vorigen  zusammen  zu  bringen.  Ich  rafßnire  jezt 
auf  andre  Projecte,  die  aber  gar  noch  nicht  reif  werden  wollen. 
Klopstoken  und  Vossen  gehts  nicht  besser;  ja  vielleicht  wohl  gar 
noch  viel  schlechter  als  Euch,  und  ihre  Opera  werden  vermuthlich 
gar  stecken  bleiben. 

Nach  welchem  Staats  Calender  ich  meine  Majestäten  und 
Durchlauchtigkeiten  geordnet  habe?  fragt  Ihr.  Nach  meinem  Gut- 
dünken! Nach  dem  Alterthum  und  Ansehen  ihrer  Haüser.  Ich 
habe  mir  übrigens  kein  Gewissen  draus  gemacht,  manchen  kleinen 
Transpositionsfehler  mit  unterschleichen  zu  lassen.  Einen  Fürsten 
darf  man  freilich  nicht  nach  einen  Grafen  sezen.  Und  ein  regie- 
render Herr  geht  ja  auch  wohl  einem  andern  apanagirten  Prinzen, 
obwohl  von  einem  altern  Hause  vor. 


Saaer,  Ans  d^in  Briefwechsel  zwischen  Bilrger  und  Goeckingk.      433 

Von  meiner  gegenwärtigen  Lage  hier  viel  zu  erzählen,  solle 
mir  wohl  behagen.  Allein  ich  habe,  da  mein  Verwalter  erst  in 
14  Tagen  ankörnt,  noch  gar  wenig  Zeit.    Komt  selbst  und  sehet! 

Es  ist  warhaftig  nicht  unangenehm,  Freund,  seine  Rosse  um 
sich  herum  wiehern,  seine  Stiere  und  Kühe  brüllen,  Schaafe 
blecken,  Schweine  grunzen,  Gänse  und  Enten  schnattern,  Hühner 
gackern,  und  Tauben  murken  zu  hören.  Meine  jezige  Haupt- 
liebhaberei ist  Gartenbau  und  Blumenzucht.  Ich  wühle  in  der 
Erde,  wie  ein  Maulwurf.  Der  Schreibtisch  stinkt  mir  an.  Frau 
Justitia  des  GesamlGerichts  Altengleichen  klagt,  dass  ich  so  selten 
in  ihrer  Kirche  mit  den  mir  anvertrauten  Schäflein  erscheine. 
Ich  thue  alles  brevi  manu  in  meinem  Garten,  den  Grabespaden 
oder  den  Harken  in  der  Hand  ab,  und  wenn  sich  die  Partheien 
nicht  ergeben  wollen,  so  wil  ich  künftig  dazwischen  blauen.  Ich 
fühle,  dass  ich  in  meinem  Bauernstande  sehr  gesund  und  munter 
werde.  Ich  mache  viel  Verse  im  Kopfe,  habe  aber  selten  Lust, 
sie  aufzuschreiben.    Adio!    Tausend  Grüsse.    Komt!  Komt!  Komt! 

Bürger. 

Goeckingk  wird  durch  andere  Geschäfte  abgehalten, 
die  er  in  seinem  Briefe  vom  30.  März  Nr.  570  auseinander- 
setzt. Aus  dem  Jahre  1 780  ist  nur  noch  ein  Brief  Goeckingks 
erhalten  vom  30.  August  Nr.  579.  Aus  dem  Bürgerschen 
Hause  liegt  nur  ein  Brief  Dorettens  vom  22.  December 
(52)  vor,  die  auch  im  folgenden  Jahre  für  ihren  Mann  die 
Feder  führt.  Aus  ihrem  melancholischen  Briefe  vom 
15.  Januar  1781  hebe  ich  einige  Stellen  aus: 

53.    Dorette  Bürger  an  Goeckingk. 

.  .  .  Mein  ältester  Bruder,  und  meine  jüngste  Schwester 
Gustgen  die  Sie  kennen  sind  jetzt  bei  uns  auf  immer,  aber  der 
Erste  leider  in  einem  solchen  Zustand  von  tief  eingewurzelter 
Schwindsucht,  das  die  Ärzte  die  Hofnung  eines  längern  Lebens 
—  als  bis  an's  Früjahr  aufg^eben  zu  haben  scheinen  —  und 
auch  nur  ein  Wunder  kan  ihn  uns  wiedergeben,  so  Elend  ist 
er  jetzt. 

Was  mein  Herz  bei  dem  Gedanken  leidet,  den  Bruder  zu 
verlieren,  an  welchem  unter  allen  meinen  Geschwistern  meine 
Seele  mit  der  innigsten  Liebe  hing,  ist  unbeschreiblich,  mir  ists 
als  triebe  mich  Ahndung  zu  hoffen,  das  ich  mit  ihm  hingehn 
würde  zur  Ruhe,  die  nie  in  mein  Herz  kam  seit  ich  angefangen 
habe  das  Leben  zu  geniessen? 

....  mein  ganzer  Zeitvertreib  ist  —  Einsam  zwischen  un- 
sern  beschneyeten  Bergen  und  Thälern  umherzuwandeln,  und  den 
Gedanken  meines  Herzens  freien  Lauf  auf  solchen  Spaziergängen 
zu  lassen Mein  Man  hat  Ihren  Brief  gesehn  und  ich  denke 


434      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

es  wird,  ihm,  nebst  meinen  ausgerichteten  Grus  von  ihnen  allen, 
eine  Erinnerung  gewesen  sein,  aufs  baldigste  sein  Andenken  selbst 
bei  Ihnen  zu  erneuen. 

Aus  ihrem  Briefe  vom  22.  März  (erst  am  28.  expedirt): 

54.  Dorette  Bürger  an  Goeckingk. 

.  .  .  Von  Zerstreuungen  und  Lustbarkeiten,  die  Ihren  Vor- 
nehmern Arten  gleich  kämen  kann  ich  Ihnen  nichts  sagen.  Die  Neu 
auflebende  Natur,  der  allgewaltige  Hauch  unsers  grossen  Gebers, 
der  so  ganz  durch  sie  hinströmt;  sind  unsere  Schauspiele,  das 
Hüpfen  auf  blühenden  Wiesen,  über  Berg  und  Thäler,  der 
rieselnde  Bach,  sind  unsre  Bälle,  und  unsre  Erfrischungen  dabei; 
und  gewis  es  ist  einem  wohl  nach  dem  Genus  einer  solchen 
Ergötzlichkeit!  sie  würkt  mehr  für  die  Seele  —  und  hindert  auch 
überhaupt  alle  Erhitzungen.  — 

....  nächstens  mein  bester  Freund ,  wil  ich  Ihnen  etwas 
von  meinem  Mann ;  und  von  einen  Besuch  schreiben ;  womit  der 
Herzog  von  Weimar  diesen  einige  Stunden  beehrt  hat;  ich  denke 
hier  in  der  Gegend  wird  das  viel  Naserümpfens  verursachen,  be- 
sonders unter  der  Noblesse,  aber  eben  darum  ist  mirs  lieb,  das 
solch  Heil  unserm  Hause  wiederfaren  ist,  weil  es  ihren 
Stolz  gegen  uns  Bürgerliche  Creaturen  etwas  demütigen  wird, 
welche  Demütigung  ihnen  an  Leib  und  Seele  sehr  zuträglich  sein 
wird:  (aber  dies  alles  im  Vertrauen  lieber  Freund.)  ich  möchte 
nicht  gern  das  man  von  uns  vermutete  wir  wären  Stolz  auf  einen 
so  hohen  Besuch  geworden! 

Endlich  aus  ihrem  Briefe  vom  19.  April: 

55.  Dorette  Bürger  an  Goeckingk. 

....  ich  bin  halb  melancholisch ,  und  weis  Ihnen  warlich 
den  rechten  Grund  davon  nicht  anzugeben,  er  liegt  tiefer  als  ich 
ihn  auszuspähen  vermag,  und  daher  mag  ich  mich  nicht  in  eine 
genaue  Untersuchung  der  Dinge  die  da  sein,  und  nicht  sein  solten, 
einlassen. 

Goeckingks  Antworten  an  die  armo  Dahinsiechende 
sind  nicht  erhalten.  Am  21.  April  1781  Nr.  591  kündigt  er 
seinen  Besuch  für  den  Abend  des  1 .  Mai  an :  ^Ich  habe 
Euch  so  vielerley  zu  sagen,  dass  ich  Lust  haben  werde, 
gar  nicht  zu  Bette  zu  gehen ;  . .  .  Wir  haben  uns  in  einem 
ganzen  Jahre  nichts  von  unsern  ausgebrüteten  Projecten, 
litterarischen  Entwürfen  und  Herzens-Geschichtcn  mitgetheilt 
und  doch  sind  wir  noch  in  einer  solchen  Periode  des  Le- 
bens, worin  kein  Monath  ohne  Abentheuer  vergeht,  gesezt 
dass  sie  sich  auch  nur  in  unserm  Kopfe  zutragen  und  keines 
Menschen    Auge    davon    etwas    sieht.^     In   Nr.  592,   vom 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      435 

24.  April  (bei  Strodtmann  falschlich  vom  21.  datirt)  wird 
die  Ankündigung  des  Besuches  wiederholt,  der  auch  pro- 
grammmässig  stattfand.  Auf  seiner  Reise  schrieb  Goeckingk 
aus  Strassburg  am  1 0.  Juni  Nr.  600 ,  dann  bald  nach  der 
Rückkehr  am  31.  Juli  Nr.  603,  worin  er  zugleich  den  Tod 
seines  Sohnes  Günther  meldete.  Auf  beide  Schreiben  ant- 
wortet der  folgende  Brief. 

56.    Bürger  an  Goeckingk. 

Appenrode  den  6.  August  1781. 

Kaum,  mein  liebster  Goeckingk,  habe  ich  Zeit,  Euch  ein 
freundliches:  Wilkommen  zu  Hause!  zuzurufen.  Eure  kurze  An- 
wesenheit, in  welcher  gleich  wol  noch  eine  kurze  Excursion  nach 
Sondershausen  gemacht  werden  soll,  dürfte  einen  Besuch  von  uns 
wol  unmöglich  machen.  Die  jezige  Erndte,  die  noch  dazu  durch 
Regen  und  Schlackerwetter  verzögert  wird,  erlaubt  nicht,  meine 
Pferde  während  dieser  Zeit  abzumüssigen.  Ich  selbst  für  meine 
Person  könte  zwar  wohl  auf  einen  Tag  zu  Euch  traben;  allein 
Euch  dann  nicht  zu  Haus  anzutreffen,  wäre  doch  auch  höchst 
ägerlich;  und  lange  zum  voraus  könte  ich  den  Tag  doch  auch 
nicht  bestimmen.  Wüste  ich,  welche  Tage  Ihr  während  Eurer 
Anwesenheit  gewiss  zuhause  wäret,  so  wäre  es  wol  möglich,  dass 
mirs  Knall  und  Fall  einfiele,  in  einem  Ruck  zu  Euch  zu  eilen. 

Wir  nehmen  um  so  lebhaftem  AntbeU  an  Eurem  Schmerze 
über  den  erlittenen  Verlust,  als  wirs  aus  der  Erfahrung  wissen, 
wie  über  alles  weh  es  thut,  ein  geliebtes  Kind  zu  verlieren. 
Gegen  den  Schmerz  der  frischen  Wunde  hilft  kein  Salben,  kein 
Trösten,  kein  Seegen  sprechen.  Aber  die  Zeit  mildert  ihn.  Dass 
aber  Eure  arme  liebe  Frau  so  kränkelt,  ist  gedoppelt  traurig. 
Diesen  Kummer  müsst  Ihr  wegzuhoifen  suchen. 

0  wie  sehnlich  wünschte  ich  vom  Morgen  bis  Abend,  vom 
Abend  bis  Morgen  mir  was  von  Eurer  Reise  vorschwazen  zu 
lassen!  Künftigen  Sommer,  wenns  des  Himmels  Wille  ist,  hoffe 
ich,  wollen  wir  zusammen  herum  schweifen.  Denn  gegen  die 
Zeit  hoffe  ich  nicht  nur  meiner  Frauen  Erbschaft  auszufechten, 
sondern  auch  sonst  ein  Stücklein  Geld  zu  machen.  Habt  Ihr 
denn  nicht  vernommen,  dass  ich  Tausend  und  eine  Nacht» 
neu  und  nach  eigner  Weise  erzält,  angekündigt  habe?  Ein 
wahrer  Teufelsstreich  war's,  dass  Voss  mir  mit  dem  nemlichen 
Einfall  zu  vorkam.  Allein  der  übersezt  bloss  den  französischen 
Galland  von  neuem;  und  scheinet  mir  keinen  Eintrag  zu  thun, 
weil  sich  schon  eine  Menge  Subscribenten  angefunden  hat.  Könnt 
Ihr  auf  eurer  Reise  etwas  für  mich  aus  richten,  so  lege  ich  hier 
ein  Paar  Avertissements  bei.  Vor  künftiger  Ostermesse  wird  der 
erste  Band  schwerlich  erseheinen,  weü  D.  ihn  nicht  zur  nächsten 


436      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Messe  fertig  schalTen  kan  und  daher  hat  abgebrochen  werden 
müssen. 

Obrigens  will  ich  RoUenhagens  Froschmauseler  herausgeben, 
wesfals  ich  mit  Gramer  in  Bremen  in  viel  versprechenden  Trac- 
taten  stehe,  der  mich  um  die  Herausgabe  in  aller  einem  Verleger 
geziemenden  Demut  hat  ansprechen  lassen. 

Endlich  will  ich  diesen  Winter  über  meine  wenigstens 
50  poetischen  Fragmente  zu  vollenden  suchen,  um  auch  daraus 
einen  Reisepfennig  zu  lösen.  Also  Herr  Gevatter,  gehts  künftigen 
Mai  in  alle  Welt. 

Schönfelds  Sachen  kamen  für  den  Musen-Almanach  zu  spät. 
Auch  bin  ich  nicht  allerdings  davon  erbauet  worden.  Am  lieb- 
sten hätte  ich  noch  die  Knittelhardi  Epistel  an  mich  mit  drucken 
lassen  mögen.  Die  beste  Tugend  an  dem  bisweilen  erzpudel- 
närrischen  Schönfeld  ist,  dass  man  mit  seinen  Sachen  nach  Ge- 
fallen umsprmgen  kan,  ohne  dass  ers  im  geringsten  übel  nimmt. 

Meine  Weibsleute  und  mein  Schwager  grüssen  und  küssen 
Euch  tausendmal.  Mit  leztem  rückt  es  weder  hinter  sich  noch 
vor  sich.     Der  Himmel  weiss,  was  aus  ihm  werden  soll. 

Adiol  Ewig  Euer  treuer  GAB. 

Mit  Goeckingks  Antwort  vom  13.  August  1781  Nr.  609 
bricht  der  Briefwechsel  für  längere  Zeit  ab.  Nr.  621  ist 
die  gedruckte  Anzeige  von  Sophiens  Tode ,  28.  December 
1781,  die  Bürger  ebensowenig  beantwortet,  wie  die  beiden 
Sendungen  vom  17.  und  28.  Mai  1782  Nr.  626  und  627. 
Erst  nach  Jahresfrist  bricht  Bürger  sein  räthselhaftes  Still- 
schweigen,  wie   es    scheint  auf  eine    neuerliche  Zuschrift 

Qoeckingks. 

57.    Bürger  an  Goeckingk. 

Appenrode  den  3*«*  März  1 783. 
Liebster  Goeckingk, 
Dass  ich  Euch  seit  länger,  als  einer  sächsischen  Frist  nicht 
geschrieben  habe,  daran  ist  weiter  nichts,  als  meine  Flegelei 
Schuld.  Ihr  könnt  mich  getrost  einen  Erzgeneralfeldflegel  nennen, 
und  ich  stecke  es  ganz  geduldig  ein,  weil  ich  in  meinem  Ge- 
wissen überzeugt  bin,  dass  ich  durch  mein  Stillschweigen  mich 
gar  nicht  anders  gegen  Euch  aufgeführet  habe.  Aber  das  muss 
ich  denn  doch  auch  sagen,  dass  ich  fast  die  ganze  Zeit  über 
nicht  der  vorige  Bürger  Mensch  gewesen  bin.  Mithin  trift  das 
gerechte  Scheltwort  nicht  sowol  Jonen,  als  den  beissigen  AUgram, 
in  welchen  mich  hunderterlei  Hundsvöttereien  umgestalteten. 
Zwar  ist  nichts  fülüg,  meine  alte  Liebe  und  Freundschaft  gegen 
Euch  zu  verwandeln;  wie  viel  weniger  hätte  diese  einen  Stoss 
bekommen  können,  da  Ihr  mir  ja  in  der  Welt  Gottes  nichts  zu 
leide  getlian  habt:    allein  ich  war  meiner  und  der  ganzen  Weit, 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Ooeckingk.      437 

samt  allem,  was  drinnen  ist,  so  satt  und  überdrussig,  dass  ich 
alle  meine  Verbindungen ,  selbst  meine  liebsten  vernachlässigte. 
Lieber  Mann,  Ihr  seid  warlich  nicht  der  einzige,  dem  ichs  so  ge- 
macht habe.  Ihr  geht  noch  am  edelsten  mit  mir  um;  manche 
andre  haben  mich  bass  dafür  curanzt.  Erst  seit  ganz  kurzem 
suche  ich  mich  hie  und  da  wieder  anzuvettermicheln.  Bei  Euch 
hätte  ichs  zuerst  gethan,  wenn  ich  mich  nicht  vor  Euch  schier 
am  meisten  geschämt  hätte.  Jezt  mögte  ich  fast  wie  ein  kleiner 
Junge  über  eure  Gute  heulen,  dass  Ihr  es  seyd,  der  den  ersten 
Schritt  wieder  nach  mir  unartigen  Bengel  thut. 

Der  Brief,  worin  Ihr  mir  den  Verlust  Eurer  Sophie  meldetet, 
traf  mich  in  einer  der  widerwärtigsten  Verfassungen  meines 
Lebens  an.  Ich  hatte  abscheulichen  Verdruss  in  Amts-  und 
Familien  Prozess  Sachen,  war  äuserst  hinfällig  an  Leib  und  Seele, 
alle  meine  Geschäfte  lagen  und  blieben  liegen,  ich  hatte  einen 
Graüel  und  Abscheu  vor  allem,  ich  konnte  nichts  thun,  und  wenns 
mir  bei  Lebensstrafe  anbefohlen  worden  wäre,  alle  Nase  lang 
muste  ich  10  oder  20  rth.  Ungehorsamsstrafen  bezahlen,  und 
doch  waren  meine  Finanzen  schlechter  als  jemals;  der  Verdruss 
darüber  musste  noth wendig  wachsen  und  je  mehr  er  wuchs,  je 
weniger  war  ich  wozu  zu  bringen.  Kurz  es  war  oft,  als  wenn 
mich  der  Teufel  besessen  gehabt  hätte.  Ich  hätte  schier  alle 
meinen  Actenwust  verbrennen  und  fort  in  die  weite  Welt  laufen 
können.  Leib  und  Seele  wirkten  wechselsweise  auf  einander. 
Ich  konnte  meinen  Leib  kaum  von  einem  Ende  der  Stube  bis 
zum  andern  fortschleppen  und  mein  Geist  war  so  gesunken,  dass 
ich  kaum  zwei  richtige  Zeilen  zu  schreiben  vermogte.  Es  ging 
also  alles  drunter  und  drüber.  Unter  solchen  Umständen  schien 
mir  ein  Brief  an  Euch  ein  so  ungeheures  Stück  Arbeit  zu  seyn, 
dass  es  den  grössten  Anlauf  dazu  erfoderte,  und  dazu  war  ich 
zu  schwach.  Im  Frühling  erholte  ich  mich  etwas  wieder  und 
ßng  an  zu  arbeiten.  Allein  da  erlag  ich  fast  unter  der  ungeheuren 
Last  der  dringendsten  Geschäfte,  dass  ich  froh  war,  wenn  ich 
mich  nur  eimal  eine  Stunde  gerade  dehnen  konnte.  Auch  fing 
da  schon  längst  die  Schaam  an,  mich  von  einem  Posttage  bis 
zum  andern  vom  Schreiben  an  Euch  abzuhalten.  Auch  der  ganze 
Sommer  war  fast  ein  beständiges  Gewebe  von  Verdruss  und 
Plackereien,  ob  ich  gleich  etwas  mehr  an  Leib  und  Seele  bei  • 
KräfTten  war.  Wenn  wir  einmal  zusammen  kommen,  so  kann 
ich  Euch  das  Wie?  und  Warum?  von  allen  den  Hundsvöttereien 
näher  delailliren.  ~-  Im  Herbst  habe  ich  eine  Reise  nach  Hamburg 
gemacht  und  bin  über  7  Wochen  ausgewesen.  Denn  erst  in 
diesem  neuen  Jahr  bin  ich  wieder  zurück  gekommen.  Am  Geiste 
hat  mir  die  Reise  ziemlich  wohlgethan.  Denn  der  ist  jezt  Gottlob! 
ganz  munter  und  thätig.  Aber  am  Körper  bin  ich  sehr  schwach 
und  elend.  Ich  befürchte,  dass  ich  an  einer  Phtisi  hypochon- 
driaca,   wie    mein   seel.  Schwager  Leonhart,   in    die   andre  Welt 


438      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  (roeckiDgk. 

reisen  muss,  wenn  ich  nicht  noch  wieder  ausgeflickt  werde. 
Meine  tagliche  Nahrung  ist  nicht  viel  mehr,  als  Medicin.  Wenn 
ich  mich  nur  mehr  schonen  konnte,  um  die  Wirkungen  der  Cur 
zu  befördern.  Nach  dem  Frühlinge  und  seinen  Zerstreuungen 
verlangt  mich  von  Herzen.  Alsdann  will  ich  Euch  auch  gewiss 
besuchen,  wenn  es  sich  mit  mir  bessert  und  ich  leben  bleibe. 
Jezt  ist  die  Witterung  noch  gar  zu  rauh;  und  ich  habe  die  üblen 
Wirkungen  davon  auf  der  Hamburger  Reise  sattsam  erfahren. 
Auch  darf  ich  ja  meine  Cur  nicht  unterbrechen.  — 

Ihr  habt  also  nun  Euer  liebes  Malchen!  Die  erste  Nachricht 
davon  erweckte  in  mir  unaussprechliche  Empfindungen  -—  Gott 
seegne  Euch  beide  und  lasse  es  Euch  herzlich  wol  gehn! 

Ich  bin  Euch  noch  Geld  schuldig,  Lieber,  für  Eure  Gedichte, 
und  muss  mich  auch  darüber  schämen,  dass  Ihrs  nicht  schon 
längst  habt.  Weil  ich  kaum  vor  8  Tagen  alle  Näthe  meines 
Beutels  zu  Bezahlung  meines  Pachttermins  ausgeschüttelt  habe,  so 
kann  ichs  auch  jezt  noch  nicht  gleich  schicken.  Indessen  wollte 
ich  doch  dieser  wegen  mein  Schreiben  an  Euch  nicht  auf  die 
noch  längere  Bank  schieben.  Denn  es  dränget  mich  nun  mehr, 
Euch  je  ehe  jelieber  wissen  zu  lassen,  dass  ich  unter  des  Him- 
mels Beistand  nicht  länger  ein  Flegel  seyn  will. 

Ich  lege  meinen  Macbeth  mit  bei,  wenn  Ihr  etwa  davon  noch 
nichts  gehört  oder  gesehn  haben  soltet 

Viel,  viel  wünschte  ich  noch  zu  singen  und  zu  sagen,  allein 
ich  kann  das  lange  Schreiben  nicht  aushalten.  Auch  ist  mirs 
ernstlich  verboten.  Ich  will  indessen  nun  wieder  öfter,  wenn 
auch  nur  ein  weniges,  schreiben. 

Lebt  wohl.  Lieber,  und  verzeihet  Eurem  GAB. 

Meine  Frau  grüsst,  und  will  nächstens  antworten. 

Gocckingk  antwortete  überaus  herzlich  (7.  März  1783 
Nr.  654):  'Euer  Brief,  mein  alter  treuer  Freund,  hat  mir 
Thränen  gekostet.  Mich  dünkt,  meine  Liebe  zu  Euch  ist 
nie  feuriger  gewesen,  als  in  dem  Augenblicke.  Das  Hemd 
würde  ich  ausgezogen  haben  und  nackend  gegangen  seyn, 
wenn  Ihrs  bedurft  hättet.'  Er  gibt  Rathschläge  wegen 
Bürgers  Krankheit  und  dringt  auf  einen  Besuch,  den  Bürger 
bald  darauf  ausgeführt  haben  muss,  wie  aus  dem  folgenden 
Bruchstück  hervorgeht: 

58.    Bürger  an  Goeckingk. 

Appenrode  d.  17.  März  1783. 

Gottlob,    liebster  Goeckingk,    dass  wir  uns  endlich  einmal 

wieder  gesprochen  haben !     Euer  Brief  ist  mir  ein  wahres  Labsal 

gewesen  und  hat  mir  Tagelang  ein  süsses  Vergessen,  so  manches 

und  manches  Ungemachs  eingeüösst.     Dagegen  erwachen  in  mir 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      439 

die  angenehmen  Erinnerungen  der  Zeit,  in  welcher  wir  uns  so 
öfters  schrieben  und  ich  mich  unter  allen  Tagen  am  meisten  auf 
die  Posttage  freute.  0  lassts  uns  wieder  anfangen,  wo  wirs  da- 
mals gelassen  haben.  Ich  hoffe  wieder  in  den  Gang  zu  kommen. 
Noch  denke  ich  nicht  an  allen  Kräften  Leibes  und  der  Seele 
dergestalt  bankrot  zu  sein,  dass  mir  nicht  durch  gute  Wirth- 
schaft  noch  wieder  auf  die  Beine  geholfen  werden  könnte.  Die 
verzögernden  Hindernisse  liegen  auch  wol  mehr  ausser  mir,  als 
in  mir.  Eine  zerstreuende  Reise  von  einem  halben  Jahre,  in 
angenehmer  Jahrszeit;  in  angenehmen  Gegenden,  zu  angenehmen 
Leuten,  würde  mir  sehr  wohlthun.  Das  Unglück  nur  ist,  dass 
sich  dazu  so  leicht  nicht  gelangen  lässt.  Es  könnte  dies  fast 
nicht  anders  geschehen,  als  dass  ich  mein  Amt  auf  gäbe.  Allein 
wo  habe  ich  gleich  wieder  ein  sicheres  Stück  Brod,  wenn  ich 
zurück  komme,  ob  gleich  dies  armseeligc  Stückchen  (der  Butter 
nicht  einmal  zugedenken,  die  ich  sonst  sehen  muss,  wo  ich  sie 
herkriege)  auch  noch  nicht  einmal  zum  Sattwerden  hinreicht. 
Gleichwoi,  wenn  ich  es  recht  bedenke,  so  bin  ich  ein  Thor,  dass 
ich  diese  Plackerei  nicht  dennoch  aufgebe,  und  es  nicht  schon 
längst  gethan  habe.  Ich  habe  dabei  nun  schon  über  6/m  rth. 
von  meinem  ererbten  Armfitchen  und  sonstigem  Verdienste  auf 
die  nichtswürdigste  Art,  ohne  allen  frölichen  Genuss  dafür,  zuge- 
schustert, und  wenn  ich  noch  10  Jahre  so  fortludere,  so  reichen 
mein  Bestehen  und  ein  Paar  Tausend  von  meiner  Frau  nicht 
einmal  mehr  zu,  und  wir  fahren  aus  der  Welt  ab,  wie  Beelzebub 
mit  Gestank.  Bei  dem  allen  daücht  mir,  wenn  ich  wieder  gesund 
und  vergnügt  wäre,  so  könnte  ich  mich  blos  mit  Schriftstellerei 
weiter  helfen,  als  mich  dies  elende  Amt  hilft.  Und  wie  solte 
mich  nicht  Unabhängigkeit  und  freie  Wahl  der  aüsern  Lage  ge- 
sund und  vergnügt  machen?  So  denke  ich  manchmal  des  Abends 
und  fühle  mich  dabei  so  leicht  und  froh,  dass  es  nicht  anders 
ist,  als  würde  ich  gleich  den  andern  Morgen  in  aller  Frühe  meme 
Resignation  aufsezen.  Ehe  ich  michs  aber  versehe,  umringen 
mich  wieder  Schaarenweise  meine  hypochondrischen  Harpyen  und 
stellen  mir  den  Schritt  so  gefährlich  und  bedenklich  vor,  dass  ich 
allen  Mut,  alle  KrafTt  zu  meiner  Befreiung  verliere.  Und  so 
kasteie  ich  mich  denn  fort  von  einem  Tage  zum  andern,  und 
werde  mich  vielleicht  fortkasteien,  bis  mich  Freund  Hain  aus  dem 
Karren  spannt. 

Dieser  Brief  wird  nicht  vollendet  und  nicht  abgesandt. 
Erst  als  Qoeckingk  am  4 .  Juni  1 783  (Nr.  660)  den  Plan  zu 
seinem  ^Journal  von  und  für  Deutschland'  übersehiokte, 
raffte  sich  Bürger  auf  und  legte  seinem  Briefe  das  obige 
Fragment  bei; 


440      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

59.  Burger  an  Goeckingk. 

Appenrode,  den  6.  Juni  1783. 

Da  habe  ich  Euren  Brief  vor  mir,  liebster  Goeckingk,  und 
getraue  mir  ihn  nicht  aufzubrechen.  Denn  ohnstreitig  hunzet  Ihr 
mich  darinn  tüchtig  aus  und  das  ärgste  dabei  ist,  dass  ich  es  von 
Gott  und  Rechts  wegen  verdiene.  Der  Teufel  muss  mich  auch 
leibhaftig  in  seinen  Stricken  haben.  Denn  seht,  seit  dem  17^*^ 
März  habe  ich  schon  einen  Brief  an  Euch  angefangen;  aber  er 
ist  nicht  weiter  gediehen,  ob  ich  mirs  gleich  fast  alle  Abend 
beim  Schlafen  gehen  vornahm:  Morgen  willst  du  auch  ganz  gewiss 
den  Brief  an  G.  vollends  fertig  schreiben.  Ich  will  doch  das 
Fragment  mit  beilegen  und  sehen,  ob  Ihrs  als  ein  mitigans  meiner 
Schuld  gelten  lassen  wollet.  —  Ei  welche  herrliche  Besserung 
lasse  ich  nicht  in  diesem  Fragment  an  mir  verspüren!    Aber  — 

Im  ganzen  genommen  ist  meine  Lage  noch  ziemlich  eben 
dieselbe,  wie  ich  sie  in  dem  Fragment  angefangen  habe  zu 
schildern.  Jedoch  befinde  jch  mich  cörperlich  etwas  besser,  als 
vorigen  Winter.  Wenn  ich  alles  recht  bei  Licht  besehe,  so  be- 
finde ich  mich  nicht  in  der  mir  angemessenen  Sfare.  Daher 
kömmt  nun  alle  mein  Unheil  Leibes  und  der  Seelen,  und  icli 
werde  nie,  so  lange  nicht  eine  Revolution  mit  mir  vorgebt,  ganz 
genesen.  — 

Ach,  Briefchen,  soll  ich  dich  nun  aufbrechen?  —  Soll  ich? 
Lässt  sich  denn  nirgends  erst  durch  eine  Ritze  blicken,  um 
wenigstens  aus  einem  Worte  auf  den  Moll  oder  Durton  zu 
schliessen?  Nein!  Er  muss  aufgemacht  werden,  solte  auch  das 
Fell  davon  über  die  Ohren  gehen.  Ahhhhhhl  —  Was  gedrucktes! 
Hurtig  das  Gedruckte  erst  perlustrirt  und  hernach  den  Brief!  — 
Goeckingks  Ankündigung  eines  teutschen  Journals!  Nun,  lieber 
Junge,  du  musst  mir  doch  noch  so  gar  böse  nicht  seyn,  weil  du 
mich  wenigstens  würdigst,  mir  so  was  zu  zu  senden.  Also  den 
Brief  selbst  her!  —  Gottlob  und  Dank  es  geht  gnädig  ab.  Nun 
soll  denn  doch  aber  wahrhaftig  die  Communication,  sowohl  ^hrifllich 
als  mündlich  ohne  allen  Verzug  wieder  eröffnet  werden,  wenn 
sich  auch  der  Teufel  selbst  dazwischen  stellen  wollte.  Hört, 
liebster  Mann,  ich  trabe  nächstens  zu  Euch;^  oder  wenn  ich  zu 
lange  ausbleiben  sollte,  wie  ich  denn  wirklich  mancherlei  Abhal- 
tungen habe,  so  macht  euch  auf,  und  kommt,  entweder  mit  Weib 
und  Kind,  oder  auch  allein  zu  mir.  Am  liebsten  ist  es  mir, 
wenn  ihr  Euer  Kommen  zu  jeder  Zeit  so  einrichtet,  dass  Ihr 
Freitags  Nachmittags  eintreffet;  alsdann  kann  ich  Euch  bis  in 
den  Montag  hinein  desto  besser  geniessen.  Ihr  seyd  mir  zwar 
an  jedem  Tage  willkommen,  nur  sind  die  andern  Tage  meine 
grössten  Amts-  und  Geschäftstage.  Euer  Project  ist  herrlich; 
wenn  es  zu  Stande  kommen  sollte,  und  es  wäre  Schade  drum, 
wenn  es  nicht  zu  Stande  käme.     Kommt  es  aber  zu  Stande,  so 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  BOrger  und  Goeckingk.      441 

wird  die  Plackerei  dabei  so  unermesslich  seyn,  dass  Ihr  dem 
Dinge  nicht  allein  gewachsen  seyn  werdet.  Ist  daher  Nahrung 
dabei,  so  wäre  es  gerade  mein  Casus  mit  Euch  in  Compagnie  zu 
treten  und  alle  andern  Hundsvöttereien  zum  Teufel  zu  werfen. 
Wirft  die  Entreprise  aber  nicht  soviel  ab,  als  der  vielen  Mühe 
wehrt  ist,  so  wollte  ich  Euch  sehr  verdenken,  wenn  Ihr  Euch  um 
des  lieben  Publici  willen  das  Leben  so  sauer  machen  woltet.  — 
Ihr  habt  Recht,  wir  müssen  uns  darüber  mündlich  sprechen. 
Das  soll  denn  auch  mit  Gott  nächstens  auf  eine  oder  die  andere 
Art  geschehen.  In  dieser  Hofnung  verdriesst  es  mich  auch  beinah 
nur  noch  ein  Wort  über  dies  und  jenes  erst  mühsam  zu  schreiben. 
Schickt  mir  aber  doch  je  eher  je  lieber  noch  ein  Dutzend  Plane. 
Denn  ob  ich  gleich  auf  meiner  Nachbarschaft  eben  keinen  sonder- 
lichen Gebrauch  davon  machen  kann,  so  habe  ich  doch  in  ver- 
schiedenen, der  angezeigten  Städte  Bekanntschaften,  wo  ich  sie 
unverzüglich  hin  befördern  will. 

Der  6^  Artikel:  Handschriften.  Körnt  mir  gerade  zur 
gelegenen  Zeit.  Da  habe  ich  eine  Id^,  die  ich  Euch  doch  mit 
wenig  Worten  noch  herschreiben  will.  Das  Publikum  denkt  nun 
zwar  wohl  schon  längst,  dass  ich  von  der  Übersetzung  der  Ilias 
abstrahirt  habe.  Allein  so  ist  es  nicht.  Sie  nähert  sich  vielmehr 
mit  mächtigem  Schritt  ihrer  Vollendung.  Ihr  seyd  der  erste  und 
einzige,  dem  ich  dieses  hiermit  sage.  Ich  habe  mich  bisher  immer 
an  dem  Gedanken  geweidet,  tanquam  deus  ex  machina,  damit 
hervorzubrechen.  Weil  mich  nun  das  impertinente  Verlangen 
dränget,  alles  andre,  was  bisher  daran  gedollmelscht  hat  und  fürs 
erste  daran  dollmetschen  wird,  nieder  zu  arbeiten,  ein  Werk 
möglichster  Vollkommenheit  und  Celebrität  zu  liefern  und  mich 
auf  die  Art  an  Freund  Stollberg  für  den  unvermuteten  Stoss,  den 
er  mir  einst  beibrachte,  eben  so  unvermutet  zu  rächen,  so  habe 
ich  meine  ganze  Procedur  geändert,  den  vorhingewählten  Jambus 
(in  welchem  ich  endlich  nach  der  unsäglichsten  Bemühung  den- 
noch am  Ende  unmöglich  fand,  den  Homer  so  getreu  darzustellen) 
fahren  lassen  und  dafür  nun  auch  den  Hexameter  ergriflen.  Ich 
gestehe,  dass  mir  bisweilen  der  Hochmuthsteufel  zuraunt,  dass  es 
schlechterdings  unmöglich  sey,  dem  Original  näher  zu  kommen, 
[■nd  wenn  ich  dann  meine  Vorgänger  so  weit  davon  abhinken 
und  stolpern  sehe,  so  verursacht  mir  das  eine  so  wollüstige 
Seelentremulanz,  als  wenn  ich  den  lieblichsten  concubitum  celebrirte. 
Gleichwohl  sind  wir  ja  leider  oft  da  die  blindesten  Maulwürfe, 
wo  wir  am  allerhcllsten  zu  sehen  glauben.  Daher  wünschte  ich 
das  Werk  eher,  als  ich  eine  eigene  dauernde  Ausgabe  davon  ver- 
anstaltete, der  Prüfung  mehrerer  Augen  zu  unterwerfen.  Wie 
sollte  ich  das  nun  anfangen  ?  Wollte  ich  gleich  einem  oder  dem 
Andern  das  Manuscript  vorher  communiciren ,  so  dürfte  mir  das 
wohl  nicht  viel  helfen.  Einer  läse  es  vielleicht  mit  Aufmerksam- 
keit,  der  Andere  aber   wohl  nicht.     Beide  schickten   mirs  dann 


442      Sauer,  Aas  dem  Briefvechge]  zwischen  Bflrger  and  Goeckingk. 

entweder  mit  allgemeinem  Lob  oder  Tadel  zurück,  um  nur  kurz 
abzukommen.  Eine  genaue  Prüfung  und  Beurtheilung  wäre  auch 
kein  kleines  und  leichtes  Stack  Arbeit.  Mir  ist  daher  längst  ein- 
gefallen die  ganze  Uias  Gesangweise  vorher  in  irgend  ein  Journal 
von  Monat  zu  Monat  einrücken  zu  lassen  und  auf  die  Art  alle 
suiores  citra  et  ultra  crepidam  aufzufordern,  ihr  Müthchen  daran  { 

zu   kühlen.     Auf  die   Art  würde   ich   wahrscheinlich   einer  viel-  1 

fältigen  strengen  Prüfung  nicht  entgehen,  und  dies  ists  gerade, 
was  ich  wünsche.  Nachdem  ich  nun  alles  genüzt  hätte,  so  wollte 
ich  alsdann  eine  correcte  unveränderliche  und  dauernde  Ausgabe 
der  lezten  Hand  veranstalten.  Vor  Nachdruck  wäre  ich  vorläufig 
um  des  willen  sicher,  weil  die  Nachdrucker  befürchten  müssten, 
dass  die  eigene  verbesserte  Ausgabe  ihnen  bald  übern  Hals 
kommen  könnte.  Was  meint  Ihr  nun,  Freund,  liesse  sich  dieser 
Gedanke  in  Euerm  Journal  wohl  ausführen?  —  Aber  was  für 
einen  Namen  soll  denn  das  Journal  haben?  —- 

Adiol  Bald  und  von  nun  an  beständig  mehr!  Wir  wollen 
uns  nun  recht  aus  allen  Leibes  und  Seelenkräfiten  auf  das  Plan- 
aushecken und  Gelderscharren  legen.  Das  verfluchte  Publicums 
luder  soll  und  muss  geprellt  werden.  GAB. 

Goeckingk   stellt    sich    diesen    stürmischen   doppelten 

Plänen   vorsichtig    abwehrend    entgegen   und   schlägt    eine 

mündliche  Besprechung  vor  (12.  Juni  1783   Nr.  661),   die 

sich  durch  die  Yerzögerung  des  Briefes  zerschlägt. 

60.   Bürger  an  Goeckingk. 

Appenrode,  den  19.  Junii  1783. 

Erst  ehegestern,  lieber  G  ,  habe  ich  euren  Brief  vom  12*®"  d. 
erhalten  und  Morgen  erwartet  Ihr  mich  schon !  Ich  kann  aber 
leider !  da  noch  nicht  kommen  und  auch  die  Zeit  nicht  bestimmen, 
wenneher  ich  zu  kommen  im  Stande  bin.  Bequemer  wäre  mir 
allerdings  Eure  Anherokunft  gewesen;  indessen  muss  man  sehen, 
wie  maus  macht.  Mein  Reitpferd  habe  ich  auch  schon  vorigen 
Sommer  verkauft,  weil  ich  Vierteljahre  lang  nicht  hinauf  zu 
steigen  pflegte  und  es  sich  steif  im  Stalle  stand.  Will  ich  also 
nun  nicht  eins  von  meinen  Ackerpferden,  die  ohnehin  ihre  volle 
Arbeit  haben,  nehmen,  so  muss  ich  mir  einen  Philister  Gaul  von 
Göttingen  miethen. 

Ich  kann  euch  sagen,  dass  Eure  Ankündigung,  so  weit  meine 
Ohren  reichen,  schon  viel  Publicität  gewonnen  hat,  und  sehr 
goutirt  wird.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  kommt  also  das 
Journal  in  Schwung  und  die  Hauptsache  wird  seyn,  es  darinn 
zu  erhalten.  Mit  heutiger  Post  habe  ich  schon  Vs  Dutzend 
Exemplare  der  Ankündigung  ausfliegen  lassen  und  will  Euch 
demnächst  die  Örter  und  Personen  melden,  wohin  ich  sie  ge* 
sendet  habe. 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  BQrger  und  Goeckingk.      443 

Freilich  auf  gerathewohi  ein  gewisses  Stückchen  Brod  weg 
zu  werfen,  ist  eine  missliche  Sache.  Allein  wer  kann  ohne  Wagen 
gewinnen.  Wenn  ich  es  heut  am  Tage  noch  thäte,  so  dächte 
ich  dennoch  schon  auf  ^/s  Dutzend  Jahre  meines  Unterhalts 
ziemlich  gewiss  zu  seyn.  Ich  habe  von  mehr,  als  so  viel  Buch- 
händlern Propositionen  zu  Brodarbeiten  und  keiner  bietet  mir 
unter  1  Ldor.  p.  Bogen.  Zu  mehr  als  so  viel  Journalen  habe 
ich  Einladungen,  mit  dem  Erbieten  nach  ansehnlicherer  Belohnung. 
Kurz  auf  wenigstens  6  Jahre  wüsste  ich  mir  volle  Arbeit  vorzu- 
rechnen, die  mich  ernähren  könnte  und  würde.  Mein  Amt  bringt 
mir  höchstens,  wenns  köstticli  ist  400  rth.  ein.  Was  muss  ich 
mich  nicht  daför  placken  I  Davon  muss  ich  nun  zwischen  andern 
Seigneurs,  auch  wie  ein  Seigneur  leben,  der  wenigstens  1000  rth. 
zu  verzehren  hat.  Was  kann  dabei  am  Ende  heraus  kommen? 
Sobald  ich  aber  tout  court  wieder  Herr  Bürger  hiesse,  könnte 
ich  mich  an  einem  andern  Orte  so  einrichten,  dass  ich  an 
400  rth.  jährlich  reichlich  genug  hätte.  Und  diese  bei  Müsse 
und  angenehmerer  Lage  Leibes  und  der  Seele  zu  verdienen  halte 
ich  für  ein  blosses  Kinderspiel. 

Eure  Id^  wegen  eines  mit  dem  Journal  zu  verbindenden 
Buchhandeis  bin  ich  begierig  zu  hören.  Ob  sich  aber  mit 
2000  rth.  wird  anfangen  lassen,  daran  zweifele  ich  sehr.  Sonst 
Hessen  sich  ja  2000  rth.  noch  wohl  auf  treiben  Was  wir  pro- 
jectiren  muss  so  einfach,  als  möglich  seyn,  und  so  viel  möglich 
durch  uns  allein,  ohne  weitläufige  Beihülfe  bestritten  werden 
können.  Denn  tröste  Gott  denjenigen,  der  zu  so  was  viel  Leute 
halten  muss.  Man  wird  allemal  bald  durch  Vorsatz,  bald  durch 
Nachlässigkeit  Derselben  mehr,  oder  weniger  betrogen.  Zulezt 
über  wältigen  einen  der  Verdruss  und  die  Last,  man  lässt  den 
Mut  sinken  und  dann  stürzt  die  ganze  Herrlichkeit  mit  Ach  und 
Krach  zusammen,  wie  Messina. 

Überhaupt  müssen  wir,  ehe  wir  den  endlichen  Schritt  zu  der 
grossen  Revolution  thun,  unser  Heil  nicht  auf  einen  einzigen 
Pfeiler  blos  bauen.  Hält  alsdann  der  Eine  nicht,  so  hält  doch 
der  andere,  oder  tritt  an  die  Stelle  des  ersten,  wenn  der,  wie 
es  der  Lauf  irdischer  Dinge  mit  sich  bringt,  abgängig  wird.  Unser 
Hauptstudium  muss  seyn  die  Neigung  des  Publicums  im  ganzen 
zu  Studiren.  Die  Hauptleidenschaft,  die  ich  Zeit  meines  Lebens 
beobachtet  zu  haben  glaube,  ist  Neugier  zu  wissen,  was  ge- 
schehen ist,  wäre  das  geschehene  auch  von  noch  so  wenigem 
Belang.  Da  sitzen  z.  B.  ein  Paar  Kerle  in  Hannover,  die  post- 
täglich eine  geschriebene  Zeitung  an  ihre  Kunden  im  ganzen 
Lande  auslaufen  lassen  und  worinn  jeder  Quark,  der  in  und  um 
Hannover  vorfällt,  notificirt  wird.  Ihr  glaubt  aber  nicht,  wieviel 
diese  Wische,  welche  jährlich  1  Ldor.  kosten,  gehalten  und  ge- 
lesen werden.  Der  ungleich  grössern  Menge  ist  es  weit  inter- 
essanter zu  wissen,   ob  die  und  die  Frau  Räthin  in  die  Wochen 


444      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwiscben  Bürger  und  GoeckiDgk. 

gekommen ,  ob  der  und  der  Hans  mit  der  und  der  jGIrete  sich 
verheürathet  hat,  als:  ob  Wieland  einen  neuen  Oberon  gemacht 
hat.  Glaubt  nur,  Freund,  dieser  so  schaale  Artikel  eures  Jour- 
nals wird  mehr  Antheil  an  seinem  demnächstigen  Wohlergehen 
haben,  als  seine  besten.  Wenn  nun  schon  Salomo  oder  Jesus 
Sirach  es  gut  geheissen  haben:  dem  Narren  nach  seiner  Narrheit 
zu  begegnen,  warum  sollen  wir  nicht  diese  Maxime  zu  unserm 
Nutz,  Heil  und  Frommen  in  Ausübung  bringen?  Also  Neugier, 
Neugier  lasst  uns  befriedigen!  Aus  der  Neugier  lässt  sichs  er- 
klären, dass  nichts  so  gut,  und  so  beständig  gut  geht,  als  eine 
politische  Zeitung.  Eure  Id^e  dahin,  gleichsam  eine  politische 
Zeitung,  die  sonst  nur  immer  und  grösten  theils  die  grossen 
Weltneuigkeiten  angezeigt  hat,  auch  aus  Privathaüsern  Neuigkeiten 
aufladen  zulassen,  ist  des  besten  Speculateurs  wQrdig.  Wird  nun 
in  der  Folge  der  Preis  so  wohlfeil  gemacht  als  möglich;  so  soll 
dieser  hinkende  Staatsbole  Geld  genug  zusammen  schleppen.  Der 
Himmel  gebe  zu  allem  sein  Gedeihen  I 

Wenn  ich  komme,  so  komme  ich  wahrscheinlich  eines  Freitag 
Nachmittags.  Soltet  Ihr  gleich  nicht  in  Ellrich  zu  finden  seyn, 
so  will  ich  Euch  schon  weiter  auf  Euerem  Landhause  nach  spüren. 

Bis  dahin  lebt  herzlich  wohl!  GAB. 

Apropos!  Noch  eins,  was  ich  Euch  lange  habe  sagen  wollen. 
Ihr  bedient  Euch  auch  in  Eurer  simpeln  prosaischen  Schreibart 
der  Apostrophen  zu  viel.  Das  kann  ich  nicht  leiden  und  sieht 
mir  zu  geziert  aus.  In  einer  Schreib  Art,  wie  die  Eurer  An- 
kündigung, kömmt  es  ja  nicht  auf  Rythmus  an,  der  durch  Eli- 
sionen erhalten  wird.  Schreibt  immer  das  Wort  vollständig  mit 
seinem  End  Vokal  hin.  Im  Lesen  verschleift  doch  jedermann 
ohnehin  die  hiatus.  Meine  Maxime  ist  jezt,  alles  Sonderlings- 
mässige  zu  vermeiden  und  ich  kehre  daher  auch  fast  völlig  zu 
der  Alltags  Ortographie  zurück. 

Mit   Goeckingks    Antwort    vom    3.  Juli    1783    Nr.  663 

nehmen  dessen   gedruckte  Briefe  vorläufig  ein  Ende.     Bis 

zum  Juli  1784  liegen   nur    die  Briefe  Bürgers  vor,  die  sich 

zunächst  auf  seine  Mitarbeiterschaft  an  Goeckingks  Journal 

beziehen. 

61.    Bürger  an  Goeckingk. 

Appenrode  d.  29.  December  1783. 

[Empf.  d.  2.  Januar  1784  beantwortet  eodem.] 

Lieber  Goeckingk,  ich  kann  Euch  heute  nur  sagen,  dass  ich 
künftigen  Montag  ganz  gewiss  das  Manuscript  der  Vorrede  und 
des  ersten  Gesangs  der  llias  absenden  werde.  Denn  ungelogen, 
es  wandelt  mir  Angst  und  zittern  an  vor  dem  Schritte ,  den  ich 
nun  thun  soll,  weil  meine  ganze  Ehre  in  Sachen  Homers  darauf 
beruhet.      Seil    14   Tagen    schon    wollte    ich   jeden  Postlag  das 


Sauer,  Aus  dem  Briefv^echsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      445 

Manuscript  abschicken,  und  jedes  mal  in  dem  ichs  einpacken 
wollte,  hielt  mich,  Gott  weiss,  was  für  geheime  Ähndung  zurück. 
Jedesmal  aber  fand  ich  auch  Ursache  die  Zurückhaltung  nicht  zu 
bereuen.  Binnen  hier  und  Montag  aber  soll  auch  wahrlich  das 
lezte  daran  geschehen.  Es  mögle  des  feilens  sonst  allzuviel 
werden.  In  meinem  Leben  hat  mir  das  Herz  noch  nicht  so  ge- 
pocht und  doch  bin  ich  ja  kein  Schriftsteller  seil  gestern  mehr .... 

Der  nächste  Brief  Bürgers  (aus  den  ersten  Tagen  des 

Jahres  1784),  mit  dem  er  das  Manuscript   übersandte,   ist 

bei  Strodtmann  Nr.  669  gedruckt. 

62.    Bürger  an  Goeckingk. 
Appenrode,  d.  23.  Februar  1784.     [Empf.  d.  26.] 

Ich  glaube  es  wohl,  lieber  G.,  dass  Ihr  mit  Verlangen  auf 
neues  Manuscript  hoffen  werdet.  Ihr  hättet  indess  den  2^®°  Ge- 
sang der  llias  schon  längst,  wenn  ich  nicht  3  Wochen  zu  meinem 
Schwager  verreist,  eben  so  lange  fast  nachher  an  meinen  Rheu- 
matismen krank  und  sonst  auf  allerlei  Weise  geplackt  gewesen 
wäre.  Ich  werde  Euch  auch  in  der  Folge  eher  noch  nicht 
schneller  fördern  können,  als  bis  ich  nun  erst  meines  Amtes  auf 
k.  Johannis  quit  bin,  da  ich  denn  mehr  für  euch  leben  und 
arbeiten  kann.  Die  ersten  4  Gesänge  sind  so  weit,  dass  sie  nach 
vorgängigem  feinen  und  kleinen  Polituren  hinter  einander  folgen 
können;  allein  hernach  fehlt  bis  übei*s  erste  Dutzend  hinauf  an 
jedem  bald  mehr  bald  weniger.  Im  zweiten  Dutzend  erst  sind 
wieder  die  meisten  ganz  ausgearbeitet.  Es  wird  also  übel  aus- 
sehen, wenn  Ihr  ununterbrochen  mit  jedem  Monathe  fortfahren 
wollt.  Wäre  ich  erst  frei  von  übrigen  Verdriesslichkeiten  und 
Geschäften,  so  sollte  es  nichts  zu  sagen  haben.  Allein  so  dächte 
ich,  man  machte  lieber  etwa  von  4  zu  4  Gesängen  eine  kleine 
Pause  von  einigen  Monathen.  Es  ist  ein  Übel,  dass  die  hunds- 
vöttsche  Arbeit  so  erschlafft,  dass  ich  manchmal  in  8  bis  14  Tagen 
nichts  vom  Homer  schmecken  und  riechen  kann,  da  ich  doch 
wohl  sonst  mehr  als  100  Verse  in  einem  Tage  absolvirt  habe  .... 

Wenn  ihr  meine  Amts  Niederlage  notificiren  wollt,  so  könnt 
ihrs  öhngefähr  auf  folgende  Art  thun:  Durch  neuerlichen  gehäuften 
Verdruss  von  widrig  gesinnten  Menschen  gereizt,  hätte  ich  schon 
vor  einigen  Monaten  den  seit  Jahren  bei  mir  herumgetragenen 
Entscbluss  vollführet,  mein  wenig  einbringendes  peinliches  Amt 
selbst  aufeukündigen  und  würde  künftige  Johannis  davon  abgehen, 
um  mich  hernach  den  Wissenschaften  und  vielleicht  auch  dem 
akademischen  Leben  zu  widmen. 

Übrigens  wünsche  ich,  dass  Ihr  künftig  weniger  Schererey 
mit  Eurem  Journal  haben  und  bald  mehr  Subscribenten  bekommen 
raöget.  Ich  hoffe  denn  doch,  dass  es  empor  kommen  soll.  Zwar 
habe  ich  es  noch  nicht  so  genau  durchsehen  können,  um  meine 

Vierteljahnchrift  für  Littenttoigesohichte  HI  30 


446      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Gtoeckingk. 

entschiedene  Meinung  darüber  zu  sagen.  Indessen  deucht  mir, 
es  wird  gut.  Lasst  mich  nur  erst  frei  seyn»  so  will  ich  mit 
Händen   und  Füssen  dafür  arbeiten,  was  ich  kann .... 

63.  Bürger  an  Goeckingk. 

Gelliehausen  d.  22.  März  1784. 

[Empf.  den  25.  Beantw.  den  26.] 
Ich  muss  Euch  wohl,  liebster  G.,  nachgerade  den  dritten  Ge- 
sang der  Uias  schicken,  ehe  Ihr  darum  mahnt,  wenn  nicht  anders 
der  Mahnbrief  schon  auf  dem  Wege  ist.  Gern  schickte  ich  Euch 
ein  reiner  geschriebenes  Manuscript,  wenn  ich  nur  Zeit  und  Ge- 
dult  dazu  hätte,  indessen  denke  ich,  ist  es  deutlich  genug,  um 
den  Druckfehlem  entgehen  zu  können. 

Aber  denkt  Euch  nur  das  Creüz,  Jammer  und  Elend,  was 
ich  schon  so  früh  bei  meinem  Aushange  erfahre.  Gleim  schreibt 
mir  vor  ein  Paar  Tagen,  dass  ihn  kleine  Versificationsfehler 
nicht  beleidigt  hätten.  Um  Gottes  willen,  liebster  Goeckingk, 
was  sagt  Ihr  dazu?  Gleim  und  Versificationsfehler!!! 
Sollte  man  nicht  gleich  den  ganzen  Plunder  ins  Feuer  werfen? 
Versificationsfehler!  So  was  ist  mir  mein  Lebelang  noch  nicht 
geboten.  Auch  kann  ich  sie  nicht  entdecken,  wenn  ich  gleich 
noch  zehnmal  den  ersten  Gesang  Vers  vor  Vers  durchprüfe.  Ich 
habe  ihn  daher  um  die  nähere  Anzeige  ersucht,  worauf  ich  denn 
sehr  begierig  bin.  Übrigens  schreibt  er  mir,  dass  Euer  Journal 
in  dortiger  Gegend  grossen  Beifall  finde. 

Seit  14  Tagen  wohne  ich  hier  zu  Gelliehausen  in  einem 
Bauerhause  und  bin  allso  meiner  ruinösen  Appenröder  Pachtung 
los.  Ich  habe  allhier  bereits  vor  Jahr  und  Tag  ein  kleines  Güt- 
chen mit  einer  hübschen  Wohnung,  dicht  bei  dem  Torfteiche, 
wenn  Ihr  Euch  dessen  erinnert,  aus  dem  Concurs  meistbietend 
erstanden  und  bis  hieher  hat  der  Cridarius  soviel  Sprünge  ge- 
macht, dass  ichs  zu  keiner  Ex-  und  Immission  bringen  können. 
Allso  muss  ich  mich  vor  der  Hand  noch  gar  jämmerlich  behelfen. 
Indessen  bin  ich  doch  nur  froh,  dass  ich  jenen  blutaussaugenden 
Vampyr,  ich  meine  die  Pachtung  los  bin.  Wäre  nun  nur  erst 
auch  Johannis  vorüber.  Mir  deucht  die  erste  Ausflucht  meiner 
Freiheit  wird  alsdann  zum  Journalisten  von  und  für  Deutschland 
seyn 

64.  Bürger  an  Goeckingk. 

Gelliehausen  d.  5.  April  1784. 

[Empf.  den  30.  Apr.  Beantw.  den  4.  May.] 
Gottlob!  liebster  Freund,  in  Ansehung  Eures  Journals  wird 
mir  das  Herz  immer  leichter.  Beim  dritten  und  vierten  Stück 
huste  ich  vielleicht  schon  das  wenige  übrige  noch  vollends  weg. 
Ich  kanns  Euch  nun  nach  gerade  wohl  sagen,  dass  mir  banger 
war,  als  ich  Euch  jemals  merken  liess,  einestheils  weil  mir  selbst 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      447 

der  Plan  allzu  riesenmässig  schien,  um  einer  erträglichen  Aus- 
führung fähig  zu  seyn,  anderntheils  weil  alle  Well,  alle  Weltl  — 
ich  sage  es  noch  einmal  —  alle  Welt!!!  daran  verzweifelte. 
Gottlob!  Dass  man  sich  nun  schon  ganz  leise  bekennen  muss, 
Ihr  producirtet  Euch  besser,  als  man  erwartet  hätte.  Sicherlich 
wird  sich  dieses  Gemurmel  bald  in  lautes  Geschrei  des  Beifalls 
verwandeln.     Nun 

Freund,  so  verleihe  dir  dann  die  Göttin  Pallas  Athene 
Mut  und  Helden  Kraft,  hervorzuprangen  vor  allen 
Deutschen,  und  herrlichen  Ruhm  davonzutragen!  Sie  fache 
Dir  auf  Helm  und  Schild  ein  unausloderndes  Feu*r  an ! 
Wie  der  herbstliche  Stern,  wann  der  in  des  Ozeans  Fluten 
Sieh  gebadet  hat,  und  am  allerhellsten  umherstrahlt: 
Solch  ein  Feuer  fache  sie  dir  um  Schulter  um  Haupt  an; 
Und  so  treibe  sie  dich  hinauf  zum  Tempel  der  Ehre! 
Doch   mit   diesem  Gebet  ist  wohl  noch  nicht  alles  gethan!     An 
den  Segen  Spender  Hermeias  werde  ich  auch  wohl  noch  eins 
parodiren  müssen.     Dieser   wird  Euch  indessen  auch  schon  hold 
werden.     Eins  folgt  dem  andern  nach. 

Wollte  der  Himmel  nur,  dass  ich  näher  mit  Euch  zusammen 
wäre!  Ich  wollte  mit  angreifen  und  helfen,  dass  es  eine  Lust 
seyn  sollte.  Ich  dächte,  wir  wollten  es  dahinbringen,  dass  uns 
das  Journal  beide  reichlich  ernähren  sollte.  Zu  eurem  Vorschlage 
nach  Ellrich  oder  Walkenried  zu  ziehen,  kann  ich  noch  weder 
ja  noch  nein  sagen.  Heute  steht  ein  Termin  vor  der  Justiz 
Canzlei  in  Hannover,  welcher  entscheiden  wird,  ob  ich  das  er- 
standene hiesige  Gut  erhalten  werde,  oder  nicht.  Behalte  ich  es; 
so  wird  ohnstreitig  die  Immission  bald  erfolgen ;  und  dann  dürfte 
ich  wohl  fürs  erste,  wo  nicht  meine  Person,  doch  meinen  Haus- 
halt hier  noch  ein  bischen  fixiren.  Denn  der  Handel  ist  sowohl 
ratione  pretii  sehr  vortheilhaft,  als  auch  in  manchem  andern  Be- 
tracht angenehm.  Denn  die  Wohnung  ist  sehr  bequem  und  es 
ist  ein  allerliebster  Garten  dabei.  Indessen  könnte  ich  dennoch 
nach  Johannis  öfters  persönlich  bei  euch  seyn  und  so  lange 
bleiben,  als  es  mir  immer  nöthig  wäre,  sollte  ich  auch  einen 
eigenen  Klepper  darum  halten  müssen.  Sollte  ich  aber  das  hie>- 
sige  Gut  nicht  behalten,  so  lässt  sich  nach  Johannis  das  Ding 
weiter  überlegen.  Traurig  ist  es  nur,  dass  ich  bei  diesem  un- 
seeiigen  Amt  fast  mein  ganzes  bischen  Vermögen  zusetzen  müssen. 
Sonst  wollte  ich  zum  Besten  des  Journals  Eure  angefangene  Reise 
durch  Deutschland  fortsetzen  und  vollenden.  Doch  vielleicht 
wird  das  Journal  noch  so  ergiebig,  um  eine  solche  Reise  ab  zu 
werfen;  und  das  sollte  ihm  gewiss  nicht  wenig  Vortheil  schaffen. 
Der  Brief  und  die  Anmerkungen  des  Herrn  v.  Halem  haben 
mir  nicht  wenig  Freude  gemacht.  Das  scheint  in  der  That  ein 
tüchtiger  Kerl  zu  seyn.  Ich  muss  viele,  wie  wohl  nicht  alle,  für 
sehr   gut    und    richtig   erkennen.     Am    meisten    freut  mich   die 

80» 


\ 


448      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk. 

Genauigkeit,  mit  welcher  er  alles  durchgegangen  ist  und  ich 
wünsche  recht  sehr,  dass  er  so  fori  fahre.  Allein  sollte  der 
Mann  nicht  die  Absicht  und  den  Wunsch  hegen,  seinen  Brief  und 
Anmerkungen  gedruckt  zu  sehen?  Überlegt  das  einmal  und  fragt 
ihn  lieber.  Er  hat  alsdann  vielleicht  desto  mehr  Lust  zur  Fort- 
setzung. Ich  schicke  Euch  zu  dem  Ende  sowohl  den  Brief  als 
die  Anmerkungen  zurück.  Jenen  begleite  ich  mit  einem  Bnefe, 
den  ihr  mit  drucken  lassen  könntet  und  zwischen  diese  streue 
ich  hin  und  wieder  mein  Egoistisches  Senfkorn.  Sollte  es  aber 
mit  dem  Drucken  nicht  so  gemeint,  noch  sonst  dasselbe  thunlich 
seyn,  so  schickt  mir  die  Anmerkungen  gelegentlich  zu  meinem 
Gebrauch  zurück. 

Übrigens  füge  ich  nun  auch  den  14^®*^  Gesang  bei,  um  mir 
nur  die  Macht  zum  allzu  vielen  Feilen  zu  benehmen.  Denn  in 
der  That,  fast  glaube  ich,  ich  verderbe  manches  zuletzt  wieder 
mit  der  verwünschten  Feile.  Das  fange  ich  schon  an  beim  ersten 
zu  merken.  Der  5^®  Gesang  wird  auch  bald  rein  seyn.  Dieser 
ist  sehr  lang  und  der  längste  in  der  ganzen  Ilias,  daher  er  füglich 
in  zwei  Theile  zerlegt  werden  kann.  Auf  diese  Art  und  durch 
die  dazwischen  gemachten  Pausen  erhalte  ich  Zeit  in  meiner 
Arbeit  mit  Euch  fort  zu  kommen 

Fortgesetzt  den  26.  Apr.  84. 

Bis  hieher,  liebster  G.,  hatte  ich  geschrieben,  ohne  weiter 
kommen  und  vor  allem  etwas  erfüllen  zu  können,  was  ich  euch 
da  oben  versprochen  habe.  Vor  einer  Stunde  aber  erhalte  ich 
euren  Brief  vom  16.  dieses,  worauf  ich  doch  gleichwoll  vor 
eurer  Reise  nach  Leipzig  noch  antworten  mögte.  Wahrscheinlich 
verschlägts  Euch  auch  nichts,  ob  Ihr  das  oben  versprochene  schon 
heüt  oder  ein  Paar  Posttage  später  erhaltet;  denn  ich  komme 
heute  da  es  schon  späth  ist,  doch  nicht  damit  zu  Stande.  Die 
Druckfehler  aber  habe  ich  auf  ein  apartes  Blatt  geschrieben, 
damit  Ihr  nicht  nöthig  habt,  sie  aus  zu  schreiben.  Vorige  Woche 
war  ich  in  Göttingen  bei  Dietrich  -—  aber  es  bleibt  unter 
uns,  was  ich  Euch  hier  melde  —  da  lief  ein  Brief  von 
Eurem  Drucker  an  Dietrich  ein,  woraus  kein  Schwein  klug  werden 
konnte.  Das  ganze  lief  auf  Klagen  über  Eures  Herzens  Härtig- 
keit  hinaus  und  dass  er  verzweifelte  mit  Eurem  Eigensinne  noch 
lange  fertig  zu  werden,  weil  Ihr  immer  unmögliche  Dinge  von 
ihm  verlangtet.  Da  wollte  er  sich  nun  beim  Handwerk  Raths 
erholen,  wie  er  sich  wohl  mit  Ehren  gegen  Euch  zu  benehmen 
hätte,  wenn  Ihr  nicht  nachgiebiger  würdet.  Was  ihm  Dietrich 
antworten  wird,  oder  schon  geantwortet  hat,  kann  ich  nicht  sagen. 
Vielleicht  kann  Euch  indessen  diese  Nachricht  zu  einiger  Direction 
dienen. 

Ich  bin  übrigens  die  Zeit  her  über  alle  Schurkenstreiche  die 
mir  gespielt  worden,  an  Leib  und  Seele  aüserst  angegriffen  worden. 
Das  Gut,  welches  ich  legali  modo  erstanden,  und  mir  rechtskräftig 


Saner,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      449 

adjudicirt  worden  ist,  sucht  man  mir  durch  die  unverantwort- 
lichsten Chicanen  vorzuenthalten,  ja  vielleicht  ganz  zu  entziehen. 
Wenigstens  werde  ich  noch  leicht  abstrahiren  müssen,  wenn  ich 
nicht  noch  viel  Zeit  und  Kosten  verschwenden  will.  0  ich  bin 
alle  weile  so  toll,  dass  ich  fortlaufen  möchte  in  die  weite  Welt, 
um  nur  andere  als  diese  infame  Luft  hier  zu  athmen.  Hielten 
mich  nicht  Frau  und  Kind,  wovon  die  erste  hochschwanger  aber 
dabei  höchst  elend  —  ja  ich  fürchte  beinahe  schwindsüchtig  — 
sich  befindet,  so  wäre  ich  längst  lieber  zum  Teufel  gelaufen,  als 
hier  noch  länger  geblieben.  Ich  muss  wahrlich  grosse  Sünde  be- 
gangen haben  in  meinem  Leben,  wenn  aller  mein  Ärger  und 
Verdruss,  den  ich  hier  schon  verschlungen  habe,  Strafe  dafür 
seyn  soll 

65.    Bürger  an  Goeckingk. 

Gelliehausen,  den  2.  Juli  1784. 

Verzeiht  mirs,  liebster  G.,  ich  habe  die  ganze  Zeit  her  wegen 
meines  schwer  auf  mir  liegenden  Hauskreuzes  wenig  an  Euch 
und  Euer  Journal  gedacht.  Meine  arme  Frau  krankt  nun  schon 
über  vier  Monathe  an  einem  hectischen  Fieber  und  wird  von 
aller  Welt,  selbst  von  ihrem  Arzte  dem  Prof.  Stromeyer  auf- 
gegeben. Bei  so  traurigen  Aussichten  sie  täglich  und  nächtlich 
mit  den  Bitterkeiten  einer  solchen  Krankheit  kämpfen  zu  sehen, 
muss  ich  notwendig  an  Leib  und  Seele  ganz  matt  werden,  wenn 
ich  auch  noch  zehnmal  mehr  Mannes  wäre,  als  ich  wirklich  bin.  Mir 
leuchtet  zwar  das  Licht  der  Vernunft  ruhig  fort;  und  mir  deucht 
ich  bin  auf  alles  gefasst,  aber  damit  hindere  ich  dennoch  meine 
zunehmende  Ermüdung  nicht,  da  meine  Kräfte  ohnehin  eben  nicht 
in  der  Verfassung  sind,  so  vielen  Kummer  und  so  lange  ertragen 
zu  können.  Bei  so  wenig  Hoffnung  zu  ihrer  Wiederherstellung 
würde  ich  beinahe  Gott  selbst  bitten,  ihren  Leiden  durch  den 
Tod  lieber  ein  Ende  zu  machen,  wenn  die  arme  Kranke  nicht 
dennoch  einen  so  dürstenden  Trieb  nach  dem  Leben  äusserte. 
Eben  diess  aber  ist  auch  mit  ein  characteristisches  Merkmal  dieser 
fatalen  Krankheit,  welches  ich  schon  mehrmal  und  sonderlich 
auch  bei  meinem  seel.  Schwager  wahrgenommen  habe.  Mit 
diesem  ist  sie  fast  in  allem  gleich;  ausser  dass  sie  noch  zehnmal 
ungeduldiger  ist.  Wie  lange  dieses  Elend  noch  dauern  werde, 
ohne  sich  zu  irgend  einem  Ende  zu  neigen,  das  mag  Gott  wissen. 
So  viel  aber  weiss  ich,  dass  ich  an  Seele  und  Leib  ganz  dabei 
zu  Grunde  gehe 

Dieser  häusliche  Kummer  hat  mich  notwendig  sehr  an 
allen  meinen  Geschäften  zurücksetzen  müssen,  welches  mir  nun 
diese  Tage  her,  da  ich  abliefere,  sehr  sauer  und  verdrüsslich 
macht.  Denn  seit  14  Tagen  her  hat  mich  die  aüserste  Noth 
gezwungen  fast  Tag  und  Nacht  zu  arbeiten,  und  noch  bin  ich 
doch  nicht  gehörig  auf  das  Reine.     Ich  wills  aber  binnen  8  bis 


450     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk. 

14  Tagen  schlechterdings  seyn,  sollte  ich  auch  drüber  crepiren. 
Noch  habe  ich  keinen  Nachfolger.  Da  ich  aber  nicht  länger,  als 
bis  auf  Johannistag  yerwalten  wollte,  so  ist  eine  andere  Interims- 
Verwaltung  angeordnet. 

Der  mehr  als  einmal  rechtskräftige  legale  Zuschlag,  den  ich 
auf  das  bewusste  Gut  erhalten  hatte,  ist  durch  die  allerheilloseste 
Restitutionem  in  integrum  praetoriam  retractirt  worden.  Jeder- 
mann, der  sich  auf  Jurisprudenz  versteht,  erstaunt  darüber.  Seht, 
so  was  geht  nicht  etwa  blos  in  einem  obscuren  Baierlande,  son- 
dern auch  bei  uns  vor.  Ihr  sollt  euch  über  die  richterliche 
Chicane,  wenn  ich  sie  euch  einmal  mündlich  erzähle,  creuzen 
und  seegnen.  Schade,  dass  ich  sie  nicht  im  Journal  zum  besten 
geben  kann. 

Meines  Bleibens  kann  hier  nun  um  so  weniger  seyn.  Denn 
ich  bin  in  meiner  jetzigen  Bauerhütte  gar  zu  elend  logirt  und 
eine  bessere  Gelegenheit  ist  hier  nicht  zu  haben.  Aber  wo  soll 
ich  hin,  da  die  Krankheit  meiner  Frau  mir  so  schwere  drückende 
Fesseln  anlegt?  Mein  Plan  war  sonst,  Frau  und  Kinder  fürs 
erste  noch  auf  dem  Lande  zu  lassen,  für  meine  Person  aber  so- 
gleich nach  Göttingen  zu  ziehn  und  Collegia  zu  lesen,  wozu  mir 
Erlaubniss  ertheilt  worden  ist.  Da  ich  dort  in  grosser  Liebe  und 
Achtung  bei  der  studirenden  Jugend  stehe,  so  weissagt  mir  aUes 
einen  sehr  gesegneten  Erfolg  dieses  Unternehmens  und  in  Han- 
nover sieht  mans  auch  sehr  gern.  Ich  habe  dann  Hoffnung  viel- 
leicht in  Kurzem  Professor  zu  werden;  wenn  ich  erst,  wie  ich 
vorhabe,  mit  ein  Paar  lateinischen  so  genannten  speciminibus 
eruditiouis  auftreten  kann.  Ich  schere  mich  indessen  den  Teufel 
um  ein  Professorat;  und  bin  auch  im  geringsten  nicht  willens, 
um  irgend  ein  Amt  wieder  zu  reverenzen.  Wenn  ich,  wie  zu 
hoffen  ist,  Beifall  im  lesen  zu  Göttingen  finde,  so  denke  ich 
dennoch  gut  durch  zu  kommen.  Denn  die  Collegia  werden  dort 
sehr  gut  und  nie  eins  unter  1  Louisd^or  bezahlt.  Ich  habe  aber 
Gegenstände,  die  in  Göttingen  wenig  oder  gar  nicht  cultivirt 
werden,  und  wornach  grosses  Verlangen  ist.  Mit  der  Schrift- 
stellerei  allein  gehts  doch  nicht.  Viel  und  mittelmässig  schreiben, 
welches  fast  nicht  zu  trennen  ist,  bringt  zu  wenig  Ehre,  weniges 
und  gutes  aber  zu  wenig  Geld  ein  ...  . 

Seid  Ihr  aber  auch  gevnss,  Lieber,  dass  das  Journal  Bestand 
haben  kann?  Die  Maschine  ist  gar  zu  gross,  aus  allzuvielen 
Theilen  zusammengesetzt  und  ihr  Unterhalt  zu  kostbar.  Mir 
dünkt,  ich  ahnde  aus  Euren  eignen  Äusserungen,  dass  wenn  Ihr 
Eure  Kosten  wieder  heraus  habt,  so  bedenkt  ihr  euch  wohl  noch 
erst  wegen  der  Fortsetzung.  Schade  wäre  es  freilich.  Denn 
nach  meinem  Geschmack  ist  das  Journal  sehr  interessant.  Solltet 
Ihr  übrigens  wohl  nicht  fast  zu  viel  fQrs  Geld  geben.  Das 
4^  Stück  ist  wieder  erstaunlich  stark.  Was  muss  Euch  das  nicht 
an  Druck  und  Papier  kosten?    Soll  das  Journal  künRig  in  Gange 


Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Qocckingk.      45 1 

bleiben  y  so  gehört  unter  andern  auch  mit  dazu,  dass  die  Stöcke 
geschwinder  mit  jedem  Monat  erscheinen.  Ihr  seit  nun  schon 
um  2  Stucke  zurück.  Die  müssl  ihr  gewiss  bald  nach  bringen. 
Aber  den  Druck  auswärts  besorgen  zu  müssen  giebt  hierin  schon 
fatale  Hindernisse.  Ich  wünsche,  dass  Ihr  in  Göttingen  besser, 
als  in  Wernigerode  fahren  möget.  Kann  ich  euch  dort  worin 
dienen  so  commandirt  nur  dreüst.  Mancherley  so  ich  noch  zu 
sagen  hätte  verspare  ich  auf  eine  mündliche  Unterredung  .  .  . 

Auf  den  zu  erwartenden  Aufsatz  über  meine  Übersetzung 
bin  ich  sehr  begierig.  Vielleicht  ist  es  der  nehmliche,  der  schon 
in  die  Berliner  Monatsschrift  sollte.  Wisst  Ihr  den  Nahmen  des 
Verfassers,  so  könnt  ihr  ihn  mir  wohl  sagen.  Nächstens  will 
ich  auch  das  Halemsche  Manuscript  schicken. 

Übrigens  sehe  ich  wohl,  dass  wenn  ich  auch  der  Engel 
Gabriel  selber  wäre,  so  werde  ichs  doch  wohl  nicht  allen  und  in 
allen  Stücken  recht  machen  können.  Denn  der  eine  lobt,  was 
der  andere  tadelt.  Also  wird  wohl  doch  am  Ende  keine  andere  als 
meine,  keviesweges  aber  eine  Übersetzung  des  fast  nirgends  mit 
sich  selbst  einigen  Publikums  heraus  konmien.  Das  meiste  muss 
ich,  wenn  ich  meiner  Arbeit  nicht  mehr  Schaden  als  Vortheil 
stiften  will,  zu  einem  Ohr  hinein,  zum  andern  wieder  heraus 
gehn  lassen. 

Ich  danke  euch  übrigens,  liebster  G.,  für  die  abermals  über- 
sandten 3  Ldor.  Ob  mir  gleich  dergleichen  Gäste,  besonders  in 
diesem  Zeitpunct,  allemal  sehr  willkommen  sind,  so  lauft  mirs 
doch  immer  dabey  brühheiss  über  die  Haut,  wenn  ich  bedenke, 
dass  das  Loch  in  eurem  Beutel  dadurch  immer  tiefer  wird,  und 
noch  nicht  vergewissert  bin,  dass  es  sich  ganz  wieder  anfüllen 
werde.  Ja,  könnte  ich  erst  von  Euch  die  tröstliche  Versicherung 
vernehmen,  dass  Ihr  mir  das  vom  Profit  gäbet,  so  wollte  ichs 
mit  leichtem  Herzen  hinnehmen.  —  Ich  erstaune,  dass  ihr  schon 
bald  3000  rth.  in  die  Entreprise  gesteckt  habt;  und  ahnde  dabei 
Ökonomische  Fehler,  die  ihr  vermutlich  selbst  schon  eingesehen 
habet,  und  entweder  nicht  abändern  könnet,  oder  künftig  abändern 
werdet.  Ein  Hauptfehler  scheint  mir  der  zu  seyn,  dass  Ihr  allzu 
genereüs  seyd,  und  zu  viel  fürs  Geld  gebt.  Vieleicht  auch  zu  viel 
Geld  für  die  Waare. 

Lebt  wohl,  Bester!  Ich  sehe  euch  gewiss  bald.*  Grüsst 
eure  Amalie.  GAB. 

Die  nächste  Nummer  66  ist  die  gedruckte  Anzeige  von 
Dorettens  Tod  (31.  Juli  1784,  vgl.  Strodtmann  Nr.  685)  mit 
einigen  geschriebenen  Worten: 

Lieber,  Ihr  verzeiht  mirs,  wenn  ich  Euch  jezt  und  auch 
noch  in  einiger  Zeit  nichts  mehr  sage.  Denn  ich  Armer  von  so 
langer   harter  Prüfung  aüscrst  an  Leib  und  Seele  Abgematteter 


452     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

bedarf  gar  sehr  einiger  Erholung.  Nach  dem  Begräbniss  meiner 
Entschlafenen  werde  ich  fürs  erste  nach  Götiingen  gehen,  und 
dann  zu  Euch,  vielleicht  eher,  als  Ihrs  erwartet. 

Ein  Antwortbrief  ist  nicht  vorhanden.    Ohne  bestimmte 

Veranlassung  trat  in  dem  brieflichen  Verkehr  der  beiden 

Freunde  eine  mehrjährige  Pause  ein. 

III.     Juli  178  8 —Juli  1793. 

Aus  dieser  letzten  Periode  des  freundschaftlichen  Ver- 
kehrs haben  sich  in  Goeckingks  Nachlass  nur  drei  Briefe 
Bürgers  erhalten;  dagegen  ist  eine  grössere  Anzahl  von 
Briefen  Goeckingks  nach  Bürgers  Tod  an  den  Schreiber 
zurückgelangt.  Beide  Freunde  hatten  in  der  Zeit  ihres  brief- 
lichen Stillschweigens  den  Wohnort  verändert.  Bürger  war 
Michaelis  1784  als  Privatdocent  nach  Göttingen  überge- 
siedelt; Goeckingk  war  1786  nach  Magdeburg  an  die  Eriegs- 
und  Domänenkammer  versetzt  worden.  Von  dort  aus  nimmt 
er  den  Briefwechsel  wieder  auf. 

67.  Goeckingk  an  Bürger. 

Magdeburg,  den  27.  Juli  1788. 

Lieber  Landsmann,  Freund  und  Gevatter! 
Da  Magdeburg  gerade  so  weit  von  Göttingen,  als  Göttingen 
von  Magdeburg  ist,  und  eben  so  viele  Posten  von  hier  dorthin 
als  von  dort  hieher  gehen,  so  wollen  wir  nicht  untersuchen,  an 
wem  die  Schuld  eigentlich  liegt,  dass  wir  ein  Paar  Jahre  troz 
den  Siebenschläfern  geschlafen  haben.  Wir  wollen  uns  lieber 
als  alte  gute  Freunde  gerade  auf  darin  theilen,  damit  Einer  dem 
Andern  keine  Vorwürfe  machen  kan ;  denn  viel  Ehre  macht  nun 
einmal  unser  Stillschweigen  uns  allen  Beiden  nicht.  Ich  mag 
mich  gar  nicht  entschuldigen,  weil  mein  eignes  Herz  in  diesem 
Augenblicke  selbßt  gegen  die  beste  Entschuldigung  noch  viel  ein- 
zuwenden haben  würde.  Aber  das  einzige,  lieber  Bürger,  lasst 
mich  sagen,  ohne  es  übrigens  für  eine  Entschuldigung  zu  nehmen : 
dass  ich  vom  ersten  Tage  meines  Hierseyns  an  bis  heute,  im 
Ganzen  genommen,  ein  gar  hundsföttisches  Leben  geführt  habe. 
Magdeburg  missfiel  mir,  je  näher  ich  es  kennen  lernte.  Das  ist 
ein  Volck,  das  weder  denkt,  lieset  noch  empfindet,  sondern  spielt 
und  isst,  nicht  einmal  trinkt,  welches  ich  noch  eher  verzeihen 
würde.  In  der  ganzen  Stadt  haben  nur  2  Männer  meinen  Kopf 
und  mein  Herz  zunächst  an  sich  gezogen,  der  Consist.  Rath  Funk 
und  der  Major  v.  Ernest,  Chef  eines  Fuisilier- Bataillons  das 
hier  in  Garnison  steht;  ein  redlicher  Schweizer,  von  vieler  Welt- 
und   Menschenkenntniss.      In  der  Familie  des   Abts  Resewiz  zu 


Saner,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      453 

Kloster  Berge  habe  ich  meine  angenehmsten  Stunden  zugebracht, 
denn  ich  lebte  mit  ihr  auf  einen  so  ungezwungnen  Fuss,  dass 
ich  gewöhnlich  erst  Abends  nach  8  Uhr  zu  ihr  hinaus  ging,  weil 
ich  selten  früher  mit  meinen  Geschafften  fertig  war.  Zum  Glück 
bin  ich  nicht  nur  in  herrschaftlichen  Angelegenheiten  viel  ab- 
wesend, sondern  auch  im  Februar  d.  J.  in  Privat-Angelegenheiten 
nach  Schlesien  verreiset  gewesen,  sonst  würde  ich  die  beständige 
Anstrengung  bey  so  weniger  Erholung  schwerlich  ohne  Nachtheil 
meiner  Gesundheit  ausgehalten  haben.  Ich  beschloss  gleich,  als  ich 
das  terrain  hier  kennen  gelernt  hatte,  nicht  eher  zu  ruhen,  bis  ich 
meine  Versetzung  von  hier  bewflrkt  haben  würde.  Aus  diesem 
Grunde  liess  ich  meine  Familie  in  Wülferode,  meinem  Landhause  bey 
Ellricb,  wo  sie  noch  jezt  ist.  Nur  ein  einziges  mal  hat  Amalia 
mit  ihren  beiden  Kindern  mich  hier  auf  3  Wochen  besucht;  ich 
aber  bin,  während  meines  Hierseyns,  zwar  3 mal  in  Wülferode, 
aber,  zusammen  genommen,  nicht  8  Tage  da  gewesen:  So  selir 
war  ich  durch  den  Dienst  beschränkt.  Wäre  mein  alter  Oncle, 
der  Gener.  Lieut.  Schwartz  zu  Neisse,  der  mich  seiner  Kränk- 
lichkeit wegen  im  Februar  zu  sich  kommen  liess,  um  mich  von 
der  Lage  seiner  Vermögens-Umstände  zu  unterrichten,  damals 
gestorben,  so  würde  ich  meinen  Abschied  genommen  haben. 
Jezt  ist's  besser,  dass  er  leben  geblieben  ist  und  dass  ich  meinen 
Zweck  erreicht  habe.  Ich  komme  als  Krieges-  und  Steuer-Rath 
nach  Wernigerode  und  trete  diese  neue  Stelle  den  Isten  September 
an.  Ich  werde  dort  ohngefehr  eben  so  hoch  als  hier,  etwa 
950  rth.  jährlich,  stehen,  aber  viel  unabhängiger  seyn  und  mehr 
Zeit  für  mich  übrig  haben,  so  dass  ich  wieder  mit  Freunden 
Briefe  wechseln,  das  interessanteste  der  neuern  Litteratur  lesen, 
und  wohl  gar  noch  einmal  anfangen  kann,  Verse  zu  machen. 
Die  Hohensteinschen  Städte,  folglich  auch  Ellrich,  gehören  mit  zu 
meiner  Inspection,  daher  ich  mich  öfter  zu  Wülferode  werde  auf- 
halten können;  auch  Euer  Geburtsort,  Aschersleben,  ist  meiner 
Inspection  bey  gelegt. 

Seht,  liebster  B.,  so  werde  ich  auf  meine  alten  Tage  noch 
glücklicher  als  ich  es  je  zu  werden  hofle,  denn  das  Glück  hatte 
mich  so  viele  Jahre  lang  bey  der  Nase  herumgeführt,  dass  ich 
natürlich  wohl  alles  Zutrauen  verlieren  musste.  Ich  freue  mich 
auf  meinen  Abzug  von  hier,  wie  ein  Galeerensclave  auf  den  Tag 
seiner  Befreiung.  Zwar  wird  mir  auch  in  Wernigerode  nichts 
geschenkt  werden;  allein  ich  bin  dort  doch  wieder  der  schönen 
Natur  und  solchen  Menschen  nahe  mit  denen  ich  mehr  als  mit 
den  hiesigen  Pasteten-Fressern  sympatisiren  kan.  Noch  vor  4 
Wochen  hätt  ich  eine  ansehnliche  Gehaltszulage  erhalten  können, 
wenn  ich  hätte  bleiben  wollen;  aber  die  Stelle  in  Wernigerode 
war  von  je  her  das  non  plus  ultra  aller  meiner  Wünsche. 

Mein  Fritz,  das  einzige  Kind  von  meiner  ersten  Frau,  ist 
seit  vorige  Weynachten  hier  in  Magdeburg  Frei-Corporal  bey  den 


454      Sauer,  Aus  dem  BriefVcchsel  zwischen  Borger  und  Goeckiogk. 

Fuisiliers.  Zwar  hat  mein  Bruder  jezt  ein  eignes  Regiment;  aber 
der  Junge  ist  erst  1 1  Jahre  alt,  und  folglich  zu  schwach,  um  als 
Husar  schon  dienen  zu  können.  Übrigens  haben  mich  alle 
Stipendien  in  uusrer  Familie  nicht  verführen  können,  ihn  den 
Studien  zu  widmen.  Das  härteste  Brod  in  unserm  Lande  isst 
man  im  Civildienste. 

Amaliens  Gesundheits-Umstände  haben  sich  zu  meiner  grossen 
Freude  sehr  gebessert.  Es  wQrde  um  mein  eignes  Leben  gethan 
seyn,  wenn  das  Weib  mir  stürbe.  In  der  ganzen  Well  hätte  ich 
keine  Frau  gefunden,  die  sich  so  ganz  in  meine  Launen  und 
Eigenheiten  zu  schicken  gewusst  hätte,  als  diese,  ich  lebe  zehn- 
mal glücklicher  mit  ihr  als  mit  ihrer  Schwester;  und  doch  war 
ich  auch  mit  der  vollkommen  zufrieden  bis  auf  die  Schwachheit 
dass  sie  einen  grossen  Hang  zur  Eifersucht  hatte.  Meine  beiden 
Kleinen,  1  Junge  und  1  Mädchen,  sind  allerliebste  Geschöpfe  und 
sehr  gut  gezogen.  Wie  glücklich  werde  ich  im  Schoosse  einor 
solchen  Familie  zu  Wernigerode  seyn. 

Elisa*)  ist  jezt  in  Berlin  und  geht  über  Leipzig  nach  Carlsbad; 
auf  der  Rückkehr  wird  sie  mich  in  Wülferode  besuchen.  Dann, 
oder  noch  eher,  müsst  Ihr  auch  dahin  kommen.  Ich  habe  eine 
unaussprechliche  Sehnsucht  mich  mit  Euch  recht  auszuplaudern. 
Das  geht  nun  durch  Briefe  nicht  an.  Zu  Pferde  könnet  Ihr  den 
Weg  in  Einem  Tage  füglich  machen  und  ich  hoffe,  Ihr  liebt  mich 
noch  genug,  um  die  Strapaze  nicht  zu  scheuen.  Wollte  der 
Himmel,  Ihr  wäret  Oberbürgermeister  in  Eurer  Geburtsstadt,  oder 
es  fügte  sich  so  dass  Ihr  es  werden  könntet.  Nichts  als  der  Tod 
soll  uns  trennen,  nur  kommt  mir  wieder  etwas  näher  dass  ich 
Euch  abreichen  und  festhalten  kann.  Goeckmgk. 

68.    Goeckingk  an  Bürger. 

Wernigerode  den  12*«°  October  1788. 
Liebster,  bester,  ältester  Freund!  Ich  habe  mehrere  Tage 
vergehen  lassen  und  mich  erst  durch  Reisen  und  Geschäfte  zer- 
streuen müssen,  ehe  ich  Euch  zu  antworten  im  Stande  war.  Es 
wäre  mir  unmöglich  gewesen,  gleich  nach  den  ersten  Eindrücken 
zu  schreiben.  Mein  ganzes  Herz  war  über  Eurem  Brief  in  mir 
zerronnen.  Auch  ich  bin  eine  arme  geplagte  Canaille  in  den 
lezten  2  Jahren  gewesen;  aber  das  ist  doch  gar  nichts  gegen 
Eure  verdammte  Lage.  Ich  hatte  doch  wenigstens  die  Genug- 
thuung,  mächtig  in  dem  Creise  zu  würken  worin  ich  stand,  und 
mich  völlig  geltend  zu  machen.  So  manchem  habe  ich  geholfen 
und  mir  selbst  eine  ruhige  unabhängige  Stelle  verschafft,  die 
immer  beneidet  worden  ist  von  allen  die  bey  der  Cammer  stehen. 
Doch,  lieber  alter  Freund!  Was  hilft  alles  winseln  und  pinseln; 
alles   Schelten    und  Schmälen   auf  die  Hallunken   und  Schurken 


'}  Elisa  von  der  Recke. 


Sauer,  Aas  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      455 

die  einem  den  Pass  verrennen,  oder,  statt  zu  helfen,  ihr  Pfeifchen 
im  Lehnstufale  rauchen,  den  Hamburger  Correspondenten  lesen 
und  sich  freuen,  wenn  die  Österreicher  Schläge  bekommen  haben. 
Das  bringt  einen  um  keinen  Schritt  weiter.  Ich  habe  über  eure 
Lage  hin  und  hergedacht.  Ich  weiss  nur  2  Fussstiege  vorzu- 
schlagen, auf  denen  Ihr  aus  dem  Moore  entrinnen  könntet,  worin 
Ihr  sonst  doch  endlich  ersticken  müsset,  wie  eine  Forelle  in  einem 
muddigen  Teiche.  Habt  Ihr  Lust,  das  academische  Leben  fort- 
zusetzen, so  hoffe  ich  durch  den  Kanzler  v.  Hoffmann  bewürken 
zu  können  dass  dieser  Euch  einen  Ruf  als  Prof.  ord.  eloq.  nach 
Halle  mit  400  rth.  Gehalt  vorerst  verschaffe.  Steht  euch  das 
nicht  an,  oder  sollte  diess  fehl  schlagen,  so  sagt  mir,  ob  Ihr  bey 
dem  Magistrat  in  Aschersleben  eine  Stelle  zu  haben  wünschtet? 
In  dem  Falle  will  ich  die  Glieder  für  mich  sondiren,  ob  sie  bey 
der  nächsten  Vacanz  Euch  ihre  Stimme  geben  wollen?  Wäret 
Ihr  nur  erst  im  Magistrat,  so  würde  Euch  die  Oberbürgermeister- 
Stelle  bey  Wingels  [?]  Absterben  höchst  wahrscheinlich  nicht  ent- 
gehen. In  dem  einen  wie  in  dem  andern  Falle  werde  ich  Euch 
gewiss  nicht  compromittiren ,  sondern  die  Sache  bloss  als  einen 
Einfall  von  mir  beschreiben,  als  einen  Wunsch,  mit  dessen  Er- 
füllung mir  ein  grosser  Gefallen  geschähe.  Schreibt  mir  hierüber 
Eure  Meinung.  Vom  9**°  bis  1 3**°  November  bin  ich  zur  Cantons- 
Revision  in  Aschersleben ;  vielleicht  kann  ich  schon  die  Trancheen 
eröffnen.  Soll  ich  den  Herzog  v.  Weymar  mit  ins  Spiel  ziehen? 
Soll  ich  auch  diesen  das  Project  für  mich  mittheilen,  damit  er 
Euch  den  Wälllenden  empfele?  Auf  Bollmanns  Stimme  könnet 
Ihr  im  voraus  rechneu. 

Ich  kann  Euch  heute  nur  einen  flüchtigen  Brief  ohne  Zu- 
sammenhang schreiben,  denn  ich  bin  im  Begrif,  nach  Quedlinburg 
zu  reisen.  Die  Prinzessin  Friderike,  Tochter  des  Königs,  hat  mir 
aufgetragen,  die  Verfassung  ihrer  Probstey  in  Quedlinburg  zu 
untersuchen  und  einen  Plan  zu  entwerfen,  wie  solche  am  Besten 
genuzt  werden  könne.  Das  ist  ein  verwirrtes  und  weitlaüftiges 
Geschafft,  mit  dem  ich  mehrere  Wochen  zu  bringen  kan.  Es 
kömmt  mir  viel  zu  früh  über  den  Hals,  denn  ich  bin  noch  lange 
nicht  mit  meiner  hiesigen  Einrichtung  und  Arbeit  aufs  reine. 
Seit  dem  !•*•"  September  bin  ich  hier,  noch  aber  habe  ich  keine 
ruhige  Stunde  gehabt.  Fünf  Geschäftsreisen  habe  ich  in  der 
kurzen  Zeit  machen  müssen,  mein  Hauswesen  ganz  von  neuem 
einrichten,  mich  in  ganz  neue  Geschäfte  einarbeiten.  Ach,  Bürger! 
Das  Leben  ist  zu  lang!  Wenn  man,  wie  der  Seidenwurm,  kurz 
nach  der  Hochzeit  stürbe,  so  wäre  das  der  beste  Zeitpunct,  da 
es  doch  einmal  gestorben  seyn  soll  und  muss. 

Die  doppelte  Wirlhschaft  die  ich  in  den  7  Vierteljahren  meines 
Aufenthalts  zu  Magdeburg  führen  musste,  das  zwiefache  Umziehen, 
das  Verkaufen  der  Möbeln  in  Ellrich  als  ich  nach  Magdeburg  ver- 
sezt  wurde,  das  Anschaffen    der  neuen  als  ich  hieher  kam,  und 


456      Sauer,  Aus  dem  Briefvrechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk. 

die  Einbusse  bey  der  Menge  von  Reisen  in  herrschaftl.  Angelegen- 
heiten:, das  alles  hat  mich  so  zurück  gebracht,  dass  ich  das 
liebste  aufgeben  muss,  was  ich  in  dieser  Welt  habe:  Mein  Land* 
haus!  Ich  hatte  es  so  ganz  ausgebauet,  so  niedlich  möblirt,  so 
bequem  eingerichtet,  dass  es  das  beste  in  einem  Umkreise  von 
mehreren  Meilen  war.  Und  ich  dachte,  dort  einmal  das  lezte 
Restchen  Leben  in  Apetits-Bischen  zu  verzehren.  Und  siehe!  es 
ist  ein  elendes  jämmerliches  Ding  um  den  ganzen  Civil -Dienst, 
wenn  man  zum  Stehlen  zu  ehrlich  ist. 

Seit  3  Wochen  bin  ich  mit  Weib  und  Kindern  (bis  auf 
Fritz,  der  als  Freycorporal  bey  den  Fuisiliers  in  Magdeburg  zurück- 
geblieben  ist,)  wieder  vereiniget.  Noch  habe  ich  sie  nur  bey 
Tische  gesehen;  die  übrige  Zeit  stecke  ich  in  meiner  Arbeits- 
Stube.  Indess  wird  es  nicht  immer  so  seyn.  Das  wäre  auch 
nicht  auszuhalten.  Wenn  ich  erst  mehr  Ruhe  haben  werde,  so 
hoffe  ich  hier  ein  recht  stilles  und  ziemlich  zufriedenes  Leben  zu 
führen 

Lieber  B.l  Durch  Euer  Programm,  das  übrigens  das  erste 
in  seiner  Art  in  jedem  Verstände  ist,  werdet  Ihr  Euch  die  Fa- 
cuItäts-Gelehrten  vollends  nicht  zu  Freunden  gemacht  haben  und 
Menschenschreck  wird  sich  durch  seine  Epigrammen  keine  Gönner 
erwerben.  Kurz,  für  Euch  ist  nichts  anders  zu  thun,  als  Euch 
selbst  das  consil.  abeundi  zu  geben. 

Aber  sagt  mir  nur,  woher  nehmt  Ihr  auf  der  Folterbank 
noch  die  Kräfte  zu  einer  solchen  Ballade ^^)  her  wie  die  lezte? 
Und  wie  geht  es  zu,  dass  ich  immer  Eure  lezte  für  die  beste  halte? 

Amalia  kränkelt  noch  immer,  ist  im  Ganzen  genommen  aber 
doch  gesunder  als  vor  3  Jahren.  Die  Kinder  sind  wie  die 
Schmerlen  im  Bache. 

Bedenkt,  Bürger  1  Dass  keiner  von  uns,  und  könnte  er  hun- 
dert tausend  Thaler  daran  wenden,  sich  noch  einen  geprüften 
Jugendfreund  dafür  zu  schaffen  im  Stande  wäre.  Lasst  uns  denn 
zusammen  halten;  was  haben  wir  von  den  übrigen  Men- 
schen, die  sich  den  Teufel  darum  kümmern,  ob  es  uns  wohl 
geht  oder  nicht,  und  ob  unsre  Kinder  barfuss  laufen  oder  Schuhe 
haben  die  mit  unserm  Schweisse  versohlt  sind.  Ermannet  Euch 
und  haltet  fest;  ich  lasse  gewiss  nicht  los  bis  Freund  Hayn  (ach 
ich  bin  ihm  erst  in  der  lezten  Zeit  gut  geworden)  mir  die  Hand 
abhauet.  Aus  Quedlinburg  sollet  ihr  einen  längern  Brief  haben. 
Ist^s  möglich  so  holt  die  Küsse  in  natura  ab  die  Amalia  Euch 
hier  auf  dem  Papier  schickt.     Adieu!  Goeckingk. 


**)  Damit  kann  nur  'Das  Lied  von  Treue'  gemeint  sein. 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      457 

69.  Goeckingk  an  Bürger. 

Wernigerode,  den  2.  November  1788. 

[Beantw.  am  6.  November  1788.] 

Burger  I  lieber,  trauter  B.  I  Ohne  Euch  und  Euer  künftiges 
Schicksal  im  Sinne  zu  haben  würde  mir  die  Reise  die  ich  am 
22.  October  (gerade  an  dem  Tage  wo  Ihr  Euren  Brief  an  mich 
schriebt)  nach  Halle  unternehmen  musste,  die  vermaledeyteste 
meines  ganzen  Lebens  gewesen  seyn.  Hört  nur  an.  Die  Woche 
zuvor  war  ich  auf  einen  Auftrag  der  Prinzessin  Friderike,  Tochter 
unsers  Königs,  zu  Quedlinburg,  wo  sie  Pröbstin  ist.  Ich  war 
noch  nicht  zum  lOten  Theile  mit  dieser  Commission  fertig,  als 
ich  durch  ein  Rescript  aus  Berlin  unmittelbar  angewiesen  wurde, 
mich  den  20'^^"  October  in  Halle  einzufinden,  wo  mir  und  einem 
Geheimen  Finanzrath  aus  Berlin  ein  Geschäft  aufgetragen  sey. 
Ich  erhielt  zugleich  Nachricht  von  Elisa,  sie  sey  aus  Leipzig  ab- 
gereiset  und  auf  dem  Wege  nach  Weymar  zur  Gräfm  Bernstorf 
(der  Brief  war  uiiterweges  in  Naumburg  geschrieben)  und  von  dort 
aus  werde  sie  den  19**°  höchstens  20 ■'^  zu  mir  kommen. 
Sogleich  schickte  ich  einen  Expressen  aus  Quedlinburg  nach 
Weymar  und  bat  Elisen  über  Hals  über  Kopf  zu  eilen,  damit  ich 
sie  noch  vor  meiner  Reise  fiach  Halle  sehen  mögte.  Ich  liess 
die  Commission  in  Quedlinburg  fahren,  ging  hieher  zurück  und 
erwartete  Eiisen's  Ankunft.  Aber  der  Bothe  brachte  mir  eine 
Antwort  von  ihr  dass  sie  nicht  reisen  könne,  weil  Sophie  ^  ^)  krank 
geworden  sey;  sobald  diese  das  Fahren  ertragen  könne  wolle  sie 
sich  auf  den  Weg  machen.  Ich  wartete  —  was  in  unserm 
Dienste  nicht  leicht  ein  anderer  wagen  konnte  —  bis  den  22'^^ 
und  siehe!  Abends  um  8  kam  Elise  an,  und  noch  ehe  der  Tag 
wieder  grauete  musste  ich  mich  von  ihr  trennen ,  denn  ohnehin 
waren  alle  meine  Relais  bis  Halle  bestellt.  B.!  Ihr  habt  ein 
Herz,  eine  solche  Lage  fühlen  zu  können.  Aber  mein  böser 
Genius  liess  es  dabey  noch  nicht  bewenden.  Er  schien  es  recht 
darauf  angelegt  zu  haben  sein  Müthlein  an  mir  zu  kühlen.  Als 
ich  nach  Halle  kam,  war  mein  Concommissarius  nicht  da.  Ein 
Brief  von  ihm  aus  Berlin,  der  früher  als  ich  eingetroffen  war, 
—  wundert  Euch,  dass  mich  nicht  der  Schlag  auf  der  Stelle 
rührte  —  war  an  dem  Tage  meiner  Ankunft  nach  Wernigerode 
geschickt  worden.  Das  Umkehren  durfte  ich  nicht  wagen.  Ent- 
weder konnte  der  Geh.  FinanzRath  einen  späteren  Termin  bestimmt 
oder  mich  ersucht  haben  diess  und  jenes  allein  vorzunehmen. 
Da  sass  ich  nun  wie  ein  Narr  und  erwartete  den  Brief  aus 
Wernigerode  zurück.  Dem  heiligen  Lorenz  kan  unmöglich  die  Zeit 
länger  auf  seinem  Roste  geworden  seyn.  Elise  in  meinem  Hause 
indess  zu  wissen!    —    warlich   ich   begreife  nicht,   wie  ich  ohne 

")  Elise  V.  d.  Reckens  Begleiterin  Sophie  Becker. 


458      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Gallenfieber  das  alles  überstanden  habe.     Der  Brief  kani  endlich. 
Die  Commission  ward  bis  zum  Frühjahre  ausgesezt.    Nun  plagte 
mich  auf  dem  langen  scheusslichen  Wege  nur  die  Ungewissheit, 
ob   ich    Elisa  noch    in    Halberstadt    treffen    würde.      Glücklicher 
Weise  kam  ich  am  Abend  vor  ihrer  Abreise'  von  dort  an.     Am 
Mittwoch  früh  ging  sie  nach  Braunschweig ;  ich  begleitete  sie  die 
ersten  2  Meilen,  fuhr  dann  links  ab  hieher,   arbeitete   die  ganze 
Nacht  durch  an  meinen  Geschäften,    ritt  Donnerstags   früh  nach 
Braunschweig,  überraschte  dort  Elisa  und  blieb  bis  gestern  früh 
bey  ihr;  Abends  war  ich  wieder  hier.     Noch  2  solche  glückliche 
aber  eben    so    kurze  Rendezvous   stehen    mir   bevor.     Ach!    sie 
eilt  diessmal  zu  sehr!     In  der  Mitte   des   künftigen    Monats  will 
und   muss   sie  wieder  zu   Hause   seyn.     Ich   fand   am  Mittwoch 
Abend  hier  Euren  lezten  Brief.     Wie  lieb  war  es  mir,  liebster  B. 
dass  ich  auf  meiner  Reise  beiden  Vorschlägen,  die  ich  Euch  that, 
schon  näher  getreten  war.     In  Aschersleben  sondirte  ich  auf  der 
Durchreise  einige  Glieder  des   Magistrats,   ohne  Euch   selbst   im 
mindesten    mit   ins   Spiel    zu    bringen.       Alle    fand   ich    meinen 
Wünschen    geneigt.      Der    Stadtrichter   Frauendienst    macht   bey 
seiner  zu  nehmenden  Schwindsucht  zwar  Hofnung  zu  einer  nicht 
mehr  entfernten  Vacanz.     Allein  wer  kan  die  Lebensdauer  eines 
solchen  Kranken  bestimmen  da  selbst  geschickte  Aerzte  sich  um 
ganze  Jahre  verrechnen.    Das  ist  der  Grund,  warum  ich  den  2*^ 
Vorschlag   weit   eifriger   betrieben    habe.      Der   Kanzler  in   Halle 
liebt  meine  Gesellschaft;   die  Kanzlerin   noch   mehr.     Ich  opferte 
ihm  daher  meine  ganze  Zeit  auf  und  habe  Niemand  sonst  diess- 
mal besucht.     Erst  am  3*®"  Tage   (ob  ich  es  gleich   schon   vor 
dem  Thore  auf  der  Zunge  hatte)  gedachte  ich,  wie  von  ohngefehr, 
des  Vorschlags.     Die  Frau  war  schon  zuvor  gestimmt.    Kurz,  B.! 
Ihr  werdet  wahrscheinlich,  höchst  w^ahrscheinlich,   erhalten 
was  Ihr  wünschet,   eine  Professur   der   Philosophie  mit  400  rth. 
Gehalt,  aber  nicht  in  Halle  (denn  bey  der  Universität  ist  jezt  kein 
Groschen   Fond  vacant)   sondern    in  Frankfurt  a.  d.  Oder,  wohin 
Gurlit  kürzlich  gekommen  ist.     Der  Kanzler  reiset  in    14  Tagen 
nach  Berlin;   in  4  Wochen  längstens  werdet  Ihr  wissen,    woran 
Ihr  seyd.     Ist  es  möglich   zu   machen,   so   macht  er  es   gewiss 
möglich.     Ihr  würdet   das  selbst  begreifen,   wenn  Ihr  hier  wäret 
und  ich  Euch  mündlich  den  ganzen  Zusammenhang  sagen  könnte. 
Gott  gebe,    dass   es   glückt.      Ihr ^  sollt  in  Frankfurt  nicht  lange 
bleiben.     Bey  einer  der  ersten  Vacanzen  würdet  Ihr  sicher  nach 
Halle  versezt. 

Mit  Elisa  habe  ich  viel  von  Euch  gesprochen.  Troz  Eurem 
Stillschweigen  liebt  Euch  das  herrliche  Weib  noch  eben  so  sehr ; 
so  auch  Amalia.  Ach  B. !  kommt  doch  ja  Weyhnachten  her, 
damit  ich  einmal  mein  Herz  ganz  ausschütten  kann  ;  eine  Er- 
leichterung, die  es  in  den  2  Jahren  welche  ich  auf  der  Veste 
Magdeburg  verloren  habe,  nicht  empfunden  hat.     Amalia  umarmt 


Sauer,  Aus  dem  Briefw^echsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     459 

Euch.      Adieu!     Ich    schmiere    diess   im   Fluge   und   muss  ab- 
brechen. Euer  treuer  G. 

Der  nächste  Brief  Goeckingks  vom  23.  November  1 788 
ist  bei  Strodtmann  Nr.  732  gedruckt,  in  der  Anmerkung 
dazu  auch  der  hinhaltende  Brief  des  Kanzlers  von  Hoffmann 
an  Goeckingk. 

70.  Goeckingk  an  Bürger. 

Wernigerode,  den  29.  December  1788. 

Nein,  liebster  B. !  ich  weiss  es  Euch  vielmehr  Dank,  dass 
Ihr  Euch  nicht  in  Gefahr  begeben  habt.  Ich  würde  mit  samt 
Amalia  keine  Stunde  ruhig  geworden,  wenn  ich  vorher  gewusst 
hätte,  um  welche  Zeit  Ihr  unterweges  wäret.  Aber  freilich  bin 
ich  über  den  hässlichen  Schnee  der  grössten  Freude  quit  gegangen. 
Mein  Weib  und  ich  würden  das  Wolthätige  Eures  Besuchs  um 
so  mehr  empfunden  haben,  da  drey  traurige  Wochen  vorauf  ge- 
gangen waren.  Fünfzehn  Tage  hatte  ich  in  Geschafften  im 
Hohensteinschen  zugebracht  und  Amalia  hatte  mich  begleitet,  um 
bey  der  Gelegenheit  ihre  alten  Bekannten  zu  besuchen.  Als  wir 
am  10**"  dieses  zurück  kamen,  fanden  wir  beide  Kinder  krank. 
Das  Mädchen  erholte  sich  bald,  aber  der  Junge  ward  mit  jedem 
Tage  schlimmer  und  fängt  erst  seit  einigen  Tagen  an  sich  zu 
erholen.  Während  der  ganzen  Zeit  bin  ich  nicht  aus  dem  Hause 
und  keinen  Abend  aus  der  Krankenstube  gekommen.  Hier  haben 
wir  nur  mit  Einer  Seele  Umgang ;  mit  Benzler,  der  aber  auf  dem 
Schlosse  wohnt,  und  dem  wir  nicht  anmuthen  konnten,  durch 
den  Ehlen  hohen  Schnee  zu  uns  zu  waten,  denn  jede  Spur 
wehte  der  Wind  gleich  wieder  zu.  Da  lagen  wir  denn  in  unsrer 
Winterhöhle  und  sogen  wie  die  Bären  an  unsern  eigenen  Tatzen ; 
aber  leider  war  das  eine  sehr  magre  Kost. 

Bey  dem  allen:  Ehe  ich  mich  entschlösse,  mit  dem  hiesigen 
Volcke,  sie  mögen  zu  Urlspergers  oder  Häfeli's  Sekte  gehören, 
Umgang  zu  halten,  lieber  würde  ich  mich  noch  einmal  zum  Um- 
ziehen entschliessen.  Aber  2  Jahre  will  ich  es  wenigstens  durch- 
aus mit  ansehen,  damit  die  Leute  nicht  sagen  sollen :  der  unruhige, 
unzufriedene  Mensch  kann  doch  nirgend  ausdauern.  Unter  den 
Stillen  im  Lande  lebe  ich  hier  gewiss  am  stillsten,  und  lasse 
mich  in  Wernigerode  nicht  öfter  sehen  als  der  Gross- Sultan  in 
Gonstantinopel.  Denn  ich  komme  eben  so  wenig  in  die  Kirche 
als  der  in  die  Moskee.  Aber  es  wird  ja  doch  endlich  wieder 
Sommer  werden,  und  dann  wird  es  seyn  als  wenn  ich  aus 
Kamtschatka  nach  Nitza  versezt  wäre.  In  der  That  ich  kenne 
wenige  so  schöne  Gegenden  als  die  hiesige. 

Der  Kanzler  von  Hoffmann  ist  seit  5  Wochen  schon  in 
Berlin,  hat  aber  noch  nicht  an  mich  geschrieben.  Indess  habe 
ich  Eure  Sache  bey  der  Frau  in  Erinnerung  gebracht.    Entschieden 


460      Saaer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

muss  sie  werden,  das  Resultat  falle  nun  aus  wie  es  wolle.    Man 
verliert  sonst  wenigstens  die  Zeit,  einen  neuen  Plan  zu  verfolgen. 

Habt  Ihr  keine  Nachricht  von  Meyer?  Wo  ist  er  jeztV 
Klettert  er  vielleicht  auf  den  Gebürgen  von  Hoch-Schottland  herum? 
Das  war  sonst  eine  seiner  Lieblings  Ideen.  Hätt  ich  nie  geheiratet, 
vielleicht  wäre  ich  auch  da.  Es  ist  mir  völlig  unbegreiflich,  wie 
ich  in  Deutschland  habe  bleiben  können,  ob  ich  gleich  noch  in 
einem  der  erträglichsten  Länder  lebe.  Ich  mögte  mir  jezt  noch 
Ohrfeigen  dafür  geben,  dass  ich  den  Einfall  nicht  ausgeführt 
habe,  als  Colporteur  mit  irgend  einem  Freunde  die  Welt  zu  durch- 
wandern. Gut!  ich  wäre  des  Dinges  auch  überdrüssig  geworden; 
aber  dann  war  6s  ja  noch  immer  Zeit  genug  ein  häusliches  Leben 
anzufangen;  und  was  ich  dann  im  Kopfe  hatte,  wäre  mir  lieber 
gewesen,  als  wenn  ich  die  ganze  Göttingsche  Bibliothek  darin 
hätte.  Seit  ich  in  Magdeburg  und  hier  bin  ist  mir's  ein  Ver- 
gnügen gewesen,  solche  Menschen  die  da  wähnen  aller  Welt 
Wissen  und  Können  bestehe  in  dem  was  sie  wissen  und  können, 
zu  überzeugen,  dass  ich  den  Dienst  so  gut  verstehe  als  sie  selbst, 
die  Schäckers  die  jedem  der  einmal  ein  Paar  Bogen  Verse  hat 
drucken  lassen,  kein  Körnchen  ihrer  allwissenden  Weisheit  zu 
trauen.  Aber  nach  gerade  verliert  diess  Vergnügen  seinen  Reiz 
und  ich  betreibe  das  Ding  mechanisch.  Desto  mehr  Erholung 
sollte  ich  haben,  und  —  desto  weniger  finde  ich  hier.  Kommt 
also  doch  ja  so  bald  Ihr  könnet,  aber  schreibt  vorher,  damit  Ihr 
nicht  vielleicht  3  oder  6  Meilen  noch  weiter  reisen  und  mich 
aufsuchen  müsset.  Adieu !  liebster  B. !  Amalia  und  ich  umarmen 
Euch.  G. 

71.    Goeckingk  an  Bürger. 

Wernigerode  den  2.  April  1 789. 

Immer  hofte  ich,  liebster,  theuerster  B.I  Ihr  würdet  uns 
ein  mal  überraschen.  Aber  vermuthlich  hat  Euch  der  scheusalige 
Winter  abgehalten.  Indess  sah  er  doch,  durch  das  Fenster  be- 
trachtet, oft  greulicher  aus,  als  er  im  Grunde  war,  wenn  man 
ihn  draussen  in  der  Nähe  besah.  Vor  ohngef&hr  4  Wochen  ritt 
ich  nach  Gosslar  und  Clausthal,  als  es  Wetter  zu  seyn  schien, 
dass  man  keinen  Hund  hätte  hinaus  jagen  mögen.  Aber  in 
meinem  Pelze,  und  dreymal  in  einen  Reutermantel  gewickelt,  war 
es  dennoch  auszustehen.  Vielleicht  habt  Ihr  Euch  durch  das 
Stubensitzen  mehr  verwöhnt,  Gevatter,  und  seyd  empfindlicher 
gegen  Wind  und»  Wetter.  Nun  gut!  Diese  Ausrede  werdet  Ihr 
nun  bald  auch  nicht  mehr  gebrauchen  können.  Aber  wenn  Ihr 
nun  kommen  wollet,  so  müsset  Ihr  vorher  schreiben,  damit  ich 
zu  Hause  seyn  möge,  denn  ich  habe  mancherley  Gommissionen, 
z.  B.  in  Quedlinburg,  in  Halle  etc.  aufgeschoben,  die  ich  nach  gerade 
abthun  muss. 


Saner,  Aus  dem  Briefwechael  zwischen  Bürger  and  Gk>eckingk.      46t 

Aus  Berlin .  habe  ich  schon  längst  die  tröstliche  Final-Reso* 
lution  erhalten»  dass  unser  Project  für  jezt  nicht  ausführbar  sey. 
Wenn  Ihr  hieher  kommt,  sollet  Ihr  die  Original -Correspondenz 
lesen,  und  werdet  dann  gleich  die  Ursach  von  selbst  einsehen, 
warum  ich  sie  nicht  aus  den  Händen  geben  konnte.  Hören  und 
Sehen  soll  Euch  über  alle  die  Anecdoten  vergehen,  die  ich  Euch 
erzählen  will.  Aber  freilich  ist  das  ein  schlechter  Trost  für  unsern 
nicht  erfüllten  Wunsch.  Und  die  Senatoren  des  Edl.  Raths  zu 
Aschersleben  haben  alle  ein  Katzenleben.  Zwey  davon  sind 
80  Jahr  alt,  schämen  sich  aber  dennoch  nicht,  noch  immer  älter 
zu  werden.  Es  ist  mir  noch  eine  Idee  eingefallen,  wovon  ich 
Euch  jezt  nur  die  Skitze  mittheilen  will;  hier  könnet  Ihr  das 
Detail  am  besten  erfahren;  also  kommt!  Der  regierende  Graf 
von  der  Lippe-Detmold,  der  in  8  Tagen  die  Academie  zu  Leipzig 
verlässt,  will  veniam  act.  suchen  und  die  Regierung  antreten. 
So  bald  diess  geschieht,  geht  Benzler  in  seine  Dienste.  Benzler 
ist  hier  bey  dem  Grafen  Cabinets-Secretär  und  Bibliothekar,  doch 
sind  beide  Stellen  nur  seit  etwa  2  Jahren  verbunden  worden. 
Die  Bibliothekar -Stelle  trägt  etwas  über  300  rth.  Hättet  Ihr 
wohl  Lust,  diese  anzunehmen,  sobald  sie  vacant  wird? 

72.    Goeckingk  an  Bürger. 

Wernigerode  den  13.  August  1789. 

Gerade  an  dem  Tage,  liebster  B.  ist  also  Elisa  bey  Euch 
gewesen,  wo  sie  hier  eintreffen  wollte,  und  statt  ihrer  eine  Sta- 
fette ankam,  die  unsre  Hofnung  zernichtete.  Nun!  es  mag 
darum  seyn!  Habt  Ihr  doch  euch  gefreuet,  indess  wir  hier  die 
Köpfe  sinken  Hessen,  wie  die  Gänse  wenn  es  blizt.  Desto  eher 
will  ich  Elisa  von  ganzem  Herzen  verzeihen,  dass  sie  mich  zum 
Narren  gehabt  hat.  Ich  wüsste  keinen,  dem  ich  so  gern  eine 
Freude  gönnte  als  Euch,  sollte  ich  auch  selbst  eine  darüber  ein- 
büssen;  jene  ist  doch  immer  ein  beträchtlicher  Ersatz  für  diese. 
Ich  würde  mich  weniger  über  Elisen^s  veränderten  Entschluss  ge- 
ärgert haben,  wenn  sie  gleich  geschrieben  hätte,  dass  sie  über 
Göttingen  gehe.  Aber  sie  gedachte  des  Weges  den  sie  von  Erfurt 
nach  Pyrmont  nehmen  würde,  mit  keinem  Worte.  Ich  hatte  mit 
meinen  Geschafften  mich  so  eingerichtet  dass  ich  sie  ein  Paar 
Tage  ganz  aussetzen  und  Elise  in  Ruhe  geniessen  konnte.  Es 
steht  dahin,  ob  sie  nun  nicht  zu  einer  Zeit  kommen  wird,  wo 
ich,  wie  im  vorigen  Herbst,  gar  nicht  einmal  zu  Hause  seyn  kann. 

Gern,  theurer  Landsmann,  Gevatter  und  Freund !  Gern  hätte 
ich  Euch  für  die  neue  Ausgabe  Eurer  Gedichte  eben  so  grossen 
Dank  gesagt,  als  sie  mir  grosse  Freude  gemacht  hat,  aber  wo 
solir  ich  Euch  mit  meinen  Briefen  suchen  ?  Bald  hörte  ich,  Ihr 
wäret  hier,  bald  dort.  Endlich  kam  die  Just.  Räthin  Bruns 
hieher,  nachdem  ich  kaum  von  einer  Reise  ins  Hohensteinsche  zu 

ViertoljahrBchrift  fOr  LittoratugeMhichte  III  81 


462     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

Hause  gekommen  war,  auf  der  ich  in  1 1  Tagen  nicht  1 1  Stunden 
wenn  ich  die  Nächte  ausnehme,  mein  eigner  Herr  ward.  Ich 
freuete  mich,  Euch  wieder  in  Göttingen  zu  wissen,  und  würde 
Euch  nun  geantwortet  haben,  wenn  ich  nicht  den  Nachmittag 
nach  der  Ankunft  des  rothen  Überrocks  mit  schwarzen  Auf- 
schlägen, nach  Quedlinburg  auf  Commission  hätte  gehen  müssen. 
Den  Vormittag  brachte  ich  mit  Spazierengehen  im  Thiergarten 
zu ;  das  dänische  Weibchen  kann  laufen  wie  eine  Markedenterin 
und  klettern  wie  eine  Ziege.  Den  Mittag  ass  sie  bey  mir.  Ich 
gab  ihr  in  ihrem  Wagen  das  Geleit,  weil  wir  auf  der  ersten 
Meile  einerley  Weg  hatten.  Ihr  wäret  grösstentheils  der  Gegen- 
stand unsrer  Gespräche;  sie  sprach  aus  vollem  Herzen  von  Euch. 
Ach  das  ist  so  oft  der  Fall  bey  Poeten  und  doch  habe  ich  nie 
gehört  dass  das  Einem  von  allen  etwas  geholfen  hätte. 

Ich  habe  den  Sommer  sehr  unruhig  zugebracht;  entweder 
war  ich  verreiset,  oder  hatte  das  Haus  voll  Fremde,  oder  in  auf- 
gesammleten  Geschafften  vom  frühen  Morgen  bis  in  die  späte 
Nacht  zu  thun.  So  wird  es  wohl  bis  Michälis  fortgehen.  Unter 
andern  ist  Nicolai  mit  seinem  2^*^  Sohne  und  Fast.  Goeze  aus 
Quedlinburg  (zu  denen  hernach  noch  der  Bei^ommissarius 
Bosenthal  aus  Nordhausen  kam)  3  Tage  bey  mir  gewesen.  Wir 
machten  zusammen  eine  Reise  auf  den  Brocken 

In  künftiger  Woche  gehe  ich  zu  Abnahme  der  Cämmerey- 
Rechnungen  nach  Aschersleben.  Ich  will  noch  einmal  mein  Heil 
versuchen,  ob  ich  die  Stimmen  zu  einer  Antwartschaft  für  Euch 
vereinigen  kan.  Indess  muss  es  geschehen  können,  ohne  Euch 
das  mindeste  zu  vergeben.  Mit  dem  windigen  Kanzler  mag  ich 
mich  nicht  weiter  einlassen.  Wenn  die  Frau  mit  ihm  gut  stünde 
(sie  kan  ihn  aber  nicht  leiden)  so  wollte  ich  durch  diese  bald 
meinen  Zweck  erreichen. 

Mein  schönes  Landhaus  bey  Ellrich  habe  ich  an  den  Dom- 
herrn von  Spiegel  abtreten  müssen,  weil  ich  die  Kosten  der  hie- 
sigen neuen  Einrichtung  sonst  nicht  bestreiten  konnte.  Indess  thut 
mir  das  nicht  sehr  leid,  denn  die  Art  und  Menge  meiner  Ge- 
schaffte hätten  mir  dennoch  nicht  erlaubt,  mich  oft  und  lange 
dort  aufzuhalten. 

Den  Adelsbrief  habe  ich  unsrer  Prinzessin  Friderike  zu  danken, 
deren  Angelegenheiten  als  Pröbstin  zu  Quedhnburg  ich  bisher 
besorgt  habe.  Sie  hat  sich  dadurch  ein  Geschenk  für  meine 
Mühe  erspart.  Mir  selbst  hilft  es  —  gerade  nichts!  Denn  auf 
Stellen  die  nur  Edelleuten  gegeben  werden,  mache  ich  keine 
Ansprüche.  Meinen  beiden  Jungen  aber,  wovon  der  eine  schon 
Soldat  ist  und  der  andre  es  werden  soll  so  bald  er  das  1  i  ^  Jahr 
erreicht  hat,  können  die,  allein  von  Narren  beneidete,  3  Budi- 
staben  gut  zu  statten  kommen.  Um  keinen  Preis  mögte  ich 
einen  von  meinen  Söhnen  dem  traurigen  Preussischen  Givildienste 


Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     463 

bestimmen,  dessen  Hauptcharacteristik  Pferde*Arbeit  und  Zeischen- 
Futler  ist 

Ich  werde  es  in  Zeiten  erfahren,  wann  Elise  hieher  kommen 
will  und  Euch  gleich  Nachricht  davon  geben.  (Es  ist  abscheulich, 
dass  ein  Brief  von  Göttingen  hieher  6  Tage  gdit !)  Ist  es  irgend 
möglich,  so  macht  den  Ritt  über  das  Gebürge.  Ich  liebe  Euch 
genug,  das  wisst  Ihr  Wohl,  um  posttäglich  einen  langen  Brief  an 
Euch  zu  schreiben,  aber  hab  ich  denn  Zeit?  Wie  viele  tausend 
Dinge  haben  wir  uns  von  den  Jahren  zu  sagen  worin  wir  uns 
nicht  gesehen  haben.  Mit  meinen  Reisen  ist's  am  Ende.  Wollet 
Ihr  mich  sprechen,  so  müsst  Ihr  zu  mir  kommen,  denn  ich  gehe, 
wie  Mahomeds  Berg,  nicht  aus  der  Stelle,  weil  ich  nicht  kan. 
Amalia  küsst  Euch.  Gehabt  Euch  wohl  alter  ehrlicher  B.  Mit 
Haut  und  Haar  ewig  und  drey  Tage  Euer  G. 

Für   die   folgenden   Jahre    versiegen    unsere    Quellen. 

Die  Rathstelle  in  Aschersleben  behielt  Goeckingk  für  Bürger 

im  Auge,   aber    ohne   Erfolg;    vgl.    Goeckingk    an   Gleim 

15.  November  1790  bei  Strodtmann  Nr.  835.    Erst  aus  dem 

Jahre  1792  liegt  wieder  ein  Brief  Bürgers  vor: 

73.    Bürger  an  Goeckingk. 

Göttingen  den  11.  September  1792. 
Dachte  ich  doch  wahrhaftig,  es  wäre  Euch  nicht  so  glück- 
lich ergangen,  wie  dem  verkappten  Veit  Weber,  Verfasser  der 
Sagen  der  Vorzeit,  den  die  Franzosen  nomine  et  omine  auf  deut- 
schem Grund  und  Boden  für  den  Refrain  eines  gesungenen  uralten 
französischen  Gassenhauers:  Vive  la  liberte,  vielleicht  brevi  manu 
aufgehänget  haben  würden,  wenn  ihm  nicht  das  damals  eben  in 
Coblenz  einrückende  Thaddensche  Regiment,  besonders  aber  dessen 
Feldprediger  Lafontaine,  zu  Hülfe  gekommen  wären,  wie  diess 
alles  nächstens  des  breiteren  gedruckt  zu  lesen  seyn  wird.  — 
Nun  Gottlob!  dass  ihr  wieder  auf  Eurem  Sopha  angelangt  — 
aber  nicht  Gottlob  I  dass  ihr  nicht  durch  Göttingen  oder  Wizen- 
hausen  gekommen  seid.  Ich  habe  auf  Euch,  wenigstens  auf 
Nachricht  von  Euch,  gelauert,  dass  ich  hätte  hart  und  schwarz 
werden  mögen.  Hättet  Ihr  mir  nur  den  Mund  nicht  vorher  so 
wässerig  gemacht,  so  hätte  ich  ja  diesen  Genuss  eben  so  gut 
entbehren  können  und  müssen,  als  ich  indianische  Vogelnester 
entbehren  muss  und  kann.  Noch  eins  I  Sanct  Paulus  oder  Petrus, 
der  Euch  den  Brief  dictirt  hat,  drückt  seine  Ohren  an  den  Kopf 
und  schreibt  nichts  davon,  dass  ihr  mir  den  Mund  zu  sonst  noch 
was  wässerig  gemacht  habt.  Wart  Ihr  es  nicht,  der  seine  milden 
Scrinia  für  den  Musenalmanach  aufthun  wollte?  Nun  wahrhaftig, 
ich  würde  .den  Markt  gar  artig  versäumt  haben,  wenn  ich  auf 
die  Erfüllung  dieses  Versprechens  hätte  warten  wollen.  Gut, 
dass   uns  die  poetischen  Finger  diessmahl   selbst  dergestalt  ge- 

31* 


464     Sauer»  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

juckt  haben,  dass  wir  den  Ranzen  haben  vollstopfen  können,  wie 
des  mehreren  aus  der  Beilage  bei  den  Nahmen  Bürger,  Menschen- 
schreck, Urfey,  Anonymus  zu  ersehen  ist,  womit  wir  feurige 
Kohlen  auf  Euer  sündiges  Haupt  zu  sammeln  gemetnet  sind,  ob 
es  vielleicht  für  die  Zukunft  etwas  frommen  möchte,  woran  wir 
jedoch  grossen  Zweifel  han.  Denn  wir  kennen  die  faulen  Poeten 
wohl,  sintemahlen  wir  wohl  selbst  je  zuweilen  hinter  dieser  Thür 
gestanden  haben,  und  wohl  gar  bald  auf  immer  dahinter  Posto 
fassen  werden.  Weil  denn  nun  eine  Krähe  der  andern  die  Augen 
nicht  auszuhacken  pflegt,  so  will  ich  Euch  auch  die  Eurigen 
lassen. 

Übrigens,  liebwerther  Herr  Gevatter,  würde  wohl  aus  dem 
rendezvous,  oder  nach  der  Campischen  Verdollmetschung  aus 
dem:  Stell  dich  ein!  in  Walkenried  diess  mahl  nichts  werden 
können.  Ich  könnte  mich  zwar  leicht  entschliessen,  gar  zu  euch 
nach  Wernigerode  diese  Ferien  zu  zuckeln  und  euch  wenigstens 
8  bis  14  Tage  auf  dem  Halse  zu  liegen,  wenn  ich  nicht  eine 
schon  in  den  Osterferien  unterbliebene  Reise  zu  meiner  Schwester 
bey  Weissenfeis  machen  müsste,  um  meinen  einst  in  Christlichen 
Unehren  erzeugten  Bengel  von  dort  abzuhohlen,  und  so  viel  wie 
möglich  ein  Gef&ss  zu  Ehren  aus  ihm  zu  bilden.  —  Ich  könnte 
Euch  nun  wohl  vorflunkern,  ich  wollte  in  den  Weihnachtsferien 
zu  euch  traben  ;  allein  Ihr  würdets  doch  wohl  schwerlich  glauben, 
dass  ich  bei  rauher  Witterung  und  üblen  Wegen  mich  übern 
Harz  machen  würde.  —  Sollte  sich  indessen  mein  Befinden  in 
dem  Masse  wie  bisher  weiter  bessern,  so  will  ich  doch  nicht 
ganz  dafür  schwören,  dass  ich  nicht  einen  rüstigen  Studenten - 
streich  in  meinem  45sten  Jahre  noch  mache.  Denn  in  der  That 
es  kommt  mir  seit  einigen  Wochen  vor,  als  sähe  ich  weit  besser 
aus,  und  fühlte  mich  auch  an  Leib  und  Seele  weit  besser,  als 
vor  25  Jahren.  Nur  was  mir  der  Teufel  in  den  Hals  gethaa 
haben  mag,  das  kann  ich  nicht  begreifen.  Meine  Stimme  ist 
freilich  weit  besser,  als  wie  Ihr  sie  zuletzt  vernommen  habt:  allein 
ich  kann  es  gar  nicht  zu  der  alten  reinen  metallenen  Sonorität 
wieder  bringen  —  Es  ist  doch  in  der  That  arg,  sich  mit  einer 
lumpigen  Heiserkeit  bey  sonstigem  Wohlbefinden  über  8  Monathe 
placken  zu  müssen. 

Dass  Madame  Hahn  nicht  mehr  in  Wolfenbüttel  ist,  das 
weiss  ich ;  dass  sie  sich  aber  wieder  nach  Stuttgard  begeben  haben 
sollte,  daran  ist  wohl  gar  sehr  zu  zweifeln.  Hier  sind  mir  zwe 
Sagen  von  ihr  zu  Ohren  gekommen,  eine,  dass  sie  sich  nach 
Wien  in  die  Dienste  Sr.  Kaiserl.  Majestät,  die  andere,  dass  sie 
sich  nach  Berlin,  vermuthlich  in  die  Dienste  des  Publicums  unter 
der  Direction  der  Madame  Schupiz  begebai  habe.  Letzteres  ist 
mir  das  wahrscheinlichste;  und  wenn  es  noch  nicht  geschehen 
seyn  sollte,  so  dürfte  es  doch  wohl  über  kurz  oder  lang  noch 
dazu  kommen.     In   der  That  sind  auch   ihre  Talente  da  ganz 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  nnd  Goeckiogk.      465 

allein  an  ihrer  rechten  Stelle.  Zum  ein  oder  zweimahligen  Versuch 
in  dieser  Qualität  kann  ich  sie  auch  Jedermann  mit  gutem  Ge- 
wissen empfehlen,  allein  keinem,  auch  meinem  Feinde  nicht,  zur 
beständigen  Mätresse,  viel  weniger  zur  Frau. 

Dieser  Brief  ist  einige  Tage  liegen  geblieben  und  geht  erst 
heute  den  23.  September  ab,*)  weil  ich  so  lange  auf  das  Exemplar 
des  Musen •  Almanachs  habe  warten  müssen,  zu  welchem  die 
Musicalien  immer  noch  nicht  fertig  waren,  und  ich  wollte  ihn 
euch  docli  gern  vollständig  schicken.  Ich  wünschte,  dass  Ihr 
Euch  ein  Stündchen  lang  daran  in  dem  erbaulichen  Wernigerode 
erbauen  möchtet.  Bei  Gelegenheit  könnt  Ihr  mich  einmslil  ein 
wenig  darüber  loben,  denn  es  ist  doch  manches  von  mir  darin, 
das  ich  für  ganz  artig  halte. 

Lebt  wohl,  lieber  alter  Schulkumpan  und  grüsst  von  mir 
Eure  Frau.  Auch  Benzlern  grüsst,  wenn  Ihr  ihn  sehet,  und 
bittet  ihn,  es  gelegentlich  bei  Herrn  D.  Kramer  in  Halberstadt 
zu  vermitteln,  dass  mich  dieser  nicht  für  einen  gar  zu  groben 
Menschen  halte,  weil  ich  ihm  auf  eine  sehr  freundliche  Zuschrift 
die  Antwort  bisher  schuldig  geblieben  bin.  Ihr  könnt  sagen: 
Ein  grober  ungezogener  Mensch  sey  ich  nicht;  aber  ein  un- 
glaublich nachlässiger  und  fauler  Briefsteller  u.  s.  w. 

Adio!  B. 

*)  ist  nicht  wahr.     Wird  erst  expedirt  den  3.  October. 

Abends  vor  meiner  Abreise  nach  Weissenfeis. 

74.    Goeckingk  an  Bürger. 

Wernigerode  den  7.  Januar  1793. 

Was  werdet  Ihr  gedacht  haben,  alter,  treuer  B.  dass  ich  so 
wenig  von  mir  hören  lasse,  als  die  Belagerer  des  Königsteins. 
Aber  Ihr  könnt  es  der  Versicherung  eines  Freundes  glauben,  der 
es  nunmehr  ein  viertel  Jahrhundert  schon  ist,  dass  ich  weiter 
keine  Zeit  für  mich  habe,  als  den  Sonntag,  und  auch  der  fallt 
nicht  selten  aus,  da  ich  bald  einen  ungewünschten  Besuch  be- 
komme, bald  in  PrivatgescbäfiFlen  eine  kleine  Reise  mache.  So 
entfernt  auch  der  Schauplatz  des  Krieges  von  uns  ist,  soviel 
macht  der  Krieg  selbst  mir  dennoch  zu  schaffen.  Bald  muss 
Fourage  für  die  Durchmärsche  zusammen  gebracht,  bald  sollen 
Fuhrleute  für  die  neuen  Montirungsstücke  geschafft,  bald  Mar- 
quetender  engagirt,  bald  Subjecte  zu  Unterbedienten  für  das 
Proviant- Amt  ausfindig  gemacht  werden;  kurz  es  vergeht  kein 
Tag  ohne  solche  Schererey,  und  alle  übrige  Geschaffte  haben 
dabey  immer  ihren  Fortgang.  Mein  Vater  muss  an  diesem  ver- 
dammten Metier  mehr  Freude  gefunden  haben  als  ich.  Hätte  ich 
auch  zehn  Jungen,  so  würde  ich  doch  zu  gewissenhaft  seyn,  nur 
Einen  dazu  zu  erziehen.     Es  ist  eine  traurige  Aussicht,  dass  ich 


466      Sauer»  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

mich  bis  an  den  lezten  Tag  meines  Lebens  so  werde  fort  quälen 
müssen,  ohne  jemals  die  Süssigkeit  des  Privatstandes  geschmeckt 
zu  haben.  Ehemals  fühlte  ich  das  so  nicht  Meiner  Geschaffte 
waren  weniger,  und  die  Zeit  die  mir  übrig  blieb  widmete  ich  der 
Litteratur;  darüber  vergass  ich  das  übrige.  Auch  waren  meine 
Arbeiten  von  der  Art,  das  höchstens  dem  Kopfe  dafür  ekelte, 
jezt  aber  leider  auch  dem  Herzen.  Recruten,  Pack -Knechte, 
Artillerie-Pferde  aus  zu  heben,  dabey  leide  ich  selbst  so  viel,  als 
der,  dem  der  Sohn  oder  das  Pferd  genommen  wird 

Wie  viel,  liebster  B.,  gäbe  ich  für  Einen  Abend  den  wir  hier 
an  meinem  Windofen  bey  einer  Schaale  Punsch  verplaudern 
könnten.  Ich  dächte  Euch  doch  manches  zu  sagen,  dass  Euch 
sehr  interessiren  würde,  und  Ihr  dort  schwerlich  erfahrt,  da 
Niemand  gern  seinen  Briefen  alles  anvertrauet.  Meine  Erfahrungen, 
meine  Kenntniss  der  Menschen,  meine  vierjährige  Einsamkeit, 
haben  mich  dahin  gebracht,  dass  ich  mich  Niemanden  mehr  ver- 
traue als  einem  alten  geprüften  Freunde. 

Wären  die  Magdeburgschen  Regimenter  nicht  nach  West- 
phalen  gegangen,  so  würde  ich  die  Ehre  gehabt  haben  sie  wieder 
nach  Coblenz  zu  führen  und  Euch  zu  sehen.  Ich  darf  unter  den 
jetzigen  Umständen  mich  nicht  von  der  Stelle  wegtrauen;  ist  es 
Euch  drum  nicht  möglich,  in  den  Oster-Ferien  herzukommen? 

Dank,  herzlichen  Dank  für  Euren  Musen -Almanach.  Euer 
Unmuth^^)  hat  treflich  gewürkt.  Aber  nun  dürfet  Ihr  vielleicht 
es  nicht  einmal  gut  wagen,  den  braven  Leuten  Gerechtigkeit 
wiederfahren  zu  lassen.  Wenn  Ihr  herkommen  wollet,  so  könnet 
Ihr  selbst  unter  meinen  ganz  vergessenen  Papieren  aussuchen, 
was  Euch  etwa  anständig  seyn  mögte.  Oder  erinnert  mich 
wenigstens  in  Zeiten,  dass  ich  es  selbst  thue.  Nach*  meiner 
Rückkunft  von  Coblenz  war  daran  gar  nicht  zu  denken. 

Habt  Ihr  Euren  Sohn  nun  würklich  bey  Euch?  Wozu  ist 
er  bestimmt?  Lasst  ihn  alles  in  der  Welt  werden,  nur  lasst  ihn 
nicht  studiwen.  Gebt  ihn  bey  ein  Bergwerk,  bey  einen  Forst- 
bedienten, einen  Markscheider,  einen  Baumeister,  Kaufmann, 
Salzwerk,  oder  wohin  Ihr  sonst  wollet,  nur,  wenn  Ihr  den  Jungen 
lieb,  und  seine  liebliche  Mutter  noch  nicht  vergessen  habt,  so 
lasst  ihn  nicht  studieren. 

Wie  steht  es  mit  Eurer  Stimme?  ich  will  hoffen,  dass  sich 
die  Heiserkeit  vermindert  hat ;  wo  nicht,  so  ist  wohl  nichts  übrig, 
als  dass  Ihr  ein  halbes  Jahr  lang  alle  Collegia  aussetzet ,  und 
diese  Zeit  mit  Übersetzen,  oder  mit  einem  Roman,  zubringt; 
beydes  würde  Euch  eben  so  viel  ein  tragen  .... 

Ein  traurigeres  Leben  als  hier,  habe  ich  nie  geführt.  Benzler 
ist  der  einzige  Mensch  den  ich  dann  und  wann  sehe.  Doch 
auch  er  verschafft  mir  wenig  Trost,  denn  er  ist  in  hohem  Grade 

")  Göitinger  Musenalmanach  anf  1793  S.  168. 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      467 

hypochondrisch.  Hier  ist  im  Orte  selbst  keine  Seele  nach  der 
ich,  troz  meinem  Mönchsleben,  jemals  das  mindeste  Verlangen 
gespürt  hätte.  Auswärtige  Freunde  zu  besuchen,  erlaubt  weder 
meine  Zeit  noch  mein  Beutel.  Selten  verirrt  sich  jemand  hieher, 
der  mich  besuchte,  und  denn  kömmt  er  vielleicht  gerade,  wenn 
mir  dringende  Geschaffte  auf  dem  Halse  liegen.  Hier  ist  sogar 
nicht  einmal  ein  öffentlicher  Ort,  wo  man  sich  eine  Stunde  er- 
holen könnte.  Was  ich  am  mehrsten  vermisse  ist  Umgang  mit 
Frauenzimmern.  In  den  lezten  Jahren  hatte  ich  mich  so  daran 
gewöhnt,  dass  er  mir  zum  Bedurfniss  geworden  war.  Amalia 
ist  immer  kränklich,  immer  niedergeschlagen.  Daher  komme  ich 
fast  gar  nicht  von  meiner  Stube.  Bey  dieser  Lebensart  werde 
ich  vor  der  Zeit  alt  und  grau.  Die  einzige  Freude,  die  ich  hier 
habe,  sind  meine  Kinder,  ein  Mädchen  von  10  Jahren,  und  ein 
Junge  von  8  Jahren  ;  beyde  von  Leib  und  Seele  schön.  Ihre  Er- 
ziehung kömmt  mir  theuer  zu  stehen,  weil  der  Ort  selbst  gar 
keine  Hülfsmittel  gewährt.  Den  Jungen  werde  ich  im  Frühjahre 
zu  einem  Landprediger  bey  Marburg  schicken,  der  Benzlers 
Söhne  erzieht.  Für  meine  Bibliothek ;  mein  Vergnügen,  kann  ich 
nichts  mehr  thun.  Alles  dieses  würde  ich  aber  wenig  oder  gar 
nicht  empfinden,  wenn  mein  Herz  liebte  und  geliebt  würde.  Aber 
daran  ist  hier  und  in  meiner  jetzigen  Lage  gar  nicht  zu  denken. 
Ich  habe  also  mein  Gutes  in  aller  Absicht  genossen,  und  bin 
nun  nur  noch  da,  mich  für  Andre  zu  placken.  Sollte  ich  es  für 
mich  selbst  auf  diese  Art  thun,  so  würde  ich  lieber  nach  Pen- 
sylvanien  gehen  und  irgend  eine  Bergspitze  mit  einer  schönen 
Aussicht,  urbar  machen  .... 

Ich  umarme  Euch  von  ganzem  Herzen,  und  wünsche  mir 
weiter  nichts  als  das  Glück,  Euch  hier  in  meinen  verschwiegenen 
vier  Wänden  an  meine  Brust  zu  drücken.  Das  allein  könnte 
mich  auf  eine  geraume  Zeit  mit  meinem  Sclaven-Leben  aussöhnen, 
und  vergessen  machen,  dass  ich  saurer  Brod  esse,  als  der  Tag- 
löhner  in  meinem  Holzstalle.    Adio  redlicher  6.    Bis  in  den  Tod 

Euer  treuer  G. 

Der  Brief,  mit  dem  Goeckingk  endlich  wieder  Beitrage 
zum  Musenalmanach  übersandte,  ist  bei  Strodtmann  ge- 
druckt (Nr.  875,  16.  März  1793).  Auf  beide  antwortet 
Bürger  in  folgendem  Schreiben: 

75.  Bürger  an  Goeckingk. 

Göttingen,  den  9.  April  1793. 

Auf  Euren  vorletzten  Brief,  trauter  G.,  der  Gott  weiss  wo 
und  wie  lange  schon  unbeantwortet  da  liegt,  hatte  Euch  mein 
Herz  so  viel  und  mancherlei  zu  sagen,  dass  die  faule  Hand  sich 
fast  scheuete,  es  zu  Papier  zu  bringen.  Denn  wenn  diese  abge- 
schüttelt hat,   was   ihr  auf  die  Nägel  brennt,   dessen  doch  der 


468      Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  ond  (jk>eckingk. 

täglichen  Nahrung  und  Nothdurfl  wegen  oft  ziemlich  viel  ist,  so 
lässt  sie  das  übrige  so  sachte  angehen,  dass  es  oft  gar  nicht 
—  angeht.  Ich  darf  jetzt  jenen  Brief  nicht  hervorholen,  weil  er 
mir  zu  viel  Stoff  aufrätteln  würde,  den  ich  doch  nicht  verarbeiten 
könnte.  Das  würde  mir  dann  fatal  seyn ;  und  darüber  möchte 
ich  leicht  meinen  Brief  wieder  auf  eine  gelegenere  Zeit,  die  am 
Ende  gar  nicht  kommt,  hinausschieben.  Ich  halte  mich  also 
bloss  an  Euren  letzten  mit  Versen  begleiteten  Brief.  Denn  was 
ich  auf  Verse  zu  sagen  weiss,  wenn  sie  auch  gleich  von  dem 
Engel  Gabriel,  ja,  was  das  höchste  ist,  von  mir  selbst  wäreny 
das  ist  so  viel,  als  sich  noch  allenfals  übersehen,  und  von  einer 
faulen  Hand  bestreiten  lässt.  Wer  hätte  das  vor  diesem  gedacht, 
dass  es  mit  einem  poetischen  Ghristenmenschen  so  weit  kommen 
könnte?  Ich  kann  nicht  begreifen,  wie  andere,  z.  E.  Gleim,  das 
Versmachen  bis  ins  höchste  Alter  hinein  noch  so  con  amore 
treiben  können.  Wenn  es  nicht  Noth  halber  geschähe,  so  sähe 
ich  keine  po§tische  Zeile,  nicht  einmahl  von  mir  selbst,  noch  an. 
Wundert  Euch  also  nur  nicht,  wenn  mir  Eure  letzte  Sendung 
nur  insofern  willkommen  ist,  als  ich  dadurch  mehrere  Seiten 
des  künftigen  Musen-Aimanachs  auf  eine  honorige  Art  anfüllen 
und  der  Sammlung  vor  dem  verslustigen  Publikum  ein  stattlicheres 
Ansehn  verschaffen  kann.  Mich  selbst  interessirt  es  unendlich 
mehr,  was  ihr  mir  in  ehrlicher  Hausmannsprosa  von  Euren  tag? 
liehen  Lebensbegegnissen  aus  Eures  Herzensschrein  mit  zu 
theflen  habt.  Lieber  G.,  woher  kömmt  das?  Kömmt  es  daher, 
weil  ich  alt  werde?  Das  denke  ich  bisweilen,  und  es  wandelt 
mich  eine  kleine  Unruhe  deswegen  an.  Gleichwohl  fühle  ich 
mich  in  vielem  Betracht  oft  noch  so  jugendlich,  als  vor  30  Jahren, 
und  wenn  ich  nicht  durch  meine  Kinder  eines  andern  belehrt 
würde,  so  würde  ich  mir  bisweilen  einbilden,  ich  hätte  soeben 
meinen  ersten  Ausflug  gethan,  und  hätte  die  ganze  Lebensbahn 
noch  vor  mir.  Ich  bin  daher  fast  mehr  geneigt,  diese  Umstim- 
mung  dem  politischen  Zeitlaufe  zu  zu  schreiben,  der  mich  un- 
widerstehlich mit  sich  fortreisst.  Walirlich  kein  Liebes  Abenteuer 
hat  je  mein  ganzes  Wesen  so  sehr  in  sich  hinein  verstrickt,  als 
das  gegenwärtige  grosse  Weltabenteuer,  von  welchem  ich  keinen 
Ausgang  sehe,  ja  nicht  einmal  zu  ahnden  im  Stande  bin.  Ihr 
werdet  es  nunmehr  schon  aus  dem  Gerüche  abnehmen,  wo  der 
Hund  bei  mir  begraben  liegt.  Das  ganze  Cadaver  will  ich  Euch 
nicht  weiter  aufdecken,  da  wir  in  Zeiten  leben,  in  welchen  Einen 
so  gern  alles,  was  eine  Nase  hat,  anschnüffelt,  und  die  Ketzerei  gar 
oft  auf  eine  eben  so  gründliche  Weise  herausgebracht  wird,  als 
die  Kinder  es  mittelst  des  Reimes:  Allhier  auf  dieser  Bank,  ist 
ein  grosser  Gestank  etc.  herausbringen,  wer  von  ihnen  etwas  hat 
streichen  lassen. 

Euch,  liebster  Schulkumpan,  auf  ein  Paar  Tage  zu  sehen 
und  zu  sprechen,    würde  uns   beiden    eine  höchst  erspriesslichc 


Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.      469 

Blut-  und  Magenreinigung  seyn.  Ach!  Wie  wollten  wir  uns 
einander  so  schön  den  Kopf  halten  und  nach  Herzenslust  vomiren ! 
Aber  der  Henker  weiss,  wie  und  wenneher  das  möglich  zn  machen 
steht.  Ich  habe  mich  in  eine  politische  Kannengiesser-Entreprise^') 
eingelassen,  die  zwar  ein  erkleckliches  ein  bringet,  mich  aber 
auch  vor  der  Hand  gar  sehr  an  Ort  und  Stelle  fesselt.  Gleich- 
wohl gebe  ich  die  Hoffnung  noch  nicht  auf,  vielleicht  in  den 
Pfingstfeiertagen  einen  Ritt  zu  Euch  machen  zu  können.  Ist  es 
thunlich,  so  gebe  ich  Euch  zeilig  vorher  Nachricht  von  meiner 
Überkunfi. 

Eure  häusliche  Lage,  so  wenig  es  auch  ist,  was  Ihr  mir 
davon  meldet,  kann  ich  mir  so  wahr  und  lebendig  vorstellen, 
als  ob  ich  mitten  drin  gewesen  wäre.  In  solchen  Fällen  thut 
Einem  nichts  so  wohl,  als  wenn  Einem  ein  alter  treuer  Kumpan 
von  Zeit  zu  Zeit  den  Kopf  hält.  Gott  weiss!  Wie  mich  ver- 
langet. Euch  diesen  Liebesdienst  zu  erweisen.  Hort,  lieber,  wir 
sind  beide  ein  Paar  Burschen,  die  eigentlich  nie  hätten  heirathen 
sollen;  und  gleichwohl  habet  Ihrs  zweimahl  und  ich  gar  drei- 
mahl gethan.  Dass  ichs  zum  vierten  mahl  nicht  thue,  das  scheint 
mir  zwar  eine  ausgemachte  Wahrheit  zu  seyn,  indessen  der  Teufel 
geht  umher,  wie  ein  brüllender  Löwe.  Wer  weiss  wann,  wo, 
wie  er  einen  nicht  doch  am  Ende  verschlinget.  Ich  möchte  schier 
sagen,  ich  sehnte  mich  jetzt  mehr  nach  Liebe,  als  je  in  meinen 
Jüngern  Jahren.  Mein  Glück  ist,  dass  die  Leibes-  und  Seelen- 
gestalten ,  die  meiner  Fantasie  vorschweben ,  mir  nicht  leicht  in 
der  Wirklichkeit  begegnen  werden.  In  Jüngern  Jahren  nimmt 
man  leichter  mit  dem  vorlicb,  was  Einem  täglich  die  Sinne  dar- 
bieten. Ob  man  nun  gleich  bei  so  bewandten  Umständen  manchem 
Lebens  Ungemach  enthoben  bleibt,  wie  ich  denn  wirklich  jetzt 
ein  ganz  ruhiges  Leben  in  aller  Gottseligkeit  und  Ehrbarkeit 
führe:  so  ist  es  doch  auch  auf  der  andern  Seite  unbehaglich, 
noch  so  oft  zu  hangen  und  zu  verlangen,  ohne  rings  um  sich 
her  etwas  zu  sehen,  wonach  man  hanget  und  verlanget.  Denkt 
man  sich  in  einer  solchen  Stimmung  etwa  mit  einem  interimistischen 
Abenteuer  zu  helfen,  so  ist  man  gar  übel  berathen.  Denn  das 
wird  einem  gar  bald  zur  allerdrückendsten  Last,  und  man  ist  zu 
gut  müthig,  sich  das  merken  zu  lassen.  Zu  lieben,  ohne  wieder 
geliebt  zu  werden,  ist  zwar  ein  bitleres  Kraut,  aber  der  Genuss 
desselben  ist  noch  lange  nicht  so  widerlich,  als  das  fatale  Süss- 
holz,  geliebt  zu  werden  und  nicht  wieder  zu  lieben,  ohne  diess 
sich  merken  lassen  zu  dürfen.  So  lange  man  jung  und  thätig 
ist,  gelinget  Einem  in  diesem  Falle  leicht  ein  bischen  Spiegel- 
fechterei ;  allein  in  unsern  Jahren  ist  man  nicht  sonderlich  mehr 
dazu  aufgelegt;  sie  misslinget;  man  wird  alle  Augenblick  auf 
dem    fahlen   Pferde   ertappt,    und   o  weh!    wie  wird   man  dann 

• 

^*)  Seine  Befcheiligung  an  Girtanners  Politischen  Annalen.  ^ 


470      Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  iwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

kuranzt!  Man  sollte  nun  denken  dergleichen  Erfahrungen  und 
Betrachtungen  mussten  Einen  weise  machen ,  sich  vor  jedem 
Interim ,  wie  vor  dem  Fleckfieber  zu  hüten ,  und  gleichwohl  — 
o  Goeckingk,  man  wird  in  seinem  Leben  nicht  weise  .... 

76.    Goeckingk  an  Bürger. 

Wernigerode  den   19.  April  1793. 

Das  hat  Euch  ein  guter  Genius  eingegeben,  lieber  B.  mir 
jezt  zu  antworten;  8  Tage  später  würde  Euer  Brief  ein  Viertel- 
jahr hier  gelegen  und  auf  meine  Rückkunft  aus  Pohlen  gewartet 
haben.  Ja  ja!  aus  Pohlen!  Denn  in  8  Tagen  muss  ich  nach 
Posen  abgehen^  um  dort  die  neuen  Finanz  -  Einrichtungen  auf 
Preussischen  Fuss  machen  zu  helfen.  Von  Berlin  aus  begleite 
ich  den  Minister  Voss.  Ich  werde  erst  gegen  Ende  des  Juli 
wieder  zurück  kommen.  Schade  dass  mein  Weg  nicht  abermals 
über  Göttingen  geht.  Dass  ich  zu  einer  solchen  Commission  nicht 
die  entfernteste  Veranlassung  gegeben  habe,  könnet  Ihr  leicht 
denken.  Troz  meiner  24jährigen  Dienstzeit  ist  mein  moralisches 
Gefühl  noch  unverändert  das  nämliche  mit  dem  ich  hinein  trat, 
ja  mir  kömmt  es  vor,  als  wenn  es  sich  noch  eher  verfeinert 
hätte.  Ungern  gehe  ich  hin  wo  ich  (das  kan  ich  wohl  denken) 
ungern  werde  gesehen  werden.  Aber  zwey  Gründe  haben  mich 
bestimmt  diesen  Auftrag  nicht  abzulehnen.  Einmal  halte  ich  es 
für  vernünftig,  wenn  ich  bey  dieser  Gelegenheit  mehr  gutes  zu 
würken  suche  als  ein  andrer  vielleicht  Lust  oder  Kraft  haben 
mögte,  und  im  Anfange  lässt  sich  vielen  Dingen  vorbeugen;  ist 
die  Sache  aber  einmal  im  Zuschnitt  verdorben,  so  hält  es  sehr 
schwer,  sie  hinterher  abzuändern,  wenigstens  in  unsrer  Verfassung. 
Oberdiess  musste  ich  fürchten,  dass  man  mich  hier  ewig  hätte 
sitzen  lassen,  wenn  ich  mich  diesem  eben  so  wichtigen  als  müh- 
samen Geschafft  nicht  hätte  unterziehen  wollen.  Und  doch  möchte 
ich  mein  Leben  lieber  auf  einer  der  Südsee -Inseln  als  hier  in 
Wernigerode  beschliessen.  Seyd  übrigens  nicht  bange,  dass  ich  in 
Pohlen  (oder  Süd-Preussen  wie  es  künftig  heissen  wird)  bleiben 
mögte.  Es  müsste  mir  ausserordentlich  gut  geboten  werden  und 
Posen,  seine  Menschen  und  Gegend,  wenigstens  mir  nicht  mis- 
fallen,  wenn  ich  mich  entschliessen  sollte,  so  weit  umzuziehen. 
Doch  hoffe  ich  auf  alle  Fälle,  mir  durch  diesen  Auftrag  eine 
andere  und  bessere  Stelle  zu  verdienen.  0  dass  ich  Euch  doch 
noch  einmal  an  mich  heran  ziehen  könnte,  damit  wir  unsre  alten 
Tage  mit  einander  verplauderten  bis  uns  der  Mund  mit  Erde 
gestopft  mrd. 

In  Berlin  werde  ich  mich  nur  Einen  Tag  aufhalten.  Von 
dort  aus  erwartet  also  keine  Nachricht  von  mir;  aber  in  Posen 
oder  Gnesen  wird  sich  ja  wohl  ein  halbes  Stündchen  für  meinen 
ältesten  und  treuesten  Freund  den  Gcscliäfflen  abzwicken  lassen. 


Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk.     47 1 

Euer  Geständniss,  1.  B.,  in  pto.  der  Versuacherey  ist  mir  hundert 
mal  lieber  als  wenn  Ihr  meine  Verslein  noch  so  schön  gereimt 
gefunden  hättet.  Warum  wir  keinen  Geschmack  mehr  an  der 
leidigen  Poesie  finden,  das  erklärt  sich  so  leicht  1  Dagegen  sollte 
es  mich  sehr  wundern ,  wenn  Voss  z.  B.  jemals  aufhören  sollte, 
in  Versen  und  was  dem  anhängig  ist,  zu  leben,  zu  weben  und 
zu  seyn.  Eine  einzige  Depesche  von  Dumouriez  interessirt  mich 
mehr,  als  Vossens  schönste  Hexameter  oder  Ramlers  pomphaf- 
teste Ode.  Hebt  mir  ja  das  Lied  von  Christianen  ^^)  auf,  damit 
ich  das  Original  wieder  erhalte ;  Ihr  habt  vergessen  es  Eurem 
Briefe  beyzufiigen 

Für  die  Gesundheit  meines  Cörpers  und  die  Zerstreuung 
meines  Gemüths  wird  die  Reise  ganz  wolthätig  seyn.  Ach  ich 
habe  wieder  ^/4^®*  Jahre  auf  meinem  Stäbchen  gesessen  und 
täglich  gefühlt  dass  es  nicht  gut  sey,  wenn  der  Mensch  allein 
ist.  Und  doch  konnte  ich  nicht  einmal  aus  dem  Hause  gehen, 
um  nur  auf  Einen  Abend  nicht  allein  zu  seyn.  Aus  diesem  un- 
seligen Zustande  ist  für  mich  keine  andre  Rettung,  als  dass  ich 
ganz  von  hier  wegziehe,  und  mich  in  einer  ganz  neuen  Situation 
auf  einen  ganz  neuen  Fuss  mit  A.  setze.  Mein  einziges 
Labsal  in  dieser  Wüste  ist  die  Rück  Erinnerung  an  glücklichere 
Tage  und  die  Briefe  alter  Freunde,  denn  neue  mag  ich  nicht 
haben,  wenn  auch  Castor  und  Pollux  mir  zu  Gefallen  vom  Himmel 
herab  steigen  oder  Hr.  Eurialus  sei.  um  meiner  willen  mit  samt 
Nisus  wieder  aufwachen  wollte. 

Adieu  liebster  B.  denkt  zuweilen  an  mich,  wenn  ich  unter 
den  Polacken  sitze  und  in  ihren  Gesichtern  die  heimliche  Begierde 
lese,  dass  sie  mich  mögten  rein  ausschmieren  dürfen.  0  wie 
viel  Stoff  zum  Denken  und  zum  Empfinden  giebt  unsre  Zeit! 
Doch  Gottlob!  ich  bin  mit  einem  Freiheits-Gefühl  gebohren,  das 
mich  überall  frey  seyn  lässt.  Dass  ich  ums  Geld  Acten  zu- 
sammen schreiben  muss,  ist  ja  nicht  meine  Schuld.  Für  die 
20  höchstens  30  Jahre  die  ich  noch  meine  kleine  Rolle  (Gott  sey 
Danck  dass  sie  unter  solchen  Umständen  nicht  grösser  ist!)  zu 
spielen  habe,  ists  der  Mühe  nicht  werth,  weit  aussehende  Plane 
zu  machen.  Ein  Freund  und  (wenn's  seyn  könnte)  eine  Freundin 
in  der  Nähe,  ist  alles  was  ich  mir  noch  wünsche. 

Ewig  Euer  treuer  G. 

77.    Bürger  an  Goeckingk. 

Göttingen  d.  18.  Juni  1793. 

Manche,  manche  Freude,  lieber  G.  habt  Ihr  mir  zwar  schon 
in  meinem  Leben  durch  Eure  Briefe  gemacht ;  aber  kaum  jemals 
eine  lebhaftere,   als  durch  Euren   letzten.     Meine  Freude  war  so 


>«)  Vgl.  Göttinger  Musenalmanach  auf  1794  S.  127  f.  und  Strodimann 
Nr.  875. 


472     Sauer,  Aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Bürger  und  Goeckingk. 

ausserordentlich,  dass  sie  mir  selbst  auffiel,  und  ich  mich  fragte: 
Aber  warum  freuest  du  dich  denn  gerade  jetzt  mehr,  als  beinahe 
jemals?  Ich  kann  es  mir  nicht  anders  erklären,  als  auf  folgende 
Weise.  Das  Andenken  an  jeden  süssen  Genuss,  den  mir  Eure 
Freundschaft  in  längst  verflossenen  Jahren  gewährte,  war  theils 
durch  Eure  persönliche  Anwesenheit  vorigen  Sommer,  theils  durch 
Eure  Briefe  wieder  aufgefrischt  worden;  ich  war  so  herzlich 
dazu  gestimmt,  das  alte  traute  Lied  mit  seinen  hundert  und  neun 
und  neunzig  Strophen  mit  Euch  wieder  a  capite  ad  oalcem  durch 
zu  leiern,  und,  so  Gott  wollte,  noch  hundert  und  neun  und 
neunzig  Strophen  dazu  zu  machen,  als  so  unerwartet  Euer  Brief 
mit  der  Nachricht  ankam:  In  8  Tagen  gehe  ich  nach  Pohlen, 
und  wer  weiss,  ob  ich  nicht  dort  bleibe.  — 

0  gute  Nacht  denn,  Goeckingk !  seufzte  ich  aus  schmerzlich 
beklommenem  Herzen.  Wie  kann  man  einander  so  weit  noch 
abrufen?  —  Lieber,  es  war  mir  zu  Muthe  nicht  anders,  als  ob 
ihr  mir  plötzlich  abgestorben  wäret,  da  ich  Euch  doch  so  gern 
vorher  noch  einmahl  hätte  sprechen  mögen.  Ich  setzte  mich  hin, 
um  Euch  noch  mit  einem  Briefe  einzuhohlen;  allein  plötzlich  Gel 
mir  ein :  Wer  weiss  in  wie  vielen  Monathen,  wer  weiss  ob  er  ihn 
jemals  erhält,  wer  weiss  ob  er  vor  Jahr  und  Tag,  wer  weiss, 
ob  er  jemals  wieder  darauf  antworten  kann.  Alle  diese  und 
noch  mehr  fatale  wer  weiss  lähmten  mir  Geist,  Herz  und 
Hand.  Ich  liess  die  Feder  fallen  und  seufzte:  Gute  Nacht, 
Goeckingk!  Zu  diesem  Seufzer  ist  die  ganze  S^eit  her  mein  Herz 
gestimmt  gewesen.  Wenn  Ihr  diess  mit  mir  erwäget,  so  wird  es 
Euch,  wie  mir,  bereif  lieh  werden,  warum  ich  mich  so  aus- 
nehmend über  den  letzten  Brief  freute.  Opposita  juxta  se  posita 
magis  elucescunt.  Denn  nun  krähet  mein  Herz  wieder:  Guten 
Tag,  lieber  Goeckingk!  Gott  Lob,  dass  Ihr  wieder  da  seyd! 
Nach  Berlin  läuft  ein  Brief  leicht  so  bald,  als  nach  Wernigerode, 
und  gesetzt  Ihr  wäret  auch  in  Posen,  so  kommt  mir  doch  in 
meiner  jetzigen  Freude  der  Weg  von  Göttingen  bis  nach  Posen 
ebenfals  nur  wie  ein  Katzensprung  vor.  Und  der  Berg  Eurer 
neuen  Geschäfte,  der  mir  vorher  so  wölken  hoch  vorkam,  dass 
Ihr  schwerlich  noch  darüber  hinweg  und  nach  Eurem  alten  Schul* 
kameraden  sehen  könntet,  kommt  mir  jetzt  nicht  höher,  als 
das  Geländer  auf  dem  Rathhause  zu  Ellrich  vor,  auf  welchem 
ich  einst  während  der  Vorstellung  der  Minna  von  Barnhelm  sass 
und  den  Esel  zu  Grabe  läutete,  als  der  selige  Herr  —  wie  hiess 
er  doch?  —  ehrfurchtsvoll  vor  mir  mit  seiner  Nasenspitze  die 
Spitze  meines  baumelnden  Fusses  berührte.  — 

So  steht  denn  also  nun  meine  Hoffnung,  das  alte  trauliche 
Verkehr  wieder  anzufangen  und  fortzusetzen  bis  ans  Grab  wieder 
in  ihrer  schönsten  Blüthe  ?  Ja !  Euer  Brief  ist  mir  dess  ein  desto 
zuverlässigerer  Bürge,  je  weniger  ich  in  Eurer  gegenwärtigen 
Lage  schon  so  bald    auf  einen    mit  Billigkeit  Anspruch  machen 


Sauer,  Aus  dem  Briefvrechsel  zwischen  Bürger  und  Qoeckingk.     473 

konnte.  Mehr,  als  aus  allem,  erkenne  ich  aus  diesem  Briefe, 
dass  Euch  das  Herz  dränget,  dass  Ihr  mich  von  Herzen  lieh 
habt.     Denn  sonst  hättet  ihr  noch  nicht  so  bald  geschrieben. 

Eure  sehr  wahrscheinlichen  nähern  sowohl  als  entferntem 
Aussichten  zur  Beförderung  freuen  mich  um  Euret-  und  um 
meinetwillen.  Um  Euret  willen  weil  Ihr,  den  ich  liebe,  ein  statt- 
licher Herr  dadurch  werdet.  Denn  seyd  Ihr  erst  Geh.  Finanz 
Rath  so  sehe  ich  gar  nicht  ein,  warum  Ihr  nicht  auch  eben  so 
leicht  noch  Minister  werden  solltet.  Um  meinet  willen  aber  freue 
ich  mich,  weil  ich  —  nicht  etwa  durch  Eure  Gönnerschaft  und 
Vielvermögenheit  als  dann  noch  auch  etwas  zu  werden  hoffe; 
denn  ich  weiss,  dass  ich  zum  Heller  geschlagen  bin  und  in 
meinem  Leben  kein  Ducaten  werde  —  sondern  weil  ich  als  dann 
Besitzer  eines  moralischen  KabinetsstQcks  werde,  das  wo  nicht 
ganz  einzig,  doch  höchst  selten  in  seiner  Art  ist.  Diese  Selten- 
heit  ist  ein  alter  trauter  Schul  Kumpan,  der  Minister  wird,  und 
gleichwohl  mit  Leib  und  Seele  mein  alter  trauter  Schul  Kumpan 
in  Schimpf  und  Ernst  bleibt,  bis  an  sein  seliges  Ende.  Ihr, 
lieber  G.,  seyd  der  Einzige,  von  dem  ich  mirs  nun  mit  Zuver- 
lässigkeit verspreche,  dass  er  sich  in  diesem  Stücke  koscher  be- 
währen werde.  Mehrere  Beispiele,  selbst  aus  meiner  eigenen 
Erfahrung,  liessen  mich  endlich  so  gar  an  der  Möglichkeit  bisher 
zweifeln.  Friz  Stollberg  war  weiland  auch  ein  Kumpan ;  nun  ich 
kann  zwar  eben  nicht  sagen,  dass  die  nachmaligen  honores  die 
mores  auffallend  verändert  hätten;  allein  was  gleich  nicht  so 
dick  ist,  um  sich  sagen  zu  lassen,  das  ist  doch  leicht  dick  genug, 
um  wenigstens  leise  gefühlt  zu  werden.  Hardenbei^  in  Anspach 
war  zwar  nur  mein  Universitätsbekannter,  indessen  hat  er  mich 
doch  nachher  zu  manchem  Land  Gericht  eingeladen,  wo  es  gar 
sehr  auf  den  Fuss  der  Freiheit  und  Gleichheit  so  wohl  am  Ess- 
und  Schenk-  als  am  Pharaotische  herging.  Auch  von  ihm  kann 
ich  eben  nicht  sagen,  dass  er  mich  nachher,  da  ich  mich  in 
einigen  Angelegenheiten  an  ihn  zu  wenden  hatte,  als  hanö ver- 
scher Minister  behandelt  hätte.  Allein  dass  er  ein  Minister 
war,  das  sah  und  fühlte  ich  denn  doch.  Nun  vollends  Göthe  — 
Ach  I  habe  ich  Euch  wohl  einmahl  erzählt,  wie  es  mir  mit  Göthen 
gegangen  ist?  —  Hab'  ichs  noch  nicht,  so  sagt  mirs,  damit  ich 
Euch  ein  Beispiel  von  dem  honores  mutant  mores  aufstelle, 
das  füglich  für  ein  non  plus  ultra  gelten  kann.'')  —  .... 

An  meiner  Lebensweise  hat  sich  eben  nichts  geändert;  denn 
das  Leben  eines  Professors,  und  vollends  eines  Göttingischen,  ist 
ein  sehr  einförmiges  Leben  Jahr  aus  Jahr  ein.  Umgang  habe 
ich  so  viel  als  gamicht.  Denn  die  Menschen  sind  hier  fast  alle, 
wenigstens  fQr   mich  ungeniessbar ,    und  eben  daher  mag  ich  es 

**)  Über  Bürgers  Besuch  bei  Goethe  vgl.  meine  BQrgerausgabe 
S.  333  und  in  Er^^nzung  dazu  Schütz,  Müllners  Leben  S.  260. 


474     Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  zwischen  Bfirger  und  Qoeckingk. 

ihnen  auch  wohl  seyn.  Im  Ganzen  bin  ich  das  nun  schon  so 
ziemlich  gewohnt,  oft  aber  Ober  nimmt  mich  denn  doch  auch 
ein  sehr  lebhafter  Überdruss,  besonders  wenn  mir  Jemand  er- 
zählt, dass  er  S  allerliebste  Ghambres  gamies  im  Töpferschen 
Hause  unter  den  Linden  in  Berlin  gemiethet  habe,  wo  alle  Augen- 
blicke hflbsche  weibliche  Figuren  vorbei  spazieren.  Hört,  Goeckingk, 
ich  will  zwar  Eure  Patronschaft  niemals  mit  meiner  Glientschaft 
belästigen,  allein  -wenn  Euch  irgend  einmabl  ein  Hase  aufstossen 
sollte,  wie  doch  immer  wohl  möglich  wäre,  so  schiesst  ihn  gleich 
für  mich  auf  den  Kopf,  und  schickt  ihn  mir  durch  dnen  Courier 
zu.  Sollte  denn  dort  gar  nichts  über  kurz  oder  lang  zuthun  seyn? — 

Seit  Anfang  dieses  Jahres  habe  ich  mich  in  eine  Politische 
Kannengiesser  Bude  mit  verdungen,  die  mir  jährlich  ungeföhr 
600  rth.  einbringt.  Das  Profitchen  schmeckt  sehr  gut ;  allein 
meinen  ehrlichen  Nahmen  mag  ich  dabei  nicht  compromittiren, 
weil  ich  mit  der  Einrichtung  des  Wesens,  worüber  ich  nicht  Ge- 
walt genug  habe,  eben  nicht  sehr  zufrieden  bin.  Daher  bleibt 
diess  unter  uns,  und  wenn  Ihr  gleich  wohl  hören  solltet,  Bürger 

arbeitet  an  den mit,  so  seyd  so  gut  und  sagt:  das  glaube 

ich  nicht.  Stiesse  Euch  indessen  ein  jagdbarer  politischer  Hirsch 
oder  Bär  in  Pohlen  auf,  so  schiesst  ihn,  und  lasst  ihn  mir  gegen 
willige  Erlegung  der  Spesen  zu  kommen.  Es  verst^t  sich,  dass 
es  für  Euch  ohne  alle  Gefahr  abgehen  müsse.  Ich  denke,  dass 
Ihr  mir  zu  manchem  weit  früher  verhelfen  könnt,  als  man  deeh 
am  Ende  auf  andern  Wegen  dazu  gelangt.  Ihr  wisst  ja  wohl 
die  politischen  Gerichte  lässt  sich  das  Publicum  gern  brüh  siedend 
heiss  auftischen,  und  als  dann  frisst  das  Biest  sie  mit  convulsi- 
vischem  Entzücken,  wenn  es  auch  gleich  Dreck  wäre. 

....  Der  Henker  weiss,  wie  es  zugeht,  dass  wenn  auch 
ein  Brief  fertig  geschrieben  ist,  er  oft  doch  noch  ins  li^en  komt. 
Heut  ist  schon  der  30.  Juni  und  doch  geht  dieser  erst  fort.  — 
Ich  will  sie  künftig  lieber  gleich  mit  der  ersten  Post  fortschicken, 
wenn  sie  auch  noch  nicht  fertig  sein  sollten. 

Ewig  der  Eurige  B. 

78.  Goeckingk  an  Bürger. 

Berlin,  den  6.  Juli  1793. 

Herzlichen  Dank,  liebster  B.,  für  Eure  Theilnahme.  Bey 
Andern  nimmt  die  Freundschaft  mit  den  Jahren  ab,  bey  uns 
nimmt  sie  mit  der  Zeit  noch  zu.  Doch  das  ist  wohl  nur  ein 
optischer  Betrug.  Mich  dünkt,  wir  haben  uns  wohl  immer  gleich 
sehr  geliebt,  aber  es  uns  nur  nicht  gleich  oft  gesagt.  Eure  und 
meine  Lage  waren  oft  ja  auch  so  beschaffen,  dass  Einem  die 
Lust  wohl  verging,  die  Klagelieder  Jeremiä  in  Briefe  zu  ver- 
wandeln. 

Mein  Schicksal,  trauter  B.,  ist  nun  für  immer   entschieden. 


Sauer,  Ans  dem  Briefwechsel  swischen  Bürger  und  Goeckingk.     475 

Der  König  hat  mich  zum  Geh.  Finanzrath  mit  2000  rth.  Gehalt 
ernannt,  was  denn  fär  eine  solche  Stelle  und  einen  solchen  Ort 
warlich  nicht  zu  viel  ist.  Wenn  indess  der  Krieg  zu  Ende,  und 
alles  erst  wieder  in  seiner  Ordnung  seyn  wird,  so  hoffe  ich,  Zu- 
lage zu  erhalten..  Der  jetzige  König  denkt  darin  viel  genereuser 
als  der  vorige. 

Vorgestern  ward  ich  vereydet,  in  das  Generaldirectorium 
eingeführt,  und  erhielt  mein  Patent.  In  14  Tagen  reiset  der 
Minister  v.  Voss  wieder  nach  Södpreussen,  und  ich  werde  ihn 
abermals  begleitop.  Die  Reise  wird  6  Wochen  dauern,  weil  sie 
rund  an  der  Grenze  herum,  durch  Thorn,  und  4  Meilen  vor 
Warschau  vorbey,  gehen  soll.  Wenige  Tage  nach  unsrer  Zurück- 
kunfl  hieher,  werde  ich  nach  Wernigerode  abgehen  und  in  den 
ersten  Tagen  des  October  von  da  meine  Familie  hieher  begleiten. 
Ich  werde  Euch  dann  bestimmt  wissen  lassen,  welche  Tage  ich 
in  Ellrich  seyn  werde.  Ists  Euch  dann  irgend  möglich,  so  kommt 
und  umarmt  Euren  alten  Landsmann,  Schul -Gameraden  und 
Freund.  Nach  Wernigerode  mag  ich  Euch  nicht  haben.  Da 
wird  um  die  Zeit  alles  wüst  im  Hause  aussehen.  Meine  Möbeln 
lasse  ich  alle  verkaufen,  und  nehme  bloss  das  mit,  was  sich  gut 
transportiren  lässt;  diess  schicke  ich  vorauf,  weil  wir  sonst  ins 
leere  Nest  kommen,  und  nicht  einmal  einen  Strohsack  ßnden 
würden,  unser  Haupt  darauf  zu  legen.  Bey  diesem  Umziehen 
büsse  ich  abermals  ein  Paar  Tausend  Rthlr.  ein.  Schwerlich 
werde  ich  die  jemals  wieder  ersparen,  denn  das  Geld  hat  noch 
heute  nicht  den  geringsten  Werth  mehr  für  mich,  als  auf  der 
Universität.   • 

Ich  bin  hier  schon  in  voHer  Arbeit  und  in  den  ersten  2 
Jahren  werde  ich  wohl  selten  oder  nie  einen  ganzen  Tag  für 
mich  haben.  Es  ist  ungeheuer  viel  in  der  neuen  Provinz  einzu- 
richten, denn  es  war  bisher  das  Land  der  Unordnung.  Der 
Boden  ist  indess  sehr  fruchtbar,  die  Menschen  sind  von  Natur 
nicht' dumm,  die  Lage  zum  Handel  ist  vortheilhaft,  sobald  nur 
die  Wartha  und  Prosna  recht  schifbar  gemacht  seyn  werden. 
Kurz,  es  ist  ein  grosser  Schauplatz  auf  dem  man  seine  Thätig- 
keit  üben  kann,  und  von  den  1 100/m  Einwohnern  die  Südpreussen 
haben  soll,  freuen  sich  über  eine  Million  auf  die  neue  Ordnung 
der  Dinge. 

Es  würde  warlich  ein  Hochverrath  der  Freundschaft  an 
meinem  Herzen  seyn,  liebster  B.,  wenn  Ihr  es  für  fähig  hieltet, 
sich  um  aüssrer  Zufälligkeiten  willen  ändern  zu  können.  Von 
Göthe  wundert  mich  das  nicht.  Thut  mir  den  Gefallen,  und 
erzählt  mir  wie  er  mit  Euch  umgegangen  ist  Ich  habe  schon 
mehrere  über  ihn  klagen  gehört.  Es  ist  übrigens  nicht  Verlust, 
sondern  Gewinn,  wenn  man  ein  Herz  einbüsst,  das  nicht  einmal 
auf  dem  Probiersteine  der  Eitelkeit  Strich  hält. 


476      Burkfaardt,  Theater- Dichter  und  -Honorare  in  Weimar. 

Es  geftllt  mir,  troz  den  600  rth.  eben  nicht,  dass  Ihr  an 
einem  politischen  Journal  Theil  nehmet,  denn  ich  fürchte,  ent- 
weder es  mögte  Euch  Händel  zuziehen  und  Eure  Gremöthsruhe 
bestürmen,  die  nach  so  vielen  Donnerwettern,  keine  Windhosen 
mehr  ertragen  kan;  oder  Ihr  mögtet  früh  oder  spät  bey  einer 
nicht  gleichgültigen  Parthey,  Euren  literarischen  Ruhm,  oder  gar 
Eure  kosmopolitische  Denkart  compromittiren.  Denn  darauf 
rechnet  doch  nur  nicht,  dass  das  Ding  lange  vor  dem  Publikum 
verschwiegen  bleiben  sollte.  Aber  noch  weniger  rechnet  auf 
Bey  träge  dazu  von  mir.  Ich  will  Euch  lieber  10  Gedichte  als 
den  kleinsten  statistischen  oder  politischen  Artikel  schicken,  und 
meine  Ruhe  dabei  aufs  Spiel  setzen.  Ich  habe  übrigens  mein 
System  ganz  in  der  Stille  für  mich  und  ein  Paar  alte  Freunde . . . 

Adieu,  treuer  B.  0  was  freue  ich  mich  auf  die  Zusammen- 
kunft in  Ellrich,  oder  lieber  nach  Walkenriedt,  wo  uns  Niemand 
stören  würde.  Ich  umarme  Euch  von  ganzem  Herzen,  ganzer 
Seele  und  ganzem  Gemüth.  Alles  bleibe  so,  wie  es  ist,  bis  an 
unsern  Tod.  Euer  treuer  G. 

Ooeckingk  als  der  Überlebende  hielt  das  Bild  des 
Freundes  im  Gedichte  fest:  ^Elegie  auf  Bürgers  Tod^  im 
Oöttinger  Musenalmanach  für  1796  S.  18. 

Prag.  August  Sauer. 


Dichter  und  Dichterhonorare 

am  Weimarer  Hoftheator  während  Goethes  Lettang. 

Goethes  Bühnenleitung  in  Weimar  war  durch  eine  treff- 
liche Finanzwirthschaft  gestützt  Er  wusste  die  Verhält- 
nisse zu  nutzen.  Die  Wahl  des  Repertoir  war  gewiss  auch 
von  pecuniären  Bücksichten  beeinflusst,  aber  nicht  daran 
gebunden.  Es  lohnt  sich,  einmal  das  Weimarische  Tbeater- 
wesen  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  zu  betrachten. 

Ich  habe  früher  schon  festzustellen  versucht,  wie  viel 
Stücke  Goethe  während  der  Leitung  seines  Hoftheaters  aus 
dem  Repertoir  der  Bellomoschen  Truppe  herübemahm  und 
wie  viel  Novitäten  er  gab.  Die  Wiederaufführung  der  erstem 
war  mit  finanziellen  Opfern  nicht  verknüpft,  denn  es  waren 
meist  Stücke,  die  gedruckt  vorlagen  und  also  damals  keine 
Verpflichtungen  gegen  die. Autoren  auflegten.     Hdohstena 


Burkhard t,  Theater-Dichter  und  -Honorare  in  Weimar.       477 

konnten  die  Kosten  für  eine  theilweise  oder  gründliche 
Umarbeitung  in  Frage  kommen,  die  aber,  wie  wir  unten 
sehen  werden,  nicht  von  Belang  waren. 

In  der  Erwerbung  von  Novitäten  war  Goethe  äusserst 
sparsam.  Oft  tauschte  er  ein  für  die  Weimarer  Bühne 
bearbeitetes  Stück  bei  einer  andern  Bühne,  z.B.  bei  dem 
Wiener  Theater  aus  und  erwarb  etwas,  was  seinem  Ge- 
schmack besser  entsprach:  Theaterdichtern  gegenüber  zeigte 
er  sich  äusserst  zurückhaltend.  Während  seiner  Direction 
von  t79l — 1816  stand  er  überhaupt  nur  mit  11  Theater- 
dichtern*), welche  Novitäten  lieferten,  in  Verbindung;  dazu 
kommt,  was  er  selbst  an  Bühnenwerken  gab,  die  er  sich  in 
bescheidenem  Masse  honoriren  liess.  Ich  gebe  eine  Über- 
sicht : 

1791  bezog  Goethe  von  Beil  und  Iffland  neue  Stücke, 
1792  bis  1795  war  Yulpius  ganz  ausschliesslich  für  das 
Theater  thätig;  er  lieferte  neben  einzelnen  eigenen  Stücken 
Umarbeitungen  oder  Verbesserungen  fremder,  ferner  nament-* 
lieh  Antritts-  und  Abschiedsreden,  Prologe  oder  Epiloge. 
1796  traten  Vulpius,  Kotzebue,  Iffland  und  Kratter,  1797 
Schall,  Iffland  und  Dunkel,  1798  Kotzebue  und  Schall, 
1799  und  1^00  Kotzebue,  1801  und  1802  Schiller  und 
Kotzebue,  1804  Goethe  und  Schiller,  1807  und  1810  Vulpius, 
1812  Goethe  und  v.  Einsiedel,  1814  Vulpius  und  Goethe, 
1816  Riemer  mit  Novitäten  auf. 

Wenn  auch  in  der  Litteratur  die  ausserordentliche 
Productivität  des  Goetheschen  Schwagers  Christ.  August 
Vulpius  festgestellt  ist,  so  ist  dies  doch  nicht  der  Fall  be- 
züglich seiner  Thätigkeit,  die  er  als  Bearbeiter  beziehungs- 
weise als  Redactor  bereits  vorhandener  Bühnenstücke  ent- 
faltete; davon  haben  wir  bis  jetzt  eine  ganz  unvollkommene 
Kenntniss,  welche  zu  erweitern  die  folgende  Zusammen- 
stellung dienen  mag.  Sie  fusst  auf  den  nicht  ganz  voll- 
ständigen Weimarer  Theaterrechnungen.  Vulpius  bearbeitete 
darnach:^) 

*)  Viel  mehr  können  es  wenigstens  nicht  gewesen  sein,  weil  die 
Theaterrechnungen  (bis  auf  2  Jahre)  vollständig  vorliegen. 

*)  Die  mit  *  versehenen  Stücke  sind  in  dieser  Bearbeitung  nicht 
in  Weimar  gegeben  worden;  sie  wurden  theils  bei  Seite  gelegt,  theils 
Vierteljahrschrift  fiir  Littoratoigeschichte   in  32 


478       Burkhard t,  Theater-Dichter  und  -Honorare  in  Weimar. 

1791. 

König  Theodor  in  Venedig.     Oper.     Paisiello. 
Hieronymus  Knicker.     Oper.     Dittersdorf. 
Das  rothe  Käppchen.     Oper.     Dittersdorf. 

1792. 

Johann  v.  Procida  (eingerichtet).     Schausp.     Hagemeister. 
Die  Entführung.     Lustsp.     Jünger. 
Bürgerglück.     Lustsp.     Babo. 
*Der  verschriebene  Bräutigam. 
Frauenstand.     Lustsp.     Iffland. 

1793. 

♦Felix  der  Findling.     Oper.     (Auch  1794.) 
Der  Baum  der  Diana.     Oper.     (Auch   1794.)     Martini. 
Das  Kästchen  mit  der  Chiffre.     Oper.     Salieri. 
Ida  oder  das  Vehmgericht.     Schausp. 
Liebe  und  Muth.     Lustsp.     Spiess. 
Die  Zauberflöte.     Oper.     Mozart. 
Der  Krieg.     Lustsp.     (Übersetzt.)     Goldoni. 
Güte  rettet.     Lustsp. 
Der  Hufschmied.     Oper.     Dittersdorf. 
Nina  oder  Wahnsinn  aus  Liebe.     Oper.     D'Allayrac. 
Hokus  Fokus.     Oper.     Dittersdorf. 

1794. 

♦Felix  der  Findling.     Oper.     (Auch  1793.) 

Das  Sonnenfest  der  Braminen.     Oper.     Müller. 

Der  Baum  der  Diana.     Oper.     (Auch  1793.)     Martini. 
*Die  Gesänge  aus  der  Judenbraut. 

Menzikof.     Trauersp.     Kratter. 

Das  Mädchen  von  Marienburg.     Schausp.     Kratter. 

Le  trame  deluse.     Oper.     Cimarosa. 
*Die  Brautwahl. 
*Siri  Brahe.     Schausp. 

Die  Dichterfamilie.     Lustsp. 

Dialog  der  Oper   Glaudina  v.  Villa  Bella  aus  Versen   in  Prosa 

umgeändert. 

1795. 

Gosi  fan  tulte.     Oper.     Mozart. 
Heimliche  Heirat.     Oper.     Gimarosa. 
Das  Sonntagskind.     Oper.     W^enzel.     Müller. 
Das  Vermächtniss.     Schausp.     Iffland. 

an  andere  BUbnen,  auch  als  Tauschobject,  gegeben.  Ich  ergpänze  ab- 
sichtlich die  Namen  der  Yerfa88er  nicht,  wenn  diese  von  Vulpius 
selbst  nicht  angegeben  sind. 


Burkhard t,  Theater-Dichter-  und  -Honorare  in  Weimar.      479 

Die  Spanier  in  Peru.     Trauersp.     Kolzebue. 
Dialog  zur  Oper  Girce.     Anfossi. 
*Der  Dorfprediger. 
Der  Strohmann.     Schausp.     Hagemann. 

Der  Sturm  von  Boxberg.    (Völlig  umgeändert  und  eingerichtet.) 
Schausp.     Maier. 

1796. 

Telemach.     Oper.     Hofmeister. 

Delinquente  honrado.  (!)     Schausp.     IflFland. 

Wellton  und  Herzensgute.     Schausp.     Ziegler. 

Graf  Benjowsky.     Schausp.     Kotzebue. 

Der  Eheprocurator.     Lustsp.     Brelzner. 

Julius  von  Tarent.     Trauersp.     Leisewitz. 

Der  Verschlag.     Lustsp.     Bock. 

Die  Jesuiten.     Trauersp.     Hageraeister. 

Oberon.     Oper.     Wranitzky. 

Der  Graf  von  Burgund.     Schausp.     Kotzebue. 

Alexina.     Schausp.     Gowmeadow. 

Der  Geburtstag.     Lustsp.     Engel. 

Der  Spiegel  von  Arkadien,  umgeändert  in:  Die  neuen  Arkadier. 

Oper.     Süssmeyer. 
Der  Schauspieldirector,  einverleibt  in:  Die  Theatralischen  Aben- 

theuer.     Oper.     Gimarosa.     Mozart. 

1807. 

Gattin  und  Wittwe  zugleich.     Schausp.     Vogel. 
(Gorrecturen  verschiedener  nicht  specialisirter  Operngesänge.) 

1810. 

Ida  Münster.     Schausp.     De  la  Motte. 

Die  unruhige  Nachbarschaft.     Oper.     Müller. 

1814. 
Das  Posthaus  =  Die  Entdeckung  im  Posthause.   Lustsp.  Kotzebue. 

Auch  die  selbständigen  Beiträge,  welche  Vulpius  nach 
den  Rechnungen  des  Theaters  lieferte,  verzeichne  ich  hier; 
sie  werden  auf  den  gleichzeitigen  Theaterzetteln  kaum  er- 
wähnt   und    sind   nur   zum   kleinen   Theil  in   Zeitschriften 

niedergelegt. 

1792. 

Das  Freudenfest.  Vorspiel  zum  kurfürstlichen  Geburtstage  3.  August. 
Prolog  für  Lauchstädt  zum  17.  Juni. 
Epilog  für  Lauchstädt  zum  1 9.  August. 
Prolog  für  Erfurt  zum  23.  August. 
Epilog  für  Erfurt  zum  l.October. 

32* 


480       Burkhardt,  Theater-Dichter .  und  -Honorare  in  Weimar. 

1793. 
Epilog  für  Weimar  zum  12.  Juni. 
Prolog  für  Lauchstädt  zum   1 6.  Juni. 
Epilog  für  Lauchstädt  zum   14.  August. 
Epilog  für  Erfurt  zum  18.  August. 

1794. 
Rede  zum  Geburtsfeste  des  Kurfürsten  von  Sachsen,  gehalten  am 
3.  August  (gedruckt  im   Theaterkalender  v.   1 796  S.  8). 
Vorspiel  Günther  v.  Schvvarzburg.^) 
Epilog  für  Weimar  zum  1 8.  Juni. 
Epilog  für  Lauchstädt  zum  10.  August. 
Prolog  für  Rudolstadt  zum  1 8.  August. 
Abschiedsrede  für  Rudolstadt  zum  10.  September. 
Prolog  für  Erfurt  zum  1 4.  September. 
Epilog  für  Erfurt  zum  5.  October. 

1795. 
Prolog  für  Lauchstädt  zum  21.  Juni. 
Epilog  für  Lauchstädt  zum   1 7.  August. 

1796. 
Prolog  für  Rudolstadt  zum   12.  August. 
Epilog  für  Rudolstadt  zum  30.  September. 

1810. 
Monolog  zu  der  Zauberflöte. 
Arie  zu  den  eingebildeten  Philosophen. 

Beide  Übersichten  zeigen  einen  entschiedenen  EiDschnitt 
nach  1796;  später  tritt  Yulpius  nur  selten  mehr  als  Mit- 
arbeiter der  Weimarer  Bühne  auf.  Es  erklärt  sich  dies 
daraus,  dass  er  1797  eine  Anstellung  an  der  Bibliothek 
fand.  Unterstützt  wurde  die  theatralische  Qeschäftigkeit 
Vulpius'  durch  Kotzebue,  der  so  indirect  für  das  Weimarer 
Repertoir  sorgte,  wie  folgender  Brief  zeigt: 

Da  kommt  eine  ganze  Ladung  Manuscripte,  theurer  Freund, 
die  ich  schon  vor  einigen  Wochen  von  Herrn  Schröder  aus  Ham- 
burg erhalten,  sie  aber  nebst  einigen  meiner  Freunde  erst  selbst 
gelesen  habe.  Das  ist  die  Ursache  warum  ich  sie  Ihnen  noch 
nicht  zugeschickt.  Mir  gefallt  vorzüglich  die  Versöhnung,  von 
der  auch  Schröder  sagt,  es  sey  Speise  für  ganz  Deutschland. 
Die  Wittwe  und  das  Reitpferd  sind  bereits  gedruckt  in  dem 
5ten  Tiieil  von  den  jüngsten  Kindern  meiner  Laune.  Lesen  Sie, 
und  sagen  mir  auch  Ihr  Urtheil,   das  mir  nicht  gleichgültig  ist. 


')  Zusammenhang  mit  A.  v.  Kleins  gleichnamigem  Singspiel?  Sfft. 


Burkhardt,  Theater- Dichter  und  -Honorare  in  Weimar.       481 

Ich  habe  11  gr.  Porto  für  diese  Manuscripte  und  eben  so 
viel  für  die  Vorigen  gegeben.  Dass  die  Stücke  dem  Herrn 
G.  R.  Goethe  auch  gefallen  mögen,  wünsche  ich. 

Von  Haus  Wiederum  herzlich  der  Ihrige 

den  27*«"  September  1796.  L.  Kotzebue. 

Eotzebue  ist  nach  Yulpius  am  stärksten  in  dem  Re- 
pertoir  vertreten.  Von  ihm,  dessen  Stücke  vielfach  unter 
Goethes  Direction  wiederholt  wurden,  erwarb  man  1796 
'Falsche  Scham\  'Graf  von  Burgund'  (beide  gedruckt  1 798), 
1798  'Die  Corsen',  *Die  silberne  Hochzeit  (beide  gedruckt 
1 799),  1 799  'Das  SchreibpuU'  (gedruckt  1 800),  'Die  beiden 
Klingsberge'  (gedruckt  180  t),  1800  'Die  beiden  Hofmeister', 
Bayard  (gedruckt  1801),  1801  'Octavia'  (gedruckt  1801), 
1802  'Der  Wirrwar',  'Die  deutschen  Kleinstädter'  (beide  geT 
druckt  1803). 

Daneben  kommen  die  Erwerbungen  von  Beil*),  IflFland*), 
Kratter«),  Schalt),  Einsiedel»),  Jünger»)  und  Riemer  *<>) 
numerisch  und  finanziell  kaum  in  Betracht.  Von  Schiller 
wurden  1802  'Don  Carlos',  1804  'Wilhelm  Teil',  von  Goethe 
1804  'Götz  V.  Berlichingen',  1812  'Romeo  und  Julia"  und 
1814  das  'Vorspiel'  für  Halle  für  die  Bühne  käuflich  er- 
worben. 

Man  sieht  aus  diesem  Yerzeichniss ,  dass  das  Theater 
für  Autorhonorare  ausserordentlich  wenig  Mittel  bean- 
spruchte. Goethe  behalf  sich  trotz  der  grossen  Zahl  der 
eingeführten  Novitäten  mit  Stücken,  die  seiner  Bühne 
finanzielle  Opfer  nicht  auferlegten.  Die  Zeit  war  besonders 
günstig,  weil  eigentlich  eine  Überproduction  vorhanden  war, 
die  eine  reiche  und  billige  Auswahl  gestattete.  Dazu 
überboten  sich  die  Nachdrucker,  um  den  Erwerb  der 
Theaterdichter  noch  mehr  in  Frage  zu  stellen.  Ehe  Vul- 
pius  es  sich  versah,   war  sein  Operntext  zur  Hochzeit  des 

*)  Die  Einöde. 

*)  Der  Herbsttag  und  Elise  Walberg,  Dienstpflicht,  Das  Vermächt- 
niss,  Die  Advocaten,  Der  Uausfriede,  Das  Gewissen. 

*)  Das  Mädchen  von  Marienbnrg,  Menzikoif  und  Natalie. 
')  Das  Vorurtheil. 
*)  Das  Nachspiel,  die  Verbannung. 
•)  Die  Entführung. 
*•)  Vorspiel  zur  Ankunft  de«  Herzog«  Bernhard. 


482       Burkhard!,  Theater-Dichter  und  -Honorare  in  Weimar. 

Figaro  durch  den  Nachdrucker  Lange  in  EöUn  mit  unend- 
lichen Fehlern  veröffentlicht,  ohne  dass  man  sich  die  Wege 
erklären  konnte,  auf  denen  die  widerrechtliche  Veröffent- 
lichung ermöglicht  worden  war.  Selbst  Goethe,  der  1825 
die  Privilegirung  seiner  Werke  bei  dem  deutschen  Bunde 
anstrebte,  um  sich  vor  dem  feindseligen  Nachdruck,  'der  den 
deutschen  Autoren  alles  billige  Verdienst  ihrer  Arbeiten 
verkümmert,  zu  schützen',  war  noch  schutzlos,  als  bereits 
das  Privilegium  für  seine  Werke  ertheilt  war.  Daher  ist 
es  begreiflich,  dass  August  v.  Goethe  am  13.  März  1824 
Namens  des  Vaters  der  Steuerschätzungscommission  in 
Weimar  den  jährlichen  litterarischen  Verdienst  Goethes  'in 
Maximo  auf  1400  Thaler^  angab. 

Die  Honorare,  die  Goethe  den  Theaterdichtern  zahlen 
Hess,  waren  verschieden  hoch.  Vulpius,  der  wie  wir  sahen 
eine  sehr  bedeutende  Thätigkeit  entfaltete,  war  schlecht 
honorirt;  1791  erhielt  er  für  zwei  eigne  Lustspiele  und  die 
Umarbeitung  dreier  Opern  im  ganzen  65  Thaler;  in  der 
Regel  erzielte  er  wie  andere,  für  ein  Originallustspiel 
1  Carolin,  und  das  Honorar  der  Umarbeitungen  richtete  sich 
lediglich  nach  dem  Umfang  der  Arbeit,  welche  mit  ^/s  Thaler 
bis  1  Thaler  vergütet  wurde.  Für  die  Prologe  und  Epiloge, 
für  Antritts-  und  Abschiedsreden  erhielt  Vulpius  durch- 
gängig drei  Thaler  und  für  die  Neubearbeitung  eines  Opern- 
textes nicht  mehr  als  13  Thaler.  Das  war  bitter  wenig 
gegenüber  den  Schwierigkeiten,  welche  Vulpius  gelegentlich 
selbst  betont:  ^Ich  sage  nichts  von  den  Schwierigkeiten, 
welche  sich  jedem  Bearbeiter  einer  Oper,  zu  welcher  die 
Musik  schon  vorhanden  ist  und  der  die  Worte  des  Textes 
hintennach  angepasst  werden  müssen  entgegendrängen,  sie 
sind  unzählbar  und  nur  denen  bekannt,  die  dergleichen 
Arbeit  selbst  unternommen  haben.'  ^^) 

In  gleichem  Verhältniss  wie  Vulpius  stand  Eotzebue, 
dessen  Bruder  und  Schwester  für  jedes  Stück  nicht  mehr 
als  1  Carolin  erhielten,  sei  es  nun,  dass  sie  zur  Liefe- 
rung aufgefordert  oder  freiwillig   das  oder  jenes  darboten. 


*)  Opern  aus  verschiedenen  Sprachen,  Leipzig  171^4,  Vorrede. 


Werner,  Kleists  Marquise  von  0.  483 

Etwas  geringer  war  der  Lohn  v.  Einsiedeis  ^^),  dagegen 
wurden  Schalls  und  Kratters  Stücke  um  das  Doppelte  besser 
honorirt.  Auch  sie  standen  aber  noch  bedeutend  hinter 
liFland  zurück,  der  z.  B.  für  die  beiden  Stücke  ^Der  Haus- 
friede' und  'Das  Gewissen'  80  rhein.  Gulden  erzielte.  Goethe 
liess  sich  für  jede  seiner  Theaterarbeiten ,  wie  für  ^Romeo 
und  Julia',  und  für  das  'Vorspiel'  für  Halle  je  50  Thaler,  für 
den  'Götz'  100  Thaler  anweisen.  Ebensoviel  erhielt  Schiller 
für  'Don  Carlos'.  Über  allen  aber  stand  der  sonst  nie  er- 
reichte Preis  eines  Theatermanuscripts  von  150  Thaler,  mit 
dem  die  Überlassung  von  Schillers  'Wilhelm  Teil'  gezahlt 
wurde.  Sieht  man  von  einer  so  aussergewöhnlichen  Ein- 
schätzung ab,  und  bringt  nur  die  Durchschnittshonorare  in 
Anschlag,  so  erklärt  sich,  dass  die  Kasse  es  tragen  konnte, 
ein  Stück,  das  durch  einen  Missgriff  gewählt  worden  war, 
doch  nicht  zur  Aufführung  zu  bringen;  der  Verlust  war 
nicht  so  empfindlich,  dass  Goethes  Kritik  nicht  noch  in 
letzter  Instanz  das  erworbene  Stück  hätte  ablehnen  können. 
In  der  That  sind  so  manche  honorirte  Stücke,  selbst  nach 
der  für  Weimar  gebotenen  Umarbeitung,  nicht  zur  Auf- 
führung gelangt. 

Weimar.  C.  A.  H.  Burkhardt. 


Kleists  Novelle  *Dle  Marquise  von  0  . . .  / 

Otto  Brahm  hat  bekanntlich  in  seiner  Kleistbiographie 
S.  1 63  f.  als  muthmassliche  Quelle  für  H.  v.  Kleists  Erzäh- 
lung eine  Anekdote  Montaignes  zu  erweisen  gesucht;  eine 
Bäuerin  fühlt  sich  als  Witwe  schwanger,  ohne  sich  einer 
Schuld  bewusst  zu  sein,  sie  verspricht  daher  dem  Übel- 
thäter  zu  verzeihen  und  ihn  zu  heiraten ;  ein  junger  Knecht 
gesteht  im  Vertrauen  auf  die  'Proclamation'  von  der  Kanzel, 
er  habe  sie  in  tiefem  Schlafe  beim  Herde  gefunden  und 
voll  des  Weines,  wie  er  war,  misbraucht:  41s  vivent  encores 


»*)  Er  erhielt  für  *Da8  Leben  ein  Traum'  und  für  daa  Nachspiel 
'Die  Verbannung'  fünf  Thaler. 


484  Werner,  Kleists  Marquise  von  0. 

mariez  ensemble'.  Brahm  hat  gezeigt,  wie  Kleist  diese 
Anekdote  veränderte,  umbildete,  ohne  doch  zu  voller  Auf- 
lösung des  Peinlichen  zu  gelangen. 

Nun  findet  sich  aber  ein  Bericht,  welcher  viele  Ver- 
wandtschaft mit  Kleists  Novelle  zeigt.  In  einem  medici- 
nisch  -  culturhistorischen  Werke  'Eros  oder  Wörterbuch 
über  die  Physiologie  und  über  die  Natur-  und  Cultur- 
G-eschichte  des  Menschen  in  Hinsicht  auf  seine  Sexualität^ 
(Berlin,  bei  August  Rücker  1823,  1,  322  f.)  wird  unter  dem 
Schlagwort  ^Jungfrau.  Jungfrauschaft'  auch  der  Möglichkeit 
gedacht,  dass  Empfängniss  in  leichtem  Schlaf,  geringerer 
Betäubung,  leichterm  Rausche  möglich  sei. 

Es  giebt  bei  unserm  Thema  einige  schauderhaft  -  ernste  Ge- 
schichteni  von  denen  wir  einige  zur  Unterhaltung  und  Belehrung 
unsrer  Leser  hier  mittheilen  wollen.  Pitaval  erzählt  in  seinen 
merkwürdigen  causes  c^l^bres  folgenden  Fall:  Ein  junger  Mann 
von  vornehmer  Geburt  wird  gezwungen,  sich  dem  geistlichen 
Stande  zu  widmen,  ohne  andern  Beruf  dazu  zu  haben,  als  den 
strengen  Ehrgeitz  seines  Vaters.  Während  seines  Noviziates  macht 
er  eine  Reise,  und  kehrt  bei  einbrechender  Nacht  in  einen  Gasthof 
ein,  dessen  Wirth  und  Wirthin  in  der  tiefsten  Betrübniss  sind 
über  den  eben  erfolgten  Verlust  einer  einzigen  Tochter.  Der 
folgende  Tag  ist  zu  ihrer  Beerdigung  bestimmt.  Der  junge  Mönch 
wird  gebeten  den  Leichnam  zu  bewachen. 

Nach  der  Schilderung  der  Eltern  hatte  die  Natur  die  ganze 
Summe  der  zaubervollsten  Reitze  an  das  verblichene  Mädchen 
verschwendet.  Die  lebhafte  Phantasie  des  Ordensbruders  wird 
in  der  nächUichen  Stille  immer  reger  und  stellt  ihm  die  Erblasste 
in  der  reitzendsten  Schönheit  dar.  Die  Neugierde,  sich  selbst 
davon  zu  überzeugen,  besiegt  die  Schauer  des  Todes;  er  enthüllt 
das  Gesicht  der  Verblichenen,  und  erblickt  staunend  eine  noch 
weit  hinreissendere  Anmuth,  als  sie  ihm  seine  Phantasie  ge* 
malt  hatte. 

Einsamkeit,  nächtliche  Stille,  alles  vereinigt  sich,  das  Blut 
des  jungen  Mannes  in  ein  ungewöhnliches  Feuer  zu  bringen.  — 
Verdrängt  sind  auf  einmal  die  heiligen  Gelübde  des  Ordens,  das 
Zurückschreckende  des  kalten  Todes ;  —  die  Sinne  zerrinnen  ihm, 
und  —  er  umarmt  mit  glühender  Wollust  den  schönen  Leichnam !  1 
Aber  Reue  und  Schaam  folgen  plötzlich  der  That  und  er  eilt  mit 
anbrechendem  Tage  davon.  — 

Man  trägt  die  Tode  zu  Grabe.  Auf  einmal  wird  eine  Be- 
wegung im  Sarge  bemerkt;  man  eröffnet  denselben  und  findet 
das  Mädchen  lebend.     Grabgeläute  und  Sterbelieder  verstummen, 


Werner,  Kleists  Marquise  von  0.  485 

alle  Zuschauer  blicken  sie  feierlich  staunend  an,  Freude  und 
Schrecken  wechseln  in  der  Seele  des  Vaters  und  der  Mutter. 

Doch  das  Glück  der  Eltern  ist  nur  von  kurzer  Dauer.  Be- 
sondere Zufalle  verkünden  das  baldige  Mutterwerden  der  Tochter. 
Vergeblich  plagt  man  sie  mit  Fragen  —  sie  weiss  nicht,  wie  sie 
in  diese  Umstände  versetzt  worden  ist.  Neun  Monate  nach  ihrer 
Auferstehung  vom  Tode,  bringt  sie  ein  gesundes  Kind  zur  Welt. 
Die  beleidigten  Eltern  rächen  diese  Schmach  und  verbannen  die 
Unglückliche  in  ein  Kloster. 

Das  Schicksal  des  Mönchs  hatte  indessen  eine  günstige  Wen- 
dung genommen;  er  war  einziger  Sohn  geworden,  durch  den 
Tod  seines  Vaters  zum  Besitz  eines  ansehnlichen  Vermögens  ge- 
langt, und  von  seinen  Klostergelübden  losgesprochen. 

Der  Zufall  will,  dass  eine  Reise  ihn  zum  zweitenmal  durch 
jene  Stadt  führt.  Er  kehrt  in  denselben  Gasthof  wieder  ein,  und 
denkt  an  nichts  weniger,  als  an  die  Folgen  jener  Nacht.  Indess 
liest  er  in  den  Blicken  der  Bewohner  dieses  Hauses  Züge  eines 
mit  Leid  und  Kummer  belasteten  Herzens.  Er  fragt  nach  der 
Ursache,  und  hört  mit  Bestürzung  aus  dem  Munde  der  Eltern, 
den  Erfolg  jenes  verliebten  Äbentheuers.  Unverzüglich  eilt  er  in 
das  Kloster,  welches  die  unschuldig  Bässende  verbirgt,  findet  sie 
weit  schöner  im  Leben  als  im  vermeintlichen  Tode,  und  wählt 
sie  mit  Entzücken  und  freudiger  Einwilligung  der  Eltern  zu  seiner 
Gattin.  — 

Den  von  den  Agnaten  über  diese  Geschichte,,  nach  dem 
Tode  aller,  die  daran  Theil  hatten,  erregten  Process,  kann  man 
bei  dem  oben  angeführten  Pitaval  nachlesen. 

Leider  war  es  mir  nicht  möglich,  den  Band  von  Pitavals 
Causes  cel^bres  zu  bestimmen^),  in  welchem  dieser  Process 
steht,  es  würden  sich  vielleicht  noch  mehr  Übereinstim- 
mungen mit  Kleists  Novelle  zeigen,  als  nach  diesem  kurzen 
Auszuge.  So  viel  steht  wohl  fest,  dass  nicht  Kleist  die 
Quelle  für  den  Rechtsfall  ist,  ja  mir  scheint  eine  Spur  bei 
Kleist  ein  directer  Beweis  für  seine  Kenntniss  der  Pitaval- 
sehen  Fassung  zu  sein;  er  lässt  nämlich  seine  Marquise 
(bei  Hempel  4,  109)  sagen:  ^Eher  dass  die  Qräber  befruchtet 
werden,  und  sich  dem  Schoosse  der  Leichen  eine 
Geburt  entwickeln  wird!'  glaube  sie,  als  an  die  Mög- 
lichkeit ihres  Zustandes. 

Mit  unserer  Erzählung  stimmt  bei  Kleist  gegen  Mon- 
taigne  die  Rettung   der  Personen,    Auftreten   der  Eltern, 

^)  In  den  Bänden  1—22  (zum  Theile  der  Nouvelle  edition  aug- 
mentäe)  A  la  Haye  1735—1746  fand  ich  wenigstens  nichts  Einschlägige^'. 


486  Werner,  Kleists  Marquise  von  0. 

^Reue  und  Scham^  des  Übelthäters,  Zorn  und  Rache  der 
Eltern,  nachdem  sie  die  Tochter  vergeblich  mit  Fragen  ge- 
quält; Verbannung  ins  Kloster,  wohin  der  vornehme  Mann 
eilt,  um  sie  zu  erlangen.  Mit  Montaigne  und  gegen  unsere 
Geschichte  stimmt,  dass  die  Marquise  Witwe  ist,  vor  allem 
aber  die  ^proclamation^  'que  qui  seroit  coesent  [?]  de  ce 
faict,  en  le  advouant,  eile  promettait  de  le  luy  pardonner,  et, 
s'il  le  trouvoit  bon,  de  Tespouser'.  Auch  in  dem  Vorgeben 
der  Mutter,  Leopardo  der  Jäger  habe  sich  gemeldet,  könnte 
man  noch  einen  Rest  der  Anekdote  sehen.  Verschieden 
ist  in  allen  drei  Quellen  die  Geschichte  von  den  näheren 
Umständen  des  Verbrechens,  nur  entfernt  sich  Kleist  von 
Montaigne  und  nähert  sich  Pitaval,  indem  der  Held  nicht 
trunken,  wenigstens  nicht  trunken  von  Wein  ist,  und  in 
gewissem  Sinne  beide  Male  der  Heldin  eben  einen  Liebes- 
dienst erwiesen  hat. 

Möglich,  dass  Kleist  beide  Quellen,  Montaigne  und 
Pitaval  gekannt  hat,  oder  dass  ihm  eine  Darstellung  vorlag, 
welche  die  Eigenthümlichkeiten  beider  vereinigte.  Bülow 
(Leben  und  Briefe  S.  43  f.)  spricht  von  unserer  Novelle, 
^zu  der  ihm  eine  Novelle  der  bekannten  französischen  Schrift- 
stellerin, Madame  de  Gomez,  deren  cent  nouvelles  nouvelles 
er  wahrscheinlich  in  Paris  gelesen,  die  Veranlassung  ge- 
liehen hatte\  Und  Bülow  setzt  hinzu :  ^Ich  entdeckte  diese 
Entlehnung  des  Stoffs  bei  meiner  eigenen  Lektüre  der 
Gomez;  will  aber  hiemit  keineswegs  ausgesprochen  haben, 
dass  sie  Kleists  Verdienst  an  dieser  Dichtung  8ohmälere\ 
Julian  Schmidt  wiederholt  in  seiner  Ausgabe  von  Kleists 
Schriften  (Berlin  1859  t,  LVI)  Bülows  Vermuthung  mit  den 
Worten:  'Für  die  Marquise  von  O**  fand  Kleist  den  Stoff 
in  den  Cent  nouvelles  der  Frau  von  Gomez,  die  er  wahr- 
scheinlich in  Paris  gelesen  hatte.  Es  ist  ein  echt  franzö- 
sischer Stoff  und  erinnert  an  die  liederlichsten  Producte 
jener  Zeit\  Schmidt  erweitert  also  Bülows  Ansicht  und 
nennt  direct  die  Cent  nouvelles  als  Quellen,  ja  er  charak- 
terisirt  den  Stoff,  ob  aus  eigener  Kenntniss  der  Goroez  oder 
aus  einem  Rückschlüsse  von  Kleist,  das  ist  nicht  gesagt« 
Vorsichtiger  beruft  sich  Theophil  Zolling  in  seiner  Ausgabe 
bei  Kürschner  (4,  IV)  auf  Bülow,  sogar  mit  einem  starken 


Werner,  Kleists  Marquise  von  0.  487 

Zweifel  an  der  Richtigkeit  dieser  Ansicht;  jedesfalls  aber 
hat  er  die  Novelle  der  Frau  von  Gomez  nicht  gekannt. 

Strenge  genommen  nennt  aber  Bülow  gar  nicht  die 
Cent  nouvelles  nouvelles,  sondern  nur  die  Frau  von  Gomez 
als  Kleists  Quelle.  Nun  findet  sich  in  ihrer  Sammlung  Los 
Journees  amüsantes,  d^diees  au  Boi  (Neuvi^me  edition, 
revue  et  corrig^e,  Amsterdam  M.D.CC.LXXVI  und  zwar  im 
7.  Bd.  S.  181— 209)  eine  Nouvelle  Ezpagnole  'La  Force  du 
sang\  in  welcher  sich  Ähnlichkeit  mit  unserer  Novelle  zeigt; 
aber  diese  Novelle  wird  von  Silviane,  einer  Person  der 
Rahmenerzählung  ausdrücklich  'une  histoire'  genannt^ 
welche  Ar61ise,  eine  andere  Figur  der  Rahmenerzählung 
'a  tir6e  du  fameux  Michel  Cervantes  de  Saavedra,  et  qu'elle 
a  traduite  d'une  maniere  qui  me  paroit  digne  d'attention\ 
Es  ist  die  Geschichte,  welche  sich  in  der  Übersetzung  von 
Adelbert  Keller  und  Friedrich  Notter  (Stuttgart  t841 
9,  102—130)  unter  dem  Titel  'Die  Macht  des  Bluts'  findet. 
Zolling  sagt  (S.  lY),  das  Motiv  sei  in  Wirklichkeit  so  alt 
wie  die  Erzählungslitteratur  überhaupt  und  schon  oft  be- 
handelt worden.  ^So  werden  in  Cervantes':  De  la  fuer^a 
de  la  sangre  ähnliche  Verhältnisse,  freilich  massvoller,  dar- 
ge8tellt\  Rodolfo  entführt  Leocadia  und  thut  ihr  Gewalt 
an,  während  sie  ohnmächtig  ist;  sie  sieht  nicht,  wer  sich 
an  ihr  versündigt.  Der  Knabe  jedoch,  dem  sie  das  Leben 
schenkt,  führt  die  Erkennung  mit  der  Familie  seines  un- 
bekannten Yaters  herbei,  Rodolfo  und  Leocadia  werden 
schliesslich  ein  Paar.  Man  könnte  den  Schluss  Cervantes* 
und  Kleists  vergleichen,  aber  der  Hinweis  auf  eine  weitere 
grosse  Nachkommenschaft  liegt  zu  nahe,  wird  auch  von 
Pitaval  angedeutet,  so  dass  man  keine  Consequenzen  aus 
dieser  Ähnlichkeit  ziehen  darf. 

Nun  bedarf  es  aber  dieser  meiner  Yermuthung  gar 
nicht,  denn  in  den  Cent  Nouvelles  Nouvelles  findet  sich 
unsere  Geschichte  wirklich;  Erich  Schmidt  schickte  mir 
freundlichst  einen  Auszug  der  betreffenden  Novelle  aus  den 
^Hundert  Neuen  Neuigkeiten,  oder  auserlesener  Historien 
Zehnter  und  letzter  Theil.  Aus  dem  Frantzösischen  der 
FRAU  von  Gometz  ins  deutsche  übersetzt  von  P.  G.  v.  K. 
Berlin,    zu    finden    bey    Johann    Andreas    Rüdiger    1740^ 


488  Werner,  Kleists  Marqnise  von  0. 

(8.  108—161),  welchen  ihm  A.  v.  Weilen  1883  besorgt 
hatte  (vgl.  Koberstein  5,  126),*)  In  der  mir  vorliegenden 
Ausgabe  ^Les  Cent  Nouvellos  Nouvelles,  De  Madame  de 
GOMEZ.  A  laHaye,  Chez  Pierre  de  Houdt.  M.  DCC.  XXXIX. 
steht  im  19.  Bde.  S.  184—278  'L^Amant  Rival  et  Confident 
de  Lui  Mesme'  als  XCVII.  Jfouvelle.  (In  der  Übersetzung 
8.  108  — 161  als  97.  Historie  'Der  Liebhaber,  sein  eigener 
Nebenbuhler  und  Vertrauter'.) 

Madame  de  Gomez  beginnt  nach  ihrer  Art  mit  der 
Betrachtung,  wie  gut  es  wäre,  wenn  schon  die  Jugend  die 
Klugheit  des  Alters  hätte;  so  aber  strebe  sie  nur  nach 
Vergnügungen.  Wenn  die  folgende  Geschichte  gut  aus- 
gehe, mögen  die  Leichtsinnigen  nicht  etwa  folgern,  man 
dürfe  sich  seinen  Wünschen  hingeben. 

Der  reiche,  ausgezeichnete,  früh  verwaiste  Graf  d'Helemont, 
Gentilhomme  Breton,  gerät  mit  einem  anderen  Adeligen  in  Streit, 
sie  duelliren  sich,  der  Gegner  föllt.  Als  Gapuziner  verkleidet 
flieht  der  Graf,  um  sich  eine  Zeit  vor  den  Nachstellungen  der 
Gerechtigkeit  in  einem  Kloster  zu  verbergen.  Aus  Sorge  um 
seine  Sicherheit  reist  er  zu  Fuss.  Nachdem  er  schon  ziemlich 
weit  gewandert  war,  beschliesst  er  in  der  Ortschaft  'nomm^  les 
Trois  Maris'  Rast  zu  machen.  Bei  einem  Hause,  das  eine  'Ferme' 
schien,  trifft  er  mit  einem  Bauern  zusammen,  eigentlich  dem 
'Fermier',  der  ihn  bittet,  bei  der  Tochter  des  Hauses,  welche  vor 
kurzem  gestorben  war  und  am  folgenden  Tage  begraben  werden 
sollte,  die  Leichenwache  zu  halten.  Der  Graf  geht  darauf  ein 
und  wird  nun  in  einen  Saal  geführt,  wo  die  Leiche  auf  einem 
Bette  liegt.  Er  bleibt  ganz  allein,  da  sich  der  Fermier  fürchtet; 
nachdem  er  sich  an  Brod,  Wein  und  Früchten  gelabt,  lockt  es 
ihn,  die  Leiche  zu  betrachten;  er  deckt  das  Tuch  auf  und  erblickt 
mit  grosser  Überraschung  ein  sechzehn-  bis  siebzehnjähriges 
Mädchen  von  höchster  Schönheit.  'La  nature  sembloit  s*etre 
diverlie  ä  rassembler  pour  eile  tout  ce  qui  peut  rendre  une  beautä 
parfaite';  er  wird  hingerissen,  ihren  marmorkalten  Körper  mit 
einem  Feuer  zu  umarmen,  dessen  Glutb  er  nicht  zurückzudrängen 
vermochte.  Kaum  aber  hat  er  das  Verbrechen  begangen,  über- 
kommt ihn  das  Grauen  vor  seiner  Thal,  ihm  ist  es  als  erhebe 
sich  sogar  die  Todte  um  sich  zu  rächen;  da  flieht  er  voll  Ent- 
setzen aus  dem  Saale,  dem  Hause,  und  eilt  Tag  und  Nacht  bis 
er  im  Gonvent  de  la  Beaumete  zu  Angers  anlangt,  wo  er  endlich 


>)  Sein  Citat    Pfeiffers   Germania  3,  204   bezieht    sich    auf  die 
Journ(^e8  amüsantes. 


Werner,  Kleists  Marquise  von  O.  489 

nach  langen  inneren  Qualen   dem  Guardian  ein  umfassendes  Ge- 
ständniss  macht. 

Bald  nachdem  er  die  Todte  verlassen  hatte,  war  der  Fermier 
mit  seiner  Frau  gekommen,  nach  ihm  zu  sehen;  sie  fanden  ihn 
nicht,  hörten  aber  ein  Seufzen  vom  Bette  der  Todten  her.  Auf 
ihr  Geschrei  eilten  die  anderen  Leute  herbei,  eine  Freundin  wagt 
es  zur  Todten  hinzutreten  und  sielit  Silvie  erwachen.  Die  Freude 
der  rasch  herbeigeholten  Mutter  ist  unbeschreiblich.  Madame 
de  Sernant  war  die  Witwe  eines  bretonischen  Edelmannes  und 
stammte  aus  Anjou;  Silvie  war  ihr  einziges  Kind.  Für  gewöhn- 
lich wohnen  sie  in  Angers  und  kehren  nach  Silviens  Errettung 
dahin  von  ihrem  Landgute  zurück.  Zufälliger  Weise  sieht  der 
Graf  d'Helemont  die  Mutter  und  die  Tochter  in  der  Kirche  und 
verliebt  sich  in  die  holde  Jungfrau,  ohne  sie  wiederzuerkennen. 
Der  Guardian  selbst  interessirt  sich  für  die  Verbindung,  da  ihm 
der  Graf  gefallt,  und  macht  den  Freiwerber.  Silvie  ist  Zuhörerin 
bei  dieser  Unterredung  und  'rougit  beaucoup  et  se  sentit  exlre- 
mement  agit^  tant  qu'il  dura'.  Sie  liatte  noch  nie  an  eine  Ver- 
mählung gedacht,  die  Schilderungen  des  Guardians  machen  sie 
auf  den  Grafen  begierig.  Als  er  nun  am  nächsten  Tage  er- 
scheint, entzückt  er  durch  seine  Schönheit,  seine  Liebenswürdig- 
keit und  Bescheidenheit  Mutter  und  Tochter.  Er  selbst  aber 
konnte  in  der  wie  Rosen  und  Lilien  blühenden,  schönen,  frischen, 
wohlgerundeten  Silvie  nicht  die  todte,  bleiche,  kalte,  abgemagerte 
Gestalt  wieder  erkennen,  an  die  er  so  ungerne  zurückdachte. 
Während  der  nächsten  Zeit  gewinnt  er  das  Herz  Silviens  und 
wirbt  um  sie  bei  der  Mutter,  die  ihn  freundlich  aufnimmt;  die 
Verlobung  wird  in  Gegenwart  des  Guardians  vollzogen,  trotzdem 
lässt  die  vorsichtige  Mutter  die  Liebenden  nicht  einen  Augenblick 
allein.  Nach  zwei  Monaten  reinen  Glückes  wird  d'Helemont  von 
seinen  Verwandten  und  Freunden  nach  Rennes  zurückgerufen, 
um  die  letzten  Formalitäten  seiner  Begnadigung  zur  erfüllen. 

In  Rennes  wird  er  aber  durch  fast  sieben  Monate  aufgehalten, 
da  er  seine  Verhältnisse  ordnen  muss,  welchen  er  während  seiner 
Junggesellenzeit  nicht  genügend  Aufmerksamkeit  schenkte.  Die 
Briefe  seiner  Braut  und  des  Guardians  sind  sein  einziger  Trost, 
aber  ihm  kam  vor,  dass  sie  anfmgen  seltener  und  verändert  im 
Tone  zu  werden.  Er  beschleunigt  also  seine  Rückkehr  so  weit 
nur  möglich. 

'Mais  tandis  qu'il  y  travailloit  avec  ardeur  il  se  passoit  d'^tranges 
avantures  chez  Mad.  de  Sernant;  il  y  avolt  ä  peu  pr^s  un  mois 
que  le  Comte  6toit  parti,  quand  la  belle  Silvie  se  sentit  tout  ä 
coup  attaqu^  de  maux  d'estomac  et  de  si  fr^uens  vomissemens 
qu'elle  en  tomba  dans  une  m^lancolie  qui  ne  lui  permettoit  pas 
de  prendre  aucun  plaisir.  Madame  de  Sernant  attribua  d'abord 
ce  changement  de  sant^  ä  Tabsence  du  Comte,  et  ne  negligea 
rien  de  ce  qui  pouvoit  la  dissiper;  Silvie  qui  avoit  la  m^me  pens^e, 


490  Werner,  Kleists  Marquise  von  0. 

et  qui  ne  vouloit  point  afHiger  sa  mere,  faisoit  de  son  cöt^  ce 
qui  lui  ^toit  possible  pour  se  contraindre ;  mais  enfin  le  mal  vint 
ä  un  tel  point,  que  Madame  de  Sernant  r^outant  les  accidens 
qu'elle  avoit  essuy^s  il  y  avoit  quatre  raois,  appella  son  Chirurgien 
de  eonfiance,  et  le  conjura  d'examiner  ce  qui  pouvoit  produire 
la  mauvaise  sant^  de  sa  (iUe.  Get  homme  ne  mit  pas  beaucoup 
de  tems  ä  la.d6couvrir  son  exp^rience  et  les  questions  qu'il  fit 
ä  Silvie  Ten  instruisirent  sufiisamment.  Mais  extr^mement  surpris 
qu^  on  ]e  fit  venir  pour  une  chose  ä  laquelle  Madame  de  Sernant 
devoit  se  connottre  presque  autant  que  lui,  et  jugeant  par  les 
r^ponses  de  Silvie,  qu^elle  ignoroit  ou  feignoit  d'ignorer  son  ^tat, 
il  crut  qu'il  y  avoit  du  mystere  dans  cette  affaire,  et  qu'il  ne 
devoit  s'expliquer  qu'  ä  la  mere,  ainsi  s'^tant  rendu  pr^s  d'elle  et 
Tayant  tir^e  ä  part:  Je  m'6tonne,  Madame,  lui  dit-il,  que  vous 
ayez  crü  avoir  besoin  de  mes  connoissances  sur  des  accidens  qui 
vous  ont  et6  assez  familiers  pour  vous  en  souvenir,  mais  je  me 
flatte  que  s^achant  la  part  que  je  prends  ä  ce  qui  vous  regarde. 
vous  vous  gtes  servie  de  ce  d^tour  pour  me  mieux  marquer  votre 
eonfiance,  en  m'apprenant  par-lä  que  ]a  charmante  Silvie  est 
marine.  Tout  ce  que  je  vois  me  fait  juger  que  cet  hyrae  est 
encore  un  secret;  vous  ne  pouviez  le  mettre  en  des  mains  plus 
fidelles;  j'aurai  toute  Tattention  possible  k  sa  grossesse,  mais 
rassurez-vous,  eile  n'a  que  les  maux  qu'on  doit  avoir  dans  cette 
Situation,  et  je  puis  m§me  vous  assurer  d'une  heureuse  delivrance. 

On  peut  ais^raent  juger  de  la  surprise  de  Madame  de  Sernant 
k  ce  discours,  la  foudre  tomb^  sur  sa  t^te  ne  lui  eQt  pas  caus^ 
plus  de  trouble;  mais  en  doutant  point  de  la  science  d'un  homme 
qui  passoit  pour  le  plus  habile  de  son  si^le,  eile  prit  son  parti 
sur  le  champ  et  renfermant  dans  son  coeur  son  mortel  d^sespoir: 
11  est  vrai,  lui  r6pondit-elle,  que  Silvie  est  mari^,  et  que  j'avois 
dessein  de  vous  en  confier  le  secret,  mais  eile  a  et^  si  peu  de 
tems  avec  son  epoux  qu^elle  ni  moi  ne  Tavons  point  cru§  dans 
r^tat  que  vous  dites.  Elle  Test,  Madame,  interrompit-il ,  et  de 
prös  de  quatre  mois.  Gela  est  certain  et  vous  pouvez  ni'en  croire; 
puisque  cela  est  ainsi,  reprit  Madame  de  Sernant,  dans  une  agi- 
tation  qu'elle  avoit  une  peine  extreme  k  cacher,  gardez  lä-dessus 
un  secret  inviolablc,  je  vous  en  conjure,  c'est  la  chose  du  monde 
la  plus  importante  pour  eile  et  pour  son  mari,  vous  les  perdriez 
Tun  et  Tautre  si  vous  en  parliez;  je  compte  sur  votre  amitie,  je 
vous  enverrai  chercher  quand  vos  soins  lui  seront  necessaires. 

Le  Chirurgien  lui  promit  d'ßtre  discret,  et  Tayant  pri^  de 
ne  le  point  6pargner,  la  laissa  en  libert^  de  refl^chir  sur  le  Irait 
fatal  qu'il  venoit  de  lui  porter.  Cette  mere  infortun^e  fut  pas 
plOtöt  seule  qu'elle  s'abandonna  ä  toute  sa  douleur,  agit^  de 
mille  pens^es  diff<6rentes,  eile  se  promena  long-tems  a  grands  pas 
dans  son  appartement  sans  sgavoir  ce  qu*elle  faisoit,  ce  qu'elle 
vouloit,  ni  ä  quoi  eile  se  d^termineroit,  son  deshonneurs,  la  con- 


Werner,  Kleists  Marquise  Ton  O.  491 

juncture  dans  laquelle  il  lui  arrivoit,  son  amour,  et  sa  confiance 
dans  la  vertu  de  sa  fiUe  qu'elle  voyoit  si  cruellement  d^truite,  et 
le  courroux  qu'une  pareille  indignit^  excitoit  dans  son  coenr, 
lui  donnoient  de  moment  en  moment  des  transports  de  frayeur, 
qu'elle  auroit  poignard^  Silvie,  si  dans  ces  tristes  instans  eile  se 
füt  Offerte  ä  ses  regards.  Cependant  son  ame  fatigu6e  de  tant 
d'agitations  tomba  insensiblement  dans  cet  6tat  de  langueur  et 
d'abattement  qui  suit  ordinairement  les  passions  trop  vehementes ; 
et  plus  capable  alors  de  r^fl^xion,  eile  en  üt  de  plus  sens^es,  et 
jugeant  qu'elle  alloit  se  couvrir  d'une  honte  6ternelle,  si  la  pru- 
dence  ne  regloit  la  conduite  qu'elle  devoit  tenir,  et  qu'un  6clat 
acheveroit  de  perde  sa  fille  sans  apporter  de  remede  ä  sa  faute: 
eile  se  calma,  et  tournant  toute  sa  fureur  contre  le  seducteur  de 
son  innocence,  eile  ne  songea  plus  qu^aux  moyens  de  le  connoTtre, 
et  de  le  contraindre  ä  r^parer  un  si  sanglant  affront,  persuad^ 
que  ce  ne  pouvoit  etre  le  Gomte  d'Helemont,  puisqu'il  n'avoit  en 
nulle  particularit^  avec  sa  fille,  et  qu'il  n'y  avoit  aucune  apparence 
qu^un  homme  qui  vouloit  etre  ^poux,  eüt  cherch^  Toccasion  de 
mesestimer  celle  dont  il  avoit  dessein  de  faire  sa  femme;  eile 
resolut  de  prendre  des  mesures  pour  rompre  poliment  avec  lui, 
d^s  qu'elle  auroit  s<^u  de  Silvie  le  nom  de  son  amant.' 

Nun  lässt  sie  Silvien  rufen. 

*La  charmante  Silvie  venoit  de  recevoir  une  lettre  du  Gomte, 
eile  y  avoit  fait  r^ponse,  et  les  tenoit  Tune  et  Tautre  ä  sa  main 
pour  les  montrer  ä  Madame  de  Sernant,  quand  eile  entra  dans 
son  cabinet ;  jamais  eile  n'avoit  paru  si  belle  aux  yeux  de  sa  mere ; 
la  n^gligence  de  son  ajustement,  que  ne  la  rendoit  que  plus  tou- 
chante,  la  modestie  dont  ses  charmes  4toient  accompagnes,  la 
pudeur  qui  brilloit  sur  son  visage,  et  la  grace  avec  laqu'elle  eile 
pr^senta  ses  lettres  k  cette  Mere  affligee,  la  jetterent  dans  un 
embarras  qui  ne  seroit  pas  echappe  ä  Silvie  si  Madame  de  Ser- 
nant n'eöt  pris  promptement  ces  papiei*s  pour  cacher  son  trouble 
sous  le  voile  de  l'attention  qu'elle  paroissoit  donner  ä  leur  lecture/ 
Beim  scheinbaren  Lesen  fasst  sich  die  Mutter  und  wendet  sich 
endlich  zu  Silvie  sie  scharf  üxirend:  'La  conßance  que  vous  me 
t^moignez,  lui  dit-elle,  auroit  de  quoi  me  plaire,  si  vous  Taviez 
rendue  ^gale  ä  celle  que  j'ai  toujours  prise  en  vous;  mais,  Silvie, 
vous  y  avez  bien  mal  r^pondu,  et  vous  vous  etes  licenti^e  ä  ces 
choses,  que  je  crains  bien  qui  ne  vous  arrachent  le  coeur 
d'Helemont;  il  est  vrai  que  le  mariage  peut  r^parer  votre  im- 
prudence;  mais  il  est  si  rare  de  voir  un  homme  constant  lors- 
qu'il  n'a  plus  rien  ä  d^irer,  que  je  tremble  que  votre  faute  ne 
vous  fasse  ^prouver  un  cruel  changement.  Malheureuse  Silvie, 
ajoute-t-elle,  en  laissant  couler  des  larmes  qu'elle  ne  put  retenir; 
le  soins  que  j'ai  pris  de  former  votre  ame  ä  la  sagesse,  et  celui 
que  je  me  suis  donn6  d'^clarcir  toutes  vos  d^marches ;  n'ont  donc 
pü  vous  garantir  de  tomber  dans  un  d^reglement  si  contraire  ä 


492  Werner,  Kleists  Marquise  von  0. 

Topinion  que  j'avois  de  vous.  Yous  ne  devez  pas  doubter  que  je 
ne  souhaite  ardemment  pour  mon  honeur  et  pour  le  vdtre,  que 
le  Comte  efTectue  ses  promesses  malgr^  la  foiblesse  que  vous 
avez  eue  pour  lui;  je  veux  nieme  m'en  ilatter,  mais,  Süyie,  je 
ne  vous  en  trouve  pas  moins  coupable,  et  n'en  suis  pas  moius 
irrit^  contre  vous. 

LUnnocence  ne  s'allarnie  pas  ais^ment,  et  quoique  les  paroles 
de  Madame  de  Sernant  parussent  terribles  a  Silvie;  comme  el)e 
n'avoil  rien  ä  se  reprocher,  ej.  qu'elle  s^iraaginoit  pouvoir  detruire 
ses  soup<2ons,  eile  n'en  fut  6niue  que  foiblement,  et  jettaut  sur 
eile  des  yeux  remplis  de  tendresse:  J'ignore,  Madame,  lui  r^pondit- 
eile,  avec  douleur,  laquelle  de  mes  actions  a  pü  vous  faire  juger 
si  mal  de  ma  conduite,  je  ne  sqache  pas  m'dtre  licenti^  ä  rien 
avec  le  Comte  qui  puisse  vous  offenser,  ni  m'attirer  le  reproche 
sanglant  que  vous  me  faites.  Ce  n'est  que  par  votre  aveu  que 
j'ai  suivi  mon  penehant  pour  d'Helemont.  Ce  n'est  qu'en  votre 
pr^sence  que  je  lui  ai  d^lar^  mes  sentimens;  je  n*  en  ai  jamais 
re<2u  de  lettres,  et  n'y  ai  poinl  fait  de  reponses  sans  vous  les 
montrer,  eniin  je  ne  me  suis  point  ^art^e  des  vertueux  principes 
que  vous  m'avez  donnes,  et  j'ose  vous  assOrer,  que  le  Comte  ne 
changera  jamais  de  sentimens,  s'il  n'en  change  que  par  ia 
foiblesse  dont  vous  soupqonnez.  La  candeur  ^toit  si  bien  peinte 
sur  le  visage  de  cette  belle  fille,  que  sans  la  certitude  oü  ^toit 
Madame  de  Sernant  de  son  ^tat,  il  lui  aui*oit  6i^  impossible  de 
douter  de  son  innocence;  mais  prenant  pour  audace  son  assOrance 
et  sa  fermet6,  eile  laissa  un  libre  cours  ä  sa  fureur,  et  par  les 
plus  outrageantes  invectives,  eile  lui  fit  connoltre  le  motif  de  son 
courroux,  que  le  Comte  n'^toit  pas  celui  qu'elle  accusoit  de  sa 
honte,  et  la  mena^a  de  la  tuer,  si  eile  ne  lui  nommoit  son  in- 
digne  rival. 

L'^tonnement  de  la  triste  Silvie  est  plus  ais^  ä  s'imaginer 
qu'ä  d^crire,  et  par  instant  de  refl^xion  sur  les  symptömes  des 
ses  incommodit^  ne  doutant  point  de  la  v^rit^,  eile  en  fut  ^pou- 
vantee,  mais  eile  n*en  fut  pas  moins  ferme  ä  soütenir  son  inno- 
cence, et  Temportement  de  sa  mere  lui  donnant  plus  de  douleur 
que  d'effroi,  eile  en  sentit  ranimer  son  courage,  et  lui  d^ouvrant 
son  sein,  eile  la  pria  de  se  satisfaire  si  son  sang  pouvoit  appaiser 
sa  colere,  mais  qu'elle  la  conjuroit  d'etre  persuadee  quelle  n'avoit 
jamais  donn^  lieu  ä  cet  accident  singulier;  qu'elle  n'avoit  de  sa 
vie  aim6  que  le  Comte  d'Helemont,  qu'il  6toit  le  seul  homme 
qu'elle  n'eüt  pas  6vit^,  qu'il  n'y  en  avoit  pas  ün  dans  le  monde, 
qui  se  püt  vanter  d'avoir  ^t^  seul  avec  eile,  et  qu'elle  ignoroit 
absolument  le  tems,  la  cause  et  l'auteur  de  sa  disgrace. 

Toute  la  violence  de  Madame  de  Sernant  ne  l'empdchoit  pas 
d'^tre  mere,  l'action  de  Silvie  la  desarma,  mais  sans  la  d^tromper, 
et  ne  se  ßgurant  pas  qu'elle  püt  n'etre  point  coupable,  eile  crut 
qu'elle  joignoit  la  dissimulation  ä  l'impudence,  et  s'^tant  exhal^ 


Werner,  Kleists  Marquise  von  0.  493 

en  injureSy  sans  pouvoir  tirer  d^elle  Taveu  qu'elle  en  exigeoit; 
eile  la  renvoya  dans  son  apparteinent  avec  defense  d'en  sortir, 
et  comme  eile  6toit  mont^  ä  ce  degr6  de  coUets,  demanda  le 
Gardien,  et  pleine  de  son  malheiir  lui  en  fit  le  recit  dans  des 
termes  qui  prouvoient  6galement  son  d^espoir  et  sa  vertu.' 

Der  Guardian  ist  freilich  sehr  überrascht  und  vermag  kaum 
an  die  Wahrheit  der  Thatsache  zu  glauben,  verspricht  aber,  die 
Mutter  in  ihren  Bemühungen  zu  unterstutzen,  auch  will  er  von 
dem  Mädchen  den  Namen  des  Verführers  zu  erfahren  suchen. 

Tendant  ce  tems  la  malheureuse  Silvie  abandonn^  ä  eile- 
m^me  versoit  un  torrent  de  larmes.  Sure  de  son  innocence,  eile 
voyoit  avec  autant  de  surprise  que  de  douleur,  qu'elle  ne  pouvoit 
plus  §tre  qu'un  objet  de  m^pris  pour  le  Comte,  eile  avoit  trop 
d'esprit  pour  blämer  Tincr^ulit^  de  sa  mere,  et  pour  ne  pas 
concevoir  que  ce  qu'elle  affirmoit,  tout  vrai  qu'il  6toJt  devoit 
parottre  apocriphe,  puisqu'elle-m^me  le  trouvoit  tel;  ensorte  que 
ce  qui  faisoit  la  tranquillit^  de  sa  conscience,  faisoit  en  m§me 
tems  le  motif  de  son  d^sespoir.  Mais  ce  qui  le  portoit  k  Vexc^s 
^toit  la  perte  de  Testime  du  seul  homme  pour  qui  son  coeur 
avoit  ^t^  sensible,  qu'on  eüt  Tindiscr^tion  de  lui  d^couvrir  son 
infortune,  ou  qu'on  prit  un  autre  pr^texte,  pour  lui  manquer  de 
parole ;  eile  voyoit  de  tous  cöt^  qu'il  seroit  en  droit  de  Taccuser 
de  perfidie  et  d'infid^lit^ ;  eile  se  faisoit  m§me  un  point  de  d^li- 
catesse,  de  contribuer  ä  Tobliger  de  ne  plus  penser  ä  cet  hymen, 
n'  6tant  plus  digne  de  sa  tendresse,  et  ne  se  sentant  pas  assez 
hardie  pour  se  montrer  ä  ses  yeux  apr^  une  pareille  avanture; 
eile  eüt  cependant  d^sir^  qu'il  eüt  connu  le  fond  de  son  ame,  et 
qu'il  fut  instruit  de  son  malheur  tel  qu*il  6toit  en  effet,  afin  qu'il 
füt  persuad^  de  sa  sagesse  et  de  sa  constance,  et  qu'il  la  plaignit 
Sans  Tonträger  par  des  pens^  qu*elle  ne  m^ritoit  pas.  Mais 
comme  cet  qu'elle  souhaitoit  ne  s'accordoit  en  nulle  fa^on  avec 
ce  qui  prouvoit  le  peu  de  soin  qu'elle  avoit  eu  de  sa  r^putation; 
eile  se  sentoit  k  la  fois  p^n^tr^  de  honte  et  de  douleur/ 

Während  sie  sich  so  quält,  erscheint  der  Guardian,  der  ihr 
mit  Strenge  zuredet;  ohne  ihn  zu  unterbrechen  hört  Silvie  zu, 
aber  dann  erv^idert  sie  ihm  'avec  respect;  qu'elle  n'ignoroit  pas 
ce  que  m^ritoit  la  faut  dont  on  Taccusoit,  et  dont  eile  paroissoit 
d'autant  plus  coupable,  qu'elle  n'avoit  nulle  preuve  ä  donner  de 
son  innocence,  que  son  innocence  m6me.  Qu'elle  ne  pouvoit 
r^voquer  en  ^oute  sa  Situation;  qu'elle  n'avoit  pas  dessein  non 
plus  de  trancher  du  merveilleux,  ni  se  mettre  ä  Tabri  du  cour- 
roux  de  sa  mere,  en  voulant  faire  croire  Pimpossible,  mais  que 
malgr^  toutes  ces  choses  eile  protestoit  par  ce  qu'il  y  avoit  de 
plus  Saint,  qu'elle  n'avoit  nulle  connaissance  du  principe  de  son 
malheur.' 

Auch  der  Guardian  fasst  diese  Rede  so  auf  wie  Madame 
de  Sernant  und  verlässt  das  Mädchen  mit  Unwillen ;  er  warnt  die 

Viertayahnofarin  fOr  littentoitroschichte  m  B3 


494  Werner,  Kleists  Mürqnise  Ton  0. 

Mutter  vor  irgend  einer  'extr§mit^\  welche  das  Leben  des  noch 
ungeborenen  Wesens  gefährden  könnte,  und  verabredet  mit  ihr 
das  Benehmen  gegenüber  dem  Grafen.  Die  Briefe  sollten  immer 
seltener  und  im  Tone  veränderter  werden,  um  den  Bruch  ein- 
zuleiten. 

Eine  zweite  Unterredung  der  Frau  von  Semant  und  ihrer 
Tochter  verlief  nicht  weniger  beweglich  als  die  erste;  'Silvie 
r^pondit  des  larmes  et  parla  toujours  de  meme\  Da  sich  nun 
aber  Silviens  Zustand  nicht  mehr  länger  verbergen  läftt,  wird 
die  ehemalige  Gouvernante  Silviens,  Valentine,  ins  Vertrauen 
gezogen.  Sie  verspricht  für  das  Kind  zu  sorgen,  Silvie  aber  soll 
den  Rest  ihrer  Tage  im  Kloster  verbringen. 

Dem  Grafen  kommen  die  Briefe  verdächtig  vor  und  er  eilt 
daher  nach  Angers,  wo  er  vom  Guardian  im  Kloster  zurück- 
gehalten wird,  damit  er  Niemanden  sehe,  bevor  er  die  Wahrheit 
wisse.  D'Helemont  lässt  sich  keine  Vorreden  gefallen,  sondern 
dringt  auf  den  Kern.  Da  gesteht  ihm  der  Guardian,  dass  Silvie  lebe, 
'mais  eile  n*est  plus  digne  de  vous',  er  habe  einen  Nebenbuhler, 
den  Silvie  nicht  nennen  wolle.  Der  Graf  ist  erstarrt,  er  hört 
schweigend  zu,  dann  aber  sagt  er,  dass  man  sich  irre,  dass  es 
nicht  sein  könne  und  dass  ers  nie  glauben  werde.  'Gette  incre- 
dulit6  surprit  le  Gardien',  er  verschweigt  nun  nichts  mehr  und 
seine  Rechtschaffenheit  verbietet  dem  Grafen  jeden  Zweifel.  Der 
Graf  wird  von  widerstreitenden  Gefühlen  gepeinigt  und  beschliesst 
das  Haus  der  Madame  de  Sernant  zu  bewachen,  um  den  Neben- 
buhler zu  entlarven.     Verkleidet  begibt  er  sich  dahin. 

Die  unglückliche  Mutter  hat  sich  eingeschlossen,  Valentine 
aber  trifft  alle  nöthigen  Vorbereitungen,  um  die  Entbindung  zu 
verheimlichen.  Sie  hat  einen  ihrer  Neffen  bestellt,  dass  er  das 
neugeborene  Kind  in  Empfang  nehme;  zufällig  kommt  nun  gerade 
d'Helemont  in  dem  Momente  zu  dem  Hause,  da  Valentine  das 
Kind  herausbringt  und,  da  sie  ihn  für  ihren  Neffen  L^n  hält, 
übergibt  sie  ihm  das  Kind.  Sein  erstes  Gefühl  ist,  das  Kind 
umzubringen,  aber  ein  kläglicher  Schrei  entwaffnet  ihn,  er  trägt 
das  Kind,  einen  Knaben,  heim  und  lässt  eine  Amme  kommen. 
Unbegreiflich  erscheint  es  ihm,  dass  er  für  das  Kind  seines 
Nebenbuhlers  ein  zärtliches  Gefühl  hege,  und  so  verbringt  er 
unruhig,  gequält  die  Nacht  und  einen  Theil  des  folgenden  Tages. 

Inzwischen  ist  Silvie  dem  Tode  nahe  und  lässt  ihre  Mutter 
zu  sich  bitten.  Diese  vergisst  in  ihrer  Angst  'les  sujets  des 
plaintes  qu'elle  croyoit  avoir',  und  eilt  zu  Silvie,  tröstet  sie,  ver- 
zeiht ihr  den  Fehltritt;  Silvie  umarmt  ihre  Mutter,  die  sich  in 
Thränen  badet,  küsst  ihr  die  Hand  ^avec  ardeur:  Je  jure  Madame, 
lui  dit-elle,  par  le  jour  que  j*ai  re^u  de  vous,  et  que  je  vais 
bientöt  perdre,  que  je  suis  devenuS  mere  sans  le  s<^voir;  faites- 
moi  la  grace  de  me  croire,  ajoüta-t-elle,  en  se  penchant  dans 
ses  bras,  et  daignez  ne  pas  faire  tomber  votre  courroux  sur  rinno- 


Werner,  Kleists  Marquise  Yon  0.  495 

Cent  qui  rae  donne  la  mort ;  il  n^est  point  coupable,  et  je  le  suis 
aussi  peu  que  lui/  Diese  Versicherung  erregt  neue  Zweifel  im 
Herzen  der  Madame  de  Sernant,  aber  die  Zärtlichkeit  siegt  und 
sie  befiehlt  Valentine,  dem  Neffen  die  grösste  Sorgfalt  für  das 
Kind  aufzutragen.  Nun  stellt  sich  heraus,  dass  L^n  einen  Theil 
der  Nacht  vergebens  gewartet  hatte  und  schliesslich  fortgegangen 
war.  Die  verzweifelte  Valentine  eilt  zum  Guardian,  dass  er  für  sie 
vorbitte.  Zufällig  trifft  sie  mit  dem  Grafen  zusammen,  der  sie 
für  eine  Mitwisserin  des  ganzen  Geheimnisses  hält  und  von  ihr 
Näheres  über  Lton,  seinen  muthmasslichen  Nebenbuhler,  erfahren 
will.  Valentine  beschwört  Silviens  Unschuld,  sie  habe  sie  stets 
von  der  Geburt  bis  zum  Tode  bewacht;  dies  gibt  Anlass  von 
jenem  Schein tode  zu  berichten.  Dringend  erkundigt  sich  der 
Graf  nach  den  näheren  Umständen  und  erfährt  alles.  'Grand 
Dieu!   s'ecria  le  Comte  avec  transports,   innocente  Silvie!     Quels 

biens   pourront  r^parer  les   maux   que  je  vous  ai  causez 

La  bonne  Valentine  surprise  d^un  si  prompt  changement,  et  de 
le  voir  comme  un  homme  ^perdu,  ne  s^avoit  que  faire  et  que 
r^pondre';  aber  er  lässt  ihr  keine  Zeit  zu  überlegen,  'venez,  con- 
dujsez-moi,  je  ne  puis  §tre  tranquille  que  je  n^aye  vü  Silvie',  ohne 
umzusehen  läuft  er  zu  Madame  de  Sernant. 

Diese  hatte  sich  eben  in  ihre  Gemächer  begeben,  da  Silvie 
eingeschlafen  war ;  'eile  6toit  assise  dans  un  fauteüil,  r^vant  pro- 
fondement  ä  toute  cette  extraordinaire  avanture,  quand  eile  entendit 
quelqu'un  qui  s'avanQoit  pr^s  d'elle,  en  marchant  ä  grand  pas: 
fäch^  de  ce  qu'on  laissoit  entrer  le  monde  sans  Tannoncer;  eile 
se  levoit  pour  sqavoir  qui  c'6toit;  lorsque  le  Comte  s*offrit  ä  ses 
r^gards,  et  fut  plütöt  ä  ses  pieds  qu'elle  n'eut  quitt4  sa  place. 
Que  vois-je,  s*6cria-t-elle,  malheureux  d'Helemont,  que  venez-vous 
chercher  ici? 

Le  pardon  de  mon  crime,  lui  r^pondit-il,  en  lui  embrassant 
les  genoux.  Oüi,  Madame,  ajoüta-t-il,  Silvie  est  innocente,  et  je 
suis  le  plus  coupable  de  tous  les  hommes:  Quoi,  Comte,  lui  dlt 
Madame  de  Sernant,  en  le  regardant  avec  ^tonnement;  seroit-il 
possible  que  vous  eussiez  abus6  de  mes  bontez,  et  si  cela  est, 
comment  justifierez-vous  Silvie;  car  enfm,  continua-t-elle ,  ce 
discours  et  vos  transports  ne  m'apprennent  que  trop  que  vous 
SQavez  le  sujet  de  mes  pleurs.'  Nun  deutet  er  sein  Verbrechen 
an,  da  umarmt  ihn  Madame  de  Sernant  mit  den  Worten:  '0! 
Mon  fils,  venez  rendre  la  vie  ä  celle  de  qui  vous  r^tablissez 
rhonneur'. 

Er  bittet,  Silvie  vor  der  Hochzeit  nicht  aufzuklären,  und  sie 
beschliessen,  der  Guardian  solle  Silvien  mittheilen  'que  sa  mere, 
le  Comte  et  lui,  sqavoient  son  innocence,  qu'ils  lui  rendoient 
justice;  et  que  pour  lui  prouver  cette  verit6,  d'Helemont  seroit 
son  ^poux  d^s  qu'elle  auroit  quitt6  le  lit,  et  qu'il  la  trouvoit  plus 
digne  que  jamais  d'^ive  sa  femme\     Das  geschieht,    aber  Silvie 

33* 


496  Werner,  Kleists  Marqniee  von  0. 

m 

erwidert:  *Mon  Pere,  je  reqois  la  joye  que  vous  me  donnez,  avec 
au  tan  t  de  confiance  que  de  reconnoissance  pour  vos  bontez.  Je 
ne  veux  point  p^netrer  le  motif  de  la  justice  que  me  rendent  des 
personnes  si  cheres,  mais  trop  heureuse  que  ma  mere  et  le- 
Comte  me  s<;achent  digne  de  leur  tendresse;  je  n'  exige  point 
du  dernier  qu'il  remplisse  ses  promesses.  Je  s^ai  que  je  ne 
suis  point  coupable,  mais  je  ne  puis  cesser  de  T^tre  ä  sesyeux; 
plus  i]  me  rend  justice,  et  plus  je  vois  avoir  soin  de  sa  gloire; 
toute  innocente  que  je  suis,  je  n'en  suis  pas  moins  deshonoree; 
et  je  ne  desire  d^sormais  que  la  plus  austere  retraite  pour  y  passer 
le  reste  de  mes  jours.' 

Schliesslich  wird  Silvie  vom  Grafen  und  ihrer  Mutter  über- 
redet und  willigt  in  die  Verbindung.  Sobald  sie  hergestellt  ist, 
wird  die  Hochzeit  mit  grosser  Pracht  gefeiert,  und  bei  der  Gere- 
monie,  durch  welche  ihrem  Sohne  sein  Recht  wird,  erfährt  *la 
belle  Silvie,  devenue  Gonitesse  d'Helemont,  T^tonnante  avanture 
qui  Ten  avoit  rendue  la  mere/ 

Es  kann  wohl  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  Kleist 
seiner  Yorgängerin  Madame  de  Gomez  nicht  bloss  den  Stoff 
im  allgemeinen,  sondern  eine  ganze  Reihe  von  Details  dankt. 
Die  hervorgehobenen  Stellen  zeigen  die  grösste  Ähnlichkeit 
mit  den  betreffenden  Partien  der  Eleistischen  Erzählung. 
Und  doch  bemerken  wir  Unterschiede,  welche  Beachtung 
verdienen.  Vor  allem  ist  Kleists  Marquise  eine  Witwe^ 
die  zur  Entdeckung  des  Vaters  durch  eine  Zeitungsannonce 
zu  gelangen  sucht;  dieser  Zug  verräth  den  Einfluss  Mon- 
taignes,  während  Kleists  Erzählung  der  näheren  Umstände, 
welche  das  Unglück  herbeiführten,  sowohl  von  der  Oomez 
und  von  Pitaval,  als  von  Montaigne  abweicht,  dafür  aber, 
worauf  Franz  Muncker  in  der  Allgemeinen  Zeitung  1884 
S.  153  aufmerksam  gemacht  hat,  mit  einer  Novelle  von 
Caroline  v.  Ludecus  (Amalia  Berg)  viel  Ähnlichkeit  hat; 
in  dieser  ^Begebenheit  aus  dem  französischen  Revolutions- 
kriege' wird  'Amalie'  von  Liencourt,  einem  Soldaten,  bei 
dem  Überfall  eines  Städtchens  in  der  Dunkelheit  überwäl- 
tigt und  entehrt.  Sie  wird  aber  erst  nachher  ohnmächtig, 
so  dass  das  Wesentliche  der  Kleistischen  Novelle  'Wi'^  ihrer 
bisher  erwähnten  Quellen,  die  unbewusste  Empfangniss,  bei 
der  Ludecus  fehlt. 

Nun  bezeichnete  Kleist  im  Phöbus  (Goedeke  3,  50) 
seine  Novelle  als  'nach  einer  wahren  Begebenheit'  verfasst, 


Werner,  Kleists  Marquise  von  0.  497 

'deren  Schauplatz  vom  Norden  nach  dem  Süden  verlegt 
w^orden'.  Wir  dürfen  daran  erinnern,  weil  v^rir,  worauf  mich 
gleichfalls  Erich  Schmidt  aufmerksam  machte,  in  einem 
Briefe  Otto  Ludwigs  an  Tieck  (bei  Holtei,  Briefe  an  Ludwig 
Tieck  2,  281  f.)  vom  30.  August  1844  eine  Spur  unserer 
Geschichte  für  den  'Norden'  nachweisen  können.  Ludwig 
legt  eine  Novelle  bei,  welche  er  schon  'mehren  Buchhänd- 
lern^ vergeblich  angeboten  hatte,  obwohl  er  kein  Honorar 
verlangte.  Er  bittet  Tieck  um  ein  Urtheil,  da  er  zu  ihm 
mehr  Vertrauen  habe,  als  zu  seiner  eigenen  Kunst;  er  sagt 
von  der  Novelle :  'Sie  ist  aus  der  Anekdote  von  dem  reichen 
jungen  Yoigtländer  Leinwandhändler  entstanden,  den  die 
Wirthstochter,  in  dem  Gemache,  durch  welches  er  in  das 
seine  geführt  wird,  scheintodt  aufgebahrt,  zur  Leidenschaft 
und  zu  dem  unnatürlichen  Vergehen  lockt,  zufolge  dessen 
er,  wie  er  nach  Jahren  hier  wieder  einkehrt,  die  Begraben- 
geglaubte  als  Mutter  wiederfindet,  die  den  Vater  ihres 
Kindes  nicht  zu  nennen  weiss.'  Ludwig  meint,  es  werde 
'jährlich  so  manches  noch  Unvollkommenere  gedruckt',  doch 
ist  seine  Novelle  verschollen ;  jedesfalls  kannte  er  1844  die 
Kleistische  Novelle  noch  nicht  und  es  ist  mehr  als  wahr- 
scheinlich, dass  ihn  Tieck,  welcher  1846  Kleists  Werke 
herausgab,  auf  die  Ähnlichkeit  mit  der  Marquise  von  O'*"'' 
aufmerksam  machte  und  dadurch  den  Druck  verhinderte. 
Ein  späterer  dramatischer  Entwurf  Ludwigs  'das  Wirths- 
haus  am  Rhein'  hat  nach  Heydrichs  dürftigen  Andeutungen 
nichts  mit  dem  Stoffe  zu  schaffen. 

Ferner  sei  eine  Scene  erwähnt,  welche  Kleist  gekannt 
haben  muss.  William  Lovell  schreibt  an  Rosa  in  Tiecks 
Roman  (Schriften  7,  154 ff.)  über  seinen  Anschlag  auf 
Amalia,  bei  welchem  ihm  die  Blainville  hilft.  Feuer  kommt 
aus,  er  rettet  Amalia.  'Ich  stand  in  Amaliens  Zimmer,  sie 
lag  ohne  Besinnung  auf  einem  Sopha.  Ich  drückte  sie  an 
meine  Brust,  meine  Arme  umschlossen  ihren  zarten  Körper 
und  so  trug  ich  sie  die  Leiter  hinab  und  legte  sie  auf  eine 

Rasenstelle  unter  den  Bäumen  nieder ich  hielt  sie 

für  todt  und  umarmte  sie  noch  einmal  . . .  dann  stand  ich 
auf  und  eilte  fort,  —  sie  rief  mir  etwas  nach,  ich  habe  es 
nicht  verstanden.'    Ein  Sohn  wird  geboren,  aber  von  Mor- 


498  Werner,  Kleists  Marquise  von  0. 

timer,  dem  Gemahl  Amaliens,  anerkannt,  ^man  kann  nicht 
errathen,  ob  eine  Frucht  jener  Nacht',  wie  sich  Menzel 
(3,  295)  ausdrückt ;  vielleicht  zeigt  also  die  Originalausgabe 
des  Lovell  noch  grössere  Übereinstimmung  mit  Kleists  No- 
velle, mir  ist  sie  leider  nicht  zugänglich. 

Auch  einer  Erzählung  Heinrich  Zschokkes,  auf  die  mich 
Alexander  von  Weilen  freundlichst  hinweist,  ^Tantchen 
Bosmarin  oder  Alles  verkehrt'  muss  man  gedenken.  Sie 
erschien  zuerst  in  den  Erheiterungen  1812  (vgl.  Ooedeke 
3,  670)  und  behandelt  ein  ähnliches  Thema  in  komischer 
Absicht. 

Tantchen  Rosmarin  erzieht  ihre  Nichte  Suschen  in  grösster 
Zurückgezogenheit;  da  nun  das  'Kind'  im  achtzehnten  Lebens- 
jahre steht  und  mit  ihrer  Tante  zu  einer  Hochzeit  geladen  wird, 
scheint  es  nothwendig,  auf  die  Gefahren,  welche  in  der  Welt  die 
Unschuld  bedrohen,  aufmerksam  zu  machen.  Suschen  aber  ahnt 
gar  nicht,  was  Unschuld  sei.  Während  des  Tanzes  entzückt  sie 
durch  ihre  Schönheit  und  Liebenswürdigkeit  alle  jungen  Herren 
von  Waiblingen ,  sie  selbst  wird  von  der  neuen  ungeahnten 
Wonne  hingerissen,  durch  ein  rasch  geleertes  Glas  Punsch  schwind- 
licht  und  deshalb  von  ihrem  Tänzer  in  ein  einsames  Neben- 
zimmer geleitet;  dort  verführt  er  sie,  die  nichts  Schlimmes  darin 
sieht.  Nun  wird  sie  bald  nach  der  Hochzeit  unwohl,  der  herbei- 
rufene  Arzt  erkennt  ihren  Zustand  und  das  unschuldige  Suschen 
antwortet  auf  die  entrüstete  Mittheilung  der  Tante  ganz  naiv: 
'es  ist  mir  doch  beinahe  selbst  so  vorgekommen!  Doch  wusste 
ich*s  nicht  gewiss'.  Aber  sie  sieht  nichts  Besonderes  dahinter. 
Nun  wird  nach  den  näheren  Umständen  gefragt,  Suschen  hat 
keine  Ahnung,  wer  ihr  Verführer  war.  Bald  stellt  es  sich  heraus, 
der  Schuldige  sei  der  junge  Baron  Pompejus  von  Malzen,  welcher 
inzwischen  eine  Reise  nach  Italien  angetreten  hat.  Da  er  Sus- 
chens Unschuld  für  einen  raflinirten  BublerinnenknifT  hält,  will 
er  nichts  von  ihr  wissen,  aber  Tante  Rosmarin  beginnt  einen 
Process,  der  gegen  den  Baron  entschieden  wird.  Pompejus  muss 
nach  dem  Urtheil  des  Gerichtes  Suschen  heiraten  und  soll  sich 
gleich  darauf  von  ihr  scheiden  lassen.  Suschen  hat  unterdessen 
einem  Knaben  das  Leben  geschenkt.  Erst  vor  der  Vermählung 
sieht  Pompejus  Suschen  wieder  und  verliebt  sich  rasend  in  seine 
Gemahlin,  von  welcher  er  doch  sogleich  wieder  geschieden  werden 
soll.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Erzählung  finden  sich  die  Gatten, 
nur  Tantchen  Rosmarin  will  nichts  von  der  Verbindung  wissen; 
da  entführt  der  Baron  seine  Frau  und  sein  Kind,  schliesslich  ver- 
söhnt er  auch  Tantchen  Rosmarin.  Der  Witz,  um  den  sich 
Zschokkes  Erzählung  eigentlich  dreht,  ist  schon  im  zweiten  Titel 


Werner,  Kleists  Marquise  Ton  0.  499 

angedeutet  und  wird  von  dem  ordnungsliebenden  Tantchen  im 
32.  Kapite]  in  die  Worte  gefasst :  ^Alles  verkehrte  Welt !  Erst 
Kindtaufe,  dann  Hochzeit,  dann  Liebschaft . . .  dann  Entfuhrung . . . 
und  das  niusste  meinem  Hause  widerfahren!' 

In  Zschokkes  Darstellung  wirkt  natürlich  die  gewagte 
Yoraussetzung  des  Ganzen  noch  abstossender.  Der  para- 
doxe Gedanke,  welchen  Zschokke  eine  Figur  seiner  No- 
velle, den  Pfarrer  aussprechen  lässt  (1 1.  Kapitel),  es  gebe 
manche  Sünde,  welche  ein  sonnenheller  Zeuge  der  wahren 
Unschuld  sei,  kann  zwar  nicht  bestritten  werden,  aber  die 
Unschuld  des  naiven  Suschens  grenzt  doch  zu  stark  an 
Dummheit,  als  dass  wir  ruhig  darüber  wegkämen. 

Gewisse  Züge  zeigen  Ähnlichkeit  mit  Kleists  Novelle, 
so  vor  allem  der  schon  hervorgehobene  Widerspruch  zwi- 
schen der  vorausgesetzten  Unerfahrenheit  Suschens  in  allen 
sexuellen  Dingen  und  der  Eröffnung  über  ihren  Zustand 
nach  dem  Besuche  des  Arztes.  Was  im  Munde  der  ver- 
witweten Marquise  ganz  begründet  ist,  das  wird  bei  Sus- 
chen geradezu  unmöglich.  Wir  sind  daher  versucht,  hierin 
einen  Beweis  für  den  Einfluss  Kleists  auf  Zschokke  zu  ent- 
decken. Wenn  bei  Zschokke  der  Baron  seinen  Edelsinn 
dadurch  zeigt,  dass  er  sein  ganzes  Vermögen  im  Falle  der 
Scheidung  seiner  Frau  und  seinem  Sohne  vermacht,  so  er- 
innert auch  dies  an  eine  Wendung  bei  Kleist.  Die  tiefe 
Reue  des  Übelthäters  wird  bei  Zschokke  wie  bei  Kleist 
viel  starker  betont  als  etwa  bei  Frau  von  Gomez. 

Fraglich  ist  nur,  ob  Zschokke  für  seine  Novelle  die- 
selbe Quelle  benutzte,  wie  Kleist  für  die  seine ;  man  könnte 
wegen  der  breiten  Yerwerthung  eines  Processes  vermuthen, 
dass  Zschokke  von  jenem  Streitfall  in  Pitavals  Gauses 
celibres  Kenntniss  gehabt  habe,  welchen  die  oben  mit- 
getheilte  Notiz  erwähnt.  Möglich,  dass  schon  während  des 
Schweizer  Beisammenseins  zwischen  Kleist  und  Zschokke 
die  Rede  wie  auf  den  'Zerbrochenen  Krug'  auch  auf  den 
Novellenstoff  kam,  obwohl  wir  nichts  darüber  erfahren ;  das 
Zusammentreffen  ist  jedesfalls  so  auffallend,  dass  man  einen 
tieferen  Grund  dafür  suchen  möchte. 

Bekommt  der  Stoff  bei  Zschokke  eine  heitere  Wen- 
dung, so  läuft  die  'Sonderbare  Geschichte'  Kleists,  welche 


500  Werner,  Tagendprobe. 

Theophil  Zolling  in  der  'Gegenwart'  1884  Bd.  26  Nr.  44 
S.  283  f.  zum  ersten  Male  drucken  liess  und  mit  unserer 
Novelle  verglich,  gar  auf  einen  Scherz  hinaus.  Sie  trifft 
aber  nur  in  einzelnen  kleineren  Motiven  mit  der  ^Marquise 
von  O  .  • . .'  zusammen. 

Mnncker  erinnert  auch  an  den  Brief  von  Heinrich  Yoss, 
welcher  am  31.  Januar  1807  Qoethe  eine  seltsame  Krank- 
heitserscheinung aus  Heidelberg  mittheilt  (Goethejahrbuch 
5,  60  ff.) :  die  Braut  eines  Heidelberger  Professors  wird  von 
einem  ähnlichen  Unfall  betroffen  wie  die  Marquise  von  O*'^. 
Man  könnte  noch  einen  Fall  erwähnen,  welchen  Hieronymus 
Cardanus  in  seinem  Werke  'De  Rerum  Yarietate'  lib.  XYI, 
cap.  XCni  (Dämones,  et  mortui)  erzählt  (Ausgabe  Lvgdvni 
M.DC.LXm.  3,323): 

In  Marrea  regione,  vti  ex  his  qui  rem  hanc  conspexerant, 
accepimus:  nuper  puella  nobilis,  formosäque  auersata  coniugium, 
inuenta  est  praegnans.  Parentes  cum  stupratorem  quaererent, 
fassa  est  puella  nocte  di^ue  secum  formosissimum  cubare  ado- 
lescentem,  quem  vnde  venire!  non  sciret.  Uli  tametsi  parum 
fidei  response  adhiberent,  tercio  die,  indice  ancilla,  cognoscentes 
illum  adesse,  cum  taedis  ac  facibus  subito  ingrediuntur  reseratis 
foribus:  horrendümque  monstrum  et  supra  humanam  fidem  lern- 
bile,  in  complexibus  filiae  conspicantur. 

Es  ist  ein  ^daemon  incubus\  Die  Anekdote  zeigt,  wie 
weit  verbreitet  der  Stoff  gewesen  sein  muss. 

Zur  Quellenfrage  vergleiche  man  noch  Bartsch  in  den 
Grenzboten  1884  S.  464. 

Lemberg.  Richard  Maria  Werner. 


Tugendprobe. 

Warnatsch  hat  im  Anschluss  an  die  Mantelsage  auf 
eine  Reihe  von  Eeuschheitsproben  hingewiesen,  denen  ich 
auch  die  nachfolgende  Männerprobe  anfügen  möchte,  obwohl 
ihr  das  Motiv  der  Yeränderlichkeit  des  bei  der  Probe  ver- 
wendeten Gegenstandes  fehlt  und  ein  Witz  die  Entscheidung 
gibt.  Johann  Jacob  Schudt  erzählt  in  seinem  ^Compendium 
Historiae  ludaicae'  (Francofurti  ad  Mcenum  1700  S.  220  f.): 


Tille,  Enlenspiegels  Grab.  501 

'AHenus  ab  impiis  et  profanis  ejusmodi  nugis  —  er  berich- 
tete über  die  Unzucht  beim  Purim  —  erat  Jacobus  I.  Magnae 
Britanniae  Rex,  cujus  Bachanalia  memorabilia  sunt,  ea 
Martin.-Zeilerus  in  der  Epistel.  Schatzkammer  Cent.  3.  Epist. 
3.  f.  m.  220  describit:  Ich  hab,  inquit,  in  dess  Doctors, 
dessen  in  voriger  Epistel  gedacht  worden,  geschriebener 
Reiss  - Verzeichnüss  von  Engelland  gelesen,  dass  jetzt  höchst- 
gedachter König  Jacob,  im  ersten  Jahr  seiner  königlichen 
Regierung  in  Engelland,  als  seine  Vornehmste  Herren,  an 
der  Fassnacht,  von  allerhand  Übungen,  die  sie  sonsten  zu 
solcher  Zeit  vorzunehmen  pflegten,  berathschlagten ,  drey 
Sessel  und  zwey  Leuchter,  mit  brennenden  Lichtern,  und 
beynebens  auch  die  H.  Bibel  zubringen;  und  als  man  es 
gebracht,  die  Bibel  in  den  mittern,  die  Leuchter  aber  in 
die  zween  äusserste  Sessel  zu  setzen,  solle  befohlen  haben. 
Als  dieses  geschehen,  seye  er  daraufF  niedergekniet,  habe 
die  Bibel  auffgethan,  und  ein  Capitel  darauss  gelesen;  und 
die  umbstehende  Herren  also  angeredt:  Ich  schwöre  zu 
OOtt,  dass  ich  die  gantze  Zeit  meines  Lebens  nie  zu  thun 
gehabt  mit  einigem  Weibsbild ,  noch  selbiges  angerührt, 
ausser  meine  Gemahlin,  die  Königin.  Wann  nun  einer 
unter  euch  ist,  der  dieses  auch  von  sich  sagen  kan,  der 
komme  herbey,  und  thue  das,  was  ich  gethan  habe.  Aber 
es  sey,  sagt  der  erwehnte  Doctor,  auss  allen  keiner,  der 
sich  dessen  hätte  unterstehen  dörffen,  gewesen.  Welches 
dann  der  König  für  seine  beste  Fassnacht  gehalten  habe.' 
Eine  andere  Fassung  erzählt  Stranitzky  in  seiner  OUa- 
potrida  (vgl.  meine  Ausgabe  Wiener  Neudrucke  10  S.  353  f.) 
nach  einem  mir  unbekannten  Gewährsmann. 

Lemberg.  Richard  Maria  Werner. 


Eulenspiegels  Grab. 

In  Martin  Zeillers  'Itinerarium  Germaniae',  Strassburg 

1674  bei  Paulli  1,  369  finde  ich  folgende  Bemerkung  über 

Eulenspiegels  Grab: 

St.  Mollen,  6  m.  welches  Städtlein  der  Stadt  Lübeck  gehörig 
ist,  allda  der  berühmmte  Eulenspiegel,  so  Anno  1350  gestorben. 


502  Geiger,  Wirkung  einer  Leasiogftchen  Correctur. 

begraben    liegt,   dessen    monument  so   neulich  renovirt  worden, 
zusehen.     Die  GrabschrifTt  lautet  also: 

An  diesem  Ort  ward  dieser  Stein  auffgehaben, 
Darunder  liegt  Eulenspiegel  begraben, 
Gedenck  daran, 
Der  du  thust  füruber  gähn 
Dann  auff  dieser  Erden, 

Du  mir  auch  kanst  gleich  werden. 
Es  ist  ein  Eyl,  und  ein   Spiegel  auff  beyden  Ecken   des  Steins 
daraufT  gehauen. 

Wo  Zeiller  gelehrte  Quellen  benutzt,  nennt  er  sie 
stets  in  der  Randbemerkung.  Hierbei  findet  sich  keine 
solche.  Es  ist  also  zu  vermuthen,  dass  er  das  Grab 
selbst  sah. 

Leipzig.  Alexander  Tille. 


Wirkung  einer  Lessingsclien  Correctur. 

Gelegentlich  habe  ich  nachgewiesen  (Zeitschrift  f. 
deutsches  Alterth.  u.  deutsche  Litt.  22,30  t),  dass  die  Aus- 
stellungen, welche  Lessing  an  zeitgenössischen  Dramen 
machte,  die  Verfasser  später  zu  Yerbesserungen  veranlassten. 
Auch  Heufeld  gehört  zu  diesen  Folgsamen.  Er  war  von 
Lessing  getadelt  worden  (Hamburger  Dramaturgie  St.  8), 
dass  er  in  seinem  Lustspiel  seinen  Helden  aus  St.  Preux 
in  Siegmund  umgetauft  habe;  in  der  von  mir  benutzten 
Ausgabe  (o.  0.  u.  J.  64  SS.  in  16),  in  welcher  übrigens 
auch  die  von  Lessing  erwähnte  Vorrede  fehlt,  nennt  er  ihn 
wieder:  St.  Preux.  Lessing  sagt  (St.  9):  'Hr.  Heufeld  ver- 
langt, dass,  wenn  Julie  von  ihrer  Mutter  aufgehoben  wird, 
sich  in  ihrem  Gesichte  Blut  zeigen  solF;  in  der  von  mir 
benutzten  Ausgabe  (S.  37)  ist  dies  Verlangen  nicht  gestellt. 
Die  vorhergehenden  Worte  Lessings,  dass  Heufeld  eine 
ganze  Scene  der  Schilderung  der  Härte  des  Vaters  gegen 
die  Tochter  widme,  sind  nicht  genau;  es  sind  nur  wenige 
Worte  am  Schlüsse  einer  Scene,  in  welcher  der  Vater 
(Baron  Adelberg)  mit  seiner  Gemahlin  spricht.  In  der 
darauffolgenden  Scene,  die  Lessing  für  die  'hervorragendste 


Suphan,  Zu  den  Blättern  von  deutscher  Art  und  Kunst.      503 

des  ganzen  Stückes^  erklärt,  ist  namentlich  der  Umstand 
sehr  merkwürdig,  dass  der  Vater  die  Tochter  auf  die  ver- 
schlimmerte Vermögenslage  Weimars,  des  ihr  versprochenen 
Bräutigams,  hinweist  und  in  dieser  Veränderung  einen  Ehren- 
grund sieht,  die  alte  Verbindung  aufrecht  zu  erhalten. 
Dieser,  wie  so  mancher  andere  Zug,  welche  dem  Stücke 
seinen  Titel:  ^Wettstreit  der  Pflicht  und  Liebe'  mit  Recht 
geben,  sind  in  dem  Inhaltsverzeichniss,  das  Schröter  und 
Thiele  in  ihrer  fleissigen  Ausgabe  der  Dramaturgie  (t,  49 
Anm.  12)  gegeben  haben,  ausgelassen;  auch  Eduards  sehr 
bedeutsame  Bolle  (Act  II  Sc.  1.  2  und  Act  III  Sc.  9)  kommt 
hier  nicht  zu  ihrem  Recht;  von  dem  Selbstmord,  den 
St.  Preux  versucht,  wird  gar  nicht  gesprochen. 

Berlin.  Ludwig  Geiger. 


Zu  den  Blättern  ^Y on  Deutscher  Art  und  Kunst\ 

Das  erste  Stück  der  ^Fliegenden  Blätter',  welche  ^Ham- 
burg, 1773  bey  Bode'  mit  dem  Maiblumenstengel  auf  dem 
Titelblatt  herauskamen,  ist  Herders  ^Auszug  aus  einem 
Briefwechsel  über  Ossian  und  die  Lieder  alter  Völker'.  Im 
fünften  Briefe  schildert  Herder,  wie  ihm  auf  seiner  Meer- 
fahrt (1769)  die  Welt  der  nordischen  Dichtung,  Edda, 
Ossian,  aufgegangen  ist.  Es  ist  eine  lange,  prächtig  hin- 
fluthende  Tirade. 

.  .  .  mitten  im  Schauspiel  einer  ganz  andern,  lebenden  und 
webenden  Natur,  zwischen  Abgrund  und  Himmel  schwebend, 
täglich  mit  denselben  endlosen  Elementen  umgeben,  und  dann 
und  wann  nur  auf  eine  neue  ferne  Küste,  auf  eine  neue  Wolke, 
auf  eine  ideale  Weltgegend  merkend  —  nun  die  Lieder  und 
Thaten  der  alten  Skalden  in  der  Hand,  ganz  die  Seele  damit 
erfüllet,  an  den  Orten,  da  sie  geschahen  —  hier  die  Klippen 
Olaus  vorbei,  von  denen  so  viele  Wundergeschichte ^)  lauten  — 
dort  dem  Eilande  gegenüber,  das  jene  Zauberose,  mit  ihren 
vier  mächtigen  Sternebestirnten  Stieren  abpflügte,  'das  Meer  schlug, 
wie  Platzregen,  in  die  Lüfte  empor,  und  wo  sich,  ihren  schweren 

*)  Die  starke  Pluralform  ist  die  gewöhnlicbe  bei  Qe^der  in 
dieser  Zeit. 


504      Supban,  Zn  den  Blättern  von  deutscher  Art  und  Kunst. 

Pflug  ziehend,  die  Stiere  wandten,  glänzten  8  Sterne  vor  ihrem 
Haupte',  über  dem  Sandlande  hin,  wo  vormals  Skalden  und 
Vikinge  mit  Schwerdt  und  Liede  auf  ihren  Rossen  des  Erdegürtels 
(Schiffen)  das  Meer  durchwandellen  ....  glauben  Sie,  da  lassen 
sich  Skalden  und  Barden  anders  lesen  als  neben  dem  Katheder 
des  Professors. 

Der  Originaldruck,  nach  welchem  (8.  19  f.)  die  Stelle 
hier  gegeben  ist,  macht  dem  Heraasgeber  keine  Ehre. 
Überall  muss  man  vor  Fehlern  auf  der  Hut  sein,  der  Ver- 
fasser hat  keine  Correctur  gelesen.  Auch  in  dem  vor- 
stehenden Satze  befindet  sich  ein  bis  jetzt  ungeheilter 
Schaden.  Das  unverstandliche  Wort  'Zauberose'  blieb 
stehen  im  ersten  Cottaschen  Yulgattext  von  Herders  Werken 
^Zur  schönen  Litteratur  und  Kunst'  Band  8, 16  (1807,  Heraus- 
geber Joh.  Y.  Müller),  der  zweite  Druck  (1828,  Band  7,21) 
veränderte  es  in  ^Zauberrose'.  Dabei  haben  die  spätem 
Herausgeber  sich  beruhigt,  so  Heinrich  Kurz  in  Herders 
Ausgewählten  Werken  (Hildburghausen  1871)  Band  2,  16 
und  Wollheim  da  Fonseca  in  der  Hempelschen  Ausgabe 
Band  5,  353.  ^Zauberose'  gibt  keinen  Sinn,  ^Zauberrose' 
ist  unsinnig.  Die  Berichtigung  liegt  nicht  fem,  und  sie 
muss  sich  einem  jeden  ergeben,  der  sich  die  Mühe  nimmt, 
in  der  jungem  Edda  die  citirte  Stelle  (Ghylfa  ginning,  An- 
fang) nachzuschlagen.  Ich  kann  mit  der  Correctur  zugleich 
eine  Probe  davon  geben,  wie  jene  kleine,  aber  folgenreiche 
Schrift  Herders  aus  einem  emsig  gesammelten  Material 
erwachsen  ist.  In  seinen  Edda-CoUectaneen  (die  ein  be- 
*  trächtliches  Stück  seiner  in  Strassburg  begonnenen  ger- 
manistischen Studien,  bilden)  lautet  die  Stelle  aus  ^Gylfis 
Verblendung'  so: 

Gylf,  König  von  Schweden,  gibt  einer  Vettel,  die  ihn  mit 
Gesänge  sehr  ergetzt,  zum  Lohn  in  seinem  Königreich  so  viel 
Acker,  als  Tag  und  Nacht  4  Stiere  umpflügen  können.  Sie  war 
aber  eine  Ase,  Gefiona,  und  pflügt  ihm  mit  4  Stieren,  die  sie 
aus  Nordland  bringt.  Söhnen  eines  Centauren  und  ihr^),  so  tiefe 
Furchen,  dass  sie  die  Insel  Seeland  ihm  vom  Reich  abpflügte. 
Davon  ein  Bragas  Lied. 

Geflone  zog  vom  Gylfe,  mit  Golde  beschenkt,  vergnügt 
eine  Vermehrung  Dännemarks  ab,   und   das  mit  solcher  Gewalt, 

')  Resenius:  'illa  vero  adduxit  ex  Borealibas  Jotunbeimis  tauros 
quatuor,  qui  erant  Centauri  cuiusdam  (d.  i.  eines  Jotunen)  et  ipsius  filii*. 


Leitzmann,  Zu  Qoethes  Briefen  an  Frau  Yon  Stein.  505 

das  um  die  Pfluggespannten  Ochsen  das  Meer,  wie  der 
stärkste  Platzregen  in  die  Lüfte  emporschlug,  und 
wo  diese  Stiere,  ihre  grosse  Last  ziehend,  wandelten,  trug  sie 
ihre  8  Sterne  vor  der  Stirn. 

Seinen  Übersetzungsversuch  hat  Herder  neben  den  aus 
dem  Resenius  (Edda  Islandorum)  abgeschriebenen  Text  von 
Bragis  Lied  gestellt.  Die  Stellen,  an  denen  er,  lediglich 
auf  Resenius'  Übersetzung  in  lateinischen  Hexametern  an- 
gewiesen, den  Sinn  verfehlt  hat,  habe  ich  durch  Sperrung 
bezeichnet.  Zu  den  acht  ^Sternen^  hat  ihn  das  'frontes 
litnas  octo  portarunt'  verführt.  Unbegreiflich  bleibt  ^der 
stärkste  Platzregen\  Resenius  gibt:  ^per  fractas  aequoris 
undas\     Simrocks  Übersetzung  lautet: 

Gefion  nahm  von  Gylfi     fröhlich  dem  goldreichen. 

Die  rennenden  Rinder     rauchten,  den  Zuwachs  Dänmarks. 

Vier  Häupter,  acht  Augen     hatten  die  Ochsen 

Die  das  Erdstück  schleppten     zu  dem  schönen  Eiland.  — 

Herder  schrieb  also :  ^jene  Zauberase'  oder,  seiner  Ge- 
wohnheit nach,  die  Theile  des  Compositums  ohne  Binde- 
zeichen nahe  zusammenrückend  'Zauber  Ase'.  A  und  a 
sind  in  seiner  Schrift  oft  nicht  zu  unterscheiden. 

Weimar.  Bernhard  Suphan. 


Zu  Goethes  Briefen  an  Frau  von  Stein. 

Am  14.  August  1780  achreibt  Qoethe  an  Frau  von 
Stein:  'Diesen  Mittag  hab  ich  einen  Gast,  kann  also  nicht 
kommen  mit  meinem  besten  zu  essen'  (^  1,  261;  Briefe  4, 
269,  21  Weimarische  Ausgabe).  Fielitz  bemerkt  dazu  (^  1, 
472):  ^Das  Tagebuch  nennt  als  Gäste  in  diesen  Tagen 
Schröder  und  Gotter\  Gemeint  ist  aber  Leisewitz,  der  in 
seinem  Tagebuch    unter   dem   14.  August   1780  berichtet: 

^Zu  Goethen  ....  wir  speisten  in  einem   Zimmer ' 

(Eutschera,    Leisewitz    S.   42;    jetzt   wiederabgedruckt    in 
Biedermann,  Goethes  Gespräche  1,  64). 

Halle.  Albert  Leitzmann. 


506  Leitzmann,  Zu  'Schiller  und  Lotte*. 


Zu  'Sehiller  and  Lotte'. 

Lotte    schreibt    an   Schiller    am    22.  December    1789: 
'Eben   habe    ich    den    Aufsatz    über    die   Leckereien    von 
Forster  geendigt'  (2,  217).     Pielitz  bemerkt  dazu  (Anm.  1): 
'Vielleicht  das  Manuscript   des   1792   erschienenen  Werks: 
Bergius,    über   die   Leckereyon.     Aus    dem    Schwedischen 
mit  Anmerkungen  von  D.  Joh.  Reinh.  Forster  und  D.  Kurt 
Sprengel,  2  Thle.  Halle.    Der  Weltumsegler  J.  R.  Forster 
war  den  Schwestern  in  Lauchstedt  und  Halle  bekannt  ge- 
worden'.    Diese  Erklärung  trifft  das  Richtige  nicht :  Lettens 
Lektüre    war  Georg   Forsters    in    Lichtenbergs    Göttinger 
Taschenkalender    für    1789    erschienener    Aufsatz:    'Über 
Leckereien'    (Sämmtl.  Schriften  5,  173    der  Ausgabe  von 
1843).     Entstanden   ist  dieser  Aufsatz    allerdings    im   An- 
scbluss    an  jenes  Bergiussohe  Buch ,    denn  am  7.  August 
1788  schreibt  Förster  an  Sommering:  ^Im  Taschenkalender 
habe  ich  etwas  über  Leckereien  geschrieben;    Lichtenberg 
schickte    mir  nämlich   das  schwedische  Buch   des  Bergius, 
om    Läckerheter,    mit   Bitte    etwas    daraus     auszuziehen; 
allein  ich  fand  nichts,   was  mir  für  den  Kalender  tauglich 
schien,  daher  schwadronirte   ich  etwas  daher,    und   indul- 
gebam  genio  meo,  d.  h.  ich  habe  zum  Scherz  etwas  Para- 
doxes  gesagt;   nur   ist   es  für  den   Kalender  zu   ernsthaft 
philosophisch,  und  die  meisten  werden  es  nicht  verstehen' 
(Forster  -  Sömmerings    Briefwechsel   S.   522).     Vgl.    femer 
Forsters  Briefwechsel   1 ,   686.    706 ;    Forster  -  Sömmerings 
Briefwechsel  S.  515. 

Halle.  Albert  Leitzmann. 


Ein  Brief  Schillers  an  Cotta. 

Gräfin  Fernanda  v.  Pappenheim,  die  mitten  im  geistigen 
und  künstlerischen  Leben  ihrer  süddeutschen  Heimat  stand, 
hat    durch   persönlichen  Yerkehr    mit   Dichtem,  Denkern, 


Elias,  Ein  Brief  Schillers  an  Cotta.  507 

Malern  eine  grosse  Zahl  von  litterarischen  Zeugnissen  em- 
pfangen und  in  einem  Album  vereinigt.^)  Nach  ihrem  Tode 
(1880)  gingen  die  kostbaren  Manuscripte  in  den  Besitz  des 
Qrafen  Albrecht  v.  Pappenheim  über,  der  sie  mir,  auf  die 
Fürsprache  des  Studienlehrers  Dr.  Thomas  Stangl  (München), 
zur  Benutzung  übergeben  hat.  Ich  lege  daraus  nachfolgen- 
des Blatt  hier  Yor. 

Weimar  I.Juni  1804. 

Da  das  llluminiren  die  Zeichnungen  so  sehr  vertheuert,  so 
denke  ich  dass  wir  es  für  disses  Jahr  mit  sechs  Bildern  gut 
seyn  lassen,  auch  die  Landschaften  und  das  Titelkupfer  weg 
lassen. 

Die  Zeichnungen  nähmen  wir  alle  aus  dem  Teil,  die  andern 
aus  meinen  übrigen  Stücken  heben  wir  fürs  nächste  Jahr  auf, 
so  braucht  man  dann  nichts  neues  zu  erfinden.  Es  ist  auch 
nicht  nöthig,  dass  alle  Exemplare  des  Teil  mit  illuminirten  Kupfern 
verkauft  werden,  man  lässt  dem  Käufer  die  Wahl  und  ein 
Exemplar  mit  illuminirten  Kupfern  kann  12  groschen  mehr  kosten, 
als  eins  ohne  Kupfer.  Das  wäre  mein  unmaassgeblicher  Rath, 
doch  will  ich  Ihnen  keineswegs  etwas  vorschreiben. 

Hier  neues  Manuscript;  die  erste  Sendung  haben  Sie  wie 
ich  hoffe  erhalten. 

Hier  auch  noch  eine  Kleinigkeit  zum  Damen  Calender. 

Herzlich  umarme  ich  Sie  mein  Werthester  Freund. 

Ganz  der  Ihrige  Seh.     verte 

.  Dieses  Schreiben,  durchgängig  von  Schillers  eigener  Hand, 
2  SS.  kl.  8^  ist  der  von  W.Vollmer  S.  512  Anm.  3  als  ver- 
loren bezeichnete  Brief,  zu  dem  Nr.  428  des  Briefwechsels 
zwischen  Schiller  und  Cotta  als  Anhang  gehört ;  das  'verte^ 
weist  auf  einen  solchen  Nachtrag  hin.  Dichter  und  Ver- 
leger setzten  sich  damals  über  den  Druck  und  die  Aus- 
stattung des  ^Teir  auseinander.  Schiller  will  das  Drama 
als  ^Neujahrsgeschenk  auf  1805^  herausgeben,  nach  dem 
Muster  der  ^Jungfrau  von  Orleans'  und  der  'Natürlichen 
Tochter'  (an  Cotta  3.  Januar  und  29.  März) ;  zur  Verzierung 
des  Almanachs  verlangt  er  zunächst  nur  'schweizerische 
Gegenden' ;  doch  in  einem  Briefe  vom  22.  Mai  wünscht  er 
neben  den  Landschaften  M2  Costümes'  aus  seinen  Schau- 
spielen und  an  der  Spitze  des  Qanzen  eine  Scene  aus  dem 

*)  Über  das  Wirken  der  edlen  Frau  vgl.  Brix  Förster,  Das  Leben 
Eiumn  Försters  in  ihren  Briefen,  Berlin  1889. 


508  Seuffert,  Nachtrag  zu  Pfeiffer,  Klingers  Faust. 

'Teil' :  'dazu  würde  ich  die  wählen',  schreibt  er,  'wenn  Teil 
geschossen  hat  und  der  Knabe  mit  dem  Apfel,  darinn  der 
Pfeil  steckt,  in  seine  Arme  gesprungen  kommt'.  Die 
'Costümes'  soll  der  Zeichner  und  Kupferstecher  G.  M.  Kraus, 
die  Landschaften  Schillers  Freund  Reinhart  (seit  1789  in 
Rom)  und  das  Titelkupfer  der  Geschichtsmaler  P.  F. 
von  Ketsch  liefern.  So  war  beschlossen  worden,  ehe  der 
vorstehende  Brief  vom  1 .  Juni  beim  Verleger  eintraf.  Cotta 
geht  (am  12.  Juni)  auf  den  neuen  Yorschlag  gern  ein.  Er 
will  drei  Ausgaben  des  Taschenbuchs  veranstalten:  die 
erste  mit  sechs,  die  zweite  mit  einem  Kupfer  und  die  dritte 
ohne  jede  Zier.  Schiller  räth  indessen  die  Hauptausgabe 
mit  drei  'illuminirten  Kupfern  zu  schmücken  und  den  an- 
dern Editionen  entweder  gar  keine  oder  nicht  illuminirte 
Bilder  zu  geben'  (27.  Juni).  Cotta  ist  damit  einverstanden : 
am  12.  October  darf  er  nach  Weimar  berichten,  dass  der 
'Teil'  nunmehr  in  alle  Welt  gehen  könne.  Kraus*  steife 
Buntkupfer  stellen  dar:  Teil  mit  der  Armbrust  und  dem 
'zweiten  Pfeil',  den  Schwur  und  Gessler,  einen  rothwangigen 
Tyrannen. 

Die  'Kleinigkeit',  die  Schiller  zum  Taschenbuch  für 
Damen  (1805)  beisteuerte,  war  der  'Jüngling  am  Bache' 
aus  dem  'Parasiten'.  Schon  am  29.  März  hatte  er  ein 
'Scherflein'  versprochen  und  später  (22.  Mai)  das  'Berglied' 
geschickt  (vgl.  Briefwechsel  S.  515  Anm.  t). 

München.  Julius  Elias. 


Nachtrag  zu  Pfeiffer,  Elingers  Faust. 

M.  Bernays- Carlsruhe  macht  mich  aufmerksam,  dass 
PfeiiFer  die  1.  Anmerkung  S.  150  in  seiner  Untersuchung 
über  Klingers  Faust  (Würzburg  1890)  'genau  nach  seinen 
Äusserungen'  niedergeschrieben  habe  und  gewiss  auch  hier 
seinen  Namen  genannt  hätte,  wenn  Pfeiffer  diesen  Bogen 
selbst  hätte  in  Druck  bringen  können.  —  Ich  konnte  dies 
aus  Pfeiffers  Papieren  nicht  ersehen,  sonst  hätte  ich  selbst- 
verständlich Bernays'  Urheberschaft  gewahrt.  Sfft. 


Witkowski,  Piutor-Amor  und  So  ist  der  Held.  509 


Tastor-Amor'  und  'So  ist  der  Held,  der  mir 

gefSUt'. 

Gelegentlich  der  Erklärung  des  Goetheschen  Liedes 
'So  ist  der  Held,  der  mir  gefallt'  führte  Seuffert  (Zeitschrift 
f.  deutsch.  Alterth.  u.  deutsche  Litt.  26,261)  als  Hauptzeug- 
niss  für  Wielands  feindselige  Stellung  zu  den  Anakreontikem 
dessen  Artikel  in  der  Erfurter  gelehrten  Zeitung  an,  worin 
Michaelis,  daneben  auch  Gleim  und  Jacobi  befehdet  werden. 
Eine  Untersuchung  des  Anlasses  dieses  Angriffs  wird  fest- 
stellen, ob  er  mit  Recht  als  ein  Beweis  für  ein  dauerndes 
Zerwürfniss  zwischen  Wieland  und  den  Anakreontikem  an- 
gesehen werden  kann.  Die  Sache  verlangt  es,  ziemlich 
weit  auszuholen.  — 

Sein  ganzes  Leben  lang  besass  Gleim  die  Geschick- 
lichkeit, überall,  wo  er  weilte,  einen  Kreis  von  Freunden 
um  sich  zu  sammeln,  sie  zu  dichterischer  Production  anzu- 
regen und  seine  Eigenart  auf  sie  zu  übertragen.  So  war 
es  schon  in  Halle,  wo  Götz  und  Uz  in  Gemeinschaft  mit 
ihm  wetteifernd  nach  dem  Kranze  des  deutschen  Anakreons 
strebten,  so  war  es  in  noch  höherem  Masse  in  Berlin, 
nachdem  Gleim  dorthin  übergesiedelt  war.  !Neben  Männern, 
die  schon  früher  als  Dichter  aufgetreten  waren,  wie  Pyra 
und  Naumann,  schlössen  sich  ihm  die  Officiere  Kleist, 
Menzel,  Adler,  der  junge  Sulzer,  der  Mathematiker  Maass, 
der  Theologe  Spalding  an. 

Spalding  kam  gegen  Ende  des  Jahres  1745  als  Secretär 
des  schwedischen  Gesandten  nach  Berlin  und  ward  fünf 
Monate  später  mit  Gleim  bekannt.  Wie  stark  er  sich  von 
diesem  angezogen  fühlte,  ersieht  man  aus  dem  ersten  er- 
haltenen Briefe  (9.  Mai  1 746 ,  Briefe  von  Herrn  Spalding 
an  Herrn  Gleim.  Prankfurth  und  Leipzig  1771  S.  1),  den 
er  an  Gleim  richtete,  und  in  dem  er  erklärte,  dass  die  fünf 
Tage,  da  er  Gleim  nicht  gesehen,  ihm  so  lang  dünkten, 
als  die  fünf  Monate,  die  er  in  Berlin  zugebracht,  ehe  er  so 
glücklich  geworden,  jenen  kennen   zu  lernen.     Nur  wenig 

Viorteljahischrift  fOr  Littoratunfoscbichte  III  34 


510  Witkowski,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held. 

über  ein  Jahr  währte  das  Zusammenleben  beider.  1747 
wurde  Gleim  als  Secretär  des  Domcapitels  nach  Halberstadt 
berufen  und  Spalding  kehrte  in  das  väterliche  Haus  nach 
Triebsees  zurück.  Es  entspann  sich  zwischen  ihnen  ein 
Briefwechsel,  der,  wenn  auch  nicht  sehr  eifrig  gepflegt, 
doch  bis  ins  Jahr  1763  fortwährte.  Die  Briefe  Spaldings 
zeigen  diesen,  zumal  in  den  ersten  Jahren,  als  völligen 
Nachahmer  der  Gleimschen  Manier.  Breite  Geschwätzigkeit, 
süssliche  Schilderung  alltäglicher  Situationen,  leeres  Ge- 
tändel von  Mädchen  und  Amors  füllen  sie,  sogar  anakreon- 
tische  Verse  sind,  damit  kein  typischer  Zug  dieser  Art 
fehle,  eingestreut  (a.  a.  O.  S.  3  f.).  Am  8.  März  1749  schreibt 
Spalding:  'Sie  sind  in  Halberstadt  nicht  vergnügt.  Gewiss 
fehlet  Ihnen  nichts  als  ein  Mädchen.  Nehmen  Sie  sich 
denn  doch  ein  Mädchen!'  Am  15.  Juni  1749:  'Ich  bin  in 
des  Grafen  von  Bohlen  Hause,  und  mein  Geschäft  ist,  des 
Tages  eine  Stunde  eine  artige  Comtesse  zum  Abendmahl 
vorzubereiten.  Warum  ich  das  Beywort  dazu  gesetzt,  weiss 
ich  gar  nicht.  Es  ist,  wo  ich  nicht  sehr  irre,  ein  Flickwort, 
das  hier  ganz  nicht  zur  Sache  gehört.'  Noch  am  5.  Februar 
1751  will  er  sein  Mädchen  auf  seinem  Schosse  Gleiras 
Lieder  singen  lassen.  Wie  innig  das  Yerhältniss  blieb, 
sieht  man  daraus,  dass  1750  Gleim  für  Spalding  eine  Be- 
rufung als  Consistorialrath  nach  Halberstadt  erwirkte,  die 
dieser  aber  ablehnte,  angeblich  weil  er  glaubte,  den  An- 
forderungen der  Stellung  nicht  gewachsen  zu  sein. 

Allmählich  werden  die  Briefe  seltener.  Nach  dem  vor- 
letzten Spaldings  vom  31.  Januar  1757  tritt  eine  Pause  von 
mehr  als  sechs  Jahren  in  der  Correspondenz  ein,  bis  Gleim 
sie  noch  einmal  aufnimmt  und  Spalding  sie  am  21.  September 
1763  beschliesst.  Das  Jahr  darnach  ward  Spalding,  der 
bis  dahin  Prediger  in  verschiedenen  pommerschen  Städten 
gewesen  w^ar,  als  Oberconsistorialrath ,  Probst  und  erster 
Prediger  an  der  Nikolaikirche  nach  Berlin  berufen.  Ob 
nach  dieser  Zeit  noch  irgend  welche  Beziehungen  zwischen 
Gleim  und  Spalding  bestanden,  lässt  sich  nicht  feststellen: 
wahrscheinlich  hat  das  freundschaftliche  Verhältniss  Spal- 
dings zu  den  Schweizern  (1763  weilten  Lavater,  Heinrich 
Füssli  und  Felix  Hess   eine  Zeit  lang   bei  ihm)  erkältend 


Witkowski,  Pastor- Amor  und  So  ist  der  Held.  511 

auf  die  Freundschaft  mit  Qleim  und  das  Urtheil  über  dessen 
Dichtung  eingewirkt. 

Im  Jahre  1771  gab  Gleim  die  von  Spalding  an  ihn 
gerichteten  Briefe  mit  Ausnahme  des  letzten  heraus.  Es 
wäre  ein  zweckloses  Bemühen,  nach  Gründen  für  diese 
Handlung  zu  suchen;  denn  ^es  war  überhaupt  eine  so  all- 
gemeine Offenheit  unter  den  Menschen,  dass  man  mit  keinem 
Einzelnen  sprechen,  oder  an  ihn  schreiben  konnte,  ohne  es 
zugleich  als  an  Mehrere  gerichtet  zu  betrachten'  (Dichtung 
und  Wahrheit  XIII);  zahlreiche  Veröffentlichungen  von 
Briefen  Lebender  geben  den  thatsächlichen  Beweis  dafür. 
Schon  1746  hatte  Gleim  die  'Freundschaftlichen  Briefe' 
herausgegeben,  und  viele  andere  waren  ihm  ohne  Bedenken 
darin  nachgefolgt.  Dass  durchaus  keine  böse  Absicht 
Gleims  vorlag,  zeigt  schon  der  Umstand,  dass  er  im  fol- 
genden Jahre  auch  die  an  ihn  gerichteten  Briefe  des  Con- 
sistorialraths  Boysen,  mit  dem  er  eng  befreundet  war, 
veröffentlichte. 

In  einem  'Vorbericht'  suchte  Gleim  die  Herausgabe  der 
Spaldingbriefe  zu  begründen:  'Der  Herausgeber  gegen- 
wärtiger Briefe  war,  vor  vielen  Jahren  schon,  mit  Herrn 
Klopstock  und  Herrn  Gleim,  zusammen  in  einer  Gesellschaft, 
in  welcher  gewünschet  wurde,  dass  Herr  Gleim  seinen  ge- 
lehrten Briefwechsel  herausgeben  möchte.  Herr  Klopstock 
trat  diesem  "Wunsche  bey!  —  Meine  Freunde  leben  aber 
noch,    sagte  Herr  Gleim,    würden   sie's  erlauben?  —  Man 

muss  sie   nicht  fragen,   sagte  Herr  Klopstock! Von 

den  gegenwärtigen  Briefen  eines  grossen  Mannes  gerieth 
eine  Kopie  in  des  Herausgebers  Hände,  jenes  Gespräch 
fiel  ihm  ein,  und  er  hatte  mcht  das  mindeste  Bedenken, 
nach  jenen  Regeln  sie  zum  Drucke  zu  befördern.'  *) 

Aus  den  oben  gegebenen  Andeutungen  über  den  Inhalt 
und  Ton  der  Briefe  Spaldings  geht  hervor,    dass   ihm  die 

*)  Dass  Glcini  hier  einen  fremden  Herausgeber  fingert,  besagt  gar 
nichts,  eben  «o  wenig  wie  der  angebliche  Druckort  'Frankfui-t  und 
Leipzig'.  Wir  wissen,  dass  ein  Halberstädter  Buchhändler  auf  der 
Leipziger  Messe  die  Briefe  vertrieb,  und  ausserdeft  hat  Gleim  seine 
Urheberschaft  nie  bestritten. 

34* 


512  Witkowski,  Pastor- Amor  und  So  ist  der  Held. 

Veröffentlichung  derselben  in   seiner  gegenwärtigen   hohen 
kirchlichen  Stellung  überaus  unangenehm  sein  musste. 

In  der  That  Hess  er  unmittelbar  nach  Beginn  der  Oster- 
messe 1771,  in  der  die  Briefe  erschienen,  in  eine  ganze 
Anzahl  von  Zeitungen  eine  Erklärung  giegen  Gleim  ein- 
rücken, datirt  vom  6.  Mai.  Er  gab  zuerst  seinem  Erstaunen 
über  das  Erscheinen  dieser  'gedruckten  Bogen'  Ausdruck: 
er  begriffe  nichts  von  der  Absicht,  warum  unbedeutende 
Dinge  dieser  Art,  die  für  das  Publicum  so  durchaus  ohne 
Nutzen  wären,  der  allgemeinen  Eenntniss  und  Beurtheiiung 
preisgegeben  würden;  wenigstens  sei  er  sich  keiner  Belei- 
digung gegen  irgendjemand  bewusst,  die  eine  solche  Rache 
verdient  hätte.  Indessen  möge  man  nur  beachten,  dass  diese 
Briefe  vor  zwanzig  Jahren  und  ^unter  dem  unverletzlichen 
Schirm  derdamaligen  genauesten  Vertraulichkeit'  geschrieben 
seien.  *Alsdann  hoffe  ich',  fahrt  er  fort,  'wird  diess  Urtheil 
schwerlich  härter  und  beschämender  werden  können,  als 
dasjenige,  welches  ich  längst  schon  selbst  wider  mich  ge- 
sprochen habe.  Wenn  die  späte  Hervorziehung  der  Un- 
schicklichkeiten, die  zum  Theil  in  diesen  Briefen  vorkommen, 
ohne  Zweifel  eben  nur  durch  den  auffallenden  Kontrast 
derselben  mit  meinen  jetzigen  Umständen,  ihre  stärkste  und 
unangenehmste  Wirkung  thut,  so  muss  ich  mich  einer 
solchen  Demüthigung  geduldig  unterwerfen,  um  desto  völ- 
liger dafür  zu  büssen,  dass  ich  ehemals  so  schwach  gewesen, 
mich,  wider  meinen  natürlichen  Character,  auf  einige  Zeit 
und  gegen  einige  Personen,  mit  in  einen  gewissen,  für  leb- 
haft und  geistreich  gehaltenen  Ton  der  läppischen  Tändeley 
hinein  ziehen  zu  lassen.'  Für  den  Schaden,  den  die  Ver- 
öffentlichung verursache,  sei  er  nicht  verantwortlich.  Gute 
Menschen  möchten  entscheiden,  was  für  Begriffe  von  Billig- 
keit und  Ehre  dergleichen  Bekanntmachungen  voraussetzen 
müssten.  Ausser  dieser  scharfen  Erklärung  Hess  Spalding 
noch  als  Beilage  zu  den  Briefen  seinen  letzten  Brief  an 
Gleim,  den  dieser  nicht  in  die  Sammlung  aufgenommen 
hatte,  in  Zürich  besonders  drucken.  Derselbe  war  in  einem 
warmen,  aber  überaus  würdigen,  ernsten  Tone  geschrieben, 
und  sollte  offenbar  die  Wandlung,  die  in  dem  Schreiber 
vorgegangen  war,  veranschaulichen. 


Witkowski,  Pastor- Amor  und  So  ist  der  Held.  513 

Gleim  ward  durch  die  unerwartete  Erwiderung  sehr 
erschreckt.  Er  war  sich  in  seiner  Harmlosigkeit  keiner 
Schuld  bewusst,  er  konnte  in  den  Briefen  nichts  Anstössigcs 
entdecken,  ihm  erschien  der  Angriff  Spaldings  als  völlig 
ungerechtfertigt,  als  ein  Erzeugniss  überspannten  Theologen- 
dünkels.  Er  sprach  seine  Ansicht  in  dem  Gedicht  'An  die 
Musen^  (Werke  hg.  v.  Körte  2,  5  ff.)  aus : 

....  Und  meine  Leier  tönet  dann, 
Dass  es  die  Schäfer  hören. 
Die  Schäfer  kommen  auch  heran,  .... 
Und  horchen  Scherz,  und  dann  und  wann 
Mitunter  gute  Lehren. 

Das  aber  will  der  Pfarrer  nicht, 

Von  meiner  Leier  leiden; 

Macht  ihr  ein  ernstes  Amtsgesicht, 

Und  schilt  auf  meine  Freuden, 

Und  nennt  mich  einen  bösen  Wicht, 

Und  einen  argen  Heiden. 

Und  darum  pocht  auf  euren  Schutz, 

Ihr  Musen,  meine  Leier, 

Und  bietet  ihren  Feinden  Trutz, 

Und  allem  Ungeheuer; 

Ich  aber  still  bei  meinem  Uz 

Sing'  ihm  das  Abenteuer: 

Dass  eine  Taube  sich  verkroch 
Vor  einem  Priesterkragen  .... 

Diese  Verse  veröffentlichte  Gleim  erst  1772,  als  der 
Sturm,  den  er,  ohne  es  zu  wollen,  erregt  hatte,  vorüber- 
gebraust war,  in  einem  Sonderdruck;  zunächst  verkroch  er 
sich  ängstlich  vor  dem  'Priesterkragen'. 

Aber  ein  anderer  Kämpe  trat  für  ihn  auf  den  Plan. 
Johann  Benjamin  Michaelis  hatte  während  seiner  Studien- 
zeit, von  Noth  getrieben,  seine  ersten  Gedichte  heraus- 
gegeben, die  ein  nicht  unbedeutendes,  besonders  satirisches 
Talent  verriethen  und  schnell  Beachtung  fanden.  Durch 
Oeser  wurde  er  mit  Gleim  bekannt  und  dieser  nahm  ihn, 
nachdem  er  sich  als  Journalist  und  Theaterdichter,  letzteres 
auf  Lessings  Empfehlung ,  kurze  Zeit  versucht  hatte ,  un- 
mittelbar bevor  der  Streit  mit  Spalding  ausbrach,  bei  sich 
auf.  Michaelis  bezog  in  Halberstadt  das  Zimmer,  welches 
bis  dahin   Johann   Georg  Jacobi   bewohnt   hatte.     Es   war 


514  Witkowski,  Pastor- Amor  und  So  ist  der  Held. 

mit  Abbildungen  und  Statuen,  die  Amoretten  darstellten, 
ausgestattet^)  und  diese  Verzierungen  boten  der  Phantasie 
Michaelis'  eine  willkommene  Anregung.^)  In  einer  aus 
Prosa  und  Versen  gemischten  Epistel  'An  den  Herrn  Ca- 
nonicus  Jacobi  in  Düsseldorf,  aus  Seiner  Studierstube  in 
Halberstadt  (Halberstadt,  bey  Johann  Heinrich  Gros  1771)% 
datirt  vom  25.  Juni  1771,  schildert  er,  wie  er  sammt  seiner 
Hypochondrie  und  seinem  Satyr  Jacobis  Amors  in  die 
Schule  genommen  habe,  um  aus  ihnen  Satyrn  zu  machen. 
Der  eine  soll  die  alten  Liebhaber  verspotten,  der  andere 
die  Ungetreuen  züchtigen,  der  dritte,  der  'Busenjuvenar 
soll  das  Strafamt  bei  den  Busen  haben. 

Du  aber,  Ausbund  aller  Tücke, 

Mit  Überschlag,  Muff,  Mantel  und  Perücke, 

Herr  Pastor- Amor  sprich,  was  Übertrag  ich  Dir? 

Ein  halber  Erdkrays  wird  vor  deiner  Geyssel  zittern! 

Es  sey !  —  Ich  schicke  Dich  mit  ihr 

Zu  kargen  Vätern,  scheelen  Müttern: 

Und  allenfalls,  wenn  wir  ihn  nicht  erbittern, 

Zu  manchem  Kritiker  —  der  Herr  erlaube  mir  — 

Wie  Du,  voll  nichts,  und  doch  voll  Füttern, 

Wie  Du,  halb  Pfau,  halb  Murmelthier. 

Mit  diesen  Versen  redete  Michaelis  einen  kleinen 
wächsernen  Amor  im  Priesterhabite  an,  der  sich  ebenfalls 
in  Jacobis  Zimmer  befand,  ohne  vorläufig  weiter  die  Idee 
mit  dem  Pastor- Amor  auszubeuten. 

Aber  einen  Monat  später,  am  31.  Juli,  richtete  er  eine 
zweite  Epistel  ^An  den  Herrn  Canonicus  Gleim.  Inliegend 
einige  satyrische  Yersuche  von  unsers  Jacobi  Amorn\  die 
in  demselben  Verlage  wie  die  vorige,  ebenfalls  besonders 
gedruckt,  erschien.  Die  Erfindung  von  den  zu  Satyrn  um- 
gebildeten Amoretten  ist  darin  wieder  aufgenommen.  Zuerst 
wendet  sich  der  'Busenjuvenal'  gegen  die  'buhlerische  Cloe' 


')  Michaelis  nennt:  L'enfant  qui  joue  avec  Tamour  nach  van  Dyk, 
den  Amor  von  Coypel,  TAmour  porte  par  les  Graces  nach  Boucher, 
und  eine  kleine  Wachsstatuette,  von  der  weiter  unten  die  Rede 
sein  wird. 

*)  Es  sei  daran  erinnert,  dass  die  Anakreontiker,  in  Nachahmung 
der  griechischen  Lyrik,  es  ausserordentlich  liebten,  an  Werke  der  bil- 
denden Kunst  ihre  Dichtungen  anzulehnen. 


WiikowHki,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held.  515 

in  einem   nach  Form  und  Inhalt  ausgezeichneten  Gedicht. 

Von  den   buhlerischen  Mädchen  kommt  Michaelis  auf  eine 

andere  Art    'Unverschämter'   männlichen   Geschlechts,  auf 

die  Journalisten,  die  er  unablässig  mit  der  Geissei  seines 

Spottes    und    einem    unersättlichen    Hasse    verfolgte.     Mit 

Kecht  hielt  ihm  ein  Becensent  (Chr.  H.  Schmid  im  Alma- 

nach  der  deutschen   Musen    1772   S.  t40)   vor,   dass  er  ja 

selbst  eine  Zeit  lang  diesem  geschmähten  Stande  angehört 

habe.      Gegen    die    Journalisten    schleudert   Pastor -Amor 

seinen    Exorcismus.     Gleim    als    ein  geistlicher   Herr  von 

zwei  Stiftern  soll   erklären,    ob  er  ihn  für  kräftig  genug 

halte.     Er  beginnt: 

Fahr  aus,  unsaubrer  Geisl! 

Entfleuch  diesen  Fingern,  welche  dir  dienen! 

Nebst  allem  Kritikakel  von  ihnen, 

Das  dich  Vater  heisst! 

Mit  Entrüstung  führt  Michaelis  ferner  die  Anekdote 
aus  den  'Briefen  über  das  Mönchswesen'  (von  La  Roche, 
1771)  an,  dass  ein  gewisser  B.  auf  einer  lutherischen  Hoch- 
schule sich  erfrecht  habe,  Gessners  Idyllen  zu  verbrennen. 
Auch  über  ihn  ruft  Pastor- Amor  sein  Anathema  aus: 

Der  du  meinen  Heiligen  verbrannt! 
Sünder,  aus  dem  Grabe  wachse  dir  die  Hand ! 
Kubach  reite  deine  Seele 
Nach  des  Orkus  Schwefelhöhle! 
Mit  fleischendem  Zahn 
Grinse  der  blinde  Ziska  dich  an! 
Zinzcndorf  und  Herrnhuts  ganzes  Chor 
Heule,  deinem  angepflöckten  Ohr, 
Ewig  seinen  zwölften  Liederanhang  vor! 

Wenn  aber  dieser  Herr  niemals  unter  den  Lutheranern 
existirt  hätte,  dann  würden  es  die  Herren  Katholiken  nicht 
übel  nehmen,  wenn  er  Unwahrheit  mit  Unwahrheit  ver- 
gälte und  seinen  toleranteren  Glaubensgenossen  zur  Ehre 
folgende  Absolution  seines  Pastor- Amors  unter  dem  Namen 
eines  Paters  von  ihrer  Kirche  verkaufte. 

Die  Absolution,   welche  so  viel  Entrüstung  hervorrief, 

lautet  folgendermassen: 

Gleim. 
Ehrwürdger  Herr!    Nach  Ainmtsgebrauch 
Woll  er  mich  Beichte  hören! 


516  Witkowski,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held. 

Pastor -Amor. 
Vom  Herzen  gern!  —  Nur  dass  sich  auch 
Der  Herr  Poet  bekehren! 

Gleim. 
Manch  schönes  Trink-  und  Liebsgedicht 
Schrieb  ich  in  vorgen  Tagen  —  — 

Pastor-Amor. 
Das  weiss  ich;  und  Er  schämt  sich  nicht, 
Die  Augen  aufzuschlagen? 

Gleim. 
Warum?  Ich  sang  den  Menschen  Muth 
Und  Freude.     That  ich  übel? 

Pastor -Amor. 
Zähnklappen  für  die  Höllenbrut! 
So  wollens  Ich  und  Bibel! 

Gleim. 
Wahrhaftig?  —   Gleichwohl  lobte  mich 
Ein  Theil  von  Seinem  Orden! 

Pastor -Amor. 
Noch  warens  Prediger,  wie  ich; 
Nun  sind  sie  Pröbste  worden! 

Gleim. 
Drum  bitt'  ich  ihn,  ders  noch  nicht  ist, 
Mir  Armen,  der  in  Gram  zerfliesst. 
Mit  Ablass  beyzustehen! 

Pastor-Amor. 
Bloss,  dass  er  einsieht,  wie  bereit 
Ihm  au£h  ein  künftger  Probst  verzeiht 
Ein  Ach  —  so  solis  geschehen! 

Gleim. 
Ach!  dass  von  mir  denn  in  die  Welt, 
Seit  mich  mein  Ammt  im  Zügel  hält, 
So  wenig  Lieder  kamen!  — 

Paslor-Amor. 
Verzeihs  Ihm  Gott!  —  hier  ist  sein  Geld!  — 
Er  geht  verlohren !  —  Amen !  — 

Es  war  für  jeden,  der  die  Ereignisse  der  zeitgenössischen 
Litteratur  mit  einiger  Aufmerksamkeit  verfolgte,  leicht  zu 
erkennen,  gegen  wen  sich  die,  übrigens  recht  ungeschickte 
Satire  dieses  Gedichts  wendete.  Die  gesperrt  gedruckten 
Stellen,  die  allerdings  im  Originaldruck  nicht  besonders 
hervorgehoben  sind,  wiesen  zu  deutlich  auf  den  Berliner 
Probst  hin,  das  Gedicht   kam  ferner  aus  Halberstadt,   aus 


Witkowski,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held.  517 

Gleinis  unmittelbarer  Umgebung,  von  einem  Manne,  der 
unter  seinem  Schutze  stand,  —  was  Wunder,  dass  man  den 
unedlen  Angriff  Gleim  zuschrieb,  mindestens  annahm,  dass 
er  keinen  Widerspruch  dagegen  erhoben  habe?  Auch  Jacobi 
schien  im  Bunde  zu  sein.  Einem  von  seinen  Amors  war 
die  Rolle  des  Sprechers  zugetheilt;  man  konnte  also  voraus- 
setzen, dass  er  seine  Zustimmung  gegeben  habe.  Aber  in 
Wahrheit  hatten  Gleim  und  Jacobi  gar  keinen  Antheil  an 
der  übel  gerathenen  Satire ;  sie  entstammte  einzig  und  allein 
der  galligen  Laune  von  Michaelis,  welcher  begierig  die 
Gelegenheit  ergriffen  hatte,  seine  krankhafte  Hypochondrie, 
der  er  noch  vor  Ablauf  eines  Jahres  erlag,  an  Spalding 
auszulassen,  vielleicht  auch  Gleim  damit  einen  Gefallen  zu 
erzeigen  meinte. 

Doch  noch  Ernsteres  als  eine  Beleidigung  des  allgemein 
verehrten  Spalding  lag  vor:  eines  der  Sacramente  der 
christlichen  Religion  war  zum  Gegenstand  des  Scherzes 
gemacht  worden.  Die  leichte  Dichtung  hatte  es  bisher 
ängstlich  vermieden,  irgend  einen  directen  Angriff  auf 
Gegenstände  des  Glaubens  zu  richten.  Gleim  hatte  wohl 
in  seinen  ersten  Gedichten  manches  scharfe  Wort  gegen 
heuchlerische  Priester  gerichtet,  auch  Jacobi  hatte  an  meh- 
reren Stellen  den  klösterlichen  Zwang  verspottet  (Werke 
1770  1,127  ff.  183;  2,  154  ff.  162),  Wieland  war  erst  vor 
kurzem  in  seinen  ^Beyträgen  zur  geheimen  Geschichte  des 
menschlichen  Verstandes  und  Herzens'  mit  seinem  Abul- 
faouaris  den  Heuchlern  strafend  entgegengetreten.  Aber 
keiner  griff  vor  Michaelis  die  Religion  oder  einen  ihrer 
Vertreter  in  einem  bestimmten  Punkte  an;  alle  hatten  sich 
darauf  beschränkt,  Laster  und  Gebrechen,  die  in  den 
Mängeln  des  Charakters  oder  in  äusseren  Institutionen  be- 
ruhten, zu  brandmarken.  Die  Dichter  erkannten  viel  zu 
gut,  was  für  sie  auf  dem  Spiele  stand,  wenn  sie  zu  dem 
mächtigen  religiösen  Gefühl  der  deutschen  Lesewelt  in 
Widerspruch  traten,  als  dass  sie  sich  dieser  Gefahr  aus- 
gesetzt hätten.  Der  Grundsatz  'die  Religion  muss  uns 
immer  in  ihren  Handlungen  zu  feyerlich  seyn,  als  dass  wir 
sie  in  unsere  Scherze  einflechten  dürften',  den  Klotzens 
Deutsche  Bibliothek   der   schönen  Wissenschaften  (6,  533) 


518  Witkowski,  Pastor- Amor  und  So  ist  der  Held. 

bei   einer   Besprechung    von    Michaelis'  Epistel   aussprach, 
galt  allgemein. 

Am  meisten  wurde  Wieland  durch  die  Erscheinung  des 
'Pastor-Amor'  verletzt.  Zwar  beherrschte  ihn  nicht  mehr 
jener  zelotische  Eifer,  mit  dem  er  einst  in  dem  ^Schreiben 
von  der  Würde  und  Bestimmung  eines  schönen  Geistes',  in 
den  'Sympathieen'  die  leichte  Dichtung  angefeindet  und  sie 
in  den  ^Empfindungen  eines  Christen'  sogar  der  geistlichen 
Gerichtsbarkeit  denuncirt  hatte;  aber  er  fühlte,  dass  er 
mitgetroffen  wurde,  wenn  ein  Dichter  aus  dem  Kreise,  der 
ihm  am  nächsten  stand,  von  der  öffentlichen  Meinung  als 
Frevler  an  dem  Heiligsten  verurtheilt  wurde.  Er  musste 
um  so  empfindlicher  in  diesem  Punkte  sein,  da  er  an  der 
katholischen  Universität  Erfurt  misstrauisch  als  Freigeist 
betrachtet  wurde,  und  er  musste  offen  zu  solchen  Aus- 
schreitungen seiner  bekannten  Freunde  Stellung  nehmen, 
wenn  sie  ihm  nicht  die  Gönner  in  der  Mainzer  Regierung 
abwendig  machen  sollten.  Daher  der  Zorn,  in  dessen  Auf- 
Wallung  er  gegen  jede  Gemeinschaft  mit  dem  Ubelthäter 
kräftigen  Widerspruch  einlegte  und  seine  Freunde  aufs 
dringendste  eben  dazu  aufforderte. 

Am  6.  September  1771  schrieb  er  an  Gleim  (Aus- 
gewählte Briefe  3,  71  ff.):  '. . .  Ums  Himmels  Willen,  lieb- 
ster Gleim,  hören  Sie  einmal  auf,  durch  Ihre  unbegränzte 
Gutherzigkeit  jedes  Insekt  des  Parnasses  zu  autorisiren, 
sich  vor  den  Augen  der  Welt  Ihren  Freund  zu  nennen, 
und  eine  Vertraulichkeit  mit  Ihnen  zu  affectiren,  welche  Sic 
für  alle  Sottisen  dieser  Witzlinge  responsabel  macht.  . . . 
Das  Wenigste,  mein  bester  Gleim,  was  Sie  sich  selbst  und 
dem  Publice  und  denjenigen  von  Ihren  Freunden,  welche 
mehr  Ehre  zu  verlieren  haben,  als  Herr  **  [wohl  Michaelis], 
schuldig  sind,  ist,  den  Menschen  fortzujagen,  und  der  ganzen 
Welt  zu  avisiren,  dass  Sie  es  gethan  haben,  und  warum 
Sie  es  gethan  haben.  Seitdem  ich  mir  eine  Ehre  daraus 
gemacht  habe,  der  jetzigen  Welt  und  der  Nachwelt  zu  sagen, 
dass  ich  Gleims  und  Jacobis  Freund  bin,  seitdem  ist  die 
Wuth,  sich  öffentlich  zu  Freunden  meiner  Freunde  zu 
kreiren,  in  alle  avortons  du  Pamasse  gefahren.  .  .  .  Dem 
Herrn    Michaelis    rathe    ich,     sich    in   Acht    zu    nehmen. 


Witkowski,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held.  519 

und  mich  nicht  zu  reizen,  dass  ich  ihn  nicht  ecrasiren 
helfe.' 

Eine  zweite  und  öffentliche  Entladung  des  Wielandschen 
Argers  über  'den  bübischen  Muthwillen  dieses  Cynikers' 
erfolgte  in  einer  Recension ,  welche  das  37.  Stück  der  Er- 
furter gelehrten  Zeitung  1771  brachte.  'Wir  zeigen  diese 
Broschüre  nur  an\  heisst  es  darin,  'um  unser  Missfallen  und 
unsern  Ekel  an  dem  Missbrauch,  den  Hr.  Michaelis  von 
seinen  schönen  Talenten  macht,  öffentlich  zu  bezeugen.' 
Gleim  und  Jacobi  müssten  über  den  leichtsinnigen  Ton  des 
Scherzes,  der  solche  Dinge  treffe,  über  welche  kein  Mensch, 
der  nur  den  mindesten  Anspruch  an  Sitten  oder  an  die 
Achtung  seiner  Mitbürger  mache,  zu  spotten  fähig  sei,  den- 
selben Yerdruss  und  Widerwillen  wie  alle  ehrliebenden 
Leute  empfinden.  Er  könne  den  Herrn  Qleim  und  Jacobi 
nur  den  wohlgemeinten  Rath  geben,  gegen  die  After- 
freunde sich  künftig  besser  zu  verwahren,  durch  die  sie 
in  Händel  und  Tracasserien  verwickelt  würden,  die  ihrem 
schätzbaren  Charakter  in  den  Augen  der  Welt  ein  zweifel- 
haftes Licht  gäben.  Es  sei  kein  Ruhm  so  gross  und  so 
wohlbefestigt,  der  nicht  endlich  durch  solche  Freunde  zer- 
stört werden  könnte.  ^Ein  Mensch,  der  so  wenig  Diskrezion 
hat,  nicht  zu  fühlen,  dass  man  die  Ehre,  an  die  Freund- 
schaft eines  Gleim  oder  Jacobi  Anspruch  zu  machen,  vorher 
verdient  haben  muss,  che  man  sich  ihrer  anmasst,  ist  gewiss 
nicht  derjenige,  der  dieser  Ehre  jemals  würdig  seyn  wird.' 

Durch  diese  Erklärung  wurden  im  Grunde  genommen 
Gleim  und  Jacobi  nicht  minder  getroffen,  als  Michaelis  selbst. 
Denn  es  leuchtete  durch  alle  die  Lobsprüche,  die  Wieland 
ihnen  spendete,  doch  der  Vorwurf  der  stillschweigenden 
Duldung  von  Michaelis'  Vorgehen  hindurch,  der  gegen  den 
klugen,  noch  dazu  weit  entfernten  Jacobi  sicher,  gegen  den 
harmlosen  und  gutmüthigen  Gleim  höchst  wahrscheinlich 
ungerechtfertigt  war.  Jacobi  hatte  sogleich,  ebenso  wie 
Wieland,  das  Bedenkliche  der  Satire  erkannt.  Unmittelbar 
nach  Empfang  derselben,  am  16.  August  1771,  richtete  er 
an  Michaelis  ein  öffentliches  Schreiben,  in  dem  er  diesem 
zwar  für  die  'ganz  eigenthümliche ,  den  Deutschen  bisher 
unbekannte  Laune',   die   in  seinen  Versen   herrsche,   An- 


520  Witkowski,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held. 

erkennung  aussprach;  aber  sich  unbedingt  gegen  den  Ver- 
dacht, als  habe  er  an  der  ^Absolution'  den  geringsten  An- 
theil,  verwahrte.  Er  bat,  ihn  'keiner  albernen  Gravität' 
und  noch  weniger  irgend  einer  Heuchelei  filhig  zu  halten; 
allein  es  müsse  ihm  am  Herzen  liegen,  dass  die  Welt 
zwischen  seinen  Schriften  und  Handlungen  keinen  Wider- 
spruch finde.  Er  habe  sich  nie  vertheidigt,  wenn  er  ver- 
kannt worden  sei;  aber  jetzt  müsse  er  mit  eben  der  Ehr- 
lichkeit reden,  mit  der  er  früher  geschwiegen  habe. 

Ebenso  wie  Jacobi,  wird  vermuthlich  auch  Gleim  eine 
öffentliche  Rechtfertigung  von  Michaelis  verlangt  haben. 
Am  30.  August  richtete  dieser  an  Jacobi  wiederum  ein 
Schreiben  (gedruckt  zusammen  mit  Jacobis  Brief  u.  d.  T.  : 
'Zween  Briefe  von  Jacobi  und  Michaelis  Pastor -Amors 
Absolution  betreffend'.  Halberstadt  1771).  Er  versucht 
darin  den  scherzhaften  Ton  der  ersten  Episteln  festzuhalten : 
'Da  sitzen  wir,  lieber  Pastor -Amor!  —  Alle  deine  Stief- 
collegen  speyen  Feuer  und  Flamme;  Gleim  kennet  dich 
nicht:  und  Jacobi  weiss  nichts  von  dir!'  Aber  wir  be- 
merken nicht  mehr  den  muthwilligen  Spott,  sondern  das 
gezwungene  Lächeln  der  Verlegenheit  in  seinen  Worten, 
wenn  er  den  'Pastor -Amor'  einen  'Ausbund  aller  Tücke* 
nennt,  der  sich  nur  unter  die  Amors  Jacobis  eingeschlichen 
habe.  Er  lässt  auch  bald  den  heitern  Ton  bei  Seite  und 
nimmt  eine  ernste  Miene  an.  Er  beklagt  sich,  dass  Jacobi 
in  den  Zeitungen  gegen  ihn  eine  Art  gelehrten  Steckbriefs 
erlassen  habe,  er  spricht  ihn  und  Gleim  von  allem  Antheil 
frei.  Und  dann  behauptet  er,  kein  ehrlicher  Mann  könne 
eine  Auslegung  von  dem  Gedichte  machen,  die  er  (Michaelis) 
nicht  zugeben  müsste;  nur  erkläre  er  jeden  für  einen 
Nichtswürdigen,  der  ihn  der  geringsten  Nichtswürdigkeit 
zeihe,  ehe  er  sie  ihm  bewiesen.  Die  Religion  kenne  ihre 
wahren  Verehrer  besser,  als  die  Herren  Wölfe  in  Schafs- 
pelzen sich  einbildeten,  die  ihn  angegriffen  hätten.  'Kann 
ich  dafür,  dass  ich  in  dem  Exorcismus  und  den  Miss- 
bräuchen gewisser  Absolventen,  nicht  die  ganze  heilige 
Kraft  finden  kann,  derer  sich  diese  Herren  rühmen?  Oder 
soll  ein  armer  Laye  seinen  Mitbrüdern  nicht  wenigstens 
ins  Ohr  zischeln,  was  seine  gesunden  Augen  offenbar  sehen?' 


Witkowski,  Paator-Amor  und  So  ist  der  Held.  521 

Man  habe  ihm  sogar  den  bürgerlichen  Namen  eines  ehr- 
liehen Mannes  geraubt,  ihn  zum  feilsten  Miethlinge  fremder 
Affecte  erniedrigt,  weil  er  den  unseligen  Stolz  gewisser 
höherer  Geistlichen  nicht  für  den  Geist  der  Salbung  hielt, 
weil  er  es  unanständig  fand,  dass  man  seine  Maximen  nach 
dem  Amte  zuspitzte.  Sein  Original  heisse  Ealchas,  man 
könne  dafür  Probst,  Prior,  Bischof,  Generalsuperintendent 
setzen.  Und  nun  folgt  die  unmittelbare  Wendung  gegen 
Spalding.  Dieser  habe  andere  durch  sein  Verfahren  der 
zweideutigen  Auslegung  des  Publicums  preisgegeben,  habe 
nicht  an  das  Hohngelächter  derjenigen  gedacht,  die  Scherz 
und  Schandthat  mit  einerlei  Stempel  brandmarken  und  auf 
immer  in  unserer  Seele  eine  Heiterkeit  untergraben,  welche 
die  Grundfeste  aller  freiwilligen  Tugend,  selbst  vielleicht 
aller  vernünftigen  Wünsche  eines  ewigen  Glücks  ist. 
'Wollen  wir  unthätig  die  Wahrheit  bis  an  den  Abgrund 
führen  lassen:  und  uns  dann  erst  zu  ihrer  Eettung  ent- 
schliessen,  wenn  der  Fanatismus  auch  auf  uns  mit  dem 
Strick  in  der  Hand  zukömmt?'  Nichts  sei  für  ihn  weniger 
bestimmend  als  das  sogenannte  Ärgerniss.  Wie  viel  un- 
schuldige Herzen  habe  Luther  ärgern  müssen,  um  einen 
Götzen  vom  Throne  zu  reissen,  den  ganz  Europa  anbetete. 
Jacobi  solle  sein  Melanchthon  bleiben.  'Massigen  Sie  durch 
Ihre  Sanftmuth- meine  Hitze,  durch  Ihre  Warnungen  meinen 
Eyfer;  aber  glauben  Sie  gewiss,  dass  weder  Leichtsinn, 
noch  Muthwille  den  geringsten  Antheil  auch  nur  an  Einer 
Zeile  gehabt,  die  Sie  bisher  von  mir  gelesen.' 

Diese  Erklärung,  in  der  Michaelis  mit  festem  Muthe 
im  Ernste  das  aufrecht  erhielt  und  weiter  ausführte,  was 
er  im  Scherz  gesagt  hatte,  erzielte  eine  grosse  Wirkung. 
Denn  statt  dass  sich  nun  erst  recht  alle  auf  ihn  warfen 
und  ihn  zermalmten,  fand  er  im  Gegentheil  Unterstützung 
und  schnelle  Versöhnung  mit  seinen  Angreifern.  Chr.  Heinrich 
Schmid  schrieb  in  seinem  Almanach  der  deutschen  Musen 
(1772  S.  141):  'Pastor- Amor  hat  so  viel  Ärgerniss  in  der 
Welt  gestiftet,  dass  selbst  der  sanftmüthige  Jacobi  um  der 
Schwachen  willen  etwas  auf  ihn  zürnt.  Aber  weder  der 
freundschaftliche  Verweis  eines  Jacobi,  noch  das  nieder- 
trächtige   Verfahren    eines    Recensenten    in    der 


522  Witkowski,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held. 

Erfurter  Zeitung  scheinen  einen  tiefen  Eindruck  auf 
den  Dichter  gemacht  zu  haben.  Und  mit  Recht!  Wir 
würden  unseres  Lebens  nicht  froh,  wenn  wir  jede  Scrupo- 
lität  [ !  ]  und  jede  Niederträchtigkeit  beherzigen  wollten.  Viel- 
mehr hat  Herr  Michaelis  daher  Gelegenheit  genommen,  die 
Scheinheiligkeit  von  neuem  zu  züchtigen.^ 

Die  Schnelligkeit,  mit  der  Wielands  Zorn  verrauchte, 
entsprach  der  ursprünglichen,  jäh  auflodernden  Hitze  des- 
selben.*) Bereits  am  9.  September  (Ausgew.  Briefe  3,  76) 
bat  er  Gleim  die  wilde  Heftigkeit  seines  letzten  Schreibens 
ab,  versicherte  ihn,  dass  er  des  Vorsatzes,  seinen  Oleim 
zu  beleidigen,  unfähig  sei,  dass  er  ihn  von  Qrund  der  Seele 
liebe  und  der  Güte  seines  Herzens  und  der  Unschuld  seiner 
Beweggründe  alle  mögliche  Gerechtigkeit  widerfahren  lasse. 
Über  die  Sache  denke  er  noch  ebenso,  er  habe  nur  Unrecht 
gehabt,  in  der  ersten  Wuth  zu  schreiben,  und  beschwöre 
Gleim  seinen  letzten  Brief  zu  vernichten  und  durch  die 
Versicherung  seiner  unveränderlichen  Freundschaft  den 
unangenehmen  Eindruck  dieses  tollen  Briefes  auslöschen  zu 
lassen.  Er  bedaure  Michaelis  wegen  seiner  Hypochondrie. 
^Diese  Gattung  von  Leuten  kann  kaum  für  ihre  Handlungen 
responsabel  gemacht  werden.  Ein  Poet  seyn,  ist  schon 
so  viel,  als  einen  oder  zween  Sparren  zu  viel  haben,  aber 
noch  hypochondrisch  dazu  seyn,  ist  zu  viel  für  die  Weisheit 
irgend  eines  Sterblichen.  Wenn  ein  Hypochondrist  einen 
Anfall  von  Spasshaftigkeit  hat,  so  ist  Gott  der  Vater  auf 
seinem  hohen  Thron  nicht  sicher  vor  seinen  Einfallen;  er 
meint  es  so  böse  nicht,  und  ich  wollte  wetten,  dass  Herr 
M.  gar  nicht  wird  begreifen  können,  dass  sein  Pastor- Amor 
ein  völlig  injustificables  Ding  ist.'  Er  besteht,  vielleicht 
mehr  durch  seine  Lage  gezwungen,  als  aus  innerem  Bedürf- 
niss,  auf  seiner  Absicht,  öffentlich  sein  Missfallen  daran 
auszusprechen,  und  hat  dieselbe,  wie  wir  wissen,  auch  aus- 
geführt. Zum  Schluss  der  Rath:  'Qui  vult  bene  vivere, 
debet  de  Domino  Abbate  omnia  bona  loquere  etc.  Lasst 
die  Priesterschaft  ungehudelt,  wenn  ihr  ein  geruhig  Leben 
führen  wollt!'  Den  Satz  hatte  er  in  Biberach  und  Erfurt 
erprobt. 

*)  Vgl.  dazu  Heinses  Brief  an  Gleim  vom  23.  September  1771. 


Witkowski,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held.  523 

Noch  einmal  wandte  er  sich,  am  21.  October,  in  einem 
flehenden  Schreiben  an  Qleim,  um  Vergebung  zu  erlangen. 
Dieser  erwiderte  mit  einem  Briefchen,  für  das  ihm  Wielands 
ganzes  Herz  dankte,  wiewohl  es  bei  einigen  Stellen  blutete 
(Wieland  an  Gleim  3. November).*)  Drei  Tage  darauf  schrieb 
Wieland  an  Jacobi,  Gleim  habe  ihm  das  Unrecht,  das  er 
wider  seinen  Willen  gethan,  so  stark  zu  verstehen  gegeben, 
dass  er  unmöglich  mit  sich  selbst  zufrieden  sein  könne. 
Schmerzlich  bewegt  bricht  er  in  die  Worte  aus:  'Ich  sehe, 
dass  ich  das  Herz  des  guten  Gleims  verloren  habe.' 

Gleim  wird  schwerlich  lange  den  Bitten  des  verstossenen 
Freundes  widerstanden  haben.  Ein  überschwängliches 
Schreiben  Wielands  an  Jacobi  vom  2.  December  (a.  a.  O. 
S.  86  if.)  sagt  zwar  nichts  von  einer  erfolgten  Aussöhnung; 
aber  die  erneute  Selbstanklage  Wielands  scheint  eine  solche 
befestigen  zu  sollen.  Er  spricht  von  dem  ^guten  Michaelis", 
und  begründet  das  Attribut  folgendermassen :  'Denn  es  ist 
genug  für  mich,  dass  Sie  und  Gleim  Ihn  Ihrer  Liebe  werth 
finden,  um  mir's  zur  Pflicht  zu  machen,  so  lange  ich  lebe 
alles  anzuwenden,  damit  ich  die  Unbild,  die  ich  ihm  in  über- 
triebener Hitze  angethan  habe,  vergüten  möge.  Le  vilain 
hommc  que  j'6tois!'  Nachdem  die,  wenigstens  seinen 
Amtsgenossen  gegenüber  kaum  unnöthige  Besorgniss  um 
seine  Stellung  durch  sein  Auftreten  zerstreut  war,  konnte 
er  das  gefahrliche  Poem  sachlich  und  harmloser  betrachten, 
zumal  er  Anlass  zu  finden  glaubte,  Spalding  preiszugeben. 

Im  Januar  1772  erbot  er  sich  sogar  für  Michaelis' 
poetische  Briefe  Subscribenten  zu  sammeln,  und  erklärte, 
dass  es  ihm  doppelt  leid  thue,  dem  armen  Michaelis  um 
Spaldings  Willen  Unrecht  gethan  zu  haben,  seitdem  er 
wisse,  dass  dieser  nur  ein  Tartuff'e  und  höchstens  nur  ein 
Abulfaouaris  sei  (Pröhle,  Lessing  Wieland  Heinse  S.  233).*) 

*)  In  demselben  Briefe  empfiehlt  Wieland  den  jungen  Wcrthes 
an  Gleim.  Eb  ist  also  nicht  ganz  richtig,  wenn  Seuffert  (Zeitschrift 
f.  deutsches  Alterth.  u.  deutsche  Litt.  26,  263)  sagt:  'Aus  dem  Käm- 
pfer gegen  einen  Michelis  war  also  binnen  Jahresfrist  der  Patron 
eines  Werthes  geworden.* 

•)  Es  ist  mir  nicht  bekannt,  was  Wielands  Meinung  Über  Spalding 
so  verändert  hat. 


524  Witkowski,  Paator-Amor  und  So  ist  der  Held. 

Der  'arme  Michaelis'  starb  schon  am  30.  September 
desselben  Jahres,  ehe  er  Zeit  gefunden  hatte,  sein  Talent 
an  würdigeren  Gegenständen  als  den  Sünden  der  litterarischen 
Kritik  und  der  angeblichen  Unduldsamkeit  eines  Berliner 
Predigers  zu  erproben.  Unmittelbar  vor  seinem  Tode 
schrieb  er  für  seinen  Freund,  den  Verleger  Dyk,  seine 
Selbstbiographie  (Neues  lausitzisches  Magazin  56,  291  ff.). 
Darin  stellte  er  die  Gründe,  welche  ihn  bei  der  Ab- 
fassung des  Anathems  und  des  'Pastor  -  Amor'  leiteten, 
folgendermassen  dar  (S.  312):  'Das  Ärgerniss  über  die 
Dummheit  eines  gewissen  R.,  der  Gessners  Schriften  ver- 
brannt, erzeugte  das  Anathem ;  der  Verdruss  über  die  ver- 
zweifelten Kunstrichter,  die,  wie  man  mir  sagte,  noch  immer 
scharenweise  gerade  im  besten  Wettlauf  den  Dichtern 
-zwischen  den  Beinen  herumliefen,  brachte  die  kleine  Be- 
schwörung hervor;  und  endlich  der  Hass  gegen  alle  Hasser 
der  Freude  von  aussen  —  von  innen  aber  —  kurz  gegen 
alle  diejenigen  —  doch  ich  habe  ja  alles  schon  in  meinem 
dritten  Briefe,  diese  Amorn  betreffend,  gesagt,  und  würd' 
es  nicht  gesagt  haben,  wenn  die  Religion  mir  gleichgültig 
wäre,  wenn  mir's  gleichgültig  wäre,  wie  und  welche  Hirten 
vor  uns  den  Weg,  den  wir  alle  betreten  sollen,  voraus- 
gingen —  dieser  Hass,  ohne  irgend  eine  Verabredung,  ohne 
die  geringste  Cabale  brachte  mich  auf  Pastor-Amors  Abso- 
lution.     Auf  diese  ganz    unschuldige  Weise    entstand  der 

Brief  an   den  Herrn  Kanonicus  Gleim Dieser  Brief 

machte  sogleich  überall  ein  erstaunliches  Aufsehen.  Mein 
armer  unschuldiger  Gleim  sowohl,  als  ich,  empfing  über 
den  Pastor-Amor  von  Freunden  und  Feinden  eine  Menge 
Briefe,  worunter  auch  anonyme,  oder  vielmehr  förmliche 
Pasquille  nicht  ausblieben.  Selbst  mein  guter  Jacobi  liess, 
aus  Furcht  vor  den  Juden,  nach  seinem  natürlich  etwas 
schüchternen  Charakter  ein  Schreiben  an  mich  drucken; 
ich  sähe  mich  genöthigt,  es  zu  beantworten,  und  so  ent- 
standen 'Zween  Briefe'  u.  s.  w.  Erst  war  ich  willens,  noch 
einen  vierten  Brief  diesen  drcyen  beyzufügen;  allein  ich 
war  vor  der  Hand  des  Dings  überdrüssig,  und  hob  mir  die 
Materie  dazu  seiner  Zeit  und  seinem  Ort  auf.'     Bemerkens-  ^ 

werth    ist  noch   die  Angabe   Michaelis'  (S.  315),   dass    er 


Witkowski,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held.  525 

später  für  eine  Professur  in  Giessen  vorgeschlagen,  aber 
wegen  einer  in  Jena  erscKienenen  Recension  des  Taster- 
Amor'  abgelehnt  wurde. 

Spaldings  Groll  gegen  Gleim  zeigte  sich  noch  in  seiner 
Selbstbiographie,  die  1804  von  seinem  Sohne  herausgegeben 
ward.  Das  Urtheil,  welches  er  dort  S.  29  über  den  ehe- 
maligen Freund  ausspricht,  ist  zwar  nicht  unbedingt  ab- 
sprechend, aber  kalt  und  doppelsinnig. 

Keinem  der  Betheiligten  in  der  eben  geschilderten 
Episode  gereicht  sein  Verhalten  zur  Ehre,  am  wenigsten 
Wieland.  Seine  Heftigkeit  kann  höchstens  durch  das 
schnelle  und  freimüthige  Bekenntniss  seiner  Schuld  ver- 
zeihlicher werden;  aber  es  ist  dabei  zu  bedenken,  dass  der 
Angriff  öffentlich  geschah,  die  Abbitte  nicht. 

So  konnten  ferner  Stehende,  wie  Goethe,  leicht  den  Ein- 
druck gewinnen,  als  habe  Wieland  in  der  That  der  durch 
Gleim  und  seine  Freunde  vertretenen,  anakreontischen  Dich- 
tungsart  Fehde  angesagt  und  sich  entschieden  auf  die  Seite 
der  Gegner  dieser  altersschwachen  Gattung  gestellt.  Uns,  die 
wir  wissen,  dass  Wielands  Vorgehen  durchaus  keine  dauernde 
Veränderung  seiner  Richtung  bedeutete,  berührt  es  freilich 
wunderlich,  wenn  wir  gerade  ihn  in  Goethes  Lied  ^So  ist 
der  Held,  der  mir  gefallt'  als  Vertreter  der  Feinde  der 
Anakreontik  nennen  hören.  Aber  das  Gedicht  ist  offenbar 
unter  dem  frischen  Eindruck  des  Wielandschen  Artikels  in 
der  Erfurter  Zeitung  geschrieben,  ehe  noch  die  Nachricht 
von  der  bald  erfolgten  Aussöhnung  zu  Goethe  gelangt  war. 
So  gewinnen  wir  für  die  Datirung  einen  neuen  bestimmteren 
Anhalt  und  können  als  Abfassungszeit  die  nächsten  Monate 
nach  den  geschilderten  Vorgängen ,  also  den  Herbst  1771, 
ansetzen,  was  um  so  wahrscheinlicher  ist,  da  in  diese  Zeit 
auch  die  Trübung  der  Freundschaft  zwischen  Wieland  und 
Heinse  fallt,  den  Goethe  schon  wegen  seiner  persönlichen 
Beziehungen  zu  dem  Halberstädter  Dichterkreise  diesem 
beizuzählen  geneigt  sein  mochte. 

Düntzer,  dem  Seuffert  (Zeitschrift  f.  deutsches  Alterth. 
u.  deutsche  Litt.  26,  262)  beistimmt,  vermuthet,  dass  unser 
Gedicht  zunächst  gegen  die  1772  erschienenen  ^Hirtenlieder' 
von  Werthes  gerichtet  sei.    Diese  Hypothese  muss,  falls  die 

Vierteljahrschrift  für  Litteratarge&ohichte   UI  35 


526  Witkowski,  Paator-Ainor  und  So  ist  der  Held. 

obige  chronologische  Feststellung  als  richtig  anerkannt  wird, 
fallen  gelassen  werden,  was  meines  Erachtens  ohne  Bedenken 
geschehen  kann.  Denn  alle  die  Stellen,  welche  als  Beweis 
für  die  Beziehung  des  Goetheschen  Gedichts  zu  den  ^Hirten- 
liedern'  angeführt  werden,  zeigen  doch  nur  eine  Überein- 
stimmung in  allgemein  typischen  Zügen  der  Änakreontik, 
die  bei  Werthes  in  einer  Art  Musterkarte  zusammengestellt 
erscheinen.  Sie  würden  sich  sämmtlich  mit  leichter  Mühe 
bei  andern  Anakreontikern  nachweisen  lassen.  Schon  die 
handschriftliche  Überschrift  'An Wieland'  legt  dieYerrouthnng 
nahe,  dass  das  Gedicht  einem  Anlass  seine  Entstehung  ver- 
dankt, bei  dem  Wieland  in  persönlichen  Gegensatz  zu  den 
darin  angegriifenen  Dichtern  trat.  Das  war  bei  den  Liedern 
von  Werthes  nicht  der  Fall,  wohl  aber  bei  dem  durch 
Tastor-Amor'  heraufbeschworenen  Conflict.  Gerade  da  die 
'Hirtenlieder',  wie  Seuffert  bemerkt,  unter  Wielands  Flagge 
in  die  Welt  hinaussegelten,  ja  sogar  anhangsweise  seinen 
'Verklagten  Amor'  zum  Geleit  hatten,  konnte  er  nicht  in 
einem  Gedicht,  das  die  'Ilirtenlieder'  verhöhnte,  als  Gegner 
der  von  ihnen  vertretenen  Richtung  angeführt  werden.  Es 
ist  auch  nicht  ersichtlich,  durch  welche  Stelle  des  Gedichts 
Seuiferts  Ansicht  hervorgerufen  ist,  dass  Goethe  darin 
Wieland  wegen  der  Yeränderlichkeit  seiner  Sympathien 
verspottet  haben  soll.  Man  braucht  in  der  Bezeichnung 
'Wieland  mit  seines  Gleichen'  keinen  ironischen  oder  ver- 
ächtlichen Beigeschmack  zu  finden;  will  man  dies  aber,  so 
halte  man  daneben  den  'edlen  Muth'  (im  folgenden  Yerse), 
und  man  wird  erkennen,  dass  die  Ironie  sich  nicht  gegen 
Wieland  und  seines  Gleichen  (d.  h.  die  übrigen  Gegner  der 
spielerigen,  gedanken-  und  gefühlsarmen  Poesie)  richtet, 
sondern  gegen  die  Änakreontik,  von  deren  Standpunkt  aus 
die  Gegner  mit  dem  geringschätzigen  Ausdruck  'seines 
Gleichen'  neben  dem  eigenen  'edlen  Muth'  herabgesetzt 
werden. 

Schliesslich  sei  noch  erwähnt,  dass  die  Behauptung 
Seufferts,  Goethe  habe  seine  Verurtheilung  der  Anakreon- 
tiker  'parodisch  mit  anakreontischen  Mitteln  vorgetragen^ 
durch  den  Inhalt  und  die  Form  des  Gedichtes  wohl  kaum 
genügend  gestützt  ist.     Wie  wenig   absolute  Beweiskraft 


Witkowski,  Pafttor-Amor  und  So  ist  der  Held.  527 

i  die  Stelle,  die  Seuffert  hierfür  anführt,  besitzt,  wird  schon 

!  dadurch  äusserlich  gekennzeichnet,   dass  von  anderer  Seite 

f  (Gegenwart  1879  Nr.  31)  in  den  von  ihm  als  Beleg  citirten 

Versen 

Auf  den  Lippen  träufeln  Morgendüfte, 
Auf  den  Lippen  säuseln  kühle  Düfte 

Ossiansche  Anklänge  gefunden  werden.  Es  erscheint  auch 
fraglich,  ob  ^rund,  zart,  weich,  keusch'  als  specifisch  ana- 
kreontische  Epitheta  gelten  können,  wie  Minor  und  Sauer 
(Studien  zur  Goethephilologie  S.  70)  meinen. 

Es  ist  nicht  möglich,  einen  bestimmt  ausgeprägten 
Stilcharakter  des  Gedichtes  festzustellen.  Ebenso  wie  ana- 
kreontische  und  ossiansche  Einflüsse,  lassen  sich  darin 
auch  Anklänge  an  Elopstock,  z.  B.  an  das  ^Yaterlandslied^ 
auffinden ,  wie  schon  Minor  und  Sauer  (a.  a.  0.)  bemerkt 
haben.  Das  Ganze  macht  den  Eindruck  einer  überaus 
flüchtigen  Improvisation,  in  der  sich  der  lange  angesammelte 
Ingrimm  gegen  die  undeutsche,  weichliche  Art  bei  einem 
äusserlichen  Anlass  mit  plötzlicher  Heftigkeit  entlud.  Die 
zornige  Hand  des  Dichters  zeichnete  mit  krausen  Zügen 
ein  Bild,  in  dem  sich  das  ihm  vorschwebende  Ideal  kräfti- 
ger Deutschheit  in  Mann  und  Weib  mit  den  Zügen  der 
Conventionellen,  gezierten  Gestalten,  die  bis  dahin  der  Dich- 
tung zum  Vorbild  gedient  hatten,  vermischte.  In  dem  so 
entstandenen  Gemälde  ist  wohl  die  ursprüngliche  Absicht 
des  Dichters  zu  erkennen,  jede  Linie  für  sich  zu  deuten, 
aber  die  gegenseitige  Beziehung  der  einzelnen  Züge  und 
die  einheitliche  Durchführung  einer  bestimmten  Gedanken- 
reihe ist  nicht  ersichtlich.  Der  Versuch,  eine  solche  nach- 
zuweisen, ist  unternommen  worden  (Ad.  Schroeter,  der 
Entwicklungsgang  der  deutschen  Lyrik  in  der  ersten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts,  Wolmirstedt  1879  S.  89flf.).  Aber  es 
muss,  um  zu  einem  günstigen  Resultat  zu  gelangen,  eine 
so  grosse  Anzahl  von  Zwischengliedern  angenommen  werden, 
dass  die  Goetheschen  Bestandtheile  nur  als  vereinzelte 
Steine  dieses  Phantasiegebäudes,  nicht  als  selbständiger, 
zusammenhängender  und  in  sich  ruhender  Aufbau  erscheinen. 

Sowohl   von   den  'Schriften'   wie   von   allen  Ausgaben 

seiner  Werke  schloss  Goethe  das  Gedicht  aus,  doch  erhielt 

3ö* 


528  Witkowski,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held. 

es  Zelter,  um  es  in  Musik  zu  setzen;  vermuthlich  in  einer 
zu  diesem  Zwecke  durchgesehenen,  etwas  veränderten  Ge- 
stalt und  ohne  die  letzte,  polemische  Strophe,  die  im  Text 
von  Zelters  Gomposition  fehlt.  Die  letztere  enthält  auch 
sonst  noch  einige  Abweichungen  von  der  in  Goethes  Nach- 
lass  gefundenen  Handschrift.  Hirzel  (Verzeichnisse  S.  99  f.) 
hat  mit  Recht  angenommen,  dass  diese  Änderungen  von 
Zelter  herrühren,  und  passend  auf  dessen  Brief  vom  S.Januar 
1819  (Briefwechsel  zwischen  Goethe  und  Zelter  3,  7)  hin- 
gewiesen, der  klar  zeigt,  dass  der  Componist  sich  kein 
Gewissen  daraus  machte,  in  Goethes  Dichtungen  herum- 
zuändern, wo  sie  sich  seiner  musikalischen  Einkleidung  nicht 
fügen  wollten.  Am  lö.December  1816  (Briefwechsel  2,366) 
meldet  er  dem  Freunde,  dass  ^hübsche  Liedchen  fertig 
geworden'  seien,  darunter  auch  unser  'Flieh,  Täubchen, 
flieh.'  Den  Vers  'Und  so  soll  mein  Deutsches  Herz  weich 
flöten'  nennt  er  'einen  harten  Hund',  der  sich  nicht  fügen 
wolle  und  an  dem  er  sich  schon  die  Zunge  wund  gerieben 
habe.  Er  hat  die  Schwierigkeit  wahrscheinlich  auf  eigene 
Faust  beseitigt,  indem  er  die  lästige  Stelle  V.  32  f.  durch 
die  Worte 

Und  so  soll  mein  deutsches  Herz  ihn  kennen, 
Und  so  soll  mein  treues  Herz  ihn  nennen 

ersetzte,  die  in  ihrer  nichtssagenden  Plattheit  die  Mache 
des  bedrängten  Componisten  verrathen.  Ebenso  dürfte  es 
sich  mit  den  übrigen  Abweichungen  von  der  Ausgabe  1.  H. 
verhalten:  sie  zeigen  alle  das  Bestreben,  Härten,  die  den 
Fluss  des  Gesanges  stören,  zu  mildern.'^)  Zelter  setzte  eine 
einfache  Melodie,  die  mit  ihrem  heitern  AUegretto  dem 
Gedichte  den  Stempel  sanften  Liebesglücks  aufdrückte. 
Indem  er  die  Schwierigkeiten  theils  beseitigte,  theils  nicht 
berücksichtigte    (man  beachte  die  zweite  Strophe),  machte 

'')  Suphan  trägt  nachf  dass  die  im  Goethe-Nationcal-Musenm  be- 
wahrte handschriftliche  Sammlung  der  von  Zelter  componirten  Goethe- 
schen  Lieder  V.  2.  3  der  7.  Str.  also  bietet: 

Und  8o  8oU  mein  deutsches  Herz  reich  flöten 
Rasches  Blut  in  meinen  Adern  rötfien. 

Das  cursiv  gesetzte  ist  von  Goethes  Hand  auf  Rasur  geschrieben. 


Witkowski,  Pastor-Amor  und  So  ist  der  Held.  529 

er  das  Gedicht  zu  dem  Liede  eines  sehnenden  Mädchens, 
das  sich  das  Bild  des  geliebten  Jünglings  mit  zärtlichen 
Farben  ausmalt.  Von  Zelter  wird  wohl  auch  der  Titel 
^Mädchens  Held\  der  zu  dieser  Auffassung  passt,  herrühren, 
und  nicht  von  Goethe,  wie  Düntzer  behauptet. 

Goethen  entschwand  das  Gedicht  indessen,  da  Zelters 
Composition  erst  1827  erschien,  wieder  völlig  aus  dem 
Gedächtniss.  Als  ihn  der  Kanzler  Müller  darum  befragte, 
gab  er  eine  ganz  unmögliche  Verbesserung  des  achten 
Verses  ('offne  Thore'  in  'offne  Thoren')  an.  Später  wird 
die  letzte  Redaction  erfolgt  sein,  in  der  das  Gedicht  in  die 
nachgelassenen  Werke  überging.  Darin  fehlt  auch  die  ur- 
sprünglich vorletzte  Strophe,  vielleicht  der  dunklen,  schon 
von  Zelter  geänderten  Verse  32  f.  halber.  In  dieser  Gestalt 
mussten  seine  Beziehungen,  nachdem  die  Veranlassung  schon 
durch  den  Wegfall  der  letzten  Strophe  unkenntlich  geworden 
war,  den  Lesern  als  unlösbares  Räthsel  erscheinen:  Noch 
in  der  ersten  Auflage  der  Hempelschen  Ausgabe  (3,  94) 
konnte  Loeper  zur  Erklärung  nichts  anführen,  und  als 
Zeitgrenze  der  Entstehung  nur  Wielands  Tod  (wegen  der 
Überschrift  'An  Wieland'  im  Manuscript)  bezeichnen.  Den 
Versuchen,  dieses  Dunkel  zu  lichten,  schliesst  sich  der  vor- 
liegende bescheidentlich  an. 

Leipzig.  Georg  Witkowski. 

Nachwort.  Der  Verfasser  vorstehender  Untersuchung 
hat  mich  brieflich  aufgefordert,  zu  seiner  Ansicht  über 
Goethes  Lied  hier  Stellung  zu  nehmen.  Ich  bekenne  also, 
dass  ich  mich  noch  nicht  gezwungen  erachte,  meine  Ver- 
muthung.  vom  Zusammenhang  der  Goetheschen  Verse  mit 
Werthes'  Hirtenliedern  aufzugeben.  Nochmals  zugestanden, 
wie  schon  a.  a.  0.  S.  262,  dass  die  von  Goethe  aufgegriffenen 
Worte  'allen  Anakreontikern  geläufig'  sind,  so  liegt  doch 
nahe,  sie  auf  jene  Lieder  zu  beziehen ,  in  welchen  sie  sich 
so  bequem  beisammen  finden,  da  doch  Goethe  sich  nicht 
auch  wie  Werthes  eine  'Musterkarte'  angelegt  hat.  Ent- 
scheidender dünkt  mich  der  Goethesche  Anruf  'Schäfer', 
der  nicht  auf  die  Anakreontiker  schlechtweg  passt,  wohl 
aber   auf  Werthes  (der  seine  'Hirtenlieder'   auch  Schäfer- 


530  RansohofiF,  Wielands  Geron. 

lieder,  seine  Hirten  auch  Schäfer  heisst).  —  Aber  selbst 
wenn  ich  diesen  Zusammenhang  zwischen  Werthes  und 
Goethe  preis  geben  müsste,  gelangte  ich  nicht  dazu,  die 
Anrede  Wielands  durch  Goethe  ernst  zu  nehmen.  Ein 
Gedicht,  das  Goethes  freudige  Zustimmung  zu  Wielands 
Erklärung  gegen  Michaelis  sofort  nach  deren  Erscheinen 
aussprechen  sollte,  musste  warnen:  Sänger,  scherzt  nicht 
mit  Heiligem;  Goethe  aber  sagt:  singt  deutsche  Manneskraft; 
hiefür  konnte  er  sich  auf  Wielands  Yorgang  nicht  berufen. 
Wenn  er  ihn  trotzdem  als  Bundesgenossen  hereinzieht  (weil 
Wieland  gegen  Anakreontiker  auftrat,  wie  Goethe  gegen 
die  Anakreontik  auftreten  wollte),  so  kann  das  nicht  allein 
und  nicht  ganz  ehrliche  Zustimmung  sein,  es  bleibt  ein 
Rest,  ein  Zwiespalt  zwischen  Goethe  und  Wieland ;  und  ich 
glaube  nach  wie  vor,  dass  Goethe  dessen  bewusst  auch  auf 
Wieland  stichelte.  —  Endlich,  auch  Witkowski  findet  'typi- 
sche Züge  der  Anakreontik'  in  Goethes  Lied :  so  mag  meine 
Aufstellung,  Goethe  habe  mit  anakreontischen  Mitteln  paro- 
dirt,  doch  nicht  ganz  verfehlt  sein,  zumal  ich  niemals  der 
Meinung  war,  das  Gedicht  sei  rein  anakreontisch. 

B.  Seuffert. 


Untersuchungen  über  Wielands  'Geron'. 

Im  Octoberhefte  der  Bibliotheque  universelle  des  romans 
vom  Jahre  1776  erschien  aus  der  Feder  des  Grafen  Tressan 
ein  Auszug  des  altfranzösischen  Bitterromanes  ^Gyron  le 
Courtois'.  Auf  Wieland  ^machte  die  Geschichte  zwischen 
Geron  und  der  Dame  von  Maloanc,  wo  das  gute  Schwert 
Hektors  des  Braunen  auf  eine  so  herrliche  Art  den  Aus- 
schlag gibt,  eine  Wirkung,  die  er  so  vielen  anderen  als 
immer  möglich  mitzutheilen  wünschte'.  Im  Januar  und 
Februar  des  folgenden  Jahres  veröffentlichte  er,  zweigetheilt, 
im  Tcutschen  Merkur  seinen  'Geron  der  Adelich'.  Noch 
ehe  er  erschienen  war,  hatte  Wieland  unter  dem  16.  Januar 
1777   an  Merck  gemeldet*):   'Gyron   le  Courtois  oder,   wie 

*)  Briefe  an  und  von  Merck  S.  86. 


Ransohoff,  Wielands  Geron.  531 

ich  ihn  umtaufe,  Geron  der  Adelich ist  in 

Holzschnittmanier,  im  Jamben  ohne  Reimen,  simpel  und 
etwas  hart,  auch  mitunter  etwas  steif,  aber  doch,  wenn 
ich  nicht  ganz  verblendet  bin,  kräftig  gearbeitet,  und  wird, 
denk  ich,  Ew.  Liebden  wohl  im  Herzen  thun'. 

^Oyron  le  Courtois'  war  1494  zum  ersten  Male  gedruckt; 
^cestuy  livre  fut  translat^  du  livre  du  Monseigneur  Edouart 
le  roi  d'Angleterre,  en  celuy  temps  qu'  il  passa  oultre  la 
mer,  au  Service  de  nostre  seigneur  pour  conquester  le  saint 
sepulchre^)'  hatte  der  Nachdichter  Rusticien  de  Pise^)  dazu 
bemerkt,  auf  die  ursprüngliche,  mehr  als  200  Jahre  ältere 
Quelle  hindeutend.  Aus  dem  französischen  Romane  hatte 
dann  im  16,  Jahrhundert  Alamanni  den  Stoff  seines  Helden- 
gedichtes ^Qirone  il  cortese^  genommen.  Wieland  kannte 
das  Epos;  doch  hat  der  italienische  Dichter  nicht  auf  ihn 
eingewirkt.  Zwischen  all  den  Theilen  bei  Alamanni,  welche 
die  Geschichte  Gerons  und  der  Dame  von  Maloanc  um- 
fassen und  dem  Wielandischen  Poem  finden  sich  keine 
anderen  Übereinstimmungen,  als  gleiche  Anklänge  der  näm- 
lichen Vorlage. 

Wielands  Gedicht  ist  aus  dem  reicheren  Stoffe  des 
französischen  Romanos  herausgehoben.  Dort  bildet  die 
Geschichte  Gyrons  und  der  Dame  von  Maloanc  nur  einen 
Theil  der  Erzählung,  der  allerdings  breiten  Raum  gewonnen 
hat.  Er  ist  umflochten  von  einer  zweiten  Reihe  von  Bege- 
benheiten, die  in  jenem  Augenblicke  anheben,  da  Gyron 
von  Braunenthal  nach  Maloanc  zurückkehrt.  Ein  Edel- 
fräulein  namens  Bloy  begegnet  ihm  und  bittet  um  Schutz 
und  Geleit.  Er  gewährt,  was  sie  wünscht  und  beschirmt 
sie  während  der  Reise  gegen  den  König  von  Estrangorre. 
Dann  scheidet  er.  Auf  ihres  Oheims  Schlosse  wird  er 
später  aufgenommen,  als,  von  Scham  und  Reue  überwältigt, 
er  gegen  sich  selbst  das  Schwert  gezückt  hat.  Bloy  pflegt 
und  rettet  ihn.  Genesen,  bietet  er  sich  ihr  zum  Ritter  an 
und  führt  sie  heim  auf  seine  Burg.  Aber  ihre  Schönheit 
besticht  Danayn,  und  eines  Morgens  hat  er  sie  listig,  wider 
ihren  Willen,   aus  Gyrons  Burg  entführt.     Der  Betrogene 

»)  im  Jahre  1270. 

')  vgl.  Dunlop-Liebrecht,  Prosadichtungen  S.  U5. 


532  Ransobofff  Wielands  Geron. 

durcheilt  das  Land  nach  seinem  verlorenen  Lieb  und  findet 
es  endlich  sammt  dem  Entführer.  Er  besiegt  diesen  und 
will  ihn  niederstechen ;  doch  ein  Rest  alter  Zuneigung  hemmt 
ihm  den  Arm.  —  Der  Roman  schildert  Gyrons  Leben  noch 
weiter:  er  nennt  seine  Söhne;  er  erzählt,  wie  Danayn  ^sein 
altes  Unrecht  wieder  gut  macht'  und  den  Ritter  mit  Waffen- 
gewalt aus  Kerkerhaft  befreit,  dieweil  Bloy  in  einem  ande- 
ren Verliesse  stirbt. 

Wieland  hat  diese  ganze  Fülle  abgestreift,  um  nur  den 
Theil  des  Romanos  zu  übernehmen,  welcher  den  Kampf 
der  Tugend  und  Sinnlichkeit  und  die  Schilderung  von  Gerons 
Treue  enthält.  Wie  eine  Erinnerung  an  Bloy  erscheint 
bei  ihm  flüchtig  jene  Schöne,  die  heimlich  Geron  liebt  und 
gleichfalls  den  Todtwunden  mit  Wiel  verborgenen  Mitteln^ 
heilt. 

Der  alte  Roman  trägt  den  ausführlichen  Titel:  ^Histoire 
qu'elle  est  translat^e  de  Branor-le-Brun,  le  vieil  Chevalier, 
qui  avait  plus  de  cent  ans  d'äge,  lequel  vint  k  la  Cour 
du  Roy  Artus,  accompagn6  d'une  Damoyselle,  pour  s'  eprou- 
ver  k  Tencontre  des  jeunes  Chevaliers,  lesquels  etaient  les 
plus  vaillans,  ou  les  jeunes  ou  les  vieux;  et  comment  il 
abattit  le  Roy  Artus  et  quatorze  Roys  qui  en  sa  compagnie 
6taient,  et  tous  les  Chevaliers  de  la  Table  Ronde,  de  coups 
de  lance:  et  traite  le  dit  Livre  des  plus  grandes  aventures 
qui  jadis  advinrent  aux  Chevaliers  errans.'  Aus  dieser 
Titel- Anzeige  ist  das  grosse  Eingangsbild  in  Wielands  Er- 
zählung erwachsen.  Die  ganze  Scene  mit  ihren  Persönlich- 
keiten ist  hier  angedeutet,  und  Wieland  hat  sie  nur  weiter 
ausgemalt:  er  schildert  den  Eintritt  des  Fremden;  die  Hel- 
den der  Tafelrunde  erscheinen  einer  nach  dem  anderen  auf 
dem  Plane  und  werden  geworfen ;  Artus  und  Lanzelot  treten 
durch  Wort  oder  That  merklicher  hervor.  Wenn  er  Genievra 
neu  einführt,  weist  die  Umgebung  bereits  auf  sie  hin  und 
erinnert  an  sie. 

Tressans  Auszug  beginnt  mit  Branors  Erzählung  von 
den  beiden  Greisen,  die,  in  einer  unterirdischen  Höhle,  ihm 
zuerst  den  Namen  Gerons  des  Adelichen  nennen.  Wieland 
schliesst  hier  an,  und  in  seiner  Darstellung  belebt  sich  die 
Scene.     Bei  dem   alten  Autor  ist  jene  Erzählung  langer, 


RansohofF,  Wielands  Geron.  533 

trockener  Bericht  über  Qerons  königliche  Herkunft  und  die 
Geschichte  seiner  Vorfahren ;  bei  dem  modernen  wird  die 
ganze  Umgebung  gezeichnet,  die  psychologische  Wirkung 
jenes  Augenblickes  festgehalten.  Wie  der  Ritter  im  Un- 
wetter die  Höhle  findet;  wie  er  hineintritt;  wie  immer 
abwärts,  immer  dunkler  ^es  tiefer  hinabgeht^  eine  Höhle 
sich  ausbreitet  und  plötzlich  ^zwei  heiige  Leiber'  bei 
schwachem  Lamponschimmer  stumm  ihm  gegenübersitzen: 
das  alles  hat  ihn  so  gepackt  — 

jetzund  noch 

nach  sechzig  Jahren,  da  ich  euch  davon 

erzähle,  ßlhrt  mirs  kalt  durchs  Rückenmark  hinauf  — 

Und  weiter  malt  die  dichterische  Phantasie:  die  beiden 
Greise  scheinen  eben  aus  langem  Schlummer  zu  erwachen; 
sie  blicken  den  Ankömmling  ^unbefreradet,  mild  und  freund- 
lich' an.  Froh,  endlich  einmal  Nieder  einen  Menschen 
zu  sehen',  erzählen  sie  ihm  ihre  Geschichte.  Bei  Tressan 
pflegen  sich  die  beiden  von  ihren  Thaten  zu  unterhalten 
^pour  se  desennuyer'.  Wielands  Änderung  ist  ebenso  fein- 
sinnig wie  liebenswürdig  —  man  spürt  den  Dichter  in  ihr. 
Er  folgt  seiner  Vorlage  Seite  um  Seite.  —  Einige  Züge 
der  alten  Poesie  sind  gemildert  oder  psychologisch  vertieft. 
Die  Frau  von  Maloanc  bietet  sich  dem  Ritter  nicht  mehr 
zum  zweiten  Male  an ;  nur  ihre  Augen  verrathen  noch,  was 
sie  wünscht  und  begehrt.  Die  Liebeswuth  des  Weibes  ist 
nicht  verringert,  aber  das  Unweibliche  ist  ihr  benommen.  — 
In  dem  Augenblicke,  da  Geron  sich  seiner  Untreue  bewusst 
wird  und  entsetzt  zurückbebt,  hält  Wieland,  wenn  auch  nur 
flüchtig,  die  Entwicklung  der  Vorgänge  auf  und  wirkt  durch 
diese  Verzögerung  künstlerisch.  In  dem  alten  Romane 
nähert  sich  die  Dame  dem  Ritter,  forscht  nach  dem  Grunde 
seiner  plötzlichen  Schwermuth  und  erßlhrt  ihn.  Hier  hört 
er  die  Dame  zuerst  gar  nicht: 

Geron,  ohne  ihr  zu  achten,  blickt 

mit  starren  Augen  auf  sein  Schwert  und  gibt 

ihr  keine  Antwort  .  .  . 

und  die  Frau  von  Maloanc  muss  noch  einmal  fragen.  Die 
Schilderung  ist  wahr  und  wirksam;  in  dem  gramversun- 
kenen  Schweigen    spricht    Schmerz  und  Verzweiflung  am 


534  Ransohoff,  Wielands  Geron. 

lautesten.  —  Der  Entschluss  Gerons,  die  selbstgeschlagene 
Wunde  heilen  und  sich  retten  zu  lassen,  ist  breiter,  und 
deshalb  besser,  begründet  als  in  der  Vorlage. 

Wielands  Welt  ist  ganz  die  des  alten  Romanes,  jene 
romantisch -ritterliche,  in  der  Kampf,  Turney  und  Minne 
den  Tag  füllen,  Schönheit  der  Frauen  und  Schimmer  der 
Ehre  das  Leben  bewegen.  Das  Sagenreiche  Logres  ist  auch 
bei  ihm  der  Schauplatz  der  Begebenheiten. 

Selten  blickt  durch  den  schlichten  Inhalt  die  Persön- 
lichkeit des  Bearbeiters.  Sie  tritt  nie  in  die  Erzählung 
hinein  —  die  epische  Zurückhaltung  ist  strenger  bewahrt  als 
in  der  französischen  Dichtung  —  sie  ist  nur  zu  spüren. 
Wieland  hat  ^Freude  an  Sinnenscenen'.  Sie  lässt  ihn  die 
einsame  Waldbegebenheit  zwischen  Oeron  und  seiner  Dame 
bis  zum  letzten  Augenblicke  ausmalen.  Der  Franzose  sagt 
von  dem  Höhepunkte  jener  Stunde:  ^ä  celluy  point  qu'ils 
ötaient  en  cette  guise  et  tout  appareilles  de  sacrifier  leur 

honneur  k  leur  passion^ Wieland  schreibt  sinnlich 

und  sinnenerregend:    ^Und  siehe  da  wie  Geron   eben  sich 

ihr  nähern  wollt' Dort  ist  reflectirend  die  Summe 

des  Yerschuldens  gezogen ,  hier  der  Moment  der  grössten 
Verirrung  geschildert. 

Oder  Wielands  satirische  Laune  bricht  durch,  dort  wo 
Genievra  und  Lanzelot,  das  verbuhlte  Paar,  die  Geschichte 
von  Gerons  Treue  veranlassen  müssen;  am  Schlüsse  der 
Erzählung,  wo  die  Königin  ausruft:  '*s  ist  eine  traurige 
Geschichte!'  Aber  der  Hohn  des  Dichters  spielt  nicht 
spöttisch,  übermüthig  über  den  Stoff  hin,  wie  etwa  im 
'Gandalin',  er  ist  bitter  und  herb.  Dort  durchsetzt  er  alles; 
hier  im  ^Geron'  blitzt  er  momentan  auf;  dort  fühlt  man 
die  Persönlichkeit  Wielands  überall ;  hier  verschwindet  sie 
fast  —  und  doch  steht  sie  beherrschend  über  dem  Ganzen. 

^Gyron  le  Courtois'  handelt  ^des  plus  grandes  aventures 
qui  jadis  advinrent  aux  Chevaliers  errans'. '  Etwas  von  der 
Freude,  welche  der  ungenannte  Autor  und  sein  treuherziger 
Leserkreis  an  Abenteuern  und  Ungewöhnlichem  vergange- 
ner Zeit  empfanden,  liegt  in  diesen  Worten.  Man  kann 
die  Naivetät  ahnen,  mit  der  jener  erzählt,  diese  zuhören. 
Diese  Harmlosigkeit  fehlt  'Geron  dem  Adelichen' ;  Wielands 


Ransohoff,  Wielands  Geron.  535 

Branor  trägt  die  Geschichte  nicht  einfach  um  ihrer  selbst 
willen  vor.  Als  er  anhebt  zu  erzählen,  ^schiesst  er  einen 
scharfgespitzten  Blick  auf  Lanzelot  und  auf  die  Königin^ 
Als  er  geendet  hat  und  der  Ritter  Genievras  nach  Gerons 
weiteren  Schicksalen  fragt,  weist  er  ihn  ab:  ^nach  der 
Geschichte  hab*  ich  nichts  mehr  zu  erzählen.'  Frei  schal- 
tend, hat  durch  ihn  der  Bearbeiter  die  Kunde  von  Gerons 
Pflichtgefühl,  als  strafendes  Muster  von  Tugend  und  Red- 
lichkeit, der  berühmten  Mär  des  Treuebruches  entgegen- 
gesetzt. 

Wielands  Sprachgebung  ist  durch  die  des  alten  Roma- 
nes  becinflusst;  er  lehnt  sich  immerfort  an  das  Original. 
Während  er  schreibt,  liegt  Tressans  Auszug  vor  ihm.  In- 
dessen die  Rechte  die  Feder  führt,  folgt  die  Linke  den 
Zeilen  der  Vorlage. 

Einzelne  Ausdrücke  überträgt  er:  ^la  tres  grant'  force 
d'Amour'  wird  mit  ^übergrosse  Minnekrafk'  wiedergegeben; 
^aimer  d'Amour'  findet  sich  als  'von  echter  Minne  lieben\ 
Steht  im  Romane  ein  'ainsi  m'ayde  Dieu!'  so  steht  bei 
Wieland  ein:  ^So  helf  mir  Gott!'  Ein  ^s'il  vous  plaisait' 
erscheint,  voll  schwerer  Grandezza,  als  'hieltet  Ihr's  genehm'. 
Die  Schilderung,  welche  Branor  von  Geron  gibt:  ^j'admirai 
la  noblesse  de  sa  figure,  la  vigueur  de  son  bras,  la  gran- 
deur  de  son  courage,  encore  plus  celle  de  son  äme  et  la 
delicatesse  de  son  coeur'  kehrt  bei  Wieland  wieder:  'und 
wunderte  mich  seiner  Schönheit,  der  Stärke  seines  Arms 
und  seines  Muths,  doch  mehr  der  Treue  seines  Herzens'. 
Ganze  Wendungen  entnimmt  er.  'II  fuyoit  les  regards  de  la 
Dame  de  M  .  .  . ;  il  detoumoit  ses  yeux'  ist  bei  ihm :  'ver- 
mied streng  sie  anzusehen  —  wich  ihren  Blicken  aus' ;  'La 
Dame  de  M.  füt  morte  de  honte  et  de  depit'  =  'vor  Schmerz 
und  Gram  gestorben  wäre  sie'.  Die  Stellen:  'wollte  lieber 
seine  Dame  sein  als  Frau  der  ganzen  Welt' ,  die  andere : 
'sollte  sie  ihr  Leben  für  ihn  lassen,  wollt  es  gern  zu  Lieb' 
ihm  thun,  sich's  noch  zur  hohen  Ehre  schätzen'  sind  über- 
setzt aus:  'Elle  aimerait  mieux  etre  Dame  de  luy  tout 
seul,  que  de  toute  la  terre'  und  aus:  'Mourir  voudrait-elle 
bien  pour  l'amour  de  luy,  heureusc  et  honoröe  s'en  tien- 
drait  eile'.     Der  Satz  'Danayn-le-Roux,  son  eher  compag-» 


536  Bansohoff,  Wielands  Geron. 

non,  qui  tant  Taimait,  s'il  eüt  et6  son  fr^re  5harnel  il  ne 
Teüt  pas  8U  plus  aimer'  ist  beinahe  Wort  um  Wort  beibe- 
halten. ^Danayn  der  Rote,  sein  Freund,  der  ihn  so  liebte^ 
Zwillingsbrüder  könnten  sich  nicht  besser  lieben\  Auch 
die  Fügung  der  Sätze  ist  hier  gewahrt.  Noch  deutlicher 
ist  die  Construction  ein  anderes  Mal  aufgenommen.  Es 
heisst  im  Romane:  ^La  vieille  du  jour  indiqu6  .  .  .  .  les 
deux  .  .  .  se  rendirent  ....  tandis  que  la  Dame  de  Maloanc^ 
und  bei  Wieland:   'Als  nun   die   Zeit  herankam,   machten 

sich  die  beiden  Ritter   auf  die  Fahrt indess  die 

Frau  von  M.  .  .  .'  Selbst  Übergänge  von  einer  Begebenheit 
zur  anderen  entleiht  er:  ^Or  durant  le  temps  que  Ofron 
sejournait  k  Maloanc  arriva  un  valet^  =  'Begab  sich's  nun, 
dass,  während  Geron  sich  zu  Maloanc  enthielt'. 

Doch  Wieland  entlehnt  nicht  nur ;  er  hat  wirklich  von 
der  Schreibart  des  alten  Romanciers  gelernt  und  trifft  einen 
besonderen  Ton.  Er  bildet,  wie  dieser,  kleine,  kurze  Sätze ; 
und  sein  Stil  erhält  dadurch  etwas  Absetzendes,  Kunstloses, 
jenes  Holzschnittmässige ,  das  er  selbst  dem  'Geron'  zu- 
spricht. Auch  da,  wo  im  Auszuge  statt  der  Originalstellen 
des  Romanos  Berichte  Tressans  eingeschoben,  ist  seine 
Diction  nicht  minder  gut.  Er  setzt  das  nüchterne,  ruhige 
Referat  oft  sehr  glücklich  um.  'II  se  douta  que  Monsieur 
Lac  etait  amourcux'  berichtet  der  Graf  von  König  Meliadus. 
Mit  einem  unmittelbaren,  bildlichen  Ausdrucke  sagt  dieser 
bei  Wieland  zu  sich:  'Der  ist  gefangen!'  —  'Gyron  la  vit 
et  l'aima'  lautet  es  dort;  mit  der  echten  Sinnlichkeit  naiver 
Poesie  heisst  es  hier:  'Geron,   wie  er  sie  zum  ersten  Mal' 

Erblickte,   dacht' Ah   Der   thäte  wahrlich  keinen 

theuern  Kauf,  Der  eine  Nacht  in  dieses  Weibes  Arm  Mit 
seinem  Leben  kaufte.'*) 

*)  Neben  diesen  Übertragungen  aus  dem  Französischen  und  den 
Nachahmungen  seiner  Sprachweise  finden  sich  zahlreiche  andere 
archaistische  Einzeleleniente :  statt  moderner  Ausdrücke  alterihüm liehe 
Worte;  ältere  Flexionsformen,  wo  jüngere  gangbar  sind;  mittelhoch- 
deutsche Adverbialbildungen  und  Constructionen,  naive  Umständlich- 
keiten. Es  sind  Einwirkungen  einer  anderen  als  der  französischen 
Quelle;  aber  den  deutschen  Vorbildern  nachzugehen,  welche  hier  Wie- 
lands Stil  beeinflusst  haben,  mag  lieber  in  allgemeinerem  Zusammen- 
hange versucht  werden,  wo  überhaupt  der  Wieland  bestimmende  Ein- 


RansohoiT,  Wielands  Geron.  637 

Doch  ihm,  dem  Modernen,  eignet  hinwiederum  eine 
Beherrschung  der  Sprache,  die  dem  französischen  Dichter 
fehlt.  Er  gibt  dem  einzelnen  Worte  eine  Kraft  und  einen 
Inhalt,  den  es  im  'Gyron'  nicht  hat.  Um  einen  Gedanken 
auszudrücken,  braucht  der  alte  Dichter  viele  Worte,  ganze 
Sätze,  wo  der  deutsche  Bearbeiter  knapp  zusammenziehen 
kann.  ^Elle  savait',  schreibt  der  Franzose,  'que  si  Danayn 
maintenait  la  coutüme  quel  on  tenait  ä  celuy  temps,  la 
m^nerait  ä  cette  assemblee.'  Wieland  nimmt  die  beiden 
Nebensätze  in  der  Zwischenbemerkung  zusammen:  'wie  es 
Sitte  war  in  solchem  FalP.  Er  kann,  was  er  erzählt,  resu- 
mirend  abschliessen :  'So  war  der  Frau  von  Maloanc  zu 
Muth'.  Er  wird  abstract,  wo  der  naive  Darsteller  schildert: 
'Si  haute  Dame  comme  vous  Stes^  heisst  in  seiner  Sprache: 
'Frau  von  Eurem  Stand  und  Wesen'.  'II  6tait  difficile, 
pour  ne  pas  dire  impossible  de  la  voir  sans  Taimer'  ver- 
kürzt er  zu:  'Sie  ohne  Liebesregung  anzuschauen  war  Un- 
möglich\  Das  Wort  'Liebesregung'  fasst  hier  das  Wesent- 
liche des  zweiten  Satzes.  Ein  '6trangement  penser'  der 
Vorlage  sagt  mehr,  wie  Geron,  von  dem  es  gebraucht 
wird,  in  jenem  Zustande  erscheint;  Wielands  Übertragung 
in  'seltsame  Schwermuth'  nennt  die  Art  seines  Übels,  das 
was  er  leidet. 

Er  componirt  Ausdrücke  und  kann  so  auf  einmal  zwei 
Begrifife  bringen,  zwei  Vorstellungen  zugleich  bei  dem  Hörer 
erwecken :  nirgends  in  seiner  Vorlage  kommen  so  inhalts- 
volle Worte  vor  wie  'Löwenmuth,  Löwengrimm,  Sommers- 
schönheit'. Oft  ist  die  Kraft,  mit  der  er  in  wenigen  Silben 
ein  ganzes  Bild  malt,  erstaunlich.  Wenn  er  von  'des 
schwarzen  Ritters  stürzendem  Gewicht'  spricht,  zeigt  er 
Branor  im  Ansturm  und  lässt  zugleich  wissen,  dass  der 
Gegner  sinkt.  'In  Scham  zerglühend  steht  die  Schuld'ge 
da'  gibt  in  dem  einen  'zerglühend'  die  Gestalt,  welche  wir 
erröthen  sehen,  und  die,  welche  sich  selbst  erröthen  fühlt. 

Ein  weiteres  Element,  das  die  Diction  'Gerons  des 
Adelichen'  von  der  'Gyrons'  unterscheidet  und  gerade  Wie- 

flu88  älterer  deutscher  Diction,  specielt  der  Hans  Sächsischen,  darzu- 
stellen wäre. 


538  Ransohoff,  Wielands  Geron. 

land  vornehmlich  gehört,  ist  die  bewegliche  Phantasie. 
Zwar  gleicht  sie  nicht  der  üppigen  Vorstellungskraft  in 
anderen  Werken  Wielands ;  doch  ist  auch  hier,  wo  der  künst- 
liche Stil  Strenge  anstrebt  und  die  Fülle  vermeidet,  der 
ursprüngliche  Reichthum  der  Gedanken  zu  gew^ahren.  Die 
Phantasie  streut  hier  und  da  ein  Bild  ein,  führt  etwas,  das 
sie  vorfand,  breiter  aus:  stets  wirkt  sie  mit  kleinen,  bei- 
läufigen Zügen.  'Der,  wie  durch  einen  Zauberspruch  ge- 
bunden, sein  Gesicht  nicht  von  ihr  wenden  könnt''  entsteht 
aus  einem :  41  ne  pouvait  d^tourner  les  yeux.'  Das  Gleich- 
niss,  welches  die  anderen  Edelfrauen  neben  der  Dame  von 
Maloanc  'Wiesenblumen  um  den  vollaufgeblühten  Rosen- 
busch' nennt,  gehört  Wieland  ganz.  Zu  Eingang  der  Brun- 
nenscene  fügt  er  eine  Schilderung  ihrer  Örtlichkeit  ein  und 
zeichnet  mit  raschen  Strichen  den  lauschigen,  stillen  Platz. 
Ein  unbedeutendes:  'Cette  seule  id6e  est  sans  doute  dune 
grande  consolation  en  pareil  cas'  gestaltet  er  allgemeiner 
zu  der  Bemerkung:  'auch  trügt  das  Menschenherz  sich 
selbst  zu  gern  in  solchen  Fällen'.  'La  Dame  qui  avait  scu 
entrevoir'  wird  ebenfalls  verallgemeinert  und  phantasievoll 
gestaltet  zu  'Des  Weibes  Liebe  hat  ein  Falkenaug'. 

In  der  Ausgabe  der  gesammelten  Werke  heisst  das 
Gedicht  'Geron  der  Adelige'.  Vieles  ist  verändert,  wie  der 
Titel  modischer  geformt ;  und  das  Ganze  ist  matter  gewor- 
den. —  Glücklich  sind  die  beiden  bedeutendsten  Um- 
gestaltungen, welche  Wieland  vorgenommen  hat. 

Nun  denkt  Euch  eine  Frau  in  aller  Glorie 
Der  Schönheit 

eine  Stelle,  deren  reflectirend-rhetorische  Form  sich  an  den 

vorgefundenen  Ausdruck  des  Französischen  anschliesst,  wird 

nun: 

In  schönerer  Gestalt  versuchte  nie 
Die  Sünde  ein  Geschöpf  von  Fleisch  und  Blut. 
Von  ihren  Lippen  floss  der  ersten  Schlange 
Beredsamkeit  .  .  . 

Die   frühere  Bearbeitung  iUngt  mit  einer  Periode   an, 

welche  nicht  zu  Ende  gelangt: 

Als  König  Artus  einst,  vor  seiner  Burg 
zu  Kramalot,  von  dreissig  edlen  Rittern 
umgeben,  unter  einem  offenen 


Ransohoff,  Wielands  Geron.  539 

Gezelt  von  goldgewirktem  Sammit  hofete  — 
und  neben  ihm  in  Sommersschönheit  sass 
Frau  Genievra  seine  Königin. 

In  der  zweiten  Gestaltung  ist  der  unvollendete  Satz  be- 
seitigt, und  statt  seiner  sind  zwei  kürzere,  selbständige 
gesetzt.  Mit  poetischer  Feinheit  führt  Wieland  neben 
Genievra  gleich  auch  Lanzelot  ein,  beider  Verbindung  in 
einem  einzigen  Worte  andeutend: 

Der  grosse  Artus  hielt  vor  seiner  Burg 
Zu  Kramalot,  von  dreissig  edlen  Rittern 
Umgeben,  unter  einem  offnen  Zelt 
Von  goldgewirktem  Sammet  seinen  Hof. 
Und  zwischen  ihm  und  ihrem  Lanzelot 
Sass  Genievi'a,  seine  Königin. 

Gedrängt  bei  einander  sind  hier  verschiedene  Änderungen. 

Eine  grössere  Glätte  der  Construction  ist  angestrebt. 

So  wird  anderwärts 

.  .  .  der  so  ihn  liebte,  Zwillingsbröder  könnten  sich 
nicht  besser  lieben 

gehörig  eingerichtet  zu 

dass  sich  Zwillingsbrüder 

Nicht  besser  lieben  konnten. 

Ein  Gefüge,  dessen  einzelne  Glieder  hart,  abgebrochen 

neben  einander  stehen,   wird  regelmässig,   gebunden   oder 

abgetheilt: 

und  (wiewohl  sie) 

sich  selten  trennten, 

noch  war  weder  Ritter 

noch  Jungfrau  ....  (die  Gerons  Namen 
wussten) sondern  nannten  ihn  — 

heisst  zuletzt: 

und  (wiewohl  sie)  so  selten 

sich  trennten,  dennoch  lebte  weder 

:  Alles  nannt*  ihn  bloss  .  .  . 

Glatt  und  eben  schreibt  er: 

Denselben  Abend  noch  sprach  sie  davon 
Mit  ihrem  Manne;  und  Herr  Danayn 
Gab  ihr  gefällig  lächelnd  zum  Bescheid. 

Die  frühere  Fassung  lautete: 

Denselben  Abend  noch  sprach  sie  mit  ihrem  Manne 
Davon;  der  lächelt  dess  und  gab  ihr  zum  Bescheid. 


540  Ransohoff,  Wielands  Geron. 

Alte  Formen  und  alte  Worte  werden  jetzt  häufig  aus- 
getilgt. Im  Eingange  macht  er  aus  'hofen'  'Hof  halten% 
aus  'Sammit'  'Sammet'.  Wo  'verjäht'  stand,  genügt  ein 
'spricht',  'versetzt';  'entstehet' weicht  einem 'verlasset' ;  'der 
edle  Degen'  erscheint  zu  kühn,  ungewöhnlich  und  wird  zu 
'der  edle  Ritter';  'magetlich'  zu  'jungferlich';  'Milane'  zu 
'Liebe';  'Helmlin'  zu  'Haube'.  Und  ebenso  heisst  es  statt 
Hhäf  nunmehr  'that';  'zwei'  statt 'zween,  zwoen';  'hob' für 
'hub';  'verstand'  für  'verstund'. 

Ein  ängstlicher  Zug  macht  sich  bei  Wieland  bemerkbar. 
Wenn  er  die  alten  Laute  z.  Th.  vielleicht  deshalb  aufgegeben 
hatte,  weil  sie  seinem  Ohre  zu  hart  klangen,  lässt  er  ande- 
res fallen,  lediglich  aus  Besorgniss,  es  zu  gewagt  verwendet 
zu  haben.  Ein  uneigentlich  gebrauchtes  Wort  schwindet  : 
von  der  Frau  von  Maloanc  sagt  er  nicht  mehr:  'solch  ein 
Dank  war  eines  Kampfes  .  .  .  werth',  sondern  sie  wird, 
matter,  ein  'Kleinod'  genannt.  König  Artus  und  die  Helden, 
welche  mit  Branor  rennen,  sind  nicht  länger  'die  Männer, 
die  sich  nicht  um  solche  Gabe  zweimal  bitten  Hessen'.  Der 
Ausdruck  'Gabe'  schein  allzu  kühn  verwerthet  und  wird 
ersetzt  durch  ein  nachlässiges  'so  was'.  —  Gut  ist  die 
Änderung,  durch  welche  Lanzelot  nicht  mehr  Qenievra  'zu 
Ehren'  sondern  'zu  Lieb'  'viel  Thaten  gethan'  hat.  Wenig 
erklärlich  ist  es,  weshalb  Wieland  den  'vollaufgeblühten 
Rosenbusch'  in  einen  'vollaufblühn'den'  verwandelt  —  für 
die  üppige  Frauenschönheit  der  Dame  von  Maloanc  war 
das  erste  Bild  geeigneter.  Hingegen,  es  kennzeichnet  den 
Recken,  wenn  Galherich  'vor  die  breite  Brust'  den  Schild 
wirft,  und  diese  Lesart  ist  darum  besser  als  die  gleich- 
giltigere:  'vor  die  Brust  den  breiten  Schild'.  —  Für  das 
schöne  'in  Scham  zerglühend  steht  die  Schuld'ge  da'  tritt 
leider  ein:  'Verwirrt  und  sprachlos  stand,  von  ihrer  Hoff- 
nung So  arg  getäuscht  ....  Die  Schuld'ge  da'. 

Die  Form  der  Verse  ist  frei  geblieben :  fünf-  und  sechs- 
füssige  wechseln  ab.  Nur  die  vierfüssigen,  welche  sich  in 
der  ersten  Ausgabe  hin  und  wieder  finden,  werden  vermie- 
den oder  doch  nur  zu  besonderer  Wirkung  beibehalten. 
Der  Dichter  achtet  jetzt  darauf,  dass  nicht  allzu  lange 
hinter  einander  der  nämlich  Ausgang  folge,  und  unterbricht 


Wolff,  Eutiner  Findlinge.  54  f 

die  zahlreicheren  männlichen  Yerse  verschiedentlich  durch 
weibliche.  Immer  zwischen  zahlreicheren  männlichen  Aus- 
gängen, macht  er  hier  ein  'Volk'  zu  'Volke';  'Land'  zu 
'Lande' ;  stellt  dort  das  Versende :  'Wie  ihren  Ritter  sie' 
um  in  ein  weich  ausklingendes:  'Wie  sie  ihren  Kitter'. 
Andere  Worte  sind  versetzt  oder  eingeschoben,  um  grössere 
Glätte  des  Tonfalles  zu  erzeugen.  Ein  Vers,  der  mit  'Höf- 
lichkeit' beginnt,  ist  hart ;  deshalb  hat  die  spätere  Fassung 
ein  vorgeschlagenes  'und'. 

Einer  ästhetischen  Hebung  dienen  die  mannichfachsten 
Abänderungen.  Grösserer  Reichthum  der  Ausdrücke  macht 
sich  bemerkbar.  Wieland  vermeidet,  zweimal  hinter  ein- 
ander das  nämliche  Wort  zu  setzen ;  es  wechseln  'König 
Artus'  und  'der  hohe,  der  grosse  Artus',  'Geron'  und  'der 
edle  Jüngling'.  'Zwanzig  Knappen'  wiederholt  sich  nicht 
mehr  gegensätzlich,  vielmehr  steht  jetzt  an  zweiter  Stelle 
'zwanzig  andere'.  Die  Sprache  ist  durch  reichere  Epitheta 
voller.  'Umhalsung'  wird  zu  'glühender  Umhalsung';  die 
Königin  heisst  'schön',  der  Gegner  'rauh',  die  Ungeduld 
'rasch'.  Er  spricht  von  der  'grauen  Zeit',  wo  sonst  die 
nähere  Bezeichnung  fehlte.  Von  den  Greisen  in  der  unter- 
irdischen Höhle  (seit  Branor  sie  dort  gesehen,  sollen  hier 
70,  nicht  mehr  60  Jahre  verflossen  sein)  berichtet  er  nun, 
dass  sie  'mit  dumpfer  Stimme  redeten.'  —  'Klagegetön'  wird 
wohllautender  zu  'Klageton'.  —  Die  rohe  Form  ist  der 
feineren  gewichen:  Logres  'berühmt'  sich  schöner  Frauen, 
während  es  früher  hiess,  dass  es  sie  'nähre'.  'Von  einem 
Mund  zum  anderen'  ist  steif,  unbeholfen:  eleganter:  'des 
Fragens  viel  von  Mund  zu  Munde  war'. 

Der  Zug  zum  Modernen  ist  in  der  zweiten  Ausgabe 
stärker  geworden. 

Berlin.  Georg  Ransohoff. 


Eutiner  Findlinge. 

Die  grossherzogl.  Gymnasialbibliothek  in  Eutin  bewahrt 
als  Vermächtniss  von  Abraham  Voss  reiche  Bruchstücke 
aus    dem    litterarischen   Nachlasse    seines  Vaters    Johann 

Vieiteljahischrift  für  Litteratoigeschichte  III  36 


542  Wolff,  Eutiner  Findlinge. 

Heinrich  und  seines  Bruders  Heinrich.  Oberregierungsrath 
Hellwag  vermehrte  diese  Handschriftensammlung  durch  An- 
kauf und  Schenkungen  (vgl.  Pansch:  Eutiner  Programm 
1864  S,l). 

Für  Herbst,  den  Biographen  des  Sängers  der  'Luise\ 
bot  sich  hier  eine  ervninschte  Ausbeute.  Aus  den  Papieren 
von  Heinrich  Voss  d.  j.  hatte  Abraham  Voss  bereits  den 
^Briefv^echsel  mit  Jean  Paul',  'Mittheilungen  über  Goethe 
und  Schiller  in  Briefen  von  Heinr.  Voss',  'Briefe  an  Chr. 
V.  Truchsess'  sowie  Varia  herausgegeben.  Dazu  brachte 
1864  das  Eutiner  Gymnasialprogramm  Briefe  von  Heinrich 
Voss  an  den  Physiker  Hellwag,  von  Charlotte  Schiller  an 
Emestine  Voss,  von  berühmten  Philologen  an  Voss  Vater 
und  Söhne  sowie  von  Schleiermacher  an  Heinrich  Voss  d.  j. 
W.  von  Bippen  benutzt  in  seinen  'Eutiner  Skizzen'  beson- 
ders die  Sammlung  Hellwags.  Schliesslich  ist  manches 
Einzelne  hie  und  da  verstreut  gedruckt. 

Der  ausserordentlichen  Liebenswürdigkeit  des  H.  Geh. 
Schulrath  Dr.  Pansch  verdanke  ich  eine  unumschränkte 
Benutzung  des  Archivs.  Ich  gebe  nachstehend  wieder, 
was  mir  von  litterarhistorischem  Interesse  erscheint.  Unter 
möglichster  Einhaltung  der  zeitlichen  Folge  ist  das  Zusam- 
mengehörige zusammengestellt. 

1.  Karl  Gotthelf  Lessing  an  Boie. 

Es  scheinen  ursprünglich  zwei  Briefe  mit  der  Unter- 
schrift 'Lessing'  im  Besitz  der  Familie  Voss  gewesen  zu 
sein:  wenigstens  spricht  Emestine  Voss,  die  Schwester  Boies, 
auf  einem  beigelegten  Zettel  von  zwei  Briefen  Lessings, 
welche  als  heiliges  Vermächtniss  zu  bewahren  seien.  Natür- 
lich Hess  sie  sich  durch  die  Unterschrift  zu  einer  Verwechs- 
lung des  Schreibers  mit  seinem  grossen  Bruder  verleiten. 
Indessen  hat  Boie  auf  dem  Briefe  angemerkt:  'Empfangen 
27.  September  1772',  zu  welcher  Zeit  nur  der  jüngere 
Lessing  in  Berlin  weilte.  Ausserdem  ist  der  darin  erwähnte 
Fliess  nur  ein  Freund  Karl  Qotthelfs,  während  ihn  Gotthold 
Ephraim  erst  1 780  kennen  lernt  (s.  meine  Schrift  K.  G.  Les- 
sing S.  18).  —  Als  anschaulichstes  Document  fiir  die  theils 
geistreiche,    theils    faselige,    ausgelassene    Geistesart   des 


Wolff,  Eutiner  Findlinge.  543 

jüngeren  Lessing  glaube  ich  diesem  Briefe  hier  eine  Stelle 
geben  zu  dürfen.  —  Der  andere  von  Emestine  erwähnte 
Brief  ist  offenbar  identisch  mit  dem  von  Halm  (Sitzungs- 
berichte der  k,  bayr.  Acad.  1868  S.  124)  als  1865  verstei- 
gert angegebenen  Brief  von  ^Earl  Lossig'  an  Boie.  Ich 
hebe  aus  dem  ersteren,  obwohl  der  Inhalt  ohne  Belang  ist, 
Folgendes  aus: 

[Empfangen  27.  September  1772] 

Liebster  Freund! 

Ich  freue  mich,  dass  ich  Gelegenheit  habe,  Ihnen  sagen  zu 
können,  dass  ich  oft  an  Sie  denke.  Es  Ihnen  eher  zu  sagen, 
hat  mir  darum  nicht  recht  geschienen,  weil  Sie  meinem  blossen 
Sagen  nicht  genug  Glauben  beymessen.  Aber  da  unser  Freund, 
Herr  Fliess,  Ihnen  dieses  bekräftigen  kann,  so  werden  Sie,  hoffe 
ich  eine  Versicherung  nicht  länger  in  Zweifel  ziehen,  die  auch 
vor  Gericht  für  völligen  Beweis  passiren  wurde. 

Was  Sie  als  Gelehrter  machen,  weiss  ich!  was  Sie  aber  als 
Mensch  thun,  weiss  ich  nicht.  Ob  Sie  über  das  menschliche 
Thun  lachen  oder  weinen,  oder  untersuchen,  über  welches  mensch- 
liche Thun  man  lachen  oder  weinen  sollte,  wenn  man  nicht  das 
erste  Grundgesetz  der  Natur,  nichts  ungereimtes  zu  thun,  über- 
treten will;  oder  ob  Sie  eigentlich  weder  lachen  noch  weinen, 
sondern  ganz  geruhig  und  gelassen  an  Fette  [?]  und  Ernsthaftig- 
keit so  zunehmen,  dass  Sie  allen,  die  Sie  kennen  und  nicht  kennen, 
Ehrfurcht  einflössen,  hören  Sie,  das  möchte  ich  wissen.  Unser 
verehrter  Freund  Fliess,  wird  Ihnen  sagen  können,  dass  er  mich 
gesehen  hat.  Und  wenn  man  einen  gesehen  hat,  so  kann  man 
schon  von  ihm  erzählen;  und  wenn  das  nicht  wahr  ist,  so  weiss 
ich  auch  nicht,  was  die  Reisen  junger  Leute  sagen  wollen 

Sie  werden  sich  vielleicht  wundern,  dass  ich  nicht  frage,  ob 
Sie  gesund  sind;  aber  ich  glaube  dass  der,  der  Hofmeister  von 
einem  Engländer  und  ebenso  Sprachmeister  von  einem  halben 
Dutzend  solcher  Insulaner  ist,  wohl  gesund  sein  muss.  Im  Ernste, 
ich  beneide  Sie  darum,  denn  ich  möchte  gerne  einen  Engländer 
um  mir  haben,  der  aber  weder  ganz  gelehrt,  noch  ganz  em- 
pfindsam, das  ist  weder  Dichter,  Musikus,  noch  Schönschreiber 
noch  ganz  patriotisch  wäre;  der  überdies  gerne  ausschweifte  ä 
Tanglaise,  aber  doch  noch  lieber  unbemerkt  die  ganze  Welt 
bemerkt  und  recht  vernünftig  handelt,  indem  er  zu  rasen  schien : 
wissen  Sie  so  ein  Undh)g,  so  schicken  Sie  es  mit  Adresse  an 
mich  nach  Berlin.  Und  wissen  Sie  wohl  wozu  ich  dieses  Ding 
brauchen  wollte?  mich  von  ihm  die  englische  Aussprache  lehren 
zu  lassen 

Berlin  d.  [Datum  fehlt.] 

36* 


544  Wolff,  Eutiner  Findlinge. 

Über  die  Reisen  des  Dr.  Pliess  s.  meinen  K.  G.  Lessing 
a.  a.  0.,  über  Boies  Bekanntschaft  mit  K.  G.  Lessing,  die 
von  Boies  Berliner  Aufenthalt  datirt,  s.  Weinhold,  Boie 
S.  28  und  178,  über  Boie  als  Hofmeister  junger  Engländer 
ebda.  S.  35  ff. 

2.  Miller  an  Joh.  Heinr.  Voss. 

Einer  der  wenigen  Briefe  Millers,  die  nicht  mit  den 
übrigen  nach  München  gingen.  —  Voranstehen  zwei  Ge- 
dichte mit  der  Unterschrift  'Frl.  v.  A.',  deren  eines  'An  den 
Mond'  ('Lieber  Mond,  du  scheinest  wieder')  in  Vossens 
Musenalmanach  für  1776  mit  den  obligaten 'Verbesserungen' 
gedruckt  ist.  Besonders  Strophe  2  ist  hart  mitgenommen; 
in  der  Handschrift  lautet  sie: 

Alles  um  mich  her  wird  trüber, 
Und  die  Stunde  wallt  vorüber, 
Da,  in  Liebeswonn^  entzückt, 
Er  mich  hier  ans  Herz  gedrückt. 

Voss  liess  mit  längerem,  prosaischem  Satzbau  drucken  : 

Schwermuthsvoller  wallt  und  trüber 
Mir  die  Stunde  jetzt  vorüber, 
Da  er  hier  mich  einst  entzückt 
An  sein  klopfend  Herz  gedrückt. 

Die  Liebeswonne  scheint  ihm  überhaupt  anstössig  gewesen 
zu  sein:  auch  in  der  5.  Strophe  änderte  er  'die  wonne- 
vollen Stunden'  in  'die  schönsten  aller  Stunden'!  —  Da- 
gegen hat  Voss  sehr  recht  gethan,  das  andere  Gedicht 
'Lobgesang  am  Klavier'  nicht  abzudrucken;  es  ist  eine 
thränenreiche  blosse  Reimerei.     Aus   dem  Brief  theile  ich 

mit: 

Ulm,  den  17.  August  1775. 

Hier,  liebster  Voss,  sind  ein  paar  Gedichte ,  die  ich  ehmals 
schon  gemacht  hatte,  und  die  du  noch  drucken  lassen  musst, 
weil  sie  sich  so  sehr  in  die  Situation  der  Einem  passen,  wenn 
sie  auch  nicht  ganz  gut  sind.  ...  In  Frankfurt  ward  Wagner 
mein  Freund;  er  ist  ohne  allen  Zweifel  Verfasser  des  Prome- 
theus. Merk  in  Darmstadt  ist  ein  braver  Mann.  Auch  Goethe 
gefällt  mir.  Er  denkt  schon  wieder  besser  von  unserm  lieben 
Claudius.  .  .  Das  Offenbacher  Mädel  lernt  ich  kennen,  und  wachte 
mit  ihr  und  Wagnern  eine  Nacht  durch  .  .  . 

Hier  ist  also  unmittelbar  aus  dem  Jahre  1775  ein  ein- 
wandfreies Zeugniss   für  Wagners  neuerdings  unnöthig  be- 


Wolff,  Eutiner  Findlinge.  545 

zweifelte  Autorschaft.')  —  Über  das  'Offenbacher  MädeP 
und  ihre  Beziehungen  zum  Ooetheschen  Kreis  s.  Rieger, 
Rlinger  S.  73  f.  Vgl.  auch  Klingers  und  Millers  Brief  an 
Kayser  (Qrenzboten  29,4,  S.424,  427  und  431)  sowie  Erich 
Schmidt,  Miller  in  der  Allg.  Deutschen  Biographie. 

3.  Bürger  an  Joh.  Heinr.  Yoss. 

WöUmershausen  d.  7.  November  1776. 

Dank,  mein  liebster  Voss,  für  Ihren  Almanach,  der  mich 
sehr  erbaut  hat.  Mit  innigem  Behagen  seh  ich  auch  meinen 
Voss  auf  Popularität  —  die  einzige  ächte  poetische  Seligiceit  — 
lossteuern.  Immer  gewisser  wird  mir,  dass  sie  kein  rinnendes 
Bächlein  im  tiefen  Thai,  sondern  der  Hauptstrom  sei,  der  gross, 
mächtig  und  hehr,  von  nun  an  bis  in  Ewigkeit  mitten  durch  das 
Land  wandelt.  Zerstörung  hab  ich  allen  Äbleitern  und  den 
Pump-  und  Druckwerken  auf  die  umwölkten  Berg^  Kasteele  ge- 
schworen.    Dazu  helfe  mir  die  obwaltende  Natur,  amen!  — 

Die  Verbrüderung  beider  Almanache  wäre  sehr  wunschens- 
werth.  Ich  habe  deshalb  noch  heute  an  Goeckingk  geschrieben. 
Nur  furcht  ich,  dass  er  wenigstens  fürs  Jahr  1778  mit  Dietrich 
schon  kontrahirt  habe. 

Erst  vor  wenigen  Tagen  hör  ich,  dass  Fritz  Stolberg  die 
llias  auch  übersetzen  will.  Was  ist  das?  Noch  hab  ich  weder 
seine  Probe  noch  Ankündigung  gesehen,  die  im  Novemberstück 
des  Museum  erscheinen  soll.  Auf  alle  Fälle  scheint  es  mir  übel- 
gemeinter  Trotz,  der  mir  nicht  sanft  thun  kann.     Wäre  Stolberg 

^)  Ein  zweites  Zeugniss  für  Wagner-Prometheus  theilt 
Richard  Maria  Werner  mit :  'Theodor  Oülcher  schreibt  aus 
Amsterdam  d.  27.  December  1775  an  Nicolai:  Sie  haben 
gantz  Recht  Göthens  Farzen  so  dreist  abzufertigen;  ob 
Sie  aber  wegen  dem  Prometheus  nicht  in  etwas  irren  wer- 
den, weiss  ich  nicht;  wenigstens  hat  Wagner  in  einem 
part.  Briefe  an  einen  Hiesigen  sich  selbst  discursive  und 
ohne  die  mindeste  Ursache  dazu  zu  haben;  als  den  Autor 
angegeben  —  vielleicht  hat  Göthe  also  nur  die  Kupfer 
besorgt,  und  den  Wisch  corrigiert'  —  etc.  .  .  Und  am 
16.  Januar  1776  wiederholt  er:  'Sie  haben  Recht,  Göthe 
verdient  darum  nicht  minder  Verachtung,  wenn  Er  gleich 
nicht  selbst  den  Prometheus  gemacht  hat,  genug  dass  Er 
davon  wüste  —  ich  schrieb  Ihnen  nur  was  Wagner  hiehin 
gemeldet  hat,  damit  Sie  nicht  etwa  zu  fest  behaupten 
mögten,  Göthe  sey  der  Verfasser.' 


546  Wolff,  Eatiner  Findlinge. 

mit  seinem  Vorhaben  eher  hervorgetreten  als  ich,  so  wäre  ich 
zurückgeblieben,  wenn  ich  auch  mit  ihm  nicht  zufrieden  und  mit 
meiner  Arbeit  ganz  fertig  gewesen  wäre.  Denn  die  Kollision  ist 
mir  fatal.  Nun  darf  ich  der  Ehre  wegen  nicht  ausweichen;  weil 
mir  der  Tusch  im  Angesicht  des  ganzen  Publikums  angethan 
wird.  Was  wird  aber  aus  dem  Abentheuer  herauskommen? 
Entweder  muss  einer  von  beiden  das  Feld  räumen,  oder  wir 
bleiben  beide  drin,  im  ersten  Fall  sollt  ich  denken,  meine  Nie- 
derlage wäre  nicht  so  spottleicht  gethan,  weil  ich  doch  schon 
ziemlichen  Fuss  gefasst  habe  und  meinen  Mann  nicht  zum 
schlechtsten  stehe.  Prallte  nun  aber  gar  er  zurück,  so  war  es 
ja  das  ärgste,  was  ihm  auf  dieser  Gotteswelt  begegnen  könnte. 
Im  zweiten  Fall  aber  wenn  wir  beide  nun  theilen  müssen,  was 
einer  ungetheilt  hätte  besitzen  können,  was  hat  er  davon?  Ist 
die  Satisfaction  hinlänglich  für  den  selbstischen  wagenden  Trotz?  — 

Wie  gesagt,  war  ich  mit  meinem  Vorhaben  noch  nicht  her- 
vorgerückt, so  verbrannt'  ich  noch  heut  meinen  ganzen  home- 
rischen Plunder,  und  machte  mich  dafür  an  ein  eignes  längst 
projectirtes  grösseres  episches  Volksgedicht,  wo  mir  niemand  in 
die  Quere  laufen  kann.  So  aber  ruft  mir  mein  stolzer  Genius 
zu:  Bürger,  steh  und  kämpfe,  bis  Dir  oder  Ihm  die  Nerven  zer- 
springen.    Sieg  oder  Tod!  wäre  mir  das  liebste.  — 

Über  die  ächte  griechische  Simplicität  ihrer  platonischen 
Übersetzung,  mein  lieber  Voss,  hab  ich  mich  neulich  andächtig 
gefreuet.  Wie  wäre  es,  wenn  Sie  uns  den  ganzen  Plato  gäben? 
Gott!  was  sind  doch  alle  Koncerte  der  Kunst  gegen  den  maje- 
stätischen Choral  der  einfältigen  Natur!  — 

Lassen  Sie  uns  niederreissen  alle  Tempel  und  Tempelchen 
falscher  beflitterter  Götzen  und  allein  die  Ewige,  die  Allwaltende 
überall  im  Freien  anbeten!  Bürger. 

Der  Brief  fallt  früher  als  alle  bekannten  Briefe  Bürgers 
an  Voss.  Dessen  Antwort  s.  Strodtmann,  Briefe  von  und 
an  Bürger  2,  8  f.  —  Über  die  Almanachangelegenheit  vgl. 
Vierteljahrschrift  3,  92  flf.  —  Betreffs  der  Homerübersetzung 
vgl.  ebenda  91  f.  Bürgers  im  October  1776  an  Stolberg 
gerichtete  Herausforderung  enthält  den  von  vorstehendem 
Briefe  aufgenommenen  Schlachtruf:  ^Auf,  rüste  dich!  Sieg 
gilt  es  oder  Tod!' 

4.  Gedichte  von  Hölty. 

Es  haben  sich  erhalten  zunächst  zwei  travestirende 
Romanzen,  die  Voss  weder  in  den  Musenalmanach  noch  in 
die  Sammlung  der  Werke  aufnahm.  Da  in  den  Sammlungen 
einige  Proben  dieser  Dichtungsart  die  Berührung  mit  Bür- 


Wolff,  Eutiner  Findlinge.  547 

ger  genügend  charakterisiren,  sei  nur  dem  Anfang  der  einen 
Romanze  hier  ein  Platz  gegönnt.  Die  hier  gänzlich  über- 
gangene andere  behandelt  die  Verwandlung  des  Aktäon 
in  gleichem  Stile.  Nach  der  Unterschrift  'T'  waren  sie  an 
Voss  für  den  Musenalmanach  eingesandt. 

Leander  und  Hcro. 
Romanze. 

Schon  ehmals  sang  der  Leyermann 

Musäus  die  Geschichte, 

Die  ich  euch  jetzt,  so  gut  ich  kann, 

Erzähle  und  berichte. 

Ein  Jungling,  der  Leander  hiess, 

Kam  einstens  in  ein  Städchen, 

Das  seinem  Blick  die  Hero  wiess, 

Das  lieblichste  der  Mädchen. 

Er  machte  einen  Reverenz, 
Der  ihn  zur  Erde  drückte. 
Als  er  die  Miss,  im  jungen  Lenz 
Zum  erstenmahl  erblickte  u.  s.  w. 

Eine  Handschrift  dieses  Gedichtes  hat  sich  auch  in 
Höltys  Nachlass  erhalten  (vgl.  Zeitschrift  f.  deutsche  Phi- 
lologie 2,  238). 

Auch  von  einigen  gedruckten  Gedichten  lagen  Hand- 
schriften noch  in  Eutin.  Diese  bieten  Unterlage  für  Er- 
gänzungen und  Berichtigungen  von  Halms  Hölty-Ausgabe. 

Trinklied  im  Winter'  und  ^Die  Liebe'  CDiese  Erd'  ist 
so  schön')  stimmen  mit  den  Handschriften  überein,  die 
Halm  vorlagen. 

Ferner  findet  sich  eine  von  Halm  vermisste  Hand- 
schrift des  Gedichts  'Der  befreite  Sclave'.  Überschrift: 
'Lied  eines  befreiten  Türkensclaven.  1776.'  Nach  Str.  1 
ist  im  Manuscript  eingeschaltet,  im  Druck  fehlend: 

Frei  bin  ich,  wie  das  Vogelheer, 
Das  durch  die  Lüfte  schwirrt! 
Gottlob,  dass  keine  Kette  mehr 
An  diesem  Arme  klirrt! 

Sonstige  Abweichungen:  Y.  7  Hs. :  'Dich  fühl  ich,  süsse 
Freiheit'.  Druck:  ^Dich  hab  ich'.  V.  13  f.  Hs.:  ^Schon— 
Schon'.  Dr.:  'Da— Da\  V.  21  Hs.  und  Almanach:  'meinem 
Taumel  Krug'.     Ausgabe:  'einem  irdnen  Krug'.    Y.  23Hs. : 


548  Wolff,  Eutiner  Findlinge. 

'Und  jedem  Fürsten    trink  ich  Fluch'.     Dr.:   'Und  trinke 
jedem  Fürsten  Fluch'.    Letzte  Strophe  Hs.: 

Und  Segen  jedem  Biedermann 
Aus  meinem  Taumel  Krug, 
Der  wider  deine  Wuth,  Tyrann, 
Die  Freiheitsfahne  trugl 

Dr.:  Und  Segen  jedem  braven  Mann, 
Dess  Herz  für  Freiheit  schlägt, 
Der  gerne  wider  dich,  Tyrann, 
Die  Freiheitsfahne  trägt! 

Schliesslich  findet  sich  eine  Handschrift  des  'Hexen- 
liedes', deren  Vergleich  mit  den  bisher  bekannten  Fassungen 
dieses  Gedichtes  ein  überraschendes  Ergebniss  hat:  Die 
Eutiner  Hs.  stimmt  völlig  mit  dem  Druck  im 
Musenalmanach  von  1777  überein,  weicht  daher  von 
dem  Text  der  Yossischen  Ausgaben  nur  an  zwei  Stellen 
ab:  a)  Y.  15  'die  dampfenden  ('dampfende'  im  Alm.)  Hände' 
.gegen  'die  krallichten  Hände'  in  Vossens  Ausgabe;  b)  die 
in  den  Vossischen  Ausgaben  vor  der  Schlusstrophe  ein- 
geschobene Strophe  fehlt  noch.  Daraus  ergibt  sich  1)  Die 
Hs.,  welche  Halm  vorlag,  enthält  eine  spätere,  namentlich 
in  der  2.  Strophe  durchgreifende  Überarbeitung  zum  Zwecke 
der  von  Hölty  geplanten  Gesammt- Ausgabe.  Voss  blieb 
indess  der  nach  dem  Urtext  einmal  gedruckten  Fassung  im 
wesentlichen  treu.  Die  Eutiner  Hs.  war,  nach  der  be- 
sondern  Namensunterschrift  zu  schliessen,  für  den  Alma- 
nach  bestimmt.  Die  2.  Str.  lautet  in  Übereinstimmung  mit 
den  sämmtlichen  Vossischen  Drucken: 

Ein  schwarzer  Bock, 

Ein  Besenstock, 

Die  Ofengabel,  der  Wocken, 

Reisst  uns  geschwind, 

Wie  Bliz  und  Wind, 

Durch  sausende  Lüfte  zum  Brocken! 

Dem  gegenüber  weist  die  von  Halm  benutzte  Münche- 
ner Hs.  eine  scenisch  anschaulichere,  weit  vollkommenere 
Fassung  auf: 

Ein  schwarzer  Bock 

Kriecht  untern  Rock, 

Und  trägt  uns  zum  taumelnden  Brocken! 


WolflF,  Eutiner  Findlinge.  549 

Der  Himmel  lacht, 

Die  MaieDDacht 

Träuft  Perlen  in  unsere  Locken! 

Was  also  für  Halm  als  nachträgliche  prüde  Abschwächung 
Vossens  erscheinen  musste,  ergibt  sich  uns  nun  als  ursprüng- 
liche Fassung  Höltys.  2)  Die  Amiahme  Halms  (Hölty 
S.  196)  die  Strophe  ^Und  Beizebub  verheisst  dem  Trupp' 
u.  s.  w.  sei  eine  spätere  Verbesserung  der  auf  einem  beson- 
dern Blatt  vor  der  letzten  Strophe  verzeichneten  Verse 
'Als  Peuerdrach'  u.  s.  w. ,  wird  noch  anfechtbarer.  Schon 
an  sich  widerspricht  es  den  Regeln  philologischer  Kritik, 
ohne  sonstige  Nöthigung  eine  mit  Bezeichnung  ihrer  Stel- 
lung im  Gedicht  gesondert  aufgezeichnete  Strophe  für  älter 
anzusehen  als  die  vorliegende  Gesammtfassung  des  Gedichtes, 
welche  diese  Strophe  nicht  enthält.  Als  Einschaltung  nach 
der  vorletzten  Strophe  bezieht  sich  ausserdem  *Als  Feuer- 
drach  durchfliegt  ers  Dach'  richtig  auf  'Beizebub',  dagegen 
in  der  diesen  Versen  von  Halm  zugedachten  Rolle  als 
frühere  Form  der  vorletzten  Strophe  selbst  sich  'er'  wider 
den  Sinn  auf  'Geisterschwarm'  bezöge.  Dazu  kommt  nun, 
dass  bereits  die  für  den  Almanach  eingesandte  Fassung  die 
Strophe  'Und  Beizebub  verheisst  dem  Trupp'  enthält,  —  es 
müsste  denn  bereits  diese  Fassung  das  Resultat  einer  -;- 
unwahrscheinlichen  —  Umarbeitung  sein. 

Jedenfalls  sehen  wir  uns  vor  die  Möglichkeit  einer 
theilweisen  Revision  des  Halmschen  Urtheils  'über 
die  Vossische  Bearbeitung  der  Gedichte  Höltys'  gestellt; 
denn  es  ist  die  Vermuthung  naheliegend,  dass  auch  andere 
Gedichte  Höltys  in  der  ersten  Fassung  mit  dem  Vossischen 
Abdruck  identisch  oder  doch  näher  verwandt  waren  als  die 
von  Halm  theilweise  allein  benutzten  Überarbeitungen. 

5.    Lavater  an  Hell  wag. 

Der  Adressat,  Leibarzt  der  Herzogin  von  Oldenburg 
und  Physiker,  lebte  seit  i  788  in  Eutin.  Vorliegender  Brief 
trägt  noch  die  Aufschrift  'Magister  in  Tübingen'. 

20.  März  1777. 
...  Es  ist  wie  Sie   sagen.      Ausbreitung   physiognomischer 
Kenntnisse  muss  Furcht  und  Scheue   vor  der  Allgegenwart   und 
Allwissenheit   Gottes    befördern.     Erst   durch    sie   wird    uns   die 


550  Wolff,  Eutiner  Findlinge. 

Aufgeschlossenheit  unserer  Herzen  vor  den  Augen  Christus  und 
der  Engel  aufgeschlossen.  Auch  das  ist  wahr:  Nur  durch  Phy- 
siognomik wird  der  Mensch  dem  Menschen  recht  gegenwärtig  und 
geniessbar. 

Ganz  unfehlbar  kann  die  Mathematik  auf  die  Physiognomik 
angewandt  werden.  Ich  bin  nun  leider  gar  kein  Mathematiker. 
Aber  doch  ahnd*  ich,  ich  möchte  sagen,  mit  der  Gewissheit  eines 
Propheten  —  dass  die  Physiognomik  mathematischer  Demonstra- 
tion fähig  ist,  und  durch  die  Mathematik  so  allbestimmbar  wird, 
dass  kein  Zweifel  mehr  dagegen  möglich  sein  wird. 

YgL  Lavaters  Physiognomische  Fragmente  1,  52:  ^Die 
Physiognomik  kann  eine  Wissenschaft  werden ,  so  gut  aU 
alle  unmathematische  Wissenschaften.' 

6.   A.  W.  Schlegel  an  Heinr.  Voss  d.  j. 

Goppet  d.  2.  October  1807. 

.  .  .  Seit  dem  Empfang  Ihres  Briefes  vom  1.  Juli  habe  ich,  andre 
Reisen  und  Abhaltungen  nicht  zu  erwähnen,  einen  grossen  Theil 
der  Schweiz  durchwandert,  und  bin  erst  vor  vier  Wochen  hieher 
zurückgekommen.  [Hofrath  Eichstädt  sei  bereit,  von  ihm  eine 
2.  Anzeige  von  Voss'  Othello  und  Lear  aufzunehmen.]  ...  In 
sechs  Wochen  gehe  ich  wahrscheinlich  nach  Deutschland,  um  den 
Winter  dort  zuzubringen,  und  hoffe  dann  Müsse  dazu  zu  finden. 
Hier  fehlen  mir  sogar  einige  zur  Vergleichung  nöthige  Bücher, 
z.  B.  die  neuesten  Ausgaben  des  Shakspeare's. 

Ich  glaube  Sie  haben  Unrecht  von  dem  Stillschweigen  oder 
der  Oberflächlichkeit  der  gelehrten  Zeitungen  auf  kalte  Aufnahme 
Ihrer  Arbeit  beim  Publicum  zu  schliessen.  Es  stände  übel  um 
unsere  Literatur  wenn  diese  Folgerung  gelten  sollte.  Ob  und 
wie,  mit  welchem  Sinn  und  weicher  Zuneigung  ein  Buch  gelesen 
wird,  darauf  kommt  es  einzig  an  .  .  .  Wiewohl  ich  seit  so  vielen 
Jahren,  dass  ich  die  Arbeit  an  Shakspeare  angefangen  habe,  fast 
nie  in  öffentlichen  Blättern  ein  bedeutendes  treffendes  Lob  der- 
selben gelesen,  war  ich  doch  von  jeher  mit  der  Aufnahme  un- 
gemein zufrieden,  weil  mir  viele  Leser,  die  sich  nicht  anmassen 
als  öffentliche  Beurtheiler  aufzutreten,  ihren  Dank  für  den  ihnen 
verschafften  Genuss  herzlich  geäussert  haben.  Dies  wird  Ihnen 
sicherlich  nicht  entstehen,  lassen  Sie  sich  daher  durch  das  Un- 
wesen der  literarischen  Blätter  die  gute  Stimmung  nicht  verderben, 
und  fahren  Sie  fort  Ihre  schönen  Talente  und  gründlichen  Kennt- 
nisse den  besseren  Lesern  zu  widmen. 

....  Es  ist  mir  immer  eine  grosse  Freude,  mit  einem  ächten 
Deutschen  ein  neues  Verhältniss  angeknüpft  zu  haben:  dies  ist 
das  einzige  was  in  unsern  verworrnen  Zeiten  den  Muth  aufrecht 
erhalten  kann. 


WolflF,  Eutiner  Findlinge.  551 

Meine  hochachtungsvollsten  Empfehlungen  an  Ihren  Herrn 
Vater.  . . . 

Ich  erfahre  hier  fast  nichts  von  den  literarischen  Vorfällen 
in  Deutschland.     Wenn  nur  viel  gutes  davon  zu  melden  wäre! . . . 

A.  W.  Schlegel. 

[Nächstens  sende  er  1  französische  Schrift:  Vergleichung 
zwischen  der  Phädra  des  Euripides  und  der  des  Racine.]  Es  ist 
ein  fast  nur  zum  Scherze  angestellter  Versuch,  ich  kann  wohl  nur 
von  deutschen  Lesern  verstanden  und  gebilligt  zu  werden  hoffen. 
Aber  hat  doch  auch  der  heil.  Antonius  den  Fischen  gepredigt. . . . 

Heinr.  Yoss  trat  zunächst  nicht  in  Concurrenz  zu 
Schlegel,  da  dieser  ^Lear'  und  ^Othello'  nicht  übertrug. 
Über  die  wechselvollen  Beziehungen  A.  W.  Schlegels  zu 
Voss  Vater  und  Sohn  s.  Herbst,  Voss  112,  26,  115,  119  f., 
besonders  166  flf.  —  Der  hier  erwähnte  Brief  vom  I.Juli 
muss  sich  inhaltlich  mit  dem  an  Qoethe  vom  14.  März  des- 
selben Jahres  berührt  haben  (Goethe  -  Jahrbuch  5,  63  f.), 
worin  sich  Voss  bereits  über  die  allzu  strenge  Recension 
seiner  Übersetzung  in  Eichstädts  Jenaer  Littcratur-Zeitung 
beklagte.  Den  vorliegenden  Brief  erwähnt  Heinr.  Voss  am 
17.  October  gegen  Charlotte  Schiller  (Urlichs,  Ch.  Schiller 
und  ihre  Freunde  3,  234) ;  im  Anschiuss  an  Schlegels  eigene 
Worte  sagt  er  über  die  ^Comparaison  entre  la  Phedre  de 
Racine  et  celle  d'Euripide^  (die  noch  1807  in  Paris  erschien) : 
^Soll  es  zur  Belehrung  und  Bekehrung  der  Franzosen  sein, 
so  möchte  er  bei  diesem  Wasservolke  wohl  in  den  Wind 
gesprochen  haben.  Aber  freilich  hat  auch  der  heilige  An- 
tonius den  Fischen  gepredigt.' 

7.    Oehlenschläger  an  Heinr.  Voss  d.  j. 

Copenhagen  den  26.  Juli  1810. 

...  Ich  kann  Dir  nicht  genug  für  die  Güte  danken  die  Du 
meinen  Geisteskindern  erzeigst  als  ein  wahrer  Pflegevater,  damit 
sie  anständig  und  reinlich  gekleidet  aus  der  Kinderstube  in  die 
Gesellschaft  heraustreten.  Ich  werde  Dir  mit  Freuden  denselbigen 
Dienst  leisten,  wenn  Du  einmal  Deine  Schriften  ins  Dänische 
übersetzest. 

Sollte  es  vielleicht  gut  sein  in  einer  Anmerkung  zu  Palnatoke 
darauf  aufmerksam  zu  machen,  wie  [folgt  der  genau  im  Vorwort 
gedruckte  Hinweis  auf  die  Teilsage]  die  Begebenheit  mit  dem 
Apfel ,  .  . 

Ich  danke  Euch,  weil  Ihr  mich  liebt;  ich  liebe  Euch  wieder. 
Grüsse  Deinen  lieben  Vater  und  danke  ihm  für  seine  Umarmung 


552  Wolff,  Eutiner  Findlinge. 

und  weil  er  mich  nicht  für  einen  Romantiker  hält.  Ich  bin 
weder  romantisch  noch  antik,  ich  bin  ein  Dichter  für  mein  Jahr- 
hundert, wie  Er ;  und  ich  glaube  das  moralische  tiefe  Gefühl  des 
Herzens,  das  sich  mit  Phantasie,  Wilz  und  Verstand  verbindet, 
und  das  man  so  weder  bei  den  Alten  noch  in  den  Romanzen 
fmdet  (weil  es  eine  Blume  neuerer  Zeit  ist)  eben  das  ist,  was 
die  Sympathie  unsrer  Herzen  ausmacht  .... 

Dein  A.  Oehlenschläger. 

Heinr.  Voss  hat  also  der  deutschen  Selbstübersetzung 
Oehlenschlägers  nachgeholfen.  Bekanntlich  gab  ihm  auch 
Goethe  'Hermann  und  Dorothea'  zur  metrischen  Säuberung. 
Über  Oehlenschlägers  Verhältniss  zu  Vossens  sprechen  seine 
'Lebenserinnerungen'  2,  59  f.  u.  228  ff.;  s.  ebda,  über  seine 
Stellung  zur  Romantik  im  Hinblick  auf  den  Anti -Roman- 
tiker Voss  d.  ä. 

8—13.    Ernestine  Voss  an  Abraham  Voss. 

1882,  als  man  in  Eutin  den  hundertjährigen  Gedenktag 
von  Vossens  Übersiedelung  in  das  freundliche  Städtchen 
feierte,  sandte  Abrahams  Sohn  Hermann  die  Briefe  seiner 
Grossroutter  an  seinen  Vater  der  Eutiner  Gymnasialbibliothek 
zum  Geschenk.  Da  in  Veröffentlichung  von  Briefen  Erne- 
stinens  schon  genug  gethan,  beschränke  ich  mich  auch  hier 
auf  kurze  Auszüge  des  positiv  Neuen.  Abraham  wirkte 
1810—- 2t  in  Rudolstadt,  darauf  in  Kreuznach  am  Gymnasium. 

Heidelberg  d.  26.  December  1817. 

.  .  .  Herzlich  verlangt  uns  jetzt  nach  einem  Brief  von  Dir 
über  Jena.  Der  Brief  von  Fritsch  aus  Weimar  nach  Berlin ,  in 
der  Allgemeinen  Zeitung  hat  doch  den  Schein  der  Ächtheit,  und 
nach  diesem  hätte  Fries  einen  starken  Verweis  bekommen,  den 
wir  ihm  nicht  gönnen.  Sein  Schwager  der  von  dort  zurück  kam, 
behauptet,  ihm  sei  nichts  widerfahren.  Öiese  Dinge  beschäftigen 
uns  sehr.  Die  Beschreibung  des  Burschenfestes  las  uns  Papa  bei 
Tisch  meist  vor.  Der  altdeutsche  Ton,  indem  sie  geschrieben, 
thut  beim  Vorlesen  gute  Wirkung.  Durch  den  Lärm  der  aller 
Orten  dagegen  entsteht,  bewirken  sie  gerade  das  Gegentheil  von 
dem  was  sie  wollen.  Die  Schrift  die  mit  einer  Menge  Unter- 
schriften der  Bundesversammlung  vorgelegt  werden  soll,  lasen  wir 
neulich  im  Rheinischen  Merkur  mit  grossem  Antheil.  Papa  billigt 
Deine  Unterschrift,  hieher  kommt  so  was  nicht.  Wir  hofjfen  doch 
auf  Wirkung.  Die  Grossen  treiben  es  zu  weit  mit  ihrem  Wort 
geben  und  nicht  halten.  Gott  bewahre  uns  vor  Krieg  mit  Frank- 
reich, das  beunruhigt  mich  sehr.     So  eben  fangt  erst  wieder  Ruhe 


Wolff,  Eutiner  Findlinge.  553 

wieder  an  aufzublühen ,  bei  wenigen  noch  Wohlstand ,  und  was 
haben  die  Fürsten  jetzt  von  ihren  Völkern  zu  hoffen.  Die  Frei- 
willigen stellen  sich  nicht  wieder  voran  .  .  . 

Heidelberg  den  5.  Julius  1818. 

.  .  Wie  wohl  uns  mit  dem  lieben  Jean  Paul  geworden,  das 
kann  ich  Dir  auch  gar  nicht  beschreiben.  Sein  herzliches  ein- 
faches äussere  zieht  einen  gleich  an.  Den  ersten  Mittag  blieb  er 
bei  uns,  dass  sagte  er  versteht  sich  von  selbst,  und  wir  waren 
gleich  wie  längst  bekannt.  Eine  solche  Lebendigkeit  sah  ich  noch 
nie,  und  völlig  so  wie  in  seinen  Schriften,  springt  er  von  eins 
aufs  andere.  Ein  ordentliches  Gespräch  mit  ihm  zu  führen,  ist 
eine  reine  Unmöglichkeit,  denn  er  unterbricht  in  eins  weg,  und 
doch  kömmt  einen  nie  die  Empfindung  dies  wäre  Eitelkeit  sich 
selbst  reden  zu  hören,  oder  Mangel  an  Theilnalmie  zu  wissen, 
was  ein  anderer  zu  sagen  hat.  Er  verliert  den  Faden  den  er 
unterbricht  nie,  bittet  immer  wieder  anzuknüpfen,  begriff  dann 
oft  nicht,  dass  dies  für  den  der  unterbrochen  worden  nicht  mög- 
lich ist.  Es  ist  uns  allen  ein  wahrer  Genuss  gewesen  ihn  mit 
Papa  (den  er  unendlich  lieb  gewonnen)  reden  zu  hören,  er  wollte 
immer  so  viel  von  ihm,  über  sich  selbst  und  andere,  und  über 
Sachen  hören;  Papa  hat  sich  immer  heiss  gesprochen,  der  Jean 
Paul  hört  fast  so  schwer  wie  Hans,  aber  Papa  blieb  immer  in 
der  heitersten  Stimmung,  nur  dass  er  klagte,  er  müsse  hungrig 
von  Tische  gehen,  weil  dass  Essen  unbedeutende  Nebensache 
ward.  5—6  mahl  war  er  zu  Mittag  und  zweimahl  zu  Abend 
bey  uns.  Und  was  hat  er  uns  da  alles  erzählt.  Auch  ich  habe 
das  wohlthätige  Gefühl,  dass  er  mich  sehr  lieb  gewonnen,  und 
dass  nicht  blos,  weil  ich  seines  Heinrichs  Mutter  bin.  Eine  gar 
schöne  Stunde  hab  ich  mit  ihm  allein  im  Garten  gehabt,  weil 
ich  sie  begehrte,  von  der  erzähle  ich  Dir  auch  einmahl.  Der 
Anfang  von  Papa  seinem  Leben  und  dessen  Briefe  aus  Halber- 
stadt über  Gleim,  Wieland  u.  s.  w.  haben  ihm  grosse  Freude  ge- 
macht   .   Selbst  Heinrich  wusste  nicht,   dass  Jean 

Paul    Schlegel    nicht    leiden    konnte Beym    ersten 

Besuch  hat  Schlegel  Papa  recht  gut,  beym  zweiten  gar  nicht  ge- 
fallen, er  ist  zu  sehr  mit  sich  selbst  beschäftigt 

Bey  Paulus  ist  er  fast  jeden  Abend  und  liest  aus  den  Nie- 

belungen  vor Er  [Jean  Paul]   hat  uns  alle  auf  die 

gutmüthigste  Weise  geneckt,  dass  wir  so  wenig  von  ihm  gelesen 
haben.  Er  selbst  hat  ein  ungeheures  Gedächtniss,  und  liest 
erstaunlich  viel,  altes  und  neues,  alles  mit  Antheil 

Heidelberg  28.  März  1819. 
.  .  .  Schrecklich   hat  auch  uns  wie  jeden,  diese  Geschichte 
[Kotzebues  Ermordung]  aufgeregt.    So  mitten  aus  dem  Kreise  seiner 


554  Wolff,  Eutiner  Findlinge. 

Familie:  durch  einen  Dolch,  die  Peitsche  sagte  einer,  gewiss  weisst 
du  wer?  die  hätte  er  verdient  für  so  manchen  Bubenstreich,  der 
Dolch  bringt  ihn  zu  höherer  Ehre  als  er  werth  ist,  und  die  Kraft 
die  sich  dazu  berufen  fohlte,  hätte  verdient  für  einen  höheren 
Zweck  zu  fallen.  Die  armen  Eitern  dieses  jungen  Mannes,  wie 
dauern  sie  mich.  .  .  . 

Heidelberg  30.  May  1819. 

...  Er  [Papa]  schreibt  nemlich  eine  sehr  weitläufige  Abhand- 
lung, die  den  Titel  führt:  Wie  ward  Fr.  L.  Stolberg  ein  Unfreyer? 
Es  wird  eine  einzig  schöne  Schrift,  die  gerade  in  dieser  Zeit  wo 
Adel  und  Pfaffen  sich  so  gewaltig  zu  heben  suchen,  von  grosser 
Wirkung  sein  wird,  wie  wir  zu  Gott  fest  hoffen  und  glauben. 
Der  Ton  des  ganzen  ist  äusserst  milde ,  aber  die'  Sachen  sind 
stark !  Die  Veranlassung  dazu  ist  für  einen  Brief  nicht  geeignet, 
sie  ist  aber  so  merkwürdig,  dass  sie  uns  ein  Wink  von  Gott 
scheint,  alles  liegen  und  stehen  zu  lassen,  und  dies  anzugreifen. 
Mit  diesem  Gefühl  hat  Papa  seine  Arbeit  begonnen,  und  es  hat 
ihn  in  der  ganzen  Zeit  nicht  verlassen,  da  kann  es  ja  nicht  anders 
als  gelingen.  Papa  hat  den  Söhnen  von  Stolberg,  die  uns  kind- 
liche Anhänglichkeit  zeigen,  gesagt,  dass  er  sich  gedrungen  fühle, 
ehe  er  aus  der  Welt  gehe,  da  wo  ihr  Vater  nach  seiner  Über- 
zeugung zum  Bösen  wirke,  entgegen  zu  wirken,  sie  möchten  ihm 
dies  melden,  und  ohne  seine  ausdrückliche  Erlaubniss,  unser  Haus 
nicht  wieder  besuchen,  erhielten  sie  diese,  so  wären  sie  vor  wie 
nach  unsere  lieben  Hausfreunde,  und  könnten  ohne  Furcht  kom- 
men, dass  diese  Dinge  im  Gespräch  berührt  würden.  Die  jungen 
Leute,  besonders  der  jüngere  waren  sehr  gerührt,  dies  war  gestern 
vor  drei  Wochen ,  also  kommen  sie  wohl  nicht  wieder.  —  Ohne 
diese  Vorsicht  wäre  Papa  bestimmt  der  Heuchelei  beschuldigt,  dass 
er  die  Söhne  freundlich  behandelt,  während  er  gegen  den  Vater 
schrieb  .  . 

Heidelberg  d.  29.  December  1819. 

Stolbergs   Tod   hat   uns   tief  bewegt,   aber  Papa 

seine  Ruhe  ist  gottlob  keinen  Augenblick  unterbrochen,  weil  er 
sich  seiner  reinen  Absicht  bewusst,  und  fest  auf  den  Nutzen 
rechnet,  den  er  der  guten  Sache  bringen  wird.  Das  Geschrei 
kann  ihn    eigentlich  nicht  stören,    obgleich  es  ihn   unangenehm 

berührt 

Heidelberg  d.  25.  Januar  1 830. 

.  .  .  Die  Briefe  von  Göthe  und  Schüler  die  ich  in  dieser 
Zeit  gelesen,  geben  mir  auch  die  Verpflichtung,  euch  seinen  innern 
Zustand  in  Jena  zu  geben,  denn  wir  hatten  beyde  das  Gefühl, 
dass  dieses  die  unglücklichste  Zeit  unseres  Lebens  war,  und  gaben 
uns  doch  gegenseitig  das  Versprechen  alles  Herbe  zu  bekämpfen, 
und  nur  die  lichten  Seiten  zu  suchen,  welches  uns  auch  am 
Ende  gelang,   denn   es  gab   sehr  viel  lichte  Seiten.    Göthe  hat 


Wolff,  Eutiner  Findlinge.  555 

offenbar  unsern  Vater  sehr  viel  zu  tief  unter  sich  gestellt;  das 
steife  Halten  an  Formen  ist  immer  der  Hauptzug  wenn  von  Voss 
die  Rede  ist.  Göthe  mied  Deinen  Vater,  weil  er  in  ihm  nicht  fand, 
was  seine  Natur  bedurfte,  einen  der  in  seinen  Ideen  mit  ihm  lebte. 
Doch  hatte  er  sehr  viele  Perioden,  wo  das,  was  Voss  zu  dem  machte, 
was  er  war,  sein  Herz  in  Anspruch  nahm,  und  ihn  erkennen  liess, 
was  er  nicht  verkennen  durfte.  Wie  oft  hat  er  sich  in  solchen 
Stunden  herzlich  ausgesprochen,  und  wie  innig  haben  wir  das 
Liebenswürdige  in  ihm  anerkannt  und  geliebt.  In  solchen  Stunden 
hat  er  gehandelt  und  des  Vaters  Gefühle  für  Jena  und  Weimar 
wohlthätig  gehoben.  Des  Vaters  Körperzustand  in  Jena,  und  das 
Gefühl  des  Lossreissens  von  Allem,  was  ihm  bisher  lieb  war,  hat 
er  nie  getheilt,  daher  konnte  er  auch  nicht  mit  empfinden,  wie 
der  Vater  allmählig  dies  besiegte,  und  sich  glücklich  fühlte  in  der 
Beschäftigung  bey  Lesung  aller  deutschen  Bücher  seinen  Adelung 
zu  bereichern.  Diess  Alles  möchte  ich  auch  entwickeln  ohne 
Göthe  in  den  Schatten  zu  stellen.  Aber  ich  fühle  wohl,  dass 
dies  Wünsche  sind,  die  mir  schwerlich  zu  erfüllen  bestimmt  sind. . . . 

Die  Auffassung  der  burschenschaftlichen  Bewegung, 
wovon  im  ersten  Briefe  Ernestinens  die  Rede  ist,  lässt  den 
Jünger  Elopstocks  bis  ins  Oreisenaltcr  als  consequenten 
'Tyrannenhasser'  erscheinen  (vgl.  Herbsts  Andeutung  II  2, 
179).  —  Über  Jean  Pauls  Beziehungen  zur  Familie  Voss 
vgl.  seinen  Briefwechsel  mit  Heinr.  Voss  sowie  Herbst  II  2, 
149  f.,  jetzt  auch  Nerrlich,  Jean  Paul  S.  577  ff.  In  späteren 
Briefen  (an  Abeken  1824  u.  1827,  —  Polle  in  s.  Dresdener 
Programm  1882u.  1883,  1,  12  u.  2,20)  wird  Ernestine  nicht 
müde,  J.  Pauls  Selbstüberschätzung  und  Eitelkeit  zu  rügen.— 
Hans  ist  Ernestinens  Sohn,  Baumeister,  von  einer  Krank- 
heit schwerhörig  geblieben  (Herbst  II  1,  14;  112,35).  — 
Über  die  Jenaer  Zeit  und  die  Beziehungen  zu  Goethe  s. 
Ernestinens  Erläuterungen  in  den  'Briefen  von  Joh.  Heinr. 
Voss'  III  2,  54  ff.  sowie  Urlichs,  Charlotte  Schiller  u.  ihre 
Freunde  3,  194.  —  Den  Bruch  mit  Stolberg  behandelt 
Herbst  ausführlich  II  2,  182  ff.,  dazu  hier  einige  Bemer- 
kungen der  treuen  Ernestine.  All  diese  Briefe  athmen  den 
starken^  männlichen  Geist,  welcher  der  Lebensgefährtin  des 
Homer -Verdeutschers  so  wohl  ansteht.  Sie  starb  1834  im 
78.  Lebensjahre. 

Kiel.  Eugen  Wolff. 


556  Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko. 


Der  Mohr  In  Schillers  ^Fiesko'. 

I.    Die  Chronologie  des  Dramas. 

Kaum  ein  zweites  Drama  entwickelt  eine  so  reiche 
und  bewegte  Handlung  in  so  strenger  zeitlicher  Folge,  wie 
Schillers  ^Fie8ko\  Nicht  bloss  dass  die  einzelnen  Scenen 
und  Acte  in  geschlossenem  Zusammenhang  stehen,  so  dass 
jedes  neue  Moment  gerade  da  einsetzt,  wo  das  vorhergehende 
abgelaufen  ist^),  der  Dichter  hat  auch  dafür  gesorgt,  dass 
wir  den  Verlauf  der  Zeit  genau  verfolgen  können :  die  ein- 
zelnen Tage  sind  scharf  geschieden,  jeden  derselben  durch- 
leben wir  vom  Anbruch  bi&  zum  Schluss,  die  Stunden,  ja 
mitunter  selbst  die  Minuten  werden  wiederholt  nachdrück- 
lich hervorgehoben.^) 

Es  ist  nothwendig,  sich  diese  strenge  Gliederung  der 
Handlung  einmal  zum  Bewusstsein  zu  bringen.^)  Yon  den 
Zeitangaben,  welche  die  Scenen,  in  denen  der  Mohr  auf- 
tritt, enthalten,  sehe  ich  dabei  zunächst  ab;  ich  kann  es 
um  so  eher,  da  sein  Auftreten  nirgends  eine  selbständige 
Scenenreihe  bedingt,  sondern  sich  stets  theils  am  Anfang 
theils  am  Schluss  an  die  nachher  aufzuführenden  Scenen- 
reihen  anschliesst.  Im  Hinblick  auf  die  später  nothwendigen 
Verweisungen  habe  ich  dieselben  numerirt,  jede  bezeichnet 
einen  neuen  Zeitabschnitt. 

Das  Stück  spielt,  wie  das  Personenverzeichniss  angibt, 
1547*);  ActV  Sc.  14  w^ird   die  dritte  Jännernacht   als 

')  In  dieser  Beziehung  ist  die  Composition  des  Trinzen  von 
Homburg'  ähnlich,  vgl.  0.  Brahm's  Kleist  S.  350. 

*)  Dieselbe  strenge  zeitliche  Gliederung,  doch  ohne  Betonung  der 
Stunden,  zeigen  noch  ^Cabale  und  Liebe'  und  'Wallenstein*,  auch  in 
diesen  Dramen  dauert  die  Handlung  —  wenn  man  in  dem  letzteren 
die  *Piccolomini'  nach  der  älteren  £intheilnng  bis  zum  Schluss  des 
II.  Actes  von  'Wallensteins  Tod'  rechnet  —  zwei  volle  Tage;  nur  so- 
weit hat  Schiller  die  alte  Regel  der  'unit^  de  temps'  hier  ausgedehnt. 

')  Sehr  fluchtig  weist  auf  dieselbe  hin  Düntzer  in  seinen  Erläu* 
terungen,  Leipzig  1877  S.  89—91 ;  noch  oberflächlicher  verfahrt  L.  Beller- 
mann, Schillers  Dramen,  Berlin  1888  1, 116—117. 

*)  Auch  Schillers  Hauptquelle,  die  *Conjuration  du  corate  de 
Fiesque  par  le  Cardinal  de  Retz',  beginnt  sogleich  mit  der  Angabe:  *Au 


Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Piesko.  557 

Datum   der  Empörung  genannt.     Darnach  können  wir  die 

einzelnen  Tage  genau  bestimmen ;  sie  werden,  wie  mehrfach 

angedeutet  ist  (vgl.  z.  B.  Nr.  6  a.  E.),   von  der  Nacht  an 

gerechnet. 

1.  Januar,  Act  I.  II. 

Nr.  1)  Der  Tag  beginnt  mit  dem  Ball  bei  Fiesko 
(ActI  Sc.  1—9)  noch  vor  Mitternacht.  ^Musik  lärme  die 
Mittemacht  aus  ihrem  bleiernen  Schlummer^,  ruft  Fiesko 
bald  nach  dem  Beginn,  Sc.  4.  Mit  den  Worten  ^Es  wird 
Mitternacht,  die  Zeit  rückt  heran',  verabschiedet  sich  Gia- 
nettino  am  Anfang  von  Sc.  6.  ^Es  ist  50  Minuten  auf  Mitter- 
nacht^  erwidert  Fiesko  auf  Bourgognino's  Forderung  Sc.  8. 

2)  Noch  während  der  Ball  zu  Ende  geht,  ist  Gianettino 
bei  Yerrina  s  Tochter  eingedrungen.  ^Das  Mädchen  ist 
jetzt  allein',  hat  Lomellino  ihm  bei  Fiesko  zugeflüstert 
(Sc.  5);  in  demselben  grünen  Mantel,  in  den  er  (statt  des 
Purpurs)  auf  dem  Ball  maskirt  war  (Sc.  2),  ist  er  bei  ihr 
gewesen  (Sc.  10).  In  derselben  Nacht  noch  treten  wir 
(Sc.  10)  mit  Verrina  zu  ihr.  'Ich  habe  heute  Abrechnung 
gehalten  mit  allen  Freuden  der  Natur  ....  Bertha!  meine 
letzte  übrige  Hoffnung  —  Genuas  Freiheit  ist  dahin  — 
Fiesko  hin',  sagt  er  mit  Bezug  auf  die  Enttäuschung,  die 
er  Sc.  7  erfahren.  Da  in  der  nächsten  Scene  (11)  Ealkagno 
mit  den  Worten  eintritt:  'Verrina,  geschwind!  Mache  Dich 
fertig!  Heute  hebt  die  Wahlwoche  der  Republik  an. 
Wir  wollen  früh  in  die  Signoria,  die  neuen  Senatoren  er- 
wählen. Die  Gassen  wimmeln  von  Volk.  Der  ganze  Adel 
strömt  nach  dem  Rathhaus',  so  spielt  die  ganze  Scenenreihe 
10 — 13  am  Morgen  des  ersten  Tages. 

Der  zweite  Act  führt  uns  den  ganzen  Verlauf  dieses 
Tages  vor  Augen. 

3)  Das  erste  Drittel  desselben  Sc.  1 — 11  in  Fiesko's 
Palast  knüpft  unmittelbar  an  den  Schluss  des  vorigen  an. 
Um  jenen  'Zug  nach  dem  Rathhaus  zu  sehen',  kommt  Julia 
zu  Leonore;  der  frühen  Tageszeit    entspricht  es,   dass  ihr 

commencement  de  Tannee  mil  cinq  cent  quarante  sept,  la  republique 
de  Genes  se  trouvait'  etc.  (Tch  citire  sie  nach  der  am  bequemsten 
zagTinglichen  Didotschen  Stereotypausjjfabe  in  den  Chefs-d*cenvre  histo- 
riques  ed.  A.  de  Latour  1,  59—118). 

Vierteljahischrift  für  Intteratnrjfeschichto  III  37 


558  Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko. 

die  cioccolata  gemacht  wird.  Ohne  Pause  spielen  sich  die 
folgenden  Scenen  in  demselben  Zimmer  ab;  Fiesko  sieht 
(Sc.  4)  von  ihm  aus  die  Menge  'vom  Rathhaus  herabkom- 
men'. 'Unmöglich  kann  die  Sitzung  schon  aus  sein  .  .  . 
unmöglich  kann  sie  rechtmässig  aus  sein'.  Dann  empfangen 
wir  (Sc.  5)  den  Bericht  über  Lomellino's  Wahl  zum  Pro- 
curator. 

4)  Die  nächste  Scenenreihe  (12—14)  in  Doria's  Palast 
landet  gegen  Mittag  statt.  Sogleich  zu  Anfang  orientirt 
uns  der  Dichter :  'Dreistundenlanger  Procurator'  redet  Gia- 
nettino  den  Lomellino  an.  Für  übermorgen  wird  die  Er- 
mordung der  zwölf  Senatoren  geplant,  denn  in  zwei  Tagen 
ist  Dogenwahl. 

5)  Es  ist  Spätnachmittag  geworden,  wenn  wir  wie- 
der bei  Fiesko  eintreten  (Sc.  14  —  19).  Die  Verschworenen 
kommen  Sc.  17  mit  dem  Gemälde  der  Verginia,  noch  bei 
Tageslicht  stellt  es  der  Maler  auf:  'Das  Licht  muss  von 
der  Seite  spielen.  Ziehen  Sie  jenen  Vorhang  auf!  Diesen 
lassen  Sie  fallen!'  Aber  die  Dämmerung  des  Wintertages 
bricht  bald  herein:  'Über  dem  ernsten  Gespräch  hat  uns 
die  Nacht  überrascht',  sagt  Fiesko  am  Schlüsse  der  folgen- 
den Scene.  Mit  'Gute  Nacht!'  verabschiedet  sich  Verrina 
von  ihm.  Der  Termin  der  nächsten  Zusammenkunft  wird 
noch  verabredet  und  durch  Wiederholung  dem  Hörer  fest 
eingeprägt;  Fiesko:  'Morgen  Mittag  will  ich  Eure  Meinun- 
gen sammeln'.  Verrina:  'Morgen  Mittag  denn'.  Damit 
führt  letzterer  den  Bourgognino  hinweg:  'Komm!  Du  wirst 
etwas  Seltsames  hören'. 

2.  Januar,  Act  III.  IV. 

6)  Der  Tag  beginnt  wieder  tief  in  der  Nacht.  Die 
Anfangsscene  schliesst  sich  auch  hier  unmittelbar  an  den 
Schluss  des  vorhergehenden  Actes.  'Verrina,  Bourgognino 
kommen  durch  die  Nacht'.  'Der  dumpfe  Schmerz,  womit 
Du  mich  abriefst,  keucht  noch  immer  aus  Deinem  arbeiten- 
dem Odem',  sagt  Bourgognino  zu  Verrina.  Doch  ist  wäh- 
rend der  Wanderung  aus  der  Stadt  in  die  'furchtbare  WUd- 
niss'    die  Zeit    so    weit    vorgerückt,   dass  Verrina   auf   die 


Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko.  559 

Scene  bei  Fiesko  (Nr.  5)  mit  den  Worten  hinweisen  kann: 
^Sähest  Du  ihn  ge  stern  in  unserer  Bestürzung  sich  spiegeln?' 

7)  Wir  kehren  zu  Fiesko  zurück  in  der  'Morgen- 
dämmerung' (Sc.  2).  Auch  hier  orientiren  uns  wieder 
seine  ersten  Worte:  ^Der  Morgen  kommt  feurig  aus  der 
See\  Der  Prospect  zeigt  bald  darauf  ^Stadt  und  Meer  vom 
Morgenroth  überflammt'.  Leohore  fürchtet  Sc.  3  Fiesko's 
'Morgenruhe  zu  stören',  die  bekannten  Worte  Othello's 
( Act  V  Sc.  2):  'Let  me  not  name  it  to  you,  you  chaste  stars!' 
sind  deshalb  auch  in  ihrem  Munde  verwandelt  in:  'Lass  es 
mich  nicht  vor  Dir  aussprechen,  jungfräuliches  Licht!' 

Es  gilt,  gerade  hier  sich  die  Bestimmtheit  und  Aus- 
führlichkeit der  Zeitangaben  gegenwärtig  zu  halten. 

8)  Die  Verschworenen  erscheinen  Sc.  5.  —  Auf  den 
Mittag  waren  sie  bestellt  (Nr.  5  a.  E.).  Dem  entspricht 
es,  dass,  als  Fiesko,  nachdem  die  Pläne  der  Übrigen  ver- 
worfen sind,  vorschlägt:  'Also  Aufruhr  und  den  noch  diese 
Nacht!',  Sacco  einfällt:  'Diese  Nacht  noch?  und  es  ist  nichts 
gethan,  und  die  Sonne  geht  schon  bergunter?'  'So- 
bald es  Abend  wird,  will  Fiesko  die  vornehmsten  Vergnügten 
zu  einer  Lustbarkeit  bitten'.  Als  dieselben  V,  3  in  den 
Schlosshof  treten,  bemerkt  Zibo  'Acht  Uhr  ist  die  bestellte 
Stunde';  vgl.  Nr.  10. 

Dass  die  Zusammenkunft  Mittags  stattfand,  darauf  deutet 
auch  in  der  folgenden  Scenenreihe  Fiesko  hin,  als  er  zu 
dieser  Lustbarkeit  Julia  einlädt:  'Diesen  Mittag  ist  eine 
Gesellschaft  Florentinischer  Schauspieler  hier  angekommen 
und  hat  sich  erboten,  in  meinem  Palaste  zu  spielen'  (Sc.  10). 
Für  den  Hörer  ist  die  Ironie  verständlich,  hatte  doch  jene 
Scene  mit  dem  Gespräch  zwischen  Fiesko  und  dem  Mohren 
geschlossen  (Sc.  6) :  'Alle ,  deren  Namen  auf  diesem  Blatt 
stehen,  ladest  Du  zu  einer  Komödie  auf  die  Nacht.  — 
Mitzuspielen  vermuthlich,  das  Entr6e  wird  Gurgeln  kosten'. 
Derselbe  Vergleich  kehrt  nachher  auch  in  der  Ansprache 
Fiesko's  an  die  Geladenen  IV,  6  wieder:  'Ich  bin  so  frei 
gewesen,  Sie  zu  einem  Schauspiel  bitten  zu  lassen,  nicht 
aber,  Sie  zu  unterhalten,  sondern  Ihnen  Rollen  darin  auf- 
zutragen', ebenso  Sc.  10:    'Ich   habe  Euer  aller  Rollen  zu 

Papier  gebracht'. 

37* 


560  Kefctner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiasko. 

9)  Bei  Anbruch  des  Abends  besucht  Gianettino 
seine  Schwester  (Sc.  8);  sein  Eintrittsgruss  orientirt  uns 
wieder  sofort  über  die  Zeit.  Piesko  kommt  (Sc.  10),  um 
Julia  einzuladen.  Er  bemerkt  dabei  gegen  Gianettino: 
'Diesen  Abend  werden  die  Anker  (der  Kreuzer)  gelichtet 
.  .  .  Der  Vorgang  dürfte  gegen  Abend  einigen  Auflauf .  .  . 
verursachen',  indem  er  in  ganz  natürlicher  Weise  den  eigent- 
lichen Abend  von  dem  frühen  Einbruch  der  Winterdämme- 
rung unterscheidet. 

10)>Zu  der  in  Nr.  8  angegebenen  Zeit  erscheinen  die 
Geladenen  in  Piesko's  Schlosshof,  Act  IV,  1—10.  Wieder 
wird  sogleich,  sowohl  scenarisch  als  im  Dialoge  die  Zeit 
fixirt:  'Wie  viel  ist  die  Glocke?  —  Acht  Uhr  vorüber.' 
Als  Sc.  5  die  Verschworenen  hinantreten  'geht  es  stark  auf 
9  Uhr.'  An  die  Winterzeit  erinnert  den  Hörer  Zenturione's 
'Fuh!  Es  ist  grimmkalt',  an  den  Zusammenhang  der  Tage 
seine  Bemerkung  'Morgen  ist  Dogenwahl',  vgl.  Nr.  4. 

11)  Bei  dem  Wechsel  der  Scene  (11 — 15  im  Concert- 
saal)  ist  es  '11  Uhr  vorüber'. 

Nacht  zum  3.  Januar,  Act  V. 

'Nach  Mitternacht'  besagt  das  Scenarium ;  'Mitternacht 
ist  eine  ungewöhnliche  Stunde',  so  nimmt  auch  hier  wieder 
sogleich  zu  Anfang  Doria  im  Dialog  diese  Angabe  auf.  Der 
Ausbruch  der  Empörung  bildet  ein  einziges  Nachtbild,  auch 
am  Schluss  ist  der  Tag  noch  nicht  angebrochen,  Sc.  12 
leuchtet  man  gegen  den  Leichnam  der  Leonore,  Sc.  14 
spricht  Doria  von  der  dritten  Jännernacht. 

II.    Die  Chronologie  der  Mohrenscenen. 

Mit  beispielloser  Genauigkeit  hat  Schiller  eine  bestimmte 
Zeitrechnung  in  seinem  Drama  durchgeführt,  alle  Momente 
der  Handlung  sind  zeitlich  scharf  fixirt,  alle  Angaben  sorg- 
faltig in  Einklang  gebracht.  Nur  ein  Factor  lässt  sich 
schlechterdings  nicht  mit  dieser  Rechnung  vereinigen:  es 
sind  die  Zeitangaben,  welche  die  Scenen  enthalten,  in  denen 
der  Mohr  auftritt. 

Er  tritt  zuerst  zweimal  in  der  ersten  Scenenreibe  auf. 
In  Sc.  2  erhält   er  den  Auftrag,    Fiesko   zu   ermorden,    in 


Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko.  561 

Sc.  9  versucht  er,  ihn  auszuführen.  Eben  hatte  Bourgog- 
nino  gesagt  'es  ist  50  Minuten  auf  Mitternacht^  und 
wenige  Seiten  darauf,  am  Schlüsse  seines  Gesprächs  mit 
Fiesko  bemerkt  der  Mohr  'Jetzt  ists  früh  4 Uhr.  Morgen 
um  8  habt  ihr  soviel  Neues  erfahren,  als  in  zweimal  sieben- 
zig  Ohren  geht'.  —  Das  Leipziger  Bühnenmanuscript  hat 
den  schreienden  Widerspruch  zu  mildem  gesucht,  indem  es 
Bourgognino  vorher  sagen  liess:  'Der  Morgen  ist  kaum 
angebrochen^  der  Corrector  desselben  setzte  dafür:  'Es  ist 
4  Uhr  nach  Mitternacht',  was  natürlich  weder  zu  der  nach- 
herigen Angabe  des  Mohren  noch  der  Zeitbestimmung  der 
vorhergehenden  Scenen  passt. 

'Morgen  um  8'  wollte  der  Mohr  wieder  bei  Fiesko  sein. 
Man  kann  einen  Augenblick  schwanken,  ob  unter  dem 
'morgen'  der  unmittelbar  darauf  folgende  oder  erst  der 
nächste  Tag  zu  verstehen  sei.  Da  aber,  wie  wir  sahen, 
im  Fiesko  der  Tag  stets  mit  der  Nacht  beginnt,  so  werden 
wir  uns  für  die  zweite  Erklärung  entscheiden.  Dement- 
sprechend lässt  auch  der  Dichter  den  Mohren,  als  er  wieder 
vor  Fiesko  erscheint,  mit  den  Worten  empfangen:  'Und 
nun  sind  dreissig  Stunden  vorbei.  Hast  du  meinen  Auf- 
trag vollzogen?'  Aber  —  und  hier  stossen  wir  wieder  auf 
einen  Widerspruch  —  diese  Mohrenscene  fallt  (Act  II  Sc.  4) 
in  Nr.  3 ,  findet  also  doch  noch  am  Morgen  desselben 
Tages  statt! 

Am  Schluss  dieser  Scenenreihe  wird  der  vereitelte 
Mordversuch  des  Mohren  auf  Fiesko's  Befehl  zum  Scheine 
wiederholt,  der  Mohr  von  ihm  ergriffen  und  hinausgeschleift. 
Das  Weitere  hören  wir  in  der  4.  Scenenreihe  aus  Lomelli- 
no's  Munde  (II,  14).  Auch  hier  noch  zieht  das  Eingreifen 
des  Mohren  in  die  Handlung  eine  auffallende  Willkür  und 
Gewaltsamkeit  in  der  Behandlung  der  Zeit  nach  sich.  Lo- 
mellino  hat  sich  am  Ende  von  Sc.  12  auf  den  Wink  des 
Andreas  entfernt,  um  Julia  auf  ihrer  Ausfahrt  zu  begleiten. 
Das  nun  folgende  Zwiegespräch  zwischen  Oheim  und  Neffen 
umfasst  die  6ine  kurze  Sc.  13,  die  auf  der  Bühne  etwa 
sechs  Minuten  dauert.  Nach  einer  kaum  zu  rechnenden 
Pause,  in  der  'Gianettino  dem  Herzog  glühend  und  sprach- 
los nachsieht',  tritt  Lomellino  wieder  ein.     Das  Motiv,  dass 


562  Kettner»  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko. 

er  Julia  begleiten  sollte,  wird,  ohne  ein  Wort  darüber  zu 
verlieren,  fallen  gelassen.  Er  ist  in  der  Zwischenzeit  auf 
dem  Markt  gewesen,  wo  eben  das  Volk  sich  um  den  Mohren 
drängte,  der  an  Stricken  dahergeschleift  wurde,  ist  dann 
mit  Fiesko  und  den  dreihundert  Nobili  ihm  nach  bis  ins 
Richthaus  gegangen,  hat  dem  Verhör  des  Verbrechers,  der 
darauf  folgenden  zweimaligen  Folterung  desselben  und  dem 
Auftreten  Fiesko^s  mit  beigewohnt,  seine  kurze  Rede  mit 
angehört,  seine  Begnadigung  des  Mohren  und  seine  Heim- 
führung im  Triumph  mit  angesehen!  Das  alles  hat  er 
während  jenes  kurzen  Zwiegesprächs  erlebt!  Ich  bin  mir 
sehr  wohl  bewusst,  dass  man  dem  Dichter  die  Zeitdauer 
nicht  ängstlich  nachrechnen  darf,  dass  die  Zeit  des  Dramas 
eine  ideale  ist,  und  ich  würde  an  sich  auf  die  Unwahr- 
scheinlichkeit  noch  kein  Gewicht  legen;  aber  einmal  scheint 
mir  dieselbe  hier,  zumal  im  Vergleich  zu  der  sonstigen  auf- 
fallenden Realistik  der  Zeitrechnung  gerade  in  diesem 
Drama  ^)  das  Mass  des  Zulässigen  zu  übersteigen  und  zu 
grell  in  die  Augen  zu  fallen,  zweitens  aber  gewinnt  im 
Zusammenhang  mit  den  übrigen  Inconvenienzen,  zu  denen 
das  Auftreten  des  Mohren  führt,  auch  dieses  Moment  eine 
andere  Bedeutung. 

Kein  wesentliches  Bedenken  erweckt  sein  Wiederer- 
scheinen beim  Beginn  der  5.  Scencnreihe.  Dass  er,  der 
Mittags  erst  zweimal  gefoltert  ist,  am  Nachmittage  bereits 
wieder  verschiedene  Aufträge  besorgt  hat,  wird  niemanden 
sonderlich  stören. 

Dagegen  schiebt  sich  die  nächste  Mohrenscene  III,  4 
in  auffallendster  Weise  zwischen  die  7.  und  8.  Scenenreihe. 
Scheinbar  dient  sie  dazu,  ein  Bindeglied  zwischen  denselben 
herzustellen,  in  Wahrheit  aber  widerspricht  sie  auf  das 
schroffste  den  Voraussetzungen  beider. 


*)  Wie  weit  diese  Realistik  geht,  wie  genaa  Schiller  auch  die 
Zeitdauer  der  Scenen  fQr  die  Zeitrechnung  innerhalb  des  Dramas 
in  Anschlag  bringt,  zeigt  V,  9.  Hier  sagt  Zibo :  *Ich  sah  ihn  [Ciianettino] 
vor  acht  Minuten  lebendig  in  gelbem  Busch  und  Scharlach  herum- 
gehen'. Er  meint  seine  Begegnung  mit  der  in  Gianettino*s  Tracht 
verkleideten  Leonore  a.  E.  von  Sc.  5;  die  Zwischenhandlung  nimmt 
in  der  That  ungefUhr  soviel  Zeit  in  Anspruch. 


Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko.  563 

Noch  während  des  kurzen  Gesprächs  zwischen  Fiesko 
und  Leonore  —  es  fand,  wie  wir  sahen,  gleich  nach  Sonnen- 
aufgang statt  —  'hört  man  den  Mohren'.  Der  frühen  Tages- 
zeit entspricht  es,  dass  er  die  Papiere  Lomellino's  'warm 
aus  den  Händen  seiner  Bononi'  bringt,  denn  'früh  sechs 
sollte  er  wieder  bei  ihr  anfragen'.  Hierzu  steht  es  schon 
in  einem  gewissen,  wenn  auch  unerheblichen  Widerspruch, 
wenn  wir  am  Schluss  der  Scene  hören,  dass  er  doch  nicht 
direct  zu  Fiesko  geeilt  ist,  sondern,  nachdem  er  den  ver- 
hängniss vollen  Inhalt  der  Papiere  gelesen,  erst  noch  die 
vier  Verschworenen  zu  Fiesko  berufen  hat.  Dagegen  macht 
es  schon  an  sich  durchaus  den  Eindruck  einer  nachträg- 
lichen, willkürlichen  Änderung  einer  früheren  Con- 
ception,  dass  er  Fiesko's  Befehl, 'die  ganze  Verschwörung 
zusammenzurufen',  'vorausgewittert  und  darum  jeden  auf 
seine  Faust  Punkt  10  Uhr  hierher  bestellt  hat'.  Und  in 
demselben  Augenblick  hört  Fiesko  die  Tritte  der  Kommen- 
den, und  alsbald  sehen  wir  sie  eintreten!  —  Dieser  Ein- 
druck einer  späteren  Correctur  wird  zur  Gewissheit  durch 
die  Widersprüche,  welche  die  Zeitangabe  hervorruft.  Sie 
passt  nicht  zu  der  vorhergehenden  Scene,  denn  in  dieser 
war  eben  der  Tag  angebrochen;  sie  passt  nicht  zu  der 
folgenden,  denn  die  Zusammenkunft  der  Verschworenen 
sollte  erst  am  Mittag  erfolgen  und  findet  auch  wirklich, 
wie  wir  in  Nr.  8  sahen,  erst  am  Mittag  statt.  Schiller  hat 
durch  die  Mohrenscene  die  grössere  erste  Hälfte  des  UI.  Actes 
zu  einer  einzigen  Scenenreihe  zusammengeknüpft,  ohne 
irgend  eine  Pause  läuft  nun  die  Handlung  von  Sc.  1 — 7; 
aber  zu  welchen  Gewaltsamkeiten  führt  diese  Verknüpfung ! 
In  Sc.  1  dämmert  der  Morgen,  sehen  wir  die  Sonne  auf- 
gehen, in  Sc.  7  klagt  Sacco,  dass  sie  'schon  bergunter  gehe\ 
und  das,  nachdem  die  letzte  Scene  kaum  um  10  Uhr  früh 
begonnen  hatte! 

Mit  dieser  Scene  'hat  der  Mohr  seine  Arbeit  gethan'; 
sein  weiteres  Auftreten  ist  ohne  Belang.  In  den  ersten 
drei  Acten  dagegen  sprengt  dasselbe  den  ganzen  in  diesem 
Drama  sonst  so  festgefügten  zeitlichen  Zusammenhang. 
Betrachten  wir  nun 


564  Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko. 

III.    Die  Bedeutung  des  Mohren  für  die  Handlung 

des  Dramas. 

Er  greift  in  dieselbe  zuerst  ein,  am  Schlüsse  des 
I.  Actes,  durch  den  auf  Gianettino's  Befehl  unternommenen 
Versuch,  Fieske  zu  ermorden.  Schiller  hat  dies  Motiv 
zwar  theatralisch  wirksam  entwickelt,  zu  der  Handlung 
selbst  aber  nirgends  in  irgendwelche  Beziehung  gesetzt 
Weder  wird  es  zu  einer  Entschuldigung  oder  Rechtfertigung 
von  Fiesko's  Verhalten  in  den  Augen  des  Zuschauers  ver- 
wendet, noch  hat  es  die  mindeste  Wirkung  auf  den  Helden 
selbst.  Nicht  bloss,  dass  der  Entschluss  der  Empörung  in 
demselben  längst  vorher  feststeht,  auch  auf  die  Ausführung 
gewinnt  der  neue  Umstand  nicht  den  geringsten  Einfluss, 
ja  man  bemerkt  überhaupt  nicht,  dass  dies  Erlebniss  Fiesko's 
Stimmung  auch  nur  einen  Augenblick  änderte,  nur  zu  einem 
behaglichen  Spiel  mit  dem  Gauner  regt  es  ihn  an,  dem 
wir  eine  zwar  sehr  lebendig  durchgeführte,  aber  für  das 
Drama  doch  völlig  entbehrliche  Scene  verdanken;  die  — 
im  Stile  der  Spiegelbergscene,  'Räuber'  II,  3  gehaltene  — 
Schilderung  der  verschiedenen  Gaunerzünfte  greift  weit 
über  den  Rahmen  der  Scene  hinaus  und  retardirt  nicht 
unempfindlich,  so  drollig  sie  ist. 

Ziemlich  müssig  ist  des  Mohren  Auftreten  II,  4.  Die 
Urtheile,  welche  er  über  Fiesko's  Haltung  eingesammelt 
hat,  wollen  nicht  viel  besagen.  Am  Schluss  der  Scene 
fungirt  er  als  Kammerdiener,  um  bei  dieser  Gelegenheit 
einem  älteren  Witz  eine  neue  Pointe  zu  geben;  'Fiesko: 
Wo  ist  mein  Orden?  —  Mohr:  Herr,  ich  hab'  ihn  gestohlen 

und  versetzt Nun,   wie?     Wird  mein  Präsent  bald 

herausrücken?  —  Fiesko:  Weil  Du  nicht  auch  den  Man- 
tel nahmst?'  Vgl.  Hagedorns  'Reue  über  eine  nicht 
begangene   Bosheit'  (Sämmtl.    poet.    Werke  1771  2*,  88): 

Doch  darum  kann  ich  mich  nicht  fassen, 
Dass  ich  ihm,  als  er  Abschied  nahm, 
Da  er  durch  mich  um  alles  kam. 
Den  schönen  Mantel  noch  gelassen.^) 

•)  Die  alte  Anekdote  ist  noch  1831  neu  bearbeitet  —  wohl  nach 
französischer  Quelle  —  von  Chamisso  in  dem  Gedicht  *Der  vortreffliche 
Manier. 


Eettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko.  565 

II,  9  wiederholt  der  Mohr  den  Mordanfall  noch  einmal 
zum  Scheine  auf  Fiesko's  Befehl,  der  dadurch  das  Volk 
gegen  die  Dorias  aufstacheln  will.  Seltsamer  Weise  ge- 
schieht dies  aber  erst,  nachdem  die  Handwerker  von  ihm 
völlig  gewonnen,  sogar  für  seine  Pläne  auf  den  Thron  ge- 
wonnen sind.  Die  Anknüpfung  ist  dem  gegenüber  auch 
eine  recht  lockere :  ^Ich  muss  diesen  Hass  verstärken,  dieses 
Interesse  anfrischen!'  Was  aber  das  Auffallendste  ist,  dieser 
vereitelte  Mordanschlag  bleibt  nicht  nur  ohne  Folgen  für 
den  Gang  des  Stückes,  er  wird  auch  nachher,  wo  Fiesko 
die  Verschworenen  wiedersieht,  gänzlich  ignorirt.  Auf 
die  Wirkung  der  Entdeckung  desselben  auf  das  Volk  hatte 
Fiesko  es  abgesehen  —  aber  von  dem  dadurch  geschürten 
Hasse  desselben  gegen  die  Borias  hören  wir  in  der  näch- 
sten Scenenreihe  nur  durch  den  Bericht  Lomellino*s,  der, 
wie  wir  sahen,  so  gewaltsam  die  zeitlichen  Voraussetzungen 
durchbricht.  Der  Gedanke  der  Auflehnung  dagegen  bleibt 
nach  wie  vor  nur  auf  den  Kreis  der  vier  Verschworenen 
beschränkt.  Doch  könnte  man  dies  allenfalls  auch  damit 
erklären,  dass  Schiller  zwar  die  Idee  eines  Volksaufstandes 
vorschwebte,  dass  er  aber  damals  noch  nicht  wagte,  grosse 
Massenscenen  zu  schaffen.  Wie  aber  will  man  es  erklären, 
dass  in  der  nächsten  Scene,  wo  wir  Fiesko  wiedersehen 
(II,  15 — 17),  am  Nachmittag  desselben  Tages,  an  dessen 
Mittag  das  Verhör  des  Mohren  stattgefunden  hatte,  nicht 
bloss  mit  keiner  Silbe  darauf  Bezug  genommen,  sondern 
einfach  an  die  Voraussetzungen  der  vorhergehen- 
den Handlung  angeknüpft  wird?  Ist  es  nicht  ein 
Widerspruch,  dass  jetzt,  nachdem  der  Anschlag  Gianettino's 
auf  Fiesko  stadtbekannt  geworden  ist,  Verrina  mit  dem 
früher  geplanten  Appell  an  Fiesko's  Empfinden  durch  das 
Tableau  Romano's  sich  begnügt,  anstatt  das  ihm  von  den 
Umständen  fast  mit  Gewalt  aufgedrungene  neue  und  stär- 
kere Motiv  heranzuziehen?  Und  vollends  —  wie  ist  es 
denkbar,  dass  nach  dem,  was  er  am  Mittag  erlebt  hat, 
Fiesko  den  Maler  empfangen  kann  mit  den  Worten:  ^Ihre 
Arbeit  könnte  nicht  erwünschter  gekommen  sein.  Ich  bin 
heute  ganz  ungewöhnlich  heiter,  mein  ganzesWesen 
feiert  eine   gewisse  heroische  Ruhe,   ganz  offen  für  die 


566  Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko. 

schöne  Natur.^  Wie  kann  er  ferner  sagen:  'Meine 
Buhlerei  hat  den  arglistigsten  Despoten  betrogen^  nach- 
dem ihm  eben  dieser  Despot  handgreiflich  gezeigt  hat,  wie 
er  ihm  traut! 

Also  für  diese  entscheidungsvolle  Sccne,  in  der  Fiesko 
die  Führung  der  Verschwörung  übernimmt,  existirt  jenes 
Motiv  der  durch  den  Mohren  versuchten  Ermordung  Fiesko's 
überhaupt  nicht. 

Auch  auf  Oianettinos  Gegenmassregeln  (II,  14)  wirkt 
die  Entdeckung  seines  Anschlags  nicht  zurück.  Auch  seine 
Pläne  sind  längst  vorher  gefasst,  die  Ausführung  bestimmt. 
Als  Lomellino  ihm  bestürzt  die  Ergreifung  des  Mohren 
gemeldet  hat,  ^zieht  er  einen  Brief  mit  grossem  Siegel  her- 
vor^, in  welchem  Kaiser  Karls  Ankunft  bereits  gemeldet 
ist.  'Der  Schluss  ist  gefasst.  Übermorgen  fallen  zwölf 
Senatoren.  Doria  wird  Monarch,  und  Kaiser  Karl  wird  ihn 
schützen\  Nun  folgt  die  Feststellung  der  Namen  der 
Proscribirten,  darunter  der  Fiesko's. 

Wir  haben  also  eine  zweimalige  dramatische  Ver- 
wendung desselben  Motivs!  Nur  sehr  locker  ist  diese 
zweite  Benutzung  desselben  mit  der  früheren  am  Schluss 
der  Scene  in  Verbindung  gesetzt  durch  Gianettino's  Worte : 
^Doch  noch  einen  Meuter  wird  Genua  haben?'  Und  nun, 
von  dieser  zweiten  Einfügung  an,  beginnt  dies 
Motiv  wirklich  zu  spielen!  Indessen  wirkt  es  auch 
jetzt  nur  als  Nebenmotiv,  indem  es  nach  anderen  wesent- 
licheren von  Fiesko  noch  herangezogen  wird,  um  den  Aus- 
schlag zu  geben. 

Fiesko  benutzt  diesen  Anschlag,  nachdem  er  ihm  — 
wieder  durch  den  Mohren  —  verrathen  ist,  zweimal,  III,  5 
dem  engeren  und  IV,  6  dem  weiteren  Kreis  der  Verschwo- 
renen gegenüber.  In  der  ersteren  Scene  ist  zunächst  die 
Anknüpfung  zu  beachten.  Obwohl  der  Mohr,  im  Wider- 
spruch zu  Fiesko's  gestriger  Einladung  auf  den  Mittag,  die 
Verschworenen  plötzlich  am  Morgen  zu  ihm  entboten  hat, 
so  äussert  niemand  von  ihnen  eine  Verwunderung 
über  diese  Änderung,  niemand  eine  Unruhe  über  diese 
merkwürdige  Hast,  Verrina  knüpft  einfach  an  den 
Schluss  der  gestrigen  Besprechung    an:    'Du    hast 


Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiasko.  567 

uns  aufgefordert,  einem  Plane  zum  Tyrannenmord  nachzu- 
denken. Frage  uns,  wir  sind  da,  Dir  Rede  zu  geben\  An 
den  Mohren  denkt  man  so  wenig,  dass  Fiesko,  obwohl  er 
ihn  eben  in  das  Vorzimmer  entlassen  hat,  zu  Yerrina  sagt: 
^Tretet  leise  auf!  Lasst  beide  Schlösser  vorfallen!'  und 
dieser  erwidert:  ^Ächt  Zimmer  hinter  uns  hab'  ich  zuge- 
riegelt'. In  der  nun  folgenden  Berathung  dient  dann  die 
Mittheilung  von  Gianettino's  Mordplänen  dazu,  die  Ver- 
schworenen, welche  zwar  auf  Verrina  s  Rath  zum  offenen 
Aufruhr  sich  entschlossen  haben,  aber  vor  der  von  Fiesko 
vorgeschlagenen  Empörung  in  der  folgenden  Nacht  noch 
zurückschrecken,  für  diesen  schnellen  Entschluss  zu  ge- 
winnen. 

Noch  unwesentlicher  ist  die  Bedeutung  dieses  Motivs 
in  IV,  6.  Fiesko  hat  bereits  durch  die  Gewalt  seiner  Rede 
die  Nobili  zur  Empörung  entflammt,  ^Gemurmel'  —  ^wildes 
Gemurre'  —  ^ungestüme  Bewegungen'  —  zuletzt  'stürmische 
Aufwallung'  und  entschlossener  Zuruf  haben  seinen  Worten 
geantwortet.  Und  jetzt  erst,  wo  er  bereits  erreicht  hat, 
was  er  wollte,  gibt  er  ihnen  die  Proscriptionsliste  zu  lesen 
mit  den  Worten:  'Nun  erst  verdienen  Sie  die  Gefahr  zu 
wissen,  die  über  Ihnen  und  Genua  schwebte'. 

Von  dem  weiteren  Antheil  des  Mohren  an  der  Hand- 
lung sehe  ich,  da  er  rein  episodisch  ist,  ab. 

IV.   Die  Entstehung  der  Mohrenscenen. 

Auf  alle  wesentlichen  Motive  seines  Dramas  ist  Schiller 
bekanntlich  unmittelbar  durch  seine  historischen  Quellen 
geführt,  das  Verginiamotiv  der  Berthasccnen  entwickelte 
sich  unter  dem  Einfluss  der  'Emilia  Galotti'  aus  dem  Stoffe 
von  selbst.  Nur  die  Figur  des  Mohren  und  seine  Benutzung 
als  Hebel  der  Handlung  ist  Schillers  eigenste  Erfindung. 
Er  wurde  zur  Einführung  eines  Mordanschlags  auf  Fiesko 
und  damit  zur  Schöpfung  eines  Trägers  dieser  Handlung 
wohl*  angeregt  durch  den  Werth,  welchen  Retz  auf  diesen 
Umstand  für  die  Beurtheilung  von  Fiesko 's  Handlungsweise 
legt.  'S'il  est  vrai',  sagt  derselbe  S.  100,  'ce  que  dit  le 
comte  Jean  — Louis  de  Fiesque  le  jour  memo  qu'il  ex^cuta 
Bon  entrcprise,  qu'il  etait  averti  depuis  longtemps  que  sa 


568  Ketfcner,  Der  Mohr  in  Schillere  Fiesko. 

perte  ctait  rösolue  dans  Tesprit  de  Jannctin,  et  que  cet 
homme  injuste  et  violent,  qui  n'etait  retenu  que  par  la 
prudence  d' Andre,  yoyant  que  son  oncle  ätait  sujet  ä  de 
grandes  maladies,  avait  commande  au  capitaine  Lercaro  de 
se  defaire  de  tous  les  Fiesque  dans  le  moment  qu*  Andre 
Doria  mourrait;  qu'il  avait  des  lettres  convaincantes  par 
lesquelles  il  lui  6tait  aisS  de  prouver  que  le  meme  Jannctin 
avait  essayö  de  Tempoiso'nner  par  trois  diverses  fois  .... 
je  ne  pense  pas  que  Ton  puisse  blämer  avec  justice  la  dis- 
simulation  du  comte,  parce  que,  dans  les  affaires  oü  il  s'agit 
de  notre  vie  et  de  Tinteret  genöral  de  TEtat,  la  franchise 
n'est  pas  une  vertu  de  saison;  la  nature  nous  faisant  voir 
dans  rinstinct  des  moindres  animaux  qu'en  ces  extremites 
Tusage  des  finesses  est  permis  pour  se  däfendre  de  la  vio- 
lence  qui  nous  veut  opprimer.' 

Es  lag  nahe,  den  Mordanschlag  nicht  bloss  zur  Recht- 
fertigung von  Fiesko's  Entschluss  heranzuziehen,  sondern 
auch  ihn  unmittelbar  dramatisch  vorzuführen.  Die  Physio- 
gnomie des  Mörders  in  derb  humoristischer  Zeichnung  zu 
entwerfen,  konnte  ihn  das  Vorbild  der  Mörder  Clarences  in 
'Richard  IIL'  anregen,  auch  die  Erinnerung  an  Angelo  in 
'Emilia  Galotti'  mochte,  wie  0.  Brahm  (Schiller  1,  238) 
vermuthet,  einige  Züge  liefern  —  wenn  es  hier  für  den 
Dichter  der  ^Räuber'  überhaupt  noch  eines  Musters  bedurfte! 

Der  von  mir  unternommene  Versuch,  die  Durchführung 
der  Rolle  des  Mohren  in  ihrem  Verhältniss  zu  den  Voraus- 
setzungen der  übrigen  dramatischen  Handlung  scharf  zu 
bestimmen,  drängt  uns  nun  zu  dem  Schlüsse,  dass  dieselbe 
ursprünglich  nicht  die  jetzige  Ausdehnung  gehabt 
haben  kann,  dass  Schiller  sie  vielmehr  ursprünglich  erst 
da  eingreifen  Hess,  wo  das  Motiv  des  Mordversuches  wirk- 
lichen Einfluss  auf  die  Handlung  gewinnt,  also  da,  wo  es 
jetzt  zum  zweiten  Male  eintritt,  entvfeder  II,  It,  wo  der 
Plan  der  Ermordung  gefasst  wird,  oder  III,  4  wo  ihn  Fiesko 
durch  den  Mohren  selbst  erfahrt.  Da  jenes  Motiv  in  den 
ersten  Acten  nicht  bloss  ohne  Bedeutung  für  die  Handlung 
bleibt,  sondern  auch  vielfach  den  Zusammenhang  derselben 
durchbricht,  namentlich  die  Zeitordnung  stark  verwirrt,  so 
werden  wir  ferner  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  schliessen 


Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko.  569 

können,  dass  Schiller  erst  verhältnissmässig  spät,  als  die 
Conception  des  ganzen  Dramas  im  Wesentlichen 
abgeschlossen  vorlag,  sich  noch  dazu  entschloss, 
dies  Motiv  weiter  rückwärts  zu  verfolgen,  ohne  dass 
er  die  Zeit  fand,  eine  entsprechende  Umarbeitung  der  ersten 
Acte  durchzuführen.'') 

Ursprünglich  wird  diese  Rolle  nicht  viel  weiter  ent- 
wickelt gewesen  sein,  als  Shakespeare  derartige  Bollen  aus- 
zuführen pflegt  und  Schiller  sie  später  selbst  in  seinem 
Deveroux  und  Macdonald  gebildet  hat.  Was  kann  ihn 
veranlasst  haben,  hier  den  Charakter  noch  abzurunden  und 
breiter  durch  das  Drama  hin  zu  entwickeln? 

Ein  wesentlicher  Anreiz  dazu  lag  ohne  Zweifel  in  der 
Figur  selbst;  seine  Phantasie  mochte  um  so  leichter  dem- 
selben folgen,  als  sie  damit  in  Bahnen  gelenkt  wurde,  in 
denen  sie  sich  vor  kurzem  erst  in  den  ^Räubern'  bewegt 
hatte,  erinnerte  uns  doch  die  Aufzählung  der  verschiedenen 
Gaunerzünfte  lebhaft  an  ähnliche  Schilderungen  Spiegel- 
bexgs.  Aber  wir  suchen  auch  noch  nach  einem  äusseren 
Anlass,  welcher  den  Dichter  trieb,  einem  solchen  an  sich 
nebensächlichen  Motiv  weiter  nachzugehn  und  eine  episo- 
dische Figur  so  selbständig  auszugestalten. 

Der  Mohr  ist  in  eminentem  Sinne  eine  Spielrolle.  Von 
jeher  hat  er  eine  Lieblingsaufgabe  hervorragender  Charakter- 
spieler gebildet^),  noch  zuletzt  war  er  im  Berliner  Schau- 
spielhause eine  Glanzleistung  Dörings.  Als  die  dankbarste 
Rolle  des  Stückes  wurde  sie  sogleich  im  Kreise  der  Mann- 


^)  Ich  möchte  die  Yermuthung  äussern,  ohne  ihr  indessen  Gewicht 
beizulegen,  dass  vielleicht  am  Schlüsse  der  ersten  Scene  in  den  Worten 
der  Leonore:  'Fiesko  kommt.  Flieht!  Flieht!  Mein  Anblick  könnte 
ihm  einen  trüben  Augenblick  machen*,  eine  Verzahnung  stehen  geblie- 
ben ist,  welche  die  ursprungliche  Reihenfolge  der  Scenen  ahnen  lässt. 
Jetzt  hat  es  entschieden  etwas  Störendes,  wenn  nach  diesen  Worten 
Gianettino  mit  dem  Mohren  eintntt;  auch  dass  Leonore  vorher,  als  sie 
Fiesko's  Lachen  aus  dem  Lärmen  heraushörte,  sich  einreden  wollte, 
sie  habe  Gianettino  gehört,  hebt  das  Auftallende  jener  verfehlten  An- 
kündigung nicht. 

•)  Vgl.  Kuno  Fischer,  Schiller  als  Komiker,  Leipzig  1868  S.  53 
(über  Dessoir).  —  Rötscher,  Cyclus  dramatischer  Charaktere,  Berlin 
1846  2,  130  (über  Seydelmann). 


570  Kefctner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko. 

heimer  Schauspieler  begrüsst :  liFlande  Referat  in  der  Sitzung 
des  Theaterausschusses  am  27.  November  1 782  hob  sie  vor 
allen  hervor.®)  Ihre  erste  Verkörperung  fand  sie  durch 
Beil.  Er  spielte  sie  mit  solcher  Virtuosität,  dass  Dalbergs 
am  1 4.  Januar  1 784  in  Gegenwart  Schillers  im  Ausschuss 
vorgetragene,  sonst  sehr  strenge  Eritik^^)  von  ihm  sagen 
konnte:  ^Vorzüglich  wirkte  Herrn  Beils  natürliches,  wahres 
Spiel  und  Haltung  der  Bolle  des  Mohren  bis  zum  Ende'. 
Beils  Stärke  lag  offenbar  in  der  Darstellung  derber  und 
treuherziger,  aber  zugleich  rascher  und  hitziger  Charaktere; 
so  gab  er  in  der  'Minna  von  Barnhelm'  den  Just,  im  ^Götz 
von  Berlichingen'  den  Lerse^^);  in  den  'Räubern'  hatte  er, 
wie  Streicher  (Schillers  Flucht  S.  40)  berichtet,  als  Schweizer 
'nichts  zu  wünschen  übrig  gelassen'.  Derselbe  erzählt  auch 
(S.  120),  dass  der  Gedanke  an  seine  naiv -drollige  Dar- 
stellung solcher  Rollen  wesentlichen  Einfluss  auf  die  Aus- 
arbeitung des  Charakters  des  Musikus  Miller  gehabt  habe. 
Liegt  es  da  nicht  nahe,  anzunehmen,  dass  der  Anblick 
seines  Spieles  Schiller  auch  zu  der  weiteren  Ausführung 
der  Rolle  des  Mohren  verlockte,  dass  er  sie  ihm  gewisser- 
massen  auf  den  Leib  schrieb?  Diese  Annahme  würde  mit 
dem,  was  wir  über  die  Umarbeitung  des  Fiesko  wissen, 
durchaus  in  Einklang  stehen. 

Bald  nach  der  ersten  Aufführung  der  'Räuber'  (Januar 
1782)  hatte  sich  Schiller  für  diesen  StoiF  entschieden.  'Als 
er  endlich  den  Plan  im  Gedächtniss  gänzlich  entworfen 
hatte,  schrieb  er  den  Inhalt  der  Acte  und  Auftritte  in  der- 
selben Ordnung,  wie  sie  folgen  sollten,  aber  so  kurz  und 
trocken  nieder,  als  ob  es  eine  Anleitung  für  den  Coulissen- 
Director  werden  sollte'. ^^)  Wir  verdanken  diesem  genauen 
Schema  wohl  die  auffallend  sorgfältige  Disposition  der 
Handlung,  die  ich  im  I.  Abschnitt  hervorhob.  Unter  Sorgen 
und  Verdriesslichkeiten  aller  Art  rückte  die  Arbeit  anfangs 
so  langsam  vor,  dass  Ende  Juli,  wo  Schiller  den  Entschluss 


I 


•)  Zuerst  im  Dresdener  Schillerbuch,  1860  S.  124  von  Schloenbaeb 
init^etheilt,  genauer  bei  Koffka,  Iffland  und  Dalberg  S.  334. 
>•)  Schillerbuch  S.  125.    Koffka  S.  360. 
»»)  Schillerbuch  S.  162-165. 
»»)  Streicher,  Schillers  Flucht  S.42f. 


Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko.  571 

der  Flucht  fasste,  ausser  jenem  Plane  kaum  die  Hälfte  des 
Stückes  niedergeschrieben  war.^*)  Um  in  Mannheim  nicht 
mit  leeren  Händen  zu  erscheinen,  förderte  er  dasselbe  jetzt 
so  rasch,  dass  er  am  22.  September  es  ^beinahe  fertig'  mit- 
nehmen und  am  26.  vor  IfFland,  Beil,  Beck  und  anderen 
Schauspielern  vorlesen  konnte.  'Der  erste  Act  war  kaum 
zu  Ende,  als  Herr  Beil  sich  entfernte'.**)  Darf  man  daraus 
schliessen,  dass  der  spätere  geniale  Darsteller  des  Mohren 
in  dieser  ersten  Gestalt  des  Actes  die  für  ihn  wie  geschaf- 
fene Rolle  noch  nicht  fand? 

Schiller  selbst  hielt  den  ITiesko  damals  noch  nicht  für 
^theaterfertig'^^),  namentlich  über  den  Schluss  konnte  er 
zu  keiner  Entscheidung  kommen.  Dalbergs  harter  Bescheid 
^dass  Fiesko  in  dieser  Gestalt  für  das  Theater  nicht  brauch- 
bar sei  und  dass  die  Umarbeitung  erst  geschehen  sein  müsse, 
bevor  er  sich  weiter  erklären  könne',  nöthigte  ihn,  dieselbe 
in  umfassenderer  Weise  vorzunehmen.  Sie  beschäftigte  ihn 
den  ganzen  October  hindurch,  während  er  in  Oggersheim 
in  stetem  Verkehr  mit  den  Freunden  in  Mannheim  und  in 
lebendiger  Anschauung  des  dortigen  Theaters  blieb.**)  An- 
fangs war  er  durch  den  Gedanken  an  sein  neues  Trauer- 
spiel ^Luise  Millerin',  dessen  Plan  er  sogleich  am  ersten 
Abend  in  Oggersheim  aufzuzeichnen  begonnen  hatte,  stark 
von  dieser  Arbeit  abgezogen.  Gerade  damals  war  es,  wo 
er,  wie  ich  schon  erwähnte,  'im  Voraus  schon  sich  oft  daran 
ergötzte,  wie  Herr  Beil  den  Musikus  Miller  so  recht  naiv- 
drollig darstellen  werde,  und  welche  Wirkung  solche  komische 
Auftritte  gegen  die  darauf  folgenden  tragischen  auf  die 
Zuschauer  machen  müssten'. 

Endlich  in  den  ersten  Tagen  des  November  konnte  er 
das  Drama  aufs  neue  an  Dalberg  absenden.  Gegen  Ende 
des  Monats  erfolgte  dessen  Entscheidung ,  dass  'dieses 
Trauerspiel  auch   in   der  vorliegenden  Umarbeitung   nicht 


««)  Streicher  Ö.  GO. 

^*)  Streicher  S.  88. 91.  Seine  Daten  habe  ich  geändert  entsprechend 
seinem  bekannten  Irrthum  in  der  Ansetzung  der  Flucht  auf  den  17.  Sep- 
tpuiber. 

**)  Brief  an  Dalberg  aus  Frankfurt  (Anfang  October). 

»•)  Streicher  S.  113.  121-5.  143. 


572  Kettner,  Der  Mohr  in  Schillers  Fiesko. 

brauchbar  sei'.  In  dem  Theaterausschuss,  dem  dieselbe  zar 
Prüfung  vorgelegt  war,  hatte  Iffland  ein  ausführliches  Yotum 
abgegeben,  in  dem  er,  wie  ich  bereits  oben  andeutete,  mit 
besonderem  Nachdruck  auf  die  Rolle  des  Mohren  hinwies. 
^Die  Scenen  mit  dem  Mohren  sind  durchaus  zu  lang.  In 
einer  dieser  Scenen  [I,  9]  geht  Fiesko  so  mit  dem  Gelde 
um,  wie  ein  armer  Mann,  der  unvermuthet  das  beste  Loos 

gewinnt Aber   aller  Fehler    ungeachtet,    wie   viel 

Stücke  haben  wir,  welche  Scenen  enthalten,  als  diese 
sind,  wo  Verrina  seine  Tochter  entehrt  findet,  wo  das  Volk 
zu  Fiesko  eindringt  und  dann  Fiesko's  Monolog  darauf 
folgt?  wo  Doria  mit  seinem  Neffen  spricht,  wo  der  Mohr 
den  Fiesko  erstechen  will?  der  ganze  Mohr  über- 
haupt?' 

So  ist  der  Schluss  wohl  nicht  mehr  zu  gewagt,  dass 
diese  Rolle  erst  während  jener  Umarbeitung  des  Dramas 
im  October  1 782  aus  einer  rein  episodischen  Figur  zu  einer 
die  ganze  Handlung  begleitenden  Nebenperson  erwuchs, 
welche  —  ähnlich  wie  dies  Schiller  nach  Streichers  Äusse- 
rung in  einzelnen  Millerscenen  beabsichtigte  —  die  Span- 
nung des  Intrigenspiels,  die  leidenschaftliche  Bewegung  der 
Hauptactionen  und  den  finsteren  Ernst  der  Yerrinascenen 
in  burlesker  Weise  unterbrach  und  zugleich  einem  hervor- 
ragenden Schauspieler  der  Mannheimer  Bühne,  dessen 
virtuosenhaftes  Spiel  die  Aufmerksamkeit  des  Dichters 
erregt  hatte,  bequem  sich  anpasste. 

Mit  grossem  Geschick  hat  Schiller  die  veränderte  Rolle 
mit  dem  im  wesentlichen  feststehenden  Qang  der  drama- 
tischen Handlung  nachträglich  zu  verflechten  gewusst,  den 
Hurensohn  der  Hölle'  wie  einen  stets  hilfsbereiten  und 
doch  geföhrlichcn  Spiritus  familiaris  zu  allen  Plänen  Fiesko's 
und  seiner  Gegner  in  Beziehung  gesetzt  und  zugleich  in 
seinem  skrupellosen  Egoismus  mit  scharfer  dramatischer 
Ironie  eine  Art  rohen  Gegenbildes  zu  Fiesko's  stolzem 
Ehrgeiz  geschaflFen  —  ähnlich  wie  er  später  Buttler  neben 
Wallenstein  stellte. 

Trotzdem  ist  es  ihm  nicht  gelungen,  den  Zwiespalt 
zwischen  dem  alten  Plan  und  dem  neuen  Einschiebsel 
völlig  zu  beseitigen:    Zeit  und  Stimmung  waren  einer  bb 


steig,  Wilhelm  Grimm  nnd  Herder.  573 

ins  Einzehte  gehenden  Verarbeitung  leider  nicht  günstig, 
die  ungewöhnliche  Genauigkeit,  mit  welcher  in  der  ersten 
Bearbeitung  auch  die  kleinsten  Momente  der  Handlung 
fixirt  waren,  bot  besondere  Schwierigkeiten,  leicht  mochte 
in  dem  Drange  der  Schlussredaction  der  jetzt  wesentlich 
auf  die  theatralische  Wirkung  gerichtete  Blick  des  Dichters 
sie  als  unwesentlich  übersehen.  In  der  Constatirung  dieser 
bisher  noch  nicht  beachteten  Widersprüche  der  Composition 
habe  ich  das  Hauptziel  meiner  Untersuchung  gesehen,  die 
von  mir  zuletzt. versuchte  Erklärung  derselben  kann  selbst- 
verständlich nur  als  eine  Vermuthung  sich  geben. 

Schulpforta,  September  1889.     Gustav  Kettner. 


Wilhelm  Grimm  nml  Herder. 

Wilhelm  Grimm  schrieb  1812  über  Herder^):  'Beklagen 
wir,  dass  er  leiblich  aus  unserer  Mitte  verschwunden,  so 
lebt  doch  sein  Geist  noch  unter  uns,  thätig  und  wirkend'. 
Herzliche  Worte,  wie  sie  wohl  der  Freund  dem  Freunde 
nachruft.  Und  doch  hatte  keine  persönliche  Bekanntschaft 
zwischen  beiden  Männern  bestanden.  In  dem  Jahre,  wo 
Grimm  siebzehn  Jahre  alt  die  Universität  bezog,  schied 
Herder  aus  dem  Leben. 

Wilhelm  Grimms  Beschäftigung  mit  Herder  datirt  aus 
der  ersten  Jugendzeit.  Er  las  früh,  nach  Jacobs  Zeugniss^), 
unsre  Klassiker.  Er  lernte  1805  aus  Garve's  Briefen  an 
Christian  Felix  Weisse,  worin  auch  'Goethe  und  Herder 
bisweilen  genannt  werden',  die  litterarische  Welt  der  sieben- 
ziger  Jahre  'recht  genau*  kennen.')  Er  schlug  damals 
seinem  Bruder  vor,  den  'belletristischen'  Theil  der  eben  an- 
gezeigten  Herderausgabe,  welcher  15  Thaler  kosten  sollte, 

^)  In  der  Recension  von  Franz  Horns  schöner  Litteratur  Deutach- 
lands während  des  achtzehnten  Jahrhunderts;  Heidelb.  .Jahrb.  d.  Litt. 
1812  =  Wilhelm  Grimms  Kleinere  Schriften  1,  278. 

*)  Jacob  Grimms  Kleinere  Schriften  1, 166. 

*)  An  Jacob  den  10.  Februar  1805 ;  Briefwechsel  zwischen  Jacob 
und  Wilhelm  Grimm  aus  der  Jugendzeit  S.  8. 

Vierte^jahrschrift  für  Litteratoigeeohichte   III  38 


574  Steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder. 

anzuschaffen.*)  Es  unterblieb,  weil  die  Mittel  nicht  reich- 
ten. Erst  1809  erstand  Jacob  auf  einer  Göttinger  Auction 
'Herders  Werke  zur  Philosophie  und  Poesie,  neue  Cottaer 
Ausg.  16  Bände  gebunden  10  Thlr.'^) 

Diese  Spuren  sind  nur  äusserlich.  Das  innere  Band 
bildete  die  Richtung  auf  das  Volksthümliche,  die  den  Brü- 
dern Grimm  von  Haus  aus  eigen  war. 

Eine  mächtige  Wirkung  war  von  Herders  Volksliedern 
ausgegangen.  Achim  von  Arnim  und  Clemens  Brentano 
sammelten  in  seinem  Sinne  'alte  deutsche  Lieder'.  Die 
drei  Bände  des  'Wunderhorns'  erschienen  1806 — 1808  zu 
Heidelberg.  Als  ein  vierter  Band  war  ursprünglich  Wil- 
heim  Grimms  Ilbersetzung  der  altdänischen  Heldenlieder, 
Balladen  und  Märchen  geplant.  Sie  ist  wenigstens  den 
Herausgebern  des  'Wunderhorns'  zugeeignet. 

Die  Geschichte  der  altdänischen  Heldenlieder  lässt  sich 
genau  verfolgen.  Auf  jeder  Stufe  tritt  uns  directe  Beziehung 
auf  Herder  entgegen.  Einige  Übersetzungsproben  waren 
von  Wilhelm  schon  1808  in  Arnims  Zeitung  für  Einsiedler 
'Trost  Einsamkeit'  geliefert  worden.  Vom  selben  Jahre  ist 
sein  Aufsatz  'Über  die  Entstehung  der  altdeutschen  Poesie 
und  ihr  Verhältniss  zur  nordischen";  wo  er  auf  die  altdäni- 
schen Lieder  zu  sprechen  kommt,  bedauert  er,  dass  erst 
Weniges  durch  Herders  Übersetzung  bekannt  ist,  und 
spricht  die  Hoffnung  aus,  in  kurzem  dem  Publicum  eine 
vollständige  übergeben  zu  können.^)  In  der  öffentlichen 
Ankündigung,  die  im  nächsten  Jahre  von  den  Heidelbergi- 
schen Jahrbüchern'')  gebracht  wurde,  wies  er  wie  zur  Em- 
pfehlung auf  Herder  und  Goethe  hin :  'Die  von  Herder,  der 
so  vieles  Herrliche  angeregt  liat,  bearbeiteten  Romanzen 
vom  König  Oluf  und  die  zauberische  Elvershöh,  der  Wasser- 
mann, der  in  Goethes  Pischerin  steht,  die  hier  in  gemeiner 
Übersetzung  sich  auch  wiederfinden,  können  jedermann  einen 
Vorschmack   dieser  Dichtungen  geben'.     Die  Vorrede  des 


*)  Den  24.  März  1805;  Jngendbriefe  S.  27. 

»)  An  Wilhelm  den  10.  Juli  1809 ;  .Tugrendbriefe  S.  122. 

«)  Kleinere  Schriften  1,  142. 

')  Ebenda  1, 173. 


steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder.  575 

1811    erschienenen  Werkes  hebt  ebenfalls  an  zwei  Stellen 
Herders  Verdienste  hervor.®) 

Ein  ergötzliches  Nachspiel  folgte.  Wilhelm  hatte  sich 
möglichste  Treue  gegen  das  Original  zur  Pflicht  gemacht. 
Steffens  hatte  1809  in  Halle  die  Übersetzung  mit  ihm 
durchgegangen.")  80  berufene  Beurthoiler,  wie  Nyerup***) 
und  Niebuhr^^),  erkannten  auch  den  poetischen  Werth  der 
Übersetzung  an.  Von  Hebel  meldete  Jacob  seinem  Bruder 
am  9.  Januar  1814,  er  habe  die  dänischen  Lieder  dreimal 
ausgelesen.^*)  Nur  der  mit  T  unterzeichnete  Recensent 
der  Heidelbergischen  Jahrbücher  ^•'^)  setzte  die  Arbeit  herab. 
Die  Grimms  wussten  sofort,  mit  wem  sie  es  zu  thun  hatten. 
Wilhelm  erliess  dagegen  sein  famoses  ^Sendschreiben  an 
Herrn  Friedrich  David  Gräter,  der  W.  W.  Doctor,  Rector 
und  Professor'**),  worin  er  den  für  jedermann  kenntlich 
gemachten  Anonymus  (der  eben  kein  anderer  als  Gräter 
selbst  war^^)  mit  vollendetem  Spott  überschüttete. 

Gräter  hatte  unter  anderm  tadelnd  vermerkt,  der  Sinn 
sei  hie  und  da  sonderbar  verfehlt,  und  der  Übersetzung  von 
der  Elfenhöh  drei  frühere,  von  Gerstenberg,  Herder  und 
Hang,  als  besser  entgegengestellt.  So  sah  sich  Wilhelm 
Grimm  in  die  ihm  widrige  Lage  gedrängt,  den  Werth  seiner 
Übersetzung  gegen  die  ihm  vorgerückten  Muster  abzu- 
wägen. Mit  Gerstenbergs  *^)  'ganz  unbedeutender'  und 
Haugs  ^')  unwürdiger  Verdeutschung  hatte  er  leichtes  Spiel. 

*)  Wieder  abgedruckt  in  den   Kleineren  Schriften  1,  176,  vgl. 
178. 194. 

•)  Jugendbriefe  194. 

*®)  Briefwechsel  der  Gebrüder  Grimm  mit  nordischen  Gelehrten 
S.  42,  Wilhelms  Kleinere  Schriften  2,  119. 

")  Jacobs  Kleinere  Schriften  1, 169. 

")  Jugendbriefe  S.217;  vgl.  Jacobs  Kleinere  Schriften  1, 169.  170. 

")  1813  S. 161. 

")  Kleinere  Schriften  2,104. 

'•)  Vgl.  darüber  Wilhelms  Briefe  an  Görres  (Görres  Gesammelte 
Schriften  8,388),  an  Nyernp  (Brfw.  mit  nordischen  Gel.  8.75),  an 
Benecke  (Briefe  der  Brüder  Jacob  und  Wilhelm  Grimm  an  Georg 
Friedrich  Benecke,  Göttingen  1889,  S.  178). 

>•)  Briefe  über  Merkwürdigkeiten  der  Litteratur  (1767)  1,110. 

"}  Epigrammen  und  vermischte  Gedichte  (1805)  2,393. 

38* 


576  Steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder. 

M 

Schwerer  ward  es  ihm  mit  Herder;  denn  seine  Übersetzung 
^ist  so  gut  als  sie  es  sein  kann,  und  es  fehlt  ihr  nicht  das 
Eigenthümlich- angenehme,  was  alles  bekam,  das  er  an- 
rührte'. 

Die  Idee  des  Liedes  ist  nach  Wilhelm  Grimm  folgende. 
Die  Elfen  -  Jungfrauen  finden  den  halbschlafenden  Knaben; 
wunderbar  ist  Träumen  und  Wachen  bei  ihm  vereinigt. 
Von  seiner  Schönheit  entzückt  wollen  sie  ihn  verfuhren. 
Aber  er  gehört  ihnen  erst  in  dem  Augenblick,  wo  er 
das  erste  Wort  mit  ihnen  spricht.  Sie  versuchen 
alles,  ihn  zu  berücken:  Schmeicheleien,  Gesang,  der  die 
ganze  Natur  bewegt;  sie  versprechen  Weisheit  und  Gold; 
sie  tanzen  vor  ihm;  sie  drohen  mit  blinkendem  Hesser. 
Der  Knabe  hält  sich  noch,  er  stützt  sich  in  seiner  Angst 
auf  das  fest  umklammerte  Schwert.  Doch  kann  er  die 
Augen  nicht  von  dieser  überirdischen  Schönheit  abwenden; 
schon  wankt  sein  Geist,  halb  verwirrt;  schon  will  er  sich 
zu  ihnen  neigen  —  da  kräht  der  Hahn,  er  erwacht,  und 
für  diesmal  ist  er  gerettet. 

Gleich  in  der  ersten  Strophe 

Da  kamen  gegangen  zwo  Jungfraun  schön, 
Die  thäten  mir  lieblich  winken 

beging  Herder  einen  schlimmen  Fehler.  Seine  Freiheit 
^lieblich  winken',  zu  der  er  sich  offenbar  des  Reimes  wegen 
(zu  'sinken')  verleiten  Hess,  entstellt  den  Sinn  und  nimmt 
dem  Lied  seine  Bedeutung.  Wilhelm  Grimm  sah  den 
Nachdruck,  der  auf  dem  'reden'  liegt,  und  aus  diesem  Ge- 
fühl übersetzte  er  —  freilich  sich  selbst  nicht  zur  Genüge 
—  'Die  wollten  Rede  so  gern  mit  mir  haben'.  Sinnstörend 
ist  es  ferner,  dass  Herder  zweimal  (Str.  9. 10)  'der  muntre 
Jüngling'  sagt,  wo  der  dänische  Text  'der  schöne,  junge 
Knab'  verlangt.  Denn  ein  Träumender,  Herzbeklemmter 
sitzt  da,  kein  'muntrer'  Jüngling. 

Auch  eine  Reihe  von  Einzelfehlern  war  Wilhelm  Grimm 
in  der  Lage  aufzudecken.  Herder  Str.  2  von  den  Jung- 
frauen: 'Die  Eine,  sie  strich  mein  weisses  Kinn'.  Statt 
'Kinn'  muss  es  'Wange'  heissen.  —  Die  Jungfrauen  locken 
den  Knaben  vergeblich  mit  ihrem  Gesänge,  der  ist  so  schön 
(Herder  Str.  4.  5) : 


steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder.  577 

Der  brausende  Strom,  er  floss  nicht  mehr, 
Und  horcht  den  süssen  Tönen. 

Von  der  zweiton  Zeile  steht  keine  Silbe  im  Original;  Herder 

hat   es   hier    offenbar    nicht    verstanden.       Kach    Wilhelm 

Grimm: 

Der  reissende  Strom  stand  still  dabei, 
Der  gewohnt  war  sonst  zu  rinnen. 

Wie  der  Strom,  so  werden  auch  die  Fischlein  in  ihm 

bezaubert;  Herder  Str.  5: 

Die  Fischlein  schwammen  in  heller  Fluth, 
Mit  ihren  Feinden  spielend. 

Feinden?!    Hier  sind  zwei  im  Dänischen  ähnlich  klingende 

Wörter  verwechselt,   was  Grimm  natürlich  vermied: 

Mit  ihren  Flossen  spielten  die  Fischlein  klein, 
Die  in  den  Fluthen  schwimmen. 

Lockende   Versprechungen   folgen ,    gaukelnder   Tanz ; 

Herder  Str.  9 : 

Sie  tanzten  hin,  sie  tanzten  her; 
Zu  buhlen  ihr  Herz  begehrt. 

Der   zweite  Yers    ist   wieder  willkürliche   Erfindung.     Der 

Urtext  bietet  vielmehr,  in  Grimms  Übertragung: 

Sie  tanzten  auf,  und  sie  tanzten  ab, 
Da  in  dem  Elfen  Zug 

und  gemeint  ist  die  Fährte  der  Elfen,  wie  man  am  Morgen 
noch  ihre  Spuren  in  dem  bethauten  Grase  zu  sehen  glaubt. 
Schon  will  der  Jüngling  erliegen  — 

Und  da  mein  gutes,  gutes  Glück! 
Der  Hahn  fing  an  zu  krähen. 

So  Herder  Str.  11,  trefflich  dem  Sinne  nach.  Aber  im  alt- 
dänischen Lied  schlägt  der  Hahn  seinen  Fittich;  drum 
gibt  Wilhelm  Grimm: 

Hätte  Gott  nicht  gemacht  mein  Glück  so  gut, 
Dass  der  Hahn  schwang  die  Fittich  sofort  .... 

und  setzt  erläuternd  hinzu :  'Dass  das  Krähen  zuletzt  durch 
das  Schlagen  der  Fittiche  soll  angedeutet  werden,  glaub' 
ich  selber;  allein  wie  viel  lebendiger  und  poetischer  daher 
ist  es,  wenn  die  Bewegung  dabei  ausgedrückt  wird'.  — 
Herder  hatte  bekanntlich  noch  kein  Yerständniss  für  den 
Refrain,  diesen  charakteristischen  Theil  des  Volksliedes. 
Er  lässt  ihn  auch  in  der  Elvershöh :  'Seitdem  ich  sie  zuerst 


578  Steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder. 

gesehn^  beide  Mal,  am  Schlüsse  der  ersten  und  letzten 
Strophe,  einfach  fort.  'Sehr  zum  NachtheiP,  sagt  Wilhelm 
Grimm.  Welch  erschütternde  Wirkung  übt  er  am  Schlüsse: 
'seitdem  er  sie  zuerst  gesehn  —  wie  nah  war  ihm  der  Tod!' 

Diese  und  noch  einige  andere  'ganz  fehlerhafte  sinn- 
entstellende  Übersetzungen^  hatte  Wilhelm  Grimm  zur  eig- 
nen Rechtfertigung  bei  Herder  bloss  legen  müssen.  Das 
that  ihm  weh,  weil  es  vielleicht  pietätlos  scheinen  mochte, 
und  er  suchte  den  ihm  theuren  Mann  zu  entschuldigen  : 
'Ich  hatte  bei  meiner  Übersetzung  wohl  Herders  Fehler 
gesehen,  aber  dieser  Mann,  vor  dem  ich  gern  mit  Ehrfurcht 
zurücktrete,  gesteht  selbst  seine  geringe  Bekanntschaft  mit 
nordischen  Sprachen  ^^),  und  es  wäre  mir*  nie  eingefallen, 
ihrer  zu  gedenken'. 

Es  war  nur  ein  Schritt  weiter  auf  der  betretenen  Bahn, 
wenn  Wilhelm  Grimm  im  Verein  mit  Jacob  die  'Lieder  der 
alten  Edda'  übersetzte.  Auch  hier  hatte  Herder  den  Weg 
bereitet.  'Was  für  Handlung  in  Odins  Höllenfahrt  f  rühmte 
er  in  den  Blättern  von  deutscher  Art  und  Kunst  und  theilte 
das  Stück  schon  damals  seinen  Lesern  mit.  Nebst  zwei 
anderen  wurde  es  dann  in  die  Volkslieder  aufgenommen. 
Freilich  konnte  und  wollte  Herder  'keine  kritische  Über- 
setzung' geben**);  sondern  nur  eine  Probe,  'wie  er  sich 
(und  zwar  eine  Reihe  von  Jahren  zurück,  da  von  der  Nor- 
dischen Bardenpoesie  noch  nichts  erschallet  war),  diese 
berühmte  Stücke  dachte  und  zu  eignem  Verständniss 
übersetzte'.  Die  nordischen  Volkslieder  werden  von  ihm 
auch  im  zweiten  Bande  der  Ideen  gestreift.^^)  Er  suchte 
in  dem  Horenaufsatz  'Iduna,  oder  der  Apfel  derVerjüngung'^^) 
den  ganzen  Inhalt  der  nordischen  Mythologie  zu  umspannen. 
Und  dennoch  durften  die  Brüder  Grimm  behaupten,  dass 
das  deutsche  Publicum  'diese  alten  Lieder,  wie  überhaupt 


*■)  Wilhelm  Grimm  dachte  dabei  vielleicht  an  Herders  Bemer- 
kungen zur  Voluspa  (Sämmtl. Werke  25,  96.  541). 

1»)  Sämmtl.  Werke  25, 541. 

")  Ebenda  13,  330. 

")  Vom  Jahre  1796.    Sämmtl.  Werke  18,  483. 

=«)  Wilhelms  Kleinere  Schriften  1,  215. 


steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder.  579 

die  nordische  Mythologie  entweder  gering  schätzte  oder  aus 
Herders  Lob  nur  entfernt  kannte.'^*) 

'Wers  besser  kann,  mache  es  besser!'  hatte  Herder  in 
den  Volksliedern^')  von  seinen  Eddaproben  gesagt.  Die's 
besser  konnten  und  besser  machten,  waren  die  Brüder 
Grimm. 

Sie  hatten  früh  das  Studium  des  Altnordischen  aufge- 
nommen. Von  wie  geringen  Vorarbeiten  aus!  Noch  im 
Jahre  1809  war  für  Jacob  von  der  Hagen s  Bemerkung  *neu 
und  interessant',  dass  in  der  altnordischen  und  ebenso 
in  der  altsächsischen  Poesie  statt  des  Reimsystems  das  der 
Allitteration  gefunden  wird.**)  Wilhelm  legte  dem  wenig 
Bedeutung  bei:  die  Bemerkung  sei  schon  längst  gemacht 
und  ihm  bekannt.  Worauf  Jacob  zurückschrieb:  'Die  Be- 
merkung über  die  Allitteration  hatte  ich  auch  schon  früher 
bei  Herder  gefunden,  und  auf  wen  sich  dieser  berief,  ge- 
sehen, ich  glaube  auf  Wormius  und  Hickes,  allein  das 
genauere  System  und  die  Allgemeinheit  für  die  nordische 
Poesie  hat  Hagen  zuerst  behauptet'.**)  Die  Brüder  dachten 
hierbei  wohl  an  folgende  Stelle  aus  dem  'Briefwechsel  über 
Ossian  und  die  Lieder  alter  Völker' :  'Sehen  Sie  einmal  im 
Worm,  im  Bartholin,  im  Peringskjöld  und  Verel  ihre  Ge- 
dichte an  —  wie  viel  Sylbenmaasse ! .  .  ähnliche  Anfangs- 
sylben  mitten  in  den  Versen  symmetrisch  aufgezählt  .  . 
ähnliche  Anfangsbuchstaben  zum  Anstoss,  zum  Schallen  des 
Bardengesanges  in  die  Schilde'.  Bereits  aber  in  der  Vor- 
rede, bestimmter  noch  in  der  Nachschrift**)  der  altdänischen 
Heldenlieder  versprach  Wilhelm:  'Gemeinsam  mit  meinem 
Bruder  werde  ich  diese  [damals  zum  Theil  noch  ungedruckte] 
Edda  mit  einer  deutschen  Übersetzung  herausgegeben'. 
Einige  Zeit  bestand  dann  die  Absicht,  dies  zusammen  mit 
dem  skandinavischen  Alterthumsforscher  Rasmus  Christian 
Rask  zu  thun.  Um  darauf  die  öffentliche  Aufmerksamkeit 
zu  lenken,  schrieben  die  Brüder  1812  die  Abhandlung  über 


")  Sämmtl.  Werke  25,  471. 

'*)  In  von  der  Hagens  Eecension  der  Docenschen  Miscellaneen 
Jena.  Allg.  Lit.  Zeitung  1809  S.  161. 
»)  Jugendbriefe  S.  139.  147.  151. 
«•)  Kleinere  Schriften  1, 186.  203. 


580  Steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder. 

'die  Lieder  der  alten  Edda'.^'')  In  dem  geschichtlichen 
AbrisB  werden  auch  Herders  Verdienste  auf  diesem  Felde 
gewürdigt. 

Der  Plan  zerschlug  sich  aber.  Die  Brüder  gaben  des- 
halb 1815  ihr  Buch  allein  heraus:  links  den  Urtext,  rechts 
die  Obersetzung,  am  Schlüsse  eine  Wiedergabe  in  Prosa. 
Es  blieb  jedoch  unvollendet,  der  erschienene  erste  Band 
enthält  nur  etwa  ein  Drittel  der  ganzen  Sammlung.  Herders 
Stücke  sind  nicht  darunter.  Ein  Abwägen  der  Leistungen 
ist  daher  nicht  möglich.  Wer  sich  aber  Herders  unzuläng- 
liches, der  Grimms  ernstes  Wissen  auf  diesem  Gebiete  gegen- 
wärtig hält,  wird  wissen,  wohin  das  Zünglein  der  Wage 
schwanken  würde.  Julius  HofFory  hat  die  Grimmsche  Prosa- 
übersetzung 'zum  4.  Januar  1885'  —  Jacobs  hundertjährigem 
Geburtstage  —  neu  herausgegeben.  Nach  ihm  ist  diese 
Übertragung  nicht  bloss  die  schönste,  sondern  auch  dem 
Geiste  nach  die  treueste,  die  es  gibt. 

Wilhelm  hatte  von  jeher  eine  besondere  Neigung,  der 
Verwandtschaft  zwischen  den  nordischen  und  deutschen 
Liedern  nachzuspüren.  Aus  diesem  Gesichtspunkte  betrach- 
tete er  auch  die  englischen  Volkslieder.  Er  fand,  dass 
ihnen  die  altdänischen  ^sowohl  an  Tiefe  und  Weltansicht, 
als  in  der  äusserlichen  Darstellung'  ähnlich  seien.^^)  Das 
war  schon  im  J.  1777  von  Herder,  als  er  'von  Ähnlichkeit 
der  mittlem  englischen  und  deutschen  Dichtkunst'^®)  schrieb, 
ausgesprochen  und  fast  genau  so  begründet  worden,  wie 
von  Wilhelm  Grimm  in  der  Vorrede  zu  den  altdänischen 
Heldenliedern.  Ohne  Zweifel  hat  Grimm  den  Aufsatz  ge- 
kannt und  auf  sich  wirken  lassen.  Juten  und  Angelsachsen, 
Normannen,  Dänen  hätten  nach  einander  die  Insel  einge- 
nommen und  beherrscht.  Er  verglich  das  dänische  Lied 
vom  'Helden  Vonved''®)  mit  dem  von  Herder  übersetzten 
englischen   Strassenlied   'die   drei   Fragen'.'^)      In   beiden 

")  Morgenblatt  für  gebildete  Stände,  Wilhelms  Kleinere  Schriften 
1,  213. 

*")  Vorrede  zu  den  altdänischen  Heldenliedern,  Kleinere  Schrillen 
1,  193. 

*')  Deatsches  Museum  2,  421. 

")  Altdänische  Heldenlieder  S.  227. 

")  Sämmtl.  Werke  25, 178. 


steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder.  581 

werden  Räthsel  vorgelegt:  der  seltsame  Held  Yonved  gibt 
den  Hirten  über  das  Edelste  und  Abscheuungswürdigste, 
über  den  Qang  der  Sonne  und  die  Ruhe  des  Todten  zu 
rathen  auf;  die  Beantwortung  ^dcr  drei  Fragen'  erwirbt  der 
jüngsten  Tochter  einer  Wittwe  den  Ritter  zum  Gemahl. 

Eine  Frucht  dieser  Beschäftigung  waren  die  ^drei  alt- 
schottischen  Lieder'  in  Original  und  Übersetzung,  1813 
bekannt  gemacht.'^)  Namentlich  das  erste,  Lord  Randal, 
bewegt  durch  das  Einfache  und  Grossartige  der  Darstellung. 
Sein  Seitenstück  ist  nach  Form  und  Inhalt  ^Grossmutter 
Schlangenköchin'  in  'des  Knaben  Wunderhorn'.'*)  Zu  einer 
^Auswahl  der  Originale  mit  Glossar  und  Erläuterung'  und 
zu  einer  'Übersetzung  nach  den  Grundsätzen,  die  bei  der 
Übersetzung  der  Kämpe -Viser  befolgt  sind',  wie  zugleich 
angekündigt  wurde,  ist  es  indessen  nicht  gekommen. 
Yielleicht  weil  Wilhelm  Grimm  trotz  aller  Ähnlichkeit 
ihren  'bestimmten  Unterschied'  fühlte.  Es  schien  ihm, 
dass  die  englischen  und  schottischen  Lieder  'als  später 
gesammelt,  ausgebildeter,  aber  auch  breiter'  wären;  dass 
sie  einen  weniger  festen  Umriss,  dafür  aber  'etwas  Zartes 
und  eine  eigenthümlicho  Mischung  von  Trauer  und  Weh- 
muth'  hätten,  wodurch  sie  offenbar  mit  dem  Ossian  zusam- 
menhingen.^^) Dieselbe  Empfindung  hatte  ehedem  Herder 
gehabt.  'Ohne  Zweifel  (heisst  es  in  'deutscher  Art  und 
Kunst')  waren  die  Skandinavier,  wie  sie  auch  in  Ossian 
überall  erscheinen,  ein  wilderes,  rauheres  Volk,  als  die  weich 
idealisirten  Schotten:  mir  ist  von  jenen  kein  Gedicht  be- 
kannt, wo  sanfte  Empfindung  ströme'.  Für  Wilhelm  Grimm 
war  diese  Poesie,  da  er  sich  immer  tiefer  in  die  kraftvolle 
deutsche  Vorzeit  versenkte,  zu  modern,  sein  Interesse  daran 
verlor  sich. 

Nicht  bloss  die  Sammlung  der  vernachlässigten  deut- 
schen Volkslieder  war  von  Herder  empfohlen  worden. 
'Auch  die  gemeinen  Volkssagen,  Mährchen  und  Mythologien 


'*)  Sie  waren  mit  dem  oben  erwähnten  Sendschreiben  verbunden; 
abgedinickt  in  den  Kleineren .  Schriften  1,228. 

")  1,  19. 

»*)  Kleinere  Schriften  1,  193.  233. 


582  Steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder. 

gehören  hierher'  (schrieb  er  schon  1777).'*)  Er  beklagte, 
dass  niemand  da  sei,  der  sie  sammele.  Denn  ^die  alte 
wendische,  schwäbische,  sächsische,  holsteinsche  Mythologie, 
sofern  sie  noch  in  Yolkssagen  und  Yolksliedern  lebt,  mit 
Treue  aufgenommen,  mit  Helle  angeschaut,  mit  Fruchtbar* 
keit  bearbeitet,  wäre  wahrlich  eine  Fundgrube  für  den 
Dichter  und  Redner  seines  Volks,  für  den  Sittenbilder  und 
Philosophen'.  Am  Abend  seines  Lebens  kam  Herder  auf 
die  Märchen  zurück.  Er  wies  ihnen  1799  einen  Platz  in 
der  Ankündigung  seiner  ^Aurora'  an.'^)  Der  zweite  Band 
der 'Adrastea'  1801  brachte  die  Abhandlung  über 'Mährchen 
und  Romane'.  Wie  sinnig  redet  Herder  darin  von  den 
Kindermärchen!  Eine  reine  Sammlung  wäre  ein  Weih- 
nachtsgeschenk für  die  junge  Welt  künftiger  Generationen. 
Er  selbst  gedachte  es  dem  deutschen  Volke  zu  bescheren. 
Wir  sehen  Caroline  schon  seit  i  796  an  der  Arbeit.  Sie  bat 
damals  Georg  Müllers  Frau,  ihr  Märchen  aufschreiben  zu 
lassen  ^gerade  wie  sie  erzählt  werden,  ja  nicht  daran  geputzt 
oder  geschminkt'.''^'')  Herder  selbst  konnte  nicht  mehr 
Hand  ans  Werk  legen. 

Jacob  und  Wilhelm  Grimm  traten  hier  in  Herders 
Fusstapfen.  Die  Sammlung  ihrer  Märchen  begann  schon 
1806^^),  zur  selben  Zeit  wie  Wilhelms  Übersetzung  der 
altdänischen  Heldenlieder,  die  ja  ^vieles  Hierhergehörige 
enthalten'. ^^)  Sie  bemühten  sich  gleichfalls,  die  Märchen 
^so  rein  als  möglich  aufzufassen'.  Achim  von  Arnim  trieb 
1812  in  Cassel  zur  Herausgabe  an.  Grimms  ^Kinder-  und 
Hausmärchen'  erschienen  1812,  1815.  Die  Vorrede  enthält 
zwar  kein  ausdrückliches  Anerkenntniss,  dass  Herder  ^wie 
so  vieles  Herrliche  auch  dies  angeregt  habe'.  Aber  eine 
Reihe  von  Gedanken,  auch  einige  geschichtliche  Hinwei- 
sungen, decken  sich  mit  den  von  Herder  vorgetragenen.   Wie 

'*)  Von  Ähnlichkeit  der  mittlem  englischen  und  deutschen  Dicht- 
kunst. 

»•)  Sämmtl.  Werke  23,  4. 

")  Ebenda  S.  286  ff.  und  Suphans  Einleitung  S.  XIL 

*•)  Wilhelms  Kleinere  Schriften  1,321,  wo  die  Vorreden  zu  den 
Märchen  abgedruckt  sind. 

")  Ebenda  S.  325. 


¥ 
* 


steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder.  583 

er  Volkslieder  und  Märchen  stets  in  enger  Zusammenge- 
hörigkeit dachte  und  nannte  (neben  einer  Märchenausgabe 
schwebte  ihm  noch  zuletzt  die  ''palingenisirte'  Sammlung 
der  Volkslieder  vor),  so  heisst  es  auch  bei  Grimms  in  des 
ersten  Märchenbandes  Vorrede,  dass  von  all  dem  Keich- 
thum  alter  deutscher  Dichtung  ^nur  die  Volkslieder  und 
diese  unschuldigen  Hausmärchen  übrig  geblieben  sind\ 
Kinder  sollten  das  Lesopublicum  sein.  Wie  zart  weiss 
Herder  von  der  Heiligkeit  der  Eindcrseele,  von  dem  poe- 
tischen Glauben  der  Kinder  an  die  Märchen  zu  sprechen ! 
Dieselbe  Zartheit  bei  den  Brüdern  Grimm:  'Innerlich  geht 
durch  diese  Dichtungen  dieselbe  Reinheit,  um  derentwillen 
uns  Kinder  so  wunderbar  und  selig  erscheinen'.  Aus  den 
Märchen  leuchteten  ihnen  gleichsam  wie  aus  einem  Kinder- 
antlitz die  'bläulich-weissen,  makellosen,  glänzenden  Augen' 
entgegen.  Freundliche  Gedanken  über  'Kinderwesen  und 
Kindersitten'  und  'Kinderglauben'  leiteten  die  zweite  Mär- 
ohenausgabe  vom  Jahre  1819  ein.*®)  —  Auf  diesem  Boden 
konnten  der  Brüder  'Irische  Elfenmärchen'  entstehen,  die 
aus  dem  Original  übersetzt  im  Jahre  1826  erschienen. 
Wilhelm  hat,  wie  wir  jetzt  auch  aus  den  Briefen  an  Georg 
Benecke**)  bestimmt  erfahren,  die  Vorrede  verfasst. 

Die  'Deutschen  Sagen',  die  1816,  1818  veröflfentlicht 
wurden,  sind  mit  den  Märchen  verschwistert.  Von  Herder, 
der  auch  auf  sie  wiederholt  hingewiesen  hatte,  war  noch 
keine  Grenze  zwischen  Märchen  und  Sage  gefunden  wor- 
den; und  erst  die  Brüder  Grimm  lehrten:  'Das  Märchen 
ist  poetischer,  die  Sage  historischer'.**) 

Wilhelms  Name  wird  auch  in  Verbindung  mit  den  ser- 
bischen Volksliedern  genannt,  welche  bereits  in  Herders 
Gesichtsweite  getreten  waren.**)  'Neunzehn  serbische  Lie- 
der, übersetzt  von  den  Brüdern  Grimm'  erschienen  1818  in 
Försters  Sängerfahrt.**)    Wilhelms  Antheil  ist  aber  sicher- 

*«)  Ebenda  S.  359.  399. 

**)  Briefe  S.  186;  vgl.  Beziehungen  der  Brüder  Grimm  zu  Hessen 
1,244. 

**)  Deutsche  Sagen  Vorrede  S.  V. 

♦»)  Säramtl.  Werke  25,  6rj3,  vgl.  Jacobs  Kleinere  Schriften  4,  455. 

**)  Abgedruckt  in  Jacobs  Kleineren  Schriften  4,  455. 


584  t  Steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder. 

lieh  nur  gering  gewesen,  die  treibende  Kraft  war  Jacob. 
Noch  ein  andrer  Plan  verdient  Erwähnung.  Jacob  sowohl 
wie  Wilhelm  hatten  sich  mit  Eifer  und  Erfolg  nach  alten 
Yolksbüchern  umgcthan.  Eine  Ausgabe  kam  allerdings 
nicht  zu  Stande.  Jacob  schrieb  1820  an  Hoffmann  von 
Fallersleben:  ^Was  Ihnen  aus  meiner  Sammlung  der  Volks- 
bücher  ansteht,  fordern  Sie,  denn  ich  selbst  werde  sie 
schwerlich  ordentlich  benutzen,  wie  ich  mir  wohl  früher 
einmal  dachte'.*^) 

Was  also  von  Herder  in  seinen  Volksliedern  begonnen 
worden  war,  das  hatte  Wilhelm  Grimm  an  seinem  Theile 
fortgeführt  und  vollendet.  '  Insofern  ein  Sohn  seiner  Zeit 
und  ein  echter  Vertreter  der  Romantik.  Er  traf  mit  Her- 
der noch  in  einem  andern  Punkte  zusammen,  in  seiner 
Vorliebe  für  den  Cid. 

Herders  Bemühungen  um  die  spanische  Litteratur  wer- 
den von  Wilhelm  Grimm  in  der  Recension  des  Homschen 
Buches  ausdrücklich  anerkannt.  Von  Herder  sind  die 
Brüder  vielleicht  auf  dies  Gebiet  geführt  worden.  Jacob 
gab  ja  1815  seine  ^silva  de  romances  viejos'  zu  Wien  her- 
aus. Wilhelm  lernte  1809  durch  Clemens  Brentano  in 
Halle  die  spanischen  Lieder  vom  Cid  kennen.*^)  Er  ^ach- 
tete sie  sehr  hoch'^''),  wenn  er  gleich  meinte,  dass  sie  von 
den  dänischen  Liedern  an  Tiefe  und  Bedeutsamkeit  über- 
troffen würden.  Herders  Cid  galt  ihm  als  'eins  seiner  voll- 
endetsten Bücher'.  Um  so  mehr  verargte  er  es  Hörn,  dass 
er  dies  Werk  gar  nicht  erwähnt  hatte:  statt  mancher  über- 
flüssiger Sachen  hätte  er  lieber  bei  ihm  eine  Auseinander- 
setzung des  Verhältnisses  zu  den  spanischen  Originalen 
gelesen.^®)  An  den  altrussischen  Heldenliedern,  die  in 
deutscher  Nachbildung  1819  erschienen  und  von  ihm  in 
den  Göttingischen  gelehrten  Anzeigen  besprochen  wurden^*), 
lobte  er  ^das  gewählte  Mass,  die  vom  Assonanzenzwang 
befreiten  spanischen  Redondillas,  wie  sie  Herder  in  seinem 

")  Germania  (1866)  11,  379. 

")  Jugendbriefe  S.  146.  150.  158. 

♦^)  Kleinere  Schriften  2,  3  (vom  Jahre  1811). 

")  Ebenda  1,  279. 

«•)  Ebenda  2,  274. 


steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder.  585 

Cid  gebraucht';  es  nöthige  wenigstens  nicht  zu  Verände- 
rungen und  Verdrehungen,  Diese  gelegentlichen  Aussprüche 
lassen  eine  gründliche  Kenntniss  des  spanischen  wie  ^  des 
Herderischen  Cid  hervorblicken.  Grund  und  Anlass  des 
Studiums  liegt  klar  zu  Tage. 

Wilhelm  übersetzte  und  sammelte  für  Leser,  welche 
die  ^freie  Lust'  zu  der  Poesie  führte.  Doch  blieb  er  dabei 
nicht  stehen,  sondern  schritt  zur  Forschung  weiter ;  für  ihn 
bildete  die  Geschichte  seiner  Stoffe  ein  eigenes  Studium.^®) 
Im  letzten  Grunde  lauter  Vorarbeiten  für  die  ^deutsche 
Heldensage'.  Das  Wesen  der  Sage  war  für  ihn  Poesie, 
weder  Geschichte  noch  Mythe.    Diese  aus  inneren  Gründen 

mm 

geschöpfte  Überzeugung  fand  er  an  andern  Sagen  bestätigt, 
deren  Bildung  sich  im  Lichte  der  Geschichte  vollzogen 
hatte.  In  der  Vorrede  zum  Rolandslied  1838  ist  ausgeführt, 
dass  die  Eerlingische  Sage  bei  allem  geschichtlichen  Schein 
wenig,  fast  gar  nichts  von  der  beglaubigten  Geschichte 
Karls  des  Grossen  aufgenommen  hat;  dass  sie  zwar  die 
Verhältnisse  seiner  Zeit,  nicht  aber  die  Ereignisse  derselben 
darstellt.  'Aus  spätem  Jahrhunderten  (führt  er  in  der 
Einleitung  zur  Vorlesung  über  die  Gudrun  aus^^))  will  ich 
die  Geschichte  des  Cid  nennen,  die  in  den  Romanzen  kaum 
eine  Ähnlichkeit  mit  dem  hat,  was  wir  aus  sicheren  Quel- 
len von  ihm  wissen'.  Also  das  Wesen  der  Sage  zu  ergrün- 
den —  dazu  hatte  ihm  auch  der  Cid  gedient. 

Diese  Gedanken  über  den  Cid  sind  zwar  erst  im  Jahre 
1843  ausgesprochen  worden,  aber  viele  Jahre  früher  ent- 
standen. Um  1820  führte  Grimm  mit  Lachmann  einen 
Briefwechsel  über  die  Nibelungen.  Lachmann  will  seine 
Ansicht,  dass  ursprüngliche  Einzellieder  erst  später  von 
einem  unbekannten  Ordner  zusammengefasst  seien,  stützen 
und  fragt  ^^):  ^Meinen  Sie,  dass  ein  Herder  des  15.  oder 
16«  Jahrhunderts  die  Romanzen  vom  Cid,  ohne  das  poema 
del  Cid  zur  Hand  zu  nehmen,  nicht  hätte  ordnen  können, 
und,  was  Herder  nicht  einmal  gethan  hat,  zusammenkütten?' 

")  Vgl.  besonders  Kleinere  Schriften  1,  200. 
•')  Kleinere  Schriften  4, 533. 

»*)  Brief  vom  17,  Juni  1820;  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie 
2,  208. 


586  Steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder. 

Eine  gewisse  Einseitigkeit  des  Ganzen  spreche  nicht  gegen 
diese  Annahme.  Denn  auch  Herders  Cid  'hält  man  leicht 
für  das  Werk  von  Einem,  da  doch  Herder  nichts  dran  ge- 
than  hat,  als  übersetzen,  und  (wenigstens  weiss  ichs  nicht 
anders)  hin  und  wieder  weglassen'.  Wilhelm  Grimm  ant- 
wortet^'): 'Ich  übersehe  Ihren  Brief  und  finde,  dass  ich 
noch  etwas  über  Herders  Cid  bemerken  muss,  den  Sie 
einigemal  zur  Stütze  genommen  haben.  Erstens  hat  Her- 
der, soviel  ich  weiss,  ziemlich  frei  übersetzt,  dabei  den 
critisch  gebildeten  Verstand  gehabt,  vorsichtig  zu  verfahren 
und  an  sich  zu  halten,  auch  für  einen  gleichen  Ton  zu  sorgen. 
Gleichwohl  sind  die  Stücke  doch  sehr  verschieden,  einige 
bloss  historisch,  andere  betrachtend  und  dramatisch.  Zwei- 
tens,  diese  Gedichte  gehören  einer  Eomanzenzeit  an,  und 
beruhen  auf  dem  historischen  Princip,  von  dem  schönen 
poetischen  Gefühl  jener  Zeit  gefärbt,  und  haben  keinen 
mythischen  Anfang  und  Mittelpunkt'. 

Was  würde  Herder  zu  dem  Lobe  gesagt  haben,  das 
ihm  hier  von  den  beiden  Meistern  der  deutschen  Sage  un- 
bewusst  gespendet  wird!  Keiner  von  ihnen  ahnte,  dass 
seine  Lieder  zum  allergrössten  Theile  einer  abgeleiteten 
französischen  Quelle  entstammten.  Sie  wussten  nicht  anders, 
als  dass  der  Cid  'nach  spanischen  Romanzen'  gedichtet  sei. 
Lachmann,  nach  dessen  Meinung  gar  Herder  'nichts  dran 
gethan,  als  übersetzen  und  .  .  hin  und  wieder  weglassen', 
konnte  daher  seine  Thätigkeit  fast  noch  geringer  anschlagen, 
als  diejenige  des  von  ihm  angenommenen  'Ordners'  der 
Nibelungen.  Grimms  Urtheil  ist  besser.  Weil  er  durcji 
sein  Studium  der  spanischen  Romanzen  auf  mancherlei  auf- 
merksam geworden  war,  worin  die  deutsche  Bearbeitung 
abstach,  konnte  er  schon  1812  die  Frage  nach  ihrem  Yer- 
hältniss  zu  den  spanischen  Originalen  aufwerfen.  Er 
suchte  auch  eine  Antwort  zu  geben:  Herders  Übersetzung 
sei  'ziemlich  frei',  er  habe  mit  kritisch  gebildetem  Verstände 
eingewirkt.**)    Auf  den  richtigen  Weg  ist  Wilhelm  Grimm 

»»)  Ebenda  2,211. 

•*)  Jacob  vertrat  dieselbe  Ansicht  wie  Wilhelm.  Er  schrieb  1812 
an  Tydeman  (Briefe  von  Jacob  Grimm  an  Hendrik  Wilhelm  Tyderoan, 
hg.  von  Alexander  Reifterscheid ,   Heilbronn  1883  S.  28) :    'Sie  kennen 


steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder.  587 

nicht  gekommen.  Dass  Herder  den  Geist  der  spanischen 
Komanzenpoesie  erfasst  und  unverfälscht  in  seine  Dichtungen 
gegossen  hatte,  das  führte  ihn  irre. 

Hiermit  enden  die  directen  Beziehungen  zwischen 
Herder  und  Wilhelm  Grimm.  Es  ist  nicht  schwer,  selbst 
für  Hauptwerke  der  Brüder,  wie  ^Heldensage'  und  ^Mytho- 
logie', eine  Anknüpfung  bei  Herder  zu  finden.  Beispiels- 
weise wenn  er  in  der  'Iduna'**)  bemerkt:  'Es  fehlte  der 
(deutschen)  Sprache  an  einer  eignen  Mythologie,  an  einer 
fortgebildeten  Heldensage'.  Yon  dieser  allerdings  wunder- 
baren Sicherheit  des  Gefühls  bis  zur  wissenschaftlichen 
Behandlung  der  Stoffe  dehnt  sich  ein  Weg,  dessen  Weite 
sich  kaum  messen  lässt.  In  den  späteren  Büchern  der 
Brüder  ist  nichts  von  der  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
bestehenden  Gleichartigkeit  Herderischer  und  Grimmscher 
Leistungen,  wie  sie  in  den  Jugend  werken  sich  zeigt,  zu 
finden.  Herder  wird  für  sie  eine  historische  Persönlichkeit. 
Wilhelm  schreibt  noch  1827  an  Fr.  Ad.  Ebert  in  Wolfen- 
bütteP^):  'Seit  einiger  Zeit  bin  ich  mit  einer  kritischen 
Ausgabe  der  Sprüche  des  Freidanks  beschäftigt,  und  denke, 
da  schon  Lessing  und  Herder*')  dieses  Werk  unter  ihre 
Flügel  genommen  haben,  nicht  bloss  denen,  welche  man 
Freunde  der  altdeutschen  Litteratur  nennt,  damit  einen 
kleinen  Gefallen  zu  erweisen'.  Fast  die  nämlichen  Worte 
kehren  dann  in  der  Ankündigung  des  Freidank  wieder. 
Und  1847  in  dem  Bericht  über  das  deutsche  Wörterbuch*®) 
wird  Herder,  ganz  historisch  eingeordnet,  neben  Wieland 
und  Schiller  zu  den  'hervorragenden'  Männern  gezählt,  die 
in  und  für  die  deutsche  Sprache  Bedeutendes  geleistet 
haben. 

In  den  Jugend  werken  also  offenbart  sich  Wilhelm 
Grimm  als  Herders  Schüler,   freilich  als  ein  Schüler,   der 

wohl  Herders  treffliche  Bearbeitung  (der  romanceros  del  Cid),  der  sich 
freilich  gar  nicht  strenge  ans  Original  gehalten  hat\ 

»»)  Sämmtl.  Werke  18,  487. 

*•)  Briefwechsel  des  Freiherm  von  Meusebach  mit  Jacob  und 
Wilhelm  Grimm  S.  313. 

")  Vgl.  Zerstreute  Blätter  5,  231  (Sämmtl.  Werke  16,  223). 
>«)  Wilhelms  Kleinere  Schriften  1,  510. 


588  Steig,  Wilhelm  Grimm  und  Herder. 

in  manchem  Betracht  über  den  Meister  hinausgekommen  ist. 
Im  vorletzten  Goethe -Jahrbuch  wird  eine  jüngst  erst  auf- 
getauchte Denkschrift  von  Ejiebel  über  die  deutsche  Litte- 
ratur  mitgetheilt.  Herder  (heisst  es  dort^*))  lieh  sich  allen 
gerne,  zur  Verbesserung  und  Yollkommenheit.  Suphan 
hat  im  Anschluss  daran  zur  Einführung  in  den  30.  Band 
seiner  Ausgabe,  der  Herders  Schul -Reden  und  -Bücher 
enthält,  das  schrankenlose  Lehrbedürfniss  als  den  Grund- 
zug seines  Wesens  hingestellt.  Wilhelm  Grimm  hatte  das 
ebenfalls  erkannt.  ^Herder  (sagt  er  1812)  hat .  .  die  Kraft 
seines  Lebend  an  die  Bildung  seines  Volkes  gesetzt'.  Auch 
Grimm  hatte  den  befruchtenden  Hauch  seines  Geistes  ver- 
spürt. 

Eine  —  man  möchte  sagen  —  persönliche  Freundschaft 
für  Herder  tritt  uns  bei  Wilhelm  Grimm  da  entgegen,  wo 
er  für  ihn  als  Menschen  einsteht.  Hörn  hatte  in  dem 
mehrfach  erwähnten  Buche*®)  die  Verstimmungen  in  Her- 
ders Alter  breit  getreten.  Wilhelm  Grimm  antwortet  dar- 
auf*^): 'Was  Herr  Hom  hinzufügt,  betrifft  grösstentheils 
einige  Schwächen  des  Alters,  Menschlichkeiten,  wie  sie 
auch  bei  Klops tock  getadelt  werden:  es  ist  nicht  die 
Frage,  ob  sie  wahr  oder  falsch,  sondern  es  ist 
unwürdig,  hier  davon  zu  reden.  Haben  doch  selbst 
^i^9  g^g^^  welche  Herder  so  gesprochen,  es  vergessen, 
weil  sie  fühlten,  dass  sie  selbst  einige  Schuld  daran  trugen 
und  dass  es  den  Verdiensten  dieses  reichen  und  milden 
Geistes  nichts  abziehe.  Vollends  übertrieben  lautet  es, 
wenn  Herder  wegen  eines  solchen  etwas  heftig  ausgedrück- 
ten Unwillens  ein  reintragischer  Charakter  in  seiner  letzten 
Zeit  genannt  wird  und  endlich  hochtragisch  mit  der  Medea 
verglichen,  die  im  Mord  ihrer  eigenen  Kinder  sich  rächend 
strafte.  Herder  hat  sein  Volk  geliebt  und  geachtet  und 
die  Kraft  seines  Lebens  an  die  Bildung  desselben  gesetzt; 
wenn  er  nun  im  Alter  Minuten  erlebte,  in  denen  er  sich 
verkannt  glauben  musste  und  seine  Bemühung  vergebens, 
so  kann  es    uns  nur  rührend  sein,    wenn  er  in  solchem 

*•)  1889  S.  132. 

••)  §§  63—65. 

")  Kleinere  Schriften  1,  278. 


Seuffert,  Heines  Heimkehr.  5g9 

Schmerz,  wie  Odysseus,  der  von  den  Göttern  geliebte,  von ' 
den  Göttern  verfolgte  und  von  seinem  Yaterlande  entfernte, 
ausruft:  ich  bin  müd  im  Leben  zu  sein  und  das  Licht  der 
Sonne  zu  schauen!^ 

^Reicher  und  milder  Geist'  —  wer  erkennte  in  diesem 
Herderbilde  nicht  Wilhelm  Grimms  eigene  Züge  wieder! 

Berlin.  Reinhold  Steig. 


Heines  ^Heimkehr". 

Dem  Leser  der  Abtheilung  ^Heimkehr*  im  Buch  der 
Lieder  gibt  Heine  wiederholt  einen  empfindlichen  Stoss  durch 
Rollengedichte,  welche  in  den  übrigen  Zusammenhang  der 
Ich 'Lieder  nicht  passen.  Wenn  man  auch  einige  Rollen- 
gedichte als  Stimmungsbilder  zur  inneren  oder  äusseren 
Situation  der  umgebenden  Lieder  gelten  lässt,  so  bleiben 
doch  mehrere  übrig,  welche  eine  solche  Deutung  nicht  zu- 
lassen, ja  sogar  an  sich  selbst  nicht  voll  verständlich  sind. 
Die  Erklärung,  Heine  habe  durch  sie  wie  durch  manche 
Schlussverse  anderer  Lieder  mit  Selbstironie  seine  eigene 
Stimmung  aufheben  oder  seinen  Lesern  die  Stimmung  ver- 
derben wollen,  schien  mir  immer  ungenügend.  Sind  sie 
durch  chronologische  Genauigkeit  an  ihre  Stellen  gekommen? 
dies  widerlegt  sich  dadurch,  dass  der  Dichter  die  nach- 
weislich ältesten  Stücke  51  und  66  nicht  an  die  Spitze 
gestellt,  also  die  zeitliche  Folge  nicht  streng  eingehalten 
hat.  Gedankenloser  Zufall  kann  auch  nicht  walten,  sonst 
wären  die  Lieder  der  Abtheilung  wohl  so  vorgetragen,  wie 
sie  in  den  ältesten  Drucken  standen.  Also  bleibt  nur  die 
Möglichkeit,  dass  jene  inhaltlich  und  formell  fremdartigen 
Stücke  eine  Bedeutung  für  den  Verlauf  des  Liederbüchleins 
haben,  d.  h.  denselben  auffällig  unterbrechen  und  so  in 
Gruppen  trennen  sollen.^) 


>)  Ich  merke  übrigens  an,  dass  ich  nicht  von  dieser  Postulatio 
aus  zu  den  folgenden  Beobachtungen  kam,  sondern  dass  mir  diese  erst 
den  Werth  der  Rollengedichte  klar  machten.    Ich  habe  sie  bald  nach 
Vierte\jahrschrift  für  LittoratuigoBchichte  III  39 


590  Seuffert,  Heines  Heimkehr. 

Im  allgemeinen  zwar  will  Heine  das  Büchlein  'Heim- 
kehr' als  ein  in  sich  geschlossenes  hinstellen.  Nr.  1  dient 
als  Einleitungslied,  hat  freilich  auch  Eigenleben^);  das  Thema 
wird  angegeben:  ich  habe  geliebt,  habe  die  Liebe  verloren 
und  singe  meinen  Schmerz.  Das  letzte  Lied  Nr.  88  könnte 
nicht  für  sich  stehen,  es  ist  nur  vor  oder  nach  einem 
'Büchlein'  möglich  und  ist  als  Schlussgedicht  verwendet; 
es  ergänzt  das  Thema :  in  diesem  Büchlein  sind  die  Lieder 
auf  meine  verlorne  Liebe  enthalten. 

Nr.  2,  die  Lorelei -Ballade,  spricht  nicht  von  Heines 
Liebe,  sondern  von  der  Gewalt  des  Weibes  über  den  Mann : 
das  Thema  wird  also  erst  objectiv  erörtert.  (Das  erste 
Lied  wird  dadurch  isolirt  und  bekommt  das  Gepräge  einer 
Einleitung.)  Eingang  und  Schluss  der  Ballade  stellen  den 
Bezug  zum  Dichter  her.  Auch  von  Nr.  3  ist  nur  Anfang 
und  Ende  persönlich,  die  Mitte  füllt  ein  Situationsbild,  an 
sich  stimmungslos,  nur  durch  eine  jähe  Wendung  dem  Aus- 
drucke der  Todessehnsucht  dienstbar  gemacht.  Nr.  4  schlägt 
wieder  das  Thema  der  eigenen  Liebe  an,  bereitet  auf  das 
'Liebchen'  vor.  Auch  im  nächsten  Gedicht  (5)  wandelt  der 
Dichter  noch  im  Walde,  aber  die  drei  letzten  Strophen 
zeichnen  eine  'verdriessliche'  Situation  im  Försterhaus  mit 
fremden  Figuren ;  weder  das  Yerhältniss  dieser  zu  einander 
ist  durchsichtig  motivirt,  noch  ihr  Bezug  auf  Heine  klar. 
Dass  hiermit  ein  starker  Einschnitt  gemacht  wird,  erhellt 
sofort  aus  dem  engen  Zusammenhang,  den  die  folgenden 
Lieder  nun  unter  sich  haben. 

Der  Dichter  findet  die  Familie  des  vermählten  Lieb- 
chens im  Bade  (6),  plaudert  mit  der  Badegesellschaft  (7) 
'am  Fischerhause'  sitzend.  Das  Fischerhaus  fesselt  ihn :  er 
wirbt  um  das  'schöne  Fischermädchen'  (8),  hält  es  umfan- 
gen (9).  Zwei  Seebilder  (10.  11)  verstärken  die  Strand- 
scene.     Nr.  12   setzt   die  Liebe   zur  Fischerin  phantastisch 

dem  Erscheinen  von  Elsters  lange  nicht  genug  gewürdigter  Ausgabe 
des  Buchs  der  Lieder  (Deutsche  Litteraturdenkmale  27)  und  durchaus 
mit  Benutzung  der  von  ihm  so  vortrefflich  vorgelegten  Daten  ange- 
stellt.   Auch  briefliche  Mittheilungen  Elsters  konnte  ich  nutzen. 

*)  *Ge8chrieben  im  Herbste  1823'  also  bevor  die  Sammlung  vor- 
handen war. 


Seuffert,  Heines  Heimkehr.  591 

fort;  sie  ist  schon  in  Nr.  9  als  Schwester  der  Seejungfrauen 
bezeichnet,  jetzt  erscheint  sie  im  Balladenkostüm  der  Meer- 
frau. Nr.  13  wird  wieder  realer,  kehrt  zu  dem  Pischer- 
bause  zurück,  vor  dem  auch  Nr.  14  spielt;  dies  Lied  besingt 
den  Abschied  und  schliesst  die  Fischerinepisode.  Es  folgt 
ein  Gedicht  mit  anderen  Figuren  (15),  aus  dem  Seebad 
sind  wir  auf  ein  Bergschloss  entrückt,  die  weiche  Stimmung 
ist  verflogen,  die  neue  frivole  Situation  ist  aufs  knappste 
und  ungenügend  gezeichnet;  äusserlich  knüpft  der  Dichter 
an  das  Zusammensein  mit  den  Muhmen  und  Basen  an,  die 
er  schon  (6  Y.  9)  erwähnt  hat. 

Nr.  16  bringt  völlig  Neues.  Heine  nähert  sich  der 
Stadt,  'wo  er  das  Liebste  verlor'.  Er  begrüsst(17),  durch- 
wandert sie  (18),  betritt  die  ^Hallen',  wo  ihm  die  Liebste 
Treue  versprochen  (19),  steht  vor  deren  einstiger  Wohnung 
(20).  Er  ist  für  sie  todt  (21),  aber  die  Todten  haben  Macht 
über  Lebende,  wie  eine  Ballade  (22)  erzählt.  Nach  den 
drei  Nachtbildern  eine  Tagesscene  (23):  der  Dichter  steht 
vor  der  Qeliebten  Bild,  beklagt  seinen  Schmerz  (24),  wünscht 
ein  Wiedersehen  (25),  erträumt  es  (26),  und  gibt  dann 
seinem  Schmerz  den  Abschied  (27). 

Das  Gedicht  28  gibt  einen  jähen  Wechsel  wie  Nr.  5 
und  15;  noch  schroffer  springt  es  aus  der  Umgebung  her- 
aus, weil  der  Dichter  sich  in  gar  kein  Yerhältniss  zum 
Inhalte  setzt;  so  verdriesslich  wie  das  Försterhaus  (5)  ist 
dies  Pfarrhaus ;  wie  dort  die  Grossmutter  so  hier  die  Mutter, 
dort  ein  fluchender  Enkel,  hier  ein  wüster  Sohn,  dort  seine 
wohl  aus  Liebe  weinende  Schwester,  hier  seine  verliebte; 
verständlicher,  weniger  skizzenhaft  als  Nr.  5,  aber  doch 
nicht  ganz  deutlich. 

Nr.  29  setzt,  so  wie  Nr.  6  nach  5  und  16  nach  15,  mit 
der  äusseren  Situation  des  Dichters  ein:  vom  Fenster  aus 
beobachtet  er  das  Strassenleben  einer  Stadt.  Mit  Lied  30 
kehrt  er  zu  seiner  Liebe  zurück;  es  knüpft  an  Nr.  27  an: 
da  hat  er  den  Schmerz  verabschiedet,  aber  die  Leute  mei- 
nen, er  gräme  sich  noch;  ja  wohl,  aber  nur  weil  er  das 
Geständniss  einer  neuen  Liebe  nicht  über  die  Lippen  bringt. 
Er  huldigt  der  Geliebten  (31),  ein  Freund  drängt  zur  Er- 
klärung (32),  aber  es  folgt  eine  Trennung  ohne  Aussprache 

39* 


592  Seufferi,  Heines  Heimkehr. 

(33).  Die  nächsten  drei  Stücke  erzählen  des  Dichters 
Seelenzustand  nach  dieser  Episode.  Er  klagt  über  man- 
gelnde Theilnahme  der  Freunde  an  seinem  Schmerz  (34), 
sie  loben  nur  seine  Verse;  er  vergräbt  sich  ins  Studium 
(35);  Nr.  36,  durch  die  Teufelsfigur  mit  dem  vorigen  ver- 
knüpft, spottet  über  seine  Geldnoth. 

Die  Ballade  von  den  h.  drei  Königen  (37)  taugt  in 
keiner  Weise  hieher,  sie  steht  völlig  isolirt,  fast  noch  fremd- 
artiger als  die  Scenen  aus  dem  Bergschloss,  dem  Forst- 
und  Pfarrhause;  soll  man  sie  symbolisch  fassen?  soll  ihr 
Stern  mit  dem  'goldnen  Stern\  der  den  Dichter  einst  nach 
Nordland  zog  (Litt.-Denkmale  27,  233)  identificirt  werden? 
hier  ist  kein  Anhaltspunkt  dafür  gegeben.  Das  nächste 
fremdartige  Einschiebsel  ist  die  Ballade  vom  König  Wis- 
wamitra  (45),  die  doch  wenigstens  durch  das  Liebesthema 
der  Umgebung  verwandt,  also  eine  schwächere  Unter- 
brechung ist.  Sie  spricht  von  Kampf  und  Busse  (Y.  7), 
und  die  vorausgehenden  Lieder  (38 — 44)  zeigen  des  Dich- 
ters Selbstbesinnung,  wenn  man  so  will:  Kampf  und  Busse; 
er  sieht  auf  seine  Vergangenheit  zurück,  gedenkt  der  Kin- 
derspiele (38)  und  setzt  der  frohen  Zeit  die  schlimme 
Gegenwart  entgegen  (39);  noch  einmal  contrastirt  er  einst 
und  jetzt  heiter  und  trüb  (40.  41),  gedenkt  der  Begegnung 
mit  einer  Dame  auf  dem  Rheine  (die  vielleicht  mit  der 
^schönen  Maid  am  blühenden  Rhein'  in  dem  Gedicht  an 
F.  V.  Zuccalmaglio  und  vielleicht  mit  der  Lorelei  zusammen- 
gebracht werden  darf)  und  triift  dann  eine  verarmte  Geliebte. 
Durch  das  Lied  42  weckt  ihn  ein  Freund  aus  dem  Nach- 
sinnen über  Vergangnes,  er  verspricht  Besserung  (43)  und 
verkündet  den  festen  Entschluss  der  Umkehr  (44). 

Der  neue  Frühling,  auf  den  er  (43)  hoffte,  bricht  an 
(46).  Die  folgenden  Lieder  erzählen  seinen  Inhalt.  Mit 
dem  Preis  des  schönen  und  reinen  Mädchens  setzt  Heine 
(47)  ein;  er  wünscht  und  fürchtet  Gegenliebe  (48),  träumt 
von  der  Geliebten  (49),  möchte  bei  ihr  sitzen  (50)  am  Win- 
terabend; er  hat  den  Frühling  im  Herzen,  obwohl  es  Winter 
ist  (51),  sie  ist  seine  Sonne  (52);  aber  er  kann  seine  Liebe 
nicht  aussprechen,  und  sie  liest  sie  nicht  aus  seinem  Gesichte 
(53),  obgleich  die  Freunde  seine  Verliebtheit  schon  bemer- 


Seuffert,  Heines  Heimkehr.  593 

ken  (54).  Da  gesteht  er  denn  seine  Liebe  und  wird  neckisch 
abgewiesen  (55).  Eifersucht  erwacht  (56),  er  denkt  auf 
Selbstmord  (57)  oder  doch  Entfernung  (58),  aber  ihre  Augen 
lassen  ihn  nicht  los  (59).  Nur  bleibt  er  ausgeschlossen 
aus  ihrer  Nähe  (60);  •  so  müssen  die  Winde  ihr  seine 
Schmerzen  zutragen  (61);  ihre  Augen  haben  ihn  bethört 
(62),  zum  zweiten  Male  liebt  er  ohne  Gegenliebe  (63).  Er 
soll  warten,  räth  man  ihm  (64),  aber  was  frommt  der  Rath, 
er  ist  ja  auf  sich  selbst  gestellt. 

Es  ist  fraglich,  ob  dieses  Lied  noch  Zusammenhang 
mit  der  Liebesepisode  hat,  zumal  es  in  der  1.  und  3.  Auf- 
lage des  Büchleins  durch  je  ein  fremdes  Stück  abgetrennt 
war;  jedenfalls  leitet  es  zu  den  persönlichen  Verhältnissen 
des  Dichters  über,  wie  die  drei  Nummern  34 — 36,  in  deren 
satirische  Stimmung  die  drei  Stücke  64 — 66  zurückfallen. 
Sie  reden  wie  Nr.  34  spöttisch  von  dem  Beifall,  den  Heines 
Gedichte  finden  (während  der  Dichter  nach  den  niederen 
Minnen  selbstbewusst  von  seinem  Berufe  spricht:  13.  72), 
und  mit  Selbstironie  schildert  der  auf  sich  selbst  Angewie- 
sene  in   einem   komischen  Märchen  seine  göttliche  Macht. 

Nr.  67  ist  wieder  ernst  gefühlt,  Abschied  von  Befreun- 
deten; es  folgt  die  Abreise  mit  der  Trennung  aus  schönen 
Armen  (68),  zwei  Situationsbilder,  denen  sich  als  drit- 
tes die  Erzählung  der  Reise  und  Anknüpfung  eines  Lie- 
besverhältnisses anschliesst  (69).  Der  Dichter  findet  die 
Reisegefährtin  (?)  in  prächtigem  Hotel  wieder  (70),  besucht 
sie  um  Mitternacht  (71),  phrasirt  von  (leicht  zu  scheiden- 
der) Ehe  (72)  und  bringt  gleich  darnach  den  Gegensatz, 
die  Untreue  der  Geliebten  (73) ;  Husaren  sind  seine  Neben- 
buhler; als  sie  wieder  abreiten  (74),  nähert  er  sich  aufs 
neue  und  sucht  die  um  die  verlornen  Liebhaber  klagende 
Schöne  durch  seine  Rückkehr  zu  trösten  (75);  sie  weist 
ihn  erst  ab  (76),  erhört  ihn  aber  dann  (77),  doch  da  fühlt 
er  selbst  sich  entfremdet;  Nr.  78  gibt  die  epigrammatische 
Aufklärung,  um  welche  Art  von  Liebe  es  sich  gehandelt 
hat,  was  übrigens  alle  Lieder  dieser  Episode  mit  Ausnahme 
von  Nr.  76.  77  deutlich  genug  verrathen.  In  Nr.  79  schliesst 
Heine  mit  einer  persönlichen  Äusserung  über  seine  Poesie 
ab  (wie  13.  34.  64—66). 


594  Seuffert,  Heines  Heimkehr. 

Nr.  80.  81  in  fremdem  spaniscbem  Kostüm  sprechen 
von  des  Dichters  Yerhältniss  zu  einer  Schönen  und  einem 
Schönen,  beide  schliessen  mit  Spott;  sie  scheiden  die  näch- 
sten Lieder  von  der  vorigen  Episode.  Diese  sind  Wander- 
lieder, Nr.  82.  83  geben  eine  kleine  Liebesepisode,  85 — 87 
sind  Landschafts-  und  Stimmungsbilder,  84  fugt  sich  etwas 
uneben  ein  (s.  u.  S.  596). 

Diese  Übersicht  über  das  Büchlein  ^Heimkehr^  ergibt 
das  Vorhandensein  bestimmter  in  sich  einheitlicher  Gruppen. 

L    Nr.    1 — 4    Einleitungsgedicht  nebst  Erweiterungen. 
5  Einschnitt. 

IL  6-14  Seebadepisode.     (Diese  Gruppe  war  in 

der  2.  Auflage  der  Reisebilder  um  zwei 
Seestücke  reicher.) 
15  Einschnitt. 

IIL  16-27  Verlorene  Liebe. 

28  Einschnitt. 

—    IV.  29 — 33  Neue  Liebe  ohne  Werbung,  nebst  einem 

Anhang  über  die  persönliche  Lage  des 
Dichters  34 — 36. 
37  Einschnitt. 

V.  38 — 44  Einkehr,     Jugenderinnerungen,     Ent- 

sohluss  zur  Umkehr. 
45  Einschnitt. 

^     VI.  46—63  Neue    Werbung    und    Zurückweisung, 

nebst  einem  Anhang  über  die  persön- 
liche Lage  des  Dichters  64 — 66.  (Nr. 
64  war  von  63  in  der  1.  und  2.  Auflage 
der  Beisebilder  durch  je  ein  frivoles 
Lied  getrennt.) 
66  dient  zugleich  als  Einschnitt. 

VII.  69 — 78  Eeisebekanntschaft,  nach  2  Liedern  des 

Abschieds  67. 68,  nebst  einem  Anhang 
über  die  persönliche  Lage  des  Dichters 
79.  (War  in  der  1.  Auflage  der  Reise- 
bilder um  vier,  in  der  2.  um  ein  ent- 
sprechendes Gedicht  stärker.) 


Seuffert,  Heines  Heimkehr.  595 

Nr.  80.    81  Einschnitt. 

VIII.  82 — 87  Wanderlieder,  nebst  dem  Schlussgedicht 

88.     (War  in  den  Reisebildern  t.Aufl. 
um  ein  niederes  Liebesgedicht  erweitert.) 

Bis  zu  Gedicht  64  ist  die  Ordnung  strenger  als  dar- 
nach. Gruppe  I  entspricht  Gruppe  VIII ,  Gruppe  II  und 
VII  erzählen  von  fluchtigen  Licbesgenüssen ,  Gruppe  III 
und  VI  von  zweifacher  vergeblicher  ernster  Liebe.  So  ist 
eine  kunstvolle  Rcsponsion,  die,  mich  wenigstens,  bei  Heine 
überrascht,  zumal  ich  noch  auf  einzelne  Entsprechungen 
hinweisen  konnte.  Man  möchte  darnach  geneigt  sein,  die 
ganze  Ordnung  des  Büchleins  als  eine  kunstmässige  anzu- 
sprechen. Und  doch  legt  Heine  selbst  nahe,  an  chrono- 
logische Ordnung  daneben  zu  denken. 

Er  gibt  nemlich  Andeutungen  über  den  Verlauf.  Nr.  3 
ists  Mai,  28  Herbst,  29  Winteranfang,  50.  51  Winter,  67  Ja- 
nuar (71  Winter?  wegen  des  Mantels),  80  Frühling,  83  Som- 
mer (Lämmerweide),  85  Sommer.  Dieser  Jahreszeitenlauf 
wird  nur  zweimal  gestört:  der  Nachtigallensang  Nr.  87  weist 
auf  den  Frühsommer  und  darf  als  poetische  Licenz  gelten ; 
der  Ausdruck  'neuer  Frühling'  in  Nr.  46  verliert  an  Sinn- 
lichkeit, wenn  man  ihn  mit  den  Worten  ^neuer  Liederfrüh- 
ling' 43  und  Trühlingslust'  im  Winter  51  zusammenhält; 
überdies  mag  Nr.  46  als  Einleitung  zu  Gruppe  VI  im  Früh- 
ling erzählen,  was  im  vorhergehenden  Winter  erlebt  ist. 

Ferner  hat  Heine  selbst  der  'Heimkehr'  das  Datum 
1823 — 1824  beigesetzt.  Nur  für  zwei  Lieder  können  wir 
diese  Angabe  widerlegen:  Nr.  51  und  66  sind  in  Taschen- 
büchern aufs  Jahr  1823,  also  schon  1822  erschienen.  Alle 
übrigen  gingen  zwischen  dem  März  1824  und  dem  Jahre 
1827  in  Druck:  das  spätere  Erscheinen  einzelner  Stücke 
muss  nicht  späteres  Entstehen  voraussetzen.  Auch  lassen 
sich  Heines  Angaben  in  folgender  Weise  äusserlich  stützen. 

Die  I.  Gruppe  versetzt  wahrscheinlich  in  den  Mai  1823: 
die  Beschreibung  in  Nr.  3  ^passt  genau  auf  die  damalige 
Localität  des  Lüneburger  Walles'.  —  Die  II.  Gruppe  weist 
auf  Heines  Aufenthalt  in  Cuxhaven,  Juli  und  August  1823; 
ein  Lied  daraus  ist  (Elster,  Heines  Sämmtl.  Werke  3,  30) 


596  Seuffert,  Heines  Heimkehr. 

nach  Briefe  1, 106  auf  den  Tag  datirbar:  22./23.  August  1823.') 
—  Die  lU.  Gruppe  greift  etwas  zurück,  erzählt  die  Ankunft 
in  Hamburg  vor  der  Badereise,  also  1.  Julihälfte  1823; 
Nr.  20  möchte  man  nach  einem  Briefe  (1,  101)  auf  den 
9.  Juli  1823  setzen;  dass  die  Lieder,  welche  der  geliebten, 
nun  mit  einem  andern  vermählten  Amalia  Heine  gelten, 
nicht  erst  bei  der  Rückkehr  von  Cuxhaven  nach  Hamburg 
gesungen  sind,  sondern  beim  ersten  Betreten  der  Stadt,  ist 
innerlich  wahrscheinlich  und  wird  äusserlich  durch  den 
Brief  vom  11.  Juli  1823  belegt.  —  V.  15  der  Nr.  35  zeigt 
Heine  beim  juristischen  Studium,  fällt  wohl  in  die  Lüne- 
burger Zeit  von  Ende  September  1823  an  (vgl.  z.B.  Briefe 
1,  115).  —  Nr.  37  ist  des  Stoffes  wegen  vielleicht  6.  Januar 
1824  anzusetzen.  —  Nr.  66  weist  nach  Berlin,  aber,  weil 
sie  schon  1822  gedruckt  ist,  in  den  damaligen  Berliner 
Aufenthalt.  Eben  dahin  führt  (wegen  des  prächtigen  Hotels 
und  bestimmter  wegen  der  in  der  1.  Auflage  der  Reisebilder 
hier  eingefügten  Strophe  ^grüsse  mich  nicht  unter  den 
Linden')  Gruppe  VH,  die  wohl  in  die  Berliner  Osterreise 
1824  zu  verlegen  ist  mit  Ausnahme  der  Ende  März  1824 
gedruckten  Nummern  71.  72.  78.  —  Gruppe  VIH  gehört 
trotz  der  sommerlichen  Jahreszeit  sicher  der  Harzreise  von 
Mitte  September  bis  ll.October  1824  an;  Nr. 82  kann  auf 
'Harzreise'  (Elster,  Sämmtl.  Werke  Bd.  3)  S.  37  gehen 
(Lockenköpfchen  am  Fenster),  Nr.  83  auf  S.  23  (Glöckchen 
der  Herde  läuten,  aufgehende  Sonne),  wonach  der  Ort  für 
Nr.  83  Osterode  wäre*) ;  Nr.  84  ist  vielleicht  durch  *Harz- 
reise'  S.  58.  68  angeregt  oder  durch  den  Besuch  Halle's*); 
Nr.  85  erinnert  an  S.  34  (Wiesen,  silberne  Wasser,  grüne 
Bäume,  Märchen).  An  den  kurzen  Harzbesuch,  den  der 
Brief  vom  4.  April  1824  erwähnt,   darf  man  der  Jahreszeit 


')  Das  Erlebniss  yon  Nr.  6  weiss  ich  allerdings  nicht  biographisch 
nachzuweisen;  die  Notizen  über  des  Onkels  Becreationsreise  und  den 
Aufenthalt  auf  des  Oheims  Gut  (Briefe  Yom  11.  Juli  und  27.  September 
1823)  reichen  nicht  aus. 

*)  Nr.  82.  83  scheinen  allerdings  zusammengehörig,  so  doss  man 
filr  82  lieber  auch  eine  Osteroder  Begegnung  annehmen  möchte. 

')  Elster  macht  mich  aufmerksam,  dass  die  Hallischen  Studenten 
von  den  Behörden  besonders  gedrückt  worden  zu  sein  scheinen. 


SeuffSert,  Heines  Heimkehr.  597 

der  Lieder  wegen  noch  weniger  denken.  —  So  wäre  das 
Buch  'Heimkehr'  (mit  zwei  Ausnahmen)  zwischen  dem  Mai  I 
1823  und  dem  October  1824  begrenzt,  womit  Heines  Dati-  \ 
rung  übereinstimmt. 

Diese  Beobachtungen  legen  es  nahe,  auch  die  übrigen 
Lieder  zeitlich  zu  bestimmen  und  biographisch  zu  erklären, 
wobei  die  Möglichkeit  von  Yerschiebungen  wie  zwischen 
Oruppe  II  und  III  zu  beachten  bleibt. 

Dass  nicht  6in  Liebesroman,  wie  das  erste  und  letzte 
Lied  erwarten  lassen,  vorliegt  sondern  mehrere,  ist  ersicht- 
lich geworden ;  alle  Liebesverhältnisse  aber  sind  nicht  dau- 
ernd (vgl.  Nr.  14.  27.  33.  41.  63.  68.  77.  80.  83),  und  das 
eint  sie.  Die  gemeinsame  Überschrift  'Heimkehr'  ist  frei- 
lich ungenau*),  da  zweifellos  mehrfacher  Ortswechsel  ein- 
tritt; am  liebsten  möchte  man  ihn  auf  Q-ruppelll  anwenden, 
die  Rückkehr  nach  Hamburg  in  die  einstige  Wohnstätte  ( 
der  verlorenen  Geliebten.  Übrigens  sollte  das  Büchlein 
zuerst  den  Titel  'Neues  Intermezzo'  führen  (Briefe  1,243); 
auch  dieser  würde  durch  die  Anknüpfung  an  das  Amalia 
gewidmete  Lyrische  Intermezzo  die  III.  Gruppe  als  Haupt- 
episode  herausgehoben  haben.  In  einem  Briefe  (1,  243) 
bezeichnet  Heine  den  Inhalt  des  ganzen  Büchleins  zutref- 
fend mit  den  Worten  'meist  Reisebilder' ;  die  Lieder  knüpfen 
an  Reiseerlebnisse  an;  in  Lüneburg  und  Göttingen,  wo  da- 
mals sein  Zuhause  war,  ist  wenig  Poetisches  entstanden 
(Briefe  1,  121.  128.  159.  169.  175).  Etwa  achtzig  kleine 
Gedichte  sollten  das  Büchlein  füllen  (Briefe  1,  243),  acht- 
undachtzig sind  es  thatsächlich,  es  mögen  also  nachträglich 
noch  ein  paar  zur  Ausrundung  dazugekommen  sein,  wie 
zwei  aus  früherer  Zeit  hereingezogen  wurden;  die  Nr.  56* 
57.  67.  76.  77.  81  unterliegen  diesem  Yerdachte  zuvörderst, 
weil  sie  erst  in  der  2.  Auflage  des  Büchleins  dazu  traten''): 

*)  Elster  fasst  (S&mmtl.  Werke  1,  4)  den  Aasdmck  strenge:  Heim- 
kehr ans  Berlin  ins  Elternhaus  zu  Lüneburg.  Gewiss  ist  ein  Theil  der 
Lieder  der  'Heimkehr'  in  Lüneburg  entstanden,  aber  die  massgeben- 
den Erlebnisse  des  Büchleins  liegen  ausserhalb  Lüneburgs.  Auch  ver- 
brachte Heine  hier  kaum  die  Hälfte  der  Zeit,  welche  die  Lieder  um- 
schliessen.    Ich  versuche  darum  den  Titel  innerlich  zu  erklären. 

^)  An  der  Summe  88  hielt   Heine   beharrlich   fest,   obwohl   der 


598  Seuffert,  Heines  Heimkehr. 

56  enthält  die  hier  allein  erwähnte  EiferBUchtsregong,  auch 
ist  Ausdrucksweise  und  Aufbau  des  Liedes  überlegter  und 
künstlicher  als  in  den  Liedern  unmittelbarer  Empfindungs- 
äusserung  (z.B.  62),  57  steht  in  allerdings  erklärbarem  Wider- 
spruch zu  55®),  67  ist  dunkel  und  bezuglos^),  76.  77  em- 
pfanden wir  als  zu  ernste  Stücke  der  Gruppe  YII,  81  aber 
gehört  wohl  nach  Göttingen  1824,  wie  das  vorbeigehende 
Lied  gleichen  Kostüms,  wegen  des  Relegirens,  obwohl  die 
Wälle  (wie  in  3)  nach  Lüneburg  weisen  können ;  alle  diese 
Lieder  sind  keine  unentbehrlichen  Glieder  der  Gruppen. 

Die  Gruppen  blieben  seit  der  ersten  Yeröifentlichung 
der  'Heimkehr'  die  gleichen*®),  es  sind  keine  Verschiebun- 
gen von  Liedern  aus  der  einen  in  die  andere  vorgenommen 
worden.  Dieser  Umstand  zusammen  mit  der  Thatsache, 
dass  Gruppe  II,  III  und  VIII  zweifellos,  Gruppe  VII  an- 
nähernd**) biographische  Einheiten  geben,  verbietet  nahezu, 
Lieder  auf  die  gleichen  Personen  in  verschiedene  Gruppen 
zerstreut  zu  suchen.  Jede  einheitliche  Gruppe  (nicht  I.  V) 
hat  ihre  Heldin.  Die  der  II.  und  VII.  zu  suchen,  lohnt 
sicli  nicht;  die  Dame  vom  Rhein,  die  Donna  auf  Salamancas 
Wällen*^),   das  Kind  das  den  Dichter  mit   schönen  Armen 


Inhalt  der  drei  ersten  Auflagen  unter  »ich  verschieden  ist.  Was  ans* 
geschieden  wurde,  ist  in  der  nächsten  Ausgabe  durch  andere  Nummern 
—  wenn  auch  an  anderer  Stelle  —  ersetzt. 

®)  Nr.  57  lässt  sich  vielleicht  mit  der  Stimmung  des  Briefes  vom 
14.  December  1825  in  Verbindung  setzen. 

•)  Abschied  von  Befreundeten  im  Juli,  Wiedersehen  derselben  im 
Januar  weiss  ich  aus  den  Jahren  1823 — 1827  nicht  nachzuweisen.  Die 
Nummer  kam  in  der  2.  Auflage  der  Beisebilder  an  andere  Stelle. 

")  Die  ersten  zerstreuten  VeröfFentlichungen  geben  nur  dürftige 
Ansätze  zu  solchen  Gruppenbildungen:  in  der  am  26.  März  1824  gedruck- 
ten Reihe  herrscht  Amalia,  in  der  am  27.  veröffentlichten  die  Fischerin 
und  in  der  vom  31.  Januar  1826  Therese  vor,  in  den  Reisebildem  1826 
tritt  die  Reisebekanntschaft  dazu. 

")  Nr.  71.  72  fallen  wie  gesagt  zeitlich,  Nr.  76.  77  der  Stimmung 
nach  heraus;  es  sind  also  hier  verschiedene  Verhältnisse  combinirt  und 
um  eine  Berliner  niedere  Minne  (wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist)  ver- 
einigt, die  den  Grundton  gibt.  Bei  dieser  Genussliebe  kam  es  nicht 
darauf  an,  die  Individualität  der  Uauptheldin  unvermischt  zu  erhalten. 

**)  Ich  erinnere  an  Heines  Brief  vom  25.  Februar  1824:  es  quäle 
ihn  ^nicht  mehr  die  frühere,  die  einseitige  Liebe  zu  einer  einzigen'. 


Seuffert,  Heines  Heimkehr.  599 

fest  umschlossen,  die  flüchtige  Harzbekanntschaft  lasse 
ich  ebenso  bei  Seite.  Das  Interesse  haftet  an  Oruppe  lY  ( 
und  VI  um  so  lebhafter,  als  Elster  für  die  meisten  dieser 
Lieder  Theresc  Heine*  als  Adressatin  entdeckt  hat  und  weil 
der  Gruppe  VI  die  hervorragendsten  Lieder  des  Büchleins 
angehören. 

Kann  die  in  diesen  Episoden  Gepriesene  eine  der  in 
andern  Gruppen  vorkommenden  Geliebten  sein?  Das  Pischer- 
mädchen  der  IL  Gruppe  redet  Heine  als  'Kleine'  an  (13), 
erwähnt  seine  schwarzbraunen  Augen  (13),  zweimal  seine 
weisse  Hand  (9.  14).  Gruppe  III  entbehrt  jeder  auszeich- 
nenden Beschreibung  Amalias:  sie  ist  ja  nicht  vor  den 
Augen  des  Dichters  gegenwärtig,  lebt  nur  als  Entfernte  in 
seiner  Erinnerung.'')  Gruppe  IV  theilt  mit  II  die  Anrede 
Kleine  (30),  spricht  aber  von  grossen,  süssen,  klaren  Veil- 
chenaugen der  Liebsten  (30.  31)  und  ihren  weichen  Lilien- 
fingem  (31).  Auch  Gruppe  VI  gilt  einem  kleinen  Mädchen 
(50)  mit  rothem  Mund  (50  vgl.  56)  und  kleiner  weisser 
Hand  (50);  das  Hervorstechendste  aber  sind  die  süssen, 
klaren,  prächtigen  (Saphir-)Augen,  auf  welche  der  Dichter 
ein  ganzes  Heer  von  Liedern  gesungen  haben  will  (62)  und 
deren  wenigstens  fünf  Lieder  Erwähnung  thun  (50.  56.  59. 
61.  62).  Gruppe  VII  spricht  nur  von  den  schönen,  weissen 
Armen  (73.  77)  und  dem  weissen  Busen  (73).^*)  Aus  die- 
ser Zusammenstellung  ergibt  sich  die  Erlaubniss,  Gruppe  lY 
und  VI  auf  6ine  Person  zu  beziehen. 

Nehmen  wir  nun  noch  Lied  6  zu  Hilfe:  da  spricht 
Heine  vom  Schwesterchen  der  geliebten  Amalia,  Therese 
Heine;  es  ist  als  Kleine  bezeichnet  und  seine  Augen  wer- 
den gerühmt,  weil  sie  denen  Amalias  gleichen;  auch  diese 
hat  blaue  Veilchenaugen  (Lyrisches  Intermezzo  30).  So 
wird  man  geneigt  sein  lY  und  VI  auf  Therese  zu  beziehen. 
Sie  verträgt  den  Namen  kleines  Mädchen,  da  sie  1823  erst 


^')  Ist  diese  Erklärung  richtigf  so  wird  man  die  Gegenständlich- 
keit der  Heineschen  Lieder  strenger  und  ernster  nehmen  müssen,  als 
gewöhnlich  geschieht,  und  seine  poetische  Wahrheit  höher  einschätzen. 

^*)  Die  Bezeichnung  'weiss'  ist  bei  Heine  am  wenigstens  sif^^ni- 
ficant.    Selbst  die  Fischcrin  hat  weisse  Hände  (9). 


600  Seuffertf  Heines  Heimkehr. 

15  Jahre  zählte  ^^);  auf  sie  stimmt  der  in  Nr.  62  angedeu- 
tete Reichthum  der  Geliebten.  Es  fragt  sich  nur,  wie  der 
Inhalt  von  Gruppe  IV  und  VI  sich  vereinigen  lässt:  beide- 
male  fallt  das  Geständniss  der  Liebe  schv^er,  aber  das  erste- 
mal unterbleibt  es,  das  zweitemal  wird  die  Werbung  doch 
vorgebracht.  Nun  hat  Elster  eine  Briefstelle  vom  23.  August 
1823:  ein  neues  Princip  sei  aufgetaucht,  die  neue  Thorheit 
sei  auf  die  alte  gepropft,  in  überzeugender  Weise  auf 
Therese  gedeutet ;  die  Ähnlichkeit  dieser  mit  der  verlorenen 
Amalia  leitet  Heine  von  der  alten  zur  neuen  Liebe;  das 
war  schon  vor  dem  Cuxhavener  Aufenthalt;  damals  aber 
hat  Heine  sich  nicht  ausgesprochen.  Gruppe  IV  also 
möchte  ich  an  den  Schluss  von  Gruppe  III,  in  die  Mitte 
Juli  1823  schieben.  ^^)  Anfang  September  kehrt  Heine 
nach  Hamburg  zurück  und  in  diese  Zeit  möchte  man 
Gruppe  VI  verlegen.  Doch  steht  die  Erwähnung  des  Win- 
ters in  Nr.  50  entgegen  (5t  ist  Einschiebsel  aus  älterer 
Zeit,  fällt  also  nicht  ins  Gewicht);  da  das  Lied  schon  im 
März  1824  gedruckt  ist,  kann  es  nicht  etwa  in  das  neue 
Zusammentreffen  mit  Therese  im  December  1825  versetzt 
werden.  Muss  man  darum  für  Gruppe  VI  ein  neues  Ver- 
hältniss  annehmen  ?  In  Lüneburg  oder  Göttingen  wäre  es, 
nach  dem  was  wir  über  Heines  Leben  wissen,  schwer  an- 
zusiedeln; an  die  Darstellung  einer  älteren  Episode  der 
Amalialiebe  zu  denken,  weil  die  Ähnlichkeit  der  Schwestern 
die  Heldin  der  Gruppe  der  des  Lyrischen  Intermezzo  glei- 
chen lässt,  verbietet  Nr.  63 :  glücklose  Liebe  ^zum  zweiten- 


1*)  So  bekoromt  auch  die  Wendung  in  Nr.  64,  Heine  solle  war- 
ten, einen  besonderen  Sinn. 

^•)  Allerdings  sind  Nr.  32.  33  mit  andern  Liedern  (1.  €2.  60.  32. 
33.  42.  43)  zusammen  unter  dem  Titel  'Kleine  Gedichte  von  H.  H. 
(geschrieben  im  Herbste  1823)'  erschienen;  ist  diese  Datimng  richtig, 
so  fallen  die  Lieder  32.  33  zeitlich  zusammen  mit  53.  54,  mit  welchen 
sich  auch  ihr  Inhalt  deckt;  auch  die  Praeterita  in  32.  33  zeigen,  dass 
die  Lieder  nicht  in  Gegenwart  der  Geliebten  (im  Juli),  sondern  dar- 
nach yeriasst  sind.  Da  die  Stimmung  der  Gruppe  IV  mit  der  anfftng- 
liehen  von  Gruppe  VI  gleich  ist,  wie  Nr.  30  beweist,  so  ist  durch  die 
Verschiebung  von  Nr.  32.  33  eine  Entlastung  der  grösseren  Gruppe  VI 
und  eine  ebenso  künstlerische  Verstärkung  der  kleinen  Gruppe  FV  ein- 
getreten, ohne  dass  die  biographische  Wahrheit  dabei  einbtISHte« 


Seuffert,  Heines  Heimkehr.  601 

male^  auch  sind  Gruppe  IV  und  VI  doch  nicht  nur  durch 
äussere  Ähnlichkeit  der  Figuren,  sondern  überdies  durch 
die  Äusserung  verbunden,  das  Liebesgeständniss  falle  schwer, 
endlich  durch  die  verschlungene  erste  Veröffentlichung  von 
vier  Liedern  dieser  Gruppe  mit  zwei  der  IV.  So  bleibt 
nur  der  allerdings  üble  Ausweg,  Nr.  50  als  etwas  späteren 
Einschub  zu  betrachten  (wie  ja  auch  Nr.  58  besser  zur 
Übersiedelung  von  Lüneburg  nach  Göttingen  im  Januar 
1824,  als  zu  der  Reise  von  Hamburg  nach  Lüneburg  Sep- 
tember 1823  passt).  Das  Lied  erweckt  zudem  den  Eindruck, 
als  ob  es  nicht  in  der  Nähe  der  Geliebten  entstanden  sei: 
V.  4  ^deiner  denk  ich  immerdar\  entschiedener  V.  6  Mch 
möchte  bei  dir  sein'  weisen  auf  eine  gewisse  Entfernung. 
Dass  Heine  trotz  der  schnippischen  Abweisung  an  der  Liebe 
zu  Therese  noch  festhielt  und  halten  durfte  (vgl.  Nr.  64 : 
er  solle  warten),  bezeugt  die  von  Elster  für  den  Winter 
1825/6  angenommene  stärkere  Fortsetzung  der  Leidenschaft 
für  Therese. 

Fasse  ich  die  Schlüsse,  welche  ich  aus  diesen  allerdings 
auf  die  ^Heimkehr'  eingeschränkten  und  an  andern  gleich- 
zeitigen Äusserungen  Heines  zu  prüfenden  Beobachtungen 
ziehen  möchte,  zusammen,  so  ergeben  sich  folgende  Thesen: 
Das  Büchlein  ^Heimkehr'  hat  eine  künstlerische  Ordnung, 
welche  gelegentlich  die  chronologische  Folge  stört;  Balladen 
fremden  Inhalts  bilden  die  Merkzeichen  für  das  Anheben 
einer  neuen  Gruppe.  Die  Lieder  gelten  Erlebnissen  zwi- 
schen dem  Mai  1823  und  Herbst  1824  (Lüneburg,  Hamburg, 
Cuxhaven,  Hamburg,  Lüneburg,  Göttingen,  Berlin,  Göttingen, 
Harzreise);  nur  zwei  Lieder  sind  nachweislich  älter,  vier 
vielleicht  jünger;  die  zeitliche^'')  Reihe  ist:  Gruppe  I.  III. 
IV.  II.  V.  VI  (vielleicht  VI.  V).  VIL  VIII.  Das  Büchlein 
erzählt  nicht  6inen  Liebesroman,  sondern  zwei  hohe,  zwei 
niedere  und  mehrere  flüchtige  Verhältnisse;  die  Geliebte 
innerhalb  der  einzelnen  grösseren  Gruppen  ist  6ine  Person ; 
Amalia  Heine  gilt  eine,  Therese  gelten  zwei  Gruppen. 

Graz.  Bernhard  Seuffert. 


")  Nemlich  die  Zeitfolge  der  Erlebnisse ,   auf  die  es  mir  durch- 
wegs mehr  ankam,  als  auf  die  Entstehungszeit  der  einzelnen  Lieder. 


602  Herrmann,  Oswald  von  Wolkenstein. 


Die  letzte  Fahrt  Oswalds  von  Wolkenst«ln. 

Längst  ist  bekannt,  dass  Sigismunds  ruhmloser  Römerzag 
aus  den  Jahren  1431  bis  1433,  die  letzte  Heerfahrt,  die  ein 
deutscher  König  zur  Erlangung  der  Kaiserkrone  unternahm, 
zugleich  die  letzte  Fahrt  des  ^letzten'  deutschen  Minne- 
singers gewesen  ist.  Oswald  von  Wolkenstein  hat  uns 
selbst  in  einem  zu  Placentia  entstandenen  Gedicht  anschau- 
lich genug  das  traurige  Leben  geschildert,  das  er  als  Ritter 
des  Königs  in  der  'Lumpardie'  führen  musste,  wo  der  tiefe 
Koth  und  das  theure  Brot  sich  zu  einem  traurigen  Reim- 
paare zusammenfügten.  Dagegen  ist  es  bis  jetzt. nicht  nach- 
gewiesen, wie  lange  Oswald  im  Gefolge  des  Königs  blieb, 
der  die  Gastfreundschaft  der  italienischen  Städte  in  der 
lästigsten  Weise  in  Anspruch  nehmen  musste.  Zwei  An- 
sichten stehen  sich  gegenüber,  ohne  dass  für  die  eine  oder 
die  andere  eine  Begründung  beigebracht  wäre.  Beda  Weber^) 
nimmt  an,  dass  Oswald  erst  zugleich  mit  dem  Kaiser  im 
August  1433  die  Heimat  wiedergesehen  habe,  Zingerle^) 
dagegen  lässt  ihn  bereits  1432  in  die  Tiroler  Einsamkeit 
zurückkehren.  Weber  hat  sich  vermuthlich  dadurch  bestim* 
men  lassen,  dass  in  einem  Oswaldschen  Gedicht  (S.  63  der 
Ausgabe  Webers)  ein  bedenkliches  Abenteuer  geschildert 
ist,  das  die  Deutschen  1433  in  der  Gegend  von  Rom  zu 
bestehen  hatten;  Zingerle  berücksichtigt  wohl  mehr  den 
Umstand,  dass  der  grösste  Theil  der  Wolkensteiner  Hand- 
schrift, in  der  Oswald  eigenhändig  seine  Gedichte  aufzeich- 
nete, schon  im  August  1432  geschrieben  worden  ist. 

Im  folgenden  wird  nun  zunächst  der  urkundliche  Nach- 
weis dafür  geliefert,  dass  Oswald  wirklich  schon  im  Früh- 
jahr 1432  von  Italien  wieder  nach  Deutschland  gezogen  ist. 

^)  Die  Gedichte  Oswalds  von  Wolkeostein  (Innsbruck  1847)  8. 16. 
Derselbe:  Oswald  von  Wolkenstein  und  Friedrich  mit  der  leeren  Tasche 
(Innsbruck  1850)  S.  428.  Auf  Weber  fusst  Schraid  in  den  Mittheilun- 
gen d.  Vereins  f.  Gesch.  u.  Alterthumskunde  in  Hohenzollern  13,36. 

')  Zur  älteren  tirolischen  Literaturl.  (Sitzungsberichte  d. Wiener 
Akad.  phil.  bist.  Cl.  64, 3.  S.  623  f.) 


Hemnann,  Oswald  von  Wolkenstein.  603 

In  einer  Sammlung  von  78  bisher  unbekannten  Briefen  an 
das  Basler  Concil  vom  Jahre  1432  (im  Cod.  294  der  EgI. 
Bibliothek  zu  Eichstätt),  die  ich  demnächst  yeröfFentliche, 
findet  sich  (fol.  141)  ein  aus  Parma  vom  18.  Mai  datirtes 
Schreiben  König  Sigismunds  an  die  Basler  Väter,  in  dem 
es  heisst:   ^Mittimus  ad  presenciam  yestrarum  patemitatum 

honorabilem  magistrum  Stok,  decretorum  doctorem, 

adiuncto  sibi  nobili  viro  Oswalde  de  Wolken  stein 
fideli  nostro,  qui  ?08  de  singulis  rerum  circumstanciis  cla- 
rius  informabunt:  quorum  relatibus  vestre  paternitates  adhi- 
bere  velint  tamquam  nobis  per  omnia  credencie  plenam 
fidem'.  Dieser  königliche  Brief  gibt  uns  ein  nicht  ganz 
leichtes  Räthsel  auf:  denn  wir  kennen  längst  ein  andres 
Schreiben  des  Königs,  das  ebenfalls  aus  Parma,  ebenfalls 
vom  18.  Mai  1432  datirt  ist  (gedruckt  bei  Mansi,  Acta 
conciliorum  generalium  30,  144 — 145)  und  in  dem  aus- 
schliesslich Dr.  Stock  als  Gesandter  genannt  ist.  Die  Ver- 
wicklung geht  aber  noch  weiter.  Alle  die  Boten,  die  König 
Sigismund  von  Italien  aus  nach  Basel  schickte,  waren  auch 
mit  besonderen  Briefen  und  Aufträgen  an  den  Protector 
des  Ooncils,  den  Herzog  Wilhelm  von  Baiern,  versehen. 
Über  diese  Beziehungen  hat  Kluckhohn  in  den  Forschun- 
gen zur  deutschen  Qeschichte  2,  524  ff.  gehandelt,  er  kennt 
auch  drei  Briefe  des  Königs  an  Herzog  Wilhelm  aus  den 
fraglichen  Tagen,  macht  aber  als  Gesandten  daraus  nur 
Nicolaus  Stock  namhaft.  Eine  nochmalige  Vergleichung 
der  Originale')  im  allgemeinen  Reichsarchiv  zu  München 
(Fürstensachen,  tom.  V)  ergab  indessen,  dass  in  dem  ersten 
der  betreifenden  Briefe  (fol.  225)  der  am  ^Suntag  nach  sand 
Sophie  tag^  geschrieben  ist,  über  die  Gesandtschaft  folgende 
Worte  sich  finden :  ^wir  senden  zu  deiner  lieb  den  ersamen 

meister  Niclasen  Stock,  lerer  in  geistlichen  rechten 

mit  sampt  dem  edeln  Oswolten  von  Wolkenstein,  vnsern 
lieben  getruen,  die  dein  lieb  aller  vnserer  sach  gelegenheit 
eygenlich  werden  vnderweisen.  Begem  wir  von  deiner 
lieb,  was  dir  die  selben  zu  disem  mal  von  vnseren  wegen 


•)  Ich  verdanke   eine  Abschrift   der   Güte   des    Herrn   Dr.  Paul 
Joachimsohn. 


604  Herrmann,  Oswald  von  Wolkensiein. 

sagen  werden,  daz  du  in  genczlich  glaubest  als  vns  Belber\ 
—  In  dem  sachlich  interessantesten,  vertraulichen  Briefe, 
den  Kluckhohn  a.  a.  O.  S.  551  f.  fast  vollständig  druckt,  ist 
von  den  Gesandten  überhaupt  nicht  die  Rede;  dagegen  spricht 
der  dritte  Brief  (Münchener  Reichsarchiv  a.  a.  O.  fol.  32), 
der  'nach  sand  Sophie  tag'  datirt  ist,  wieder  nur  von  'meister 

Niclasen  Stok, der  iczund   eylend   zu  euch  reitet, 

euch  klein  vnd  gros  eigentlich  zu  vnder  weisen'.  —  Wie 
kommen  wir  über  diesen  Widerspruch  hinweg  ?  Man  sollte 
zunächst  meinen,  in  letzter  Stunde  sei  noch  eine  Änderung 
in  Bezug  auf  die  Personen  der  Gesandtschaft  erfolgt,  Oswald 
von  Wolkenstein  sei  in  Parma  geblieben,  und  man  habe 
für  Stock  neue  Briefe  geschrieben,  während  die  andern  sich 
nur  zufällig  erhalten  hätten.  Das  Gegentheil  lässt  sich 
aber  leicht  erweisen:  jener  lateinische  Brief  an  das  Concil 
ist  wirklich  an  seine  Adresse  gelangt,  denn  die  Briefsamm- 
lung, der  wir  ihn  entnehmen,  ist  ohne  Frage  in  der  Kanzlei 
des  Concils  zusammengestellt  worden.  Wir  müssen  uns 
mit  der  Yermuthung  begnügen,  dass  für  Stock,  der  durch- 
aus die  Hauptperson  der  Gesandtschaft  war,  der  von  den 
Verhandlungen  mit  dem  Papste  aus  eigner  Anschauung 
Dinge  berichten  konnte,  von  denen  Oswald  nichts  wusste, 
nochmals  besondere  Einzelbeglaubigungsschreiben  ausgestellt 
worden  sind ;  und  es  ist  jedenfalls  als  erwiesen  zu  betrach- 
ten, dass  sich  auch  Oswald  am  30.  Mai  1432,  dem  Tage, 
an  dem  nach  Mansi  (a.  a.  O.  S.  144)  Stocks  Beglaubigungs- 
schreiben in  Basel  verlesen  wurde,  wieder  in  Deutschland 
befand. 

Damit  ist  nun  allerdings  durchaus  noch  nicht  bewiesen, 
dass  er  nun  auch  in  Deutschland  geblieben  und  nicht  zu 
seinem  Herrn  nach  Italien  zurückgekehrt  ist.  Dass  sein 
Name  nach  dem  Mai  1432  in  den  Zeugenlisten,  die  uns 
eine  Anzahl  von  Sigismunds  Begleitern  namhaft  machen, 
nicht  erscheint,  beweist  sehr  wenig:  denn  er  ist  auch  vor 
dem  genannten  Zeitpunkt  nicht  zu  finden.  Ja,  es  gibt,  wie 
schon  oben  bemerkt,  ein  Gedicht,  welches  ausdrücklich 
dafür  zu  sprechen  scheint,  dass  Oswald  auch  1433  in  Ita- 
lien gewesen  ist:  die  Beschreibung  des  Überfalls  von  Ron- 
ciglione,  der  im  Mai  des  genannten  Jahres  stattfand.    Dies 


Herrmann,  Oswald  von  Wolkensiein.  605 

Oedicht  (bei  Wöber  8.  63  flF.)  beruht  indessen  schwerlich 
auf  eigener  Anschauung,  vielmehr  offenbar  auf  einem  aus- 
führlichen Bericht,  der  über  den  Vorfall  nach  Deutschland 
gelangte:  nur  so  erklärt  sich  die  erste  Zeile:  ^Es  komen 
newe  mer  gerant'.  ^!Neu'  kann  diese  Geschichte  auch  nur 
für  Deutschland,  nicht  für  die  Kaiserlichen  in  Italien  ge- 
wesen sein:  denn  wie  lange  nach  dem  wirklichen  Yorfall 
das  Gedicht. erst  entstanden  ist,  zeigt  der  Umstand,  dass 
darin  von  einem  der  Überfallenen  erzählt  wird,  er  habe 
seine  sonderbar  entstellte  Nase  noch  vierzehn  Tage  nach 
dem  Kampfe  in  Rom  zur  Schau  tragen  müssen. 

Für  die  Annahpae,  dass  Oswald  1432  für  immer  in  die 
Heimat  zurückgekehrt  sei,  spricht  die  Wolkensteiner  Iland- 
schrift  seiner  Gedichte.  Freilich:  die  von  dem  Verfasser 
eigenhändig  eingetragene  Notiz,  dass  er  ^an  dem  nechsten 
Samstag  nach  sant  Augustins  tag'  1432  ^diss  buch  geticht 
vnd  volbracht  habe',  beweist  an  sich  eigentlich  noch  nicht, 
dass  Oswald  von  Wolkenstein  schon  im  August  1432  ein- 
sam auf  Hauenstein  gesessen  und  seine  Gedichte  sauber 
zusammengeschrieben  habe:  denn  der  Aufenthaltsort  des 
Schreibers  wird  nicht  genannt,  und  Zingerle,  der  die  Stelle 
gewiss  mit  Recht  in  unserm  Sinne  auslegt,  hätte  wenigstens 
besonders  hervorheben  sollen,  dass  an  eine  Anfertigung  der 
Handschrift  in  Italien  schwerlich  zu  denken  ist.  Für  die 
Möglichkeit  dieser  Annahme  könnte  man  sich  allenfalls 
entscheiden,  wenn  man  der  Ansicht  sein  dürfte,  dass  Oswald 
das  Ganze  aus  dem  Gedächtniss  aufgezeichnet  habe,  —  aber 
diese  Ansicht  hätte  wenig  Aussicht  auf  erfolgreiche  Ver- 
theidigung.  Man  hat  bisher  die  eigenthümliche  Reihenfolge, 
in  der  Oswald  seine  Gedichte  aufgezeichnet  hat,  nicht  be- 
achtet; gewiss  wird  hier  die  von  Zingerle  versprochene 
Ausgabe  die  genauere  Untersuchung  liefern.  Soviel  dürfen 
wir  indessen  wohl  schon  bemerken,  dass  die  Zusammen- 
stellung wenigstens  theilweise  auf  Grund  kleinerer  Gedicht- 
sammlungen entstanden  sein  muss,  die  gleichzeitig  Verfasstes 
auf  einem  Papiere  vereinigten.  Wie  wäre  es  sonst  zu  er- 
klären, dass  z.  B.  die  Nummern  1.  2.  3.  4.  7.  9  —  die 
dazwischen  liegenden  scheinen  undatirbar  —  in  die  Zeit 
141 8 ff.,   die    Nummern  18.  19.  20  in  das  Jahr   1415,    die 

Vierte^ahrscbriit  für  Litterattugeachichto  III  40 


606  Herrmann,  Oswald  von  Wojkenstein. 

Nummern  23.  24.  25.  26.  27.  28.  30  in  die  Jahre  1427—28 
gehören  u.  s.  w.^)  Schwerlich  aber  hat  Oswald  alle  diese 
Manuscripte  auf  der  italienischen  Wanderschaft  im  Reise- 
sack gehabt,  wir  werden  vielmehr  im  Hinblick  auf  die  oben 
gegebenen  Ermittelungen  über  Oswalds  Heimkehr  nach 
Deutschland  die  Entstehung  der  Wolkensteiner  Handschrift 
endgültig  nach  Hauenstein  verlegen  müssen. 

Der  Wolkensteiner  Codex  enthält  aber,  wie  Zingerle 
a.  a.  O.  ausgeführt  hat,  noch  eine  Anzahl  von  Gedichten, 
die  erst  nach  1432  verfasst  und  der  Sammlung  einverleibt 
worden  sind.  Zweifellos  sind  das  die  Nummern  105  ff. :  105 
ist  das  Gedicht  auf  den  Ronciglioner  Überfall  vom  Mai 
1433;  103  dagegen  ist  die  Klage  über  den  traurigen  Auf- 
enthalt in  der  Lombardei  aus  dem  Anfang  des  Jahres  1432. 
Dazwischen  liegt  also  derSchluss  der  bis  zum  August  1432 

*)  Die  Einzelbeweise  f&r  die  Richtigkeit  dieser  Datirungen  mass 
ich  hier  freilich  bei  Seite  lassen;  anch  in  dieser  Beziehung  wird 
Zingerle  das  letzte  Wort  zu  sprechen  haben.  Ich  hebe  nur  ein  Gedicht, 
das  Hussitengedicht  Nr.  27  (jetzt  bei  Zingerle  a.  a.  0.  8.  678  gedruckt) 
hervor,  weil  hier  meine  Datimng  von  den  früheren  gar  zu  weit  ab- 
weicht. Weber  (Oswald  v.  Wolkenstein  u,  Friedrich  m.  d.  leeren 
Tasche  8.367)  räth  auf  1419:  aber  das  ist  jedenfalls  zu  irflh:  in  die- 
sem Jahre  hat  die  Behauptung  'das  vederspil  hat  ser  verzagt*  durch- 
aus noch  keinen  Sinn,  die  Hussitenfurcht  beginnt  vielmehr  erst  im 
Jahre  1420.  Ganz  verkehrt  ist  die  Erklärung  Schratts  (Gedichte 
Oswalds  V.  Wolkenstein  1886.  Auswahl,  neuhochdeutsch,  S.  207):  da 
Strophe  5  Huss  den  Rath  gebe,  seinen  ^vorlauff"  d.  i.  Wykliffe  zu  ver- 
lassen, so  müsse  das  Gedicht  vor  der  Verbrennung  Hussens  entstanden 
sein.  *Hus8'  steht  hier  natürlich  für  Hussiten,  sonst  hat  das  ganze 
Gedicht  gar  keinen  Sinn;  Schratt  hätte  übrigens  auch  nicht  aus  Webers 
Text  das  verderbte  *vorlauff*  übernehmen  sollen,  das  Zingerle  längst  in 
Wjkliffe  verbessert  hat.  Das  Gedicht  kann  nur  in  die  Jahre  1420^ 
1431  gehören,  und  wenn  wir  uns  für  1427  entscheiden,  so  sprechen 
dafür  zwei  gewichtige  Umstände.  1427  hatte  Oswald  besondere  Ver- 
anlassung, gegen  die  Hussiten  einen  poetischen  Aufruf  zu  erlassen, 
denn  in  diesem  Jahre  gelobte  er  selbst,  einen  Zug  gegen  die  Böhmen 
zu  unternehmen  (vgl.  Weber,  Gedichte  Oswalds  v.  Wolkenstein  S.  15). 
Ferner  aber  spricht  Oswald  in  der  letzten  Strophe  von  mancherlei 
Zeichen  des  göttlichen  Zornes,  darunter  auch  von  einer  Krankheit 
4nfluess\  die  in  Frankreich  und  andern  Ländern  viele  Opfer  fordere. 
Grade  im  Jahre  1427  aber  wüthete  —  nach  Hecker,  Die  grossen  Volks- 
krankheiten des  Mittelalters  (Berlin  1865)  8.  241  f.  —  eine  solche 
Krankheit,  die  Hecker  als  eine  Art  4nfluenza*  bezeichnet. 


Herrmann,  Oswald  von  Wolkenstein.  607 

eingetragenen,  und  es  fragt  sich  nun,  wie  wir  Nr.  104  datiren. 
Es  ist  das  schöne  Gedicht  'von  trauren  möcht  ich  werden 
taub',  das  den  Wiedereintritt  der  furchtbaren  Winterkälte 
und  des  Dichters  Einsamkeit  auf  Hauenstein  beklagt.  Um 
den  Anfang  welchen  Winters  kann  es  sich  handeln?  Der 
Streit  mit  dem  Bischof  von  Brixen,  der  den  Dichter  ver- 
hinderte, sich  ins  Thal  hinunterzuwagen,  brach  Ende  Octo- 
ber  1429  aus  (vgl.  Sinnacher,  Beyträge  z.  Geschichte  d. 
bischöfl,  Kirche  Sähen  und  Brixen  6,111.  113);  der  Winter 
1429/30  kann  nicht  mehr  in  Betracht  kommen,  da  Bischof 
Ulrich  bis  in  den  Februar  hinein  ängstlich  in  Innsbruck 
sich  einschloss  und  jedenfalls  damals  kein  Gegner  war,  um 
dessentwillen  Oswald  das  Etschthal  nicht  betreten  hätte. 
1430  war  dieser  in  Ungarn  (Weber,  Gedichte  Oswalds 
V.  Wolkenstein  S.  13),  1431  in  Italien.  Es  bleibt  also  nur 
unser  Jahr  1432,  und  für  dieses  spricht  auch  noch  ein 
anderer  Umstand.  Oswald  hebt  in  dem  in  Rede  stehenden 
Gedicht  den  harten  Frost  des  damaligen  Winters  hervor, 
^kelt,  reif  vnd  grossen  snee',  und  berichtet,  dass  er  beson- 
ders seiner  Familie  wegen  zu  Hause  sich  aufhalte: 

dorumb  das  ich  bedenken  muess, 
wie  ich  sie  müg  beschütten, 
das  in  die  wolf  verzucken  nicht 
das  brötlin  vnd  den  win. 

Damit  vergleiche  man,  was  Bischof  Ulrich  von  Brixen, 
Oswalds  Feind,  in  seiner  Lebensbeschreibung  für  das  Jahr 
1432  berichtet  (deutsche  Übersetzung,  mitgetheilt  bei  Sin- 
nacher a.  a.  0.  S.  1 34) :  'Der  Winter  dieses  Jahres  war 
sehr  heftig,  und  eine  so  eindringende  Kälte,  dass  unzähl- 
bare Menschen  erfroren  und  die  Wölfe  sehr  viele  Leute 
aufgefressen  haben'.  Wenn  Oswald  endlich  hervorhebt, 
dass  er  'von  ebner  wis  dick  hausen  muess  auf  hohem  borg', 
so  ist  diese  Gegeneinandersetzung  1432  besonders  verständ- 
lich, wo  dem  Dichter  gewiss  die  weite  lombardische  Ebene 
vorschwebte,  auf  der  er  im  vergangenen  Jahre  den  Winter 
zugebracht  hatte. 

Es  scheint  danach  also,  dass  Nr.  104  das  erste  Gedicht 

aus    der  'dreizehnjährigen   Einsamkeit'   ist   und   die    erste 

Nachtragsnummer  bildet;  endgültigen  Bescheid  wird  vielleicht 

40* 


608  Werner,  Abraham  a  Sta.  Clara. 

Zingerle    aus  der   Beschaifenheifc    der   HandBchrift    geben 
können. 

Berlin.  Max  Herrmann. 


Abraham  a  Sta.  Clara  als  Eanzelredner. 

Im  Jahre  1729  schrieb  D.  Fassmann  auf  Befehl  Frie- 
drich Wilhelms  I.  von  Preussen  eine  Spottschrift  auf  Gund- 
ling  (vgl.  Heyse  Nr.  1776.  Menzel  2,  474);  sie  führt  folgen- 
den Titel: 

Der  Gelehrte  Narr,  Oder  Gantz  nalürliche  Abbildung  Solcher 
Gelehrten,  Die  da  vermeynen  alle  Gelehrsamkeit  und  Wissenschaflflen 
verschlucket  zu  haben ,  auch '  in  dem  Wahn  stehen ,  dass  ihres 
gleichen  nicht  auf  Erden  zu  finden,  wannenhero  sie  alle  andere 
Menschen  gegen  sich  verachten,  einen  unerträglichen  Stoltz  und 
Hochmuth  von  sich  spuren  lassen;  in  der  That  aber  doch  selber 
so,  wie  sie  in  ihrer  Haut  stecken  Ignoranten,  Pedanten,  ja  Erlz- 
Fantasten  und  tumme  Gympel  sind,  die  von  der  wahren  Gelehr- 
samkeit, womit  die  Weisheit  verknöpffet  seyn  muss,  weit  entfernet. 
Nebst  einer  lustigen  DEDICATION  und  sonderbaren  Vorrede. 
Dergleichen  verkehrten  Gelehrten  zur  guten  Lehre,  und  verhofTenl- 
lieh  daraus  fliessenden  Besserung;  andern  aber,  so  sich  denen 
Studiis  widmen,  und  noch  AnßLnger  sind,  zur  getreuen  War- 
nung, auch  sonst  jederman  zum  Vergnügen  geschrieben.  —  Ge- 
druckt zu  FBEYBURG  Anno  1729.  auf  dess  Autoris  eigene 
Kosten. 

Der  Quartband  umfasst  19  Bll.  und  222  Seiten;  das 
von  mir  benutzte  Exemplar  befindet  sich  in  der  Bibliothek 
Sr.  Exe.  des  H.  Feldmarschallieutenants  Albin  Beichsfrei- 
herrn  von  TeuiFenbach  zu  Tiefenbach  und  Maassweg  in 
Salzburg. 

Die  Dedication  des  Werkes  ist  an  'Peter  Baron  von 
Squentz'  gerichtet;  in  der  Vorrede  wird  der  unlängst  ver- 
storbene Thomasius  (f  1728)  aufs  nachdrücklichste  gelobt, 
weil  er  gegen  jegliche  Pedanterie  zu  Felde  gezogen  sei 
und  die  deutsche  Sprache  für  die  Gelehrsamkeit  gewonnen 
habe.  Thomasius  erscheint  dem  Autor  als  das  Ideal  dea 
Gelehrten  und  zwar  wegen  seiner  freien  Forschung^  die 
sich    nicht    vor  Autoritäten   beugt;    durch    eine   Stelle  aus 


Werner,  Abraham  a  Sta.  Clara.  609 

einer  Trauerrede  und  aus  Thomasius'  kleinen  deutschen 
Schriften  (Nr.  7  S.  366)  sucht  der  Verfasser  zu  erweisen, 
dass  Thomasius  ^der  Freyheit-liebende'  gewesen. 

S.  7  ff.  steht  ein  Gedicht  in  parodistischem  Sinn  über 
das  Magisterwerden.  S.  15  wird  ^ein  altes  Teutsches  Sprüch- 
wort' citirt:  *Wann  man  unter  die  Hunde  wirfft,  welchen 
man  trifft  der  schreyet\  Die  erste  Abhandlung  bringt  meist 
Anekdoten  über  falsche  Gelehrte;  die  zweite  ist  eine  Über- 
arbeitung von  Trajanus  Bocalinus  ^Relationes  aus  dem  Par- 
nasso';  die  dritte  wendet  sich  den  römisch-katholischen 
Landen  zu;  die  nächste  betrachtet  den  Einfluss  von  Natu- 
rell und  Erziehung  auf  die  Gelehrsamkeit,  die  fünfte  schliess- 
lich gibt  einige  Beispiele  solcher  gelehrter  Narren,  welche 
man  nennen  dürfe,  da  sie  alle  todt  seien  und  während  ihres 
Lebens  selbst  keine  Schonung  für  andere  gehabt  hätten. 

Fassmann  führt  in  der  dritten  Abhandlung  einige  Pro- 
ben von  römisch-katholischer  Eanzelberedsamkeit  an,  er 
hebt  übrigens  die  Schwächen  der  protestantischen  Pastoren 
geradeso  hervor.  S.  154  ff.  erzählt  er,  indem  er  die  Gitate 
fett  abdrucken  lässt: 

Als  ich  mich  Anno  1711.  das  erstemal  zu  Wien  befände, 
gienge  ich,  nebst  verschiedenen  andern  Lutheranern ,  des  Sonn- 
tags fleissig,  den  ordinairen  Prediger  in  dem  Francisscaner-Gloster, 
welches  nicht  ferne  vom  Johannis  -  Gässgen ,  bey  einem  kleinem 
Platz  gelegen I  zu  hören,  weil  wir  gemeiniglich  so  viel  zu  Ohren 
fasseten,  dass  wir  hernach  die  gantze  Woche  durch  darüber 
lachen  kunten.  Einstmals  stellete  er  die  Eitelkeit  der  Welt  vor, 
und  sagte  Katterl!  (Catharina)  Was  macht  der  Kayser?  Eitelkeit, 
Eitelkeit,  Vanitas  Vanitas  Vanitatum  Vanitas,  alles  ist  in  der  Welt 
eitel,  eitel,  eitel;  wobey  er  gantz  entsetzlich  mit  denen  Händen 
auf  die  Cantzel  schlug.  Dergleichen  Fragen  thate  er  auch  von 
andern  Potentaten,    und  beantwortete   sie   auf  eben  diese  Weise. 

Ein  andermal  träte  er  auf  die  Cantzel  und  verglieche  die 
Welt  einem  [155]  Meer,  auf  welchem  ein  jedweder  nach  etwas 
fischete;  die  wenigsten  aber  etwas  fingen.  Unter  andern  muste 
Simsen,  der  bey  denen  Österreichern  und  andern  mehr  Sam- 
son  genannt  wird,  weydlich  herhalten,  und  er  redete  von  ihm 
also: 

Es  folgt  S.  155—158  dieser  Theil  der  Predigt,  ihr  fehlt 

aber  der  Humor  und  die  Komik  Abrahams,  wenn  sie  sich 

auch  in  entschiedener  Nachahmung  seiner  Art  bewegt.    Dann 

föhrt  Fassmann  fort: 


610  Werner»  Abraham  a  Sta.  Clara. 

Dem  berübmlen  Mönch  des  Barfüsser- Augustiner -Ordens, 
Pat.  Abraham  von  St.  Clara,  wäre  vielleicht  nach  einiger  Meynung 
ebenfalls  ein  Platz  allhier  in  dem  Gelehrten  Narren  anzuweisen, 
zumalen  er,  in  Wien  selber,  nur  insgemein  der  Pater  Fabel- 
Hanns  genannt  worden.  Allein  ich  vor  meine  Person  bekenne^), 
dass  obgleich  seine  Predigten  und  Schrillten,  fast  durch  die  Banck, 
mit  lächerlichen  Expressionen  und  lustigen  Histörgen  angefüUet; 
ich  meines  Orts  dennoch  allenthalben  eine  herrliche  Moral  daraus 
hervorleuchten  sehe.  Mehr  zur  Lust,  als  den  Pater  Abraham  von 
St.  Clara  zu  blamiren  will  ich  indessen  einige  Dinge  kürtzlich  er- 
zehlen,  wie  sie  in  seinen  Predigten  und  Schrifflen  eingeflossen 
sind. 

Einstmals  sagte  er,  unter  andern,  in  einer  Predigt:  Weiberl! 
Encks  (euch)  recommandire  ich  einen  Fisch  zum  Exempel  und 
zur  Richtschnur  eures  Lebens.  Denn  ein  Fisch  spricht  nie  ein 
Wörtlein.  Fasset  ihn  an  beym  Kopff,  oder  beym  SchweifF,  thut 
mit  demselben  was  ihr  wollet,  und  schlachtet  ihn,  er  wird  nit 
schreyen.  Also  sollt  auch  ihr  gegen  eure  Männer  seyn,  geduldig 
wie  ein  Fisch,  wenn  gleich  die  Männer  bissweilen  wunderlich 
sind.  Wollet  ihr  aber  ja  etwas  machen,  so  recommandire  ich 
euch  wieder  einen  Fisch  zum  Beyspiel,  und  zwar  jenen,  aus  des- 
sen Maul  Silber  hervor  kommen.  Als  nemlich  unser  Heyland 
einstmals  in  Judea  herum  wandelte,  so  schnautzten  ihn  die  Römi- 
schen Mauthner  halter  sehr  hart  an,  und  sprachen:  Wie  hälts? 
den  gebührenden  Zoll -Groschen  her.  Da  wandte  sich  der  HErr 
zu  Petro  und  sprach:  Mein  Peter!  Die  Mauthner  seynd  schlimme 
Leute  mit  denen  man  sich  nichts  zu  schafTen  machen  muss. 
Mein,  gehe  geschwind  hin  an  das  Meer.  Da  wirst  du  einen  Fisch 
sehen,  den  fange,  mache  ihm  das  Maul  [159]  auf,  und  nimm 
einen  silbernen  Groschen  heraus,  welcher  darinnen  liegt.  Solchen 
silbernen  Groschen  bringe  her,  und  bezahle  damit  den  Mauth 
vor  mich  und  vor  dich;  welches  alles  so  geschehen  und  erfolget 
ist.  Wann  ihr  demnach  lieben  Weiberl!  ja  etwas  reden  wollet, 
so  müsset  ihr,  eben  wie  dieser  Fisch  einen  silbernen  Groschen, 
lauter  güldene  und  silberne  Worte  aus  eurem  Munde  gehen  lassen, 
und  zu  euren  Männern  sprechen:  Mein  guldener  Hanns -Michel! 
Mein  silberner  Stoffel!  Mein  güldenes  Närrl!  Wie  bist  dann  heut 
so  wunderlich.  Ey  mein!  Sey  doch  gscheut!  Ich  will  ja  alles 
gerne  thun,  was  du  nur  von  mir  verlangest.  Ich  wette,  Weiberl! 
mit  encks,  dass  wann  eine  jedwede  meiner  Lehre  folgte,  sie  manche 
Maultaschen,  und  manche  Fauntzens  auf  die  Goschen  nit  bekom- 
men würde. 

Ein  andermahl  ist  der  Pater  Abraham  von  St.  Clara  auf  die 


*)  Wie  Fassmann  über  Abraham  dachte,  das  erfahren  wir  aus 
seinen  berühmten  'Gesprächen  im  Reiche  der  Todten'.  Vgl.  Kartyao, 
Abraham  a  Sancta  Clara,  Wien  1867  S.  233  ff.  u.  ö. 


Suphan,  Aus  Carl  Augusts  Frühzeit.  611 

Cantzel  getreten,  und  hat,  bald  im  Anfang  seiner  Predigt,  sich 
also  heraus  gelassen:  Heute  niuss  ich  euch,  meine  lieben  Zuhörer ! 
ein  Rätzel  aufzurathen  geben,  darum  mercket  alle  wohl  drauf. 
Das  Rätzel  ist:  Wer  den  Teuffei  lieb  hat!  der  kommet 
nit  zum  Teuffei.  Wer  ihn  aber  nit  lieb  hat,  der  kommt 
zum  Teuf  fei.  Nun  ratbe  wer  da  rathen  kan.  Allein  ich  sehe 
schon,  dass  es  Niemand  erraüien  wird,  sondern  ich  muss  euch 
selber  den  Schlüssel  darzu  geben.  Höret  zu!  wann  man  einen 
armen  Mann  siebet,  welcher  hungerig  und  durstig  ist,  auch  zer- 
lumpt, ja  wohl  gar  nackend  und  bloss  herum  gehet,  so  pfleget 
man  gemeiniglich  zu  sagen :  0  der  arme  Teufiel !  Wer  nun  einen 
solchen  armen  Teuffel  lieb  bat,  ihn  speiset,  tränket  und  kleidet 
der  kommt  nit  zum  Teufifel.  Wer  ihn  aber  nit  lieb  hat,  und  nit 
barmhertzig  gegen  ihn  ist,  der  kommt  zum  Teuffel,  und  fahret 
zu  ihm  in  die  Hölle. 

Ingleichen  hat  man  den  Pater  Abraham  von  St.  Clara  einsl- 
mahls  auf  der  Cantzel  sagen  hören:  Wer  nit  will  in  den 
Himmel,  den  holt  der  Teuf- [160]  fei  auf  seinem 
Schimmel.  Item:  Mancher  denckt,  wann  er  nur  ein  Weib  an 
dem  Halse  hat,  so  wäre  schon  alles  gut  und  er  seye  bereits  in 
dem  Himmel.  Ja,  im  Himmel,  du  Limmell  Du  bist  noch  weit 
entfernt  davon,  und  hast  die  Hölle  bey  lebendigem  Leibe  auf  dem 
Hals. 

Von  einer  ledigen  Weibs -Person,  welche,  ihrer  Mutter  un- 
wissend, ein  unkeusches  Leben  gefähret,  und  schwanger  worden 
war,  spricht  er  an  einem  gewissen  Ort  in  seinen  SchrifVten:  Das 
Mütter!  meynte,  das  Töchterl  wäre  noch  eine  Jungferl ;  allein  das 
Töchterl  hatte  bereits  gemutterlt. 

Im  übrigen  führen  fast  alle  seine  Schrifften  einen  lächerlichen 
Titel,  als  z.  E.  Judas  der  Ertz- Schelm;  Vogel  friss  oder  stirb; 
und  dann:  Gick,  gack,  gack  ein  A.  Welchen  Titel  er  einem 
Buch  gegeben,  indem  er  ein  in  Bayern  gelegenes  Closter  beschrie- 
ben, welches  an  einem  Ort  erbauet  worden,  woselbst  eine  Henne 
ein  Ey  geleget,  auf  dem  sich  das  Bildniss  der  Heil.  Jungfrau 
Maria  dermassen  natürlich  präsentiret  haben  solle,  dass  man  es 
auch  mit  Menschen -Händen  nicht  schöner  hätte  mahlen  können. 

Lemberg.  Richard  Maria  Werner. 


Aus  Carl  Augusts  Frühzeit 

Zwei  Briefe  an  Wieland. 

1. 

Sehr  werthgeschätzler  Herr  Regierungs-Rath, 
Es   erfreuet   mich   sehr  wenn   der  Antrag   meiner   Frau  Mutter 
bey    uns    als   Philosoph    und    leib   Canischmende   zu    kommen. 


612  Suphan,  Ans  Carl  Augusts  Frühzeit. 

Ihnen  ^)  gefällig  gewesen  ist.  (Diese  letztere  Stelle  wünschte  ich  ganz 
besonders  dass  Sie  diese  bey  mir  in  eterna  tempora  bekleiden 
möchten)  Mein  Eifrigtes^)  Verlangen  ist,  Ihnen  die  Last  unserer 
Instruction  so  viel  als  nur  möglich  zu  erleichteren.  Ich  will  mich 
bestreben  mit  Hülfe  meines  guten,  und  hieben  Mentors  alle  die 
guten  Hoffnungen  welche  Sie  von')  mir  haben  in  das  Werck  zu 
richten;  Nemlich  meine  Lande  und  Leute  glücklich  zu  machen, 
wie  es  von  einen  Rechtschaffenen  Herren  verlangt  werden  kan. 
Ich  hoffe  dass  Sie  sich  den  Bösen  Gedanken,  vieleicht  gar,  ohn- 
geachtet  unseres  bestrebens,  einen  Pfuitiggan^)  zu  machen,  auss 
den  Sinne  geschlagen  haben.  Sie  kennen  mich  zu  gut  lieber 
Herr  Regierungs  Rath,  als  dass  Sie  sollten  die  mindeste  Niedriege, 
und  unedle  Handlung  von  mir  glauben,  oder  nur  vermuthen 
können.  Dieses  ist  die  Antwort  welche  ich  Ihnen  geben  kan  auf 
die  Frage:  ob  ich  könte,  (bey  einem  falle  welcher  mit  Gottes 
Hülfe  nicht  so  bald  geschehen  soll,)  undankbar  seyn?  ich  für 
meine  Person  kenne  kein  grösseres  Laster  als  dieses.  Beantworten 
Sie  sich  diese  Frage  selbst.  J'espere  qu'en  peu  le*)  conseiller  de 
la  Regence  de  Mayence  cessera.  Leben  Sie  wohl,  behalten  Sie 
mich  lieb,  und  seyn  Sie  versichert  dass  Sie  keinen  treueren  Freund 
haben  als  Ihren  Freund 

Weimar  d.  SS*«»^  Jul.  1772.       Carl  August  E.  P.  z.  S.  W.  u.  E. 

2. 
Carlsruh  ce  29"»«  Dec.  1774.. 

G^est  un  peu  tard  que  je  Vous  r^ponds,  eher  ami,  mais  la 
raison  en  est  parce  que  je  n^ai  pas  pu  Vous  ecrire  plutot.  Leute 
wie  wir,  brauchen  sich  nicht  gegen  einander  zu  entschuldigen, 
wir  sind  Freunde  auf  immer  und  ewig, 

J'ai  trouv^  ma  Louise  comme  je  Tavois  pu  d^sirer,  eile  n*est 
pas  belle,  mais  en  Taimant,  et  en  lui  faisant  sentir  qu'on  Tairae 
eile  est  infiniment  agr^able.  Elle  est  d^une  taüle  mediocre,  a 
peu  pres  comme  Mlle.  de  Stein.  ^)  Ses  yeux  sont  grands,  et  a 
fleurs  de  täte,  pleins  d'un  caractere  pensant.  Le  nez,  la  bouche, 
sont  petits,  et  ie  tour  du  visage  en  tout,  bien  fait.  Son  coeur 
est  noble,  franc  et  valereux,  eile  est  tr^s  simple,  en  lui  parlant, 
eile  aime  avec  chaleur  et  v^rit^,  la  vertu  est  sa  d^sse,  eile  loue 
peu,  mais  ceux,  qu^elle  croit  etre  digne  de  son  estime,  peuvent 
etre  sur,    qu^elle  cherchera  toutes   les  occasions   pour   aggrandir 

')  Die  Anrede  durchgehends  erst  klein  geschrieben. 
>)  Erst:  'Eifrischtes' 

')  Qeändert  in  *zu\  dann  wiederhergestellt 
*)  Pfuidichan  DWB.  7, 1809  unter  pfuien. 

*)  Über  gestrichenem  *de\    Es  sollte  erst  *peu  de  temps  le*  lauten. 
')  Schwester  des  Oberstallmeisters,   Hofdame  der  Herzogin  Anna 
Amalia. 


Suphan,  Aus  Carl  Aagasts  Frühzeit.  6t 3 

leur  röputaiion.  Elle  est  tr^s  reconnoissante,  son  plus  sensible 
plaisir  est,  a  faire  du  bien,  et  eile  possede  toute  ces  bonnes  qua- 
litös  Sans  la  moindre  ostantation.  Sie  besitz  diejenige  grosse 
Eigenschaft,  welche  Lessing  im  Delheim  so  sehr  veredelt,  nehm- 
lich,  nie  von  einer  tugend  zureden  die  sie  besitz,  es  sey 
denn  die  höchste  Not h:  voila  au  court  le  caractere  que  j'ai 
cru  trouver  dans  la  personne  de  M£  la  P[rinces]se  Louise,  digne  fille 
de  feu  Caroline,  de  Darmstadt ;  Vous  Taimerez  en  la  connoissant. 
Je  commence  a  connoitre  Mgs.  le  Marg[rave]:  Vous  connoissez 
son  caractere,  il  a  le  doux  plaisir  d'etre  ador^  de  ses  sujets.  La 
Margr[ave]:  a  beaucoup  de  connoissance,  et  peint  admirablement 
bien,  le  Pr[ince]  hered:  est  honndte,  je  souhaite  qu*il  ressemble 
un  jour  a  son  Pere,  le  Pr[ince]  Fred[6ric]  semble  avoir  de  Tesprit, 
le  petit  Pr[ince]  Louis  a  de  la  vivacit^,  et  a  ce  qu'on  dit  un  hon 
caractere.  Le  Pr[ince]  Guillaume,  frere  du  Margr[ave]  est  d'un 
caractere  hon§te.  Les  Princes  Christophe,  Guillaume  Eugene, 
Charles,  sont  —  —  les  Oncles  du  Margrave:  Md:  la  Generale 
de  Pretlach  Grandemaitresse  de  feu  Dame  Caroline,  est  une  femme 
de  grand  merite;  Mr.  le  Baron  d'Edelsheim,  est  un  homme  plein 
d'esprit,  et  de  connoissance,  et  d'un  caractere  bien  respectable. 
La  Cour  est  mediocre.  J'ai  fait  la  connoissance  de  Goethe,  qui 
Vous  eslime  fort,  et  je  connois  Elopstock,  qui  me  plait  quelque 
fois  beaucoup;  car,  si  j*ose  le  dire,  il  me  semble  qu*il  sent  un 
peu  trop  quMl  est  Klopstock,  et  que  ce  sentiment  a  ^ras^  un 
peu,  la  sensibilit^  de  la  grandeur  des  autres. 

Voila  les  connoissances  les  plus  interressantes  que  j'ai  faites, 
exept6  ceux  de  Mayence.  Faites  bien  mes  compl[iments]  chez 
Vous.  Promettez  moi,  cherissime  ami,  qu'aucun  long  silence,  et 
qu'aucune  chose  ne  trouble  en  aucune  fa^on  Votre  amiti6  pour 
moi,  dont  je  me  glorifie,  en  toute  occasion:  mais  en  echange,  je 
Vous  promets,  que  rien  au  monde  ne  fera  changer  mes  sentiments. 

Les  peu  de  moments  que  possede  pour  moi,  je  les  remplis 
a  ecrire  maintes,  et  maintes  lettres  ennuyantes,  et  interressantes, 
et  le  peu  de  reste  que  ces  lettres  me  laissent,  je  Temploi  a  lire 
Tristram  Schaüdy.  On  connoit  peu  ici  la  bonne  literature  All- 
raande.  Nous  partirons  la  semaine  qui  vient  pour  Strasbourg,  je 
quite  ma  Louise  veritablement  avec  grands  regrets:  aber  wie  alles 
Ding  unter  dem  Mond  seine  Zeit  hat,  so  hat  mein  Aufenthalt, 
und  mein  Brief  die  seinige;  diese  letze  Wahrheit  befiehlt  mir  zu 
schliessen ;  leben  Sie  wohl,  und  behalte  Sie  denjenigen  im  Freund- 
schaftlichsten Angedencken,  welcher  mit  Leib,  und  Seel  gantz, 
und  gar.  Der  Ihrige  ist. 

Carl  August.  H.  z.  S.  W. 

Beide  Briefe  sind  mit  dem  Nachlass  von  Carl  Leonhard 
Reinhold,  Wielands  Schwiegersohn,  unlängst  durch  Schen- 
kung in  das  Goethe-  und  Schiller- Archiv  gelangt;  ich  ver- 


614  Suphan,  Aus  Carl  Augusts  Frübzeit. 

Öffentliche  sie  mit  höchster  Genehmigung.  Mehr  ist  kaum 
vonnöthen  den  Lesern  der  Yierteljahrschrift  zu  sagen :  sie 
werden  den  ersten  in  die  von  Seuffert  veröffentlichten  Acten 
zur  Qeschichte  von  Wielands  Berufung  (Yierteljahrschrift 
1 ,  388.  389)  einordnen ,  und  zum  zweiten ,  auch  ohne  Citat 
die  Erklärung  aus  ^Dichtung  und  Wahrheit'  nebst  v.  Loepers 
Anmerkungen,  oder  aus  Düntzers  ^Goethe  und  Carl  August" 
entnehmen.  Ich  fuge  somit  nur  ein  paar  Sätze,  auf  Be- 
schreibung und  Charakteristik  abzweckend,  hinzu. 

Die  Buchstaben  des  ersten  sind  noch  schul-  ja  fast 
kanzleigerecht  hingemalt,  im  zweiten  offenbart  sich  schon 
der  individuelle  Charakter  der  Schrift.  Aber  der  Schreiber 
auch  des  ersten  steckt  nicht  mehr  in  den  Enabenschuhen. 
Hat  der  ^Mentor\  Graf  Görtz,  etwa  auf  Haltung  und  Aus- 
druck dieser  ersten  Ansprache  des  fürstlichen  Schülers  an 
den  ^Leib-Danischmende'  (vgl.  Seuffert  a.  a.  O.  1 ,  365)  einen 
Einfiuss  geübt?  Ich  glaube  es  nicht.  Die  selbstbewusste 
Sicherheit,  die  fürstliche  Gabe,  die  Menschen  zu  nehmen, 
wie  sie  genommen  sein  wollen,  und  die  Geister  zu  unter- 
scheiden, sie  kündigt  sich  in  Keim  und  Anbruch  schon  hier 
an;  merkbarer  allerdings,  und  auf  dem  Grunde  einer  natür- 
lichen Bonhommie  im  zweiten  Schreiben,  dem  des  glück- 
lichen Verlobten.  Da  hören  wir  den  Jüngling  reden,  der 
eben  erst  auf  Goethe  den  gewinnendsten  Eindruck  gemacht 
hat.  Wie  er  mit  ein  paar  Zeilen  den  Dichter  des  Messias 
charakterisirt,  den  Mann  der  Prätensionen,  wie  er  diesem, 
den  ein  starkes  Gefühl  für  die  eigene  Grösse  manchmal 
unleidlich  macht,  Goethe  gegenüberstellt,  'Goethe,  qui  vous 
estimc  fort'  —  es  mag  das  mit  oder  ohne  Berechnung  so 
hingeschrieben  sein;  im  zweiten  Falle  wäre  es  erst  recht 
ein  Beweis  jener  natürlichen  Begabung.  Den  Yerfasser 
von  'Götter,  Helden  und  Wieland'  hätte  er  zur  Zeit  gar 
nicht  vortheilhafter  bei  dem  Freunde  und  weiland  'Leib- 
Danischmende^'')  einführen  können. 

^)  Als  solcher  d.  h.  als  Erzieher  und  Lehrer  war  Wieland  abge- 
dankt, Ende  1774.  Vgl.  Yierteljahrschrift  2,  582  Senfferts  Nachtrag 
zu  der  oben  angeführten  Abhandlung.  Man  darf  yermnthen,  dass  Carl 
August  von  Goethes  Angriff  auf  Wieland  etwas  gewusst  habe;  bewei- 
sen lässt  es  sich  nicht. 


Nachträge.  615 

Carl  August  ist,  mit  einem  (einem  Goethischen)  Worte 
gesagt,  ^eine  Natur\  So  gibt  er  sich  schon  in  diesen 
Jugendbriefen,  den  frühesten,  die  wir  von  ihm  kennen. 
Dies  lässt  sich  mehr  fühlen  als  darstellen.  Ich  merke  nur 
noch  Eines  an.  Wieland  gebraucht  in  seinen  Yerhandlun- 
gen  mit  Weimar  vorzugsweise  die  Sprache  der  Höfe.  Auch 
Anna  Amalia  schreibt  französisch  an  ihn.^)  Der  junge 
Prinz  schreibt  deutsch,  nur  einen  französischen  Satz  lässt 
er  im  ersten  Briefe  mit  unterlaufen.  Wenn  im  zweiten  das 
Französische  überwiegt,  so  darf  man  zunächst  daran  denken, 
dass  eben  jetzt  die  Reise  nach  Frankreich  ging.  Unwill- 
kürlich drängt  sich  doch  auch  hier  die  Muttersprache  her- 
vor, wo  aufrichtige  Freundschaft  zum  Worte  kommt.  Und 
der  Zögling  Wielands  leiht  aus  Lessings  deutschestem  Stücke 
den  Ausdruck,  welcher  die  sittliche  Grösse  der  Erkorenen 
bezeichnen  soll. 

Weimar.  Bernhard  Suphan. 


Nachträge. 

Zu  3,  42flF.     'Die  27Spir. 

Der  in  dieser  Yierteljahrschrift  3,  43  f.  mitgetheilte 
Meistergesang,  der  in  der  Handschrift  einfach  'Die  27  Spil' 
überschrieben  ist,  trägt  —  worauf  mich  E.  Goetze  neuer- 
dings freundlichst  aufmerksam  macht  —  im  Zwickauer  Ge- 
neralregister die  genauere  Bezeichnung  'Die  27  spil  des 
Schmidlein'.  Es  sind  also  nicht  die  Rollen  des  Dichters, 
die  wir  kennen  lernen,  sondern  die  eines  andern.  Für  die- 
sen war  das  Gedicht  gemacht ,  er  trug  es  auf  der  Sing- 
schule vor.    Dass  dergleichen   häufig  vorkam,   ist  bekannt. 

*)  In  ihrem  ersten  Brief  an  Wieland,  den  Seuffert  mittheilt 
(a.  a.  0.  1,  375)  ist  gegen  Ende  zu  lesen,  wie  Heinzel  2,  580  ver- 
muthet  hat:  a  gtre  enjolivee  par  les  graces.  Nach  cette  hat  sie 
(am  Zeilenende)  ausgelassen  science  (die  Philosophie)  oder  sie  hat 
schreiben  wollen  eile.  Wenig  Zeilen  weiter  lässt  sie  in  dem  Satze: 
il  depend  a  present  de  me  faire  tout  a  fait  respirer  nach  a  present  am 
Seitenschluss  aus:  de  vous.  Vgl.  den  Schluss  ihres  zweiten  Briefs 
S.  385:  cela  dependra  de  vous. 


616  Nachträge. 

Man  vergleiche  nur  die  (übrigens  erstaunlich  unzuverlässige) 
Einleitung  der  Hans -Sachs- Ausgabe  von  B.  Arnold  S.  XXI  ff., 
Kollers  Fastnachtspiele  3,  1271,  den  Meistergesang  ^Dichter 
und  Singer'  bei  Goedcke,  Dichtungen  des  H.  Sachs  i'^, 
24 ff.;  die  Belege  Hessen  sich  vermehren.  —  Das  Gedicht 
behält  seinen  Werth,  sofern  es  uns  von  den  in  Nürnberg 
1534  —  1551  aufgeführten  Stücken  des  Hans  Sachs  Kunde 
gibt. 

Meine  frühere  Deutung  des  Schlusses  zerfällt  in  sich. 
Dagegen  erblicke  ich  im  Schlussvers  jetzt  eine  Andeutung 
über  die  Persönlichkeit  des  schauspielerisch  so  thätigen 
^Schmidlcin'.  Ein  näheres  Eingehn  darauf  würde  Ausfüh- 
rungen über  die  Familie  des  Dichters  erfordern,  die  ich 
auf  eine   andre  Gelegenheit  verschieben  muss. 

Berlin.  Yictor  Michels. 


Zu  3,  187 — 189.  E.  Goetze -Dresden  ersucht  zu  er- 
innern, dass  das  ^fehlt  bei  Goedeke'  auf  diesen  Seiten  sich 
auf  die  I .  Auflage  des  Grundrisses  bezieht ;  die  2.  bringt 
sämmtliche  Daten  über  Rost  und  Kretschmann. 


Berichtigungen. 


S.  527  Z.  7  aai  Schlüsse  des  2.  Verses  lies:  Lüfte  statt  Dafte.  — 
S.  528  Z.  3  y.  u.:  weich  statt  reich. 


REGISTER 


BEARBEITET  VON  JÜSTÜS  LÜNZER. 


f 


Abbt  Th.  403. 

Abrabam  a  Sta.  Clara  608-611. 

Adam  H.  36. 

Adami  J.  S.  365—367. 

Addison  51.  56. 

Adelung  J.'Ch.  555. 

Adler  509. 

v.Affry  L.  209. 

Alamanni  L.  531. 

d^Aliayrac  478. 

Anakreon  292. 

Anakreontik  510-512.  517.  525— 

527.  529.  530. 
Aeneas  Sylvias  6.  13.  14.  17. 
Anfossi  P.  479. 
Appius  Claudius  315. 
Aretinus  L.  13.  17. 
Aristopbanes  302. 
Aristoteles  203.  309.  311. 
V.  Arnheim  259. 
V.  Arnim  269. 
y.  Arnim  369. 

y.  Arnim  L.  A.  192.  574.  582. 
B.  Arnold  616. 
Arnold  G.  400.  404.  407. 
Asdorf  369. 
Austrianus  A.  s.  Österreicher  A. 

F.  Baader  30. 

y.  Babo  F.  M.  478. 

Bach  K.  Ph.  E.  269. 

J.  Baecbtold  16. 201—235.  291.  292. 

Baden-Dnrlach  613. 

August  Wilhelm  Georg  1 14. 
Baiem.   Wilhelm  603. 
B&mler  19. 
Barth  D.  98. 
Bartholin  Th.  579. 
Batteux  273. 
Baumann  Ch.  395. 
Bebel  H.  201.  202. 
Beck  H.  571. 
Becker  364. 
Becker  Sophie  457. 
0.  Behaghel  186-191. 


Behm  418—420. 

Behrens  130.  131.  153.  154. 

Behrisch  E.  W.  184. 

Beil  J.  D.  477.  481.  570.  571. 

L.  Bellermann  556. 

Bellfort  8.  V.  Stamford  H.  W. 

Bellomo  476. 

y.  Bentink,  Gräfin  369. 

Benzler  J.  L.  65.  77.  459.  461.  465 
—467. 

Bergius  267. 

Beivius  506. 

Berliner  Abendblätter  191—195. 

Berliner  Monatsschrift  451. 

M.  Bernajs  290.  508. 

y.  Bemstorif  Charitas  Emilie  457. 

y.  Beulwitz  F.  W.  L.  121. 

Beytr&ge  in  das  Archiv  des  deut- 
schen Parnasses  91.  94. 

Bidermann  N.  209. 

Bion  274. 

Birck  S.  34. 

Bimstiel  F.  W.  269. 

L.  Bob^  295—297. 

Bocalinus  T.  609. 

Boccaccio  13.  14.  17.  23.  24.  317. 

Bock  J.  Ch.  479. 

y.  Bodensteyn  A.  229. 

Bodmer  J.  J.  122.  263.  283.  284. 
291. 

F.  M.  Böhme  395. 

Bohn  111. 

Boie  H.  Ch.  67.  71.  76.  77.  80.  81. 
89.  91.  92.  94.  96—99.  102. 
106—113.  429.  542.  543. 

BoUmann  J.  F.  455. 

Bolzius  370.  371. 

y.  Bondeli  Julie  115. 

Bonnet  Ch.  317. 

Börne  L.  315. 

Böttiger  K.  A.  377. 

Boucher  514. 

R.  Boxberger  172. 

Boysen  F.  E.  511. 

0.  Brahm  483.  484. 


620 


Register. 


A.  Brandl  47—62. 

V.  Brandt  276. 

Breitinger  J.  J.  283. 

Breitkopf  J.  G.  J.  73.  269.  281. 

Brentano  C.  192.  574.  584. 

Bretzner  Ch.  F.  479. 

Brüggler  S.  229. 

Bnins,  Frau  461.  462. 

Brutus  314. 

Der   Buchdrucker    (Hamburgische 

Wochenschrift)  76. 
E.  V.  Bülow  486.  487. 
Bunyan  J.  169. 
K.  Burdach  199.  200.  289. 
Bürger  G.  A.  62—113.   169.   290. 

416-476. 
Familie  63.  66.  69.  71.  72.  77— 

81.  83-86.  89-92.  94.  97.  99. 

103.  107.    110.  112.  417.  418. 

420.  421.  423—431.  433-438. 

445.  449—452.  465.  466.  468. 

545.  546. 
C.  A.  H.  Burkhardt  476-483. 
Byron  56. 

Calderon  306. 
Campe  J.  H.  464. 
Cardanus  H.  500. 
Caro  305. 

Carpzow  S.  B.  395. 
Cato  228.  249.  250.  314. 
Catull  236.  249. 
Caylus  414. 
Cervantes  385.  487. 
y.  Chamisso  A.  564. 
Chartres,  Heraog  126. 
Chateaubrun  310. 
de  Chaulieu  G.  A.  179. 
Chevilly  58. 
Chirander  236. 
Chodowiecky  D.  N.  424. 
Ohrist  J.  F.  301. 
Cibber  C.  48.  51. 
Cibber  d.  j.  53. 
Cicero  142.  288. 
Cimarosa  J).  478.  479. 
Claudius  M.  65.  107. 
Clodius  285. 

Clodius  Ch.  A.  284-289. 
ColUer  J.  51. 
Conrad  K.  L.  415. 
Corneille  311. 
V.  Cotta  J.  F.  506-508. 
Cowmeadow  479. 
Coypel  514. 
Cramer  436. 
Cramer  J.  A.  182. 
V.  Cronegk  J.  F.  317. 


Crusius  S.  L.  129—132.  161—163. 
Cuno  369.  371. 
Curius  250. 

V.  Dalberg  H.  143.  570.  571. 
Dänemark.  Charlotte  Amalia  395. 
Christian  V.  395—398. 
Christian  VI.  295  -297. 
Friedrich  III.  397. 
Sophie  Amalie  397. 
Daniel  410. 

Th.  W.  Danzel  301.  304.  305. 
Davies  47.  48.  53.  57.  59. 
de  la  Motte  479. 
Denis  J.  M.  C.  422. 
Denso  369.  371. 
y.  Derschau  429. 
Dessoir  L.  569. 
Deutschland.  Kari  V.  365.  367. 

Maximilian  1. 41.367. 
Sigismund  602—604. 
y.  Diessbach  -  y.  Tayel ,  Frau   122. 
Dieterich  J.  C.  67.  90.  92-95.  103 
-108.  110.  416.  419.  423—425. 
432.  448. 
Th.  Distel  394-898. 
Ditters  yon  Dittersdorf  K.  478. 
Dohm  Ch.  K.  W.  85—87.  108. 
Döring  Th.  569. 
Drama 
Alexiusdramen  299. 
Arden  of  Feyersham  55. 
Fastnachtspiel  28—46.  175.  207 

—  227.  615.  616. 
Josephsdramen  34. 
Schem bartspiel  28. 
Virginia  311. 
Vom  klugen  Knecht  208. 
Von  Astrologie  und  Wahrsagen 

207-227. 
Weihnachtsdrama  29. 
Dumouriez  471. 
Dumpf  J.  W.  398. 
Dunkel  477. 
Dunker  B.  A.  122. 
H.  Düntzer   1.  22—26.   114.    117. 

118.  525.  526.  529.  556. 
yan  Dyck  514. 
Dyk  J.  G.  524. 

Ebert  A.  401.  408. 

Ebert  J.  A.  311. 

Edda  503—505.  578—580. 

y.  Edelsheim  G.  L.  613. 

F.  Eichler  199. 

Eichstädt  H.  K.A.  379.  550.  551. 

y.  Einsiedel  F.  H.  477.  481.  483. 

.T.  Elias  506-508. 


Register. 


621 


G.  Ellinger  177.  178. 

E.  Elster  590.  5%.  597.  599-601. 
Engel  K.  Ch.  479. 
England.    Anna  51. 

Carolina  49. 
Charlotte  Sophie  51. 
Georg  III.  50.  51. 
James  II.  51. 
Mary  51. 
Wilhelm  50.  51. 
Erfurter  gelehrte  Zeitung  509. 519. 

525. 
V.  Erlach  A.  F.  d.  ä.  118.  120.  125 

—127. 
V.  Erlach  A.  F.  d.  j.  116-118.  120. 
123 127. 

V.  Ellach  H.  L.  116-118.  120. 

V.  Emest  452. 

V.  Escher  282.  284. 

Euler  L.  371.  372. 

Euripides  151.  161.  551. 

Ewald  J.  J.  282.  290.  292.  295. 

v.Eyb  A.  1.  2.  13.  15.  16.  19-21. 

Fabricius  2.50.  314. 
Farquhar  G.  54. 
Fassmann  D.  608.  611. 
Faust  199.  200.  365-367.  385. 
Faust  J.  177.  178. 
Fesselmann  V.  30—32.  39—41. 
W.Fielitz  114.  118.  505.  506. 
Fischart  201—235.  381—394. 

F.  V.  Fischer  115. 
Fliess  542.  543. 
Fogel  M.  40. 

V.  Pölckersam  F.  W.  295—297. 
Folz  H.  32. 
Formey  .1.  H.  S.  415. 
Förster  583. 
Forster  G.  506. 
Forster  J.  R.  506. 
Frankfurter  gelehrte  Anzeigen  199. 
Frankreich.  Ludwig  XIII.  120. 

Ludwig  XIV.  120. 398. 
Freidank  360.  587. 
Der  Freimüthige  154.  170. 
Fries  552. 
Fritsch  552. 

Frölich  J.  30.  32.  36—42. 
Funk  452. 
FüssU  H.  510. 

Galland  435. 
Garrick  D.  54. 
Garth  291. 
Garve  Ch.  573. 
Gasterits  M.  395. 
Gause  267. 

Vimrteljahraohrift  für  litteratoigeschichto 


Gay  J.  52.  53.  55. 

L.  Geiger  184.  367-^373.  502.  503. 

Geliert  C.  F.   159.  187.  274.  275. 

284.  304.  309.  317. 
Geneste  48.  50.  52—54.  56. 
Germershausen  292. 
V.  Gerstenberg  182. 
V.  Gerstenberg  H.  W.  76. 178-183. 

187.  399.  423.  575. 
Gessner  S.  51.  274.  282-284.  515. 

524. 
Girtanner  Ch.  469. 
Gleim  J.  W.  L.  77. 93. 96. 178-181. 

183.    187.  200.  254—260.  262 

—272.  274.  276.  278—281.  284. 

291—295.  423.  446.  468.  509— 

520.  522—525.  553. 
V.  Goeckingk  62. 
V.  Goeckingk  G.  62-113.  416—476. 

545. 
Familie  68-71.  74.  78.  79.  82- 

85.  90-95.  97.  98.   105.    106. 

109.  110.  416—418.  424-427. 

429.  432.  435—438.  440.  451. 

453—456.  458-460.  462-467. 
K.  Goedeke  21.  22.  129.  131-133. 
144. 148. 154. 164. 173. 187—189. 
201.  227.  616. 
Goldsmith  0.  61. 
Goldoni  C.  478. 

de  Gomez,  Mde.  486-496.  499. 
Gonzales  M.  (Pseudon.)  48.  49. 
V.  Gonzenbach  A.  118. 
V.  Görtz  E.  612.  614. 
Goethe  76. 78. 113. 116—123.  129— 

132.  146.  163.  166.   169.  251. 

311.  322.  373-380.  473.  475. 

476-483.  505.  509—530.  544. 

545.  554.  555.  573.  574.  613— 

615. 
Briefe  an  H.  Meyer  374.  375. 

K.F.v.Sinnerll7.121. 
von  Rückert  378. 

Dramen. 

Amine  184—186. 

Die  Aufgeregten  303. 

Claudine  von  Villabella  478. 

Clavigo  305. 

Egmont  119. 

Farcen  545. 

Faust  299.  318.  322— a59. 

Götter,    Helden    und    Wieland 

341.  614. 
Götz  von  Berlichingen  119.  305. 

481.  483.  570. 
Jahrmarktsfest    von    Plunders- 

weilem  82. 


m 


41 


622 


Eegisier. 


Goethe 
Iphigenie  299. 

Laune  des  Verliebten   124—126. 
Mahomet  146. 
Natürliche  Tochter  507. 
Romeo  und  Julia  481.  483. 
Schäferspiel  185.  186. 
Stella  305. 
Torquato  Tasso  322. 
Vorspiel  för  Halle  481.  483. 

Epen  und  Lyrik. 

Alexis  und  Dora  135. 

Der  Besuch  251. 

Gedichte  131—133.  167.  184. 

Hermann  und  Dorothea  552. 

Höllenfahrt  184. 

Idylle  ia5-157. 

König  in  Thule  337. 338. 350. 353. 

So  ist  der  Held,  der  mir  gefällt 

509—530. 
Venetianische  Epigramme  151. 
Xenien  180.  146.  150.  173. 

Prosa. 

Abendmahl    yon    Leonardo   da 
Vinci  375. 

Kunst  373—377. 

Unterhaltungen   deutscher  Aus- 
gewanderter 1.  13.  16.  21—27. 

Werthers  Leiden  122.  336.  337. 
y.  Goethe  A.  482. 
Goethe  Gomelie  184.  185. 
Gotter  505. 

Gottsched  J.  Ch.  114.  290.  302. 
Götz  J.  N.  200.  509. 
E.  Goetze  33.  36.  284.  615.  616. 
Goeze  J.  A.  E.  462. 
Goeze  J.  M.    303.  317.  318.   321. 

415.  462. 
Graff  A.  130.  131. 
Gräter  F.  D.  575. 
Gran  H.  21. 
Graun  K.  H.  269.  294. 
de  Gresset  J.  B.  L.  178. 
Grimm  J.  394.  573—575.  578-580. 

582—584.  587. 
Grimm  W.  573—589. 
E.  Grisebach  191. 
Gniner  J.  R.  115.  116. 
Gryphius  A.  322. 
G.  E.  Guhrauer  1.  22. 
Guicdardini  F.  408. 
Guichard  295. 
Gülcher  Th.  545. 
Galing  413. 
V.  Gundling  J.  P.  608. 
Gurlitt  J.  G.  458. 


Häfeli  J.  K.  4.59. 

V.  Hagedorn  F.  187.  269.  286.  289. 

Hagemann  G.  479. 

Hagemeister  J.  F.  478.  479. 

Hager  G.  32. 

Hahn  Elise  464.  465. 

Hain,  Göttinger  198. 

V.  Halem  G.  A.  290.  447.  448.  451. 

y.  Haller  A.    115.    122.   302.   319. 

367-373. 
Hallische  gelehrte  Zeitung  180. 
K.  Halm  547—549. 
Hamburger  neue  Zeitung  179.  181. 

398—412. 
R.  Hamel  291. 
y.  Hardenberg  368. 
y.  Hardenberg  K.  A.   473. 
0.  Harnack  373—377. 
y.  Harold  E.  422. 
Hartmann  J.  s.  y.  Schmidt  J. 
Harward  57. 
Haselmann,  Heselmann  V.  s.  Fessel- 

mann  V. 
Hätzlerin  Clara  359. 
Hang  J.  Ch.  F.  575. 
A.  Hauffen  381—394. 
Hausen  C.  R.  401—415. 
Hebel  J.  P.  575. 
Hecker  606. 
Heidelbergische    .Jahrbücher    574. 

575. 
Heine  589—601. 
Heine  Amalia  596—601. 
Heine  Therese  598—601. 
Heinse  W.  186—191.  525. 
R.  Heinzel  615. 
Hellwag  542.  549.  550. 
Hempel  263. 
Hennchman  J.  201.  202. 
W.  Herbst  542. 
Herder  573-589. 

Epos  und  Lyrik. 

Cid  584-587. 
Volkslieder  574—579. 

Prosa. 

Adrastea  582. 

Aurora  582. 

Auszug  aus  einem  Briefwechsel 
Über  Ossian  und  die  Lieder 
alter  Völker  503—505.  579. 

Fragmente  413. 

Ideen  zur  Philosophie  der 
Geschichte  der  Menschheit 
578. 

Iduna  oder  der  Apfel  der  Ver- 
jüngung 578.  587. 


Register. 


623 


Herder 

Über    Märchen     und     Romane 

582. 
Von    Ähnlichkeit    der   mittlem 

englischen  u.  deutschen  Dicht- 
kunst 580—582. 
Von   deutscher  Art  nnd  Kunst 

578.  581. 
Herder  Karoline  582. 
Hering  L.  177. 

M.  Herrmann  1—27.  602—608. 
Hess  F.  510. 

Hessen-Darmstadt.     Karoline  613. 
V.  Hetsch  P.  F.  508. 
Heufeld  502.  503. 
M.  Heydrich  497. 
Heydt  P.  208. 
Heyne  101. 
Hickes  G.  579. 

Hieronymus  (von  Venedig)  29. 
Himburg  C.  F.  131.  423. 
Hindenburg  C.  F.  89. 
Hirzel  J.  K.  282.  291. 
L.  Hirzel  113—128.  367.  368.  528. 
V.  Hoffmann  455.  458.  459.  462. 
L.  Hoffmann  47.  48.  56.  59. 
0.  Hoffmann  199. 
J.  Hoffory  580. 
Hofmeister  F.  A.  479. 
Holberg  L.  302. 
Hölty  1.  H.  Ch.   68.   69.    76.   94. 

546-549. 
Homer  77.  79.  80.  85.  91.  92.  94. 

96.   111.   149.   388.  441.   442. 

444-447.  545.  546. 
Horaz  200.  236.  250.  265.  271.  289. 

292.  400. 
F.  Hom  584.  588. 
Hübner  M.  G.  395. 
Hughes  59.  60. 
Hugo  V.  313. 

y.  Humboldt  Karoline  375. 
V.  Humboldt  W.  133.  373.  375. 
Hümer  114. 

Jacobi  F.  H.  183. 

Jacobi  J.  G.  96.  178—183.  187.  513. 

514.  517-521.  523. 
D.  Jacoby  290. 
Jean  Paul  553.  555. 
Iffland  A.W.  477—479.  481.  483. 

570-572. 
Immermann  K.  306. 
P.  Joachimsohn  603. 
Johnsohn  S.  51. 
K.  H.  Jördens  367. 
Iselin  J.  282.  403. 
Jünger  J.  F.  478.  481. 


V.  Kalb  Charlotte  147. 

Kant  183. 

Karsch  Anna  Luise  179.  187. 

Kästner  A.  G.  107.  187.  302. 

G.  Kettner  128—173.  556-573. 

Khune  J.  H.  395. 

Kies  369. 

V.  Klein  A.  480. 

V.  Kleist  276. 

V.  Kleist  E.  251 --297.   306.   310. 

314.  321.  509. 
V.  Kleist  F.  C.  289. 
V.Kleist  H.  191  —  195.  312-314. 

320.  483—500.  556. 
Klinger  508. 
Klopsteck  76.  91.  93.  108.  112.  181. 

182.  267.  432.  511.  527.  555. 

588.  613.  614. 
Auf  meine  Freunde  200. 
Gelehrtenrepublik  72.  74. 76. 108. 
Klotz  Ch.  A.  180.   183.    316.  403. 

412-415.  517.  518. 
V.  Knebel  K.  L.  588. 
Knowles  R.  58. 
Kobell  F.  117. 
Kobeixer  13. 
A.  Koberstein  186.  187. 
M.  Koch  180. 
R.  Kögel  337. 
R.  Köhler  130.  131. 
V.  König  J.  ü.  200. 
König  S.  371.  372. 
£.  Köpke  191.  192. 
Körner  Ch.  G.  128.  129.  152.  172. 
V.  Kotzebue  A.  477.  479—482.  553. 

554. 
Kramer  465. 

Kratter  F.  477.  478.  481.  483. 
Kraus  G.  M.  508. 

Krause  Ch.  G.  264.  267.  269.  292. 
Kretschmann  K.  F.  189.  190. 
Krummenstoll  W.  209. 
Krünitz  J.  G.  289. 
Kudrun  311. 
H.  Kurz  504. 
G.  Kutschera  v.  Aichbergen  196. 198. 

L.  J.  C.  J.  89. 

K.  Lachmann  585.  586. 

Lafontaine  187. 

Lafontaine  A.  463. 

M.  Landau  24. 

Lange  S.  G.   199.  200,  251—254. 

289 
Langemack  258.  266.  267. 
V.  La  Roche  G.  M.  F.  515. 
Lassenius  J.  394—398. 
H.  Laube  186-188.  190.  191, 


624 


Register. 


Lavadin  58. 

Lavater  J.  K.  317.  318.  416.  510. 

549.  550. 
Le  Blanc  257. 
Leibniz  319.  372. 
Leisching  P.  A.  398. 
Leisewitz  J.  A.  195—199.  479.  505. 
A.  Leitzmann  195—199.  336.  337. 

505.  506. 
Lemnius  S.  400.  408.  413. 
T.  Lengefeld  Charlotte  506. 
V.  Lengefeld,  Frau  u.  Töchter  121. 
Lenz  J.M.R.  422. 
Less  G.  303. 
Lessing    180.   187.  199.  254.  269. 

273.  275.  276.  278—280.  284. 

294.  298—323.  398-415.  542— 

587. 

Drama. 

Dämon  303. 

EmiHa  Galotti   300.    302.  304. 

310-318.  321.  567.  568. 
Fatime  315. 
Der  Freigeist  301. 
Giangir  302. 

Der  junge  Gelehrte  301.  302. 321. 
Henzi  304. 

Die  Juden  303.  316.  318.  321. 
Die  alte  Jungfer  303.   308.  321. 
Matrone  von  Ephesus  315. 
Minna  von  Bamhelm  300.  306 — 

312.  314.  316.  318.  321.   323. 

472.  570.  613.  615. 
Der  Misogyn  321. 
Miss  Sara   Sanipson    304.    305. 

310.  316.  318. 
Philotas  306.  307.  316.  318.  321. 

Prosa. 

Antiquarische  Briefe    399.   412. 
413. 

Beiträge  aus  der  Wolfenbütteler 
Bibliothek  199. 

Hamburgische  Dramaturgie  311. 
314.  317.  412.  502.  503. 

Erziehung      des      Menschenge- 
schlechtes 321. 

Gedanken  über  die  Herrenhuter 
303.  304.  317. 

Laokoon  310.  315.  319. 

Leben  des  Sophokles  307.  310. 

Litteraturbriefe  310. 

Recensionen  399—415. 

Rettung  des  Gardanus  317. 

Theatralische  Bibliothek  304. 311. 
Lessing  K.  G.  542.  543. 
Lichtenberg  G.  Ch.  416.  506. 


Lichtwer  M.  G.  187. 

Liegnitz,  Fürst  von  233. 

H.  A.  Lier  290. 

Lillo  G.  47—62.  305. 

Limburg,  Georg  Schenk  von   177. 

178. 
Lippe-Detmold.  Friedrich  Wilhelm 

Leopold  461. 
Lippert  Ph.  D.  179.  181. 
Lips  J.  H.  119. 
Livius  410. 

Lobkowitz,  Fürst  269. 
G.  V.  Loeper  529.  614. 
Lossig  K.  543. 
Lotter  J.  37. 
Löuw  P.  209. 
Löuwenstey  R.  209. 
Löwen  J.  F.  187.  199. 
Lucius  Ch.  395. 
Lucretia  313. 
Lucrez  265. 

V.  Ludecus  Caroline  496. 
Ludel  S.  42. 
Lüder  95.  420. 
Ludwig  0.  322.  497. 
Luther  28.  401.  408.  521. 
Lyrik  579—581.  584. 

altdänische  .574—578. 

S.Herder,  Volkslieder. 

Des   Knaben  Wunderhom  574. 
581. 

Maass  509. 

Maier  J.  479. 

Maior  J.  21. 

Mangelsdorf  K.  E.  4U. 

V.  Manteuffel  274. 

V.  Manteuffel  276. 

Malespini  C.  16.  22—25. 

Malbourough  51. 

Marschall  von  Biberstein  308. 

Martial  249.  250. 

E.  Martin  178.  180. 

Martini  J.  P.  Ä.  478. 

Matthisson  F.  200. 

de  Maupertuis  P.  L.  M.  372. 

J.  Mayerhofer  177.  178. 

J.  Meier  363—365. 

Meister  L.  291. 

Meistersinger  29—38.  37.  42.  43 

615.  616. 
Melanchthon  Ph.  521. 
Mendelssohn  M.  300.  306. 310.  316. 

318. 
Menzel  509. 
W.  Menzel  498. 
Merck  J.  H.  544. 
V.  Meusebach  K.  H.  G.  202. 


Register. 


625 


Meusel  J.  6.  414. 

Meyer  F.  L.  W.  424,  460. 

Meyer  H.  373-377. 

J.  Meyer  170. 

R.  M.  Meyer  5?98-323.  416. 

A.  Meyer  Cobn  282.  294. 

deMezeray,  F.  Eudes  401.  408. 

Michaelis  J.  B.  509-530. 

V.  Michels  28-46.  615.  616. 

Miller  J.  M.  544. 

Milton  302. 

J.  Minor  184.  527. 

Misander  s.  Adami  J.  S. 

Moli^re  308.  821.  380. 

Montaigne  483-  486.  496. 

V.  Montenache  D.  209. 

Montesquieu  284. 

Moore  £.  54. 

Mornav  Ph.  401.  408. 

V.  Mosheim  J.  L.  404. 

Mozart  478—482. 

Müller  408. 

V.  Müller  F.  529. 

Müller  G.  582. 

V.  Müller  J.  504. 

Müller  W.  478.  479. 

F.  Muncker  45.  191.  399.  496. 

Murcky  291. 

Musaeus  547. 

Mylius  Ch.  367-373. 

Nas  J.  201.  228. 
Naumann  Oh.  N.  509. 
Nibelungen  553.  585.  586. 
Nicolai  F.  91.  94.  256.  418.    462. 

545. 
Niebuhr  B.  575. 
H.  Nohl  2.  16. 
Novellen. 

Cent  nouvelles  nouvelles  14—16. 
22—25.  27  8.  Gomez. 

Marina  1—27. 

Speculnm  exemplomm  16.  21.22. 
Nyerup  E.  575. 

Oehlenschläger  A.  551.  552. 

Opitz  M.  252. 

Oranien.    Wilhelm  49.  50. 

Oeser  A.  F.  513. 

Ossian  422.  423.  503.  527.  581. 

Österreicher  A.  32.  40. 

Otway  Th.  60. 

Ovid  236.  249. 

Paisiello  0.  478. 
V.  Pappenheira,  Graf  A.  507. 
y.  Pappenheim,    Gräfin  Fernanda 
506.  507. 


Passow  F.  379. 
Paulus  E.  G.  553. 
Peringskiöld  579. 
Petrarca  13. 
Petretus  A.  21. 

Petrus  Martyr  Anglerius  400.  408. 
Pfeffel  G.  K.  71.  93.  95.  187. 
J.  Pfeiffer  508. 
Pfitzer  J.  N.  200.  366.  367. 
R.  Philippsthal  380. 
Pindar  400. 

Pitaval  484-487.  496.  499. 
Piaton  546. 
Plautus  46.  306. 
V.  Plötz  276. 
y.  Podewils  369. 
Poggio  G.  F.  14.  27. 
Pope  A.  319. 
Posse  P.  395. 
Praktiken  201-235.  361. 
V.  Praroman  W.  208. 
y.  Pretlach  613. 

Preussen.     Friedrich  II.  281.  285. 
294.   297.  311.  400. 

Friedrich    Wilhelm   I. 
281.  608. 

Friedrich  Wilhelm  II, 
455.  457.  475. 

Prinzessin    Friederike 
455.  457.  462. 

Prinz  Heinrich  284. 
Probst  P.  32. 

Properz  236-241.  249—251. 
A.  Puls  236-251. 
Puschmann  A.  32. 
Pütter  J.  S.  74. 
Pyra  J.  J.  200.  292.  509. 

Quicklperger  34. 
Quicklperger,  Frau  34. 
Quin  62. 
Quintus  Icilius  s.  Guichard. 

Babelais  201. 

Racine  L.  286.  287.  551. 

Ä.  Raiz  323—359. 

Ramler  K.  W.  104.   108.   199.  200. 

254-282.  291-295.  400.  471. 
G.  Ransohoff  530—541. 
Rapin  410. 

Rappolt  L.  28.  35.  36. 
Rask  R.  Ch.  579. 
y.  d.  Recke   Elisa  454.  457.   458. 

461.  463. 
C.  Redlich  89.  412. 
Regnier  289. 
Regulus  306.  314. 
Reich  Ph.  E.  72.  74. 


626 


Register. 


Reichard t  J.  F.  154. 

Reinhart  J.  Ch.  508. 

Reinhold  C.  L.  613. 

Resenius  P.  J.  504.  505. 

Resewitz  F.  G.  452. 

de  Retz  H.  556.  557.  567.  568. 

Reuchlin  J.  46. 

Reuss,  Graf  284.  285. 

Rheinischer  Merkur  552. 

Richardson  S.  48.  305. 

Riemer  F.W.  379.  477.  481. 

Rollenhagen  G.  436. 

V.  Ros^e  H.  294. 

Rost  J.  Ch.  186—188. 

H.  Roetteken  184-186. 

Rousseau  115.  180.  284.  286.  287. 

Ruckert  148.  378—380. 

Rudolf  (Schülers  Diener)  164. 166. 

Rusticien  de  Pise  531. 

Rüttgerodt  98.  416. 

Sacchetti  F.  290. 

Sachs  H.   16.  19—21.  28.  30—47. 

392—394.  537.  616. 
Sachsen.    Johann  Georg  III.  394. 
Sachsen  -Weimar. 

Anna  Amalia  611. 

612.  615. 
Bernhard  116-126. 
Carl  August  113— 
128. 423. 434. 455. 
611-615. 
Louise  612.  613. 
Salieri  A.  478. 
Sältengelt  H.  235. 
Sand  K.  L.  554. 
de  Sandoval  P.  401.  408. 
A.  Sauer  62—118.  254—295.  416— 

476.  527. 
Scanderbeg  57  -59. 
Schädler  423. 
Schäffer  Ch.  L.  84.  86. 
Schall  K.  477.  481.  483. 
Schedel  H.  1. 
Scheidt  C.  381. 

W.  Scherer  129.  133.  134.  301.  304. 
Schestedt  295. 

Schiller  13.  28.  128—173.  299.  302. 
303.  306.  311.  322.  477.  554. 
587. 
Brief  an  J.  F.  Cotta  506—508. 

Dramen. 

Don  Carlos  299.  318.  322.  481. 

483. 
Fiesko  556-573. 
Iphigenie  in  Aulis  150.  151. 
Die  Jungfrau  von  Orleans  507. 


Schiller 
Kabale  und  Liebe  306.  312.  313. 

556.  570-572. 
Maria  Stuart  306. 
Der  Parasit  162.  508. 
Scenen  aus  den  Phönicierinnen 

161. 
Die  Rauber  564.  569.  570. 
Turandot  161. 
Wallenstein  556.  569.  572. 
Wilhelm  Teil  322.  481.  483.  507. 

508. 

Episches  und  Lyrik. 
Berglied  508. 
Gedichte  128—173. 
Der  Jüngling  am  Bache  506. 
Der  Ring  des  Polykrates  319. 
Übersetzung  des  zweiten  Buches 
der  Aeneis  135.  145.  164.  168. 
Xenien  130.  146.  150.  173. 

Zeitschriften. 

Hören  131.  136.  139.  141.  143. 

145.  149.  150.   152.   158.  160. 

161. 
Musenalmanach  130.  131.  135 — 

152.  155.    157.  158.  160.  161. 
Thalia   145-147.  151.  152.  158. 

161. 
Schink  J.  F.  70.  71. 
V.  Schlegel  A.  W.  550.  551.  553. 
Schleiffer  M.  41. 
Schmid  Ch.  H.  98.  251.  515.  521. 

522. 
Schmid  S.  v.  Rossens  114. 
Schmidlein  615.  616. 
Schmidt  B.  395. 

E.  Schmidt  191—195.  304.  308.  311. 

867.  412-415.  487. 
J.  Schmidt  299.  309.  486. 
V.  Schmidt  J.  117.  123. 
Schmidt  J.  Ch.  267. 
Schmidt  Klamer  E.  77. 
Schnewlyn  J.  209. 

F.  Schnorr  von  Carolsfeld  31.  33. 
J.  Schober  187.  188. 

Schobsser  H.  19. 

A.  Scholl  113.  117.  118. 

A.  E.  Schönbach  173—177.  359— 

363. 
Schönfeld  429.  436. 
Schönkopf  Käthchen  184. 
Schottland.    Maria  Stuart  50. 
Schratt  606. 

Schröder  F.  L.  97.   422.  480.  505 
K.  J.  Schröer  32.  33. 
F.  Schröter  508.