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^^^RA?A^'
it
VlERTEUAHßSCHßlFT
FÜR
LITTERATÜRGESCHICHTE
UNTER HITWIBKUNO VON
ERICH SCHMIDT UND BERNHARD SUPHAN
UEBAUSOEOEBEN VON
BERNHARD SEUFFERT
DRITTER BAND
'••
WEIMAR
HERMANN BÖHLAU
1890
• • •
• • •
• «
WIIMAR. - HOF-BUCHORUCKMtL
^Sl^K-*-**^
INHALT
Seite
Max Herrmann, Die lateinische 'Marina' 1
Victor Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters
im 16. Jahrhundert (vgl. 615) 28
Alois Brandl, Zu Lillo's Kaufmann von London .... 47
August Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger
und Goeckingk (vgl. 416) 62
Ludwig Hirzel, Briefe des Herzogs Carl August an Karl
Ferdinand von Sinner in Bern 113
Gustav Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Ge-
dichte 128
Anton E. Schönbach, Zur Volkslitteratur 173
Johann Mayerhofer, Faust beim Fürstbischof von Bamberg 177
Alexander von Weilen, Gerstenberg und J. G. Jacobi . . . 178
Hubert Roetteken, Goethes 'Amine' und 'Laune des Ver-
liebten' 184
Otto Behaghel, Zu Heinse 186
Erich Schmidt, Kleists 'heilige Cäcilie' in ursprünglicher
Gestalt 191
Albert Leitzmann, Zur Entstehungsgeschichte des 'Julius
von Tarent' 195
Otto Hofhuann, Notiz zu Lessing 199
Carl Schüddekopf, Anspielungen auf die Faustsage . . . 199
Jacob Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter' 201
Alfred Puls, Römische Vorbilder für Schwiegers 'Ge-
harnschte Venus' 236
Georg Witkowski, Ein Gedicht Ewald von Klein ts . . . 251
August Sauer, Neue Mittheilungen über Ewald von Kleist 254
IV
Seite
Loui» Bobe, Ewald von Kleist in dänischen Diensten . 295
Richard M. Meyer, Lesaings Theater 298
Ägid Raiz, Goethe's Faustredaction 1790 323
Anton £. Schönbach, Sprüche und Spruchartiges aus
Handschriften 359
John Meier, Zur Entstehungsgeschichte der Genovefa-
Legende 363
Alexander Tille, Ansjsielungen auf die Faustsage . . . 365
Ludwig Geiger, Ein Brief von Chr. Mylius an Haller . . 367
Otto Harnack, Notizen aus dem Nachlasse Heinrich
Meyers 373
Bernhard Suphan, Ein ungedruckter Brief von Friedrich
Rückert an Goethe 378
Robert Philippsthal, Mattre Jacques 380
Adolf Hauffen, Fischarts 'Eulenspiegel Reimensweiss* . 381
Theodor Distel, Ein Jahrmarktslied aus dem Jahre 1685 394
Alexander von Weilen, Lessings Beziehungen zur Ham-
burgischen Neuen Zeitung 398
Erich Schmidt, Beilage dazu 412
August Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger
und Goeckingk (Schluss) 416
C. A. H. Burkhardt, Dichter und Dichterhonorare am Wei-
marer Hoftheater während Goethes Leitung . . 476
Richard Maria Werner, Klefsts Novelle *Die Marquise von
O...; 483
Derselbe, Tugendprobe 500
Alexander Tille, Eulens'piegels Grab 501
Ludwig Geiger, Wirkung einer Lessingschen Correctur . 502
Bernhard Suphan, Zu den Blättern 'Von Deutscher Art
und Kunst' 503
Albert Leitzmann, Zu Goethes Briefen an Frau von Stein 505
Derselbe, Zu 'Schiller und Lotte' 506
Julius Elias, Ein Brief Schillers an Gotta 506
Bernhard Seuffert, Nachtrag zu Pfeiffer, Elingers Faust 506
Georg Witkowski, *Pastor-Amor' und *So ist der Held, der
mir gefällt'. Mit einem Nachwort von Bernhard Seuffert 509
Georg Ransohoff, Untersuchungen über Wielands *Geron' 530
Eugen Wolff, Eutiner Findlinge 541
Gustav Kettner, Der Mohr in Schillers 'Fiesko' 556
V
Seite
Beinhold Steig, Wilhelm Grimm und Herder 573
Bernhard Seufferfc, Heines 'Heimkehr' f)89
Max Hemnann, Die letzte Fahrt Oswalds von Wolkenstein 602
Richard Maria Werner, Abraham a Sta. Clara als Kanzel-
redner 608
Bernhard Saphan, Aus Carl Augusts Frühzeit 611
Nachträge.
Victor Michels, Zu 3, 42 iF. *Dic 27 Spil' 615
E. Goetze, Zu 3, 187—189 616
Berichtigungen 616
Register, bearbeitet von Justus Lunzer . . 617
I
Die lateinlBche ^Marina'.
Man weiss längst, dass der werthyollste Abschnitt der
^Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten', die Procurator-
novelle, nicht Qoethes eigenste Schöpfung ist; die reizvolle
Geschichte von der jungen Eaufmannsfrau und ihrem weisen
Liebhaber begegnet uns vielmehr schon im fünfzehnten,
sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in deutschen,
französischen, lateinischen und italienischen Bearbeitungen,
und der Verfasser der ^Unterhaltungen' hat nichts gethan,
als dass er eine der älteren Fassungen mit leise bessernder
Hand ins Goethesche übersetzte. Längst weiss man auch
in der Hauptsache, wie die Verzweigung sich gestaltet hat,
in der die Erzählung sich durch die verschiedenen Littera-
turen verbreitete, wenngleich in letzter Zeit Strehlke in der
Einleitung zum 16. Bd. der Hempelschen Goetheausgabe
ohne jeden Grund die von Guhrauer sorgsam ausgeführte
und von Düntzer wenigstens an einer Stelle ergänzte Stamm-
baumzeichnung völlig verwischt hat. Des Baumes Wurzel
aber war bisher nicht bekannt, so eifrig von verschiedenen
Seiten danach gegraben worden ist.
Im folgenden veröffentliche ich nun die älteste latei-
nische Fassung der Novelle, die ich mit Strauch (Zeitschrift
f. deutsches Alterthum 29, 325) ^Marina' überschreibe. Dem
Abdruck zu Grunde liegt eine Aufzeichnung, die sich der
bedeutendste unter den älteren deutschen Bearbeitern, Al-
brecht von Eyb, in den einst zu seiner Büchersammlung
gehörigen Cod. 120 der Augsburger Kreis- und Stadtbiblio-
thek auf fol. 105^ — 112» eingetragen hat. Der Nürnberger
Humanistenschreiber Hartmann Schedel hat Eybs Abschrift
in dem jetzigen Cod. lat. Mon. 650 fol. 266^—276^ copirt.
Vierte^jabischiift fOr Litteratnii^chichte m 1
2 Herrmann, Die lateinische 'Marina*.
[105^] [roth] Argumentum fabule incipit.^)
Arouus fenex amore procreande fobolis Marinam virginem
duxit vxorem ; priusquam in Alexandriam nauiget, illam rogat, vt
quando iuuentute preuenta pudicitiam feruare non poterit, cum
prudente viro agat, qui negotium celet. lila promittit amatque
Dagianum^) iuuenem, quem prudentem putat. Ille fingit votum
ieiunii, quod rumpere vel breuiare non liceat. Cum Marina
ieiunium diuidit et exinde in eam abftinentia caftigat luxum.
[roth] fabula fequitur.
ERat lanuenfis vrbs multum copiofa ciuibus, diuitiis autem
et victualibus habundans et fertilis valde mercimoniorum ; ciues
grandia (tudia, et nauale exercitium cottidiano ufu folicitam reddebat
plebem. Horum arti induflrieque Aronus quidam, in Sicenis ') vir,
cum multos annos tum mentis (tudio alque exercitio corporis
vacalTet et iam diuili ruppellectili habundaret, in domo poHeritatis
Tue curam tacita concepit mente. Cumque matrimonio liber filiis
orbam vitam duceret, quedam puerilis acies more patrie per plateas
ciuitatis, loca late diftracta, ßmulacra belli coufingens tum forte
feftum cälebrauerat diem, pueri iuuenefque leti, qui faltu, qui
curfu, qui denique certabant fuga: hos videre parentes atquc
affines populique magna multitudo; conuenientes ßnguli modos,
gefta, habitus virtutemque fuorum notabant, gaudioque et letitia
ftrepitus refonabat in altum et fortis clamor. Aronus tarnen in-
terius concepto dolore fecumque triftatus cubiculi fui tectum fecreto
intrans fibi ipfimet loquens bis verbis vfus efl: 'Infelix, o iam
infelix fenex, infelix femper et o acerbum fatum et dura fors!
Arone terra marique et laboribus feüel Arone diues gazis et
pauper mente I quam duris caßbus, quot pericuHs quantifque fu-
doribus gazas et diuitem Aruxifti domum libique femper impro-
uidus pofteritatis tue neglegis curam! Guinam fortunas tuas relin-
quendas putafti? quis ßlius fublato te tui memoriam feruabit?
^) In dem nachfolgenden Abdruck der Eybachen Aufzeichnung
sind nur die störendsten Unregelmässigkeiten der Eybschen Ortho-
graphie, vor allem die willkürliche Schreibung des j fiir i und des ci
für ti bezw. des ti für ci beseitigt; auch die Interpunction ist mo-
demisirt. Eybs Vorlage war offenbar sehr fehlerhaft ; einen Theil der
in den Noten gemachten Vorschläge für die Besserung des Textes ver-
danke ich B. Seuffert.
*) Der einzige Fall, in dem der Liebhaber hier nicht Dagmanus
heisst. Trotzdem wird die Ursprünglichkeit dieser Form dadurch ver-
dächtig, denn auch Strauchs deutsche 'Marina' enthält neben der 17 mal
wiederholten Form 'Dagrianus' im Anfange 3 mal die Form 'Dagianus'.
Vgl. Strauchs Anmerkung S. 335 zu 28 ; flüchtig ist Nohl, Die Sprache
des Niclans v. Wyle S. 8.
') in Sicenis? vielleicht aus: inßgnis verderbt?
Herrmann, Die lateinische 'Maiina*. 3
Tu femper vilafti coniugia et pro-[106*] creande prolis dulcifque
fobolis fana femper confilia fugifti. 0 beatos patres, qui prudentes
filios heredes linquunt! 0 quot hodie natorum fuorum parentes
infpexi, qui fe arbitrarentur felices elTe, ß fortunarum, quas pof-
fides, pars, in qua nati fuccederent, illis fato contingeret! Nunc
vero quinquagenario mihi, quid mentis folamen? que fama pod
mortem? quis mei memoriam dulcis feruabit natus? felices femper
hymeneos et leta connubia, quorum hereditas et memoria in
prudentes natos illata eil!' Atque cum his argumentis pectus
anxium tunderet, ipfe ßbimet his fermonibus abfolutionem dedit:
'Ammodo mecum tantis anguftiis opus non Ht: meliufque fuilTe
quid fecerim, eftimari volo^), vt quemadmodum aues parandi
domum et nidos primo follicitat cura, priufquam ouis impoßtis illis
infedeant et feius alant. Idem et me fecilTe arbitrabor. fam enim
gazas decentes et mihi fulureque vxori et procreandis natis confeci
nee adeo fenex effectus fum, quin robultum mihi iterum efferueat
pectus. Hac igilur fola cura et hoc exercitio me vacare oportet,
vt querende coniugis foliciludinem geram/ Neque plura efifatus
cubiculum egrelTus e(t curamque illam Zani et Galiotto, viris
cgregtis, quos ßbi femper ßdeles inuenerat, in domum fuam
accitis exprefßt. Aflentiunt hi laudantque propoßtum et habituros
fe querende vxoris curam fpondent. Aronus interim opinione fua
folicitus de puellis pubefcentibus et maturis viro inueftigandis
operam dedit, vt animo fuo acceptam virginem ßbi vxorem iun-
geret. Erat igitur in hac vrbe puella quedam , nobilibus orta
natalibus, Marina nomine, virgo forma corporis et pulcerrima et
fpeciofa valde. Huius enim formofam imaginem, quicunque vide-
rant, mirabantur adeo, vt iela virginis facies et ardenti oculo mollis
forme*) iuuenum mentibus amoris inducerent flammam et libi-
dinis in eam prouocarent affectum. In eam itaque virginem po(l
aliquot dies cum Aronus in propoßtis fagax non luxu damnabili,
fed forma corporis et maritali afifectione deductus oculos intuitum-
que ßxiffet, cum hac vna coniugii nexum optauit et eam ßbi
vxorem iungere ardenti ßtiuit in pectore. Affectum igitur hunc
fuum Aronus puelle parentibus captato tempore [106^] quodam
referauit die, vt ab eis refponfum haberet, ß generum eum vellent
ßbi Marina eorum ßlia in matrimonium data; paruaque inter eos
difceptatione fedata ßmul aüentiunt Marinamque eorum natam
Arono coniugem futuram fpondent: iunguntque fe^) dextraset federa
tutis cautionibus ßrmant. Aronus interea pro folemnibus parandis
*) Eine offenbar verderbte Stelle; für das folgende vt ist viel-
leicht ac zn setzen und dann der Punkt hinter idem mit einem Komma
zu vertaaschen.
*) Besser vielleicht : ardentes ocnli et mollis forma; vgl. Zeitschrift
f. deutsches Alterthum 29, 327 Z. 20 f.
") Davor fehlt wohl: inter, oder es ist: dextris zu lesen.
4 Herrmann, Die lateinische *Marina\
nuptiis plurlma folicitudine vexatus omne genus ornamenti pro
celeritate nuptiarum neceilarium preparari fecit. Cum vero datuta
fulßt dies, Aroüus Marinam duxit vxorem tantoque gaudio et
letitia ac magDificentiffimo apparatu triduo nuptie celebrate funt,
vt nihil aut de necefTariis fiue de contingeDtibus omüTum eile
videatur. Erat quidem fpeciofa fponfa pre ceteris puellis virginibus
et matronis conuiuentibus , veftimentis vero, ornamentis et moni-
libus pretiofa valde, famulorumque frequens acies longo ordine
ftrauerat menfas, et vinum multum et omnis generis ferculum in
aureis fplendebat vafis, ingentique apparatu vniuerfa fremebat
domus ; Mula, pfalterium, harpa omnefque muflcorum artes fonitu
et carmine plurimaque ?ocuni confonantia dulce melos modula-
bantur. His itaque ordinamentis ''j et raagnifico apparatu nuptiis
factis Aronus pulcra letatus coniuge iocundos plurimos dies cum
plaufu et hilaritate quadam celebres duxit. Cum igitur annum
vixifTet Aronus cum Marina vxore fua, qui domi otio vacauerat,
iterum mercimoniorum vfus et nauigandi exercitium in mentem
venit, vt ille fepe cogitaret in animo, quomodo Alexandriam more
folito nauigio peteret. Tantam quidem ille nauigandi exercitio
yfque a teneris confuetudinem fecerat, vt ab ea ne quidem ceiTare
difficile, verum impoflibile abftinere fe poiTe putaret. Diflimulabat
Aronus eam habere mentem, ne forte fieret id moleftum vxori.
Nouerat quidem animum et igne iuuenili calentem etatem eins
flammamque medullas vorantem et teneras lambentem genas, vt
11 quando a domo et cubili fe abfentare contingeret, impatiens
illa forfan non caflum feruaret thorum. Vagum quidem videbat
mulieris muliebre propofitum, fragilem vxoris etatem cernens time-
bat, ne adulefcentes iuuenes, [107^] qui ad vifeudam fepe ante
domum frequentare folebant, ea in ciuitate manente forte amplius
fe abfente eiTent inueftigaturi illam inter fecreta cubiculi. hunc
igitur aculeum animi dum perplexus in mente et tacitus pertu-
lillet diuque fe femifepultum vocet, tanta letitia olim celebratas
nuptias horamque, que illas in mentem tulit, execrare cepit et
longis argumentis et rationibus fecum agens multa tandem in
animo difputatione perfecta conclußt fue difceptationis finem.
'Melius', inquit, 'eft, vt viuam ipfe quam moriar. Nam nifi infra
breues dies abiero, video, quod profecto cito moriturus sum. hanc
itaque ßc relinques vxorem? Relinquam quidem. habeat ipfa modo
fui curam, ß velit! Quid etiam ß caftum non seruatura ßt thorum?
Viuere[I] tamen mihi, defperandum non eft. Abfit, abßt, Arone,
quod in vnius mulieris veutrem poßta tarn atrox cura et corpus
et totam trucidet mentem ! Abfint hi rancores et anguftie mentis,
quibus quidem nil crudelius et noftro animo moleftius elTepoteft!
Abßt hac re vlterius triflitiam gererel Nunc vero mihi mens
'') ordinamentum s= mandatum, consÜtntio, statütum, s. Du Gange
VI 57.
Herrmann, Die lateinische *Marina\ 5
liberior fiat ; hodie focios petam, quos longus mercimoniorum vfus
dedit fideles quofque nauigandi exercitium domeflicos fecit, hoc
die in iam diu pofitis operam dare.' ®) Poflquam Aronus propoßti
fui modum accepit, Zanem et Galiottum, inßgnes viros, cum
quibus nauigandi vfum et artem perfepe tractauerat, accefßt nihil-
que de fue nientis perturbationibus exprimens letam faciem et
folitos oftendit mores illifque faciende nauigationis proponit tempus
aduifatque*) follicitat et promptos reddit; initifque nouis federibus
et pactionibus inuicem naues aptari et inftrui neceitariis faciunt
illafque vario mercimoniorum genere complent. Geleres interim
tempus affert et arripit dies, donec nauigandi tempus ^®) et aure in
altum Volant. Aronus igitur domi dimilTurus vxorem, in propoßtis
ßrmus, ante diem, quo receETurus erat, cena facta, cum fölus ipfe
et vxor eins in thalamo confedilTet, iilam ad fe vocans in vuitum
eins parumper afpexit et leto ore ßclifque fermonibus locutus hec
dixit: 'Cara coniunx et luce ac vita ccurior mea Marina, afflicti
animi requies et mee folamen mentisl letam obsecro [107^] mentem
et hilarem faciem habe hifque nauigationibus meis nuUam precor
difplicentiam fume! hec quidem femper artes et exercitia mea
fuere, bis fortunam, gazas, domum, nomen et famam ac multorum
amicorum notitiam ^ *) et familiaritatem inueni, bis etiam ornamenta,
Coronas, anulos, veftes ceteraque pretiofa ornamenta, quibus
plurimis pre ceteris mulieribus lanuenßbus habundare te nofcis,
et emi, et lucris mercimoniorum meorum ea omnia acceHere. Non
itaque trifteris hac via, hac nauigatione ne doleas! Nam et
preflo erit reditus meus, et ß hac vice, vt puto, fors fuerit felix,
bis Omnibus nauigationibus ßnem dabo, nunc itaque virilem ani-
mum decet alTumas; nam omnium, que hie pofßdeo, difpoßtionem
et curam tibi relinquo, nee quitquam medio tempore, quo carere
pofßs, agnofco. primum igitur oro, quod leta remaneas; quod cum
intellexero, mihi etiam letum iter et nauigationem letiflimam dabis.
poftremura autem eil, quod fumma prece et maximo rogatu a te
impetrare vellem, et quidem nobifcum nihil celandum est, cum
alterius noflrum honor aut vtißtas ßue et fama nobis ambobus
communis ßt nee vnius decus ßne alterius gloria ßcut et dedecus
abfque amborum vituperio^^) 60*6 non poteft. Nee quidem adeo
amens fum, quin cogitem, qualem te et quomodo robußam adu-
Jefcentulam, fpeciofam, mollem et delicatam, multis procacibus
amatoribus affectatam abfque viro et abfque folatio me abfente
') dare? vielleicht: dabo: *ich werde mich mit den lange bei
Seite gelegten Geschäften befassen*.
*) advisare = deliberare, s. Dn Gange I 93 f.
") Hier fehlt etwa: adeft.
") Hs: naturam; vgl. aber unten in der Bede der Marina an
Dagmanns die gleiche Verbindung: notitiam et familiaritatem.
'*) vituperinm = vitnperatio, s. Du Gange VIII 361.
Q Herrmann, Die lateinische 'Marina\
relinquam. Et puto equidem, coniimx cara, omnem nunc te
callum mentis conceptum et appetitum habere pudicum. Verum
autem cum cognofco, quid etas tua, quid forma et inclufus appetit
calor, tibi impoflibile futurum fcio, vt medio tempore, quo extra
manfurus fum, cum alio viro coniungi necelTe habeas. Nee tamen
hac re turbatum animum fero : volo quidem, quitquid tibi et nature
tue confentaneum fit, cum id fciam te nequaquam vitare poITe.
EU igitur iflud, quod maximis rogationibus obfecro: vt, quoad
poteris, noilrum pudicum ferues thorum. Nulli vero lui aut pu-
dicitie tue curam relinquam. Tu ipfa tuimet aderis cuRos. Nulla
quidem tam arta custodia, que inuitam mulierem pudicam feruare
poffit. ^') Cum vero fanguinem in furias expreffit calor [108*] nee
iam vltra poHit effe conlinentie locus, tunc cara deprecor coniunx:
in agendo aftuta et cauta fis, ne, quid feceris, publicetur in vulgo,
quod tibi mibique in perpetuam infamiam et inabolibilem igno-
miniam futurum foret mariti natorumque, quos ex me fufceptura
es ; faltem nomine et fama Vi minus re pudicitiam ferua ! Modum
autem , qui tibi in hac re feruandus erit, docere te volo. Scls
quidem hanc vrbem noilram quam plurimis adulefcentulis et
fortiffimis habundare iuuenibus. Ex omnibus igitur, quos nofces,
fufifecerit tibi vnum eligere, cum quo ludere poffis. Vagum autem
vel varium et difcolum ^*) inhonellumue nullo modo eligendum pu-
labis. Is enim crimen ftatim panderet vento, cum fecretum nihil
tales et horum fimiles habere confueuerunt. Tu itaque caute
ages et illum eliges, quem fapientem effe cognoueris, vt* cum
factum fuerit, ipfe non minus ocultum teneat quam tu ipfa. Hoc
igitur illud eft, quod ex te peto, quodque £i mihi promiferis et
obferuaturam te fpoponderis, profecto hodie in animo mihi fum-
mam letitiam dabis. Nee volo mihi refpondeas, quemadmodum
cetere mulieres in fimilibus folent. Cum enim fimilia proponuntur,
quedam hec verba refpondent: 'Quis tristis animus hie videtur?
que tam dira opinio perturbat fenfum? quomodo enim hoc mihi
in mentem accedere possit? noni non! abfint promifliones hec
omninol Non equidem vnquam me illa lux videat, in qua id
nedum agam, verum neque folum modo cogitem. Has igitur
Marina, refponfiones adduxi, vt eas omnino exciudas; firmiter
quidem credo tuum Optimum nunc ede propofitum, in quo hortor
vt maneas quam diu tamen potes. Nolo etiam illud facias, quod
premifi, nifi dumtaxat in cafu, quo aliter te appetitui et iuuentuti
tue videas non poffe refillere: promittas.* Aronus vt dixit, rubere
multo vxoris facies tegebatur, et tremulum muliebre cor editis
rationibus extinctum refponfionis modum equidem anxietate que-
rebat. Post pufillum vero rubere dimilTo palenti facie Marina et
1*) Vgl. Aeneas Sylvius, Euryalus und Lucretia (Opera Basel 1571
S. 631) : ^ . . tam facile est inuitam cuftodire mulierem quam \
**) difcolus = difficilis, morofus, s. Du Gange III 131.
i
Herrmann, Die lateinische ^Marina". 7
tremula voce locuta elt: 'Dulcis\ inquit, 'et amate coniunx! multum
quidem et intellectuni et roentem tuis terruilli fermonibus, vt ea
nunc a te audiuerim, que nunquam aut didici aut omnino ex-
cogitare prefumpfi. Puellam et iuuenem me his fermonibus temptare
[108^] et talibus propoßtionibus vexare quafi impium rear^^), neque
enini fcelus aut facere aut excogitare etatis mee est. Cum vero
pudicitiam abfente te non poüe me feruare tibi notifßmum dicis,
id maxime affligit mentem; vnde tota tremifco, et quid loquar
quidue refpondeam, ignara loquendi et argumentis tuis et rationibus
nefcio. Illud tarnen quod nunc dixero non fecus in corde quam
in ore locutam^®) puta: potius vtinam cruenta necatam motte et
pede dira extinctam, fepultum caput et obruta membra operiat
tellus, quam dies vnquam continentie mee et matrimonii noflri
violauerit thorum; quod quomodo aut accidere aut in mentem
venire polfit, nequaquam excogitare fcio. Verum quia has refpon-
ßones propoßtis tuis fermonibus declinafli et hec elTe, que mulieres
diffugia facere folent, vt tue menti quietem et animo folamen
afiferami iuxta opinionis tue fermonem^''), ne quid ex me, in quibus
iuiTeris, defuturum putes, firmo animo et valenti opinione tui ad-
uentus diem cum corporis mei pudicitia^^) expectaturam promitto.
Et ß (quod abßt et femper auertat deus !) quodcunque contrarium
acciderit menti, illa quecunque faciam, que dixifli, nee in aliquo
a data a te regula excedam modum idque ita promitto et ßr-
miter fpondeo. Et ß quid vlterius tuam agrauat mentem, illud
ofiferas exoro; et precipe que pro uotis acturam me cupis! Nil
equidem ampHus cupio niß vt meum cum tuo volle coniungam,
et quod tu vis id efficiam, non quod ego/ Talibus igitur vxoris
refponfionibus exillaratus Aronus pre gaudio vix tenuit lacrimas
et 'Quodcunque^ ait, 'cara coniunx, ex te poftulaui, totum accepi,
modo promifTa ita ferues : in animam claude et (labili mente con-
firma!' Vt itaque noctem alba exciußt dies, Aronus et focii
zephiris vocati caras domos et dulcem patriam linquunt et in
nauibus fedentes extenßs velis alTuetam viam et tranquillum con-
uolant mare, litora patrie, turres, atque domorum tecla celeri fuga
pretereunt, Aronus vero vxoris et eins verborum non immemor,
fed ea continuo in mentem reuoluens numquam a litoribus in-
tuitum flectit, donec nauis longa protracta diftantia altifßma in
turibus faftigia etiam omnia exceüerat. Optate itaque adeo per-
feuerant atque crebrefcunt aure, quoad [109^] modicos nauigantes
dies quefitos portus atque litora optata contingunt. Marina interim
domus cuftos cum paruula adulefcentula feruitrice remanßt con-
iugisque fui verborumque atque federis memor honefte viuendi
*•) Doch wohl für: reor.
**) Ergänze: me.
") Richtiger gewiss: opinionem tui fermonis.
") Hier fehlt wohl: me.
g Hemnann, Die lateinische ^Marina".
cafte atque pudice feruabat modum. Quindenos forfan iila anDOs
peregerat: vnde in tarn iuueDÜi pectore paruus verfari poterat
dolus, vt potius fexui fragilique etati quam malitie afcribi polßt,
ß impudicum quid illi in procelTu contigilTe videatur. Vt igitur
plurimos a difcelTu nauium puella manferat annos^^), Aronus qua-
liter illius ab oculis aberat, ita et paulatim aboleri cepit. Puelle
quidem fpecioßtas iam dudum omni ciuitati fuerat nota; quare
abfente marito frequens iuuenum folicitatio ante eius domum ßn-
gula die conuenerat, qui ludis, qui carmine et fonitu pedeftres
equedrerque muitis copiis die nocteque ftrepebant. Ea vero pru-
denter et honede in domum [!] manens nulli videri poterat. Verum
quoniam ad feneftrarum paruas fcilTuras illos intuebatur, qui illam
videre non poterant, delicatos iuuenes, robuftas Facies, voces,
fufpiria modofque ßngulos amoris notans plerumque titilabat in
mentem, et inclufus teneris ofßbus calor comprimere ignem et
continere ampiius iam non poterat, verum captis viribus quafi
lignorum incenßo extra cinerum velamen fcintillare cepit. Marina
muitis inuoluitur amoris curis dumque folam cum puella in do-
mum [!] fe confpicit, aptitudinem loci tempufque nullo impeditum
cuftode cognofcit. In eam itaque amoris cogitatio, etas, otium,
et folitudo libidinis inftigant flammas, delinquendique aptitudo in-
animat et audaciam prebet. Amor ergo et pudicitia ßmul certant;
in quorum contentione, ßquando aptitudo producatur in tellem,
plurimum contra pudicitiam iudicium fertur. Dum igitur per-
plexo animo muliebre pectus diu vexalum foret, illud tandem,
quod marito promiferat, in mentem venit, cogitatque puella eius
maritum fapientillimum fuiUe, qui impoflibilem ei continentiam
dixerat. 'Mariti conßlii [!] vtamur!\ ait. 'In hoc en im ne quidem
licentiam mihi dedit: quin immo ne aliter facerem, ego ipfa eo
rogante iureiurando ßrmaui. Nulla hie culpa, nullus hie elTe
error [109**] poterit, ß modo formam promilTionis attendam: ne
vagum aut difcolum eligam, iuuenem vero, qui prouidus et fapiens
reputetur: ita profecto agam in hoc, cum fufßcit conßlio parere
mariti, ß fapiens ßt. Iuuenem vero, qui cum fene in pari fapientie
reputatione ßt, multo potius eligendum puto\ Ulis autem diebus
a cafu ^®) venerat lanuam Dagmanus quidam iuuenis iurifperitillßmus,
qui plurimos annos ßononie (tudiis difciplinifque fcolailicis vacauerat
adeo, vt elegantifßmi et ßngularis viri nomen adeptus eüet atque
inter bonos ciues et graues viros multe reputationis vir haberi
ceperat. Is ergo cum ßngulis diebus frequentaret forum elTetque
via eius, cum a domo illuc pergeret, tranßtum facere ante hoftium,
vbi habitabat Marina, illa fepius hunc tranfeuntem per cancellum
domus afpexerat et robuftam faciem iuuenilemque etatem in illo
^*) Wohl irrthumlich für: dies, vgl. Zeitschrift f. deutsches AI ter-
thum 29, 382 Z. 21 : 'vil tag\
**) a cafu = fortuito, s. Du Gange II 216.
Herrmann, Die lateinische ^Marina'. 9
cognouerat notaueratque illius inceJDTuni grauem habitumque ho-
nellum modofque^*) mores et gefta. Eum autem ipfa iam diu
prudentiffimum iuuenem nominari animaduerterat ; vnde totum
animi fui votum cum eo confumare defiderare cepit. Quomodo
vero illud incipiendum foret, conlinuo mentis Rudio tractabat.
Gumque horam, qua folitus erat ille tranfire, notaHet, fubilo foli-
citudinem gefTit, vt fempcr co tempore leta facie comptaque coma
et muiiebribus ornamentis decora illius aduentum expectaret ante
cancellum, vt ß forte intueretur eam, caperetur amore, cum parata
efifet Uli amoris figna atque indicia pandere. Ea tamen nihil adui-
famento hoc confecuta eil. Nam grauis iuuenis gressus erat mode-
siique oculi, ne vnquam in canceDum afpiceret, vbi ilia fedebat.
Pluribus vero fic labentibus diebus et noctibus deßderio fuo puella
fe frufirari cernebat. Quadam autem die dum amoris illa impa-
tiens Dagmanum iuuenem venientem a foro domumque ambulantem
vidifTet a certa feruitrice adulefcentula^^): 'Vade*, inquit, 'Anthonia,
et Dagmani nostri periti inquirito domum, ad quam ingressa
'Rogat\ dicens [!]^^), 'Manna, Aroni coniunx, vt nulla protracta
mora ardua et vrgenti ex caufa ad eam feitines^; cui, ß caufam
interrogauerit, ignorare te dices, fciturum^*) eam tamen [110*],
cum primum ad me venerit, habitationem locumque indicabis ei.'
Adulefcentula itaque (tatim obtemperans abiit inuentumque iUum
in menfa cum amicis eins conuiuentem alloquitur audienlibus ßn-
gulis exequiturque mandatum. Dagmanus enim, qui et Aronum
et domum eins a longo tempore nouerat, quamquam huius vxoris
Tue nullam notitiam haberet, fciens tamen abede Aronum arbi-
tratus eil feu alicuius litis caufa feu controuerße vocari, vt forte
ins pro ea in foro diceret, qualiter pro multis confueuerat facere.
'Vade*, inquit, 'adulefcentula, et domine tue refer: fumptis epulis
ad eam me ßatim accefiTurumP Ex hiis etiam, qui intererant, nemo
aliter putauerat, quam Dagmanus imaginaius efl: nulla rei fufpicio.
Anthona redit in domum refertque refponfa. Marina vero opinionis
fue confcia quaß tremebat ardenti deßderio, quod optabat. Cubi-
culum (Irauerat et tapetas compleuerat; thalamum, fe ipfam etiam,
quamquam formofißima foret, quantum ßeri poterat, aptauerat
ornamentis, vt adeo fpecioßißma videretur, vt nihil supra. Et licet
breuis hora tranßß'et, illa tarnen expectare tantum erat impatiens,
vt a puclle reditu eßimaret fluxilTe longum temporis fpatium. Tan-
dem Dagmanus cum apparet in via, illa vt venientem afpexit,
exillarata toto manet in thalamo hie illic ßngula ordinale compo-
nens. Anthona in hostio eins aduentum expectabat venientemque
fufcepit et in domum inducit feruis extra manentibus. Marina vero
•*) vielleicht: modicofqne?
**) doch wohl: ad certam feruitricem adulefcentulam.
'*) wohl statt: dices?
**) Ergänze: enm.
10 Herrmann, Die lateinische ^Marina*.
in primo ipßus domus veRibulo illi fe obuiam confert et reuerenter
fufceptum molli apprehendit manu et *Precedam', inquit, *vt mon-
Urem viani*. Dagmanus tanta formofitate et pulcritudine mulieris
miratus obllupuit fequenfque illam in thalamum eins, quam iili
celebri folemnitate parauerat; llatimque ante cubiculum illa con-
fedit rogauitque eum, vt apud eam federet; fecitque Dagmanus
et fedit folus cum ea in thaiamo hofliis claußs mirabaturque eam
modumque et circumdantias ßngulas. lila quidem inflammata facie
in illum inßxerat vifum, et cum sermonem diflereret''^^), Dagmanus
aliquid fufpicatus. Tandem vero illa bis verbis incepit: 'Dagmane
prudentinime [110^] iuuenis, caufam, qua vocari te fecerim, bre-
uiter pandam. Aroni, coniugis mei, habere te et notitiam et famili-
aritatem puto. llle me qualem vides relicta suis mercimoniis Ale-
xandriam petiit; prudentemque illum maxime exiftimare volo, qui
etatem et complexionem meam contemplatus nequaquam posse me
ait cubiculum hoc abfque alterius viri conuersatione feruare; quod
tunc impofßbile arbiträrer, nunc verissimum reor: nee equidem
patitur etas mea, forma et dulces animi inane hoc et vacuum mihi
ßc labi tempus. Aliud quidem natura expetit mea et quaß primi
flores, qui veris tempore fponte sua odorem et colores^*), fi quando
a naturali indinctu impediantur, facile arefcunt: ßc mecum[?] ille sub-
tiliter perfpicatus eil. nee letum fe habiturum animum de me dixit,
niß ßbi iuramento promitterem, cum inclinarer ad hanc rem, elec-
turam me quem fapientem arbiträrer, qui cautus et tacitus nostram
feruaret famam ; et quidem ipfa te in tota vrbe hac re aptifßmum
putaui, qui letus et iuuenis necnon prudentifßmus es. Neque puto
dedignaberis me: qualis enim fum, vides et in hoc poteris ab-
fentem maritum fuplere. Quod ita sit, et cum id vis, facias! ad-
sumus, nee hoc vlli preter nos notum ßet.' In optimo negotio
Dagmanus ita preuentus manum mulieris apprehendit oRenditque
letam faciem et maxime exillaritatum pectus fermonibus bis et
iloridis verbis: '0*, inquit, 'expetite dies, conßmilem femper optaui;
numquam amplius infortunatum me dicam. cui tam pinguis fe ob-
tulerit cafus. Hodie felicifßmum me fecifli, Marina dulcifßma:
quam feßos, quamque placidos iocundofue iam concepi nos acturos
dies, quos nullus alius a nobis feiet! Omnium hodie fortunatifß-
mus et nostra quecunque et in hoc abfque impedimento concerno.^^)
Sola re autem fcandalifor in mentem, que tamen paruo tempore
fedari potest. Marina, quedam cordis mei fecreta iam tibi aper-
turus fum, quibus non mirabere, ß hoc negotium, quod cuique
abfque mora tractandum foret, prolixis fermonibus protraho et in
tempus, quo nil mihi moleftius eft, differo. Et quidem, dum Bononie
Iludiis vacarem, orta feditione in populo cum quibusdam fociis
*') Wohl statt: difi'erret. Hinter: fufpicatus fehlt wenigstens : ed.
*•) hier fehlt etwa: dant.
S7) £in gewiss ganz verderbter Satz.
Hernnann, Die lateinische ^Marina". {{
artis carceribus mancipatus fui quaß confcius feditionis et muta-
tionis flatus; dum fuifTem, timui[lll'^J profecto difpendium vite,
atque cum infontem me penitus efTe cognofcerem, valenti animo et
puro corde voui promifique illi, qui innocentiam nouerat, deus*®)
ß ab accusatione folutum incolumem et in patriam in partes ^^)
et amicos redderet^^), per integrum annum vnico cibo vnica hora
fumendo contentus efficerer ita tamen, vt nullis cibariis vterer quam
folo pane et fluuiali aqua. Jamque fere totum annum vota^^)
perfeci et hoc tempore impollutum feruaui corpus. Oro itaque^
dulcis Marina, alium quam me nullum velis eligere, neque te tedeat
modicos dies fufferre, donec lolius voti annum euafero. Omnes
namque fepius dies computo, qui fuperfunt, quos etiam breuiare
non podum, nifi efTet qui partem horum dierum pro me fimili
ieiunio cuftodiret. Abfoluerer quidem, fi alius pro me faceret, quod
ipfe facturus Tum. Sed quoniam permaxime dubitaui cuiquam
hoc adiumentum committere, ne forte deciperer, ipfe folus totius
anni pondus accepi. Quia vero fiduciam quam in me fumpfifli
amoremque tuum ad me iam manifeHe concipio, in te vna fiduciam
ponam, quam in fratres et confanguineos recufaui, vt dies, qui
mihi ex voti promiffione fuperfunt, tecum diuidam, (i modo id tu
abfquc fraude facturam te fpoponderis, vt ieiunes, quemadmodum
dixi. Tanta enim afTectione ad opus tuum iam moueri incipio, vt
fexaginta dies, qui reftant, plus me grauent, quam fecerit totius
anni reflduum. Nos igitur breuiemus, ß placeti Tu pro me tri-
ginta, ßcut et ego, ßmih' abdinentia obferuabis : quibus exactis erimus
illares et alterius amore confruemur. Tu vero non aiiter promittas,
niß feruatura ßs, ne quem ad me monflras amorem deceptio ßt.
Hi quidem breues cito tranßbunt dies, tu modo ß hoc futuram
tu velis facere*.^^) Doluit puella tarn longum tempus; auditis tarnen
dulcibus verbis, fperabat cito lapfuros dies: cum in eius amorem
muUum bachata foret, fe id facturam animo leto fpopondit. 'Nee
me*, inquit, 'ßerile ieiunium quantum lemporis longitudo perturbat.
Verum post diem dies cito labitur! Ita', inquit, 'ipfa contenta fum:
poß itaque hos dies erimus ßmuP. Dagmanus igitur in fua ßmu-
latione [Hl**] iam victor, *Ego', inquit, 'cum hec mea via in trän-
ßtu ad forum ßt, ad te vifendam in domum frequenter accedam*;
liuquitque eam et egreHus cum feruis, qui extra portam iam reman-
ferant, in domum propriam reuerfus eft. Manßt illa fecum cogi-
tans, quecunque ad inuicem dixerant, et horum triginla dierum
*•) Für: deo, vtV
*•) wohl für: ad parentes.
•®) es fehlt wohl: me.
'^) Die Handschrifb hat: vola.
•*) Sollte diese Stelle nicht aus: facturam te velis fatere verderbt
sein? Die deutsche ^Marina' wenigstens hat 337 Z. 32: *wiltu es thun,
so verjehe'.
12 Herrmann, Die laieiniscbe 'Marina*.
finem magna deuotione fcrutatur incipitque leiunium aquametpanem
dumtaxat fumens post folis occafum. Dagmanus poRridie ad vi-
fendam eam in donium eius ingreditur, quem illa ardenter ama-
bat. Et poft mutuas inuicem confabulationes ^Seruas\ inquit Dag-
manus, *mecum abftinentiam voti'? 'Vlique', ait, *nec vlla deceplio
eft*. 'Facito ita, precor, mi duiciflima, quia cito hos modicos va-
cuabimus dies* ; abienfque receffit. Puella autem fidelis cum inte-
grilate ieiunium obferuabat nee aliqua grauabatur nioleftia propter
amoris fui folatium, quod fpectabat in fme. Jamque feptem ie-
iunauerat dies, cum calor in muliere debilitari cepit, vt que in domo
fubtili vefte ßndonis vtebatur, nunc hiemalibus vteretur vestimentis,
quibus neque calefieri poterat. Caufamque illa neque rei perpen-
debat adutiam. Quindecimus itaque Fe abllulerat dies, cum fere per
domum puella ambulare poüet, illique Anthona nuntiat in domum
veniiTe Dagmanum. Audiens igitur illum ade(Te iterum amore aniroi
velocius fe illi obuiam offert, vt nil debilitata videri poffef). Cui
Dagmanus: 'Quenam facies et quis grelTus? video profecto te tenu-
ilTe ieiunium. 0 amata dulcis! Hodie medium euaßmus tempus.
Rogo conftans ßs et vince naturam, ne in hoc mihi deseras fidem!
fuperfunt breues quindecim dies, quos in gaudium et celebre ter-
minabimus feftum!* mulcetque verbis et blanditiis confolatur bonum-
que dat animum mulieri. Cum vero vigefimura fextum feruafTet
diem, amifTo viuaci colore et formosa facie puella omnem libidinis
voluntatem amiferat Ilabatque continue in cubiculo iacens, nee iam
aderat tantus ardoris calor; penfabatque illa adutiam, quam cum
ea Dagmanus habuerat, cepitque cognofcere hoc fapientis opus fuilTe,
vt abltinentia [112*] corporis luxum extingueret. Cum itaque pen-
ultimo menßs die Dagmanus ad vifendam eam venilTet, illum ad
fe in cubiculum vocari iubet. Jacentemque illamut in cubiculum[!]
vidit: 'Quomodo'?, inquit, 'amata mi: hecne facies folita, quam
mihi mondrafti? folus fuperefl paruus dies'. Illa vero blandienti
fermonem abrupit: 'Amafli me\ inquit, 'Dagmane, amore perfccto,
non turpi aut inhonesto, qualiter infelix ipfa prefumpferam, carum-
que et femper caridimum te pura dilectione fauebo, qui pudicitiara
meam et honeftatem famamque coniugis atque parentum meorum
et Feruasti et feruare docuifti. Sapientis coniugis Aifficit obtem*
peralTe mandato, vt prudentem elegerim virum, cum prudens im-
prudentiam caftiget. I semper felix femperque fofpes, prudentif-
ßme iuuenis, cui nedum ego neque coniunx et omnis domus
meorum tante rei vnquam dignas poterit foluere gratias'. Dagmanus
igitur vt vidit fe quod propofuerat perfecilTe, illam dulcibus verbis
monet, caRigat et docet folatamque relinquens illius pudicitiam cum
ieiunio abdinentiaque feruauit. Finis. Laus deo.
Es fragt sich nun zunächst: ist diese lateinische 'Marina^
auf die zweifellos der grössere Theil der ältesten Bearbei-
") aus: point verbessert.
Hemnann, Die lateinische ^Marina*. 13
hingen zurückgeht, wirklich die Grundlage aller Bear-
beitungen, d. h. ist die Erzählung ursprünglich in lateinischer,
nicht in italienischer Sprache abgefasst worden? An sich
ist die Bejahung der Frage durchaus nicht unmöglich: ein
Beispiel für eine von vornherein lateinisch geschriebene No-
velle ist des Aeneas Sylvius ^Euryalus und Lucretia'.
Zweifellos liegt die lateinische Fassung der Erzählung
Eybs im 'Ehebüchlein' (o. O.u. J. = Nürnberg, Koberger 1472
fol. 33^—38*) zu Orunde; denn nicht nur besass der Autor
die lateinische Marina, sondern er bezeugt auch selbst im
Anfange der Novelle, dass er sie 'auiF das kürtzt auss latein
in teutsche' bringen will. Das Gleiche gilt von der Über-
tragung, die Strauch (Zeitschr. f. deutsch. Alterthum 29, 325 if.)
veröffentlicht hat und die unmöglich auf Eyb zurückgeht;
dass sie nicht einem italienischen, sondern unserm lateini-
schen Texte nachgebildet ist, beweist schon das erste Wort ;
denn die unverständliche Ortsbezeichnung ' Januensis was ein
stat' ist nur durch die lateinischen Worte 'Januensis erat
urbs' zu erklären.
Für die Annahme einer noch älteren italienischen Fas-
sung scheint vor allem die bekannte Stelle aus der zweiten
Translation des Niclas von Wyle zu sprechen, wo es heisst
(hg. V. Keller, S. 79 Z. 5 ff.): 'Vsz dem buch bochacy,
das in welcher zungen vil hüpscher historien .... begryffet,
hat vor vil Jären der hochgelert man Franciscus petrarcha
die history von griselde lutend vsser dem welchen zu latin
verkert . . . Sidher ist durch den hochgelerten man leonar-
dum aretinum vsser dem obgemelten buch die histori von
sigismunda sagende, vnd aber von aim andern gelerten
die histori von marina lutend euch zu latin gebrächt worden.'
Mir scheint indessen, dass dieses Zeugnis durchaus keinen
Anspruch auf urkundlichen Werth hat. Wenn Niclas
von Wyle gut unterrichtet wäre, würde er nicht die Marina
dem Boccaccio zuschreiben und sonderbarer Weise so in
denselben Fehler verfallen, den bekanntlich Schiller in
seinen Briefen an Goethe beging. Wir haben es offenbar
nur mit einer Wyleschen Combination zu thun; er glaubte
aus den Übertragungen der Griseldis und der Guiscard-
Sigismunda-Novelle auch von der ihm bekannten lateinischen
14 Herrmann, Die lateinische ^Marina".
Marina auf ein italienisches Original zurückschliessen zu
dürfen.
Die Entscheidung der Frage, ob unsre Passung selbst
stilistische Eigenthümlichkeiten zeigt, die sich nur durch
die Annahme einer Übertragung aus dem Italienischen er-
klären Hessen , sei dem Romanisten überlassen ; dem Laien
scheint manches darauf hinzudeuten, und auffallend wäre
es jedenfalls, wenn ein humanistischer Verfasser seinen
Personen Namen wie Aronus, Marina, Dagmanus, Antonia
gegeben, — ja, die beiden in allen späteren Fassungen
namenlos gebliebenen Freunde des Kaufmanns Zani und
Qaliotto genannt hätte. Aeneas Sylvius wenigstens hat
mit ein paar verschwindenden Ausnahmen in ^Euryalus und
Lucretia' nur Namen des klassischen Alterthums verwendet.^*)
Es bleibt endlich als letzte Aufgabe eine Yergleichung
der lateinischen Novelle mit der ältesten französischen Be-
arbeitung, der hundertsten Erzählung der Cent nouvelles
nouvelles (zuerst 1486 gedruckt). Aber auch hier wird l
der Romanist das letzte Wort zu sprechen haben. Der |
Verfasser der genannten Sammlung benutzt sowohl italie-
nische wie lateinische Vorbilder, vor allem Boccaccio und i
Poggio, und während er im ganzen ungemein frei bearbeitet,
scheint er doch den Grundsatz zu haben, die directen Reden
seiner Originale mit grösserer Treue wiederzugeben (vgl.
z. B. die Nov. 96 und ihr Vorbild in Poggios Facetien, Opp.
omn. 1538, S. 43t). So kommt es, dass im Gegensatz zu
den allermeisten Nummern, die ihren Vorbildern nur noch
inhaltlich, aber nicht mehr formal ähnlich sehen, die Marina-
novelle, die zum grössten Theil aus Monologen und Dia-
logen besteht, dem Sachverständigen eine Einzelvergleichung
mit dem lateinischen Text gestatten wird. Der erzählende
Eingang ist eine sehr freie Wiedergabe der entsprechenden
Stellen der Urnovelle, aber in den langen Reden entspricht
sich fast Satz für Satz, und manche Stellen möchte man
•*) Wenn wir von den ans historischen Gründen beibehaltenen
Namen Sigiamundus nnd Catbarina Petrusci absehen, stehen die Namen
Beccarus, Bertus und Pandalus der klassischen Gruppe Achates, Aga-
memnon, Dromo, Eurjalus, Lucretia, Menelaus, Nisus und Sosias
gegenüber.
Hemnann, Die lateinische *Marina\ 15
als eine geradezu wortgetreue Übersetzung des Lateinischen
auffassen. Bedenklich scheint mir dagegen und mehr für
eine Übertragung aus dem Italienischen zu sprechen der
Gebrauch der italienischen Fremdwörter *muthemathe' und
'muthematherie'^') (S. 506 der Ausgabe Paris 1858), wofern
nicht dieses Wort damals allgemein im Französischen ein-
gebürgert und sein Gebrauch bei einem italienischen StoiFe
dem Bearbeiter besonders nahe gelegt war. Ferner kann für
das Zurückgehen der französischen auf eine andere als unsere
lateinische ^Marina' angeführt werden, dass in dieser Dag-
manus nur ein Fasten-, nicht auch ein für die Erzählung
gleich wichtiges Keuschheitsgelübde vorgibt, während der
Doctor im Französischen genauer sagt: 'je jeusneroye .... ung
an entier, chascun jour, au pain et a Teau, et durant ceste
abstinence, ne feroye pech6 de mon corps' (a.a.O.
S. 505). Dass dies zweite Gelöbnis nicht zufällig in der
Eybschen Aufzeichnung ausfiel, beweist Strauchs deutsche
'Marina', in der es ebenso fehlt. Trotz dieser TJndeutlich-
keit seiner Vorlage sagt aber auch Eyb: ... 'das ich ein
gantz iar keufch beleiben vnd mit brott vnd waffer
vaften wolt' (a.a.O. fol. 37*). Schon die andere Reihen-
folge der Gelübde verräth, dass der Franzose und Eyb
nicht etwa eine gleiche vollständigere Fassung vor sich
hatten, sondern selbst ergänzten, und zwar aus den in
nächster Nähe stehenden Worten : 'hoc tempore impollutum
feruaui corpus', die sie beide darum unübersetzt lassen.
Ein immerhin bemerkenswerthes Zusammentreffen ist
es, dass die Abfassungszeit der Cent nouvelles nouvelles in
die Jahre 1456 bis 1461 gesetzt wird, und dass Eybs Nieder-
schrift der lateinischen 'Marina', wie ich in meiner Mono-
graphie über den genannten Autor zeigen werde, zwischen
1453 und 1459 entstanden ist. Man wird danach geneigt
sein, die Zeit, in der das Original verfasst ist, nicht lange
vor der Mitte des Jahrhunderts zu suchen.
Einige Bemerkungen über die verschiedenen Bearbei-
tungen der Novelle mögen hier ihre Stelle finden. Die
Filiation ist die folgende:
'') Der lateinische Text bietet dafür: mutatio status.
15 Hemnann, Die lateinische 'Marina'.
Marina
Latein Latein oder Italienisch?
I
Anonymus (Zoitschr. f. d. Alterth.») Eyb Cent. nouv. nouv. 100
Speculom exemplomm Hans Sachs Malespini Goethe
Die drei Gruppen unterscheiden sich von einander
ganz deutlich. Ziemlich treu im Anschluss an das oben
veröffentlichte Original übersetzt der Verfasser der von
Strauch herausgegebenen Bearbeitung. Ich bezeichnete ihn
in der Tabelle als Anonymus und befinde mich damit im
Widerspruch gegen Strauch, der a. a. 0. S. 340 diese deutsche
^Marina' dem Niclas von Wyle zuschreibt, weil dieser an
der oben angeführten Stelle die Erzählung einer deutschen
Übertragung für würdig erklärt. Aber so glänzend Strauch
die Yerfasserbestimmung bei der zweiten von ihm heraus-
gegebenen Prosanovelle des 15. Jahrhunderts, bei Eybs
^Grisardis', gelungen ist, so bedenklich scheint mir der
Vorschlag, den er betreffs des Autors der Marina macht.
Denn die Treue dieses Bearbeiters gegenüber dem Original
ist zwar nicht gering, aber sie ist doch, wie auch schon
Baechtold (Geschichte d. deutschen Litteratur in der Schweiz,
Anm. S. 55 f.) bemerkte , keineswegs mit Niclas von Wyles
Sklaventreue zu vergleichen. Gewiss wäre das jetzt, wo
wir die lateinische ^Marina' besitzen, ohne weiteres auf-
zuzeigen, wenn wir eine vollständige Untersuchung der
Sprache des N. v. Wyle besässen. Aber das Buch von
Nohl (Heidelberg 1887)*«), das unter dieser Flagge segelt,
beschränkt sich leider auf Laut- und Formenlehre, und so
muss die genauere Prüfung der Marinanovelle dem über-
lassen werden, der sich endlich einmal der wichtigen Unter-
suchung des Wyleschen Stils unterzieht. Ich greife nur
ein einzelnes Kriterium heraus und wähle natürlich die
Behandlung der lateinischen Accusativi cum Infinitive in
»•) Nohl bespricht S. 7—8 die von Strauch edirte Marinahand-
schrift, er kommt auch zu der Vermuthung, dass hier Wyles Über-
setzung vorliegen könne, hat aber 1887 noch keine Ahnung davon,
dass die Handschrift seit 1885 bereits in der Zeitschrift f. deutsches
Alterthum gedruckt vorliegt! Zwingende Gründe für die Richtigkeit
seiner Vermuthung bringt er nicht vor.
Herrmann, Die lateinische *Marina\
17
der deutschen Marina einerseits, in Wyles Übersetzung der
Boccaccio -Aretinusschen Guiscard und Sigismunda- Novelle
andrerseits.^'') Es liegen dabei folgende Möglichkeiten vor:
Wiedergabe des lateinischen Acc. c. Inf. 1. durch deutschen
Acc. c. Inf., 2. durch blossen Infinitiv, 3. durch einen Haupt-
satz (indirecte Rede) , 4. durch einen Nebensatz (mit ^dass'
oder ^wie') , 5. durch nominale Umschreibung, 6. gänzlicher
Fortfall der Umschreibungsnothwendigkeit. Diese Fälle
vertheilen sich in folgender Weise:
Acc. c.
Inf.
Wyle
Anonymus
16
Inf. Hptstz.
Nbstz.
0
5
16
10
Nom.
Umschr.
Wegfall Samma
1 ") 24
17 »•) 55
oder nach Procenten ausgedrückt:
Wyle
67
4
0
21 4
4
Anonymus
2
16
29
18 4
31
Diese eine Probe gibt so ungeheure Verschiedenheiten,
dass man schon danach schwerlich geneigt sein wird, in
beiden Fällen an denselben Stilisten zu denken. Dazu
kommt ein Weiteres. N. v. Wyle ist ein feingebildeter
Schüler des Humanismus, und böse Fehler und Missver-
ständnisse werden ihm nicht häufig begegnen. Unserm Ano-
nymus dagegen lassen sich jetzt mit Hülfe der lateinischen
*'') Das Original dieser lateinischen Bearbeitung ist, wie ich hier
bemerken will, nicht nur in seltenen Incunabeldrucken zu finden, es
steht vielmehr auch in der überhaupt unsagbar liederlich hergestellten
Gesammtausgabe der Werke des Aeneas Sylvius unter dessen Briefen
(z. B. Basel 1571 S. 955 ff.); der Index schreibt die Übersetzung dem
Aeneas Sylvius, die Überschrift des Briefes dagegen ganz richtig dem
Leon. Aretinus zu.
••) Acc. c. Inf. Translation hg. v. Keller: 81, 5. lo. la f. 84, 33. 85, 14.
2lf. 86,20f.85ff. 87, 7 f. 20 f. 21. 32 f. 88,15f. 89,6f. 90, 5 f. 14 f. Inf.88,2f.
Hptstz. — Nbstz. 82, 6f. 84, 6f. 86, ißf. 87,33. 90, lof. Nom. Ums.
86, 6 f. Wegfall 90, i6.
••) Acc. c. Inf. (Zeitschrift f. dtsch. Alterth. 29) 339,7 (noch dazu
ist dies 'hiesz sie ine zu ir komen'). Inf. 326, 24. 327, 6. 12. S4. 328, 15.
330,30. 334,6. 337,23. 36. Hptstz. 328, i5. 329, 38 f. 330, 37 f. 331, i4.
333, 17. 334, 23. 29. 335, i. 6. i6. 35. 336, i f. 3. 337, 34. 338, 25 f. 29. Nbstz.
3äO,2of. 331, 14 f. 26ff. 334,19. 336, 9f. 11.24. 339,4. 21. Nom.Ums.326,29.
333, i6f. Wegfall 327, 2. 4. 328, is. 26. 329, sf. 22f. 330, 7. 23 f. 26. 331,i8f.
35. 32. 333, 26 f. 335, 34. 336, 4 f. 37. 338, 26.
Viorteljahrschrift fQr Litteratnigeschichte III 2
lg Herrmann, Die lateinische *Marina\
Vorlage arge Dinge nachweisen. Schon das oben angeführte
'Januensis' wirft kein günstiges Licht auf seine Kenntnisse,
und mit dem Worte ^Janua' ist ihm weiter unten noch
einmal ein grosses Missgeschick begegnet: 333,28 wird
^venerat lanuam' ganz sinnwidrig mit ^kam für ire thür'
wiedergegeben. Ahnliche mehr oder minder hässliche Ver-
stösse finden sich auch 327, 4. 328, 4. 31 f. 329,1 (huselich!).
14 f. 31 f. 330, 37 f. 331, 22 ff. (ganz verkehrt!). 332, 14. 35 f.
335,12. vgl. 19. 26.38. 336, 30 ff. 337, 31 f. 36 f. 338, If. 13.
Entschuldbar ist die sinnlose Übersetzung 338, 29 'du
forchtest das fasten': hier hat der Anonymus offenbar
Himuisse' statt des richtigen 'tenuisse' gelesen. — Es bleiben
endlich ein paar Berichtigungen und Sicherstellungen , die
sich aus der Vergleichung des deutschen Textes mit der
Vorlage ergeben. 326, 12 (vgl. die Anm.) ist 'vetter v n d
mutter' der Handschrift correct (lat. parentes). 329, 21 ist das
letzte 'vnd' zu streichen: 'gesellschaft vil gutter frunde'
(== multorum amicorum notitiam et familiaritatem). 329, 25
ist bestimmt, wie Strauchs Anm. vermuthet, 'liphabem' für
'liphern' zu setzen (lat. amatoribus). 330, 19 ist hinter 'wise
vnd fromme' das Komma zu tilgen: die Worte sind nicht,
wie der Herausgeber will, Anrede, sondern Object zu leren',
entsprechend dem lat. 'modum', also 'Verhaltungsmassregel
und vortheilhaftes Benehmen'. 332, 1 ^verstanden' für lat.
'accepi' ? vielleicht 'erstanden' ? 332, 32 f. ist hinter 'Knaben'
wohl ein Komma zu setzen: nur soweit reicht das Object
von 'sach'; 'singen, suffzen' gehört mit 'wise und geberde'
zu 'merckt'. 332,34 möchte ich die unverständliche Stelle
'off staczken in iren mutt' nicht mit Strauch in 'uff sie
strecken iren mutt', sondern auf Grund des lateinischen
'plerumque titillabat in meutern' in 'oft statzen in irem mut'
verbessern (statzen = sich brüsten). 333, 14 'frolich' = frau-
lich (lat. muliebre). 333, 19 (Anm.) Strauch ergänzt richtig
'dem' vor 'rat', hält aber auch dann noch die Stelle für ver-
derbt; 'Mariti consilio utamur' zeigt aber die Kichtigkeit
der Überlieferung. 334, 16 Anm. 'swer' erklärt sich einfach
durch das lateinische 'gravis'. 334, 34 ist in dem unsinnigen
'huszfrau', wie das lat. 'domus' zeigt, die zweite Silbe zu
streichen. Zweifelhafter steht es um 329, 23 und 330, 5 : im
i
Hemnann, Die lateinische 'Marina*. 19
ersten Falle ist (ygl. lat. accessere) das verkehrte 'kann'
durch 'hab' zu ersetzen, im zweiten das unsinnige 'nit' zu
streichen; aber es fragt sich, ob wir da nicht der Hand-
schrift zur Last legen, was yielleicht schon der Bearbeiter
gesündigt hatte.
über Eybs Bearbeitung will ich an dieser Stelle nicht
sprechen; nur auf die Eigenthümlichkeit sei hier verwiesen,
welche die ganze von Eybs Fassung beherrschte Gruppe
charakterisirt. Eyb hat — wie mir scheint, mit feinem
künstlerischem Takte — im ersten Theil der Novelle die
unbarmherzigsten Streichungen vorgenommen: er hat das
breit angelegte und doch nachher im Sande verlaufende
Motiv von dem ^Mann von fünfzig Jahren', der sich noch
so spät zur Ehe entschliesst , so gut wie ganz beseitigt.
Wir werden nur ganz kurz in die Situation eingeführt, und
erst bei der Abschiedsrede des Aronus an die Gattin be-
ginnt Eyb sich der Ausführlichkeit des Originals anzu-
schliessen.
Mit dieser Scene eröffnet daher auch Hans Sachs seine
^Comedia mit 5 personen zu agiern: Die schön Marina mit
dem doctor Dagmano unnd hat 3 actus' (Keller -Goetze
Bd. 13 S. 84—109) vom 1. September 1556. Die Unter-
redung zwischen Mann und Frau füllt den ersten Act; Hans
Sachs schliesst sich dabei sehr genau, oft fast wörtlich an
Eyb ^®) an. Als echter Dramatiker hat er indessen die un-
geeignete Dialogvertheilung des Vorbilds, das nur zwei-
malige Rede des Aronus, einmalige der Marina aufweist,
so gestaltet, dass Marina zehnmal, Aranus neunmal das
Wort ergreift. Freier ist der zweite Act gearbeitet, der
uns verschiedene Monologe des Doctors bringt, ehe Marina
sich an ihn wendet. Der Held hat sich hier als Jurist
und als Ehrenmann zu charakterisiren. In der ersten
dieser Einzelscenen hat Hans Sachs übrigens auch Stellen
*^) Wieso Hans Sachs den Kaufmann Aronus und nicht Aronus,
wie Eyb, nennt, weiss ich nicht zu sagen. Nur eine Ausgabe des Ehe-
buchs: o. 0. u. J. = Augsburg Günther Zainer 1472 und zwei ihrer
Nachdrucke, Augsburg Bämler 1474 und (Augsburg) Hans Schobsser
1495, haben an einer Stelle (fol. 39 »> bezw. 40» und fe») den Druck-
fehler Aranus.
2*
20
Herrmann, Die lateinische *Marina\
des Ejbschen Ehebüchleins benutzt, die nicht zu der
Marinanoyelle gehören; man vergleiche:
Eyb
Ehebuch, Kobergef fol. 38 ^
Wann die vnkeuscheit, alsAm-
brosius schreibt, ist ein pittere
sawre frucht mar dann die galle:
wer sie versucht, den raitzt
sie, vnd wer sie trincket, den
tödt sie. Si ist scherpffer vnd
schedlicher dann ein schwert,
nympt die genad, versert den
leymut, macht trawrig die engel,
schendel den nechsten, erzürnet
got vnd erfreut den teufel, mag
nit güttig gesein vnd sucht räch-
sale, den reichtum [38*] ver-
zeret sie vnd kürtzet das leben
des menschen, sie schadt dem
gesiebt vnd myndert die synne,
zerpricht vnd krenckt den gantzen
leichnam vnd verdömet die sele
in ewigkeit.
Das lob der Ee.
und wohl auch:
Eyb fol. i\
So sich aber dyse dinck seilen
alle begeben, ist einem weysen
kein weyb zunemen. Wann
durch ein weyb wirt gehindert
die lernung der geschrifTt vnd
die weysheit, vnd mag keiner
wol gedinen den kunsten vnd
dem weybe, der weißheit vnd
Hans Sachs
13, 92 V. 17-30.
Unkeuschheit ist ein bitter gall
Schedlich für ander laster all.
Wer sie versucht, den reitzet sie,
Wer sich drein gibt, den würgt
sie hie,
Schadet dem gsicht, schwecht
die Vernunft
Und kürtzt das leben in zukunflft,
Den gutten leumunt sie versert.
Ehr und reichtumb sie verzert.
Krenckt den leib, bringt die seel
in nobt,
Erfrewdt den teuffel, erzürnet
gott.
Derhalben ich ir müssig geh,
Biß ich einmal kumb in die eh.
Da lieb billich und ehrlich ist.
Wie man beim philosophum list.
Hans Sachs
Ebenda V. 10—14.
Aber solich laster vnd dant
Mich warlich nicht verfüren soll,
Gott mich darfür behüten wöll
Weil frawenlieb, bulschafft und
gunst
Acht weder weißheit oder
kunst. . . .
dem pette.
Zwischen solchen Monologen des Dagmanus liegen die
Scenen, die zum grössten Theil wieder fast mit Ejbschen
Worten Marinas Umwandlung vorführen; dabei ist aber die
in der Novelle auf eine blosse Melderolle beschränkte
Dienerin, die, bei Eyb ohne Namen, von Hans Sachs
Bylpha genannt ist, zur eigentlichen Verführerin geworden.
In einer späteren, nur zum Theil erhaltenen Bearbeitung
des Stuckes hat der Dichter recht unglücklich die Zofe in
Hemnann, Die lateinische 'Marina'. 21
einen Narren Jockle verwandelt. Der Act schliesst mit der
Scene zwischen Magd und Doctor, die aber nicht, wie in
der Novelle, im Speisezimmer, sondern offenbar in des Doc-
tors 'Museum' spielt. Act III, 1 gibt ganz genau nach Eyb
die Boudoirscene und dann zwei Besuche des Doctors bei
der fastenden Schönen; aber auch hier spielt die Magd
eine nicht unbedeutende Bolle, und zum unterschiede von
der Novelle ist sie es schliesslich auch , die das Verfahren
des Doctors begreift, von ihr wird die Herrin belehrt. Die
grosse Dankrede der Marina schliesst sich ganz an Eyb
an; aber während dort wie sonst Dagmanus etwas unzart
das letzte Wort behält, überlässt Hans Sachs die Schluss-
worte der Marina und trifft darin eigenartiger Weise mit
einer der Änderungen Goethes zusammen.
Auf Eybs deutscher Erzählung beruht auch eine latei-
nische Fassung, die der Bearbeiter des 'Speculum exemplo-
rum' (erste Ausgabe Deventer 1481**), Dist. X, 14) unter
seine frommen Geschichtchen aufgenommen hat: das be-
weist ohne weiteres der stark gekürzte Eingang, die Namen
Aronus, Marina, Dagmanus und zum Uberfluss die directe
Angabe des Übersetzers, dass er die Geschichte 4n Teu-
tonicali libro' gelesen habe. Er ist abgesehen von seinem
nicht üblen Latein ein Stümper, der uns nicht nur durch
seine fortwährende Moralschreierei ärgerlich macht: denn
er hat Eybs Kürzungen noch weiter ausgedehnt und dabei
ein wichtiges, die ganze Erzählung eigenartig beherrschen-
des Motiv ganz vernichtet. In der hier berichteten Ab-
schiedsunterhaltung zwischen Mann und Frau äussert näm-
lich der erstere zwar ebenfalls Bedenken, ob ihm Marina
*^) Zu den bei Goedeke 2', 125 genannten Ausgaben füge ich
noch: Magnnm specnlum exemplorum Venedig 1605 (Berlin K. Bibl.
£q 9278); dem Titelblatt nach ist diese Edition reich vermehrt und
verbessert *per qnendam Patrem e Societate Jesu* (ist das der J. Maior
8. J. der Ausgabe Duaci 1608?) und jetzt herausgegeben *per P. Fr.
Augustinum Petretum de Begis". Auch den ursprünglichen Sammler
behauptet das Titelblatt zu kennen, er heisst dort Henricus Gran
Germanus; die beigefugte Jahreszahl *circa annum 1480' ist richtig.
Die Sammlung ist jedenfalls in Holland entstanden: denn der erste
Druck stammt aus Deventer, und ein unverhältnissmässig grosser Theil
der Geschichten zeigt niederländisches Local.
22 Herrmann, Die lateinische ^Marina".
auch die Treue wahren werde, er ist aber mit ihrer feier-
lichen Yersicherung bereits zufrieden und fährt beruhigt
aus dem Hafen. So hat der Übersetzer die Hauptsache
getilgt: die Forderung des Aronus, dass seine Gattin im
Falle der Untreue nur einen weisen Mann wählen solle,
und die moralische Herrschaft, die Aronus durch dieses Gebot,
ohne selbst wieder aufzutreten, über den ganzen Verlauf
der Ereignisse ausübt. Marina sucht sich hier den Dag-
manus nur aus, weil sie gern einen Doctor beider Rechte
zum Liebhaber hätte ; der Gatte hat auf diese Weise seine
künstlerische Daseinsberechtigung eigentlich überhaupt ein-
gebüsst. Sonderbar ist es, dass Goedekes Grundriss (2^,
125) grade diese am meisten yerballhornte aller Marina-
bearbeitungen als die Quelle für Goethes Procurator be-
zeichnet. Auf diese Fassung der Erzählung hingewiesen
zu haben, ist das einzige Verdienst der Düntzerschen Be-
trachtungen über die Procuratornovelle (Herrigs Archiv 3
(1847), 275 fr. = Zu Goethes Jubelfeier, Elberfeld 1849,
S. 27—30).
Über die französische ^Marina' sind schon oben einige
Worte gesagt worden. Die von ihr eingeleitete Gruppe
hat zum äusseren Kennzeichen den Umstand, dass alle
Personennamen getilgt sind; wenn in einigen Ausgaben
unser Doctor Dagmanus als 4e saige Nicaise' bezeichnet ist,
so geht das nicht über die Überschrift hinaus. Längst war
es bekannt, dass mit nicht wenigen andern Nummern der
Cent Nouv. Nouvelles auch die 'Marina' in die Ducento
Novelle des Gelio Malespini (Venedig 1609, Nr. 12 des
zweiten Theils) übernommen worden ist. Was Düntzer
neu vorbringt, bezieht sich auf die Quelle, die Goethe für
seine Bearbeitung benutzt hat, und hier wendet er sich
gegen eine Abhandlung Guhrauers in den Wiener Jahr-
büchern der Litteratur, Bd. 116 (1846), Anzeigeblatt S. 80.
Auf vollständiger Willkür beruht es zunächst, wenn
Düntzer (S. 30) gegen Guhrauer leugnet, dass Goethe bei
der Abfassung des Procurators die Originalnovelle vor sich
gehabt habe. Ein flüchtiger Vergleich entscheidet zu
Gunsten Guhrauers: ganze Seiten fast wörtlicher Überein-
stimmungen liessen sich abdrucken. Wohl aber scheint es,
Herrmann, Die lateinische *Marina\ 23
als ob Düntzer bei dem Vergleich der Goetheschen Novelle
mit den älteren Bearbeitungen die Fassung nicht vor sich
gehabt hat, die er für Goethes Vorbild hält. Guhrauer
hatte nämlich, auf ältere Beobachtungen gestützt, in grossen
Zügen gezeigt, dass Goethes Bearbeitung mit der franzö-
sischen Fassung durchaus übereinstimme und also wohl
auf sie zurückgehe. Dagegen erhebt sich nun Düntzer
und erklärt (S. 28} die italienische Nacherzählung der
Malespinischen Ducento Novelle, die Guhrauer nur gelegent-
lich in einer Anmerkung erwähnt, für Goethes Quelle.
^Dass Goethe aus dieser letzteren Sammlung geschöpft
habe\ heisst es dort, 'möchte ich theils wegen der leichten
Verwechselung mit Boccaccio, theils aus dem Namen 'Pro-
curator' schliessen, wofür in den Cent nouvelles nouvelles
sich die Bezeichnung 'ung tr^s saige clerc' findet. Gewiss
wäre der letztgenannte Umstand fast entscheidend. Ich
setze nun die betreffenden Stellen aus den Cent nouvelles
nouvelles, Goethe und Malespini nebeneinander, um dem
Leser eine genaue Prüfung zu ermöglichen.
C. N. N. Goethe Malespini
Ausg. 1858 S. 500 f. Hempel 16, 73. fol 36\
Es mesmes jours .... In solchem Zustande che vn pru-
UDg tr^ saige jeune befand sie sich , als dente e saggio Dottore
clercarriva .... Tant sie . . . vernahm, es ritornö .... atten-
avoit vacqu^ et donn^ sei ein junger Rechts- dendo sempre alle sci-
son entente k Testude, gelehrter . . . zurück- ence , per le quali
qu^en tout le pays n^y gekommen. . . . Als haueua acquistato no
avoit clerc de plus Procurator hatte er poca fama e ripu-
grant renomm6 par bald das Zutrauen der tazione ; interuendo in
les magistraux de la Bürger und die Ach- tutti i Magistrat! ....
cit^ . . . tung der Richter ge-
wonnen.
Was soll man also von Düntzers Verhalten denken?
Weder an dieser Hauptstelle noch sonst bei Malespini heisst
Dagmanus ^procuratore', sondern stets 41 Dottore'; ich weiss
keine andere Erklärung als die : Düntzer hat den Malespini
überhaupt nicht gesehen und einfach angenommen, dass
dieser das französische 'clerc' mit dem naheliegenden 'pro-
curatore' wiedergegeben habe. Hinfällig ist auch Düntzers
zweiter Grund. Schillers irrthümliche Annahme, die Ge-
24 Hemnann, Die lateinische *Marina\
schichte sei aus dem Boccaccio ^^), eine Annahme, die, wie
wir oben bei Wyle sahen, überhaupt nicht fern lag, scheint
mir nicht weniger erklärlich, wenn vrir in den Cent nou-
velles nouyelles, als wenn wir in Malespinis Sammlung die
Quelle suchen. Letzterer hat freilich die Nationalität mit
Boccaccio gemein; dafür ist aber die Ähnlichkeit sonst nicht
gross: sein Werk ist eine blosse Aneinanderreihung von
200 Novellen; dagegen geben die Cent nouv. nouv. ganz
nach dem Vorbilde des Decamerone im Gewände einer
Rahmenerzählung hundert Novellen, die von den einzelnen
Mitgliedern einer Gesellschaft vorgetragen werden.
Sollte aber auch Düntzer trotz der Unerklärlichkeit jener
Trocurator'-behauptung den Malespini in der Hand gehabt
haben. — genau verglichen hat er seine Bearbeitung mit
Goethes Novelle jedenfalls nicht. Die Durchführung einer
solchen Yergleichung ergibt nämlich mit Sicherheit, dass
Goethe die französische und nicht die italienische Fassung
benutzt hat: Malespinis Übertragung ist durchaus nicht wort-
getreu, sondern hat mancherlei kleine Züge geändert oder
getilgt, die wir in den Cent nouv. nouv. und bei Goethe
finden. Einige Beispiele werden genügen.
G. N. N. S. 489. Goethe S. 65. Malespini fol. 33^
. . . les jeunes etpe- . • . eben an einem ... sopra uenne ü
tits enfans, apres jährlichen Feste, Garnefciale; ilche
quUlz avoient solen- das besonders der uedendo egli tutta la
niz^ aulcune feste Kinder wegen ge- Gittä festosa e allegra
accou stumme entre feiert wurde. Knaben intenta a belliflime
eulz pour chascun und Mädchen pfleg- mascherate, in suoni,
an, habillez et des- ten nach dem Gottes- balli e canti, huo-
guisez diversement . . . dienste in allerlei Ver- mini e donne...
kleidungen sich zu
zeigen . . .
S. 492. S. 67. fol. 3l\
la premiere ann^e Auf diese Weise lebte . . nonduröciö lungo
evant qu*elle feust das Paar fast ein tempo . . .
axpir^e . . . Jahr lang.
*^) Vgl. auch den Aufsatas von Landau in der Beilage zur All-
gemeinen Zeitung 1882 Nr. 328.
Hemnann, Die lateinische ^Marina'. 25
C. N. N. S. 493. Goethe S. 69. Malespini fol. 34*».
il se trouva avec ses . . und Hess seine . . fe n'ando fubito
compaignons ma- Schiffsgesellen ru- a trouare alcuni
riniers.. fen . . mercatanti fuoi
amici . . .
S. 501. S. 73. fol. 37».
. . ä laquelle pleut . . und wenn seine fehlt,
tr^ bien sa doulce schöne Gestalt und
maniöre . . seine Jugend sie noth-
wendig reizen mussten
S. 501. S. 74. fol. 37».
. . paree le plus gen- Sie kleidete sich mit . . vestita piü las-
tement.. Sorgfalt.. ciuamente..
S. 501. S. 74. fol. 37».
. . car il marchoit si . . auf das Zierlich- . . imperoche canii-
gracieusement . . . ste seines Weges vor- nando egli graue-
beiging. mentc...
S. 501. S. 74. fol. 37».
. . que, en marchant . . ohne die Augen . . non rimiriua in
ne gettoit sa veue ne aufzuschlagen oder da luogo alcuni..
qk ne lä . . und dorthin zu
wenden.
S. 506. S. 78. fol. 38^.
.. ne vous vueille en- Lassen Sie sich die n^ che le dispiaccia
nuyer lepetitdelay.. Zeit nicht lang del picciola travaglio . .
werden
S. 509. S. 80. fol. 39».
Et eile, entrerompant . . unterbrach sie ihn . . risposa eile . . .
saparole, luy respondit mit Lächeln und sagte:
Bestimmt behaupten lässt sich nun freilich nicht, dass
Goethe diese sicher von ihm bearbeitete Fassung nun auch
wirklich in der Sammlung der Cent nouvelles nouvelles und
nicht in einem andern NoTellenschatz benutzt habe, der die
'Marina' Ton dorther übernommen hat. So lange uns in-
dessen ein solcher unbekannt ist, spricht nichts gegen die
Annahme, dass Ooethe die Cent nouvelles nouvelles, z. B.
in dem 1786 erschienenen Neudruck, in der Hand gehabt hat.
Die kleinen Veränderungen, die G-oethe der Vorlage
gegenüber vornahm, bestehen nicht nur, wie Düntzer an-
26 Herrmann, Die lateinische 'Marina*.
gibt, in der Fortlassung des Namens Genua und in der
Angabe einer anderen Veranlassung für das Fastgelübde
des Procurators. Goethe hat z. B. ähnlich wie Hans Sachs
den Dialog zwischen Mann und Frau lebendiger gestaltet,
ein paar ähnliche Kunstgriffe auch in der Yerführungsscene
angewendet und die letzten Worte des Procurators ge-
strichen; vor allem hat er auch den Ausdruck, namentlich
in den Gesprächen, häufig schärfer zuzuspitzen gesucht.
Die wichtigste Veränderung indessen sieht Düntzer in einer
moralischen Schlusswendung, die Goethe der letzten Rede
der Marina eingefügt hat. ^Sie haben mich', sagt die ge*^
heilte Dame, 4n diese Schule durch Irrthum und Hoffnung
geführt; aber beide sind nicht mehr nöthig, wenn wir uns
erst mit dem mächtigen Ich bekannt gemacht haben, das
so still und ruhig in uns wohnt, und so lange, bis es die
Herrschaft im Hause gewinnt, wenigstens durch zarte Er-
innerungen seine Gegenwart unaufhörlich merken lässt'.
Aber Düntzer scheint mir zu irren, wenn er meint, dass
Goethe nun bloss durch diesen Zusatz ^der Erzählung eine
moralischere Wendung gegeben hat' ; ich glaube sogar, dass
es ganz sinnlos gewesen wäre, die Erzählung im übrigen
unverändert zu lassen und ihr nur diesen Schluss anzu-
hängen. Denn die Marina der Vorlage ist überhaupt kein
Wesen, das einer moralischen Entwicklung eigentlich
fähig ist. Sie ist nichts als ein vollständig willenloses, fast
nur physisch lebendes Weib : sie gehorcht völlig dem Willen
des Mannes, leistet ihm, weil er es befiehlt, das eigentlich
ungeheuerliche Versprechen, einen weisen Buhlen zu wählen,
sie folgt dann gleich willenlos ihrem sinnlichen Triebe und
geht schliesslich ebenso blindlings auf alle Anordnungen
des Liebhabers ein. Dieses Weib ist moralisch überhaupt
nicht verantwortlich und ihre Heilung kann daher auch nur
physischer Art sein; aus dem Munde dieser Frau würden
jene Goetheschen Worte wenig glaubhaft klingen. Um so
merkwürdiger ist es, dass Düntzer des Dichters Haupfcver-
änderung nicht bemerkt hat: Goethe hat den Charakter
der Eaufmannsfrau ganz entschieden umgestaltet. Das
zeigt sich vor allem in der Unterhaltung zwischen ihr und
dem Gatten. Im Original führt der Kaufmann im Laufe
Hemnann, Die lateinisclie *Marina\ 27
seiner langen Ansprache die Redensarten an, die die Durch-
schnittsfrauen bei Eeuscbheitsroahnungen der Männer im
Munde zu führen pflegen, um Marina zu bitten, solche
Antwort zu unterlassen. Goethe dagegen legt diese Eedens-
arten wirklich der Gattin in den Mund, als der Kaufmann
kaum geäussert hat, dass er noch etwas Peinliches auf dem
Herzen habe. Vor allem aber: dass Goethe seine Heldin
nicht so willenlos zeichnen will wie der Dichter des Origi-
nals, zeigt sich darin, dass bei ihm die Schöne vor der Ab-
reise des Gatten nur noch einmal Treue gelobt, das von
ihm geforderte Yersprechen dagegen nicht leistet.
Und auch nach der Abfahrt des Kaufmanns hat Goethe
frei erfindend der jungen Frau Worte in den Mund gelegt
(Hempel t6, 72, Z. 25 iF.), welche deutlich zeigen, dass diese
Marina allen Yorgängen viel kühler, verstandesmässiger
gegenübersteht, dass sie entschieden auch moralischer Er-
wägungen fähig ist und ihnen eigentlich folgen müsste.
Auf diese Frau kann also das charakterfeste Verhalten des
weisen Jünglings auch einen moralischen Eindruck
machen, in ihrem Munde klingen uns die oben angeführten
Worte verständlich. Ohne Frage hat die Novelle durch
diese leichte Änderung Goethes das Eecht auf den Titel
einer moralischen Erzählung gewonnen; ich wage nicht zu
entscheiden, ob sie nicht dafür einiges von ihrem ursprüng-
lichen Reiz verloren hat.**)
Berlin. Max Herrmann.
^') Ich weise hier noch auf zwei Erzählungen hin, in denen die
Heilung einer Ehefrau von unkeuschen Begierden ebenfalls auf phy-
sischem Wege vor sich geht: die yierte Meistergeschichte der ^Sieben
weisen Meister' (vgl. z. B. Keller, Altdeutsche Gedichte S. 104 ff. , bes.
118 f.), wo die Heilung durch Blutabzapfung erfolgt, und Poggios
Facetie De muliere phrenetica (Opp. Basil. 1538 S. 428f.), wo ein un-
freiwilliges Bad im Arno die erwünschte Wirkung thut.
28 Michels, Zur Gescbichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh.
Zur Geschiehte des Nürnberger Theaters
Im 16. Jahrhundert.
1. Archivaliscbe Mittheilungen aus den Jahren
1549_1576.
Seit längerer Zeit mit umfassenderen Arbeiten über
Leben und Werke des Hans Sachs beschäftigt, fand ich
bei Durchforschung der Nürnberger ^Rathsverlässe', d. h. der
bei den Sitzungen des Raths über dessen Beschlüsse ge-
führten Protocolle, die gegenwärtig im Egl. bair. Ereis-
archiv aufbewahrt werden, seit dem Jahre 1549 eine Reihe
Yon Genehmigungen yon Fastnachtspielen, die ein inter-
essantes Licht auf die damaligen Nürnberger Theaterver-
hältnisse werfen. Ich beabsichtige, an anderer Stelle darauf
zurückzukommen, und kann mich füglich hier eines ausführ-
lichen Gommentars enthalten. Dass die Rathsverlässe ge-
rade um diese Zeit beginnen, sich mit Fastnachtaufführungen
zu beschäftigen, darf nicht Wunder nehmen. Die Ereignisse
der vorhergehenden Jahre, der Schmalkaldische Erleg und
das Interim veranlassten den Rath, die Censur äusserst
straff zu handhaben und nicht bloss mehr auf wirkliche
Streitschriften anzuwenden. Immer wieder wird den Druckern
eingeschärft, jedes Werk dem Rath vorzulegen, immer wieder
werden Schmählieder, aufreizende Eanzelreden verboten.
Vom 22. December 1548 datirt die bekannte Verordnung
über die Umänderung des Liedes 'Erhalt uns, Herr, bei
deinem Wort'. Die jährlich wiederholten Verfügungen, das
Schembartlaufen betreffend, sprechen vom Fastnachtspiel
nicht, weder vorher noch später, ein Beweis, dass ein Zu-
sammenhang zwischen Schembart- und Fastnachtspiel nicht
empfunden wurde. Vereinzelte Genehmigungen von Auf-
führungen finden sich allerdings auch früher, namentlich
von Schulkomödien und von Schaustellungen fremder Spiel-
leute. So wird etwa am 26. December 1547 den jungen
Enaben beim Rappolt ^) vergönnt, 'heut jr Comedj lateinisch
^) Vgl. Goedeke § 148; 252 k.
Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh. 29
in der Regimentstub zu spilen', aber mit dem Vermerke
Yorzusehn, ^das nit vil frömbds gesinds berauf komme\
(R. V. 1547. 10. S. 6.) Wo Yom Spielhalten fremder Spiel-
leute die Bede ist, ist immer fraglich, ob wir nicht viel-
mehr an ^Himmelreicher' zu denken haben, die ihr ^Spring-
spieP, Seiltanzen und Tliegen' oder 'Spektakel mit selt-
samen Tieren' trieben. Übrigens waren es wohl meist
Italiener, wenigstens wird einmal ein Hieronymus von Venedig
genannt (6. März 1545. R.V. 1545. l. S. 53^). —Vgl. unten.
Zwei Punkte aber möchte ich hervorheben. Einmal,
dass es sich bei den Fastenaufführungen dieser Zeit keines-
wegs ausschliesslich oder auch nur vorzugsweise um jene
kleineren Dramen handelt, die xar c^o^^v sogenannten
Pastnachtspiele. Waren diese etwa mehr für Aufführungen
im engeren Kreise der Meistersinger bestimmt?^) Hiermit
zusammen hängt die zweite Erscheinung, auf die ich be-
sonders hinweisen will. Am 13. August 1546 findet sich,
soweit ich die Rathsverlässe durchgesehen habe, zum letzten
Mal von zahlreichen früherer Jahre die Notiz, dass den
Meistersingern auf Sonntag eine Singschule erlaubt sei.
Für die unmittelbar folgenden Jahre mag sich diese Erschei-
nung aus der Ungunst der Zeitverhältnisse erklären. Dennoch
ist sie höchst bemerkenswerth. Zunächst darf wohl an-
genommen werden, dass nur für das Auftreten vor ge-
ladenem Publicum in der Predigerkirche, der Frauenkirche
oder im Spital — beiläufig bemerkt noch nicht in der
Eatharinenkirche , wie (trotz Archiv f. Litteraturgeschichte
3, 51) auf Wagenseils Autorität hin stets behauptet zu
werden pflegt — die Genehmigung eines ehrbarn Raths
oder des einen Bürgermeisters, der nach Verfügung vom
') Von ^Fastnachtspielen' glaube ich hier deshalb sprechen zu
sollen, weil ihre Aufführung regelmässig in derselben Zeit wiederkehrt,
in der sich die längst über ihre ursprünglichen Grenzen erweiterte
Fastnachtlust geltend machte. Genau in denselben Monaten und oft
in unmittelbarer Nachbarschaft zu den hier mitgetheilten Protocollen
begegnen fort und fort Verbote gegen das 'vermummt Fassuachtgehn'
und *Bursensitzen\ Bestimmungen über das Krapfenholen der Metzger
und Fleischhackertänze. Alles das heisst der Zeit im weitesten Sinn
des Worts 'fassnachtspil'. Auf das Verhältniss von Fastnachtdramen
und Weihnachtsdramen beabsichtige ich zurückzukommen.
30 Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh.
26. Juli 1527 Singschulen der geistlichen Lieder ohne weiteres
genehmigen durfte, einzuholen war. Übungen und Auf-
führungen im engeren Kreise (bis 1540 in der 'Poeten-
schul'? vgl. Verlass vom 13. Januar 1528. R. V. 1527. 10.
S. 14) fanden sicherlich auch femer statt. Nun könnte man
ja meinen, dass von 1546 an die Meistersinger die fast
stets ertheilte Erlaubniss für das Abhalten einer Singschule
vor grösserem Publicum nicht mehr eingeholt hätten, oder
dass die Bürgermeister dieselbe als etwas Selbstverständ-
liches nicht mehr in die Protocolle hätten aufnehmen lassen.
Die berührten Zeitverhältnisse machen diese Annahme völlig
unwahrscheinlich. (Die letzte Genehmigung schärft auch
den Meistersingern ausdrücklich ein, 'dass sie niemand
schmehen sollen'.) Man wird also das Factum so zu deuten
haben, dass das Interesse des Publicums an den Sing-
schulen erlahmt war und die Meistersinger, hauptsächlich
offenbar auf Hans Sachs' Veranlassung, sich ein anderes
Feld für ihre Thätigkeit aussuchen mussten, auf das sie,
wie es scheint, auch durch die Erfolge Jörg Frölichs hin-
gewiesen wurden, der schliesslich geradezu der 'Comedi-
spieler' heisst und wohl als der erste regelrechte Theater-
director gelten darf. Hier finde ich auch die wahre Er-
klärung dafür, 'dass Hans Sachs gerade auf der Höhe seines
Wirkens von 1546 — 1555 einen neuen Ton nicht mehr er-
funden hat'.') Übrigens scheinen die letzten der mit-
») Hans Sachs' Werke hg. v. Arnold 1, XXIL
Es ist nicht unmöglich, dass man auch eine Mittheilung Baa-
ders (Anzeige f. die Kunde deutscher Vorzeit 1862 Sp. 8 f.) hier heran-
ziehen darf. Am 20. December 1580 wird den Meistern das Singen an
hohen Festtagen nach alter Gewohnheit wieder gestattet. Daraus
folgt, dass es eine Zeit lang abgekommen war. Wie lange und wes-
halb, wissen wir nicht; eine ausgedehntere Eenntniss der Rathsacten,
als ich besitze, würde yielleicht Klarheit schaffen. Baader macht dazu
nun allerdings folgende Vorbemerkung : 'Noch zu Lebzeiten des H.Sachs
und namentlich nach seinem Tode, durchbrach der Meistergesang nicht
selten die engen Schranken, in denen ihn der Zeitgeist (?), Zucht, Sitte
und Gewohnheit festgehalten hatte. Er verliess die bisherigen Pfade
und ergoss sich in weltlichen Liedern, die bei einem hochweisen Rathe
nicht selten Anstoss und grosses Ärgern iss erregten. Dieser warnte
und mahnte, und als er damit nichts ausrichtete, wurde das Abhalten
der Singschule und der Meistergesang gänzlich verboten. Veit Fessel-
Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh. 3 t
getheilten Yerordnungen darauf hinzuweisen, dass die
komödie spielenden Meistersinger ihre Stücke durch Oesänge
etwa einleiteten oder beschlossen. Und dass später wieder
regelrechte Singschulen gehalten wurden (^jedoch der Zeiten
gar selten und fast nur um die Hohen Fest'), wissen wir
durch WagenselL Ist man geneigt unsere Annahmen und
Folgerungen gelten zu lassen, so darf man die Sache auch
umkehren und fragen, ob nicht auch schon früher in den
Singschulen neben den musikalischen auch dramatische
Productionen zum Besten gegeben wurden. Das nimmt
auch Schnorr von Carolsfeld (Zur Geschichte des deutschen
Meistergesangs S. 12) an, indem er sich, wie mir scheint
mit Recht, auf ein Gedicht von Hans Sachs stützt. Hans
Sachsens Meistergesang in Betzens Verschränktem' Ton vom
3. December 1550, betitelt ^Das Neue Jahr', bildet eine
feierliche Einladung zur grossen öffentlichen Singschule
und gibt zugleich eine Art Übersicht über die Thätigkeit
der Meistersinger. Es soll vor allem Gottes heiliges Wort
alten und neuen Testamentes gesungen werden; es soll
auch (Vor dem Anfang der Schul, nach Art der Künste')
weltlicher Meistergesang gepflegt werden ; Schulkünste man-
cherlei Art sollen folgen; Poetrey, gute Fabeln, Schwanke
und Stampaney, lächerliche Possen werden zur Erheiterung,
philosophische und sittliche Lehre, schöne und wahrhaftige
Historien zur Ermahnung dienen — man sieht: das ganze
meistersingerische Repertoir. Dann aber heisst es in der
dritten Strophe weiter: 'Auch wollen wir wie andere
Jahr da ein Comedi halten.' Das kann doch nurheissen,
dass seit Jahren (um die Zeit zwischen Neujahr und Fast-
nacht?) die Komödie als dritter Theil mit zum Programm
der öffentlichen Singschule gehörte. War sie ursprünglich
Nebensache, allmählich bei mangelndem Interesse für den
mann, Weber und andre Meistersänger der Stadt richteten später eine
Vorgtellung an den Rath' u. s. w. Ich erlaube mir indessen einstweilen
zQ bezweifeln, dass sich von alledem, das Decret vom 20. December
1580 und vielleicht auch die Petition des Fesselmann und Genossen
ausgenommen, irgend etwas bei den Rathsacten findet. Zu vergleichen
sind auch die Bemerkungen Trautmanns über die Meistersinger in
Kördlingen, Archiv f. Litteraturgeschichte 13, 39 ff.
32 Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh.
musikalischen Theil derartig zur Hauptsache geworden, dass
die Meistergesänge von den Zuschauern als eine Art Ouver-
türe, wohl auch gelegentlich als Zwischenactsmusik hin-
genommen wurden?^) Dass zu Hans Sachs' Zeit jemals all-
sonntäglich öfFentliche Schule gehalten wurde, wie Wagenseil
behauptet, trifft nach Ausweis der Rathsprotokolle nicht zu ; es
wurde vielmehr nur ein paar Mal im Jahr öffentlich gesungen,
meist an Festen, bald häufiger, bald seltener^). So kann
man vermuthen, dass allmählich nur in der Zeit zwischen
Lichtmess und Fastnacht die Singschule sich eines lebhaf-
teren Zuspruchs zu erfreuen hatte. Der Rath mochte darin
nichts anderes als ein >Spielhalten' sehen, wie es Jörg
Frölich und andre auch trieben. Wie das angeführte Gedicht
zeigt, gehörte dazu etwa auch eine feierliche Einladung am
Neujahrstage. Was die Meistersinger sonst trieben, kann
während dieses Zeitraums unmöglich in öffentlichen Ge-
bäuden statt gefunden haben und muss übrigens viel zu
unbedeutend gewesen sein, um die Behörden zu inter-
essiren.
Im Yorbeigehen mag daran erinnert werden, dass nicht
nur in Nürnberg Meistersinger als dramatische Dichter und
Schauspieler auftreten, wie Hans Folz, Hans Sachs, Peter
Probst, Ambrosius Österreicher, Georg Hager, Veit Fessel-
mann u. a., dass uns vielmehr Ähnliches ja auch aus andern
Städten Oberdeutschlands bezeugt wird. Dazu ist ferner
Schröers Bemerkung zu nehmen, dass in Ungarn ^diejenigen.
*) Im 5. Sprachbach des H. Sachs in der Kgl. Bibliothek za
Berlin finden sich ein paar Strophen nebst Noten, daza die Bemerkung:
'Diese nachfolgenden Saphica gehören in die tragedi gismunda im
161 plat zwischen den Actus zw Singen* (fol. 274«}. Es sind aller-
dings nicht Meistergesänge im engeren Sinne. — Adam Paschmann
verfügt für sein Spiel Jacob, Joseph und seine Brüder: 'Nach Ausgang
der Actus ist auch verzeichnet Instrumentum, das ist man soll
so lange schlagen als es die Notdurft erfordert. Oder anstatt des In-
struments, wofern Meistersinger diese Comödia agierten, mag man die
Gesänge singen, welche zu dieser Comödie sind componieret worden/
Hoifmann y. Fallersleben, Spenden zur deutsch. Litteraturgeschichte2,l4.
'^) 'Jährlich alle drei Wochen' heisst es in H. Sachsens 'Schul-
zetteP Str. 3. MG. XV fol. 65. (Hertel, Ausführliche Mittheilung u. s. w.
S. 32).
Michels, Znr Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh. 33
die YolksmäsBige Weihnachtsspiele spielten und noch spielen,
eine Singschule bilden'.*)
Übrigens bietet die dritte Strophe von Hans Sachs*
Heistergesang 'Das Neue Jahr' auch sonst in gewissem Sinne
eine Ergänzung zu den Angaben der Rathsprotocolle. Ich
schicke deshalb deren Mittheilung voraus, obwohl sie bereits
bei Schnorr zu finden ist.'')
[MG. XII 27**] Auch wellen wir wie andre jar
Da ein Comedj halten,
Auch aus gotlicher fchrifte dar:
Von Ifaac, dem alten,
••> Wie das er kein leibs -erben het
Vnd Sein gepet zw got auf thet;
Da got Sein guet lies Sehen.
Da wart im Efaw vnd Jacob
Von Rebecka geporen;
10 Doch Efaw, wild, vnzem vnd grob,
Den Segen hab verloren;
Jacob Sey worden auferwelt,
Vnd im der Segen zwgeftelt — -
Aus gottes gnad gefchehen.
15 Welches i(t ein schone figur;
Daraus man mercket dar vnd pur,
Das got die Seinen Stet helt in memorj
Vnd helt ganz gnedidichen, ob
In lell fein guete walten.
20 Wer die Comedj Sehen wil.
Der thw Sich fein, zuchtig vnd (til
Bis famftag hieher neben.
Anno Salutis 1550 am 3. December.
*) E. J. ScJiröer in Germanistische Studien 2, 202. Zeugnisse für
das Meistersingerdrama in Augshurg, Memmingen, Freibnrg, Nürnberg,
Strassburg, Ulm, Esslingen und Nördb'ngen bei P. v. Stetten, Kunst-
geschichte Augsburgs (1779) S. 530. Greiff, Beitrftge z. Geschichte der
deutschen Schulen Augsburgs (18.58) S. 152 f. Morgenblatt f&r gebildete
Stande 1814 Nr. 21 S. 84; 1815 Nr. 57 S. 225; 1852 S. 225. Schreiber
in Mones Badischem Archiv 2 (1827), 204. Schnorr v. Carolsfeld a. a. 0.
S. 21f. Martin in Strassburger Studien 1,82 ff. Trantmann a. a. 0.
^) Ich citire nach dem Zwickauer Handexemplar, MG. XII, fol.27^,
das ich durch die überaus liebenswürdige Vermittlung des H. Prof.
Dr. E. Goetze in Dresden benutzen kann. Die Orthographie ist na-
türlich gewahrt bis auf die grossen Anfangsbuchstaben, die ich bei
Viffirtoyahxaehiift für litterAtnigeachichte HI 3
34 Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh.
Gemeint ist natürlich die ^Comedia von Jacob und
seinem Bruder Esau' vom 31. Januar 1550.
Über die Schauspieler und ihren Wettbewerb, die Stücke
und die Censurthätigkeit des Eaths, Ort und Zeit der Auf-
führung mögen nun die Bathsprotocolle selber reden. ^)
1549
1 1 . Februar. Den MelTerern, fo die Jofephisch hiftorien •)
zufpilen furgenomen, folichs vergönnen, doch Tagen, mit denfelben
klaydern nit vber dj gafTen zugeen.
(R. V. 1 548. 1 2. S. 9»>)
21. März. Dweil ein Zeither allerley Sprüchfpil von Schul-
maidern vnd andern leuten gehalten worden, fols nun alfo dabey
pleiben, vnd diefelben füran mer zehalten [nit?] abgeßellt werden.
(R. V. 1548. 12. S. 20»>)
14. November. Den Sechs ytalianer walhen oder Spilleuten
jr begern, vmb vergunnftigung jrs Spilhaltens auß ainer alten
Römischen hiflorj vom hercules, weil der tag yetz kurtz vnd aller-
ley gefahr dabey ill, mit guten Worten ablaynen vnd fy mit 4 f1.
vereern vnd damit hinwegk weyfen. ^®)
(R. V. 1549. 8. S. 14)
1550
20. Februar. Die Burfchen folln noch biß Sontag zehalten
geduldet, doch aber jnen angfagt werden, befcheiden zefein vnd
bey zeit heimzugeen. Daneben aber dweil jn folchen Burfchen
auch fond hin vnd wider dife vergangen faßnacht treffliche grolTe
fpil gfchehen, folln die derhalben hieuor gemachten gefetz zur hanndt
gefucht vnd widerpracht werden.
Dweils auch vur [?] laut, als folten dergleichen grofle fpil
neben vilfeltigen Gaftungen ein zeither aufm RathauH gfchehen
fein, folls dem Quicklperger vnd seiner Ehwirtin vnterfagt vnd be-
uolhen werden folhs abzuHellen — auderhalb was Rathsperfonn,
Doctors vnd Cantzley betriflt [Nachtrag]. Daneben aber jnen vnd
jrm kellner auch verpieten, den haußknechten, so auf jre herrn
den Eigenoamen und im Anfang der Verse durchgeführt habe. Vers 14
^gottes* für 'gotts' des Metrums wegen. Der Text des Cod. 56 aus der
Solgerschen Bibliothek in Nürnberg fol. 35/35^ bietet im letzten Vera
die vielleicht sachlich beachtenswerthe Variante 'bis 8untag\
*) Die zahlreichen Abkürzungen sind aufgelöst, unbedeutende
Schreibfehler stillschweigend verbessert. Die stets wechselnden Namen
der Bathsherren, denen die Verantwortung für die Ausführung der
einzelnen Rathsbeschlüsse oblag, konnten füglich wegbleiben.
*) Von den erhaltenen Josephdramen liegt wohl der Gedanke an
das Sizt Bircks (Augsburg 1539) am nächsten. (Vgl. v. Weilen S. 39).
^^) Bezieht sich nicht gerade auf eine Fastnachtaufführung.
I
Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh. 35
warten, gar keinen wein zugeben noch jnen jm pütlftüblin zu-
zechen zugestaten, bey meiner herrn (traf.
(R. V. 1549.11. S. 28^»)
21. Februar find '2 alte gefetz des verpoten Spilens halben'
verlefen worden. Es soll nach neueren gesucht werden.
(R. V. 1549. 11. S. 29»>)
22. Februar. Auf abermals verleßne allte gefetz des verpotten
Spilens halben, fol weiter nachgefucht werden, ob nit newere
gefetz vorhannden, wo fich dan nichs findt, fol ein newes gefetz
bedacht werden, wie die groden vnnd winckirpil zufurkomm fein
mögen als dan widerpringen. ^^)
(R. V. 1549. 11. S. 32)
1551
15. Januar. Den frembden Spilleuten jr begern jnen jr Spiel
vnd fpringen etlich tag treyben zulaCTcn ablaynen.
Daneben erkundigung thun was Hanns Sachs für ain fpyl
hab. follichs widerpringen.
(R. V. 1550. 11. S. l'')
19. Januar. Hanns Sachfen auf die befchehen erkundigung
fein Spil vom Abbt vnd ainem Edelman, der jn gefanngen, ^^) weils
daulTen allerlay nachred geperen vnd mein herrn zu nachtayl kumen
möcht, weitter zetreyben mit guten Worten ablaynen.
(R. V. 1550. 11. S. 9)
1552
25. Januar. Nachdem der elter herr Burgermaider herrn
hannfen voyten Caplan zu fanndt Lorentzen geder vergönnt hat
die Commedj vom Reichen Mann ^^) mit feinen Schülern auf nech-
(ten Mitwoch zuhalten, fols jn bedacht dasesvnschedlich. alfo dabey
pleiben.
Weyl aber von Hanns Sachfen vnd anndern etlich mer Spyl
vnd Commedj voraugen feyen, fol man fich derhalb erkundigen,
wers mer treyb, vnd was es für materj oder hiftorj feyen, vnd
widerpringen. denfelben auch verpieten. föUiche Commedj nit zu-
halten biß auf ains Erbem Raths weittern beschaid.
(R. V. 1551. 11. S. 29)
^') Ich würde annehmen, dass sich diese Verordnungen vielmehr
auf Karten- und Würfelspiele beziehen, wenn nicht das Suchen nach
Gesetzen auffällig wäre. Finden sich doch auf beinahe jeder Seite der
R. y. Verbote gegen derartige Spiele.
1*) Fastnachtspiel. Goetze Nr. 27 (17. December 1550).
") Vermuthlich entweder H. Sachs* Coroödie *Von dem reichen
sterbenden Menschen, der Hecastus genannt' (6. September 1549) Tüb.
Ausg. 6, 137 oder Lorenz Rappolts Bearbeitung des Hekastus , zuerst
aufgeföhrt 1549, gedruckt 1552.
3*
36 Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh.
8. Februar. Hanns Sachfen die new Tragedj von ainer kay-
ferin die des Eepruchs halb ynrchuldig jns eilendtverwyfen worden.^*)
weils nyemandts fchedlich, auch wie man jm die anndern fpil zu-
gelaHeni zu halten vergönnen.
(R. V. 1551. 12. S. 8)
23. Februar. Dem Rappolt foU vergönnt werden, feine la-
teynifche Gommedj morgen nach tifch auffm Rathauß zuhalten.
Doch Verordnung thun, damit man nit yederman hinein laß, vnnd
nichts befchwerlichs gehaundelt werde.
(R. V. 1551. 12. S. 31)
4. November. Lorentzen Rappolt auf fein bitlich anlanngen.
vergönnen die Gommedj oder Tragedj von der hiftorj des Sam-
sons mit feinen Schulknaben nach weyhennachten teütfch zu
agiren.
(R. V. 1552. 8. S. 3)
1553
8. December. Hanns Sachfen fol vergönnt werden, die vor-
habendt Römifch hiltorj von auffgelegter fchatzung. ^'^) weil vyl
guter argument vnd vrfachen wider die befchwerungen dergleichen
auflagen, darjnn auff die pan gepracht werden, die allen Ober-
kaiten zu guten gedeutet werden mügen. alhie zu agiren, wie er
gebetten hat.
(R. V. 1553. 9. S. Iß^)
1555
30. December. Jörgen Frölich MeiTerer. vnd hannfen Adam
Briefmaler vnnd jren mituerwannten jrer begerten Gommedien
halben, jnen diefelbe zu recidiren zu uergönnen, widerfagen, fy
mügen über drey wochen. wider anfuchen. wöU man jnen weiter
gepürlich anntwurt geben.
(R. V. 1555. 10. S. 5'»)
1556
18. Januar. Hanns Sachfen vnnd den anndern anfuchenden
perfonen fol man vergönnen, jre Gommedien zwifchen hie vnnd
faßnacht zu recidiren, doch das fy es in der wochen nur zwen
tag thun, vnd die leüt nit vbernemen, also dz ain perfon auffs
mayd vber 3^ nit geben dörff.
(R. V. 1555. 10. S. 29)
^*) Gemeint ist wohl die Comedi *Die nnschnldig Kaiserin von
Rom' (im General -Register *Die Kaiserin mit den Aussätzigen* ge-
nannt) vom 31. August 1551. Tüb. Ausg. 8, 131.
^*) Unter H. Sachsens Stocken bis 1553 weiss ich keines, auf
das sich diese Bezeichnung beziehen könnte. £. Goetze denkt, freund-
licher Mittheilung zufolge, an die *Comedi von dem ehrnvesten hauptr
man Camillo\ Tüb. Ausg. 12, 227. Sie trägt dasselbe Datum wie der
Rathsverlass. ^Schätzung* gleich *Strafe\
I
Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh. 37
29. Februar. Den Supplicierenden des Briefmaler hanndt-
werckbs. Soli mann jr begem. die hiftorj vonn der Zerftorung
jerufalem. ^') noch drej wochen Spielen zu laden, ablainen, vnnd
jnen folliche Spiel nit lennger dann noch morgen zu halten ver-
gönnen.
(R. V. 1555. 12. S. 13)
31. December. Jörgen Frolich vnnd anndern anfuchenden
Meflerern, jnen zuuergönnen. das ße jre Spiel halten mögen. Tagen,
es fey noch zu frue vnnd Sy vmb lichtmeß. herwider weifen.
(R. V. 1556. 10. S. 11)
1557
25. Januar. Vff Hanns Sachfen bitten vnnd anhalten, jme zu
uergönnen, das er feine gemachte Spiel halten möge, Soll mann
diefelben Spiel von jme nemen vnd beßchtigen^ ob fie dem ge-
meinen volckh nit ergerlich feyen vnnd widerpringen.
(R. V. 1556. 11. S. 9)
26. Januar. Den anfuchennden Briefmalern vnnd Mederern
Soll mann jre Spiel biß kumfftigen Sonntag bey Sannt Martha zu-
halten zuladen.
(R. V. 1556. 11. S. 11)
27. Januar. Hannfen Sachfen foll mann feine Spiel zuhalten
zu laden.
(R.V. 1556. 11. S. 11»»)
6. Februar. Hanns Sachfen Soll vonn Ratswegen ernndlich
angefagt, vnnd bey eins Rats (traff aufferlegt werden, ainich Spiel,
jm Prediger Qofler zuuor vnnd ehe die predig gar aus i(t. zu
halten noch yemanndt hinein zuladen. Dergleichen foll auch Johann
Lottern beuolhen werden, darob zufein [so !], das alle feyrtag, fo
lanng diefe Spiel wehrn, biß nach vollendter mittagspredig, zu-
gehalten vnnd verfchloden bleib, vnnd zum Spiel gar nyemanndt
hinein geladen, damit die predig dardurch nit verhindert werd.
Vnnd obwol vff folchen angefagten befchaidt, gedachter Sachs,
der Erbern frauen vnnd jungkfrauen. fo zeitlich zum Spiel komen
ynnd jren platz einnemen lufftung begert. So iR jme doch daf-
felb abzulainen beuolhen.
(R.V. 1556. 11. S. 19^20)
1558
1 1 . Januar. Den anfuchennden Maister Singern. Soll mann
vff jr bit. vergönnen vnnd zfiladen. des Sachfen gedelte Tragedj.
vonn der kindheit Chrifli ^'') zufpielen. doch das fie nit ehe. dann
vff [jichtmes fchierift anfahen. jnen aber die annder Gomedj vonn
!•) Hans Sachs. Tab. Ansg. 11, 312 (21. October 1555).
'^) *Die Empftngnis und Gebart Johannis und Christi' (Gen.-Reg.
*Die Kindheit Christi'). 16. Juni 1557. Tüb. Ausg. 11, 162.
38 Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16, Jh.
der kunigin zu Frannckreich ^®). vmb ergernus willen, zufpielen.
ableinen.
(R. V. 1557. 10. S. 12^)
14. Januar. Hanns Sachfen jH vfT fein bit vergonndt worden
feine zwo gemachte Tragedien, vom Konig Dauidt ^*) vnndt Konig
Cyro zufpieln^**). doch das er erften vff lichtraeß damit anfah.
(R. V. 1557. 10. S. 16)
29. December. Hanns Saxen vergönnen , feine zway Spiel
nachm Neuen jar an. biß vfT den weilten Sonntag, zufpieln.
(R. V. 1558. 10. S. 8^)
31. December. Den anföchenden Mefferem jre zwo Comedias
jtzt nachm Neuen jar. biß vff den Weiffen Sonntag, bej S. Martha
züagiren vergönnen.
(R. V. 1558. 10. S. 10^)
1559
13. Februar. Jörgen Frölichs MelTerers vnnd feiner gefellfchaflft
zway Spiel, befichtigen, vnnd wo fich nichts vngefchickts oder vn-
zuchtigs darjnnen befindet, Soll mann jnen folche Comedias biß
kumfiftigen Sonntag vnd Montag zufpielen vergönnen.
(R. V. 1558. 11. S. 34^)
29. December. Hannfen Sachfen vff fein anfuchen feine ge-
machte fpiel zuagiern vergönnen, doch das Er eher nit dann vff
Lichtmeß fchierift anfach.
(R. V. 1559. 10. S. 28)
1560
1 8. Januar. Jörgen Frölich vnnd feinen Mitgefellen vff jr an-
fuchen. jre Spiel zw S. Martha zufpielen vergönnen, doch das ße
erfi vff Lichtmeß anfahen. Daneben aber Hanns Sachfen warnen,
mit machung derfelben Spiel etwas behutfam zu fein, vnnd was
ainiche ergernus verurfachen möcht zuumbgehen.
(R. V. 1559. 11. S. 23)
1561
2. Januar. Georgen Frolich auf fein bitt. des Sachfen Spiel
**) Wohl: *Die Königin aus Frankreich mit dem falschen Marfchalk'.
12. December 1549. Tüb. Ausg. 8, 54. Die Staatsgefährlichkeit ist schwer
einzusehen.
^*) Von den verschiedenen Daviddramen kommen wohl zunächst
in Betracht: *Tragödia König Sauls mit Verfolgung König Davids*
(7 Acte). 28. August 1557. Tüb. Ausg. 15, 31 ; *Die Verfolgung König
David von dem König SauF (5 Acte). 6. September 1557. Tüb. Ausg.
10, 262; 'Der Mephibofet' (1 Act). 6. Oktober 1557. Tüb. Ausg. 10,308.
*^) 'Des Königs Giri Geburt , Leben und End* (7 Acte). 30. Juni
1557. Tüb. Ausg. 13, 289.
Michels, Zur GeBchichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh. 39
bej S. Martha zufpieln zulaHen. vnnd damit acht tag vor lichtmeß
antzufahen.
(R. V. 1560. 10. S. 7^)
1562
3. Januar. Des Sachfen Gomedien vnnd Spiel. Toll mann be-
richtigen, vnnd foferrn nichts ergerlichs darjnnen ifTt. der anfuchen-
den gefeirchafTt zulafTen. folche Commedien. biß morgen vber acht
tag zufpieln anzüfahen.
(R. V. 1561. 10. S. 25)
15. Januar. Nachdem sich die sterbsleuft zimblich ereugen.
alfo das zubeforgen, es werde ßch inn kurtz einreiffen, Derwegen
fo]! mann die verfamblungen vnnd Spiel, fo am jungHen zu halten
erlaubt bej eins E. Rats (IrafT widerumb abfchaffen.
(R. V. 1561. 11. S. 1^)
1 7. Januar. Jörgen Frölich Mefferem vnnd feinen Mituer-
wanndten. jr Supplicierends begern vonv^egen der Spiel, ablainen.
(R. V. 1561. 11. S. 8)
1563
28. December. Jörgen Frolichs MelTerers. vnd Hannfen Saxen
Gomedien alle vberfehen. ob nichs verweißlichs darjnn wider-
pringen.
(R. V. 1563. 10. S. 7^)
1564
3. Januar. Veiten Veflman*^) dem Weber, vnd Jörgen Frölich
dem MelTerer. zu laden, jre Comedias. fo lie vom SachHen haben
recitirn laden.
(R. V. 1563. 10. S. 14)
1565
1 6. Januar. Dem Supplicierenden Veiten hafelman [so !] fol
man zuladen. die angezeigten des hanns Saxen Gomedien zu fpieln.
doch erst auf lichtmes anzüfahen.
(R. V. 1564. 11. S. 8»»)
17. Januar. Jörgen Frölich fol man zulafTen feine 6 Gomedien
bei S. Marta zufpieln. doch erst nach lichtmes anzüfahen.
(R. V. 1564. 11. S. 10)
12. März. Jörgen Frölich sein begern feine Gomedien biß
mit fallen zu fpilen ableinen, vnd es bei den andern auch durch-
aus abfchaffen.
(R.V. 1564. 13. S. 4*)
1566
14. Januar. V^eil sich befindt das etliche Perfonen on beuelch
'^) So im Index; im Text undeutlich. Vgl. unten und Archiv
f. LitteratuTgeschichte 3,41; Baader, Anzeiger f. die Kunde deutscher
Vorzeit 1862 Sp. 8 f.
40 Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh.
gellem jtn prediger Clofter [Spiel] gehalten. Fol man denfelben
allen yerpieten, dies jhar weder an difem noch andern orten kein
fpiel mehr zuhalten. Aber Jörgen Frolich vnd feinen mitgefellen
Fol man zulafen jre Gomedias bei S. Martha zufpilen. doch das
fie erft nach lichtmeß anfahen.
(R. V. 1565. 10. S. U^)
25. Januar. Dem Supplicierenden Veiten hefelman [sol], vnd
feine mit verwandten Meisterfinger fol man jr begern jre Tra-
gedias jm prediger Clofter fpilen zulafen ableinen, vnd bei jung-
(tem befcheidt pleiben laCTen.
(R. V. 1565. 10. S. 24^)
1567
2. Januar. Jörgen Frolich. Auch Veiten FefTelman [so!] vnd
Michel Vogel ^^) fol man zu lafTen bei S. Martha vnd bei den Pre-
digern auferhalb der fchöpfung der weldt.^*) vnd des Paffion**)
jre verzeichnet Gomedias zuagirn.
(R. V. 1566. 10. S. 10)
1568
10. Januar. Ambrofi Öfterreicher.**) Jörgen Frolich Veiten
FelTelmann vnd Michel Vogel, fol man zulafen etliche Ghriftllche
Gomedias zufpielen. doch nichs leichtfertigs. vnd erft nach licht-
meß anzufahen.
(R. V. 1567. 11. S. 4^)
22. März. Die Gomedias. vnd T^utfche fpiel fol man allent-
halben abfchaffen
(R. V. 1567. 13. S.23)
23. December. Jörgen Frolich fol man fein fupplicirendt
begern vmb S. Glara oder Auguftiner Glofter zu feinen Gomedijs
ableinen, vnd es hinfuro bei den beden kirchen bej den Predigern
vnd Marta pleiben lallen.
(R. V. 1568. 9. S. 22»>)
31. December. Veiten FelTelman vnd feinen gefellen fol man
'*) Meistersinger. *Michel Fogel, ein Steinmetz' M 9, S. 1075.
Schnorr a.a. 0. 8. 16. Steirer Meistersingerhandschrift bei Schröer a.a.O.
S. 224; *Michel Vogel pierprei zu Nfimberg' ebda. S. 232.
•») Schwerlich H. Sachsens Drama *Von SchOpfung, Fall und Aus-
treibung Ade aus dem Paradiefe' (3 Acte). 17. October 1548. Tüb.
Ausg. 1, 19.
**) Hans Sachs? ('Der gantz Pafßo nach dem Text der vier
Evangeliaen* (10 Acte). 12. April 1558. Tüb. Ausg. 11, 256.) Auch an
Sebastian Wilds Passionsspiel wäre zu denken (gedruckt 1566).
*^) 'Ambrofius Auftrianus, der poet und philofophus* M 210
(Dresden). Vgl. Qoedeke § 139. 41.
Michels, Zur Qeechichie des Nürnberger Theaters iin 16. Jh. 41
zulafTen jre Comedias bei den Predigern zufpielen. doch das fie
erfl fontags vor Lichtmes anfahen. vnd Jnuocauit wider aufhören.
(R. V. 1568. 10. S. 2^ 3)
1569
4. Januar. Die jenigen Spilleut fo jre Comedias beim gülden
Schwann agirt fol man befchicken vnd vernemen. wer jns erlaubt.
(R. V. 1568. 10. S. 6)
11. Januar. Dem Supplicirenden Jörgen Frolich vnd feinen
mitgefellen fol man jr begem vmb ein Platz zu jren fpielen ab-
leinen, vnd jn acht haben künftig dergleichen fpU mehr nit zu-
uergonnen. dann zu den Predigern vnd zu S. Martha.
(R. V. 1568. 10. S. 11^)
21. October. Dem Supplicirenden Michel Schleiffer vnd feinen
gefellen. fol man jr begern jnen die kirchen zu S. Martha zu jren
Tragedien zuuergunnen ableinen, vnd andere anfuchende zum
Neuen jhar herwieder weilTen.
(R. V. 1569. 7. S. 36)
10. November. Dem Supplicirenden Jörgen Frolich fol man
zu feinen Comedien die kirchen zu S. Marta verleihen, doch das
Er die felbs gebrauche, vnd niemand andern verlaß, auch mein
herrn feine Comedien verzeichnet zu geben.
(R. V. 1569. 8. S. 18b. 19)
19. December. Jörgen Frolich fol man zulalTen. feine Tra-
gedien zu agirn. doch fagen die mit der fchlacht von Pauia nicht
zufpieln.
(R. V. 1569. 9. S. 46^)
27. December. Veit FeiTelman zulaiTen etliche Tragedia zu-
fpielen jm predigerClofter. doch den Theurdannck vmbgeen, vnnd
yetzt zu Oberften anzufahen.
(R. V. 1569. 10. S. 6)
1570
21. Februar. Den Spielleuten bei Predigern, vnd S. Martha,
fol man die Spiel gentzlich abftellen. zu difem mahl.
(R. V. 1569. 12. S. 7)
1571
H.Januar. Auf Jörgen Frölichs vnd hanns langen fupplicirn
jnen zu vergönnen, jre Comedias jm Prediger Clofler. vnd S. Marta
zu agirn. fol man jre Spiel beßchtigen.
(R. V. 1570. 11. S. 13»»)
1572
4. März. Jörgen Frolich vnd feiner gefelfchafft zulaiTen. jre
Comedias noch vf den Suntag Oculj das letzter mahl zuhalten
(R. V. 1571. 12. S. 15»»)
22. December. Jörgen Frölichs Comedien fol man befichtigen.
42 Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh.
Do nichs befchwerlichs darjnn, jme zulalTen Trium Regum anzu-
fahen diefelben zu agirn. weil faßnacbt heur fo kurtz.
(R. V. 1572. 10. 8.6^)
1574
4. Januar. Michel Vogels ?nd Sixten Ludeis vberreichte Tra-
gedias beßchtigen.
(R. V. 1573. 11. S. 5»»)
18. Januar. Die Comedias zu agirn foi man diß jhar gentz-
licb abdellen.
(R. V. 1573. 11. S. 24»>)
1575
3. Januar. Die Spielleut mit jren Tragedijs vf lichtmeß her-
wieder weifen.
(R. V. 1574. 10. 8.18»»)
17. Januar. Die Mummereien. Spil. Tragedien vnd Meifter-
gefang diß jhar ghar abftellen
1576
10. Januar. Jörgen Frölich dem Comedifpiler, deßgleichen
Michel Vogel, vnd 8ixten Ludel den beden Maifterfingern. foll man
auf jr anfuchen verftatten vnd erlauben, jre Comedi vnd Meifler-
gefang an zweien orten jn der 8tat als bei den predigern vnd zu
8. Martha zu halten vnd zu ßngen. doch das ße auf Lichtmeffen
erlt anfahen, vnd auf Inuocauit widerumb aufhören. Auch die
Comedj vnd gefang zuuor vberfehen, damit nichts vngepurlichs
oder vnuerantwortlichs darynn begriffen fei.
(R. V.1575. 10. 8.46»»)
1 6. Januar. Auf den widergebrachten bericht. was die Come-
dien jn ßch halten, die Jörg Frolich vnd feine mitgefellen zufpilen
Vorhabens [so!], foll man jnen die jenigen Comedien fo von den
handlungen jn Franckreich vnd Niderlandt gedieht, zufpiln ab-
ftellen. die andern aber zulalTen. doch darneben fagen. wo ße jm
Rebenter bei den predigern an den fenftern oder foniten ein fcha-
den thun wurden, wie zu andern jaren gefchehen. denfelben auf
jren coiten wider zumachen.
(R. V. 1575. 11. 8. 7)
2. Hans Sachs als Schauspieler (1534 — 1551).
Dass Hans Sachs nicht nur als Dichter und Regisseur
lange Jahre die Nürnberger Bühne beherrschte, sondern
zugleich als Schauspieler seine Stücke 'den meisten theil
felb hab agieren vnd fpielen helffen', wussten wir aus der
Vorrede zum dritten Bande seiner Werke. Ein Theil der
Dramen, in denen er zweifellos aufgetreten ist, in der zweiten
MichelSf Zur Qescliichte des Nürnberger Theaters im 16. Jb. 43
Hälfte des t6. Jahrhunderts, ist oben bekannt geworden.
Yielleicht wird es als eine dankensw^erthe Ergänzung er-
scheinen, wenn hier ein Gedicht mitgetheilt wird, aus dem
wir die Stücke, die in den Jahren 1534 — 1551 aufgeführt
wurden, und zugleich die Rollen kennen lernen, in denen
der Dichter auftrat. Die simple Aufzählung dieser kleinen
schauspielerischen Metamorphosen gibt er mit so viel gutem
Humor, dass das Gedicht auch für seine poetische Begabung
neues Zeugniss ablegt. Da er sich der Reihe nach in seine
eigenen Geschöpfe, seine Kinder, verwandelt hat, so kann
er zum Schluss drollig genug als eines derselben von
seinem Vater Hans Sachs sprechen. So spielt er auch
hier noch seine Rolle. Natürlich findet sich das Gedicht
unter den Meistergesängen, die leider wohl noch lange ein
Buch mit sieben Siegeln bleiben werden und doch sehr viel
mehr bieten, als man gewöhnlich annimmt. Im Zwickauer
Handexemplar steht es Bd. XII fol. 58.
In des Römers gesanckweis.
Die 27 Spil.
[A]ch got, wie oft hat Sich nur mein person verkerl !
Als ob ich het der gottin Circes kund gelert,
Det doch in kainer gflalt zw lang verharren.
Erftlich war ich mit meinem pofen weib ain mon,
& Wart darnach Jupiter vnd trueg zepter vnd krön;
Das nechft jar darnach war ich zw aim narren.
Nach dem wart ich ain druncken polcz
Mit grofem pawch, ein grfilczer vnd ain koczer;
Nach dem fchnit man den narren (lolcz
io Mir; nach dem wurt ich des Franczen Schroaroczer.
Nach dem wart ich der Dolpen Fricz,
Ein pawer; darnach wart ich der Haincz Flegel;
Nach dem wart ich auch der Vurwicz;
Nach dem wart der milt nach Sant Marteins regel.
i& Nach dem ich ain zigeuner war,
[fol. 58^] Dort in der rockenltueben ;
Nach dem wart ich, das ander jar,
Der dewffel gar
Vnd truege in die hele dar.
30 Ein jungen pfifen pueben.
44 Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh.
2.
Nach dem wart ich am furftlichen hof ain trabant.
Nach dem aber wart ich der hewchler, weit erkant;
Wurt darnach der dewfTel mit der vnhuelden.
Nach dem wurt ichUaincz, der verfchlagen pawren knecht;
35 Nach dem wurt ich Vrban, des fchwangern, nachtpaur
fchlecht
(Kunt wir nachpaurn Sein kargheit gar nit duelden).
Wart wider ein trabant zw ftünd;
Nach dem ein knecht vnd ain duerck paidefander,
Da ich den falfchen pofwicht fchund;
30 Wart ein rewter vnd hencker mit einander,
Hawt aus ein jungen zv dem dot,
Der dem riter Sein dochter het pefchlafen;
Wart auch ein jeger vnd poftpot
Vnd ein hencker vnd Solt die kungin (trafen.
35 Nach dem wart ich der dewifel gancz,
MuH mich der weiber weren.
Nach dem ich an dem nafentancz
Erlangt den krancz,
Wart kung (die pawren vmb die fchancz
40 Detten einander perenl).
3.
Nach dem wart ich Marcolfus pey kung Salomon,
Die weiber ich pald auf den kunig hezet on,
Erzelt ir duegent in manigen dingen.
Nach dem wart ich auch ein farender fchueler weis,
45 Da mich ein pewrin fchicket in das paradeis,
Dem gltorben man gelt vnd klaider zu pringen.
Nach dem ich erft ein rewter wuer
Vnd halfif ein abt Selb fangen vnd auch paden.
Nach dem wart ich ein marfchalck nur
[fol. 59] Vnd ein hofffchmaichler, pracht herfchaft zw fchaden.
Alfo her auf Achzehen jar
Hab Spilen helffen neun fch&ner Gomedj
Vnd Sechze fafnacht Spil, vurwar,
Vnd darzw auch zwo trawriger tragedj,
55 Aus den 1er, frewd vnd kurzweil vil
Den lewten id erwachfen:
Got geh noch lenger, ilts Sein wil,
Nach difem zil,
Michels, Zur Geschichte des Nürnberger Theaters im 16. Jh. 45
Das ich helff halten noch mer Spil —
60 Mit meim vater Hans Sachfen.
Anno Salutis 155 t
am 6 tag marcj. ^*)
Die folgenden Stücke lassen sich aus dem Gedicht er-
kennen :
V. 4: (1) Pastnachtspiel, Goetze Nr. 4. 8. October 1533.
Y. 5: (2) ^Comedia oder Eampfgesprech zwischen Jupiter
und Juno'. 30. April 1534 (Tüb. Ausg. 4, 3) oder Komödie
Judicium Paridis'. 9. Januar 1532 (Tüb. Ausg. 7,41).
y. 6: (3) Da die 16 Pastnachtspiele vertheilt sind, lässt
sich am besten an die Komödie ^Die Stultitia mit ihrem
Hofgesind' denken. 1. Pebruar 1532 (Tüb. Ausg. 7, 17).
Das Datum bei Keller ist falsch.
V. 7: (4) 'Buhler, Spieler und Trinker'. Fastnachtspiel
Nr. 5, undatirt, zwischen 20. Pebruar und 23. Mai 1535 ent-
standen.
V. 9: (5) 'Das Narrenschneiden'. Pastnachtspiel Nr. 11.
Das überlieferte Datum 3. October 1557 ist falsch; auch
Munckers Yermuthung (Literaturblatt f. germanische und
romanische Philologie 1884 Sp. 383) 3. October 1537 trifft
nicht zu. Nach dem Begister des 5. Spruchbuchs (Berlin)
stand das Stück im verlornen 3. Spruchbuch, das, den An-
fang ausgenonunen, chronologisch geordnet war wie alle
folgenden, auf Seite 3 10. Danach lässt sich bestimmen: zwi-
schen dem 24. September und 8. October 1536, also viel-
leicht am 3. October 1536 entstanden.
V. 10: (6) 'Der ungerathen Sohn'. Pastnachtspiel Nr. 6.
Es stand im 3. Spruchbuch vor Pastnachtspiel Nr. 11, fallt
also zwischen 24. September und 3. October 1536.
V. 10: (7) 'Das Krapfenholen'. Pastnachtspiel Nr. 15.
31. December 1540.
••) Vielleicht ist V. u für *wart' zu lesen *aach\ Im übrigen
bot sich, abgesehen von der Dnrchfiihrung grosser Buchstaben im An-
ÜEing der Verse und in Eigennamen kein Anlass zu Änderungen. Die
Auflösung der Endung -n in -en , wo das Metrum es erforderte (V. 40
Dettn, V. 43 dingn , V. 46 gstorbn , pringn u. a.), kann als solche nicht
gelten.
46 Michels, Zur Geschichte des Nürnber^^er Theaters im 16. Jh.
V. 11: (8) 'Das Bachenholen'. Pastnachtspiel Nr. 12.
21. November 1539.
V. 13: (9) Fastnachtspiel Nr. 8. 12. Juli 1538.
V. 14: (10) 'Der Karge und der Milde'. Fastnachtspiel
Nr. 7. Undatirt, zwischen 2. August 1537 und 8. März 1538.
V. 15: (11) Fastnachtspiel Nr. 10. 28. December 1536.
V. 18: (12) Beziehung mir zweifelhaft.
V. 21: (13) Beziehung zweifelhaft. Etwa die Komödie
'Die ganze Historie von der Hester'. 8. October 1536 (Tüb.
Ausg. 1, 111).
V. 22: (14) Fastnachtspiel Nr. 14. 30. December 1540.
V. 23: (15) Fastnachtspiel Nr. 18. 19. November 1545.
V. 24: (16) Vielleicht istderDromo in der Bearbeitung
des Reuchlinschen Henno gemeint. 9. Januar 1531 (Tüb.
Ausg. 7,124). Ein Knecht Heinz begegnet auch in der Be-
arbeitung der Menaechrai. 17. Januar 1548 (Tüb. Ausg. 7,
98), aber die Bezeichnung 'der verfchlagen Bauernknecht'
passt nicht auf ihn.
V. 25: (17) Fastnachtspiel Nr. 16. 25. November 1544.
V. 27: (18) Komödie 'Griselda'. 15. April 1546 (Tüb.
Ausg. 2, 40) ?
V. 28: (19) Komödie 'Die unschuldige Frau Genura'.
6. März 1548 (Tüb. Ausg. 12, 40).
V. 30: (20) Bezieht sich wohl auf die Komödie 'Vio-
lanta'. 27. November 1545 (Tüb. Ausg. 8, 340), obgleich das
Urtheil nicht wirklich vollstreckt wird.
V. 33: (21) Komödie 'Die Königin aus Franckreich
mit dem falschen Marschalk'. 12. December 1549 (Tüb.
Ausg. 8, 54).
V. 35 : (22) 'Der Kaufmann mit dem Teufel'. Fastnacht-
spiel Nr. 19. 27. November 1549. vgl. V. 288.
V. 37: (23) Fastnachtspiel Nr. 20. 4. Februar 1550.
y. 41: (24) Komödie 'Judicium Salomonis'. 6. März 1550.
V. 44: (25) Fastnachtspiel Nr. 22. 8. October 1550.
V. 47: (26) 'Der Abt im Wildbad'. Fastnachtspiel Nr. 27.
17. December 1550. Vgl. oben.
y. 49 : (27) Tragödie 'Die unglückhaftige Königin Jo-
casta'. 19. April 1550 (Tüb. Ausg. 8, 29).
Berlin. Victor Michels.
Brandl, Zu Lillo^s Kaufmann von London. 47
Zu Llllo's Kaufmann yon London.
Lillo fallt in eine Zeit, wo jedes Blatt der englischen
Litteraturgeschichte eine fruchtbare Neuerung aufweist,
welche alsbald bei uns anflog und in die Halme schoss. In
den Londoner Strassen ringsum sassen die Poeten und Pro-
saiker, welche die bürgerliche Richtung zur herrschenden
emporschrieben für ihre Insel und für Europa. Er selbst
erschloss dem Drama eine bisher ungewohnte Art, in das
Leben, und zwar in das private, einzugreifen. Dennoch
scheint er einsam und wie ohne Wurzeln aus der Masse
aufzutauchen. Die dürftigste Litteraturgeschichte nennt ihn,
und die ausführlichste thut ihn mit einigen dürftigen Sätzen
ab. Das psychologische Gesetz, wornach keine bedeutende
Leistung von einem einzeln dastehenden Manne ohne Vor-
gänger und ohne ausgeprägte Individualität geschaffen wird,
ist an ihm wenigstens noch nicht nachgewiesen. Hiezu
einige Ansätze.
Das äussere Leben Lillo^s ist nicht erschöpft, wenn man
ihn als wohlhabenden, kinderlosen, philiströsen Geschäfts-
mann sich vorstellt, wie er in Moorgate, City, seine Juwelen
verkauft und nebenbei ein Trauerspiel schreibt, um Handels-
lehrlinge vor Mätressen und Veruntreuungen zu warnen.
Er war einmal wohlhabend, starb aber in Armuth. 'Deprest
by want, dying he wrote', sagt der Epilog zu seinem nach-
gelassenen Drama ^Elmerick' 1740. Das ist allerdings be-
stritten worden. Davies, der Biograph von 1775, der, wie
es scheint, in seinen Stücken spielte und die Theatertradi-
tionen der nächsten Generation vertritt, wollte dies Gerede
bereits wegerklären, als hätte Lillo sich bloss einmal arm
gestellt, um seinen Neffen und Erben zu erproben. Wie
zur Entlastung versichert er, sogar das freigebige Testament
gesehen zu haben; denn ein gefallener Kaufmann ist ein
dem Londoner nicht angenehmer Begriff. Hoffmann ^) theilt
>) Leopold Hoffmann, George Lillo, 1693—1739 (Marburg 1888).
Diese Dissertation, welche allerdings nur auf das Bedürfniss einer der-
48 Brandl, Zu Lillo's Kaufmann von London.
seine Zweifel. Aber die moralische Anekdote, die ja ganz
dem Wesen und der Zeit Lillo's entspricht, und das Testa-
ment mögen ihre Richtigkeit haben und zugleich die Notiz
im zeitgenössischen Epilog. Letztere wird überdies durch
eine davon unabhängige Nachricht aus demselben Jahre be-
stätigt. Geneste, Some Account of the English Stage 1832
(3, 608), das wenig bekannte Quellenwerk für die drei
Haupttheater von London und das von Bath, verzeichnet
nämlich eine Aufführung von 'Elmerick' unter dem 26. Fe-
bruar 1740 'for the benefit of the author's poor relations'.
Lille hat also eine Tragödie auch erlebt.
Es ist bezeichnend, dass ausser den kurzen Abrissen von
Davies und Cibber so gut wie nichts Biographisches über
Lille vorliegt. In den Briefwechseln und Memoiren, die
sonst im achtzehnten Jahrhundert ebenso zahlreich als mit-
theilsam werden, kommt sein Name kaum je vor. Sein Tod
regte zu keinem Zeitungsartikel an. Er verbrachte seine
Tage offenbar abseits von den litterarischen Kreisen, verkehrte
und empfand mit anderen Eaufleuten und hatte nicht ein-
mal, wie der Romane schreibende Buchhändler Richardson
neben ihm, das Bedürfniss, sich von Damen huldigen zu
lassen. Der mercantile Stand gelangt mit Lille zum Wort,
und so ist es nicht unwichtig zu erfahren, wie sich dieser
fühlte. Als Beispiel sei eine Stelle aus ^London in 1731'
angeführt, angeblich von Don Manuel Gonzales, thatsächlich
von einem Londoner verfasst und gerade aus dem Jahre
datirt, in welchem der ^Kaufmann von London' erschien. Be-
kanntlich äussert sich Thorowgood, der Musterprincipal des
unglücklichen George Barn well, gleich zu Anfang der Tra-
gödie mit kräftigem Selbstbewusstsein über seinen Stand:
^the name of merchant never degrades the gentleman, so
by no means does it exclude him' (I, 104). Es brauchte
auch Stolz, um den heroischen Hauptpersonen der trag^die
einen Kaufmann, und zwar nicht einen Kaufmann von Ve-
nedig, sondern von London, an die Seite zu rücken. Da
ist es denn bezeichnend, wie Gonzales das adelige Treiben
artigen Monographie aufmerksam macht und im übrigen sich in trau-
rigen Auszügen und Inhaltsangaben ergeht, hat die folgenden Be-
merkungen veranlasst.
Brand], Zu Lillo^s Kaufmann von London. 49
der Londoner Handels weit betont: 'In this they differ from
the merchants of other countries, that they know when they
have enough, for they retire to their estates . . . they become
gentlemen and magistrates in the counties where their
estates lie, and as they are frequently the younger brothers
of good families, it is not uneommon to see them purchase
those estates that the eldest branches of their respective
families have been obliged to part with'. An diese specifisch
englischen Verhältnisse mag man denken , wenn man sich
fragt, warum die bürgerliche Litteratur überhaupt von London
ausging. Die Fortgeschrittenheit der Bourgeoisie an der
Themse aber steht bekanntlich mit dem Whig-Regiment
seit 1688 in engem Zusammenhang.
Das führt auf einen andern Punkt in Lillo's Leben, der,
wie mich dünkt, noch wichtiger ist : auf seine Beziehungen
zum Hof. Am 22. Juni 1731 debutirte der ^Kaufmann von
London', und bereits am 2. Juli sandte die Königin Carolina
in das Drury-Lane-Theater, um sich das Manuscript zum
Lesen zu borgen. Die feinen Journale berichteten davon
an hervorragender Stelle und widmeten dem Stücke jetzt
auch ihre besondere Aufmerksamkeit. Weekly Register
rühmte am 2t. August, anlässlich der siebzehnten Auffüh-
rung, 'the taste of the few in town for distinguishing so well' ;
man habe es hier mit einer neuen Art von Tragödie zu
thun; die Charaktere seien aus einer niedrigen Sphäre, aber
nicht die Handlung; 4t is the finest Lesson to Youth, and
what is calculated for their Use, is made their Entertain-
ment'. Gentleman's Magazine, eben 1731 entstanden, druckte
diesen Artikel noch in demselben Monat ab und fügte den
Ausspruch einer ^Lady' hinzu, welche den Abgang aristo-
kratischer Figuren hinreichend ersetzt fand durch die kunst-
reiche Zartheit (delicate texture) der Composition. Im näch-
sten Winter wohnte einmal die ganze königliche Familie
einer Vorstellung bei. Auch später sehen wir Lille, obwohl
Dissenter, in Verkehr mit dem Hof. Er feierte die Ver-
mählung einer Prinzess Royal mit Wilhelm von Oranien
1734 in der Maske ^Britannia and Batavia'. Dabei mag er
zum Theil an seine eigene Herkunft gedacht haben, denn
sein Vater war ein Holländer und nur die Mutter englisch.
Vierteljahnohrift für Litteratargeechichte III 4
50 Örandl, Zu Lillo^s Kaufmann von London.
Hauptsächlich betont aber hat er das whiggistische Pro-
gramm des königlichen Hauses, welches dem hochmüthigen
Spanien und dem blutigen Rom, der Tyrannei und dem
Aberglauben gewehrt habe. Der Held Liberto erscheint
auf einer Flotte, um die gebundene Kirche zu befreien, was
deutlich auf die Ankunft Wilhelms von Oranien abzielt; die
'glorreiche Revolution' von 1688, welche nicht einmal Blut
gekostet habe, wird von Leuten aus dem Volke in arbeits-
frohen Arien besungen. Dass dies Festspiel je aufgeführt
wurde, ist nicht bekannt; vermuthlich aber hat es Lille
irgendwie zur Eenntniss der hohen Kreise gebracht, für
deren Augen es ja direct bestimmt war. Dabei darf man
Lille ja nicht eine Bettelei zumuthen, sondern nur einen
Ausdruck ernster Überzeugung. Noch ein zweites Stück
schrieb er für den Hof, und zwar, wie ausdrücklich bezeugt
ist, für den Prinzen Ton Wales, den späteren König Georg HL:
das Drama ^Elmerick or Justice triumphant'. Ein muster-
hafter König und eine buhlerische Königin, bei welcher
man an Maria Stuart denken mag, stehen einander gegen-
über; letztere wird auf Befehl eines gerechten Richters in
Stücke gehauen. Da Lille den Druck nicht mehr erlebte —
er starb im September 1739 — band er es einem Freunde
feierlich auf das Herz, das Drama dem Prinzen zu widmen.
So zu lesen in der ^Dedication'. Lille verehrte also das
königliche Haus bis über das Grab hinaus. Ebenso setzte
auch dieses seine freundliche Haltung bis über den Tod
des Dichters fort; denn nachdem 'Elmerick' am 23. Februar
1740 die Bühnenprobe mit massigem Erfolge bestanden
hatte, wurde es am 26. ^by command of the Prince and the
Princess of Wales' zum zweiten Male wiederholt (Geneste
3, 608). Seltsam: der kleine dicke Juwelier mit dem einen
Auge und der schlichten Haltung; der Nonconformist; der
unromantischste unter den Tragikern, der die Bühne betrat,
um vor frivolen Adeligen und geputzten Courtisanen zu
warnen ; der bescheidene Bürger, der selbst bei den Proben
seiner Stücke den Mund nur aufthat, wenn man ihn fragte ;
dieser Krämerdichter — - in so weitgehender Weise der
Freund und Schützling eines Hofes, wo König und Minister
ihre Mätressen hielten.
Brandl, Zu Lillo's Eau^ann von London. 51
Seltsam und doch kein Zufall. Aus Politik hat die
Krone von der Vertreibung James' II. 1688 an durch ein
Jahrhundert die bürgerliche Neuerung der Litteratur deut-
lich begünstigt ; sowie auch die Vorkämpfer der Bürgerlich-
keit ihr ehrliche Sympathien entgegenzubringen pflegten.
Das erklärt sich in jenen Zeiten, wo stets der Stuart-Prä-
tendent, verbündet mit den heimischen Hochtories, vor den
Häfen Englands lag, einfach aus dem Selbsterhaltungstriebe
beider Theile. Die erste Schwenkung des ausgelassenen
Stuart-Lustspiels zu einem moralischeren Ton, welche durch
Cibbers Erstlingskomödie 'Love's Last Stift' 1694 markirt
ist, entsprach einer Aufforderung der Königin Mary an die
Friedensrichter, dem üppigen Wachsthum des Lasters, das
durch den früheren Hof gefördert worden sei, zu steuern.
Einer ähnlichen Prociamation König Williams 1697 folgte
Colliers berühmte Schrift 'Short View of the Immorality and
Profaneness of the English Stage' 1698 (vgl. Anz. f. deutsches
Alterthum 8, 34). ^The Tatler', die erste moralische Wochen-
schrift, begründet, um gegenüber den aristokratischen Un-
sitten eine allgemeine Einfachheit in Kleidung, Leben und
Denken zu lehren, blühte, solange Marlbourough die Re-
gierung lenkte, erlag aber nach dessen Sturz 1710 den An-
griffen der Tories. Steele und Addison, der Herausgeber
des ^Spectator^ erfuhren in glänzender Weise die Fürsorge
der Krone. Addisons 'Cato\ fast schon eine bürgerliche
Tragödie, wenn auch in römischer Verkleidung, und voll
Whig-Politik, sollte der Königin Anna auf ihren allerhöch-
sten Wunsch zugeeignet werden. Die erste Übersetzung
von Gessners tugendhaften Idyllen 1761, womit nach langer
Pause wieder deutsche Einflüsse über den Canal kamen,
erschien unter der Protection der Königin, der deutschen
Gattin des eben zum Throne gelangten Georgs III. Dr. Johnson,
der derbsolide Satiriker des high lifo in Vers und Prosa,
bekam von Georg III. nicht bloss eine Pension, sondern
auch die persönliche Aufforderung, mehr zu schreiben, weil
er so gut geschrieben habe. So wussten sich die Geister,
welche seit 1688 die Demokratisirung der englischen Litte-
ratur bewirkten, in Übereinstimmung mit dem Herrscher-
haus, als Träger einer loyalen Revolution, frei und gehoben,
4*
52 Brandl, Zu Lillo's Kaufmann von London.
und der fordernde Einflass dieser Stimmung kam ihnen
allen zu gute, nicht am wenigsten unserem Lille. Erst die
franzosische Revolution warf einen Zankapfel dazwischen,
der Einfluss des deutschen Sturmes und Dranges über-
schwemmte in den Neunziger Jahren England mit republi-
canischen Poesien, und Wordsworth mit seiner Verklärung
der ländlichen Arbeiter, als unverbildeter Naturwesen, ver-
suchte seit 1798 direct eine poetische Herrschaft des vierten
Standes aufzurichten.
Trotz dieser günstigen Verhältnisse trat Lille nicht
sofort als fertiger Bürgertragöde auf. Sein erstes Stück ist
nicht der 'Kaufmann von London', sondern ein Singspiel
'Silvia or the Country Burial', aufgeführt am 10. November
1730 inLincolnsInnFields (vgl. Geneste 3, 302f.), von welchem
ich bereits Anzeiger f. deutsches Alterthum 8, 48—50 zu
zeigen suchte, dass es wesentlich auf der 1 728 erschienenen
Bettleroper fiisst. Lille hat nämlich den komischen Figuren,
die ihm da vorlagen, pathetische Doppelgänger an die Seite
gestellt: der leichtfertigen Liebhaberin die tugendhafte Sil-
via, dem nichtsnutzigen Vater den würdevollen Welford, und
der ehefeindliche Galan Sir John Freeman muss sich we-
nigstens am Schluss bekehren und Silvia zur Frau nehmen.
Neben der moralischen Tendenz, die Ehe zu vertheidigen,
verräth sich in der Fabel noch stark die Sittenrohheit der
alten Komödie. Die Beerdigung, nach der das Spiel sich
nennt, ist nur vorhanden, um Sir John Freeman Gelegenheit zu
geben, seinen Don Juan-Charakter zu entfalten, die Tochter
der (angeblich) Verstorbenen auf dem Friedhof zu treffen
und hier, am Grabe ihrer Mutter, zu verführen. Und nicht
dieses Mädchen braucht der edle Herr später zu heiraten,
sondern da er schon mehrfach verpflichtet ist, bekommt er
die reiche, vornehme, tugendhafte Silvia, die einzige fast,
die ihm noch nicht zu Willen gewesen ist! — Auch in tech-
nischer Hinsicht verräth sich Lille da noch sehr als An-
fanger. Die eben beschriebene Friedhofscene z. B. scheint
der Gefangnisscene in der Bettleroper nachgebildet, wo der
Liebhaber ebenfalls im Anblick des Todes noch eine junge
Person, die Tochter eines nichtsnutzigen Vaters, leicht für
sich gewinnt; nur dass in der Bettleroper der erfolgreiche
Brandl, Zu Lillo^s Kaufmann von London. 53
Spitzbube selbst vor dem Galgen steht, während bei Lille
die Mutter der Verführten bereits für todt gilt: eine be-
denkliche Yergröberung der ohnehin grotesken Situation.
Um den Fehler zu mildem, lässt Lille die begrabene Mutter
nur scheintodt sein und heil davongehen. Vielleicht borgte
er dies Motiv des Scheintodes aus Steele's Tuneral or Grief
ä la Mode^ 1702, worin auch die erste Moralrednerin der
englischen Komödie begegnet. Jedenfalls ist die Combi-
nation recht ungeschickt. Lille hatte nicht den Humor für
das heitere Drama, obwohl er von diesem ausging. Er kam
erst in sein Element, als er die ernsten Personen dieses
Stückes mit dem Inhalt einer Ballade zu einem durchaus
pathetischen Trauerspiel verband.
Über die erste Aufführung des 'Kaufmann von London'
sind aus Geneste 3, 295 interessante Details zu entnehmen.
Am 22. Juni 1731 stand auf dem Theaterzettel von Drury
Lane : 'Never acted. The Merchant (sie) or the true History
of George Barnwell'. Der Lehrling-Titelheld wurde gegeben
von Cibber jun., welcher bisher im Trauerspiel nur Per-
sonen dritten Ranges dargestellt hatte: Osrick im Hamlet,
den Gentleman TJsher im Lear, Roderigo im Othello. Er
war mehr für die Komödie veranlagt. Mit Pistol in Hein-
rich lY. hatte er vor einem Jahre seinen besten Erfolg er-
rungen; da wusste er eine köstliche Gravität anzunehmen,
mit ungeheuer langen Schritten, bizarren Grimassen und
dem ^sonorous cant of the old Tragedizers' (Geneste 4, 538).
Wenn daher berichtet wird, die Zuschauer seien zum Theil
mit übermüthiger Spottsucht ins Theater gekommen, galt
sie vielleicht nicht weniger der Besetzung als dem Stück.
Cibber führte aber die Rolle vermuthlich gerade weil sie
eine plebejische war, so vorzüglich durch, dass die Witz-
bolde vor Rührung die Sacktücher herausziehen mussten.
Drei Tage später folgte die zweite Aufführung, am
20. August schon die siebzehnte, womit die Saison 1730/1
schloss (Geneste 3, 298). Die Behauptung von Davies S.XIII,
dass die Tragödie etwa zwanzig Mal in der heissesten Zeit
des Jahres vor gefülltem Hause gegeben worden sei, er-
weist sich demnach als leidlich richtig. Die Schlusscene
mit dem Galgen im Hintergrund wurde erst nach dem ersten
f
54 Brandl, Zu Lillo's Kanfinann von London.
Abend von Lillo eingefügt. Geneste, der dies 3, 295 be-
richtet, drückt sein Bedauern aus, dass sie nach einigen
Jahren wieder ausgelassen wurde. Die Zugkraft des Stückes
hielt sich auch im nächsten Jahre 1731/2, am 9. December
wurde es für den Autor gespielt, am 27. Mai hatte es die
Wintersaison zu schliessen. Zugleich finden wir es am
22. Mai 1732 in einem anderen Londoner Theater, in Lin-
colns Inn Fields. Dann wieder in Drury Lane am 26. Oc-
tober 1732, am 10. October 1733 und am 1. Juli 1735 zur
Eröffnung der Sommersaison (Geneste 3, 362. 407. 453).
Auch während der glänzenden Shakespearereprisen von
Garrick ward es nicht vergessen: vgl. 1. October 1743
Drury Lane, 16. Mai 1744 Covent Garden. ISoQh in diesem
Jahrzehnt erinnere ich mich an eine Aufführung in einem
Londoner Theater, wo es natürlich nur den Eindruck einer
)lS% Curiosität machte. E, Moore^8_'Gamester', die beste Nach-
ahmung, lief fleissig daneben her. Yon einer dramatischen
Schule, welche der ^Kaufmann von London' hervorgerufen
hätte, kann man nicht eigentlich sprechen; aber vielleicht
wirkte er auf das Aufkommen des bürgerlichen Romans
(Pamela 1741), welcher sich ja ebenfalls gerne in Ver-
fnhrungssituationen bewegt.
Die Frage nach dem Ursprung dieses derb wirksamen
Abschreckungsdramas thut man nicht ab, wenn man auf die
Ballade von George Barnwell verweist (am bequemsten zu-
gänglich in Percy's Reliques 3, 3. 2). Schon dass Lillo
einen solchen Stoff wählte, gibt zu denken. Seine Tendenz,
Lotterleben und solide Ehe einander lehrhaft gegenüberzu-
stellen, knüpft offenbar an das vorgenannte Singspiel ^Silvia'
an. Auch fügte er zu der Courtisane und dem gefallenen
Jüngling der Ballade zwei tugendhafte Personen, welche
bereits in ^Silvia' vorkommen: die brave Maria, welche der
Silvia selbst entspricht, und ihren würdigen Vater Thorow-
good, das Abbild von Welford (Anzeiger f. deutsches Alter-
thum 8, 50). — Eine andere Figur, welche erst Lillo an-
brachte, ist Bamwells treuer Freund Trueman. Der Name
desselben erinnert an den Truemann in Farquhars 'The
Rivals' 1702, welcher ebenfalls seinen Yertrauten zu ehren-
hafter Liebe mahnt, die Dirne persönlich gefangen nimmt
Brandl, Zu LiUo's Kaufmann von London. 55
und der Tugend bei einem Geföngnissbesuch zur Seite steht
wie bei Lille. Nur hat Lille jede Spur von Humor ver-
loren und jede Gelegenheit zum Predigen nach Gewohnheit
ausgenützt. — Yen den hinzugekommenen Situationen
scheint zunächst der traurige Besuch, welchen Bamwell
im Armesünderstübchen von Trueman und Maria erhält,
auf den humoristischen Besuch PoUys bei dem verurtheilten
Macheath am Schluss der Bettleroper zurückzugehen; hatte
ihn doch Lillo schon in ^Silvia' nachgeahmt. Aus dem
Newgate-Pastoral wurde eine Newgate-Tragödie. — Noch
weiter zurück, auf das elisabethinische Buhlschafts- und
Morddrama ^Arden of Feversham' (gedruckt 1592, 1599,
1633), deutet die Art, wie Lillo den in der Ballade nur
flüchtig erwähnten Mord des Onkels inscenirte, der ja
gleichfalls durch ein buhlerisches Liebespaar erfolgt: hier
wie dort hat das Opfer vorher eine Ahnung und wird bei
der Erholung überfallen ; hier wie dort hält der Frevler vor
der Unthat einen Monolog voll moralischer Selbstanklagen ;
noch in der letzten Minute scheint es möglich, dass das
Gewissen siegt ; es wird durch eine wilde Energie momentan
unterdrückt, um unmittelbar nach dem Morde mit ergreifen-
der Wucht hervorzubrechen. Da Lillo jenes Stück nicht
bloss gekannt, sondern später auch neu bearbeitet hat und
zwar mit starker Ausweitung der gemeinsamen Züge, ist
die Yermuthung um so begründeter, dass es ihm bereits
beim ^Kaufmann von London' vorschwebte. Hiermit wäre
zwischen der bürgerlichen Tragödie der elisabethinischen
Ära und Lillo in einem wichtigen Punkte ein unmittelbarer
Zusammenhang hergestellt. Hauptsächlich aber entsprang
nach dem Gesagten der ^Kaufmann von London' aus dem
neueren moralisirenden Lust- und Singspiel, wozu es auch
stimmt, dass der Ton des gewöhnlichen Lebens so kräftig fest-
gehalten, die Redeweise nicht rhythmisch, sondern prosaisch
und die Titelrolle durch einen Eomödienspieler mit so viel
Glück creirt worden ist. Schon anderthalb Jahrhunderte
vorher hatte einmal das Lustspiel befreiend und befruchtend
auf das Trauerspiel gewirkt, um 1570—80, als es galt, die
Starrheit der Seneca-Form durch die Tragi -Komödie zu
durchbrechen. Das geschah jetzt zum zweiten Male und
56 Brandl, Zu Lillo's Eaufimann von London.
sollte noch ein drittes Mal sich ereignen, als um 1800 das
Melodrama emporkam, eine missachtete Gattung, die aber
doch alsbald mit Byrons ^Manfred' in die Weltlitteratur
eintrat.
Was die Verwendung der Prosa in der Tragödie be-
trifft, welche zu den hervorstechendsten Neuerungen des
^Kaufmann von London' gehört, kann auf die 39. Nummer
des 'Spectator' verwiesen werden, wo Addison glaubt, der
unnatürlichen Rhetorik der englischen Tragödie wäre am
besten zu steuern, 4f the Writer laid down the whole Con-
texture of his Dialogue in piain English, before he tumed
it into Blank Yerse'. Die Moralischen Wochenschriften
haben mehrfach Anregungen gegeben, welche auf den la-
byrinthischen Pfaden der Popularität in die Massen geriethen,
um plötzlich irgendwo eine fertige Consequenz emporzu-
treiben.
Lillo ruhte nicht lange auf seinen Lorbeeren, sondern
begann alsbald ein neues Drama: ^The Christian Hero'.
Wann es erschien, findet sich bei Davies etwas ungenau
verzeichnet : 'about three or four years after (the Merchant
of London)'. Hoffmann sagt: 4743 (soll heissen 1734) ge-
druckt und in demselben Jahre im Drury Lane Theater mit
sehr geringem Erfolge gegeben.' Genauere, authentische
Auskunft gibt wieder Geneste (4, 443): am 13. Januar 1734
zum ersten Mal gespielt und dann dreimal wiederholt; 4t
is on the whole a good play and deserved a much better
fate.' Als Abfassungszeit ist daher nicht 1734 anzusetzen,
sondern spätestens 1733. In Folge dessen wird in der
chronologischen Liste von Lillo's Dramen (bei Hoffinann
S. 37) einerseits die relativ lange Pause zwischen dem
^Kaufmann von London' 1731 und dem 'Christian Hero'
verkleinert, andererseits eine Cumulirung des 'Christian
Hero' mit dem darauf folgenden Festspiel 'Britannia and
Batavia', welches nur als actuelle Huldigung im Jahre des
Festes 1734 einen Sinn hat, beseitigt. Resultat: Lillo hat
mit bezeichnender Pünktlichkeit alle ein bis zwei Jahre
sein Stück geliefert, von seinem 35.-36. Jahre bis zu
seinem Tode (1739).
Über die Entstehung dieses Dramas mögen hier noch
Brandl, Zu Lillo's Eaufinanii von London. 57
einige Bemerkungen folgen, um wenigstens die nächste
Entwickelungsstufe zu bestimmen, welche bei Lille auf sein
Hauptwerk folgte.
Der christliche Held, nach welchem das Stück heisst,
ist eine historische Persönlichkeit, Scanderbeg, der albane-
sische König des 15. Jahrhunderts, der sich gegen den
Sultan Amurath und dessen Sohn Mahomed den Grossen
erfolgreich vertheidigte und schon im 16. Jahrhundert bei
italienischen und französischen Geschichtschreibern in sagen-
hafter Ausschmückung erscheint. Dass Lille den Stoff aus
der Türkengeschichte wählte, ist in jenen Zeiten der Türken-
kämpfe ohne weiteres begreiflich. Dass er aber gerade
auf Scanderbeg verfiel, bedarf einer Erklärung. Der tapfere
Albanese war den Engländern im allgemeinen so wenig
bekannt, dass dem Drama ein ^Brief Account of the Life
and Character of Scanderbeg' vorausgesandt wurde, als ein
historischer Commentar, um das Publicum auf die erste
Aufführung vorzubereiten, und der Eingang dieser Prosa-
erzählung bezeugt noch ausdrücklich die bisherige Unbe-
rühmtheit des Helden. Yermuthlich war der Anstoss, wel-
cher Lille zu diesem Stoff brachte, ein öffentlicher; denn
gleichzeitig mit ihm ergriffen ihn noch zwei Dramatiker:
Harward, 'Scanderbeg a tragedy', gedruckt von Watts im
März 1733 (Gentleman Magazin 3, 163), und Whincop,
'Scanderbeg or Love and Liberty', im Manuscript abgefasst
1733 (vgl. Davies S. XIV ff.), gedruckt 1747. War vielleicht
eine Biographie Scanderbegs erschienen ? Nicht in England.
Der obgenannte 'Brief Account' wurde, wie bereits ange-
deutet, nicht vor dem Drama, sondern erst während der
Proben compilirt ('coUected from the best authorities' ; vgl.
Davies 1, 193). Wenn er mit dem Drama gemeinsame Irr-
thümer hat, so beweist das nur, dass er auf dieselben Ge-
schichtswerke zurückgeht. Auch darf man nicht glauben,
Lillo habe ihn selbst geschrieben, etwa als Ergebniss
historischer Lieblingsstudien, und dann die eigene Abhand-
lung in ein Drama umgegossen. Gleich zu Eingang der
Abhandlung sagt nämlich der Yerfasser, er habe aus ver-
lässlicher Quelle erfahren ('we have been credibly informed'),
dass der 'Christian Hero' gegenwärtig geprobt werde; im
58 Brandl, Zu LiJlo's Kaufmann von London.
Munde Lillo's, der in der Nähe des Theaters wohnte und,
wie ausdrücklich berichtet wird, an den Proben seiner
Stücke sich betheiligte, wäre das schlechterdings eine Lüge
gewesen, noch dazu eine recht überflüssige. Ebenso schlecht
würde auf derselben Seite die Bemerkung des Prosaisten,
Scanderbegs Unberühmtheit erkläre sich nur aus dem bis-
herigen Mangel eines ^elegant poet', zu der Bescheidenheit
und Moraltendenz Lillo's passen. Wollen wir die nächst
vorhergehende englische Biographie Scanderbegs finden, so
müssen wir bis ins Jahr 1596 zurückgehen, wo in London
eine Übersetzung von Lavadins Histoire de Scanderbeg er-
schien. Die letzte englische Geschichte der Türken, die
von R. Knowles, welche im 'Brief Account' S. 205 citirt
wird, hatte 1700 ihre jüngste Neuauflage erlebt. Aber ein
Franzose, Chevilly, hatte gerade 1732 ein etwas romanhaftes
Werk herausgegeben, 'Scanderbeg ou les Aventures du
Prince d'Albanie', und dies belehrte offenbar die eng-
lischen Dramatiker. — Auch im Gentleman Magazine für
September 1731 S. 371, also ein halbes Jahr nach dem
Erfolg des ^Kaufmann von London', kommt eine Stelle vor
(abgedruckt aus Applebee's Journal 4. September), welche
durch Zeit und Ort des Erscheinens und durch ihre Fassung
sehr beachtenswerth ist. Unter dem Titel 'Power of example'
heisst es da : 'Scanderbeg, Prince of Epirus, shot as it were
his own Yirtues into his Subjects, and rais'd their Passion
for Liberty and Religion so high, that with their own little
strength, they successfully oppos'd the numerous Armies
often raised against them in the Turkish Empire.' Also
Tugend, Freiheit und Religion — genau das Programm
Lillo's, welches dieser auch im Drama stark hervorgekehrt
hat; denn Scanderbeg als christlicher Yolkskönig steht
durchaus im Gegensatz zu dem Tyrannen Amurath und
wird am Schluss noch ausdrücklich als frommer, patriotischer
König vollständig freier Unterthanen verherrlicht. Aber-
mals macht sich die Whig-Tendenz fühlbar, stärker noch
als im 'Kaufmann von London', so dass es nicht überraschen
dürfte, wenn ihm ein Whig-Blatt, wie das Gentleman
Magazine, den Anstoss zum Werke gegeben hätte. Nicht
ein psychologisches oder künstlerisches Interesse, sondern
Brandl, Zu Lillo*8 Kaufmann von London. 59
die politisch-religiöse Deutbarkeit in Verbindung mit einem
Tagesgespräch hat Lille auf diesen -StoiF gebracht.
Die Behandlung des Stoffes ist nicht weniger charak-
teristisch. Zunächst fällt auf, dass Lille vom ganzen Leben
Scanderbegs nur eine Episode behandelt hat, die Belagerung
Yon Croia, und auch diese in ungemein freier Weise. Zu-
gleich haben litterarische Einflüsse die historische Über-
lieferung durchkreuzt. Ein guter Hinweis der Art, den
Hoffmann freilich todtschweigt, steht bereits bei Davies
S. XIY: die Scene im zweiten Act, wo sich Scanderbeg
und Amurath an der Spitze ihrer Truppen ein Wortgefecht
liefern, wird da zurückverfolgt auf die Unterredung des
christlichen und saracenischen Führers in der Tragödie
'Belagerung von Damascus' von Hughes, zuerst gespielt am
17. Februar 1720, das jüngste Türkendrama, das in London
einen Erfolg errungen hatte. Lille war damals siebenund-
zwanzig Jahre alt und scheint einen starken Eindruck em-
pfangen zu haben; denn sein ^Christlicher Held^ bewegt
sich wesentlich im Fahrwasser von Hughes. Ihm schloss
sich Lillo an, indem er bloss eine Belagerung herausgriff,
sammt den daran haftenden bequemen Localitätsverhält-
nissen. Ihm folgte er im exponirenden Dialog zwischen
Scanderbeg und Sultan, indem er dem Muselmann nicht
nur confessionelle Gemeinplätze, sondern auch das Bestreben
zuschrieb, den Christen moralisch ins Unrecht zu setzen.
Nach Hughes sind ferner die Rollen der Liebhaberinnen
erfunden, zu welchen die Geschichte keinen Anhaltspunkt
bot ausser die flüchtige Bemerkung, Scanderbeg sei mit
einer sehr schönen und tugendhaften Frau, Tochter des
Aranthes, Fürsten von Durazzo, vermählt gewesen (Brief
Account S. 214). Der Christenheld des Hughes wird von
der Tochter des Stadtgouverneurs, Lillo 's Scanderbeg von
der Tochter des Sultans (Helena) geliebt. In beiden Fällen
haben die Yäter bereits anderweitig verfügt. Die Damen
sind aber heroisch genug, in männlicher Yerkleidung den
Geliebten vor die Thore der Stadt nachzugehen. Bei
Hughes entkommt sie dabei mühsam der Gefangenschaft,
bei Lillo wird sie erschlagen; denn da sie bei Lillo muha-
medanisch ist, wusste er mit ihr nichts weiter anzufangen,
60 Brandl, Zu Lillo's Kaufmann von London.
als ihre Liebe zum Schmucke seines Musterkönigs zu ver-
wenden. Dafür hat Lille noch eine zweite Dame ange-
bracht, Scanderbegs christliche Braut (Ceranthes), in welcher
die zweite, glückliche Lebenshälfte der Hughes - Geliebten
sich wiederholt. Nur wird bei Hughes der Held, bei Lille
die Braut von den Muselmännern gefangen, worauf sich in
beiden Dramen der Conflict darum dreht, ob der Held, um
die Geliebte zu retten, die bekannten Anerbietungen der
Glaubensfeinde annimmt, oder ob ihm die Christenpflicht
über die Privatliebe geht Hier wie dort erhöht eine Be-
denkzeit die Spannung. In der verschiedenen Art, die
Entscheidung herbeizuführen, verräth sich der Hauptunter-
schied der beiden Dichter. Hughes wollte eine Liebes-
tragödie mit heroischem Hintergrund schreiben ; er wetteiferte
mit Otway, dessen 'Venice Preserved' ihm besonders vor-
schwebte; er suchte es Shakespeare nachzuthun und erlaubte
sich einmal geradezu eine Paraphrase von Hamlets Selbst-
mordmonolog (HI, 5) ; seine Zwecke waren in erster Linie
künstlerische. Darum durfte sich sein Held zu einem
halben und scheinbaren Renegatenthum verstehen, wird
aber deshalb von der pflichtbegeisterten Geliebten, obwohl
er sie vor Schande und Tod rettet, zurückgewiesen und
endet tragisch. Lille dagegen lässt seinen Scanderbeg nicht
die geringste Concession machen und dennoch die Braut
vor Schande und Tod retten, so dass der Ausgang ein
Triumph der guten Sache ist. Die Tendenz liegt wieder
auf der Hand. — Auch einige selbsterfundene Züge hat
Lille angebracht, um seinen 'christlichen Helden' zu ver-
herrlichen. Sein Scanderbeg nimmt den Sultan gefangen
und lässt ihn aus lauter Grossmuth frei, ohne dass im
'Brief Account', geschweige in "Wirklichkeit ein Wort davon
bezeugt wäre. Er hat die rohe Nebenhandlung von einem
Mitbewerber um die Geliebte, der ihr Gewalt anthun will,
viel ausführlicher entwickelt als Hughes, weil dadurch
Scanderbeg in ein um so helleres Licht tritt. Den warnen-
den YerführungsBcenen im 'Kaufmann von London' wird
hiermit ein positives Tugendbeispiel gegenübergestellt. Die
Moral trompetet. Aber die erhabene Gonsequenz der Tra-
gödie geht darüber in Trümmer, ein Missbegriff von poe-
Brandl, Zu Lillo^s Ranfmann von London. gl
tischer Gerechtigkeit erschlägt die höhere dramatische
Schönheit, und im Gefolge dieser zaghaften Aftertragödie
dringt das lehrhaft larmoyante Lustspiel ein, welches eine
Generation später von Goldsmith mit so harter Mühe wieder
bekämpft wurde. Hatte Lille die Tragödie im ^Kaufmann
von London' inhaltlich zu popularisiren vermocht, so hat
er im ^Christlichen Held' ein gefahrliches Signal gegeben,
sie künstlerisch zu vulgarisiren.
Die vorstehenden Untersuchungen, so wenig Anspruch
auf Yollständigkeit sie erheben, erlauben doch, über Lillo's
Bildungsgrad ein annäherndes Urtheil zu fallen und hiermit
eine Lücke in seinen Biographien zu ergänzen. Er las die
Zeitung und Französisch, verfolgte die Politik, kannte das
Repertoir der Londoner Theater und die elisabethinischen
Dramatiker; aber von den Formidealen der Antike und von
feinerem, philosophisch geschultem Denken findet sich bei
ihm nichts. Er war so recht der intelligente Kaufmann
einer Weltstadt, nur mit ausgesprochener Moralenergie und
Theateranlage. Er stand nicht wesentlich über dem Niveau
der Zuschauer, für die er schrieb, und so besteht auch der
litterarische Werth seiner Stücke wesentlich nicht in einem
Fortschritt von Schönheit und Gedankenhaftigkeit, sondern
darin, dass er die Empfindungen und Bestrebungen der
durch die moralischen Wochenschriften aufgeklärteren
Massen in den Rahmen der bereits vorhandenen Bühnen-
technik wirksam einfügte. Nicht einmal die Sittlichkeit hat
er gehoben, obwohl er sie stets auf das gewissenhafteste
im Munde führte, sie durch alle seine Figuren zu fordern
suchte und ihr in der That viele Advocaten gewann; denn
seine Sittlichkeit ist die des Philisters, der nur das Äusserste
stets im Auge hat und auch vor diesem nur aus handgreif-
lichen Nützlichkeitsrücksichten warnt.
Was seine späteren Stücke betrifft, sei nur auf zwei
Richtungen, welche darin hervortreten, kurz verwiesen.
Einerseits zog es ihn mit begreiflicher Macht in den Bann
von Shakespeare und dessen Zeitgenossen. Sein ^Arden
of Feversham' ist, wie gesagt, eine Bearbeitung des gleich-
namigen elisabethinischen Stückes; 'Fatal Curiosity' (1736)
als Darstellung eines grässlichen Familienmordes streift
62 Sauer, Aus dem BiieiVechsel zwisclien Bürger nnd GoecHngk.
nahe an die 'Yorkshire Tragedy'; 'Marina' (1738) ist eine
Bearbeitung des Tericles' ; 'Elmerick or Justice triumphant*
(1739) behandelt einen historischen Stoff, aber in ent-
schiedener Anlehnung an 'Measure for Measure' oder ver-
wandte Stücke. Andererseits lernte er mehr den Theater-
effect pflegen und scheint z. B. die Rolle des Elmerick dem
Schauspieler Quin auf den Leib geschrieben zu haben
(Qeneste 4, 608). Wenn das englische Drama im Laufe
des 18. Jahrhunderts bei dem vielen Talent, Interesse und
Qeld, das ihm zugeführt wurde, keine höheren Schöpfungen
hervorbrachte, liegt der Orund wohl darin, dass einerseits
der Rückblick auf den Riesen Shakespeare die Originalität
hemmte — und wie sehr eine übergrosse Tradition schaden
kann, ist auf jedem Blatte der spätrömischen Geschichte
zu lesen — und andererseits in einer bis zum Raffinement
entwickelten Theatertechnik, welche zu glänzenden Augen-
blickserfolgen oder zu tendenziöser Ausnützung einlud. Für
beides bietet Lille eine typische Illustration.
Oöttingen. Alois Bran^l.
Aus dem Briefweebsel zwlsehen BOrger und
GoecUngk.
In der Sammlung des Bürgerschen Briefwechsels theilte
Strodtmann 65 Briefe Goeckingks an Bürger aus den in des
letzteren Nachlass vorhandenen Originalen mit ; ferner zwei
Briefe Burgers an Goeckingk und den Anfang eines dritten
sowie dessen Promemoria an Goeckingk und Voss in Ange-
legenheit des Göttinger Musenalmanachs nach dem Concepte.
Der Güte des königlichen Eammerherm von Goeckingk in
Wiesbaden, eines Urenkels des Dichters, der das v. Goeckingk-
sehe Familienarchiv in musterhafter Weise verwaltet und
mit grösster Liberalität der Forschung eröffnet, verdanke ich
die Erlaubniss, die folgenden werthvollen Ergänzungen zu
Strodtmanns Sammlung publiciren zu dürfen. Strodtmann
selbst wurden sie erst nach Abschluss seines Werkes zu-
/
#;
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Borger und Goeckingk. 63
gänglich, er machte nur einige herausgerissene Stellen ohne
Angabe des Briefdatums in seinem Aufsatze ^Bürgers poli-
tische Ansichten^ bekannt (Neue Monatshefte für Dichtkunst
und Kritik 13 S. 216 ff. vgl. Vierteljahrschrift 1, 260). Es
sind 77 Briefe, die ich mit fortlaufenden Ziffern bezeichne:
64 Briefe von Bürger, 4 von seiner ersten Frau, 9 von
Goeckingk ; Nr. 7 lag mir in einer Abschrift, alle übrigen im
Original vor.
Drei Perioden lassen sich in dem freundschaftlichen
Verkehre der beiden Dichter, abgesehen von ihrer Schul-
zeit, deutlich unterscheiden. In der ersten Periode April
1775 — März 1778 stehen die litterarischen Interessen, die
Herausgabe des Musenalmanachs im Vordergrunde und die
letztere führt eine zeitweilige Erkaltung im Jahre 1778 her-
bei. In der zweiten Periode Mai 1778 — Juli 1784 gewährt
uns der Briefwechsel tiefen Einblick in die traurigen Fa-
milienverhältnisse beider Freunde und der Tod von Bürgers
erster Frau bildet den Abschluss. In der letzten Periode
Juli 1788 — Juli 1793 ziehen die politischen Ereignisse beide
vom litterarischen Leben ab und täuschen sie über die per-
sönlichen Schmerzen hinweg. Für die ersten beiden Perioden
liefern unsere Mittheilungen Bürgers Antworten auf die bei
Strodtmann gedruckten Briefe Goeckingks; aus der dritten
Periode stehen auch mir fast nur Schreiben des letzteren
zur Verfügung; dienen die ersten beiden Gruppen von Briefen
vorwiegend der Charakteristik Bürgers, so soll die dritte
hauptsächlich Beiträge zur Biographie Goeckingks darbringen.
Die Zwischenbemerkungen sollen die Benützung der Briefe
im Anschluss an Strodtmann erleichtern (auf dessen Brief-
bände mit ^Nr. . . .' ohne weiteren Zusatz verwiesen ist) ; ge-
legentlich durfte ich auch andere ungedruckte Papiere aus
dem V. Goeckingkschen Nachlasse zur Erläuterung heran-
ziehen.
I. April 1775 -März 1778.
Nachdem Goeckingk die Redaction des Göttinger Musen-
almanachs übernommen hatte, wandte er sich am 21. April
1775 auch an Bürger (Nr. 167) mit der Bitte um Beiträge
dazu und warf in dem Briefe die Frage auf, ob sie nicht
64 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
gemeinsam auf dem Pädagogium zu Halle studirt hätten;
darauf antwortet Bürger:
1. Bürger an Goeckingk.
Wohlgebohrner Herr
Insonders Hochzuefarender Herr Ganzley Director
Sonderbar genug, dass wir uns in den Jahren 1759 bis 1763
auf dem Pädagogium zu Halle kannten, hernach in den Hainen
des Parnasses wieder begegneten, von vorn und hinten beschauten
und doch bis hieher zweiffelten, ob wir Jene wären, oder nicht?
Ich, der ich dies schreibe, bin jener, und da Ihr angenehmer Brief
vom 21^®^ v.M. mich versichert, dass Sie jener ebenfalls sind, so
lassen Sie uns nur auf einander losspringen und die alte ße-
kanntschafin zur Freundschafft erneuern und erheben.
Die gütige Einladung, an Ihrem Musen-Almanach Antheil zu
nehmen, ist mir um so schmeichelhafter, als er einen so feinen
Kenner und Dichter zum Herausgeber in Ihnen gefunden hat.
Sollte mein bischen Dichterlaune, welches durch AmtsGeschäffte
und meine kürzliche Verheurathung ziemlich unterdrückt worden
ist, die Oberhand wieder gewinnen, so werd' ichs für die gröste
Ehre schätzen, ein Plätzchen in demselben einnehmen zu dürfen.
Von meinen wenigen bis hieher verfertigten noch ungedruckten
Kleinigkeiten ist Herr Voss, der in Hamburg oder Wandsbeck
auch einen Musen-Almanach herausgeben will, schon seit einigen
Monathen im Besitz. —
Mir deucht, ich hätte noch recht viel mit meinem wieder-
gefundenen alten Schulfreunde zu plaudern. Da aber die erneuerte
mir höchstschätzbare Verbindung hoffentlich öfter Gelegenheit dar-
bieten wird, so verspahre ich solches auf ein baldiges Andermal.
Von Herzen freue ich mich übrigens der Hoffnung, Ihnen bald
mündlich versichern zu können, dass ich mit der wärmsten Hoch-
achtung sey
Ew. Wohlgebohren
Wöllmershausen gehorsamster Diener und Verehrer
den 18*önMay 1775. GA Bürger.
Goeckingk antwortete jubelnd am 25. May (Nr. 168) und
verabredete eine Zusammenkunft in Göttingen, aus der aber
ein kurzer Besuch in Niedeck selbst wurde, für den 3. Juni ;
an demselben Tage noch begann Bürger einen langen Brief,
Yon dem bisher nur der Anfang, falschlich Yom 5. Juni
datirt, aus einem schlechten Concepte bekannt war Nr. 169:
2. Bürger an Goeckingk.
Niedeck, d. S^n Junii 1775.
Für dies Hei von Freude, werd* ich wohl tagelangen Unmuth
wiederkäuen müssen. Schier möcht* ich wünschen, dass Sie gar
Saneri Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 65
nicht gekommen, oder doch länger hier geblieben wären. Hun-
derttausend Dinge fallen mir jetzt erst ein, die ich Ihnen hätte
sagen wollen. Wahrhaftig? in zehn oder zwölf langen Jahren sich
nicht gesehn — nicht gesprochen zu haben, dann einmal wieder
voreinander vorbeyzuhuschen und weiter nichts als: guten Tag!
und Adio! Das ist zu arg! Mein Seel! wenn ich nicht
wiegen muste, so nahm' ich leicht Courier Pferde und höhlte Sie
noch vor Ellrich wieder ein.
Wie sehr Ihr treuherziger Besuch mich vom Haupt bis zum
Zeh mit Vergnügen durch kitzelt habe, davon will ich weiter nicht
ein Wörtchen sagen, weil Erinnerung die schnelle Flucht der
schönsten Stunde nur unangenehmer mir machen würde. Besser,
dass ich auf Ihren letzten Brief antworte, und über die reizende
Epistel *) ein wenig mit Ihn^n plaudere. Fast möcht* ich Sie um
den leichten scherzenden Ton der guten Gesellschafft, der, wie in
allen Ihren Gedichten, so auch in dieser Epistel herscht, beneiden.
Die Versification ist gröstentheils meisterhaft, nur wünscht* ich,
dass die männlichen und weiblichen Reime an manchen Stellen
mehr abwechselten, wodurch — so dünkt es wenigstens meinem
Ohr — die Harmonie mehr Fülle und Nachschwung erhalten
würde. Sie werden doch nicht böse, dass ich Sie so keck ins An«
gesiebt tadle? — Zum Trost und im Vertraun kann ich Ihnen
sagen, dass der oberwähnte Neid wohl ein wenig dran Schuld
seyn mag. Überdem bin ich einmal ein Theologe gewesen, und
von der Zeit hängt mir illud TheoJogorum decantatissimum: Die et
servasti animaml immer noch an.
Damit ich Sie so geschwind als möglich überzeuge, dass ich
so wenig an des Herrn Voss, noch an irgend einen andern AU
manach der Christenheit allein mich gebunden habe, so über-
schick* ich hier einstweilen nur eine Kleinigkeit^), die ich kaum
zwey Stunden vor Ihrem Besuch, auf Anhalten des Doctor Weiss,
den Sie hier gesehen, und welcher dazu eine gar liebliche Me-
lodie gesetzt hat, verfertigt hatte. Sie sehen also meinen guten
Willen und sollen ihn, wenn ihm anders das träge Fleisch keinen
Einhalt thut, bald möglichst ferner sehen.
Wenn ich Ihnen bey der künftigen Einrichtung des Musen-
Almanach einen Rath geben darf, so wählen Sie mehr die Ge*
dichte von der leichtern — als die von der höhern Gattung. Wenn
auch die Vortrefflichkeit eines Stücks von der höhern lyrischen
Poesie die vollkommenste Bewunderung der Kenner verdienen
sollte, so müssen Sie doch dergleichen nur wenige nehmen. Ein
Musen- Almanach ist das rechte Vehiculum nicht, dergleichen in
0 An Benzler, in Lemgo. An seinem Hochzeitstage, den 1. May
1775,
*) Robert. Ein Gegenstück zu Claudius Romanze: Phidile. Göt-
tinger Musenalmanach 1776 S. 77 f.
Yierteljahnchrift fUr Litteratoigeschichte III 5
66 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
die Welt zu schaffen. Das Almanachs - Publicum gafift sie an,
wie ausländische Thiere, und weiss ihren wahren Wehrt nicht
zu schätzen. Die höhere lyrische Poesie verliehrt hierdurch mehr
als sie gewinnen sollte. Vor den übrigen rappelnden , klappern-
den, brummenden, summsenden, sausenden, brausenden und don-
nernden Oden, die der verzuckte Unsinn, mit verdrehten Halse
und verkehrten Augen hervorröchelt und orgelt, werden Sie sich
ohnehin zu hüten wissen. Populäre, aber doch wahre, ächte
Poesie — nicht blos leichtzuverstehende matte Verse und Reime
— gehört absonderlich in einen Musen Almanach. Ich, für mein
Theii, bin beynah überzeugt, das der Dichter oniue tulit punc-
tum, den der Pöbel mit Wohlbehagen versteht und der Kenner be-
wundert. Wenn man dieses Ziel genau aufs Rom nimmt, so kann
man die verachtete Gattung der Roms^nze und Ballade zur Wichtig-
keit der epischen und dramatischen Gattung in der Poetik erlieben.
Dass ich mich so frey über die jetzigen poetischen Zeitläufe
expectorire, sey Ihnen ein Zeichen meiner treuen Freundschafil
und Hochachtung. Wollte der Himmel! wir könnten in persön-
licher Verbindung, alles was man so auf seinen Herzen und Ge-
wissen zu haben pflegt, vom Bart wegsprechen. Einen Theil
meines Lebens gab' ich drum, wenn ich Jemand hätte, mit dem
ich täglich über solche Dinge kosen könnte. Aber leider! lebe
ich hier in einem solchen Böotien, dass mir oft Jahrelang kein
Wörtchen von poetischen Dingen entfallen darf. Das Schicksal
hat mich in der That recht zum Besten gehabt, dass es mich
durch so mancherley Krümmungen gerade hieher geführt und
festgenagelt hat. Festgenagelt? -^ Ja wahrhaftig! wie den
Prometheus hat es mich an einen nackten Fels geschmiedet. Am
Geyer fehlts auch nicht. Anstatt dass Jenen nur ein einziger
quälte, so hacken sie an mir zu hunderten. Könnt ich meine
hiesige mit tausend Ärger und Verdruss und mit unbelohnter
Mühe verknüpfte Stelle gegen eine andere, wenn gleich an Ein-
künften geringere vertauschen, so thät' ich es ohne Bedenken.
Denn schlechter kann ich in dem Betracht schwehrlich eine
treffen. Dergleichen Veränderung aber ist in diesem Lande, wo
der leidige Nepotismus mit seinen hunderttausend Riesen Armen
alles an sich rapset, nicht zu hoffen. Wenn nicht die Schrulle
eines alten, wunderlichen, nunmehro seeligen Grossvaters mich
gezwungen hätte, mein Unterkommen in der Fremde zu suchen,
wenn ich in meinem Vaterlande, wo, man mag davon auch
sagen, was man will, ein ehrlicher Kerl mit Talenten, auch ohne
das leidige von, es doch zu etwas noch bringen kann, eine
Laufbahn hätte antreten können, so, dünkt mich, wollt* ich jetzt
in einer viel behaglichem Situation seyn. Doch — ich breche
ab, um der bösen Laune nicht zu viel über mich einzuräumen.
Leben Sie wohl, mein alter braver Schulfreund ! Meiner
warmen Hochachtung und Freundschafft, will ich Sie nur noch
Saner, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 67
diesmal, hinfort aber, als einer sich von selbst verstehenden Sache,
nie wieder versichern. GABürger.
In Nr. 170 erzählt Goeckingk seine Reiseunfalle und
sein späteres Unwohlsein. Bürger antwortet darauf scherz-
haft am 29. Juni 1775 und fahrt dann fort:
3. Bürger an Goeckingk.
Es freut mich, dass mein Knabe Robert Ihnen gefallen hat
Aber noch ein Paar, wie Sie verlangen, kann ich sofort nicht
erzielen, ich müste denn Lenden und Waden Trotz dem besten
und rüstigsten Patriarchen haben. Indessen hab' ich doch noch
mit einigen andern poetischen Pollutionen aufwarten wollen.
Roberts Composition hat Dietrich schon durch den D. Weiss er-
halten. Ich würde sie aber dem ohngeachtet hier mit einlegen,
wenn ich sie bey der Hand hätte. Es über kommen aber hier
noch zwey andere Melodien von den eingelegten Liedern^), die
Ihnen nicht unangenehm seyn werden. Die eine auf: Eya! wie
so wach und froh ist in der That eine von den besten
weissischen Gompositionen. Ich muss bekennen, dass ich mir
selbst recht gefalle, wenn ich das Lied mit allen Stimmen in
dieser meinem Ohre so himmlischen Melodie absingen höre. Wie
glücklich, wenn man solchen Gomponisten in die Hände fällt!
Dies Lied habe ich schon vor längerer Zeit Herrn Voss gegeben;
da aber der D. Weiss die Composition bloss dem Dieterichschen
Almanach zugedacht hat, so höre ich, dass einige Freunde den
HErrn Voss benachrichtigt und ihm gerathen haben, den Text
ohne die Melodie lieber in seinen Almanach nicht mit aufzu-
nehmen. Wenn ers also noch nicht hat abdrucken lassen, so
wirds wahrscheinlich in dem Dieterichschen Almanach allein
figurieren.
Herzlich gern würd* ich noch mehr und, so viel Sie nur
immer haben wollten, zum Almanach hergeben, wenn ich nur
mehr vollendetes jetzt vorräthig hätte. Fragmente find ich unter
meinen Papieren genug, nur fehlt mir jetzt Müsse und Laune zur
Vollendung. Die fatale Michaelis Messe macht auch vermuthlich,
dass die Bude so bald geschlossen werden soll. Bey HErrn
Boie hab' ich oft noch bis Martini Zeit gehabt und wenn es
denn manchmal bald Matthäi am letzten war, und das Feuer auf
die Nägel brannte, so rafiTt' ich mich noch auf, und brachte was
zu Stande, das sonst vielleicht noch lange in dem Ideen Gasten
um und um geworfen worden wäre. Schreiben Sie mir doch,
wie lange Sie aufs höchste noch warten können. Vielleicht würgt
sich noch zu guter letzt was loss. —
*) Das neue Leben. Göttinger Musenalmanach 1776 S. 124, und
Stftndchen, ebenda S. 1.55.
gg Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Ihre TheilnehmuDg, mein liebster Goekingk, an meiner fa-
talen unbehaglichen Situation und ihr treuherziger Wille, mh* zu
helfen, haben mich auenehmend gerührt. Ha! wenn Sie mein
Erlöser seyn und mich den Musen wiederschenken könnten! —
Sie würden mir das seyn, was der Engel dem gefangenen Apostel
in der Apostel Geschichte war. Geben Sie mir nur an Hand, auf
welche Art ich zu guten Connexionen im preussischen gelange.
In diesem fatalen aristokratischen Lande eckelt mich, das liebe
Leben, das ohne hin so kurz ist, zu verschwenden. Doch —
damit die böse Laune nicht ihr volles Spiel wieder anhebe, so
brech ich ab. —
Meine Frau, das beste gutherzigste Geschöpf unter der Sonne,
und meine übrigen Verwandte, lassen meinen alten treuen Goekingk
bestens grossen und geseegnete Brunnen -Cur wünschen. Be-
suchen Sie doch künftig das Bad zu HofGeismar, damit ich
öfters Sie umarmen könne. Gott befohlen!
GABürger.
Dieser Brief kreuzte sich mit Goeckingks Brief Nr. 172,
der auch einen Änderungsvorschlag für die Romanze ent-
hielt. Strodtmanns Anmerkung ist dahin zu berichtigen,
dass das von Goeckingk citirte Gedicht Höltys im Göttinger
Musenalmanach 1776 S. 56 unter der Überschrift 'Er-
innerung' abgedruckt ist. Goeckingk erhielt Bürgers Brief
in Nordhausen vor der Abreise nach Lauchstädt und zeigte
diesem in der Antwort Nr. 177 seine bevorstehende Ver-
mählung an. Bürgers Antwort vom 20. Juli 1775 bezieht
sich auf beide Briefe. Er macht sich über Goeckingks
Einfall, während der Badekur zu heiraten, weidlich lustig
und entschuldigt dann das Ausbleiben eines Hochzeits-
gedichtes :
4. Bürger an Goeckingk.
Niedeck den SO^n Juli 1775.
Wie gern, mein liebster Goekingk, wollt' ich Ihre Seeligkeit
in den Armen Ihrer viel m inniglichen, in minniglichen
Versen besingen, wenn ich nicht seit einigen Wochen an Geist
und Görper, zwar nicht recht krank, aber doch auch nicht recht
gesund mich befände. Das ist so ein gewisses fatales Misbefinden,
so mich bis weilen anwandelt, und vermuthlich ein Etwas von
Hypochondrie ist. In solcher Erschlaffung meines ganzen Wesens,
war' ich für alle LorbeerCränze des Pindus, selbst für den güldnen
Zweig im Hain Glasoor nicht im Stande nur Sechs erträgliche Verse
zu sammen zu flicken. Mit aller Gewalt muss ich mich dann er-
mannen, um nur die alltäglichen HandwerksGeschäffte zu verrichten.
• Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk. 69
Ach! mein liebster G., wenn ich doch jetzt Fortunäti Wünsch-
huthlein hätte, so sollt* es bald anders mit mir werden. Im
Hui war* ich bey meinem Goeckingk und seiner süssen Sophie in
Lauchstadt. Ein Nebenstrahl von seinen Freuden wQrd* auch mich
durchdringen und meinen trüben Geist erhellen. Welche lustige
Sprunge sollte mein Capriccio mit seinem Dudelsack vor Ihnen
machen. Hat Dass man doch so ein schwerfälliger Erdenkloss ist,
und der flüchtigen Freude nicht durch die ganze Welt nacheilen
kann! — — —
In meiner jetzigen Situation kann ich weiter nichts, als den
Wunsch meines Nachtwächters:
Langes Leben und Gesundheit
Fried* und Einigkeit
Und zu letzt die ewige SeeligkeitI
auf Ihre glückliche Verbindung anwenden. Da bey bitt* ich Ihr
vermuthlich nunmehriges Weibchen herzlich von mir und meinem
kleinen lieben Weibe, dem gutherzigsten Dingelchen unter der
Sonne, zu grüssen und zu küssen. Welche Wonne wird das seyn,
wenn wir uns einander erst besuchen können! —
Dass ich und Herr Hölty in unsem Versen wörtlich beynah
zusammen gestossen sind, ist freylich wohl keinem von uns beyden
lieb, immittelst bin ich jetzt viel zu dumm und düster um die
Strophe quaestionis abzuändern. Ihre Id^e ist sonst recht aller
liebst, nur das:
0 süsses Angedenken I
scheint hineingereimt zu seyn. Machen Sie*s damit nach Gut-
dünken.
Übrigens leg' ich noch eine alte Schnurre*) bey, die mir
neulich unter alten Papieren in die Hände fiel. Ich weiss selbst
nicht, ob sie wehrt ist, gedruckt zu werden. Ade!
Bürger.
Die Pause, die durch Goeckingks Yerheiratung im
Briefwechsel eintrat, unterbrach Bürger zuerst:
5. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen den 26. Oetober 1775.
Wie mag es doch wohl mit memem theuren Göckingk stehn,
da er mir so lange nicht ein Wörtchen gesagt hat? Wenn mein
Herz zu Argwohn aufgelegt wäre, so -~ doch nein! es ist un-
möglich, dass ein so gefühlvoller Mann, so bald wieder kalt
werden könne. Hätt' er doch das nehimliche Recht, einen sol-
chen Argwohn von mir zu hegen ; denn ich habe ja auch lange
*) Die alte Schnurre dürfte das Gedicht: *Senfzer eines Unge«
liebten' sein, Göttinger Musenalmanach 1776 S. 145, dessen Entstehung
ich in das Frühjahr 1773 gesetzt habe (Gedicht S. 67).
70 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
nicht geschrieben. Wir wollen also gegen einander vergleichen
und aufheben, und an diesem Stillschweigen lieber alles in der
Welt, als Kaltsinn in der Freundschaft Schuld seyn lassen.
So eben leg* ich Ihren Almanach aus der Hand, über welchen
ich ein wenig mit Ihnen plaudern muss. Ich bin im ganzen
ausserordentlich wohl damit zu frieden, ja ich freue mich um so
mehr, dass die Sammlung so gut gerathen ist, als ich vorher be-
fürchtete, dass es Ihnen an hinlänglich guten Gedichten fehlen
würde. Der Bestimmung eines Almanachs entspricht der Ihrige
schier besser, als alle, die ich kenne.
Manches einzelne Gedicht gefällt mir freylich nicht. Aber
was Wunder ? Da von der poetischen Ceder auf Libanon an, bis
zu dem kleinsten Isop, der aus der Wand wächst, nicht einer
seyn wird, dem alles in einer solchen Sammlung gefallen kann.
Genug, dass mich viele vortreffliche Stücke, für wenige mittel-
mässige vollkommen schadlos halten. Zu jenen zähle ich haupt-
sächlich die herrlichen und originellen Gedichte von Amarant
und N antchen. Wie neu und wie lebendig ist der Frühlings
Morgen p. 10 gemahlt I Alle aber übertrifft, nach meinem Ge-
fühl, das p. 141. Welche Wahrheit, welche Stärke in Em-
pfindung und Ausdruck! Das sieht keiner besser ein, als der,
welcher sich einmal in eben dem Falle, wie hier der arme
Amarant, befunden hat. Ich möchte das Stück wohl gemacht
haben. Darf ich die Verfasser dieser Gedichte nicht kennen
lernen? oder kenn' ich sie schon halb und halb? Ich weifs mir
in der That keinen hinlänglichen . Grund anzugeben, warum ich
immer Amarant und Goeckingk, — Nantchen und Sophia —
bey mir combinire. Vielleicht ist die ausserordentliche Anzüglich-
keit diesser Gedichte Schuld, dass ich sie diesem treuen Pärchen
zuschreiben zu können wünsche.
Das Walzlied p. 45 ist auch eins von denen, die nach meinem
Herzen sind. Die liebliche sanfte Manier in dem Stück p. 48,
verräth mir halb und halb seinen Verfasser. Meines Goeckingks
Epistel p. 58. ist seiner würdig und die p. 158 ist vermuthlich
gleichfalls von ihm. Ich kenne, mein Liebster, noch keinen
Teutschen, der es Ihnen hierin gleich thut. Die Geburtstagsbe-
trachtung S. 113 ist auch ein recht allerliebstes Stückchen. So
auch das S. 117. Horst p. 183 hat meinen Beyfall. Nicht so
die Ballade des HErrn Schink p. 85. Wer ist dieser Schink?
Ich kenne des Menschen [Namen] noch gar nicht. Wenn Sie
ihn kennen, so sagen Sie ihm, er soll sich das Nachahmen
künftig durchaus abgewöhnen, wenn er was werden will. Es
könnte mich zwar kitzeln, dass er Lenoren ziemlich sichtbarlich
nach zu ahmen wehrt geachtet; allein ich kann das Nachahmen
durchaus nicht leiden. Der Nachahmer von Talenten thut sich
selbst Schaden und der ohne Genie verdirbt gemeiniglich am
Ende den Handel seines Urbildes. Lieber immer ein schlechtes
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk. 71
Original, als eine mittelmässige — ja selbst gute — Nachahmung.
Der Vortrag in der Ballade des HErrn Schink ist in manchen
Strophen sehr gut und des besten Dichters würdig. Aber desto
schlimmer für den Verfasser, dessen Verdienst nun durch die
Id^e der leidigen Nachahmung bey vielen verdunkelt werden wird.
Hauptsächlich find' ich noch auszusetzen, dass das Ganze ohne
allen Zweck ist. — Noch muss ich sagen, dass Pfeffel fast
überall ein Mann nach meinem Herzen ist. — Ich höre auf, weil
mein Brief sonst einer Recension ähnlich werden würde. Es
fehlt mir heute Zeit, jedes der noch übrigen guten Gedichte zu
beschwatzen ; und schliesse mein Geschwätz mit einem aufrichtigen
Glückwunsch an Sie, mein Bester, wegen dieser gleich zum ersten
mal so gut gerathenen Sammlung. —
Ergötzen Sie mich doch nun bald einmal mit einer Schil-
derung der süssen Stunden, welche Sie nun ohnfehlbar in den
Armen Ihrer geliebten Sophie verleben. Das Band wird ja nun-
mehr wohl geknüpft seyn. — Ich hoffte Sie diesen Herbst noch
einmal persönlich zu umarmen, aber die späte Jahrszeit lässt wohl
nun keine Hoffnung mehr übrig. Ich habe vor einigen Monathen
mein Bauernhüttchen hier in WöUmershausen mit Weib und
Kind bezogen und lebe, vtrie ein Bauer. Die Wintermonathe muss
ich hier, wegen des scheussHchen Morastes, der überall meine
Wohnung umfliesst, sehr einsam durch leben. Sie machen sich
also kein geringes Verdienst um mich, wenn Sie recht oft diese
Einsamkeit durch Ihre angenehmen Briefe stöhren. Adio! Mein
kleines Weib grüsset den Freund ihres Mannes von Herzen.
Bürger.
Apropos! Das hab* ich Ihnen schon lange sagen wollen,
dass es HErrn Boien verdrossen hat, dass Sie ihn verwichenen
Sommer nicht besucht haben.
Goeckingk gibt in seiner Antwort vom 31. October 1775
Nr. 189 auf Bürgers Fragen die nöthigen Auskünfte, welche
weitere Anmerkungen überflüssig machen. Bürgers nächster
Brief ist ein Bleistiftzettel, der, wie aus dem übernächsten
hervorgeht, am 20. December geschrieben ist.
6. Bürger an Goeckingk.
So eben steige ich vom Pferde im schwarzen Adler. Morgen
mit dem frühesten muss ich weiter nach Aschersleben zu traben.
Wenn Sie, mein Liebster, mit Ihrer theuren Sophie noch nicht
zu Bette sind, so will ich Sie noch heute umarmen, und zwar,
so wie ich da bin, mit Dreck und Speck, und mit so verklomten
Händen, dass ich dies kaum schreiben kann. Bürger.
Bei diesem nächtlichen Besuche muss der Plan, auf
den sich die folgenden Briefe beziehen, eine Druckerei in
72 Saner, Aus dem Briefwechael zwischen Bfirger und Qoeckingk.
Ellrich anzulegen, Gegenstand ihres Gespräches gewesen
sein. Bürger übernahm es, in Göttingen Erkundigungen
einzuziehen, Goeckingk dagegen den Plan schriftlich auf-
zuzeichnen. Nach den Feiertagen gibt Bürger kurze Nach-
richt :
7. Bürger an Goeckingk.
Wöilmershausen den 29. December 1775.
Noch zur Zeit, mein lieber Goeckingk, kann ich Ihnen weiter
nichts berichten, als dass ich glücklich bey Weib, Kind und Hund
angelanget bin, und Weib, Kind und Hund sich ganz entsetzlich
gefreuet haben. 0 den Bettelmann hätten Sie sehen sollen!
Er sprang trotz dem, der sich am 20ten December die Arme bis
an die Schultern aufgestreift hatte, — Mein kleines Mädchen
sollte unterdessen das Wörtlein Papa gelernt haben. Man hatte
sich zwar vorgenommen, diese Neuigkeit der Überraschung wegen
zu verschweigen; allein die Verschwiegenheit wollte nicht einmal
so lange Stich halten, bis ich den Flausrock ausgezogen hatte.
Nun Freund, hätten Sie sehen und hören sollen, wie alles, was
nur Zeug und Athem hatte, sich bemühte, dem Kinde vorzu-
papaen. Aber grossen Dank! Noch bis jetzt hats alle seine
Lehrmeister zum Besten gehabt und kein einziges Papa naehge-
lallt, welches mich denn schier mehr als hundert Papa er-
götzt hat. —
Nach Göttingen hab ich vieler vorgefundener unaufschieblicher
Geschäfte halber diese Woche noch nicht kommen können.. Aber
in künftiger Woche soll mich hoffentlich nichts abhalten. Was
macht der Plan? haben Sie hübsch .dran gearbeitet? Ohn-
erachtel ich bisher keine Müsse gehabt, unsere grossen Gedanken
von neuem zu durchdenken, so ist mir doch ein und andres
Bruchstück zu unserm Bau unter die Hände gerathen, welches
ich, wenn Sie nicht selbst darauf gestossen sind, demnächst ein-
flicken will ...
Zum Henker! Bald hätte ich den Entwurf zum Insiegel
beyzulegen vergessen. Welche Nummer gefällt Ihnen am besten?
— Mir behagt N. 2.
Goeckingk aber hatte die Feiertagsmusse selbst zu
seiner Arbeit benutzt, die er mit Nr. 197 an Bürger über-
sendet. Die darin erwähnte Broschüre gegen Elopstocks
Subscriptionsplan ist nach Strodtmanns Nachträgen in seinem
Handexemplare die Schrift von Philipp Erasmus Reich:
'Zufallige Gedanken eines Buchhändlers über Herrn Elop-
stocks Anzeige einer gelehrten Republik. [Leipzig] 1773.'
Bürger bestätigt den Empfang des Planes am 1 . Januar 1 776
(fälschlich 1775 datirt) mit wenigen Worten:
Sauer, Ans dem Briefwechsel zwigchen Bürger nnd Goeckingk. 73
8. Burger an Goeckingk.
Ifaren Brief mit dem Plan, mein liebster G., hab ich gestern
erhalten und mich nicht wenig darüber ergötzt. Sie haben mir
fast nichts übrig gelassen hinzuzusetzen. Mein Haupt-Augenmerk
wird daher die Berechnung der 600 Abzugs- Exemplare seyn,
welche, wie mich dünkt, noch Qicht pünctlich genug durchdacht
ist. So bald als möglich, sollen Sie den Plan wieder zurück,
und auch Nachricht von meiner Expeditiop haben.
Diese Nachricht gibt der folgende Brief:
9. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen d. 15ten Januar 1776.
Ob ich nun gleich einmal in Göttingen gewesen bin, so hab'
ich doch» ^m Unglück, noch nicht von allem hinlänglidie Kund-
schafft einziehen können. Die Ursachen sind zu weitläufig und
uninteressant, hier erzählt zu werden. So bald aber nur einiger-
maassen l^ieder Bahn seyn wird (denn hier ist seit einigen Tagen
SQ viel Schnee gefallen, dass man weder zu Pferde noch zu Fuss
aus der Stelle kann), so werd* ich eine zweyte und hoffentlich
glücklichere Excursion machen. Was ich einstweilen heraus-
bringen können, ist folgendes:
1) Eine Presse kostet nach Beschaffenheit ihrer Güte 50—-
tOO Rth.
2) Man kann in Gas sei dergleichen und auch an andern
Orten haben.
3) Der Centner Lettern kostet, nachdem die Lettern gross
od» klein sind, SO bis 30 Rth.
4) Die meisten und besten Lettern, so in Teutschland ge-
braucht werden, fournirt Breitkopf aus seiner Schrifflgiesserey.
5) Wie viel Lettern zu einer Presse oder unserer ganzen
Druckerey erforderlich, lässt sich so nicht eigentlich bestimmen.
Manchen Buchstaben braucht man mehr, manchen weniger, z. B.
c und X. Die gehörige Proportion hierunter wissen die Schrifft-
verkäufer zu geben.
6) Die Lettern lassen sich, nachdem die Gesellen damit um*
gehen, 10 bis 30 Jahre gebrauchen.
7) Auf jede Presse gehören zum mindesten zwey Gesellen
und ein Setzer.
NB. Würde eine Schrift von mehreren Bogen nur etwa
100 mal abgedruckt, so kömmt ein Setzer der Presse nicht vor.
8) Der Setzer wird gemeiniglich Bogenweise bezahlt 16 ggr.
bis 1 rth.
9) Das Drucker- Wochenlohn ist ppter. 1 rth,, bisweilen wer-
den sie auch Bogenweise bezahlt.
Mehr Nachrichten hab* ich noch zur Zeit nicht zusammen
bringen können; Indessen lässt sich schon hieraus ohngefilhr ab-
74 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
sehen, dass die Anschaffung der Druckerey bey weitem nicht so
hoch kommen kann, als wir uns vorgestellt haben.
Ich halte dafür, dass wir mit einem fond von 4000 rth.
schon viel ausrichten können. Denn
a) Die ganze Druckerey rechne ich darnach
nicht höher als 1000 bis 1500 rth.
b) Erster Vorrath an Papier 1000 „
c) Zur Reise 1000 „
d) Insgemein 500 ,,
4000 rth.
Hierbey nicht zu gedenken, dass wir uns Credit machen können,
und die Zahlung mancher Pöste auf Termine setzen können.
Noch ist zu merken, dass allerdings einer von uns Drucker-
herr werden muss. Die Kosten davon hab* ich noch nicht er-
fahren können. Wir müssen auch ein Meisterstück setzen und
drucken.
Von Büchern, die in unsern Kram dienen, hab* ich die
Brochüre gegen Klopstocks Subscriptions-Plan, die doch aber
nicht das mindeste von Belang enthält, ingleichen Pütter über
den Bücher- Nachdruck aufgetrieben. Der letzte Tractat ist sehr
gelehrt und weitläufig. Noch zur Zeit hab ich nur darinn ge-
blättert und da, däucht mir, dass er auf manche gute Id^e hilft
und viele von unsern Id^en durch sein Räsonnement bestätigt.
So bald ich ihn durch gelesen, sollen Sie ihn haben. Heut oder
Morgen soll ich auch den Schauplatz der Künste und Hand-
werker, ingl. ein ganz neues von den Druckereyen handelndes
Werkchen, so mir noch ganz unbekannt, aus Göttingen erhalten.
Von allen künftig ein mehreres. Den Plan hab* ich von neuem
durchgeknetet und so bald ich ihn nach Lesung aller der Bücher
abermals und zum letzten durchgeknetet haben werde, sollen Sie
ihn zurück erhalten.
0 Goeckingk, welche Wonne empfind* ich, wenn ich in
diesem Spiegel einen so reinen Abglanz unserer Weisheit erblicke.
Was doch zwey Geschöpfe, die man in ein so enges Räumchen
zusammen pressen könnte, enorme Dinge hervorbringen können!
Drey hundert Buchhandlungen (so viel gibts ppter. in Deutschland)
werden aller menschlichen Wahrscheinlichkeit nach, wenn unsere
Sache zu Stande kömt, in ihren Grund Vesten erschüttert, und
kein Fürst ist mächtig genug, sie zu befestigen. Und das alles
durch uns homunciores! — — —
Adiol Grüssen Sie Ihr Sopheychen. B.
Sehen Sie zu, dass Sie bald nach Sondershausen kommen
dnd ausfragen können.
Diesen Brief empfing Goeckingk im Posthause zu
Duderstadt auf einer Reise, deren abenteuerlichen Verlauf
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk. 75
er in Nr. 203, 21. Januar 1776 beschreibt. Darauf be-
zieht sich:
10. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen den 29ten Januar 1776.
Hätte mirs nur geträumt, mein lieber, dass Sie in jener
grimmig kalten Nacht, kaum eine gute Stunde von meinem Wöll-
mershausen sich in den Schnee gebettet, so war' ich sicherlich
aufgesprungen und hätte Sie in meine Hütte an meinen warmen
Heerd geholet. Ihre Beschreibung macht mich beynahe bange
vor meiner nahen Reise nach Aschersleben. Der Himmel gebe
erträgliches Wetter! Es ist noch nicht gewiss, ob ich künftigen
Sonntag oder Montag ausreisen werde. Also Montags oder Diens-
tags hoffe ich auf kurze Zeit bey Ihnen vorzusprechen. Die
Sparsamkeit räth mir zwar, mit der ordinären Post zu reisen;
wenn ich aber überlege, dass ich Bedienten und Coffer mitnehmen
muss, so wird Extra-Post nicht viel theurer kommen. Und diese
ist doch sonderlich bey einem eignen Wagen, bequemer.
Ich habe allerley Stoff zu einer interessanten mündlichen
Conferenz gesammlet. Unser Project reifet immer mehr. Hab
ich doch zeither alle Seegel meines Verstandes bis an die Wimpel
aufgespannt! Habe ich doch das Senkbley überall ausgeworfen!
Es müste ja nicht von rechten Dingen und vom Teufel zugehen,
wenn mir eine verborgene Klippe unentdeckt geblieben wäre.
Eine beträchthche, welche mit aller möglichen Behutsamkeit zu
passiren ist, hab ich noch entdeckt. Hören Sie! Es ist fast gar
nicht zu zweifeln, dass wir nicht alle mögliche Unterstützung
Seiten des Berliner Hofes erhalten sollten, da ganz Teutschland
in einen preussischen Eymer gemolken wird. Allein was werden
die andern Reichsstände sagen, wenn allenthalben mehr Geld aus
ihren Ländern heraus gezogen wird, als etwa hie und da durch
die Schrifftsteller wieder hineingebracht werden kann ? Was wird
Sachsen sagen, welches aus der bisherigen Verfassung des Buch-
handels so grossen Vortheil ziehet? Und vollends Österreich?
Nun ist zwar wahr, die Höfe würden dies eine gute Zeit nicht
gewahr werden und für allzu geringfügig achten. Allein wie
wenn ihnen die Buchhändler das Verständniss zu geschwind öff-
nen? Dies geschieht gewiss! Alsdann wird in einem solchen
Lande das Collectiren verboten, wie es denn wirklich ganz neuer-
lich in Braunschweig, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach,
ad instantiam der Waisenhaus-Buchhandlung, verboten ist. Hier
kann uns nichts durchhelfen, als ein mächtiges Berlinisches Vor-
wort und das beliebte und belobte Praevenire, ehe die Buchhändler
was gewahr werden. ■—
Ich will und muss künftige Woche noch einmal nach Göt-
tingen. Indessen hab* ich aus einigen Büchern schon so viel
Kundschafft eingezogen, dass es kaum nöthig seyn wird, noch
76 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Burger und Goeckingk.
weiter mündliche Nachfrage zu thun. Kurz eine complete Druckerey,
so gross wir meinen, kostet nicht mehr als 6000 Mark, das sind
noQh keine 2000 rth. (ich habe diese Nachricht aus einer ham-
burgischen Wochenschrift, Der Buchdrucker genannt, aus
welcher ich noch einige andere Nachrichten geschöpft habe).
Wenn ich zu Ihnen komme, will ich alles auskramen.
Ich habe verschiedene von den wichtigsten Id^n unsers
Entwurfs, auf eine völlig versteckte Art und mit dem Salzkorn
in Gespräche mit diesen und jenen Leuten von Einsicht in Göt-
tingen verwebet und das unbeschreibliche Vergnügen genossen,
dass diese Leute sie mit unsern Augen angesehen haben. Ich
tadelte nehmlich in einer Gesellschafift Klopstocks Plan aus Leibes-
kräfiflen, als ein Lufflschloss, und siehe da! er wurde schier mit
unsern Grundsätzen gegen mich verlheydigt. Freund, Freund,
es ist ein grosses erstaunliches Unternehmen! Gelingt es, so
wirds schier so viel Lärmen erregen, als die Erfindung des
Schiesspulvers und der Buchdruckerey. Noch eins! Ich höre hier
und da von wichtigen Werken, die auf dem Wege öffentlich zu
erscheinen sind, und wir herrlich zum Anfange gebrauchen könn-
ten. HErr Gerstenberg will seine Werke mit neuen Zusätzen,
Goethe verschiedene neue Producte, Klopstock und viele andere
neue Sachen, Hölty seine Gedichte u. s. w. heraus geben. Wie
fangen wirs an, dass uns die nicht entgehen? Wenn wir noch
einen oder den andern von geprüfter Verschwiegenheit und Gon-
nexion mit diesen Leuten etwas von unserm Plan« entdecken
dürften, so könnte dies nicht schaden. Mir fällt Niemand ein ab,
Boie. Verschwiegen glaub^ ich ist er. Wenigstens hab ich ihn
noch nirgends, da ich doch an die 8 Jahre mit ihm umgehe, auf
Schwatzhaftigkeit ertappt. Im Gegentheil hab ich ihn oft wegen
übertriebener Verschwiegenheit in Lappalien getadelt. Auch dächt
ich ihn wohl, wegen einiger andern Verbindlichkeiten, zur Ver-
schwiegenheit zu fesseln. Da er eine sehr weitläufige Connexion
mit dem schreibenden Publikum unterhält, so dächt' ich durch
ihn allenfalls möglich zu machen, dass jene Werke noch Jahr
und Tag zurück gehalten würden. Was meinen Sie? Sie sollen
und können ohne den mindesten entferntesten Zwang hierunter
entscheiden. Wissen Sie sonst einen ähnlichen oder bessern
Mann und wollen ihn zu unsern Vertrauten wählen, so bin ichs
eben so zu frieden, als ichs zu frieden seyn werde, wenn Sie noch
zur Zeit jeden Vertrauten vei'werfen. —
Das ist recht, dass Sie den merk an tili sehen Briefe) nicht
beantworten wollen. Der Mann will mir den grossen Herrn gar
zu sehr spielen. Es ist wohl viel Ehre für Unsereinen sein unter-
thäniger Vasall zu seyn? — Dass Dich ! — Anche io son pit-
lore ! — Es kommt hier wieder zurück d^r Avis Brief! —
') Von Klopstock.
Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 77
Ihre Epistel ^) hat mir einen herrlichen Abend gemacht. Für
die Ehre, dass mein Nähme drüber prangen soll, will ich Sie in
8 Tagen herzlich umarmen, und Ihnen auch meine Critiken mit-
theilen. Mir deucht, ich habe schon einmal an der an Benz-
lern getadelt, dass die männlichen und weiblichen Reime nicht
gehörig gemischt wären. Diesen Tadel werd' ich hier wohl haupt-
sächlich wiederhohlen. Ich kann mein Ohr ohnmöglich hieran
gewöhnen. In Anschwung des Geistes entspricht auch diese schöne
Epistel vollkommen den übrigen reizenden Produkten Ihres Kopfs
und Herzens. Meinen Tadel hab^ ich auch schon bey Gelegen-
heit Ihrer vorhin gedruckten Episteln aus dem Munde verschiedener,
denen ich ein Ohr zutraue, gehört. Um so mehr hab ichs mir
in den Kopf gesetzt, dass ich recht habe. Ich interessire mich
seit unserer so engen Verbindung so sehr für die Vollkommenheit
Ihrer Werke, als der Meinigen. Mit gleicher mütterlicher Zärt-
lichkeit kann ich Ihre und meine jungen Bären lecken. Wir
müssen auch von nun an mit gemeinschafltlicher Redlichkeit
und Treue unsere junge Brut bilden und gross ziehen. Jede Un-
art die einer an des andern Kindern bemerkt, muss er Macht
haben, zu bestrafen, als wenn er des Kindes ächter leiblicher
Vater selber v^re. — Dies soll noch einmal eine interessante
Anecdote für Schmidten seyn, wenn er dereinst unser Leben be-
schreibt.
Gleim hat mir vor wenig Tjagen geschrieben ''), das Clamer
Anstalt zur Lyrischen Blumenlese macht. Wenn wir die doch
auch noch zurück halten könnten I
Das erste Stück des Musäums ist nun heraus und es pranget
darinn ein Fragment meines Homers, mit einigen mir unange-
nehmen Druckfehlern. Boie hat mit Weygand nur auf 6 Monath
contrahirt und wünschet von ihm wieder loss zu seyn. Ich glaube
diese Monathschrifft wird interessant und ein guter Artikel für
uns werden.
Unser Project, mein Liebster, soll und muss schlechterdings
gehen. Es leuchtet mir gar zu sehr in die Augen. Lassen Sie
uns nur immer nach den Fundations Geldern uns um sehen. Mir
ist bey der ganzen Sache für nichts mehr bange, als dass mirs
etwa nicht gelingen möchte, meine Immobilien so geschwind und
bequem zu Gelde zu machen. Denn das haare Geld ist überall
verteufelt rar. Daher sind Immobilien nicht nur in schlechten
Preise, sondern es fehlt auch oft demohngeachtct an Käufern.
Doch — mir deucht es hat eine höhere Macht die Hand mit in
unserm Spiele. Die wird ja hier auch alles einleiten. Ich werde
hören, wenn ich nach Aschersleben komme I
•) An Bürger, Samtliche Gedichte 1782 1, 172.
') Strodtmann Nr. 204; Bürgers Antwort Nr. 20ö.
78 3ftuer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Adio! mein Herzensfreund! Unsere herzliche Grüsse an
Ihr wiederhergestelltes wackeres Weibchen und übrige Angehörigen
samt und sonders, Spadillen nicht ausgeschlossen. B.
Apropos noch was sehr interessantes! Der Bettelmann war
mir neulich gestohlen, war 8 schmerzensvoUe Tage weg, kam
aber zu meiner unaussprechlichen Freude, Abends um 11 Uhr
durch den tiefsten Schnee wieder vor meiner Thor an. —
Darauf scheint Goeckingk nicht geantwortet zu haben,
obgleich sich Bürgers Besuch verzog.
11. Bürger an Goeckingk.
Aschersleben d. 25, Februar 1776.
Gott zum Gruss.
Bald werd ich wieder bey Ihnen und Ihrer lieben Männer-
Frau, ich der ich ein rechter Frauen-Mann allhier geworden bin,
seyn. Dies lesen Sie Frau Sopheychen laut, damit ich ein freund-
liches Gesicht bey meiner Rückkunft erhalte. Sacht aber lesen
Sie: dass ich in meiner Weiber-Teufelschafft von Tag zu Tage
immer mehr Progressen mache.
Ich dacht es wohl, dass mir wegen Herbeyschaffung des
Geldes zu unserer grossen Unternehmung Schwierigkeiten sich in
den Weg stellen würden. Die Hauptschwierigkeit ist die, dass die
Vertheilung der liegenden Gründe bey jetzigem Congress um des-
willen noch nicht zu Stande gekommen ist, weil ein geiziger hab-
süchtiger Pfaffe dabey mit interessirt ist. ^) Sed ego
superos acherontaque movebo.
Noch leb ich guter Hoffnung, dass ich kurz nach Ostern
wenigstens 2000 rth. werde auftreiben können. Wo das nicht,
so sollen doch wenigstens gegen die Zeit 500 rth. da seyn, damit
die Reise angetreten werden könne. Ich sollt auch denken, dass
so sehr viel nicht dran gelegen wäre, wenn auch das Haupt-
Capital späther herbey geschafft würde. Dies vorläufig; mündlich
ein mehreresl Ich freue mich nicht wenig drauf, bey meiner
Rückkunft den Baum unsers Lebens durch Ihre letzte Pflege in
der herrlichsten Blüthe zu sehen.
Meinen Gruss an Sopheychen und Malchen etc. etc.
Vale faveque. GAB.
In grosser Eil.
Anfang März war Bürger wieder zu Hause; am 9. ist
der enthusiastische Dankbrief an Qoethe (Nr. 218) ge-
schrieben; ein Nachklang dieser Stimmmung tönt uns auch
noch aus dem folgenden Brief entgegen :
•) Vgl. Nr. 17.
Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger and Goeckingk. 79
12. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen d. 14ten März 1776.
Ich hätte schon vorigen Postag schreiben sollen, dass ich
glQcklicliy troz der jämmerlichen Wege, wieder in WöUmershausen
angekommen sey. Allein ich hatte und habe noch so viel Wirr-
warr um mich herum, dass ich auch heute nur diese wenigen
Zeilen in gröster Eil aufs Papier werfen kann. 0 die Actum etc.
die Decretum etc. Resolutum etc. und wie der Teufelsdreck alle
heisst, werden mir von Tage zu Tage fataler. Doch! unverzagt!
Der Himmel wird mich ja heraus führen. Homer verkündigt mir
so schöne güldne Tage, dass ich schier für nichts zeitliches, als
nur meinen Goldmann, meinen Homer, der alles zeitliche in sich
begreift, und mir künftig alle Leibes Nahrung und Nothdurft ver-
spricht, zu sorgen brauche. In das Stück des teutschen Merkurs
vom Februar d. J. wird ein gar lieblich lautendes Ding eingerückt
werden. Etwas ganz neues und in unserm lieben Germanien
bisher unerhörtes ! Die fürstliche Familie und der Hof zu Weimar
haben von freyen Stücken eine Subscription ä 65 Louis d'or zu-
sammen gebracht und mir solche als ein freundliches Geschenk
auf den Fall versprochen, dass ich öfTentlich erklähre, ich sey
entschlossen, die Uiade ganz zu liefern. Dabey verlangt nicht
einmal einer ein Exemplar. Wenn nun die andern hohen und
niedem Potentaten, Militair- und Civil Obrigkeiten, in Städten,
Ämtern, Flecken und Weichbildern, desgleichen die Herrn Ge-
lehrten in allen Facultäten hübsch nachfolgen und sich nicht
lumpen lassen, so ist mir schier vor dem vielen Gelde bange.
Es scheint beynahe, als wollte endlich einmal Germania das
Schaft ihrer Freygebigkeit gegen ihre Schrifflsteller aufziehn.
Wenn ich so viel Louis d'or bekomme, als Frau Sopheychen
Thränen über ihren bösen Mann vergossen, so werde ich wohl
mein lebelang genug haben. Was macht Sopheychen? Meine
Frau lässt sie freundlichst grüssen und ihr sagen, Sie sollte sich
nichts mehr um den unartigen Mann scheeren und ihn kalmäu-
sern lassen, so viel er wollte. Sie thäte desselbigengleichen ; da
sie wohl einsähe, dass an mir Hopfen und Malz verlohren wäre
etc. etc. etc. etc. etc. etc.
Vale faveque Tuo GAB.
Goeckingk begrüsste seinerseits den heimgekehrten
Freund noch vor Empfang dieses Briefes und eines zweiten
verlorenen Zettels am 18. März mit Brief Nr. 223, den
Bürger rasch beantwortet:
13. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen d. 25. März 1776.
Ich habe mich, mein lieber Herr Mitteufel, über Ihren gestern
erhaltenen Brief recht herzlich ergözt. Haben Sie denn meine
gO Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeökitigk.
zwey, die ich nach meiner Heimkunft geschrieben schon erhalten.
Der lezte war nur ein Wisch, worinn ich Sie um etwas aus
Ihrem Adierkant für das Musäum bat. Wenns möglich seyn will,
so geben Sie^s her. Allenfals auch was anders.
Um meinen Hausfrieden slehts auch so ziemlich. Nur be-
komm ich zu weilen was gebrummtes, wenn meine unsterblichen
Werke in herba meinen Geist an sich ziehn und mich sinnlos
gegen das, was um und neben mir ist, machen. Ich habe
zeither was prosaisches aufgesezt, welches unter dem Titul:
Daniel Wunderlichs Buch, in dem Musäum ßguriren soll.
Sed hoc tibi in aurem! Denn ich werde darinn aller band para-
doxe Wahrheit geigen; und möchte doch nicht gern den Fiedel-
bogen auf den Kopf haben.
Ausserdem hab ich homerisirt ; und ich bin mit meiner, Ar-
beit ziemlich zufrieden. Ich denke auch in deni Merkur die
homerische Trommel zu schlagen. Und das alles um des leidigen
Mammons willen.
Sie haben also einen Plan ausgeheckt? Ich bin sehr be-
gierig das Product zu sehn. Ich lege sonst auch allerlej Eyerl
Es sind aber viel Windeyer drunter.
Ihr Almanach ist im Merkur gut weg gekommen; der Vos-
sische ist in vielen seiner Collaboratoren gewurzelt. Mit dem
Knaben Bürger ist man säuberlich verfahren. —
Können Sie denn nicht bald mal einen Absprung zu mir in
meine Hütte machen. Siehe, der Frühling kömmt und die Bäume
haben Knoten gewonnen 1 Im Frühling ists ganz anmuthig um
mich herum; aber Winters siz ich recht in Kloak. Gleich hinter
meiner Wohnung ist Wiese, Bach und Wald. Da wollen wir
ein Zelt aufschlagen und uns drein lagern und unsern Herzen
gütlich thun. Mir wäre ganz wohl, wenn ich dich bösen Buben
nur immer hier, und nicht so viel Plackscheisserey hätte. 0 das
Project! das ProjectI Ich werd eher nicht glücklich; eher kein
Mensch,, als bis das alles erst in seiner Schnurre ist. AdiesI
B.
Qoeckingks Nr. 230 vom 7. April ist die Antwort auf
den verlorenen und den letzten Brief. Bürger schrieb dies-
mal augenblicklich:
14. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen den 9ten April 1776.
Ich kann nicht umhin, mein liebster Gkg, auf Ihre Salve
vom 7ten dieses sogleich wieder in dieser glücklichen Stunde eins
abzufeuern. Denn den heutigen Tag über und die kommende
Nacht bin ich unumschränkter Selbstherrscher in meiner ganzen
Wohnung, vom untersten Keller an, bis in die obersten Hahn-
balken hinauf. Nach dem ich das Fest über mit meiner ganzen
Sauer, Aub dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. g {
Familie zu Niedeck gewesen bin und beute wieder nach Hause
will, geliebt es meiner ehlichen Hausfrawen noch heut und Morgen
dortzubleiben und 24 Stunden die Fahne der Freyheit über
meinem Haupte wehen zu lassen. Ich muss freylich dabey, statt
Suppchen, Carbonnädchen, Spinätchen, Brätchen und Sallätchen,
mit Butter und Käs und Brod pour tout potage auf diesen Abend
Tor lieb nehmen, aber, Freund, bedenken und fühlen Sie auch
mal dagegen die Wonne, sich frey und ungehindert nach allen
vier Pfählen der Stube und des Bettes wälzen und alle Kinder
des Geistes, gebohrne und ungebohrne, laut um sich her lärmen
lassen zu können! — Denn über das geistliche Empfangen,
kreissen und gebären (vermuthlich weil dadurch dem fleischlichen
einiger Abbruch geschehen mag) muss man leider! das meiste
Haus Creuz erdulden. Ich hoffe bey dieser glücklichen Müsse,
noch diesen Abend das gröste und stattlichste meiner Kinder, eine
Romanze*) fast ä 100 Strophen vollends zur Welt zu bringen.
Sie ist, wegen ihrer Länge, und weil mich B[oie] gar mächtig
um Beyträge trillt, für den May des Musäums bestimmt. Näch-
stens hoff ich noch zwey dito ans Licht zu stellen, die in den
Almanachen ins Publikum kutschiren sollen. Voss hat auch schon
angepocht Noch zur Zeit muss ich mich, wie ein bedrängter
Student, wenn die Manichäer zu früh kommen, einschliessen.
Kömmt Zeit, kömmt Rath. ihr Gedicht an mich, beantwort ich
gewiss. Aber das merk ich schon zum voraus, so allerliebst
närrsch, wie das Ihrige ist, wird meins nicht. Ich muss das Ding
belachen und wenn ichs auch zum hundertsten Mal lese. Dies
werden Sie hoffentlich für keine nothgedrungene Galanterie nehmen,
da ich, wenns mir nicht von Herzen gienge, gar füglich drum hin
gekonnt hätte.
Von Ihrem Adlerkant schicken Sie mir nur die zwey ersten
Gesänge. Wohlverstanden, wenn am Ende des zweyten Gesanges,
wenigstens einiger maassen ein Ruhepunct ist, und der Leser auf
den Fortgang nicht so unbändig gierig gemacht wird, dass er
sich Ober das Abbrechen zu sehr ärgern muss. Ich hoffe der
Herr Adlerkant soll ganz gewiss, besonders zu dieser Frist, da
man der wiehernden und bellenden Freyheits- und Tugendoden
so satt ist, ein hübsches Fortun machen.
Der Strahl von Hoffnung, den Sie mir in Ansehung unsers
Projects zublinken lassen, hat mein Auge sehr erquickt. Frey-
lich lagern sich zwar noch Gebär- und Sterbe-Wolken davor;
allein wer kann sich helfen? Endlich wird es sich ja doch
ganz um uns aufklähren. Lasst immerhin gebären und sterben,
was Gebären und Sterben nicht lassen kann. Ich meines theils
respective gratulire und condolire zum voraus. Wünsche ratione
des erstem, nicht allein dieses, sondern auch noch viele folgende ;
') Lenardo und Blandine.
Viertotjahrschrilt fQr Littoratniifeschichto III 6
82 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
ratione des lezten aber, dass der grundgOtige Gott dieselben und
dero wehrtes Haus noch lange und bis in die späthesten Jahre
vor ähnlichen Trauerfallen in Gnaden behüten und bewahren,
dahergegen aber mit Freuden und Wohlergehen, auch allem,
was Sie sich selbst zu wünschen nur immer Belieben tragen,
reichlich überschütten möge. Dixi!
Für heute wüst ich weiter eben nichts von Belang hinzu zu
fügen als: dass ich den Bettelmann, sonst auch Mannbettel,
Mannus beteiius, Mannthier, Thiermann, Mannsbild,
Freund, Bettelfreund, Freundbette], Männchen, Männ-
lein, Betteljunge, Bettelsack u. s. w. benahmset, gestern
in einem kalten Flusse gewaschen und gebadet habe, wovon er
aber ein kaltes Fieber bekommen hat und noch nicht ganz wieder
genesen ist, dergestalt, dass ich sehr besorgt um ihn bin. —
Apropos I Sie sind um ein Kupfer vor den Almanach verlegen?
Wie wenn wir unsre Hündlein davor stechen Hessen?
Nach dem ich des Bettelmanns so lang und breit Erwähnung
gethan, ists wohl nicht schicklich einen Gruss au die Ihrigen
nachtreten zu lassen? — Doch die Hündlein springen ja oft vor
den Menschen voran; auch essen sie von den Brosamen, die von
ihrer Herren Tische fallen. Adiol B.
Nr. 234 vom 18. April, womit Goeckingk ein fertiges
Trauerspiel übersandte, kreuzte sich mit dem Zettel 15 und
erst im 16. Brief bestätigte Bürger dessen Empfang.
15. Bürger an Goeckingk.
Wöllraershausen d. 22. April 1776.
0 liebster Goeckingk, wäre doch Euer Lied an mich**^) erst
gedruckt! Nun der schöne Frühling herbey kömmt, wallfahrtet
alles was Beine in Göttingen hat, das Wunderthier in Wöllraers-
hausen zu begaffen. 0 was das ein Jahrmarktsfest von Plunders-
weilern jezt um mich her isti Das Volk kömmt nicht einen oder
zwey, sondern gleich sechs, acht, zehn Mann hoch, und meinet
ich sei gar höchlich ob der Ehre erfreut. Wenn das nicht bald
ein Ende nimmt, so muss ich wirklich das Liedlein ins nächste
beste Journal drucken lassen. ~
Wann krieg' ich die Gesänge von Adlerkannt? —
Meinen herzlichen Gruss an alle die Ihrigen von Ihrem
GAB.
Apropos !
In meiner neuen grossen Romanze ist unter andern diese
herrliche Strophe:
") An Bürger, in Wöllinershaiisen. Göfciinger Musenalmanach ll???
S. 188, von Bürger auch in die Sammlung seiner Gedichte aufge-
nommen.
Bauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 83
Lenardo spricht:
Wohl schwellen die Wasser, wohl hebet sich Wind;
Doch Winde verwehen, doch Wasser verrinnt!
Wie Wind und wie Wasser ist weiblicher Sinn;
So wehet, so rinnet dein Lieben dahin.
Diese Strophe lesen Sie Frau Sopheychen, die folgende aber
behalten Sie für sich.
Die Prinzessin Blandine antwortet:
Wie Wasser und Wind sey mein liebender Sinn.
Wohl wehen die Winde, wohl Wasser rinnt hin;
Doch alle verwehn und verrinnen ja nicht:
So ewig mein quillendes Lieben auch nicht.
Meine Weibsen hier rümpfen über die erste Strophe die
Nasen bis an die Stirne hinauf. Die zweyte aber restituirt ihre
Nasen wieder in integrum.
Vale!
16. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen d. 29. April 1776.
Vorläufig, mein liebster G., sey nur hiermit kund und zu
wissen, dass ich Ihr Trauerspiel erhalten und mit Heisshunger in
den ersten Stunden gleich flüchtig durchgelesen habe. Es wird
aber nun noch zwey oder dreymal dran müssen, und dann dürft*
es wohl so gut, wie das erste mal nicht wieder wegkommen.
Dies sag' ich euch im voraus, Freund, um Euer Herz gegen die
Trübsale der künftigen Kritik vorzubereiten und zu wapnen.
Darauf könnt Ihr euch dem Teufel ergeben, dass ich, so viel nur
an mir ist, Euch das Leben sauer machen werde. Einmal, aus
Freundschaft, um euren jungen Bären desto blanker zu lecken,
zum zweyten aber aus Scheelsucht und Neid, weil Ihr euch er-
frechet habet, ein Drama wirklich zu Stande zu bringen, welches
ich, troz allen Aus- und Anläufen, die ich genommen, noch nicht
gekonnt habe. Aber nun bin ich grimmig und kraushärig ge-
worden; Gebt Acht, was sich nächstens ereignen wird. Erst
will ich aber versuchen, ob ich nicht eurem kleinen Balge die
Gurgel in der Bade Molle zudrücken kann. Geht das aber nicht;
und das Kindlein wird getauft und nimmt zu, an Alter, Gnade
und Weisheit, bey Gott und den Menschen, nun, so will ich ab-
solut auch taufen lassen. — ^
Ein Weilchen müssen Sie nur noch Gedult haben und Ihr
Trauerspiel mir lassen. Mich verhindern gegenwärtig gar viel
Amts Plackscheissereyen, mich mit den Musen abzugeben.
Sehen Sie zu, mein liebster, dass Sies möglich machen bald
einmal herüber zu huschen. Ich habe zwar kein eigen Reitpferd
bis Duderstadt entgegen zu schicken; aber wenn ich einige Tage
vorher die Zeit ihrer Ankunft in Duderstadt wüste, so Hesse sich
ja wohl sonst wo in der Nachbarschafft eins auf treiben. —
6*
84 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Adio! Meine und meiner Frauen schönste Grilsse an Euch
ins gesamt. Ich glaube, meine Frau schriebe herzlich gern ein-
mal an Frau Sopheychen, aber sie hat so unbändigen Respect
vor Frau Sopheychens Geist der Weisheit, dass ihr vor Angst
die Zunge am Gaumen kleben bleibt, wenn sie ein Wörtchen
gegen sie vorbringen will. Ich will nur den Spass einmal an-
sehn, wenn die beyden Leutlein persönlich zusammen kommen!
Apropos! Dass Euch nur der Teufel nicht einmal reitet, es
wie der Kriegesrath mit Nettchen zu machen. GAB.
An demselben Tage, 29. April, überschickte Goeckingk
mit Nr. 239 einen prosaischen Beitrag für das Deutsche
Museum. Bürger antwortete erst einen Monat später:
17. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen d. 29. May 1776.
Lassen Sie sich, mein liebster, die Zeit nicht lang werden,
ehe ich Ihnen ausführlich über Ihre Producte schreibe. Denn da
ich in diesem und dem folgenden Monath ein Paar hundert Va-
sallen zu investiren habe, so schwindelt mir von aller Arbeit der
Kopf dergestalt, dass ich schier nicht weiss, ob ich einen Kopf
habe, oder nicht. Einen poetischen wenigstens hab ich gewiss
und wahrhaftig nicht.
Beyläuüg muss ich Ihnen doch sagen wie infam es mir geht. Vor
einigen Tagen bekomme ich einen Brief vom Consistorial Rath
Schäfer in Halberstadt, worin er mir ein Anlehn von 2000 rlh. auf
künftige Johannis zu sagt ; und ich — was denken Sie — hab es
ihm wieder abschreiben müssen. Da hat der Teufel einen vi-
lainen Pfaffen — einen Galchas nach allen Praedicaten — in
meine Familie geführt und denselben Titulo eines Schwagers und
ehelichen Curators für seine Frau eingesezt, welcher wegen
nichtswürdiger Praetensionen an einer meiner Schwestern das
TheilungsgeschäfTt unsers Immobiliar Vermögens, wider mein Ver-
mutheu, bis hieher aufgehalten hat, und es noch, Gott weiss wie
lange? aufhalten wird. Bevor aber die Theilung nicht zu Staude
ist, kann ich keine bestimmte Hypothec für das Anlehn sezen.
Ich mag daher schier gar nicht an unser Project denken,
wenn ich mich nicht avw %at xorcü entschütten will. — —
Übrigens leb wohl, mein Vielgeliebter, und grüss Dein Weib-
chen, samt Malchen und Deiner Fr. Schwiegerma[ma], wenn Sie
anders nicht schon dorthingereist ist, wohin keine Posten gehn,
mithin auch keine Grüsse spedirt werden können. Raptim !
GAB.
Anfang Juni betrieb Goeckingk auf einer Reise nach
Halberstadt und Grüningen abermals sein und seines Freun-
des Lieblingsproject ; am 16. Mai gab er diesem über seine
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk. 85
Erfolge Nachricht, Nr. 246. Am 18. Juni würde ihm ein
Sohn geboren ; zwei Tage später, in Nr. 248, meldet er dies
nach Wöllmershausen und bittet Bürger für den 23. 'zum
christlichen Taufzeugen' des neuen Söhnleins; aber der
Brief verspätet sich ; Bürger entschuldigt sein Nichterscheinen
am 26. Juni in dem sonst belanglosen, halb humoristischen
Gratulationsbriefe 18. Goeckingk berichtet in Nr. 250 über
den solennen Taufactus und dringt auf Beiträge zum Musen-
almanach, deren Ausbleiben Bürger am 13. Juli in der
nach dem Concepte gedruckten Antwort (Strodtraann Nr.
253) durch brennende Amtsgeschäfte motivirt. Zugleich
legt er Goeckingk einen Plan für die VeröflFentlichung
seiner Homerübersetzung vor, der das Buchhändlerproject
durchkreuzt, dem aber Goeckingk in Nr. 257 (26. Juli) bei-
stimmt, da er seine eigenen Gedichte gleichfalls schneller
gedruckt sehen wollte. An demselben Tage Abends lässt
Goeckingk Nr. 258 mit dem Bericht über Dohms Besuch
nachfolgen, dem er Andeutungen über das Buchhändler-
project gemacht habe. Beide Briefe beantwortet Bürger am
5. August. Er kündigt zuerst seinen, Sophiens Krankheit
wegen aufgeschobenen, Besuch als bevorstehend an und
fahrt dann fort:
19. Bürger an Goeckingk.
Für Euer Responsum pto. Homers danken wir von Herzen.
Es hat mich veranlasset, tiefer in den Weygandschen Plan ein
zu dringen, dergestalt dass, wenn ich auch mit ihm zu stände
kommen sollte, er mich doch nicht so gar gewaltig übers Ohr
hauen soll. Noch hab ich ihm nicht geantwortet. Die kostbare
Ausgabe bin ich nunmehro fast völlig entschlossen fahren zu lassen.
Denn wahrscheinlicher ist dabey Verlust als Gewinn. Bios das
Augenmerk auf unser Project ist Schuld, dass ich mit dem Homer
eile. Denn ich sollte doch denken, dass in der jezigen Gon-
junctur (die ich auch nicht gern ungenuzt durch Verzug vorbey-
streichen lassen möchte) über 1/m rthr. sich dabey gewinnen lassen
müssen. Welche gute Dienste können uns die bey dem Institut
thuni Wenn diese Umstände nicht wären, oder wenn ich nur
mit meiner Erbvertheilung geschwinder zu Stande kommen und
Geld negotiiren könnte, so müste mich der Teufel plagen, wenn
ich einen solchen Artikel dem Institut entzöge, womit dies nicht
nur sehr gut anfangen, sondern auch ich ohnstreitig vielmehr ge-
winnen könnte. Mein einer hundsvöttischer Schwager wickelt
sich in die Schelmhaut und verzögert von einer Zeit zur andern
86 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
wegen der Erbvertheilung der Immobilien seine positive Erklährung.
Noch in einem heutigen Schreiben hab ich mit Gewalt darauf
gedrungen. So bald ich diese Erklährung habe, sie falle aus wie
sie wolle, so soll bald reine Sache werden. Ein mit allen So-
lennitäten durchgeseztes Judicium familiae exciscundae sollte bald
Ende machen, wenn er sich auch nicht gütlich zum Ziel legte.
Ich kann Euch den Zusammenhang meiner Erbangelegenheit ohn-
möglich schrifTtlich detailliren. Das ist mit eine Ursache warum
ich Euch mündlich sprechen muss. Ist die Vertheilung zu Stande,
so versichere ich, dass ich in kurzem 2 bis 3/m rth. ohne
Schwierigkeit anschaffen kann, bis dahin aber sind mir die Hände
auf die infamste Art gebunden. Vom Consistorial Rath Schäfer
in Halberstadt hätt^ ich schon verwichene Johannis 2/m rth. haben
können, wenn jene Umstände nicht wären.
Ich habe nicht das geringste dawider, Freund, wenn Sie die
Lieder zweyer Liebenden auch vorher lossschlagen wollen.
Denn was einem Recht ist, das ist dem andern billig. Ich hoffe
demohngeachtet nicht, dass es dem Institut an Artikeln fehlen
soll. Ach! Gott, wie schwehr liegt mir das am Herzen. Das
verfluchte Geld! Hätten Sie so viel auf der Fahrt, um wenig-
stens den Anfang zu machen, so kann ich so viel versichern, dass
ich allemal im Stande bin Ihnen die Stange zu halten, aber das
kann ich noch nicht bestimmen, wenn ehe ich haar aufzählen
kann. Doch von allen diesem baldiges mündliches Detail.
Ihre Instruction, mein lieber, wegen Dohm kam um eine
Stunde zu späth. Kurz und gut, Dohm weiss nunmehro fast den
ganzen Handel. Der Teufel mochte das riechen, dass Ihr von
dem Institut als wie in tertia persona mit ihm geredet hattet.
Ich hielt lange genug erst hinter dem Berge; aber da Dohm der-
gestalt au fait war und Bescheid wusste, ja nicht anders von der
Sache sprach, als ob ihm gar nicht anders wissend wäre, als
dass wir zwey beyde die Entrepreneurs von dem Institut wären,
so könnt* ich nicht anders denken, als dass Ihr ihm die Haupt-
sache entdeckt hättet. Ich legte daher meine geheimnisvolle
Miene auch ab und dies um so mehr, weil mir Dohm, so viel
ich ihn kenne, der ehrlichste treuherzigste Mensch von der Welt
scheint. Er hat so grosse Freude an der Sache, dass er die
gröste Lust hat mit 1/m rth. beyzutreten. Seine Aussicht nach
Kiel hindert ihn freylich einigermassen hieran, aber er scheint noch
zu wanken. Vielleicht wird aus Kiel nichts. Dohm schlug zur
Vergrösserung der Entreprise einen Actienhandel vor. Der Ein-
fall wäre nicht übel, wenn er nur nicht das Institut mit seinen
Vortheilen aus unsem Händen heraus in die Hände der Landes-
Regierung spielte. Denn die müste doch bey einem Actienhandel
wahrscheinlich die Garantie leisten. Wir wären hernach aufs
höchste nichts weiter als OfBciales. Es ärgert mich indessen doch,
dass ich mit Dohm solchergestalt angelaufen bin, wiewohl ich
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. g7
Dohm nicht zutraue, dass er aus Bosheit oder Unvorsichtigkeit
uns zu schaden föhig sey. Vielmehr mags vielleicht gut seyn,
das Urtheil eines gescheidten Kopfs mehr vor der Ausfuhrung zu
vernehmen. Ich dächte v^ir läsen nunmehro nur den ganzen
Plan Dohm einmal in Extenso vor. Er hat mir versprochen, von
einem und andern Puncte zuverlässige Erkundigung einzuziehen.
Er hat mir aber auch mit Hand und Mund versprechen müssen,
die Sache geheim zu halten.
Euren Beytrag zu einem deutschen Wörterbuch hab ich
Dohm nicht gegeben. Denn rund heraus, es gefällt mir nicht
recht und scheint weit unter den Kräfften Eures Genies zu seyn.
In ein westphaiingsches Wochenblatt ohne Euren Nahmen ists
.freylich gut genug. Aber für das grössere allgemeinere Publikum
könnt Ihr, das bin ich überzeugt, bessere Sachen machen. Noch
einmal derb und rund heraus gesagt, es kömmt mir zu trivial
vor und scheint mir gar zu sehr den Ton der vergessenen
Wochenschrififten, des Menschen des Glückseeligen, u. s. w.
zu haben. Der unbedeutendste Eurer Briefe an mich, ist mir
mehr wehrt, als der ganze Beytrag. Wie blind doch manchmal
auch der beste hellste Kopf gegen seine Producte seyn kann!
Sagt mir einmal um Gottes willen, Goeckingk, wie Ihr, ein Kerl
von so viel wit and humöur, so einen Scheissdreck für was halten
könnt! Gelt! so hats Euch wohl noch keiner gesagt? Bey
meiner armen Seele! ich selbst hab* es noch nie einem so derb
gesagt und würd* es auch seh wehrlich einem andern als Euch so
sagen. Denn das beste ist, dass Ihr nicht böse werden dürft,
so grosse Lust Ihr auch haben möchtet, weil Ihr wohl wisst, aus
was für Herzen mein Tadel kömmt. Eine Rache nur steht euch
frey; und die mögt Ihr bey der ersten der besten Gelegenheit
nach Herzenslust nehmen. Machts mir wieder so, wenn Ihr
glaubt, dass ichs verdiene. Dohm hab ich damit abgefertigt, dass
ich das Manuskript verlegt hätte. Wollt Ihrs nun doch noch ins
Museum drucken lassen, so thuts in des Teufels Nahmen. Dixi
et servavi animam. Mein Herz und Gewissen sind nun frey.
Von Eurem Trauerspiel sag ich noch nichts. Davon sollt
Ihr, Geliebts Gott! meine Meinimg mündlich hören. Wapnet Euch
nur immer im Voraus mit dem Krebs ^^) der Gedult und Stand-
haftigkeit. Denn so viel herrliches auch dran ist, so soll mich
solches doch nicht abhalten, das tadelnswürdige (was nehmlich
■ich — freylich nur ein homuncio — dafür erkenne) aus allen
meinen Leibes- und Geistes-Kräfften zu geissein.
Mich soll doch ^vundern, Herr, wie Er sich bey diesen Trüb-
salen anstellen wird. Wenn Er, wie es mir schon öfters gegangen
ist, auch böse wird, so soll es bey Gott! das lezte mal seyn, dass
ich meines Freundes Producte getadelt habe. Denn warum sollt'
") Anspielung an Ephes. 6, 14.
88 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
ich alsdenn meinen Freund , den ich lieb habe, nicht lieber ein
mittelmässiges Werk ruhig in die Welt senden lassen, als riskiren
ihn kaltsinnig oder mir gar abwendig zu machen. Weh mag
euch der Tadel immer thun. Das verzeyh ich Eurem väterlichen
Geföhl. Erstunken und erlogen war* es, wenn Ihr sagen wolltet,
Ihr freutet Euch über meine Aushunzungen. Aber das will ich
Euch glauben, wenn Ihr mich nächstens hören lasset: Bfirger,
Du bist recht infam und bestialisch mit meinen Kin-
dern umgegangen, aber gute Freunde bleiben wir
übrigens doch.
Wie stehts mit Eurem Almanach? Ich höre, dass ihr schon
weit avancirt seyd. Ich möchte doch gar zu gern meine Noth-
durft noch auch drein verrichten. Aber bis hieher weiss Gott!
ists mir unmöglich gewesen. Auf die Emdteferien sez ich noch
immer meine Hofnung. Sagt mir doch wie lange ich noch Zeit
habe, und eilt nicht zu sehr. Ich habe verschiedenes noch auf
der Fürth i*^).
Besonders möcht ich Euer Lied an mich noch gern beant-
worten. Das ist mir doch noch ein Lied! Je öfters ichs lese,
je mehr geföllt mirs. Neulich lass ichs hier einem Ehrn Pastor
vor und er lachte so, dass ihm die Perükke vom Kopfe fiel und
beyde Augen vor dem Kopfe lagen. Jede Zeile ist mehr welirt,
als zehn Eurer Bey träge. Nun genug für heute! . . .
Goeckingk nimmt die derbe Lection ruhig hin (Nr. 259,
12. August) und verabredet näheres wegen Bürgers Besuch,
der aber, wie aus Bürgers Antwort ersichtlich ist, bb in
den September verschoben werden musste.
20. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen, d. 22. August 1776.
Gott grüsse!
Wenn ich denn also kommen darf, so hör Er mal! In
diesem Monath gehts noch nicht, wegen meiner Plackereyen. Aber
zu Anfang des Künftigen komm ich entweder auf den 5ten oder
6ten, oder auf den 12ten oder 13ten oder — ganz und gar nicht.
Es wäre denn dass ich anderweiten Avis ertheilte.
Für die Aimanachs Bogen soll Er schönen grossen Dank
haben. Seine Sachen^') haben mir köstlich gefallen. Ist das
Junkernlied nicht auch von Ihm? Das ist ein allerliebstes Lied.
>*) Oder: Farth? vgl. in Absatz 2 des Briefes 19: auf der Fahrt.
^*) Auf den ersten 6 Bogen des Göttinger Musenalmanachs auf
1777 befinden sich von Goeckingk unter seinem Namen: Die Parforce
Jagd; Klagelied eines Schiffbrüchigen über den Tod seines Hundes;
Wiegenlied för die süssen Herrn; An Herrn *^ einen jungen Dichter;
femer Junker Franz, mit — tt — unterzeichnet.
Saaer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 89
Bör Er mal, mein liebster Goeckingk, bey der übrigen Excellenz
seiner Episteln chockirts mich doch immer, dass die männlichen
•und weiblichen [Reime] nicht äberall gehörig gemischt sind und
abwechseln. Ich kann das nicht vertragen. Kann oder will Er
sich denn das gar nicht abgewöhnen? Er versificirt ja sonst so
allerliebst und leicht. Ich beneid ihn um den Geist seiner Episteln.
So was kann ich nicht zu Markte bringen. Übrigens hat die
komische Erzählung **) viel Laune, Wiz und Satyre. Der Kerl, der
das von Schwerlern etc. ^*) gemacht hat, ist fürwahr auch ein
brav Kerl. Übrigens hab ich auch die Ehre Ihn durch die Blume
zu versichern, dass in den überschickten 5 Bogen schon mancher
Scheissdreck steht, poch — Ein Schelm giebts besser, als ers
hat. Ich kanns Ihm ohne Heucheley sagen — Er weiss wohl,
dass ich Ihm nicht heuchle — dass Seine Arbeit diesmal wohl
bey dem ganzen Almanach das Beste seyn wird.
Um meinen guten Willen zu bezeugen, so schick ich hier
im Voraus 1) ein Hocuspocus zur Antwort**), das Er nach Be-
lieben feilen und ändern mag denn so was glückt Ihm sicherlich
besser wie mir. 2) Ein Liedlein, meiner Schöne zu Ehren, an
ihrem Geburtstage ganz leise gesungen. *'^) Meine Frau würde
mich bas kuranzen, wenn sie alles wüste, was wir zwey und
noch zwey wissen. Damit kein Argwohn entstünde, so sollte
wohl gut seyn die Jahrzahl 1770 drauf zu sezen, wie wohl auch
das wieder bey andern Leuten Nachdenken erwecken würde, die
wohl wissen, dass wir ao. 1770 solche Lieder noch nicht machen
konnten. Mach Ers, wie Er will! Wenns angehn will, so bring
ich noch einige Stücklein für den Almanach mit. Ich hab eins
sonderlich noch in der Mache, das Timons Monolog*®) heissen
soll, und, wie ich hoffe, ein weidliches Stück werden wird. Noch
einsl Boie hat, ganz wider meinen Willen, zwey kleine Stücke,
die ich eigentlich für irgend einen Almanach bestimmt hatte, ins
Musäum drucken lassen. Sie heissen: Schön Susschen und
Der Hund aus der Pfennigschenke. Von tausend Almanachs-
lesern, lesen neunhundert das Museum nicht und so umgekehrt.
Nehm Er doch die mit in den Almanach, nisi quid obstat. Muss
denn gerade lauter ungedrucktes in die Almanache jezt kommen?
Olim non erat sie.
**) 'Jupiters Reise auf die Erde' S. 35 unterzeichnet G. H., nach
Redlich vielleicht von C. F. Hindenburg.
^*) Etwas von Schwerdtem und Schwerdtern von Hauern und
Hanern S. 27 unterzeichnet L. J. C. J., von unbekanntem Verfasser.
") 'Antwort an Göckingk' S. 191.
") 'Das Mädel das ich meine' S. 184. Mollys Geburtstag fiel auf
den 24. Angnst.
») VgL Strodtmann 1, 231 f. 266 ; 2, 265.
90 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Gbeckingk.
Im T. Merkur wird nächstens was recht gelahrtes von mir
erscheinen. *•)
Adio ! Grüss Er Seine Weiber von mir Und meinen Weibern.
B. .
Zwischen Goeckingks Briefe Nr. 262 (1. September)
und Nr. 266 (30. September) fallt oflPenbar Bürgers Besuch
in Ellrich. Der letztere Brief wurde von zwei Damen über-
bracht. Bürger hatte den Freund selbst erwartet.
21. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen d. 2. October 1776.
Ey I Hol Ihn auch Dieser und Jener, Herr Gevatter ! Einem
die Freude so zu verderben und aus zu bleiben! Wozu ist nun
all das Mastvieh geschlachtet? Wozu sind Hasen und Feldhühner
geschossen und Lerchen gefangen? Wozu der Pflaumenkuchen
gebacken? Wozu das ganze Haus geschmückt und mit Besemen
gefegt? Und achl die Spinnen aus ihren friedsaraen Winkeln
vertrieben? — So gut wirds Ihm wahrhaftig in seinem Leben
nicht wieder geboten und wenn Er noch hundert mal herkäme.
Ich sprang, wie unsinnig, hinaus auf die Heerstrasse, wo mir an-
gesagt wurde, dass ein Wagen von Ellrich hielt. Aber nichts,
als ein kleiner winziger Brief, statt des Herrn Gevatters! Die
beyden Damen bat ich zwar instanter, instantius — aber nicht
instantissime — auszusteigen und erst das Mittagsbrod bey mir
zu essen. Aber — wars Ernst oder Ziererey? — sie verbatens,
weil sie nach Göttingen eilen müsten. In Grunde wars mir lieb,
dass sie nicht ausstiegen, weil ich allerley übele humores über
Euer Satanisches Ausbleiben in mir sich regen fühlte. Ich bin
auch nun diesen ganzen Tag Brumbär. Pfui! Den schönen
heitern Tag einem so zu verderben! Wir hätten uns hinten auf
meiner Wiese so hübsch wälzen und für Freude schreyen können.
Bettelmann ist nun auch umsonst gewaschen und gekämmet.
Neh, Herr Gevatter, so gut wirds Ihm nun und nimmer mehr
wieder.
Künftigen Montag wollen die Damen mit dem absolvirenden
Herrn Sohn wieder hier durchkommen und zum Mittagsbrod ab-
treten.
Unser Brief an Diederich ist abgegangen, aber Antwort hab
ich noch nicht wieder. Doch glaub ich das Diederich anbeissen
wird, weil er mir mündlich hat sagen lassen, wenns mir irgend
möglich w^äre, so möcht ich doch diese Woche hinein kommen,
indem er was sehr angelegentliches mit mir abzureden hätte.
Gott seegne uns die 104 Ducaten!
") ^Bürger an einen Freund über seine tentsche Ilias' Teutscher
Merkur, October 1776 S. 46 S,
Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 91
Adlest Meine Frau grüst Euer ganzes Haus, Euch aber
ausgeschlossen, weil Ihr alle ihre stattlichen Zubereitungen ver-
eitelt habet. Ich küsse Euch — Nein! Euch will ich dies mal
auch nicht küssen — ich küsse als bloss Euer Weiblein und den
kleinen Enkühhhlihh. Brg.
Goeckingks humoristische Antwort vom 13. October 1776
Nr. 268 erwähnt bereits Vossens Vorschlag zur Vereinigung
der beiden Musenalmanache, auf den sich der Schluss des
folgenden Briefes bezieht:
22. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen d. 7. November 1776.
Lieber Bruder in dem Herrn,
Gleichwie die Auserwählten mancherley erdulden müssen, also
kommen auch uns von Gottes Gnaden jezt verschiedene poetische
Trübsale zu Hause und zu Hofe. Dir, Freund, sey es zugeheult
und Du wirst Dich nicht entbrechen können, samt Spadillen herz-
liches Beyleid zurück zu heulen.
Erstlich hat ein gewisser Schuster Daniel Seuberlich zu
Rizmück an der Elbe — welcher aber eigentlich der wohl
fürwizige SpassVogel unter der Stechbahn an der Spree ist —
eynen kleynen feynen Almanach voll Volkslieder herausgegeben
und sich erfrechet, in der Vorrede uns hier und da verblümter
weise mit seiner Pfrieme zu pricken. Der Herr wird ja das Al-
manächle wohl schon gesehn haben. Sonst wollt ichs Ihm
schicken. Herr Ursinus in Berlin schickte mir ihn zu, ehe er
noch ausgegeben wurde, um desto geschwinder Verfügungen
drauf machen zu können. Aber unsre Maxime ist bey der
gleichen Verfügungen: festina lente.
Das zweyte Trübsal ist : Ein grober ungeschliffner Schweizer
hat in einem neulich herausgekommenen Büchlein: Beyträge in
das Archiv des deutschen Parnasses, unsern Homer gar
unziemlich empfangen und bewillkommt. Doch da mann die
Dummheit dieses Knollen gleich aus den Pröbchen seines Tadels
sichtbarlich abnehmen kann, so ist leicht Trost dagegen zu
schöpfen.
Das dritte Trübsal ist das ärgste und ich muss bekennen,
dass es alle KräfTte meines Geistes in Aufruhr zur Gegenwehr ge-
bracht hat. Denkt, Freund, vor wenigen Tagen erfahre ich, dass
der Graf Friedr. Leop. v. Stollherg sich erkühnet, in dem kom-
menden Novemberstück des Museums eine Übersezung der Ilias
in Hexametern anzukündigen und das XXte Buch zur Probe zu
geben, welches ich zwar noch nicht gesehen, aber doch mir ge-
rühmt worden ist. Das Unternehmen soll Klopstock, welcher
glaubt, dass ausser Hexametern gar keine Seeligkeit in der ganzen
teutschen Poeterey zu hoffen sey, zum Urheber haben. Aber sagt
92 Sauer, Aus dem Briefwecheel zwischen Bürger und Goeckingk.
mir einmal, Freund, unpartheyisch: Ob das Recht von Stollberg,
der mein Freund war, gethan sey, gcsezt er wäre mit meiner
Übersezung auch nicht zufrieden gewesen ? Ich wenigstens hält
es nicht gethan, wenn ich Stollberg und er Bürger gewesen wäre.
Doch dem sey, wie ihm wolle, ich habe einen Strauss beschlossen,
in welchem einer von uns beyden das Leben lassen soll. Wie
gefällt Euch die vorläufige ßravade^^), die ich ins nächste Stück
des Museums rücken lassen will? Hier ist sie abschrifftlich. Ich
werde mit dem XXten Buch neben ihn treten. Und seine Arbeit
bis auf das kleinste Spreustäubchen sichten. —
Vossen ist gar sehr an einer Verbrüderung der Almanache
gelegen, wie beykommende Briefe von ihm undBoien^^), die ich
aber sub üde silentii Euch communicire und zurück haben muss,
des breitern besagen.
Wenn Voss schreibt, dass er bereits durch Boien wisse, wie
ich Ihnen den Vorschlag zur Vereinigung gethan hätte, so hat
ihm Boie was vorgelogen, wie es mir denn auch noch nie in den
Sinn gekommen ist, zum Frommen dieser Mariage zu arbeiten.
Was Ihr nun thun könnt und wollt, das — steht bey Euch,
Freund. Die Almanache, an und für sich selbst, sind mir gleich
lieb, wie wohl der Herausgeber des Göltinger mir von Gott und
Rechtswegen lieber und wehrter ist. Thut was Ihr wollt; es
wird wohl gethan seyn, weil Euch ja der Himmel schon lange
Euer majorennes verständiges Alter beschreiten lassen. —
Diederich müste wohl ein bischen gezwiebelt werden, weil er uns
die 104 Ducaten vor erst zu Wasser macht. Er hat mir jezt
Vorschläge wegen meines Homer gethan. Ich denke aber, wenn
er vom dritten Trübsal Wind kriegt, wird seine Dummheit die
Seegel wohl einziehn.
Adio! Viel schöne Grüsse an Euer Weib und junge Brut
von uns und unsrer jungen Brut! B.
Goeckingk legte seinem Antwortbriefe (Nr. 279, 1 5. No-
vember) Vossens oben erwähnten Brief bei; ich rücke ihn
zur Erklärung des folgenden aus dem v. Goeckingkschen
Nachlasse hier ein:
Voss an Goeckingk.
Wandsbeck, den 4. October 1776.
Mein lieber Göckingk,
Ich schicke Ihnen hier meinen neuen Almanach, und danke
noch einmal für den Antheil, den Sie daran haben.
'<») 'An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg' Deutuches Museum,
December 1776 S. 1062.
«») Strodtmann Nr. 270 und 272.
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 93
Ihren habe ich gestern in Hamburg gesehn, und mich so
über Ihre, Nantchens, Bürgers, Pfeffels, Gieims und einige andre
Gedichte gefreut, dass ich darüber vergass, in welchem Almanach
sie stunden. Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrer Denkungsart,
und zu dem edlen Weibe, das so mit Ihnen denkt und empfindet.
Was gäbe ich darum, einmal ein Zeuge der Wonne zu seyn, die
Ihnen die Liebe einer solchen Engelseele schafTt!
Ein Mann, der selbst so edel denkt, wird seinen unbekannten
Freund nicht durch den Argwohn beleidigen, dass diess eine Vor-
rede zu dem folgenden seyn soll. Ich bin lange unschlüssig
gewesen, ob ichs Ihnen antragen dürfte; Klopstock hat mich
gestern völlig bestimmt, es ohne Umweg zu thun. Sie sammeln
Dieterichs Almanach, wie Sie sagen, bloss aus Liebe zu den
schönen Wissenschaften, und sehn weder auf Erwerb, noch auf
die armselige Ehre, Herausgeber eines Kalenders zu seyn. Als
Sie die Sammlung übernahmen, wussten Sie nichts von meinen
Ansprüchen auf den Almanach, und wie sehr ichs brauchte,
meine Ansprüche zu behaupten. Besondere Verpflichtungen hatten
Sie Dietrichen gar nicht; und welche hätten Sie haben können,
ihm zur Unterdrückung eines Fremden, der sein Recht behauptete,
die Hand zu bieten? Es war also der Vorsaz, den guten Ge-
schmack ausbreiten zu helfen. Aber, mein lieber HGrr Göckingk,
wenn Sie sich in dem Mittel hiezu geirrt hätten? Ich gestehe
Ihnen aufrichtig, dass mirs bey der Hülfe so vieler Dichter, die
ihren Ruhm verdienen, sauer wird, jährlich eine Sammlung zu
liefern, die ich mit gutem Gewissen in die Welt schicken kann;
und Sie werden nicht leugnen, dass es Ihnen bey weniger Hülfe
noch saurer werden muss. Sie sind unrecht, wenn Sie glauben,
dass ich nur für die Gelehrten oder für das verfeinerte Publikum
sammle; diess wäre wider die Absicht eines Taschenbuchs, viel-
leicht gar wider die eines guten Gedichts. Wir hindern uns also
offenbar einander; denn beyde Almanache zu kaufen, ist die
Sache von wenigen, und so bleiben unsern Lesern, entweder in
Ihrem oder in meinem, Gedichte unbekannt, die eine sehr gute
Wirkung auf ihr Herz und ihren Geschmack würden gehabt
haben. Warum vereinigen Sie sich nicht mit mir, und sezen
mich dadurch in den Stand, unsern Mädchen und Jünglingen den
Kern unsrer Poesie ohne Schal' und Hülse, die nur zur Auf-
häufung der Schüssel da sind, vorzusezen?
Ich habe Ihnen noch mehr anzuführen, das, wie ich hoffe,
Ihr Herz näher angehn wird. Der Almanach ist mein Hab und
Gut. Meine Gesundheit lässt mir zu wenig Ämtern Aussicht.
Ich habe bey dem Selbstverlage so verloren, dass ich fast das
ganze Honorarium für den diessjährigen Almanach (400 rtl. Ld.)
habe zusezen müssen, und jezt von dem lebe, was ich kümmer-
lich aus dem Schifbruche retten kann. Und, Göckingk! Nant-
chens Geliebter! — ich habe ein Mädchen, das ich auf diese
94 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
400 rtl. nehmen könnte, wenn Sie sie mir nicht unsicher machten.
Es ist Boies Schwester, und verdient, Nantchens Freundm zu seyn.
Wenn Sies überlegen, wirds Ihnen unmöglich seyn, einem
Manne länger beyzustehn, der sich alle Mittel erlaubt, mir zu
schaden. Ihr Wort, das Sie in der kleinen Nachricht hinterm
Almanach geben, kunflig die und die Gedichte zu drucken, kann
Sie nicht hindern; denn wie viele Verhindrungen Hessen sich
nicht anführen, und wahre?
Antworten Sie mir bald (abzugeben bey D. Mumsen auf dem
neuen Wall in Hamburg) und halten Sie meinen Brief, Dietrichs
halben, geheim.
Meinen Gruss an die liebe Sängerin von Ihrem ergebensten
Voss.
23. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen d. 21. November 1776.
Dank, für Euren Trostbrief! Der Himmel vergelt ihn Euch
in allen Euren geist- und leiblichen sonderlich in den poetischen
Nöthen und Trübsalen, welchen leztern noch kein Musensobn
vom Homer an, bis herab auf den Versemann, dem Ihr 2 ggr.
Honorarium für seine Beyträge zum Musen Almanach zuschicktet,
entgangen ist. — Den Schwizer will ich laufen lassen, den Grafen
aber bas zerbläuen und dem Spassvogel unter der Stechbahn die
bunten Höschen herunterziehen und mit zarten Rüthlein ihm den
wollüstigen Ars ein wenig marmeliren.
Der Brief des armen Schluckers Voss hat mich schier
jammrig gemacht. Es mag wohl seyn ein elend jämmerlich Ding
um einen armen Musensohn, der da ist verliebt, wie ein März
Kater, gern heurathen wollt und künnt doch nicht. Doch hab
ich lachen müssen, dass er sich einbildet, er habe in Puncto
Nantchens Euch bey dem weichsten Fleckchen gepackt. — Nant-
chens Geliebter! — Dortchens Geliebter! — Grossendank I Mit
den Emphasen ists vorbey. Das Argumentum paupertatis wird
Euch, wie mich, wohl mehr gerührt haben. Denn er ist wirklich
arm, wie eine Kirchenmaus und kränklich noch dazu. Schon in
Göttingen hatl* er verschiedene male das Blutspeyen. Wahrschein-
lich geht er auch in Kurzem den Weg alles Hölty'schen Fleisches.
Wenn Euch also sonst nichts abhält, als das Dietrichsche Hono-
rarium, welches ja ohnehin Euren Kohl um nichts fetter macht,
so thut ein Werk der Barmherzigkeit, wie wohl es vielleicht
gründlichere und nüzlichere Barmherzigkeit wäre, dem Heuraths-
kizel bey einem ehrlichen Kerl zu steuern. Habs aber doch mein
Seel! in meinem Leben nicht toller gehört, als auf einen Musen-
kalender ein Weib zu nehmen. Es ist ja doch kein Galendarium
perpetuum. Die Zeitläufe sind manchmal wunderlich und ab-
sunderlich. Es kann totaler poetischer Miswachs kommen. Wie
leicht wird auch ein Kontribuent disgustirt. Dem folgt ein andrer
Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 95
dem ein dritter und dem der ganze Tross nach. O wie viel
sichrer ists dagegen, Domherr oder Kanonikus zu seyn!
Wenn Ihr Voss Eure Hand gebt, so könnt Ihr ja leicht eben
so viel Honorarium Euch stipuliren lassen, als Ihr von Dieterich
deductis dedacendis erübrigt. Allenfalls tretet vorerst nur mit
ihm in ein Konkubinat. Denn das: sich nicht scheiden, es
sey denn, dass der Tod scheide; ist so was. — — —
Hört einmall Sollte sich denn dem Musen Almanach nicht
ein andres Institut substituiren lassen? Etwa ein Märchen- oder
sonst ein Schnurren Almanach. Last uns mal wieder im ganzen
Ernst auf ein 104 Ducaten Project denken. — —
Ey! lyrische Blumentese hin! lyrische Blumenlese her! In
unsern Gärten wachsen keine Blümlcin mehr, sondern lauter
Gedern. Es wird auch verteufelt lange an jenem Strausse ge-
bunden.
Macht mir den Adlerkant hQhsch bald fertig. Es sezt Louis-
d'or dafür. Ob nur blinde ohne Rändchen, das weiss ich nicht.
Zu jeziger Zeit gehn sie immer mit durch. Die Gold Wagen
scheinen ganz aus der Mode zu kommen. Es wirft doch wenig-
stens eine Jope für Euren Jungen ab.
Eure Fabeln, Freund, sind gar allerliebst. Es fehlt ihnen
nur, dünkt mich, an einigen ganz kleinen Kleinigkeiten, um völlig
die PfefTelsche Leichtigkeit und Bonhommie zu haben. Nur fein
mehr! Nächstens will ich Euch schreiben, oder noch besser, wenn
Ihr selber kommt, sagen, wo ich sie noch ein wenig gefeilt
wünschte. Macht mir aber nur nicht wieder das Maul mit eurem
Kommen vergeblich wässrig. Indessen das sag ich Euch: Es
wird verflucht altagsmässig zugehn. So viel wird nicht gebraten
und gesotten werden, als neulich geschehen wäre. Und nicht
ein Besen nicht ein Flederwisch soll angesezt werden.
Noch eins! Seyd mir künftig nicht so Papiergeizig und
sehreibt hübsch in ordentlichem Format, wie ich. Denn eins ist
kurz, das andre lang und da flattert denn oft noch ein einzelnes
Blättchen hinten nach. Das last sich denn nicht ordentlich legen,
heften und aufheben. Das Archiv sieht so kraus aus.
Adies! Grüsst Euren Harem. Gott befohlen!
Bürger.
Darauf antwortet Goeckingk am 1 5. December Nr. 284 ;
seiner AufForderung zu den Weihnachtsfeiertagen bei dem
Amtmann Lüder in Herzberg mit ihm zusammenzutreffen
hatte Bürger keine Folge leisten können.
24. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen d. 9. Januar 1777.
Muss ja wohl auch mal wieder an Ihn schreiben, liebwehr ter
Herr Gevatter. Ich habe dies lezte Fest nicht alzu vergnügt be-
96 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
gangen, weil ich an einem böslich geschwollnen Halse krank ge-
wesen bin. D. Weiss hat mich nun wieder zurecht kuranzt, wie
wohl es mir noch immer ein bissei in dem Halse munkelt. Ich
wollte heut wohl den Volkslieder Almanach überschicken, aber
der Henker weiss, wo ich ihn gelassen habe. Ich kann ihn
nirgends finden. Indessen communicire ich Ihm ein Werklein ^^)
zu Seiner Belustigung, das ich zwar schon vor 6 oder 8 Jahren
gemacht, aber kürzlich durchaus neu umgepräget und gelegenheit-
lich den Stechbähnler darin ein bissei gezwiebelt habe. Das
Manuscript muss ich wieder zurück haben, weil ichs irgendwo
einzeln drucken lassen will. Boie untersteht sich nicht, das Ding
ins Museum zu nehmen. Mach Er mir doch auf den Fips Bunt
Jack und andere ungewaschne Buben einige Strophen hinzu.
Dass Freund Bellfort ^^) es nicht ^um Zank zwischen Euch
und Gleim kommen lassen
Das lohn ihm Golt in dieser Zeit .
Und in der frohen Ewigkeit.
Dass Jacob! nicht zum heurathen kommen kann, thut mir
von Herzen leid. Denn mit dem Iten MSrz a. c. hab* ich dann
eine Wette von einem neuen Kleide, mit Gold besezt, an den
Lehm-Secretär Gleim verlohren. Zu dieser Weite verleitete mich
der treuherzige Jacobi selbst, welcher in ganzem Ernst es anzu-
nehmen schien, wenn man gegen ihn behauptete, dass er binnen
Jahr und Tag sich Christlich beweiben würde. Das geschah
vorigen Winter in Halberstadt.
Dass Er den Adlerkant nicht fertig macht, Herr Gevatter, ist
nicht artig und wohl gethan, da ihm vermuthlich dies Stukle mit
einem Ruck höher auf die Leiter des Ruhmes hinauf schieben
wird, als seine übrigen Werke zusammen.
Stolbergs Homer ist nun erschienen. Stolberg konnte frey-
lich nichts schlechtes liefern ; allein dennoch denke ich nicht, dass
er mir grossen Abbruch thun wird. Meine Dollmetschung behält
alle mal die abgesondertste Eigenheit in Versart, Sprache, Aus-
druck, Wendung etc. Wenn beyde Übersezungen mit der Zeit
vergessen werden sollten, so bin ich überzeugt, dass die hexa-
metrische die erste seyn wird. Aus Albernheit, die griechischen
Götter- und Heldennahmen bey zu behalten, thut er sich schon
allein grossen Schaden, und das freut mich herzinniglich. Statt
Neptun sagt er Poseidaon, statt Pluto Aidoneus, statt Mars Aräs,
statt Venus Afroditä, statt Juno Härä, statt Vulkan Hefaistos, statt
Merkur Hermäs u. s. w. Durch solche Neuerungen wird nicht
ein Pfifferling gewonnen. Wer wird sich dran gewöhnen, da von
Kindheit an, die lateinischen, die doch auch nicht übelklingend
**) Prinzessinn Europa.
*») Scherzhaft für Stamford.
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goecldngk. 97
sind, sich so fest uns eingeprägt haben? Die Leute schlagen
doch oft wunderbare Wege zur Originalität ein.
Boie schreibt mir vor einigen Tagen 2*), dass die Schröder-
sche Schauspielergesellschafft Shakespears Hamlet mit dem grösten
Beyfall dort aufgeführt habe. Schröder will auch den Macbeth
auf die Bühne bringen und ich habe die HexenScenen dazu ver-
teutschen müssen. Traun! Herr Gevatter, sie sind mir sehr
koscher gerathen.^*)
Dass Er mit seinem Weiblein und Knäblein vergnügt lebt,
freut mich von Herzen. Ich gaudire mich ebenfals sehr über
mein kleines Mädleins-Gemächt. Es spricht nunmehro eine grosse
Menge Wörter sehr vernehmlich aus. Es kennt alle Dinge in
Stube, Haus, Hof und Garten; auch kennt es alle diese Dinge
auf Kupferstichen und Gemälden. Es weiss alle auch die klein-
sten ausern Theile des menschlichen Leibes und zeigt, Auge,
Nase, Ohr, Mund u. s. w. auch an den kleinsten Figuren auf
Vignetten. Noch mehr! Es unterscheidet selbst die Silhouetten
seiner ihr bekannten Anverwandten. Sieht Er! Herr Gevatter,
Adler zeugen keine Tauben! Gott lass Ihm eben das an Seinem
Knaben bald erleben I Adio! B.
Goeckingk war mit diesem kahlen Briefe, 'wo er
meinen vor sich liegen gehabt, jeden Absatz angekakt und
ein Paar Worte drüber hingesezt hat' nicht zufrieden. In
seiner Antwort Nr. 299 (24. Januar 1777) stellt er einen
baldigen Besuch in Aassicht, aus dem nichts geworden zu
sein scheint. Ein vierwöchentlicher Aufenthalt in Hannover
(Februar und März) hinderte Bürger am Schreiben. Goeckingk
berichtete ihm dahin über Eomödienspiel und Litteraten-
besuche Nr. 309, 19. März und begrüsste ihn bald nach
der Rückkehr in Nr. 313 2. April. Zugleich meldet er ihm
die inzwischen abgeschlossene Verbindung mit Voss und
übersendet die anonyme Kritik des Göttinger Musenalmanachs
für 1777, die bei Strodtmann Nr. 314 abgedruckt ist. Mit
dieser Sendung kreuzte sich:
25. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen den 7. April 1777.
Ew. gevatterschafftl. Lbden. haben wir hierdurch unver*
halten wollen, wasmaassen und gestalten wir kürzlich über vier
Wochen in der Ghurfürstl. Residenz- und Hauptstadt Hannover
uns aufgehalten und daselbsten vor hohen und niedern Standes-
«♦) Strodtmann Nr. 290.
»•) Vgl. Strodtmann Nr. 293.
Viortoyahischrift f&r LitteratuiK^echichte HI 7
98 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
personen s. v. den grünen Esel gespielt haben. Traun! wir
können den Hannoveranern keine Schande nachsagen, allermaassen
der grüne Esel weyland nur 3 Tage Aufsehen machte, wir
hingegen uns doch über vier Wochen bey ziemlicher Ehre und
Reputation erhalten haben. Wären wir aber länger geblieben,
so dürfte das endliche Schicksahl des Grünen Langohrs uns eben-
fals betroffen haben. Nun mehro aber grünet und blühet unser
Andenken in Seegen, und unsere Silhouette, welche für einen
haaren Mariengroschen käuflich zu haben ist, findet unter vielen
andern berühmten und unberühmten Köpfen, ja selbst dem, des
berüchtigten- vieler Mordthaten bezüchtigten* vor einigen Jahren
in Einbeck geräderten- und auf das Rad geflochtenen Helden
Rütgeroth [?], ihren guten Absatz« Wenn v^ir gewollt hätten,
so könnten wir auch, in Gips abgegossen, hausiren getragen werden,
allein wir wollten das Antliz und schöne Ebenbild des Schöpfers
mit keinem Gipsgüsse beschmieren lassen. Übrigens dienet zu
wissen, dass die hohen und niedern Potentaten Hannovers sich
ziemlich beflissen haben, uns hier, da und dort, ein oder zwey-
mal satt zu futtern, woiiir wir denn freylich auch bass genoth-
sacht wurden, gemeiniglich die lezte Komödie zu recensiren, oder
über unsern Homer und übrige poetische Arbeiten Red und
Antwort zu ertheilen. Meines Herrn Gevatters Ruhm blüht da-
selbst auch solcher gestalt, dass der Herr Gevatter Ursache hat,
sich darob zu freuen. Der berühmte Secretär des Stabes, weyl.
Herausgeber verschiedener Musenalmanache und nunmehro der
teutschen Studierstube, zu Latein: Museum genannt, entbietet
dem Herrn Gevatter seinen Gruss und last herzlich um den
Adlerkant bitten. Wenn es auch nur ein- oder zwey Gesänge
fürs erste wären, denn das ganze Opus auf einmal zu geben,
litte ja doch der Plaz nicht; zudem wäre ja Wielands Liebe um
Liebe u. a. m. fragments- und gesangsweise herausgekommen.
Der Herr Gevatter sey also nicht länger eigensinnig und wunder-
lich und absunderlich, sondern gebe den Adlerkant, der Ihme
Ehre und auch für den Bogen 1 Louisd^or einbringen wird, ohn-
verzüglich heraus. Gestern hat sich der berühmte Herr Schum-
melius von Magdeburg auf einen beliebigen Tag bey mir anmelden
lassen. Ich habe ihn auf Mittewochen beschieden. — Was für
ein Pasquill ist das, auf den Accisdirector? ^ Ist die Schaubühne
schon eröffnet? Und wie ist der Debüt ausgefallen? Ich möchte
mich des Freybillets beynahe zu Nuze machen und ein klein
Rittchen zu Euch machen. Agirt denn mein kleiner Musje Pathe
auch schon mit? — Was hat es für eine Bewandtniss mit der
Buchhandlung des D. Barth in Heidesheim? — Das sind mir ein-
mal bunte Fragen durch einander! Er sieht, ich schreibe ge-
drungen, denn der Plaz wird nach und nach alle. Schreib er
mir hübsch bald wieder gratis eine Epistel über alle die Fragen
und auch über Schmids Besuch. Ich schenke Ihm auch hiermit
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk« 99
einen Hariengroschen, oder, von mir eine Silhouette. Ich hahe
neulich anonymisch irgend in ein Journal was drucken lassen.
Mich soll wundern, ob Er das ausspioniren wird. AdiesI Einen
Gruss von etc. an Eure etc. Sein Prolog, Freund, gefällt mir.
Bürger.
Am 13. April antwortet Bürger in einem durch
Schummcl übersandten launigen Brief (26) auf die anonyme
Becension und verlangt von Goeckingk, dass er ihm die
Erlaubniss gebe, sie mit einer Vorrede und mit Noten
drucken zu lassen. ^Wollt Ihr, so könnt Ihr selbst notas
Tel notulas lang und breit adspergiren; nur lasst uns den
langOhr vor der ganzen Qemeine des Herrn zum Altar
schleppen ... Es produciren sich tagtäglich gar viele und
fette Esel gedruckt in Journalen und Zeitungen; aber so
einen feisten Langohr, als diesen, hab ich mai ne in prosa
ne in rime gesehen.' Goeckingk erhält diesen Brief am
14. Aprü, da er eben Nr. 321, die Antwort auf Bürgers
25. Brief abzuschliessen im Begriffe war und gab in der
Nachschrift sogleich seine Zustimmung zum Druck : 'Lasst's
drueken und schickt mir's vorher noch einmal zu damit es
cum notis variorum gedruckt werde'.
Am 1 . Mai zeigt Bürger (27) Goeckingk den Tod seines
Schwiegervaters an in Worten, die sich theilweise mit
dem Briefe an Boie Nr. 327 decken. In seinem Condolenz-
brief vom 10. Mai Nr. 335 greift Goeckingk auf Bürgers
Schreiben 26 zurück und fragt zugleich um Rath, ob er
sich unter die Freimaurer aufnehmen lassen solle. In seiner
ersten Antwort (28) vom 19. Mai, in der er dem Freunde
seine i^ssichten auf die Erlangung der Niedecker Amt-
mannsstelle darlegt, ignorirt Bürger diese Frage, widmet
ihr aber eine Woche später einen eigenen Brief. Ob
Goeckingk die Bitte vielleicht inzwischen wiederholt habe,
ist nicht ersichtlich.
29. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen den 29. May 1777.
Der Herr Gevatter will also ein Frey Maurer werden, wie
ich aus seinem Epistolarschreiben ersehe und möchte gern eines
und das andere, wenn ich ihn recht verstehe, von mir wissen.
Ich will gerne dem Verlangen ein Genüge thun und Ihm so viele
Notiz geben, als ich darf.
\Q0 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Vor allen Dingen rathe ich weder zu, noch ab; sondern
überlasse alles bloss Ihrem eigenen Triebe. Denn die Proselyten-
macherey widerstrebt dem ächten Geiste der Freymaurerey, Wir
dürfen Niemand bereden, sich mit uns zu verbinden. Sollte es
hier oder da dennoch geschehen, so ist das nicht recht. Ich
möchte Niemand auf dem Gewissen haben, den ich etwa beredet
hätte und welcher etwa hernach die gesuchte Rechnung nicht
fönde. Am allerwenigsten aber meinen lieben Herrn Gevatter.
Troz der Würde und Vortreflichkeit der Freymaurerey, wo-
von ich überzeugt bin, kann es dennoch zu Hunderten und
Tausenden geben, die nicht fanden, was sie suchten. Die Frey-
maurerey ist ein weitläufiges Studium, Nicht jeder hat Gelegen-
heit alles zu ergründen. Andern wieder, welche vielleicht Ge-
legenheit hatten fehlt es entweder an Willen oder an Talenten.
Es giebt verschiedene Stufen und Grade der Erkänntniss. Die
in den niedern Graden wissen nicht, was die in den höhern
wissen. Aber auch unter Brüdern einerley Grades excellirt einer
vor dem Andern. Der Nuzen der Freymaurerey kann für Man-
chen unter manchen Umständen von ganz unschäzbarem Wehrt
seyn. Mancher hinwiederum hat wenigem Nuzen. Mancher viel-
leicht gar keinen. Das kömmt alles auf Situationen und Um-
stände an. So muss z. B. einem Reisenden die FreyMaurerey
zu weit unendlichem Nuzen gereichen, als mir in meinem Wöll-
mershausen.
Anlangend den Überlauf, wovor der HErr Gevatter sich
fürchtet, so muss ich Ihm aufrichtig sagen, dass ich von meinen
Brüdern in Göttingen weit weniger heimgesucht werde, als von
dasigen Schöngeistergesellen. Die Maurerische Verbindung führt
das nicht mit sich, dass man einander gerade auf dem Halse
liegen muss. Man ist nichts weniger als genöthigt, mit jedem
Bruder ausser der Loge Umgang zu pflegen. Ich sollte nicht
denken, dass die Maurerey Ihnen in EUrich viel mehr und
lästigern Überlauf, als bisher zuziehen würde. Denn es können
zehn zwanzig und mehr Brüder vielleicht durch Ellriclf reisen,
welche wissen, dass Sie ein Maurer sind, und doch nicht zu-
sprechen, es müsten denn besondere Umstände solches veran-
lassen. Wäre der Herr kein Poet und hätte den leidigen Ruhm
nicht so dürft er wahrhaftig der Maqonnerie wegen gar wenig
Zuspruch haben.
Da hat er, was er zu wissen verlangt. Nun thu Er was
Er will. Sollte er den Schritt thun, so wünschte ich freylich,
dass die Aufnahme in der Loge zum goldnen Zirkel in Göttingen,
zu welcher ich mich halte, und welche zu dem Corpori der
grossen Landesloge in Berlin gehört, geschehen möchte. Das
weiss Er ja wohl, dass es zwey Hauptsecten jetzt in Deutschland
gebe. Eine nennt sich von der stricten Observanz. Diese
ist uns entg^en. Wir halten dafür, dass diese nicht auf dem
Sauer, Aub dem Briefwechsel zwischen Bürger tmd Goeddngk. 101
rechten Wege und ihr Entzweck nicht der der alten ächten Mau-
rerey sey, dessen wir uns rühmen. Jene mögen vielleicht das
von uns behaupten. Sit ut sit Ich kann mich hierüber nicht
weiter auslassen. Unsere Parthey ist aber diejenige, welcher der
König von Preussen das Protectorium bewilliget hat; und vielleicht
dürfte mit der Zeit Jene von unserer verschlungen werden.
Will nun der Herr Gevatter in ganzem Ernst ein Freymaurer
werden, und es ist nicht etwa mehr seiner Gonvenienz, sich bey
einer andern Loge au&iehmen zu lassen, so melde Er mir bald
seinen Entschluss: Ich will Sie dann bey unserer Loge in Vor-
schlag bringen. Falls nun die Aufnahme beliebt und Terminus
dazu angesagt wird, so will ich solchen bey Zeiten kund thun,
damit der Herr Gevatter sich endlich einmal herscheere. Denn
sonst wird aus seinem Besuch doch noch nichts.
Vor mir hergegen ist der Herr so gar sicher nicht. Denn
sieht er, ich habe mir ein gar stattliches Ross vor einigen Tagen
gekauft. Es ist feuergelb, wie ein Salamander, dahero es denn
auch von mir q>Xo^ benahmset worden ist. Dieser Flox ist von
gar ansehnlichem GewSchs; kann gar ansehnliche Schritte machen
und muss mich wenigstens in 4 Stunden nach EUrich schleppen
können.
Aber der ansehnliche Flox kostet auch gar ansehnliche Louisd^or
der Himmel gebe feyn Gedeyhen.
Wie weit ist es denn mit Ihrem heurigen Almanach ge-
diehen? Mir wird nach gerade seh wühl um das Viaticum welches
ich Euch schuldig bin. Voss hat taliter qualiter das Seinige. Es
fehlt mir zwar nicht an Sujets, aber der Teufel versificire unter
solchen Umständen, als ich jezt bin. Doch — Ein Vierteljährchen
haben wir ja wohl noch Zeit. Ich will unter dessen versuchen,
noch recht was stattliches zusammen zu kuranzen.
Anbey kommen auch Eure Fabeln zurück. Mir deucht die
Erzählung ist hie oder da noch etwas lendenlahm. Ich kann
Euch das nicht recht beschreiben. Wenns aber wahr ist, so
werdet Ihrs wohl fühlen; und fühlt Ihr nichts, so mags wohl
nicht wahr seyn.
Meine Hoffnungen sind noch nicht entschieden. Es ist dazu
gut, dass es so langsam geht, dass ich ein bischen kühl werde
und die widrige Entscheidung desto gleichgültiger hernach ver-
nehme.
Ich habe mir vorgenommen, wenn dies fehlschlägt, in meinem
Leben um nichts wieder zu ambiren.
Adio ! Euer GABürger.
Goeckingk antwortet auf beide Briefe am 9. Juni,
Nr. 339; an demselben Tage ist Bürgers Billet 30 ge-
schrieben, in welchem ein Freimaurer, der Baumeister
Heyne, an Goeckingk empfohlen wird. Der Name kehrt
1 02 Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger nnd Goeckingk.
in den folgenden Briefen öfters wieder. Brief 31 vom
19. Juni enthält: Einladung, Schilderung des Flox, Aussichten
auf die Stelle eines Gerichtsschulzen in Göttingen (vgl. an
Boie Kr. 341): 'Es ist dies eine gute und viel bessere Stelle,
als das Amt Niedeck. Der Gerichtschulz ist auch im Range
den Amtmännern gleich und in der Stadt die erste Civil-
Ferson. Nur ist bey dieser Stelle so viel Unruhe und
Plackerey, dass Jeder sich bald wieder wegwünscht, wenn
er sich auch in Einkünften verschlimmert. Gleich wie
36 mal Spiesruthen laufen eine Strafe auf den Tod ist, so
kann man sich auch in 36 Monathen dort zu Tode quälen.'
Auf die Bitten um Almanachsbeiträge erwidert er: 'Zu
eurem Almanach habe ich bei meiner armen Seele! noch
nichts. Aber ich will mich aufraffen.' Wenige Tage später
ist das 'Lied vom braven Manne' entstanden. 'Es ist eines
von denen, welche, sowie sie auf dem Papier stehen, in
einem Strom hervorgestürzt sind. Es ist für Goeckingks
Ahnanach bestimmt, dem ich sonst, noch zur Zeit, nichts
anders zu geben weiss' (an Boie 23. Juni Nr. 343). Diesen
lässt er aber noch länger zappeln. Erst am 7. Juli meldet
er ihm (32) : 'Ich habe auch eine stattliche Ballade für ihn.
Das Lied vom braven Manne! Es ist traun! ein rores
Stückle! Heute kann ichs aber ohnmöglich abschreiben.
Wenn er kömmt, soll ers haben. Mir ist jezt sehr hunds-
vöttsch und todschiesserisch zu Muthe. Yerdruss, Placke-
rey, Hypochondrie u. s, w. u. s.w. u.s.w. Freund, sein Be-
such muss mich wieder curiren, oder mich curirt nichts.'
Aus diesem Besuche wurde vorerst nichts. Mit Bürgers
32. Brief kreuzte sich Goeckingks an demselben Tage ge-
schriebene Nr. 348. Das Gedicht von Schummel, das darin
erwähnt wird und auf das der folgende Brief Bezug nimmt,
wurde in den Almanach nicht aufgenommen.
33. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen den 17. Juli 1777.
.... Der Herr Schummelius hat auch das dictum : Cacatum
non est pictum, noch nicht sattsam beherzigt. Das Ding sollt* ich
per Rescriptum legitimiren? Bons dies! Ich mag mir wohl den
Kuzen streichen lassen, aber es muss es einer, wie Goekingk, ver-
stehen. Last mir das Ding ja aus dem Almanach! Herr Schumel
wirds freylich nicht zum besten deuten. Aber ich will ihm weiss
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk. 103
machen, dass ich blos aus Bescheidenheit den Druck dieser Schmei-
cheley verhindert hätte. Es ist ordentlich als wenn mich davor
ekelte. Persönlich hat mir und den Meinigen Schummel ganz
gut gefallen. Nur das war mir fatal an dem Purschen, dass er
sich in Zeit von einer Stunde gleich in meine Schwägerinn
NB verliebte, mich zu seinem Vertrauten machte und nun noch
nicht aufhören kann, auch schriffUich davon und darüber zu
süsseln und zu hasenffisseln. Da kömmt er mir nun gerade
recht! — — —
Am Sonnabend war Dietrich bey mir und nahm mir seine
Pferdemiethe in Thombre ab. Ihn verlangt nach Eurer erfreu-
lichen Ankunft und er kann nicht begreifen, wie Ihr alle den
schönen grossen dicken Vorrath eingesandter Poätereyen so un-
barmherzig habt unter die Bank werfen können. Er wird Euch
überführen, dass Ihr ein eigensinniger Kauz seyd. Seine Frau
und lieben Töchter tragen auch grosses Verlangen nach Eurer
lieben Frau und Schwägerinn. Und so gebts mir nach gerade
auch. Das gröbste von meinen Plackscheissereyen ist oder kömmt
nun nachgerade auf die Seite. Ihr könnt nun kommen, wenn
Ihr wollt. Aber last mirs einige Tage vorher wissen. Denn ich
habe verschiedene Zehnten zu verpachten und auswärtige Ge-
scheffte, weswegen ich eine bis zwey Meilen verreisen muss. Wenn
ich die Zeit eurer Uberkunft weiss, so kann ich mich darnach
richten. Denkt nicht etwa, dass ich wegen der Ochsen und
des Mastviehes, so da geschlachtet werden soll, darnach frage.
Denn das ist alles in Bereitschafft. Kommt nur bald, dass die
jungen Hähne wegkommen und mir nicht mehr mein bischen
Waden abhacken, oder die Augen ausfliegen, wenn ich zur Thür
hinaus trete. Die Karpfen, die Forellen die — — u.s. w. sind
auch schon längst vor der höchsterfreulichen Ankunft Ihro Ghur-
fürstl. Gnaden vom Eichsfelde verschrieben und sizen im Fisch-
kasten. Wäre das nicht geschehen, so möchtet Ihr euch den
Appetit darnach vergehn lassen. Denn Ihro Churfürstl. Gnaden
haben bey hoher Poen verboten, dass während höchstdero Auf-
enthalt auf dem Eichsfelde nichts von Fressereyen ausser Landes
geführt werden soll. — Der Bettelmann ist auch bereits ge-
schwemmet und gekämmet. Schade nur, dass er neulich bey
einem Liebesabentheuer beynahe um sein Auge gekommen ist. —
Endlich schliesse ich aus dem Gepolter über meinem Haupt, dass
Euer Losier, worin Ihr Euer wesen treiben, die Stühle, worauf
Ihr sizen, das Bette, worinn Ihr Schlafen, der Nachttopf, worein
ihr pissen, und die Spiegel, worinn Ihr Euch beschawen sollet,
entweder alle schon in statu quo smd, oder doch forderist darein
gelangen werden. Also könnet Ihr konmien, wenn Ihr wollt.
Wenn ich den Tag weiss, so komm ich Euch auf dem FIox bis
Duderstadt entgegen; hohle euch ein, reite voran, führe Euch
linkerhand in das Dorf, vor der Kirche vorbey, durch das enge
104 Sauer, Aus dem Briefw^echsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Dreckgässchen, auf mein Höfchen und in mein Hüttchen, welches
wie das Haus des Anchises in Troja ganz im Winkel bey der Mühle
zwischen Bäumen versteckt liegt. Da wollen wir uns den freuen
und fröhlich seyn, was wir nur können.
Apropos ! Über mein Geschwäz hätt ich beynahe eurer Lieder,
verbessert durch Carl Wilhelm Ballhom in Berlin, vergessen.
Darüber muss ich Euch aber einen eigenen Brief schreiben, oder
mündlich mit Euch sprechen. Ich habe die Lieder zweyer Lie-
benden ausgeliehen, kann also die Ballhornischen Lesarten nicht
völlig mit den Eurigen vergleichen. So viel ich aber aus dem
Kopfe weiss, so dass der Mensch doch das Ballhomisiren
nicht lassen kann!
Ich schick Euch hier das Lied vom braven Mann zum
Almanach; und die Frau Schnips zum durchlesen. Denn ich
zweiifle, dass Ihrs nehmt. Sonst ists auch Eurem Almanach zu
Dienst. Sagt mir Eure Meinung, ob man von den bigoten Schaafs-
köpfen nichts zu befürchten habe? Wollt Ihrs wagen aufzunehmen,
so schickt mir aber doch diese meine einzige Kladde zurück.
Ich wills denn rein schreiben und Dietrichen zu schicken. Gott
befohlen I Bürger.
Die ^Frau Schnips' wurde abgelehnt, der Besuch in
Wöllmershausen für Michaelis festgesetzt (Nr. 353, 29. Juli).
Bürger übersandte noch vor Empfang dieses Briefes die
vom 1. August datirte Subscriptionsanzeige seiner Gedicht-
sammlung und fugte einige geschriebene Worte bei:
34. Bürger an Goeckingk.
Herr Gevatter, Er wird wohl grosse Augen machen; über
diesen gedruckten Bettelbrief und die darin enthaltenen Anzeigen.
Pro primo, weil ich Ihn wegen dieses Vorhabens nicht vorher,
uti inter nos moris ac styli, mit in Rath genommen habe. Pro
Secundo, weil wir einmal halb in Ernst halb in Spass ausgemacht
haben, unsere Opera poetica in Compagnie herauszugeben. Aber
sieht er Herr, ich bin inter pocula übertölpelt worden, das Knall
und Fall zu thun, was ich erst in einigen Jahren allenfaLs zu
thun gedachte. Ich trank vor kurzem den Pyrmonter Brunnen
der Veränderung wegen in Göttingen. Dietrich Hess mich dabey
keine Noth leiden. Als ich mich nun eines Nachmittags voll
Autoren Hirn gefressen und voll Autorenschweiss gesoffen, siehe!
da ward der ganze Handel auf einmal fertig und der Avis unter
die Presse gelegt. Facta infecta fieri nequeunt, was das ärgste
ist, so finde ich nunmehr, dass ich in meinem Leben noch nicht
soviel gereimt habe, um ein Alphabet anfüllen zu können. Ich
muss also fürwahr! um nicht vor dem ehrsamen Publikum zum
Schelme zu werden, nolens volens diesen Winter noch ein gut
Partikelchen Verse auf den Kauf fabriciren. Der Herr Gevatter
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. \ 05
wird das Seynige dazu beytragen, der Waare Abnehmer zu ver-
schaffen.
Es ist nun ziemlich lange, dass ich keine Zeile von Euer Liebden
gesehen habe. Es bleibt doch dabey, auf Michaelis? oder es soll
Ihn dieser und Jener! Schreibt mir doch wie viel Mann hoch
Ihr kommt. Denn darnach muss die Streue eingerichtet werden.
Dietrich mit seiner FamiUe will auch herauskommen, wenn Ihr
da seyd. Das soll eine gar scharmante bunte Herberge geben!
Ich habe schon ein hübsches Trünklein Edimburger und Erlauer
angeschafin. Zwey ungarische Weine, die wohl für seinen üppigen
Schnabel so gut noch nicht gekommen sind! Dabey wollen wir
uns recht bene thun.
Adio! Viel schöne Grösse etc. GA Bürger.
35. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen, den 7*«" August 1777.
Ey so wollt ich auch, dass dieser und Jener! — — —
Schon wieder mit dem Besuch angeführt! Fürwahr! Ich möchte
schier Ihn mit samt seiner Sopheye und Male prügeln. Sieht er,
wie böse ich bin! Ich sage nicht einmal Sopheychen und Mal-
chen, sondern Sopheye und Male. — Michaelis! Michaelis! Ey
so wollt* ich dass ihr michaelistet, dass Ihr schwarz würdet ! Zum
ersten mal in meiner ganzen Amtsführung schreib* ich dies Jahr
Erndteferien vom 1*^ huj. bis auf Michaelis aus, um mich mit
Euch Volk recht abgeben zu können und siehe da! Nun will
euch der Henker erst Michaelis herführen, wo meine Plackerey
wieder angeht. Und das alles um des leidigen Geizes willen, weil
Wilhelm dann die halben Reisekosten stehen muss. Wart! Wart!
Wilhelm soll euch was auf die Treppe legen. Ich wills ihm
schreiben. —
Aber Ihr gottlosen Lügen Mäuler insgesamt, vernehmt hier
mit meinen Endbescheid! Wofern Ihr nicht Michaelis hier seyd,
und mich abermal vergeblich harren lasset, so wird euch hie-
mittelst und Krafft dieses eventualiter Wasser und Weide aufge-
kündigt. Ich will Eure Nahmen nicht mehr aussprechen und
mich mit Demjenigen herum schlagen, schiessen, hauen und
stechen, welcher mir Schuld giebt, ich kennte euch. Ihr könnt
nur diesen Brief, wie ein Patent an eure Stubenthür als ein Me-
mento zu Eurer und Eurer Weibsen Nachachtung, nageln.
Also Frau Schnipsen wollt Ihr nicht. Hm! Hm! — Jeder-
man tritt das ehrliche Mensch mit dem Fuss in den Ars. Seht
mir doch mal die züchtigen Herrn alle an! Jezt aber ist sie auf
dem Wege sich dem Herrn Merkur anzubieten. Verschmäht sie
der auch; so hohl euch alle der Henker mit eurer s. v. Ehrbar-
keit Denn umsonst kann ich das gute Kindlein ohnmöglich ge-
macht haben.
106 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Zum Liede vom braven Manne kann D. Weiss keine Com-
position zu Stande bringen. Er rechnet mir des Henkers Schwie-
rigkeiten vor. Ich verstehe mich nun zwar nicht drauf indessen
deucht mir, ich sogar wollte eine Melodie drauf machen können.
Am 8. September entwickelt Goeckingk die näheren
Umstände der geplanten Herbstfahrt (Nr. 371). 'Lieber.Herr
Gevatter, wie geht das zu, dass ich Sein Epistolarschreiben
vom 8. dieses erst heute erhalte? Ich glaube gar, Er hat
antedatirt, wie es Unsereiner bisweilen mit seinen Berichten
nach Hannover zu machen pflegt' — so beginnt Bürgers
Antwort (36, 18. September), die Goeckingks Bedenken
wegen der Unterbringung der zahlreichen Gäste in derb-
komischer Weise zu beheben sucht.
Noch ein Brief Goeckingks (Nr. 378, 26. September),
in dem er sich für den 2. October ansagt und um Erlaubniss
bittet, Spadillen, seinen geliebten Hund, mitbringen zu dürfen ;
diesmal klappte endlich alles. Am 1. und 2. October er-
ledigt Bürger noch seine Correspondenz Nr. 381—385, um
sich dann ganz den Freunden widmen zu können. Unter
anderm las er Goeckingk seine Macbethübersetzung vor; von
der Scene, die den Tod der Lady Macbeth enthält, wurde
dieser 'bis auf Mark und Bein durchschauert' (an Boie
Nr. 427 vgl. auch Nr. 654). Am 11. October berichtet er an
Boie (Nr. 386) : 'Goeckingk mit seiner Frau und Schwägerinn
ist einige Tage hier gewesen. Nur habe ich ihn leider!
nicht ganz genossen, indem er nicht umhin konnte, auch an
Dietrich zwey Tage zu verschwenden. Ich kann wohl sagen
verschwenden. Denn Dietrich hatte einen solchen
Schwärm von theils interessanten, theils uninteressanten
Gästen mit dazu gebeten, dass man in diesem Getümmel
gar nicht zu sich selbst kommen konnte. Er hat mir endlich
vier Gesänge von seinem Adlerkant hiergelassen. Aber
an dem vierten fehlen noch einige Schlussstrophen, die er
mir jedoch, bey Ehre und Reputation, höchstens binnen
14 Tagen noch nachzuschicken versprochen hat.' Er theilt
Boien in dem Brief einige vorläufige Probestrophen mit.
Goeckingk eröffnete den Briefwechsel gleich nach der
Rückkehr (Nr. 387, 13. October); der Brief blieb unterwegs
liegen ; am 23. October fragt der ungeduldige Bürger bei
Sauer, Aub dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk. 107
Qoeckingk an (37) und monirt jene Schlusstrophen zum
'Adlerkant', die Goeckingk endlich am 3. November (Nr. 404)
übersendet.
Bürgers nächster Brief (38), die Anzeige vom Tode
seines Kindes vom 10./12. December, stimmt mit dem Briefe
an Boie Nr. 413 fast wörtlich überein; eine Variante ver-
dient angemerkt zu werden; an Boie: 'Nun hat ein Fieber
die schöne Kose entblättert', an Goeckingk: 'Ein Fieber hat
die Rose zernagt'. Es folgt Goeckingks Condolenzbrief
Nr. 417. Dann ist im Briefwechsel eine Lücke; vgl. an
Boie 5. Januar 1778 Nr. 421 : 'Von dem Adlerkant hab
ich nun vier volle Gesänge. Goeckingk versprach schon
vor vier Wochen, das Ganze mit Schluss dieses Jahrs zu
vollenden, und bat so lange mit dem Abdrucke zu warten.
Yor zwey Tagen schreibt er, dass er leider! noch nichts
wieder gemacht habe, aber sich fordersamst einschliessen
wolle, um endlich sein Yersprechen zu halten. Ich will
heüt an ihn um Erlaubniss, wenigstens diese 4 Gesänge
publiciren zu dürfen, schreiben.' — Beide Briefe fehlen,
oder sind sie vielleicht gar nicht geschrieben worden und hat
Bürger gegen Boie nur eine Ausrede gebraucht?
Goeckingk hatte allen Grund, gegen Bürger heftig ver-
stimmt zu sein, seitdem ihm dessen Unterhandlungen mit
Dietrich wegen der Übernahme der Redaction des Göttinger
Musenalmanaches bekannt geworden waren. Noch am
2. December 1777 hatte Yoss an Goeckingk geschrieben:
'Dietrich giebt sich viele Mühe, einen Dichter von Ansehn
wieder zu gewinnen. Er hat sogar Claudiussen die Heraus-
gabe antragen lassen ; auch Bürgern, wie mir Boie schreibt.
Yor diesen sind wir freylich sicher. Aber sind wirs auch
vor den übrigen, z. E. vor Kästnern?' (ungedruckt). Aber
Yoss irrte sich gründlich und endlich blieb Bürgern selbst
nichts anderes übrig, als sein zum mindesten incorrectes
Yorgehen gegen Goeckingk und Yoss zu rechtfertigen. Das
Fromemoria vom 30. Januar 1778 ist nach dem Concept
aus seinem Nachlasse bei Strodtmann abgedruckt Nr. 432.
Er sandte es an Goeckingk mit folgendem Begleitschreiben:
\ 08 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Btbrger und Goeckingk
39. Burger an Goeckingk.
WöUmershausen den 29. Januar 1778.
Sicherlich, lieber G., hat euch Frau Hundertzunge den Inhalt
des bey kommenden ProMemoria schon längst bekant gemacht; denn
sonst hättet Ihr mich wahrhaftig nicht so lange laufen lassen,
ohne mir einen oder andern Posttag einmal zu schreiben, da Ihr
leicht an allen zehn Fingern abzälen könnet, wie gedoppelt wehrt
mir eure Briefe in der bisherigen HerzensVerfassung gewesen seyn
würden. Ihr mögt wohl nicht wissen, was Ihr aus mir habt
machen sollen. Drum hab ich nur, troz meiner Übeln jezigen
Laune und troz hundert fataler Amts- und Familiengeschäfften
mich hin gesezt und für Euch und Voss dies rechtfertigende Pro-
Memoria abgefasset, welches Ihr denn beherzigen und darauf
weiter an Voss laufen lassen wollet. Mit Euch und Eurem Herzen
hofife ich in diesem Falle bald einig zu seyn, denn ihr versteht
quid juris! Aber Voss wird sein Herz so leicht nicht drein er-
geben. Jedoch sagt mir, liebster G. , rund und teutsch heraus,
ob die Sache noch andere Seiten, als wovon ich sie angesehen,
habe. Hat sie sie aber nicht, so muss sich Voss das Ding noch
10 mal eher gefallen lassen, als ihr, der ihr mir 10 mal mehr
als Voss ans Herz gewachsen seyd. Ich sehne mich nach Eurer
Antwort.
Endlich muss ich ja auch wohl wieder die Ramlerische Aus-
gabe eurer. Gedichte wieder zurück schicken, die ich öfters unter
meinen Papieren verworfen, wiedergefunden und wieder verworfen
hatte. Schickt sie dem klassischen Schulfuchs wieder zurück und
sagt ihm : Ihr schicktet sie da wieder und — es wäre gut. —
Ich schreibe jezt an meiner geharnischten Vorrede vor meine
Gedichte, worin ich wills Gott! den durchlöcherten Boden des
Klassischen Fasses, das nirgends VS^asser hält, ziemlich vollends
einschlagen werde. Wenn alles so rund heraus geht, als rund
ichs im Kopfe auch wieder den allerdurchlauchtigsten grossmäch-
tigsten Klopstock habe, so solt Ihr mal Euer blaues Wunder hören,
sehen, schmecken, fühlen, und riechen.
Dohm ist neulich auch bey mir gewesen, hielt sich aber nicht
länger als zum Mittags Brode auf. Er hat, wie es scheint, sehr
glänzende Aussichten.
Meine Subscriptions Sache scheint auch sehr stattlich aus-
fallen zu wollen. Freylich nicht so stattlich als Klopstocks seine
— da wurde aber auch, wie die Matrosen in England — ge-
prest — , indessen an 1000 Subscribenten hoffe ichs doch schier
zu bringen. Bey mir Dietrich und Boie sind an die 600 schon
zusammen und doch sind von den meisten und wichtigsten Orten
noch garkcine Nachrichten zurück gekommen. Der Himmel gebe
sein Gedeyhen! Schade nur, dass alles so in einen durch-
löcherten Beutel fällt.
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk. 109
Adio! Schreibt mir doch öfter und seyd nicht, wie sie hier
sagen, fühnisch, sonst hol euch dieser und Jener.
Tausend Grüsse und Kusse an Sophien und Malchen! Ihr
Bruder in Göttingen hat sich doch bey meiner armen Seele! noch
nicht wieder bey uns hören oder sehen lassen. Macht er das
allen Leuten oder uns allein so? Dietrich schreibt auch, dass er
nichts von ihm vernimmt. GAB.
Noch vor Empfang des Promemorias muss Voss Bürger
in dieser Angelegenheit interpellirt haben, vgl. Boie an
Bürger 5. Februar 1778 Nr. 434: 'Heute nur zwei Zeilen
zur Begleitung des Yossischen Briefes. Es thut mir leyd,
dass Voss es nicht von Dir, wie Du versprachst, zuerst
erfahren hat' und Bürger an Boie 16. Februar Nr. 439.
Goeckingks Antwort auf das Promemoria vom 7. Februar
Nr. 436 geht auf Gegengründe nicht ein, wie Bürger ver-
langt hatte, sondern stellt sich auf den Standpunkt des
Gefühls. Bürger suchte in seiner Erwiderung Goeckingks
ausweichenden Ton nachzuahmen:
40. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen den 16. Februar 1778.
Lieber Goeckingk.
Freylich schlim, wenn wir über einerley Sache, die nicht
gleichgültig ist, nicht einerley Gefühl haben. Aber vielleicht haben
wirs in dieser, wenn wir beyde unsere Gefühle recht neben-
einander halten und bey Lichte besehen. Schade nur, dass man
nicht immer nach Gefühl handeln kann, oder darf. Der Mann
ders wagt, sich mit tausenden herum zu schlagen, hat wahrlich
hohes herrliches Gefühl, aber seine Handlung ist und bleibt Thor-
heit. — Doch — was disputiren wir darüber? Sind Euch der-
gleichen Pro und Contra fatal; so sind sie mir wahrlich noch
fataler. Ich handle oiTen und frey, wie mirs recht dünkt. Irre
ich, so ist der Schade mein und keines Andern. Doch kann ich
sagen, dass ich über keine Angelegenheit meines Lebens mehr
mit Verstand und Herzen zu Rathe gegangen bin, als eben über
diese. Euer Brief, lieber Goeckingk, hat mir bitter geschmeckt,
aber und nun in meinem Leben nichts mehr hiervon!
Die angezeigten Gedichte, wenn ich des Almanachs Archiv
einmal erhalte, sollt Ihr zurück haben. Noch hab' ichs nicht,
und da man nicht wissen kann, wie manche Dinge in der Welt
kommen können, so weiss ich auch noch nicht, ob es mir zu
Händen kommen wird. Ich muss erst Vossens Antwort abwarten.
Für die Pränumeration, versteht sich, danke ich schönstens.
Es fängt mir aber schier an, vor aller Verserey zu ekeln. Es
110 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger and Qoeckingk.
würmelt mir so von dem Magen herauf nach dem Kopfe, wie es
einem zu wärmein pflegt, wenn man eine Sache zu 99 Teufein
hinschwören will. —
Die Entbindung Eurer Frau habe ich neulich leider 1 von
andern Leuten in Göttingen, als eine alte Neuigkeit zu erst er-
fahren müssen. 0 Goeckingkl Qoeckingk!
Die Meinige ist im Begrif desgleichen zu thun. Sie grüst
Euch dess insgesamt von Herzen. Davon last sie sich nichts
träumen, dass wir jezt so gegeneinander da stehn, einer über den
Andern unlustig sind, und Narrenspossen I Es ist ja
kein wahres Wort dran I Wäret Ihr unlustig über mich ? '0 Nein !
ganz und gar nicht T — Nun, ich über Euch auch nicht, lieber
Goeckingk. Was für verdamte höllische Dünste einem manchmal
zu Kopfe steigen können. Gott befohlen! wie sonst, und in alle
Ewigkeit nichts anders, als Euer GABürger.
Darauf gab ihm Goeckingk kurz und kühl Nachricht
über das Befinden seiner Frau (Nr. 442, 28. Februar) und
Bürger that dasselbe:
41. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen den 30. März 1778.
Es ist nicht : Wurst, wieder Wurst, lieber G., dass ich Euch
heute erst vermelde, dass meine Frau am 15^^ dieses mit einem
Mädel niedergekommen ist. Wenn ich Euch alle sagen wolte,
was für ein geplagtes hin und hergezertes Thier ich alleweile
bin, und wie ich desfals kaum einige Minuten zu einem Brieflein
meiner Zeit abzwacken kann, so würde ich alle vier Seiten dieses
Bogens volschreiben müssen. Meine Frau ist noch nicht aus
aller Gefahr, wegen einer bösen Brust. — Meine Schwiegermutter
ist sehr krank und ich fürchte Kurz ich habe in hüb-
schen Pasteten jezt umherzurühren.
Wie ists mit Eurem Adlerkant? — Boie mahnt mich in
jedem Briefe drum. Soll ich ihm das Fragment, das ich habe
nur schicken? Gebt mir bald Bescheid.
In den nächsten zwei Monathen werdet Ihr nicht viel Tröst-
liches von mir vernehmen. Grüsse, Küsse u. s. w.
GAB.
An demselben Tage schrieb Goeckingk ein flüchtiges
Billet in Bürgers Subscriptionsangelegenheit Nr. 468. Bürgers
Antwort darauf vom 9. April ist verloren. Vossens Antwort
auf das Promemoria, vom H.Februar datirt Nr. 438, sucht
Bürger zum Rücktritt zu bewegen: 'Ich widerspreche dem
Gerüchte von ihrer Verbindung mit Dietrich noch immer,
wie vorher, bis ich Antwort hierauf habe'. Diese Antwort
u
I
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goecldngk. 1 1 1
kam lange nicht Ich lasse zunächst Vossens ungedruckten
Brief an Goeckingk aus der Handschrift folgen:
Voss an Goeckingk.
Wandsbeck, den 26. Merz, 1778.
Die Verzögerung meines Briefs hatte eine gute Absicht; ich
wollte Ihnen lieber von einer ausgeführten Sache schreiben, als
über das Vorgegangene meine Meynung sagen. Aber Bürger
erlaubt mir diess Vergnügen nicht. Vielleicht hat er Ihnen ge-
antwortet, vielleicht auch nicht, und dann laure ich gewiss um-
sonst auf seine Antwort. Hier ist der Brief, den ich ihm den
ersten Posttag auf sein Promemoria schrieb
Auf diesen Brief erwartete ich natürlich bald Antwort, und
verschob sowohl den Brief an Sie, mein bester Göckingk, als
die Einrückung Ihrer Nachricht in die Zeitungen, damit Bürger
es nicht als eine Vorkehrung gegen seine Macht ansehe, und sich
für einen deklarirten Feind halten möchte. Aber es soll gewiss
die nächste Woche geschehn.
Bohnen habe ich noch nichts gesagt, weil ich wirklich noch
nicht glauben kann, dass Bürger bey kühlerem Blute so fortgehn
wird, und ich es gern vermiede, Bohns Handschlagen und Er-
staunen über das Unglück, das nun dem Almanach bevorstünde,
der ihm so viel kostete, und noch mehr kosten sollte, diess anzu-
sehn und anzuhören, und vielleicht im Verdruss weiter zu gehn,
als die Klugheit erlaubt. — Ich kann Ihnen, auch im Fall, dass
er mir von meinen 400 Thh*. nichts abknappt, Ihre 100 Thlr.
nicht ersezen; aber theilen will ich mit Ihnen brüderlich den
Verlust, und der Himmel wird mir ja bald ein Amt bescheren,
dass ich mein erstes Wort halten kann.
Wenn Bürger es nicht einsehn lernt, dass die 200 Thlr., die
seine Sinne bethören, durch einen Umweg aus unsern Beuteln
kommen, so müsste ich mich vor mir selbst schämen, wenn ich
sein Almosen zu meinem Almanach annähme. Und solch ein
Herkules ist er doch auch nicht, troz seiner Keule, der nicht seine
Gegner fönde. — Nach dem Promemoria ist mir die Delicatesse
der Empfindung ganz unbegreiflich, die Bürger damals äusserte,
als Stolberg, ganz von Eigennuz entfernt, ganz unbekannt mit
Bürgers geheimer Absicht, warum er die Uias übersetzte, bloss
durch Liebe zu Homer entbrannt, den Bürger nach seiner Mey-
nung zum Bänkelsänger herabstimmte, selbst in die Schranken
trat, und mit ihm wetteiferte; noch weniger, dass Bürger jezt
mit einmal Stolbergs Unschuld einsieht, um sein Betragen mit
jenem zu vergleichen. — Auf meinen Schwager sollte sich
Bürger nicht berufen; er kennt ihn selbst als einen guten bieg-
samen Mann, der es mit niemand verderben will, und oft mit
allen verdirbt. — Ich traue es Bürgern zu, dass er die Wahrheit
schreibt; denn mit Boien selbst correspondirte ich bisher noch
112 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
gar nicht Ober diese Sache, ausser dass wir uns einander unsre
Verwunderung über das Gerücht bezeugt haben. — Nun lasst
uns unsre Lenden gürten, damit wir stehn können im Streit,
wenn ja alle Welt jezt in Streit leben soll.
Endlich fragte Voss doch bei Boie an (Voss, Briefe II1 1 ,
142, wol aus den ersten Tagen des April vgl. Boie an
Bürger, 19. April Nr. 478). Am 31. März hatte Bürger je-
doch an Voss geschrieben (Nr. 469). Jetzt berief er sich
darauf, dass er für die Familie seines Schwiegervaters zu
sorgen habe. ^Glauben Sie mir, ich habe die Sache vor
meinem Kopf und Gefühl geprüft, und jener mus entweder
einem Pinsel und dieses einem Schurken gehören, oder ich
habe Recht.' Voss schickte den Brief an Goeckingk 13. Mai
1778 mit folgenden Worten (ungedruckt, vgl. auch Voss an
Boie im Juni 1778: Voss, Briefe III 1, 142):
Voss an Goeckingk.
Sie dachten zu gut von Bürger, dass er sich schämen möchte,
so wie er vielleicht nur noch könnte, zu antworten. Er hat mir
die freymütigste Antwort, die man sich denken kann, geschrieben,
und mündlich wird er mirs noch freymütiger erklären, dass ihn
sein Kopf und sein Herz, die doch beyde nicht von der gemeinsten
Sorte sind, völlig berechtigen, mir sein Wort zum zweytenmal zu
brechen, und Sie um ihr Geld zu prellen. Hier lesen Sie. Es
hat mir Überwindung gekostet, von dem Gefühle der Freund-
schaft zur Verachtung überzugehn. Jezt bin ich zum Durchbruch.
Von nun an keinem Menschen mehr getraut, der sich in Sachen
des Verstandes Sofistereyen erlaubt. Ich habe Klopstocken Bürgers
Promemoria und meinen Brief mit Bürgers Antwort vorgelegt,
um sicher zu seyn, dass ich mich nicht übereilte. Aber der kalte
Klopstock räth mir zu einem Schritt, wozu ich nicht Hize genug
habe, Bürgern noch einmal zu schreiben, was ihm sein Herz
sagen muss, dass er ein Schurke sey. Es wird also nicht zu
viel seyn, wenn ich ihm durch Boien sagen lasse, dass er
sich die Mühe sparen möchte, mir Bey träge zum Almanach zu
schicken .... Im Juni kommt Boie aus Hannover hieher. Mich
soll verlangen, ob er Bürgern entschuldigen vnvd, und wie er das
Ding angreift.
Zwischen Voss und Bürger war es auf diese Weise
zum Bruche gekommen. Soweit kam es zwischen ihm und
Goeckingk nicht. Als Boje anfragte, wie die Sachen
stünden : ^Ich höre, dass er seine Übernahme des Almanachs
sehr übelgenommen habe, und dass ihr gänzlich zerfallen
seyd' (26. März Nr. 464), antwortet Bürger (6. April Nr. 471):
Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl Augast an K. F. y. Sinner in Bern. 1 ] 3
'Zerfallen bin ich mit Goeckingk gar nicht; hergegen be-
haglich ist das Ding weder ihm noch Yoss'. Boie urtheilte
schliesslich milder als die nächst Betheiligten: ^Ich hörte,
dass Goeckingk unzufrieden mit dir sey, dass du ihm die
Übernahme des Almanachs in einem komischen Ton ange-
kündigt; das mag der erste Ausbruch der Empfindlichkeit
gewesen seyn, und es ist mir innig lieb, dass ihr nicht zer-
fallen seyd. Deine Ursachen sind edel, deiner würdig, und
Niemand soll dich ungestraft vor mir tadeln, wenn ichs höre'
(9. April 1778 Nr. 474).
Prag. August Sauer.
Briefe des Herzogs Cari Aagast an Karl
Ferdinand von Sinner In Bern.
In dem Briefe, welchen Goethe am 16. October 1779
Yon Bern aus an Charlotte Yon Stein schrieb und in welchem
eine kurze Aufzählung der Merkwürdigkeiten und der Per-
sonen gegeben ist, die Goethe und der Herzog in Bern
kennen lernten, wird, ohne einen weiteren Zusatz, auch der
Name Sinn er genannt.
In seiner Ausgabe von Goethes Briefen an Frau von
Stein (1857 1, 256) hat Adolf Scholl zu dem Namen Sinner
die Note 'Sinner, der Bibliograph' hinzugesetzt; mit dieser
Bezeichnung kann nur der 1730 geborene Joh. Budolf Sinner
gemeint sein, der 1748 die Stelle des Bibliothekars der
Stadtbibliothek zu Bern erhielt und durch seinen lateini-
schen Katalog der Berner Handschriften, sowie durch andere
gelehrte Arbeiten bekannt geworden ist. ^) Dieser Joh. Rud.
Sinner, nach seiner waadtländischen Besitzung gewöhnlich
'Sinner von Balaigues' genannt, ward 1764 Mitglied des
^) GatalogUB codicnm xnss. bibliothecae Bernensts annott criticis
illnetr. Bernae 1760—72, 3 tomi. — Essai snr les dogmes de Metempsy-
chose et du Pnrgatoire enseignäs par le Bramins de rindostan etc.
Beme 1771. — Voyage historique et litt^raire dans la Suisse oeciden-
tale, NeQchatel 1781. — Beme au XYIII si^e. (Extrait d*iin yolume
in^it da Voyage dans la Suisse occideniale 1781.) Berue 1853.
Tieitayahnohzin fOr littontiirgesohichte m 8
114 Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl A-ogust an E. F. ▼. Sinner in Bern.
GrosBen Bathes von Bern, 1776 Landvogt zu Erlach und
starb 1787.^) Die neueren Herausgeber der Briefe Goethes
an Frau Yon Stein') haben jene Angabe SchöUs ^Sinner,
der Bibliograph' ohne weitere Prüfung wiederholt. Aber
^Sinner von Balaigues' war nicht der von Goethe Genannte.
Bei seiner Ankunft in Bern im Herbste 1779 brachte
Carl August, wie die unten folgende Vorbemerkung zu den
Briefen des Herzogs an Sinner zeigt, 'ein Empfehlungs-
schreiben' an Earl Ferdinand yon Sinner mit. Karl Ferdi-
nand Yon Sinner war der zweite Sohn des 1771 zum Schult-
heissen von Bern erwählten Friedrich von Sinner, eines der
gebildetsten und ausgezeichnetsten unter den Oberhäuptern
der Stadt und Republik Bern im 18. Jahrhundert.
Friedrich Yon Sinner, 1713 geboren, hatte 1730, be-
gleitet von seinem letzten Hauslehrer, Samuel Schmid 'yon
Rossens' ^), die Uniyersität Marburg bezogen, er hatte dann
nach dreijährigem Aufenthalt in Marburg Holland und Frank-
reich durchreist und war 1734 nach Bern zurückgekehrt.
Hier wurde er Mitglied der 1739 yon dem Theologen
Hürner gestifteten 'Deutschen Gesellschaft', welche sich die
Pflege der damals überhaupt und besonders in Bern so
yernachlässigten deutschen Sprache und Litteratur zum
Ziele setzte und an welche im Jahre 1742 J. Chr. Gottsched
jene Zuschrift richtete, die im 7. Bande seiner 'Beyträge
zur critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und
Beredsamkeit' u. s. w. zu lesen ist.
Wie alle seine Mitbürger aus den angesehenen bürger-
lichen Familien Berns betrat auch Friedrich yon Sinner
frühzeitig die politische Laufbahn seiner Vaterstadt. 1745
*) Bemer Taschenbuch auf das Jahr 1853 S. 283.
*) Goethes Briefe an Frau y. Stein, hg. yon Adolf Scholl, zweite
yerrollständigte Auflage, bearbeitet yon W. Fielitz, Frankfurt a. M.
1883 1, 454. Goethes Liebesbriefe an Frau yon Stein. Mit Übersichten
und Anmerkungen yon Heinrich Düntzer. Leipzig 1886 S. 156.
*) Ober Schmid y. Rossens 1737—96, der 1765 einem Bufe des
Markgrafen yon Baden nach Karlsruhe folgte, wo er Director der Biblio-
thek und des Kunstcabinetes wurde und der später in Frankfurt a. M.
sich niederliess, ygl. die im Bemer Taschenbuch 1853 angeführte Lit-
teratur, und Wieland, Ausgew. Briefe 2, 40. 117 : *petit maitre Egyp-
tien, petit maitre antiquaire".
Hiizel, Briefe d. Herzogs Carl Augast an K. F. v. Sinner in Bern. 115
ward er Mitglied des Grossen Rathes von Bern, 1750 Land-
Yogt von Interlaken, 1765 Yenner, 1767 Deutseh-Seekel-
meister d. h. Finanzdirector der Deutseh-bernischen Lande,
1771 wie bereits erwähnt ist, Schaltfaeiss, welches Amt er
bis zu seinem Tode, 23. Februar 1791, bekleidete.
Über alle diese Beamtungen Sinners und seine sonstige
öffentliolie und private Thätigkeit kann man in dem Lebens-
abriss Sinners nachlesen, welchen Friedrich y. Fischer im
10. Hefte der 'Sammlung Bernischer Biographien' S. 93 fip.
gegeben hat.')
Friedrich v. Sinner gehörte zu den Freunden Albrecht
Hallers und zu dem Bekanntenkreise der Julie Bondeli. Er
war mit Yoltaire und, wie es scheint, auch mit Rousseau
persönlich bekannt. Er berief 1759 den jungen Wieland
von Zürich her zum Lehrer seiner Kinder, d. h. Yomehm-
lich seiner beiden Zwillingsknaben, yon denen der jüngere,
der obengenannte Earl Ferdinand, 1748 geboren war.*)
Karl Ferdinand y. Sinner war demnach, als Carl August
und Ooethe nach Bern kamen, einunddreissig Jahre alt.
Eine öffentliche 'Bedienung', wie man in Bern sagte, scheint
er damals nicht gehabt zu haben. Erst 1785 kam er in
den Grossen Rath. 1793 ward er Landvogt yon Thun. Nach
der Beyolution kam er 1803 und 1816 abermals in den
Grossen Rath, 1806 und 1816 war er Mitglied des Kleinen
Käthes.'') Er war auch Oberst und starb 1826.
*) Sammlang Bemischer Biographien, hg. vom historischen Verein
des Kantons Bern. Bern, Verlag von Schmid, Francke u. Co. 1888. Eine
sehr lebendig und fein modellirte Porträtstatuette Sinners in Thon, von
V. Sonnenschein (1749—1816, Bern. Taschenb. 1853 S.284) befindet sich
im Ennstmnsenm zn Bern.
') y. Fischer a. a. 0. — Friedrich t. Sinner war der Vetter jenes
Specialfreundes Albr. Hallers, Joh. Bud. y. Sinner, geb. 1702, dem
Hallers Gedicht *Der Mann nach der Welt' gewidmet war (ygl. L. Hirzel,
Hallers Gedichte S. CXXXVII und 102). Die Väter Friedrichs und des
ebengenannten Joh. Rudolf (der also ebenfalls nicht mit dem *yon
Balaigues' zu yerwechseln ist) waren Brüder und Söhne eines dritten
Johann Rudolf, der yon 1696—1708 Schultheiss war. Über den letz-
teren ygl. Sammlung Bern. Biograph. 10. Heft 8. 85 ff.
^) Über den Unterschied des Kleinen yom Grossen Rathe sowie
über die Bedeutung der yerschiedenen andern oben erwähnten Ämter
im alten Bern kann der Leser sich orientiren in: Deliciae Ürbis Bemae.
8*
116 Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl Augast an E. F. v. Sinner in Bern.
Wenn Carl August von Sachsen-Weimar an Karl Ferdi-
nand von Sinner ein Empfehlungsschreiben mit nach Bern
brachte, so kann es wohl kaum einem Zweifel unterliegen,
dass es Wieland gewesen ist, der dieses Empfehlungs-
schreiben ausgestellt hat : von dem einstigen Lehrer empfing
der jüngere ehemalige Zögling Carl August einen Brief an
den älteren, welcher letztere ja einst unter Thränen den
zärtlichsten Abschied von Wieland genommen hatte. ^) Und
wenn andererseits Goethe in seinem Briefe an Frau v. Stein
den Namen 'Sinner' erwähnt, so ist es wiederum zweifellos,
dass mit diesem Namen nicht Sinner 'von Balaigues', son-
dern nur Earl Ferdinand v. Sinner oder vielleicht dessen
Vater, der Schultheiss Friedrich, dem die weimarischen
Beisenden jedenfalls ihre Aufwartung machten, und den sie
persönlich kennen lernten (vgl, die unten folgenden Briefe),
gemeint sein kann.
Earl Ferdinand von Sinner hatte, wie er in dem Yor-
berichte zu Carl Augusts Briefen an ihn erzählt, 'die Ehre
S[einer] D[urchlaucht] alles Sehenswürdige in Bern und
und Umgebung zu zeigen'. Bei den Unterhaltungen der
beiden Männer kam, wie es scheint, die Rede auf das im
Schlosse Spiez am Thuner See befindliche Porträt des Her-
zogs Bernhard von Weimar, sowie auf die den berühmten
Yorfahren Carl Augusts betreffenden Papiere, welche der
Nachkomme Hans Ludwigs v. Erlachs, des einstigen Ober-
generals in der Armee Herzog Bernhards, Albrecht Fried-
rich V. Erlach, in seinem Schlosse zu Spiez bewahrte.
Carl August sprach zunächst den Wunsch aus, das Bild
Herzog Bernhards zu sehen. Aus den zwei ersten der
unten folgenden Briefe und aus der Yorbemerkung Sinners
zu den Briefen des Herzogs kann man entnehmen, dass
Carl August das Original noch in Bern selbst durch Sinners
Bemühungen zu sehen bekam (er bedankt sich dafür bei
Sinner am letzten Tag seiner Anwesenheit in Bern *)), dass
Merkwürdigkeiten der hochlöbl. Stadt Bern. [Von J. R. Grüner.]
Zürich 1732.
') Vgl. Wielands Brief über seinen Abschied ans dem Sinnerschen
Hanse. Archiv für Litteraturgeschichte 13, 223 fP.
*) 'Heut früh sind wir von Bern aV schrieb Goethe am 20. October
an Frau v. Stein (1 «, 198).
Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl August an E. F. v. Sinner in Bern. | { 7
er sich eine Ton dem Maler Hartmann^^) anzufertigende
Copie bestellte, und dass er nach vielen Schwierigkeiten,
die Sinner deswegen mit Herrn v. Erlach hatte, diese Copie
zu Anfang des Jahres 1780 erhielt. Zum Danke für seine
Bemühungen Hess der Herzog am 10. Januar 1780 durch
Goethe eine goldene Dose an Sinner senden: er selbst be-
gleitete das Geschenk mit den unter dem genannten Datum
geschriebenen Zeilen, aber auch Goethe scheint bei diesem
Anlass an Sinner geschrieben zu haben, da am 20. Januar
1780 seiin Tagebuch die Notiz yerzeichnet: 'An Sinnern'. ^^)
Aber nicht bloss das Porträt Herzog Bernhards, son-
dern auch die zahlreichen von ihm selbst herrührenden und
auf ihn bezüglichen Urkunden, welche aus dem Besitze des
^^) Jean Hartmann, eigentlich Job. y. Schmidt, der natürliche
Sohn eines österreichischen Offiziers nnd einer vomehmen Dame ans
Nassan, ward 1753 geboren, und, 16 Jahre alt, der Schüler des Mann-
heimer Landschaftsmalers Eobell. Er kam 1776 nach Biel im dama*
ligen Bisthum Basel nnd wurde durch seine Kunst bald weit bekannt.
Er malte besonders Landschaften, die Gegenden des Jura, die Ufer
des Bieler Sees , die Petersinsel u. a. Über ihn spricht Dr. S. Schwab
in der Schrift L*art et les artistes du Jura Bemois, Bapport de la so-
ci6t4 cantonale des Beaux-Arts pour les ann^es 1886 et 1887. Beme,
Schmid, Francke et Comp. 1888. Daselbst heisst es S. 17 : ^Goethe, au
cours de son voyage en Suisse, lui rendit visite dans sa solitude; il
ne contribua peu k le faire connaltre et k lui procurer des commandes
de la part du Duc de Weimar et des cours d^Angleterre, d*Autnche
et de Russie. Des lettres fnrent ächangdes entre euz; malheureuse-
ment elles n*ont pas ät^ consery^es. Mais il parait que Goethe poussa
yivement Hartmann — ou plutdt de Schmidt son y^ritable nom — k
revendiquer les droits qu*il devait ä sa naissance; au proc^s fut m^me
ent&md, puis, sur les instances de personnes interessdes, suspendu et
enfin abandonnd. A Tabandon du procbs se rattachait la condition
qu'une pension dleyäe lui serait rdg^i^ement sende* etc. Qartmann
starb 1830 im Kanton Waadt. Vgl. (R. y. Efßnger) Vortrag gehalten
bei der Hauptyersammlung des Bemer Kantonal -Kunstyereins d.
9.Dec. 1862, Bern 1863. Nagler 5, 568. Müller, Die Künstler etc.
2, 346. Katalog des Zofinger Künstlerbuches, Zofingen 1876 S. 23.
") Goethes Werke, Weimar 1887, m 1, 106. In seiner Ausgabe
yon Goethes Tagebüchern, Leipadg 1889 S. 181, schreibt Düntzer wieder
zu dem Namen Sinner die Anmerkung SchöUs nach, indem er bemerkt:
'Den gelehrten Bücherkenner J. B. y. Sinner, damals Landyogt in Erlach,
hatte Gk>ethe in Bern kennen gelernt. Er beschäftigte sich auch mit
Mineralogie' !
118 Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl August an E. F. v. Sinner in Bern.
Generalmajors Hans Ludwig v. Erlach im Schlosse zu Spiez
aufbewahrt wurden (und welche daselbst geblieben sind,
bis 1875, bei der Yersteigerung der Spiezer Bibliothek,
Dr. y. Gonzenbach in Bern, der Biograph H. L. v. Erlachs,
dieselben erwarb), wollte der Herzog von Weimar kennen
lernen und womöglich erwerben. In dieser Absicht hatte
er schon in seinem ersten Briefe an Sinner, noch in Bern,
um ein Yerzeichniss der Papiere gebeten, das er auch er-
hielt und für dessen Besorgung er sich am 6. März 1780
bei Sinner bedankte. Aber nach Durchsicht dieses Ver-
zeichnisses wünschte Carl August die Documente selbst.
Die Erfüllung dieses Wunsches stiess jedoch bei der Fa-
milie Y. Erlach auf die grossten Schwierigkeiten. Nicht
nur Earl Ferdinand y. Sinner, sondern auch dessen Yater,
der Schultheiss Friedrich, bemühten sich vergeblich in dieser
Angelegenheit. Carl August schrieb am 18. Mai 1780 selbst an
den mit Friedrich y. Sinner im Amte wechselnden zweiten
Schultheiss Albrecht Friedrich y. Erlach ^^), wie an dessen
Neffen gleichen Namens auf Schloss Spiez. Umsonst. Man
bot ihm schliesslich Copien der Documente an, mit denen
Carl August sich auch zufrieden geben wollte. Dennoch
ist es zweifelhaft, ob eine Auslieferung solcher Abschriften
damals erfolgt sei. In seinem bekannten Werke 'Herzog
Bernhard der Grosse^ Weimar 1 828 ff. berichtet Böse, dass
Carl Augusts Bemühungen um Abschriften der Spiezer Pa-
piere 1780 erfolglos geblieben und solche Abschriften erst
^Yor einigen Jahren' nach Weimar gekommen seien.
Eine wesentliche Ursache des Terlangens des Herzogs
Yon Weimar, die Papiere Herzog Bernhards zu erhalten,
mag die damals Yon Goethe gehegte Absicht gewesen sein,
'*) Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, dass auch eine weitere
Erklärang Ad. Schölls zu dem Briefe Goethes an Fran y. Stein Tom
16. October 1779 unrichtig ist. Scholl setzt zu dem Namen Tschamer
hinzu: Schultheiss. Es gab damals keinen Schultheiss dieses Namens,
sondern Sinners Genosse im Amte war eben der hier bezw. unten in
dem Briefe Carl Augusts yom 18. Mai 1780 erwähnte Erlach. Vgl. die
Liste der Schultheissen von Bern in Durheim, Bemer Chronik, Bern
1859 S. 29Ö. Auch diese irrthümliche Notiz SchöUs haben Fielitz und
Düntzer wiederholt.
n
Hinel, Briefe d. Herzogs Carl August an K. F. y. Sinner in Bern. 1 1 9
die Biographie Herzog Bernhards zu schreiben. In Goethes
Briefen an Lavater liest man S. 83 (Brief vom 5. Juni 1 780) :
^Yielleicht schick ich dir ehestens ein Portrait von dem
Herzog Bernhardt aus dem hiesigen Hause, um mirs von
Lipsen stechen zu lassen . . . Ich scharre nach meiner Art
Yorrath zu einer Lebensgeschichte dieses als Helden und
Herrschers wirklich sehr merkwürdigen Mannes, der in
seiner kurzen Laufbahn ein Liebling des Schicksaals und
der Menschen gewesen ist, zusammen und erwarte die Zeit,
wo mirs vielleicht glücken wird, ein Feuerwerk draus zu
machen. Seine Jahre fallen in den dreissigjährigen Krieg.
Sein und seiner Brüder Familien-Gemälde interessirt mich
noch am meisten, da ich ihren Urenkeln, in denen so
manche Züge leibhaftig wieder kommen, so nahe bin. Übri-
gens Tersuche ich allerley Beschwörungen und Hocus pocus
um die Gestalten gleichzeitiger Helden und Lumpen in
Nachahmung der Hexe zu Endor wenigstens bis an den
Gürtel aus dem Grabe steigen zu lassen und allenfalls irgend
einen König, der an Zeichen und Wunder glaubt, ins
Bockshorn zu jagen.' Indessen haben diese Yersuche Goethes
bekanntlich zu keinem Resultat geführt. In den ^Tages-
und Jahresheften' steht: ^Dagegen wurde manche Zeit und
Mühe auf den Yorsatz, das Leben Herzog Bernhards von
Weimar zu schreiben, vergebens angewendet. Kach viel-
fachem Sammeln und mehrmaligem Schematisiren ward zu-
letzt nur allzuklar, dass die Ereignisse des Helden kein
Bild machen. In der jammervollen Iliade des dreissigjäh-
rigen Krieges spielt er eine würdige Rolle, lässt sich aber ^ /"
von jener Gesellschaft nicht absondern. Einen Ausweg
glaubte ich jedoch gefunden zu haben: ich wollte das Leben
schreiben wie einen ersten Band, der einen zweiten noth-
wendig macht, auf den auch schon vorbereitend gedeutet
wird; überall sollten Yerzahnungen stehen bleiben, damit
jedermann bedaure, dass ein frühzeitiger Tod den Bau-
meister verhindert habe sein Werk zu vollenden. I^
mich war diese Bemühung nicht unfruchtbar; denn wie das
Studium zu Berlichingen und zu Egmont mir tiefere Ein-
sicht in das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert ge-
währte, so musste mir diesmal die Yerworrenheit des sieb-
1 20 Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl August an E. F. v. Sinner in Bern.
zehnten sich mehr als sonst vielleicht geschehen wäre,
entwickeln.'^')
Yielleicht war die Hartnäckigkeit der Herren v. Erlach
mit die Ursache, dass Goethes hier erwähnter Plan nicht zur
Ausführung kam und auch dann, wie es scheint, nicht weiter
gedieh, als Albr. Friedr. v. Erlach unter dem Titel: M^moires
historiques concernant M. le g^n^ral d^Erlach, Gouverneur
de Brisach, Pays et Places en däpendants etc. etc. Pour servir
k l'histoire de la fameuse guerre de XXX ans et des rögnes
de Louis XHI et de Louis XIV. Yverdon MDCCLXXXIV
ein Werk von vier Octavbänden veröffentlicht hatte, das
auch über den Herzog Bernhard eine Reihe unbekannter
Actenstücke aus den Spiezer Papieren in die Öffentlichkeit
brachte. Wohl um seine Zurückhaltung gegenüber Carl
August zu entschuldigen, hatte Albr. v. Erlach, ^Baron de
Spiez', wie er sich nennt, dieses letztgenannte Werk dem
Herzog Carl August dedicirt. Die Vorrede ^k son Altesse
Sörenissime, Monseigneur Charles- Auguste Duc Regnant de
Saxe- Weimar' erwähnt aber mit keinem Worte der voraus-
gegangenen Verhandlungen zwischen den beiden Männern.^*)
Dem ersten Bande des Werkes ist ein Bild Hans Ludwigs
V. Erlach und ein solches Herzog Bernhards beigegeben ; im
letzteren sieht man wohl unzweifelhaft die Reproduction des
in den unten folgenden Briefen besprochenen Originales.^')
Sein persönlicher Verkehr mit Karl Ferdinand v. Sinner
während des Aufenthalts in Bern, die Aufträge des Her-
") Werke (Hempel) 27, 5.
^*) Die nrsprünglich deutsch geschriebenen Urkunden, deren Inhalt
A. y. Erlach in seinem Werke zur Kenntniss bi-achte, sind ins Fran-
zösische übersetzt! S. A. v. Gonzenbach in der Vorrede zu seiner um-
fassenden Biographie: Der General Hans Ludwig von Erlach, 3 Bände,
Bern 1880-82 1, VI.
^*) In architektonischer Umrahmung das medaillonförmige Brust-
bild des jugendlichen Helden im Panzer mit Schärpe und Kragen, vor
einem Vorhang und einer Säule. Im Hintergrunde eine kriegerische
Scene. Die Umschrift zu beiden Seiten und unterhalb des Bildes lautet:
'Bernhard par la grace de dieu Duc de Saxe etc. etc. Generalissime*.
Unter dem Bilde in besonderer Einfassung: *Condignus haeres Saxonis
fidi sacris, et marte, et arte Principum nullo minor Regi heu! cadenti
laureum meritus manu Bernardus hie est, Teutonum et Gothi decus*.
Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl August an K. F. v. Sinner in Bern. 1 2 1
zog8 nach der Rückkehr von der Schweizerreise und sein
eignes Interesse an dem weimarischen Helden, dessen Leben
die Bemühungen Sinners aufzuklären versprachen, hat auch
Qoethe in brieflichen Yerkehr mit Sinner gebracht. ^') Doch
konnten die Briefe, die Goethe an Sinner geschrieben hat,
leider nicht mehr gefunden werden. Aus erhaltenen Ent-
würfen Sinners zu Briefen an Goethe geht aber hervor, dass
Sinner am 28. April 1780 einen zweiten Brief von Goethe
erhalten hat (der erste war der obenerwähnte, am 20. Januar
geschriebene) und dass auch im Mai 1783 Sinner durch
Vermittlung des Herrn v. Beulwitz einen Brief von Goethe
erhielt. Über den Inhalt der ersten Briefe Goethes an
Sinner erfahren wir aus den Concepten Sinners, dass irgend
eine, nicht näher zu ermittelnde 'Übereilung' Sinners Goethe
gegen diesen 'aufgebracht' hat, dass Sinner eine sehr 'kurz
gefasste Antwort' folgen Hess, dass dann aber eine 'äus-
serst erfreuliche' Antwort von Goethe erfolgte. Der dritte
der Briefe Goethes an Sinner, vom Mai 1 783, war ein Em-*
pfehlungsschreiben, mit welchem Goethe die Frau v. Lenge-
feld und deren Töchter bei Sinner einführte. In seinem
Concepte zu einer Antwort an Goethe auf dieses Schreiben
sagt Sinner zuerst seinen Dank für den Brief und die Yer-
mittelung der Bekanntschaft mit den liebenswürdigen Damen.
Dann föhrt er fort: 'Ich habe mit Vergnügen aus ihrem
Munde erfahren, dass der Herzog ihren grossen Verdiensten
gemäss Sie in das Weymarische Ministerium erhoben hat.
Geniessen Sie die Huld Ihres vortrefflichen Fürsten, wie
auch die Hochachtung aller Welt, bis in das höchste Alter.
Gönnen Sie mir, Ihrem Bewunderer und, wenn ich es sagen
darf, Ihrem Freunde, Ihre Gewogenheit und Ihr schmeichel-
haftes Andenken'.^'')
^') An die oben erwähnte Notiz aus Goethes Tagebuch: 'An
Sinnem' schüesst sich die unmittelbar folgende: *Auf die Bibl[iothek]
wegen Beruh [ards] Leben* also ganz naturgemäss an und zeigt, dass
Goethe wegen der Angelegenheit der Biographie Herzog Bernhards
an Sinner geschrieben haben muss.
") Inwieweit die hier erwähnten Concepte Sinners zur Aus-
führung und die ausgeführten zur Absendung nach Weimar gekommen
sind, weist vielleicht eine durch die vorliegende Veröffentlichung zu
erhoffende Mittheilung aus dem Goethe-Archiv gelegentlich nach.
\ 22 Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl August an K. F. v. Sinner in Bern.
Am Schlüsse dieser einleitenden Bemerkungen hat der
Verfasser der vorstehenden Blätter die angenehme Pflicht,
der gütigen Besitzerin der Briefe Carl Augusts an Karl
Ferdinand v. Sinner, Frau v. Diessbach-v. Tavel, in Bern,
sowie H. Oberst Rudolf v. Sinner in Bern den Terbind-
liebsten Dank für die Übermittelung der hier veröffentlichten
werth vollen Actenstücke auszusprechen. H. Oberst v. Sinner
gebührt der besondere Dank des Yerfassers dieser Zeilen,
und der Freunde der Litteraturgeschichte überhaupt, auch
insofern, als seinen gütigen Mittheilungen die oben ste-
henden Notizen über die verschiedenen Mitglieder der Fa-
milie V. Sinner entnommen werden durften.
An den Ausdruck dieses Dankes darf sich vielleicht
endlich auch noch der Ausdruck einer Hoffnung reihen.
Der Hoffnung nämlich, dass es gelingen möchte, einmal
sicher zu ermitteln, wer jener Herr v. Sinner gewesen, der,
aller Wahrscheinlichkeit nach , diejenige Dramatisirung
einiger Motive aus ^Werthers Leiden' verfasste, die unter
dem Titel 'Les malheurs de l'amour, Drame, Beme, chez
B. L. Walthard 1775' (mit Titelblatt und Schlussvignette
von B. A. Dunker) erschienen ist. ^®) Für ^Sinner von Ba-
laigues' spricht dessen vielseitige litterarische Thätigkeit.
Aber wo sind die Nachweise?
Vorbemerkung Sinners zu den Briefen
Carl Augusts.
Im Herbst 1779 käme der regierende Herzog von Sachsen-
Weimar, begleitet nebst andern Gavaliers von dem berühmten
Herrn Göthe, nach Bern. Er, der Herzog, hatte ein Empfehlungs-
schreiben an mich. Ich hatte die Ehre S. D. alles sehenswürdige
in unserer Stadt und derselben Umgebungen zu zeigen. — Er
ersuchte mich, eine Copie von dem im Schlosse Spietz sich befin-
denden Original Portrait des berühmten Herzogs Bernhard von
Einstweilen musste der Verfasaer vorstehenden Aufeatsses auf die voll-
ständige Wiedergabe der Goncepte Sinners verzichten.
>•) Albr. Haller an E. F. v. Gemmingen, den 20. April 1775:
*Ein hiesiger Edelmann hat Werthem in ein firanzÖBisches Drama ge-
bracht* (nngedrackt). J. J. Bodmer an Schinz 14. Angust 1776 (Qoethe-
Jahrb. 5, 197) : *Wir müssen doch Sinners Werther auch sehen. Ein
Prama davon muss sehr die Mine einer Elegie haben'.
Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl August an K. F. ▼. Sinner in Bern. ] 23
Sachsen-Weymar inaclien zu lassen und sie Ihme nach Weymar
zu senden. Nach vielen Bemühungen gelang es mir endlich das
Original Ton Hern v. Erlach in Spiez auf einige Zeit zu erhalten.
Kunstmahler Hartmann verfertigte davon eine sehr gute Gopie.
Nach Empfang derselben geruhten S. D. mir Ihren Dank nebst
Übersendung einer goldenen Dose durch Ihren geheimen Rath
Göthe zukommen zu lassen. Von daher rühren die Briefe von
dem Herzogen an mich her. v. Sinner.
Briefe Carl Augusts an K. F. v. Sinner.^*)
1.
Berne ce 20 d'Octobre 1779.
G'est avec les sentiments de la plus vive reconnoissance
Monsieur pour toutes les bont^ et polilesses dont Vous m*avez
Gombl^ pendant mon s^jour k Berne que je Vous en offire mes
remerciments; soyez sur Monteur qu'ils sont bien vrais et sinceres.
Je Vous envoi le portrait du Duc Bernhard, avec priere de le
faire remettre ä Mr. d'Erlach avec bien des remerciments de ma
part pour sa complaisance. Ajoutez k tout ce que Vous avez
bien voulu faire pour moi, encore cette bont6 de me faire tirer
une c(^ie bien fidel e de ce portrait par Hartmann, si Mr.
d*Erlach le permet. S'il est achev^ Vous aurez la bont^ Mon-
sieur de me le faire venir ä Weimar. J*ose Vous prior en m^me
tems Monsieur de tächer d'avoir la liste des papiers du Duc de
Weimar qui se trouvent k Spiez et de me l'envoyer. Ce sera
mettre le comble a ma reconnoissance si Vous voulez Vous charger
de ces commissions, que je prends la hbert6 de Vous donner; par-
donnez mon griffonage, mais soyez assurez que rien negaie les
sentiments que je Vous ai voue pour la vie.
Charles. D, d. S. W.
[Adresse] A Monsieur le Gapitaine de Sinner.
Weymar den 10 Jan. 1780.
Unter vielen annehmlichkeiten , die ich meiner Reise in die
Schweitz verdanke, ist die Ihrer Bekanntschaft, werther Herr
von Sinner, mir eine der vorzüglichsten. Die vielen höflichkeiten,
u. Dienste, welche Sie mir veährend meines Aufenthaltes in Bern
erzeigt haben, sind mir auf immer unvergesslich. Empfangen Sie
meinen lebhaftesten Dank dafür. Ich wünsche dass das kleine
Geschenk, welches ich hier beylege, u. Sie gütigst annehmen
wollen, Sie zuweilen an mich, u. an die angenehmen tage, welche
ich mit Ihnen zuzubringen das Glück hatte, errinnern möge, u.
^*) Orthographie und Interpunction nach den Originalen.
1 24 Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl Augaet an K. F. y. Sinner in Bern.
Ihnen ein beständiger Zeuge sey, von der wahren hochachtung,
weiche ich für Sie hege. Leben Sie wohl.
Carl August. HzSachsenW.
3.
A Monsieur
Monsieur le Gapitaine de Sinner
Second ßls de Mr. Tavoyer
a Berne en suisse.
[Re<2ue le 2 d'avril 80]
[Rückseite: par addresse de Vos tres humbles et tres obeiss
Seryiteurs freres Bethman.]
Weimar ce 6 de Mars 1780.
J^ai requ Monsieur, Votre derniere du 2 de fev. ainsi que
Celle qui precedoit le portrait du D. Bernhard. Je suis on ne
peut pas plus reconnoissant des peines que vous avez bien touIu
Vous donner pour me le procurer; mon voyage a 616 j'usqu'a
chez moi irhs heureux, un peu de mauvais tems nous a incom-
mod6y mais en nous arrettant souvent, a des endroit interessant,
cela a 6t6 fort supportable.
J'ai pass6 par Studtgardt ou je me suis arret6 8 jours. Puis
en passant par Garlsruh, en Darmstadt, j*ai visit6 mes parents.
G*est le 19 de Janvier que je suis arrivä ici. Le grand froid ne
fait que de nous quitter; at-il 6t6 si fort chez Vous en Suisse
aussi? Je suis bien sensible au souvenir de Mr Pavoyer votre
pere; je compte pour une des plus heureuses circonstances de mon
voyage que j'ai eu la satisfaction de faire sa connoissance. Je
Vous prie Monsieur de lui dire bien de helles choses de ma part
et de Tassurer de la verit6 de la haute estime que je lui porte.
Je suis sur que rien ne me procurera plus facilement la
possession des papiers du Duc Beruh, qui me sont a cause de
rhistoire de ce grand homme si interessant que si Vous Monsieur
et Mr l'avoyer voudront bien continuer d'employer Votre Credit
pr6s Mr. le Baron de Spietz. Vous me Vous rendez bien rede-
vable encore par la peine que Vous voulez bien Vous donner
pour me procurer ces papiers; En verit6 Monsieur je ne saurai
rien par quoi Vous pourriez plus m*obhger, que par ce Service.
Les originaux qui ne sont d'aucune Utility a Mr d*Erlach me le
seroient, a en juger par le Catalogue que Vous avez eu la bont6
de m'envoyer nous manquant tout detail exact et authentique de
ce Duc. Vous voudrez bien remercier Mr de Spietz de ma part
de ce qu'il a bien voulu de me faire parvenir ce Catalogue.
Adieu Monsieur, je vous prie de me donner souvent de nouvelles,
vos lettres me seront toujours interessants, je serai charm6 d*ap-
prendre par Vous des nouvelles d^un pays que j*aime tant et au-
quel je dois de jours et de connoissances si agreables. Je Vous
Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl August an K. F. v. Siuner in Bern. \ 25
prie de croire quo las sentiments, et la parfaite consid^ration que
je Vous porte, ne se changeront jamais.
Charles DdSW.
4.
A Monsieur le capitain de Sinner
second fils de M' Tayoyer
a Herne en Suisse.
fro Schaflfhs.
[Am Rande (und auf der Rückseite von der Hand des Empfängers):
2 Juni 1780.]
Weimar ce 18 de M. 1780.
Vous m*aviez conseill^ Monsieur de m'adresser droit a TAvoyer
Erlach et ä son neveu, pour obtenir les papiers du Duc Bernhard
de Weimar, qui se trouvent dans le chateau de Spietz; je vous
envoi pour cela deux lettres que je vous prie de remettre selon
leurs adresses. Pardonnez moi, Monsieur, que je Vous en charge.
Je serois tr^ 6tonn6 si mes lettres fussent d^un plus grand effet
que la peine que Vous et BIr. Votre pere avez bien voulu de
Vous donner pour me les procurer: Si contre mon attente je
reussirai de la faqon que Vous m^avez conseill^, je ne manquerai
jamais de me souvenir que ce n'est qu' ä la maniere comme
Vous avez bien voulu arranger Paffaire, que j*en deverai la reuissite.
Donnez moi bientdt de Vos nouvelles et croyez ä la veritä des
sentiments que je Vous porte. J*ai Thonneur d^^tre
Monsieur
votre tr^ affectionn^ serviteur
Charles DdSW.
Mr. Tavoyer votre pere trouve ici les assurances de la haute
estime que je lui porte.
5,
A Monsieur
Monsieur de Sinner, Capitaine,
Second fils de Mr Tavoyer
ä Avanche en Suisse p. Berne.
fr Schaffhs.
[Von der Hand des Empfängers: Requ le 28 Juillet 1780.]
W. ce 7 de Julliet 1780.
Votre lettre Monsieur du 21 du mois pass^, m*est venue, il
y a quelques jours. Je suis on ne peut pas plus reconnoissant
des peines infinies que Vous Vous donnez pour me procurer la
possession du papiers du Duc Bernhardt. L*amiti6 que Vous me
prouvez par la m'est extremement flatteuse et les marques en
seront imprim^ pour toujours ä ma memoire. Quoique, selon ce
que j'ai vu par votre lettre, Monsieur, Vous avez rendu a Mrs
126 Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl August an K. F. v. Sinner in Bern.
d^Erlach ce dont je Vous avois pri4 de Vous charger i]s ne m^ont
point repondu, ni Tavoyer ui sou gendre, la raison m'en est un
enigme, j^ n^espere pas que cela sera la faqon avec laquelle ils
vaudront me faire parvenir leur refus. Je ne Tai pas demand^
de droit a ees Mess, ce n'etoit que par complaisance que je
m^attendois quMls me cederoient cel papiers qui ne leur sont
d'aucune utilit^, et qui me seroient tr^ agr^able par rapport ä
rhistoire, du grand General. Que de cette negotiation arrive ce
que voudra, eile m'a prouv^ un grand bien en me faisant con-
noitre Monsieur, votre caractere amiable, bonete, et serviable.
Ges connoissances me sont tr^ precieuses et je souhaite leur
prouver le cas que j'en tais. Mr. Tayoyer Votre pere voudra bien
receyoir Tassurance de mon estime; adieu, Monsieur, conservez
moi les sentiments dont Vous m'avez donnes tant de marques si
^***^"^^^- Charles DdSW.
On m^a dit que Mr le Duo de Ghartre a mäne un singulier
train de vie chez Vous, pas trop a sa louange cela est-il vrai?
11 n'a fait que parcourir la Suisse. Je Vous envie de passer la
belle Saison dans cette belle contr^e d'Avenche. Mad. Votre belle
mere youdra bien se souyenir de moi. Pardonnez mon griffonage.
6.
A Monsieur
Monsieur le capitaine de Sinner
Second fils de Mr Tayoyer
fr. Schaffhse ä Ayenche, en Suisse.
[Recue le 8. 7.»"« 1780.]
W. ce 26d'Aout 1780.
Votre lettre du 3 de ce mois, Monsieur, m^est yenue. Vous
§tes trop modeste de ne pas youloir reconnaitre combien je Vous
suis redeyable pour loutes les peines que Vous ayez bien youlu
Vous donner pour m*obliger. J'aurois §t6 plus embarrass^ de de-
mander les papiers si souyent mentionn^s, en fussiez Vous le pos-
sesseur, connoissant Votre amiti^ pour moi, et le desir que Vous
ayez de rendre des seryices a ceux qui ont eu le bonheur de Vous
interesser.
Mrs d Erlach m^ont epargn^s cet embarras de delicatesse.
J^ai recu reponse d'eux, peu de tems apräs que Vous re^utes ma
derniere lettre. Ils mont refuses nettement les originauz et m'en
ont ofifert des copies. Je me yois oblig6 d'accepter cela et je le
leurs ferais ecrire.
La Secheresse ä 6t^ des plus forte dans toute TAUemagne
et cela a nuit a beaucoup de choses. Les präiries en ont beau-
coup soufifert, et la paille, qui est un grand article chez nous, est
rest^e tres courte. Cela incommode beaucoup nos economes.
Hirzel, Briefe d. Herzogs Carl August an E. F. y. Sinner in Bern. 1 27
Mr Votre [pere] voudra bien recevoir les assurances de ma
haute estime, et Vous, Monsieur, serez assur^ de l'invariabilit^ des
sentiments que je vous porte. ^, , tnjoitt
^ Charles DdSW.
7.
A Monsieur
Monsieur le Gapitaine de Sinner
Second fils de Mr Tavoyer „ ^ .
a Berne, en Suisse.
W. ce 26 Nov. 1780.
Ce n*est point paresse Monsieur, qui m*a fait differrer si
longtems a Vous repondre, mais une absence me priva du plaisir
de recevoir Votre lettre plustot. Vous avez bien tord, Monsieur,
croyant que Vous puissiez m'incommoder en m^ecrivant, je suis
enchant^ de recevoir de Vos lettres et par la des nouvelles d^une
contra que j^aime tant comme Votre pays natal.
C^est presentement que j'avois quitt^ le canton de Berne
pour le sauvage Valais, ou pour mieux dire, c'est plustot un de
ces jours Tanniversaire de mon arriv^ a Zürich.
Nous avons joui d'un assez bei automne, et ce n^est que le
froid qui nous manque pour que ce roois nous soit tout a fait
agr^able; mais les Aurores boreales qui ne nous quittent presque
point la nuit depuis quelques jours nous annoncent Tapproche de
tous les plaisirs froids que Thiver nous apporte. Ce seroit dans
Votre ville que je voudrois pouvoir passer cette saison, et attendre
la le retour du beau verd qui nulle part est aussi beau qu'en
Suisse.
Si Toccasion me manque de Vous voir cela ne m^empeche
point de Vous dire de bouche que les sentiments d*une estime
particuliere que je Vous porte, sont vrais et inalt^rables. Adieu
^^^«^^^ Charles DdSW.
Mr. Votre pere voudra bien recevoir bien des compl. de
ma part.
8.
W. le 8 de Jan. 1781.
Je viens de recevoir Monsieur Votre lettre du 30 X*»'. Vous
m'avez donnez par la une nouvelle marque de Votre Souvenir et
de Votre amitie. Vous aurez commenc^ Tann^ selon mes voeux,
Sans aucune inqui6tude, je desire que Vous jouissiez dans son
cours d'une parfaite sant^ et d*un contemtement non interrompu.
Nous avons dans ce pays ci et dans toute la contr^e de la neige
que depuis quatre jours; ou froid sec, ou un d^^le general est
le tems que nous avons eu, depuis le commencement de Phyver.
Cette Saison s'est suivi assez regulierement 7 >- 8 jours d*un froid
sec, fut ordinairement suivi d'un d^61e de 2— 3 jours; puis le froid
1 28 Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
reprit avec v^h^inence. Las semences en souffriront beaucoup.
Tous les proprietaires des magazins n'y perdront rien. N^avez
Vous pas besoin de faire quelque achat de Bled dans Votre pays?
La Thuringue qui en abonde serait bien chann6 de Vous en four-
nir. En cas que Votre Repubiique en auroit besoin, donnez nous
la preferance. D*ou est ce que Vous tirez les denr6es avec les-
quels Vous formez Vos magazins? Est-ce par le charoi que Vous
les transportez ou bien Vos rivieres Vous servent-ils ä cet usage?
Entre autres bons instituts que Vous avez chez Vous s'y trouye-t*il
un Lombard? En cas que cela soit, je Vous prierois de m^en faire
parvenir la description, Tordre dans lequel il se trouve et la
faQon comme il est m§n6. Pardonnez moi la libert^ que je prends
de Vous charger de ces commissions, et croyez Monsieur, que
Testime que je Vous porte, est tr^ distingu6e et inviolable. Adieu
^^^^^^^^' Charles DdSW.
Bern. Ludwig Hirzel.
Die Anordnung der Sehillersclien Gedlehte.
1.
Für die Gedichte Schillers hat sich die Anordnung,
welche Körner nach des Dichters Tode traf, allgemein ein-
gebürgert und ist bis auf die Gegenwart massgebend ge-
blieben. Der weitere Ereis der Leser hat sich gewöhnt,
die Gedichte in dieser Reihenfolge zu gemessen, nicht selten
begegnet man der Meinung, dass sie vom Dichter selbst
herrühre, sogar in Abhandlungen über einzelne Gedichte
sieht man Schlüsse auf die Bedeutung derselben aus ihrer
Stelle in dieser Sammlung gezogen ! ^) — Gewiss wird nie-
mand die Yorzüge der Eömerschen Redaction verkennen:
geschickt verbindet sie den historischen Gesichtspunkt mit
der Rücksicht auf die Verwandtschaft des Inhalts und weiss
so ein zusammenhängendes, übersichtliches und klares Bild
der Gedanken- und Empfindungswelt des Dichters zu geben.
Und doch darf man nicht vergessen, dass dieses Bild ein
künstlich von fremder Hand nachgeschaffenes ist, dass es
^) Vgl. meine Notiz in der Übersicht über die neuere Schiller-
litteratnr, Zeitachrifb f. deutsche Philologie 21, 90.
Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 129
wohl den Bedürfnissen und Forderungen der damaligen Zeit
entsprach, dass es aber jetzt Aufgabe eines Herausgebers
sein muss, das wahre, ursprüngliche an seine Stelle zu
setzen.
Aber wie ist dieses zu gewinnen? Goedeke glaubte
in der historisch-kritischen Ausgabe die Gedichte so genau
als möglich in der Reihenfolge ihrer Entstehung vorführen
zu müssen« Er blieb damit den Principien jener Ausgabe
treu, das allmähliche Wachsthum des Schillertextes zu ver-
folgen. Aber so hoch man den wissenschaftlichen Werth
eines solchen Verfahrens auch anschlagen mag, die höchste
Aufgabe der Ausgabe eines Schriftstellers kann doch nicht
die sein, die Materialien zur Erkenntniss seines Werdens
zu liefern ; sie darf nicht wieder in einzelne Bausteine auf-
lösen, was der Dichter schon zu einem kunstvollen Bau-
werk verbunden hat — mit einem "Worte : die vom Verfasser
selbst für seine Gedichte geschaffene Ordnung verlangt ge-
wissenhafteste Berücksichtigung, man darf weder über
sie hinausgehen — wie Körner, noch hinter sie zurück-
gehen — wie Goedeke that.
So sehen wir denn auch, wie für die neue Weimarer
Goethe-Ausgabe die Anordnung der Ausgabe letzter Hand
als unantastbar festgehalten wird, zumal nachdem Scherer
im Goethe- Jahrbuch Bd. 3—5 gezeigt hat, dass diese An-
ordnung fast durchweg vom Dichter mit gutem Grunde ge-
troffen ist und insbesondere bei den Gedichten auf fein-
sinniger künstlerischer Gruppirung beruht
Warum hat man bei Schillers Gedichten diese Rücksicht
bisher nicht beachtet?
Bekanntlich besitzen wir auch von ihnen eine vom
Dichter lange geplante und mit grosser Sorgfalt veranstal-
tete Sammlung. Bereits im Sommer 1792 hatte er wegen
derselben mit Crusius Verhandlungen angeknüpft; am 3. Sep-
tember hofft er, dass der Druck nach der Messe werde
beginnen können (Geschäftsbriefe S. 82). Noch im nächsten
Jahre sehen wir ihn mit der Ausführung seines Planes
beschäftigt; die Briefe an Körner vom 5. und 27. Mai
zeigen, wie gewissenhaft er es mit der Auswahl und Re-
daction seiner älteren Gedichte nimmt. Die Ausgabe kam
Viorte^ahrsohrift fOr Litteratmgeschiohte III ^
130 Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte«
damals nicht zu stände, doch behielt er sie, wie der Brief
an Cotta Yom 16. März 1795 erkennen lässt, unausgesetzt
im Auge. Endlich im Jahre 1798 war dieselbe fest be-
schlossen: die letzte Seite des Musenalmanachs für das
folgende Jahr enthielt die Ankündigung, am 15. October
1799 ist das Manuscript in der Hand des Abschreibers
(Geschäftsbriefe S. 217), in den letzten Tagen des Juli 1800
beschäftigt ihn noch die Redaction des Schlusses (an Goethe
30. Juli) , zum Herbst erschienen ^Gedichte von Friederich
Schiller. Erster Theil. Leipzig, 1800. bey Siegfried Lebrecht
Crusius'. Der zweite Theil folgte im Sommer 1803. Die
Briefe an Körner, an den Verleger und besonders an den
Drucker Göpferdt in Jena lassen erkennen, mit welcher
Sorgfalt Schiller die Ausstattung der Ausgabe, die Güte des
Papiers, die Übersichtlichkeit und Correctheit des Druckes
überwachte.
Es ist von vornherein anzunehmen , dass bei einer so
lange vorbereiteten und so sorgfaltig ausgeführten Ausgabe
die innere Einrichtung der äusseren nicht nachstand. Welche
Anforderungen in dieser Beziehung der wahre Künstler an
sich zu stellen habe, hätte Schiller, auch wenn er, der
Meister in der Composition, es nicht selbst gefühlt hätte,
schon das Vorbild Goethes zeigen müssen.^) Es ist für die
') OhneEinfiuss auf die Anordnung der Crusiusschen Ausgabe blieben
die beiden früheren von fremder Hand veranstalteten Sammlungen.
Die ^Sammlung einiger zerstreuter Gedichte von Schiller. Für einen
freundschaftlichen Zirkel abgedruckt. Erlangen 1793' enthielt über-
haupt nur 10 Gedichte, das jüngste darunter die ^Götter Griechenlands'.
Die von Behrens ohne Schillers Wissen unternommene Ausgabe
*Sämmtliche Gedichte von Friedrich Schiller Professor in Jena Erster
Band mit dem Portrait des Verfassers. Jena und Weimar 1800.
Zweiter Theil Jena und Leipzig 1801. Dritter Band Jena und
Weimar 180 r bringt im ersten Bande nur Gedichte aus der *Antho-
logie' mit geringen Ausnahmen in der dort gegebenen Ordnung, die
^Künstler' und die ^Götter Griechenlands*; im zweiten erst das 'Lied
an die Freude\ dann in der ursprünglichen Reihenfolge die Ge-
dichte des Musenalmanachs f. 1796, die des Musenalmanachs f. 1797 bis
S. 142 (also ohne die 'Tabulae votivae' und *Xenien'), die des Musen-
almanachs f. 1798, 1799, 1800 mit einzelnen Lücken, endlich die *Eesig-
nation'; der dritte Band ist aus der Crusiusschen Ausgabe zusammenge-
stoppelt. Vom ersten Bande gibt es, worauf mich R. Köhlers Güte auf-
Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 131
Beurtheilung der Schillerschen Sammlung nicht ohne Be-
deutung, dasB gerade in dem Jahre, in welchem der erste
Band derselben abgeschlossen wurde, auch die neue Samm-
lung der Goetheschen Gedichte (im 7. Bande der ^Neuen
Schriften' Berlin, Unger 1800) erschien. Schiller selbst
hatte die erste geschäftliche Anknüpfung mit Unger über-
nommen (Brief v. 26. Mai 1799; Geschäftsbriefe S. 211), er
verfolgte die Redaction der Sammlung mit lebhaftem An-
theil, einzelne Fragen wurden zwischen beiden Freunden, be-
sprochen (vgl. die Briefe vom 26. Juni, 3., 6., 9., 16. August
1799). Seine Auffassung Yon den Pflichten des Heraus-
gebers spricht Goethe aus im Brief vom 3. August: ^Zu
einer solchen Redaction gehört Sammlung, Fassung und
eine gewisse allgemeine Stimmung. Wenn ich noch ein
paar Dutzend neue Gedichte dazu thun könnte, um gewisse
merksam machte, auch eine Ausgabe mit dem Druckort Frankfurt und
Leipzig nnd einer veränderten, noch schrecklicheren Wiedergabe des
[Graffschen] Porträts; dieselbe stimmt aher sonst auch in typographi-
schen Einzelheiten völlig mit der anderen überein.
Worauf Qoedeke seine ganz allgemein ausgesprochene Behaup-
tung stützt (S.X), Schiller selbst habe diesen Nachdruck (wie Goethe
den Himburgischen) für einzelne neue Bearbeitungen als Grundlage
benntztf weiss ich nicht. Nach der von mir gegebenen Quellenanalyse
desselben lag für ihn keine Veranlassung vor, auf denselben zurück-
zugpreifen; ich selbst habe bei einer ziemlich eingehenden, wenn auch
natürlich nicht erschöpfenden Yergleichung keinen Beleg dafHr finden
können. Wenn Schiller z. B. in der *Klage der Ceres' Y. 87 für die
Lesart des Musenalmanachs von 1797 *Von des Nordens kaltem Hauch*
in der Grusiusschen Ausgabe setzt *Wenn von Nordes kaltem Hauch*,
so brauchte er darauf schwerlich erst durch Behrens* Correctur (2, 71)
gefQhrt zu werden *Von des Nordes kaltem Hauch*.
Dass der Druck der Grusiusschen Ausgabe sehr correct ist, erkennt
auch Goedeke S. XI an. Mir ist 2, 112 der Gustos aufgefallen «Weis-*;
Bogen H bringt als nächsten Titel *Die Weltweisen*: vermuthlich hatte
Schiller ursprünglich einen anderen Titel für dies Gedicht (in den Hören
1795 heisst es *Die Thaten der Philosophen*) gewählt und änderte noch bei
der Correctur. Gerade Bogen H zeigt mehrfache Unregelmässigkeiten
im Druck, die Goedeke nur theilweise bemerkt hat; auch die ortho-
graphischen Abweichungen S. 118 'lÜlTen : FüCTen* (mit CT statt ßs, wie
der Musenalmanach hat und sonst auch unsere Ausgabe schreibt; vgl.
z.B. 1, 48. 68. 225) und das unlogische, rein phonetische Komma S. 118
hinter 'gebietenden Pflicht* hat er übersehen.
9»
132 Eettner, Die Anordnung der Scbillerschen Gedichte.
Lücken auszufüllen und gewisse Rubriken, die sehr mager
ausfallen, zu bereichem, so konnte es ein recht interes-
santes Ganze geben. Doch wenn ich nicht Zeit finde,
das Publikum zu bedenken, so will ich wenigstens so redlich
gegen mich selbst handeln, dass ich mich von dem über-
zeuge, was ich thun sollte, wenn ich es auch gerade jetzt
nicht thun kann. Es gibt für die Zukunft leitende Fingerzeige^
Diese Worte bezeichnen auch den Standpunkt Schillers.
Nichts kann unberechtigter sein, als Goedekes Urtheil über
die Crusiussche Ausgabe (Hist.-Erit. Ausg. 11, XI): ^Was
die Anordnung des Stoffes betrifft, so ist ein anderes Princip
nicht zu erkennen, als die Sammlung bunt und abwechselnd
zu machen, um den Leser durch Zusammenstellung des
Gleichartigen nicht zu ermüden ; antike und moderne Formen
wechseln, zwischen die Balladen sind ganz fremdartige (? !)
didaktische Distichen gestellt, die ^Nadowessische Totenklage'
steht zwischen dem Epigramm ^Deutsche Treue' und dem
Liede ^Hoffnung'; auch die chronologische Folge ist nicht
als Princip der Anordnung angenommen, da dicht neben-
einander stehende Gedichte zehen, sechzehen Jahre aus-
einander liegen\ Die Sammlung zeigt vielmehr eine sehr
sorgfältige^), mit künstlerischer Berechnung durch-
geführte und im ganzen klar erkennbare Gliederung.
Der chronologische Gesichtspunkt tritt dabei natur-
gemäss zurück; im ersten Bande finden wir ihn gar nicht,
im zweiten nur ganz nebensächlich beachtet. Auch die
Anordnung nach Gattungen ist nicht durchgeführt — die
Sammlung hätte dadurch doch eine zu grosse Gleich-
förmigkeit mit der gleichzeitigen Goetheschen erhalten.
Wohl aber ist Schiller darin dem Vorbild seines Freundes
gefolgt, dass er, wie dieser in der Sammlung von 1789*)
und später noch innerhalb der einzelnen Rubriken^) that,
einen inneren Zusammenhang zwischen den einzelnen Ge-
dichten herzustellen bemüht war.
') Direct an den von Goedeke erwähnten Beispielen ist dies
nachgewiesen unten S. 144.
*) Vgl. Scherer, Goethe-Jahrbuch 4, 52 f.
») Ebenda 5, 265.
Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 133
Freilich darf man nicht erwarten, hier etwa wie in
Goethes Liedern gleichsam in einen kleinen Roman ein-
geführt*) zu werden — dazu boten die Schillerschen Qe-
dichte keinen Stoff; höchstens die Lauralieder, ^Die Blumen'
und die späteren Situationsgedichte ^An Emma', 'Das Ge-
heimniss', 'Die Erwartung', ^Die Begegnung' hätten sich
dazu geeignet, wenn sie auch schwerlich schon, wie Goe-
deke 11, 207 yermuthete, 'für das romantische Gedicht be-
stimmt waren, dessen Schiller am 5. October 1795 gegen
Humboldt erwähnt' (vgl. an Kömer 3, 326) ; denn unter einer
'romantischen Erzählung' (so lautet sein Ausdruck!) ver-
stand er wohl sicherlich etwas anderes als einen Lieder-
cyclus in wechselnden Yersarten, vermuthlich dachte er
dabei an ein romantisches Epos (etwa in Wielands Manier) ;
fragt er doch in demselben Brief den Freund gleich darauf,
was er von seiner Befähigung für das Epische halte.
Schiller hat vielmehr, entsprechend der Eigenart seiner
Poesie, einen allgemeineren Zusammenhang für seine Ge-
dichte gesucht: in möglichster Abwechslung der metrischen
Form stellte er concretere und abstractere Gedichte in der
Weise zusammen, dass eine gewisse Lebensstimmung, eine
allgemeine Wahrheit in Lebensbildern und Betrachtungen
von den verschiedensten Seiten aus illustrirt wurde, dass
eine Empfindung in mannigfachem Wechsel, oft in scharfen
Contrasten sich abspielte und zu einem in sich beruhigten
Abschluss gelangte. Ja manche Reihen von Gedichten
zeigen einen so streng gegliederten Aufbau, dass sie fast
ein Gedankensystem bilden oder gar den Eindruck des
Programmartigen machen. '')
Indem ich nunmehr dazu übergehe, diese Gliederung
im einzelnen nachzuweisen, zu diesem Zwecke die Gedichte
in bestimmte Gruppen zerlege und letztere wieder nach
Scherers Yorgang disponire und den Inhalt unter bestimmte
Begriffe formulire, möchte ich, um Missverständnissen zu
entgehen, betonen, dass ich nicht verkenne, wie oft man
damit dem Dichter bewusste Gedanken unterlegt, wo ihn
•) Ebenda 4, 64 f.
') Vgl. besonders 1, 28—40 (unten S. 136 f.), 262—78 (unten
S. 145 f.) 279—302 (unten S. 146 ff.).
134 Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
nur unbewusste Empfindung leitete, wie oft man klare Plan-
mässigkeit aufzeigt, wo in Wahrheit halb und halb der
Zufall sein Spiel trieb. Auch von Schillers Sammlung gilt
das Urtheil, welches Scherer über die Goethesche fällt:
^Er bleibt immer Künstler, er lässt nicht pedantischen Zwäng,
sondern ästhetische Freiheit walten. Die Gruppen, die er
bildet, wie alle Gestalten, die er schafft, können nicht mit
Begriffen rein umschrieben, sie können nicht verstandes-
mässig aufgelöst werden: sie behalten stets etwas lebendig
Fliessendes, etwas Zufälliges im Kleinen bei der höchsten
Nothwendigkeit und Gesetzmässigkeit im Grossen'. TJnd ich
möchte, wenn ich mitunter dem Dichter zu viel unterzulegen
scheinen sollte, mir solchen Vorwürfen gegenüber noch ein
Wort Scherers aus dem Schluss seines ersten Aufsatzes
aneignen : ^Es kann nicht fehlen, dass Betrachtungen solcher
Art zuweilen über das Ziel hinausschiessen d. h. dass sie
Absichten vermuthen, welche der Dichter nicht wirklich ge-
habt hat. Aber man darf behaupten, dass sie schwerlich
etwas enthalten, was sich der Dichter nicht gerne gefallen
lassen würde. In der Kunst werden mit den Hauptzwecken
oft Nebenzwecke erreicht, an welche der Künstler selbst
von Yornherein nicht dachte, die ihm nachträglich zum
Theil auffallen, zum Theil aber auch nicht zum Bewusstsein
kommen mögen. Die Betrachtung des späteren Liebhabers
wird dann immer im Sinne des Künstlers handeln, wenn
sie alle Yortheile seines Verfahrens aufdeckt; aber sie kann
sich nicht anmassen, Haupt- und Nebenzwecke, bewusstes
Streben und zufalliges Erreichen überall zu scheiden.
Wir dürfen dem Künstler jedoch eher mehr als weniger
zutrauen.'®)
2. Der erste Theil der Gedichte. 1800.
Die Sammlung ist schon äusserlich in vier Haupt-
abschnitte zerlegt, indem jedesmal nach ungefähr hundert
Seiten (zusammen sind es 335) ein grösseres für sich be-
stehendes oder aus gleichartigen Gedichten zusammen-
gesetztes Stück wiederkehrt. So bilden
•) Goethe-Jahrbuch 4, 52; 3, 172.
Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. ] 35
S. 113 — 148 die vier Balladen und Romanzen: 'Der
Kampf mit dem Drachen', ^Taucher', ^Handschuh'
und ^Bing des Polykrates',
S. 207 — 261 die Übersetzung des zweiten Buches der
Äneide,
S. 303 — 324 die 'Votivtafeln'
eine deutliche Grenzscheide.
Innerhalb der so gewonnenen Abschnitte sind dann
noch mitunter vom Dichter gewisse Marksteine gesetzt, um
die Gliederung klarer anzudeuten.
Erster Abschnitt: 8. 1—112.
A. Eröffnungsgedichte 8. 3 — 14.
Das erste Gedicht, 'Das Mädchen aus der Fremde', soll
offenbar als Einleitung der ganzen 8ammlung dienen, wie
es ähnlich schon im Musenalmanach für 1797 8. 17 nach
Goethes 'Idylle' 'Alexis und Dora' die Reihe der Gedichte
eröffnete. 8childert diese Allegorie die Erscheinung der
Poesie im Leben ganz im allgemeinen, so stellen die beiden
folgenden Gedichte, die 'Klage der Ceres' (aus demselben
Musenalmanach 8. 34) und 'Der Tanz' (aus dem Musen-
almanach f. 1796) ihre Wirkung in zwei scharf mit einander
contrastirenden Bildern dar: dort verklärt sie den 8chmerz,
hier vertieft und adelt sie die Lust.
B. Erster Cyclus 8. 15— 41,
Die hier vereinigten Gedichte enthalten gewissermassen
die Grundlage der Schillerschen Lebensstimmung : der un-
erschütterliche, hingebende Glaube an die Ideale auch in-
mitten einer oft ideallosen Welt, die Behauptung derselben
gegen alle Zweifel und Hindemisse, 'das Flüchten in des
Herzens heilig stille Räume aus des Lebens Drang' — das
ist das Grundthema derselben, welches in mannigfacher,
wohl berechneter Abstufung wiederkehrt.
Erste Gruppe (8. 15 — 27). Yon einem ooncreten Bilde
geht Schiller aus, in unmittelbarer, leidenschaftlicher, persön-
licher Empfindung wird jene Stimmung zunächst angeschlagen.
Das Situationsgedicht ^Das Geheimniss' (aus dem Musen-
almanach f. 1798) ist durchzogen von dem Gedanken, dass
136 Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
fem und unbeirrt von dem verworrenen Getriebe der kalten,
fremden Welt das höchste Glück des Herzens wie ein Raub
gewonnen und genossen sein will.
In abstracterer Weise führen das Thema weiter 'Das
Glück' (aus dem Musenalmanach f. 1799) und 'Der Genius'
(aus den Hören 1 795), durch die Umänderung des ursprüng-
lichen Titels 'Natur und Schule' ist dasselbe auch äusser-
lich noch enger an das erstere angeschlossen. Wenn Schiller
in dem 'Glück' ganz allgemein die höchsten Gaben des-
selben rühmt, mit neidloser Freude diejenigen preist, welchen
von den Göttern die geniale Anlage zum Helden und Herr-
scher, zur Kunst und zur Sittlichkeit verliehen ist, so feiert
er im 'Genius' speciell das Letztere, indem er die naive
sittliche Anmuth der schönen Seele weit über eine durch
die Yernunft errungene Sittlichkeit erhebt. Er gibt also im
zweiten Gedichte eine nähere Ausführung zu Vers 10 — 15
des ersteren.
Zweite Gruppe (S. 28 — 40). Wenn irgendwo, so lässt
sich hier in zweifelloser Weise constatiren, dass Schiller
mit Bewusstsein nach einem möglichst geschlossenen und
auch äusserlich leicht erkennbaren Zusammenhang der ein-
zelnen Gedichte strebte — so deutlich tritt das Band her-
vor, welches diesen kleinen Kreis von fünf Gedichten um-
schliesst!
Klar und bestimmt wird zunächst das Thema ausge-
sprochen in den 'Worten des Glaubens' (aus dem Musen-
almanach f. 1798). Das didaktische Gedicht findet seine
Ergänzung in einer Parabel, der 'Theilung der Erde' (aus
den Hören 1795). Lehrt er dort, dass, wenn auch die Wirk-
lichkeit der höchsten Ideen unbeweisbar ist, doch unser sitt-
liches Bewusstsein dieselben mit Nothwendigkeit fordert
und uns gebietet, sie im Leben festzuhalten, so zeigt er
hier: auch die Kunst ist unirdisch, aber sie lässt uns zu-
gleich die Nichtigkeit der realen gegen die idealen Güter
erkennen, in ihr gewinnt das Ideal Wirklichkeit, sie öffnet
uns durch die ästhetische Erhebung den Olymp schon auf
Erden.
Es folgen zwei als Pendants gedachte Epigramme,
welche die unerschütterliche Macht der Idee knapp und
Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 137
scharf an einem Lebensbilde illustriren ^Kolumbus' und^Odys-
seus'. Die Untrüglichkeit des festen Glaubens an das in
der Idee Gefundene, wenn auch zunächst alles dagegen zu
sprechen scheint, wird in kuhner Paradoxie in dem ersteren
Gedichte, die durch nichts zu beirrende Treue gegen das
Vaterland — mit leise ironischem Hinweis auf die zu Grunde
liegende Illusion — in dem zweiten geschildert. — In der
Crusiusschen Ausgabe sind beide Gedichte auch typogra-
phisch auf zwei oiFenen Seiten einander scharf gegenüber-
gestellt. Sie stammen zwar beide aus dem Musenalmanach
f. 1796, waren aber dort weit von einander getrennt auf
S. 179 und S. 6.
Unmittelbar an das Thema des letzten Gedichtes knüpft
dann ^Die Bürgschaft' (aus dem Musenalmanach f. 1799) an:
auch sie verherrlicht eine durch keine Gefahren, ja schliess-
lich auch nicht durch den Schein der völligen Nutzlosigkeit
zu beirrende Treue. Wirkungsvoll tritt neben die scharf
pointirten Epigramme die scenenreiche, dramatisch bewegte
Ballade ; in dem mit allen Mitteln der Kunst lebensvoll aus-
gestalteten Bilde findet der ganze Cyclus seinen wirksamen
Abschluss. Und in glücklichster Weise bot sich hier dem
Dichter ein refrainartiger Anklang an das einleitende Gedicht
dieser Gruppe dar, durch den gleichsam ein Rückweis auf
die dort ausgesprochenen Ideen am Schluss gegeben ist:
'Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall!' so hiess es
in den Worten des Glaubens; 'Er glaube an Liebe und
Treue!' ruft der Freund, als nüchterner Verstand ihm das
nutzlose Opfer ausreden will, 'Und die Treue, sie ist doch
kein leerer Wahn!' lässt am Ende den bekehrten Tyrannen
Schiller mit einem Selbstcitat bekennen.
In lockerem Zusammenhang mit den vorhergehenden
Gedichten ist hier noch angefügt 'Der Abend' (aus dem
Musenalmanach f. 1796 S. 165). Und doch erscheint sein
Platz nicht ohne Absicht gewählt ; es markirt den Einschnitt
nach dem ganzen Cyclus, vertritt gleichsam eine musika-
lische Pause. Zugleich correspondirt das Bild seliger Ruhe
in süsser Liebe, welches das Schlussgedicht bietet, mit der
Situation des ersten Gedichtes des Cyclus 'Das Geheimniss';
so bilden beide einen poetischen Rahmen für denselben.
138 Kettner, Die Anordnung der Sch^lerschen Gedichte.
C. Zweiter Cyclus B. 42—112.
Klingt 80 der erste Cyclus beruhigt aus, so setzt der
nächste sogleich in künstlerisch berechnetem scharfem Con-
traste ein mit bitterer Klage und herber Entsagung in den
^Idealen' (aus dem Musenalmanach f. 1796 S. 135).
Der Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, die
schmerzlichen Conflicte des Herzens und die Versöhnung
und Lösung beider Gegensätze bilden den Inhalt dieses
Cyclus. Man sieht, das Thema des ersten wird leiden-
schaftlicher ergriffen, schärfer in seine Consequenzen ver-
folgt; die Gegensätze rücken härter aneinander, zugleich
wird die Auflösung derselben tiefer erfasst und philosophisch
und historisch begründet.
Zwei Gruppen heben sich wieder deutlich ab. Der
Dichter hat sie unverkennbar schon äusserlich dadurch mar-
kirt, dass er zweimal in strengem Parallelismus ein grös-
seres Culturbild mit einem ^Spruch des Confucius' zu-
sammenstellte, nämlich 8. 49 — ^66 den 'Spaziergang' mit dem
Spruch über die Dimensionen der Zeit und S. 91 — 112
'Die Glocke' mit dem Spruch über die Dimensionen des
Raumes.
Erste Gruppe (8. 42 — 66). In dem ersten, oben schon
erwähnten Gedicht, den 'Idealen', findet die Stimmung, von
welcher der Cyclus ausgeht, ihren allgemeinsten, gewaltig-
sten Ausdruck. An dasselbe ist ein älteres passend an-
gelehnt, 'Die Blumen' (in der Anthologie von 1782 'Meine
Blumen'): aus dem Allgemeinen führt Schiller uns in das
Besondere, in die Schilderung einer hoffiiungslosen, aber
still bewahrten Liebe.
Von den Klagen um die schmerzlichen Entsagungen
des eignen Lebens, um den Verlust -der Ideale seiner
'goldnen Zeit' erhebt sich der Dichter zu dem Hinblick auf
den Entwicklungsgang der ganzen Menschheit; auch hier
erscheint zunächst das idyllische Glück der Einheit mit der
Natur, welches die Jugendzeit der Menschheit verklärte,
verloren, aber doch nicht unwiederbringlich dahin: 'die
Sonne Homers lächelt auch uns', aus der Entzweiung soll die
Cultur wieder zur Eintracht mit der Natur zurückkehren.
So verknüpft ein enges Band den 'Spaziergang' mit den vor-
Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 139
hergehenden Gedichten, speciell dem Anfangsgedichte, den
^Idealen'; in den Heren von 1795 hiess er ja auch ^Elegie'.
An das groBse Bild des Kreislaufs der Cultur schliesst
Schiller eine nüchterne, praktische Lebensregel in dem
^Spruch des Confucius' (aus dem Musenalmanach f. 1796)
über die Dimensionen der Zeit. Ein gewisser, wenn auch
etwas spielender Parallelismus zu dem vorigen Gedichte ist
unverkennbar: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sollen
im Leben in den rechten Einklang gebracht werden.
Zweite Gruppe (S. 67— 112). Die acht Gedichte der-
selben führen den Gedanken- und Empfindungskreis der vier
Gedichte der ersten Gruppe in der Weise weiter aus, dass
lyrische (bezw. lyrisch -epische) Gedichte mit betrachten-
den (bezw. episch -didaktischen) abwechseln. Die beiden
Reihen, welche sich so durch einander schlingen, zeigen eine
allmählich aufsteigende Entwicklung zu immer vollerer Ver-
söhnung.
So äussert sich zunächst in dem ersten Gedichte der
ersten Reihe 'Des Mädchens Klage' (aus dem Musenalmanach
f. 1 799) der Schmerz um das verlorne Liebesglück in wilder
Verzweiflung am Leben, und nur am Schluss ringt sich der
Trost hindurch, dass in 'der Liebe Schmerzen und Klagen'
selber 'das süsseste Glück für die traurende Brust' liege.
Hoffnungslose Liebe ist auch das Thema des nächsten Ge-
dichtes der Reihe 'Ritter Toggenburg' (aus dem Musen-
almanach f. 1798), aber ruhiger, milder ist hier die Ent-
sagung, still, ja friedlich lebt sich der Schmerz aus. Endlich
das letzte Gedicht 'Die Begegnung' (aus den Hören 1797)
bildet den Abschluss dieser Reihe: 'das treue Herz, das
trostlos sich verzehrt und, still bescheiden, nie gewagt zu
sprechen', findet Erhörung seiner Wünsche — 'am rohen
Glück will ich das Edle rächen'.
Zwischen diese balladenartigen Lieder voll leidenschaft-
licher Empfindung sind, wie gesagt, die gedankenschweren
gewunden. Zusammengestellt sind zuerst zwei kürzere in
Distichcfn 'Die Geschlechter' (aus dem Musenalmanach f. 1 797)
und 'Menschliches Wissen' (aus den Hören 1795); ersteres
schildert die ausgleichende Vereinigung der 'ewig getrennten',
'ewig sich suchenden' Gegensätze der menschlichen Natur,
140 Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
letzteres die Beschränktheit menschlicher Naturerkenntniss.
Dann folgen — entsprechend dem ^Spaziergang^ in der
vorigen Gruppe — zwei grosse culturhistorische Gedichte,
'Das Elensische Fest' (aus dem Musenalmanach f. t799, wo
es 'Bürgerlied' hiess) und 'Das Lied von der Glocke' (aus
dem Musenalmanach f. 1800); beide ergänzen sich in glück-
lichster Weise: neben das Bild der sagenhaften Begründung
aller Cultur durch die Einführung des Ackerbaus stellt sich
das Gemälde des völlig entfalteten häuslichen und bürger-
lichen Lebens der Gegenwart. Wie schon erwähnt, ist auch
hier, wie oben an den 'Spaziergang', ein 'Spruch des Con-
fucius' (aus dem Musenalmanach f. 1 800 S. 209 ; die 'Glocke'
folgt hier erst S. 243) angeschlossen. Mag sein, dass die
gleichzeitige Entstehung Einfluss auf die Zusammenstellung
hatte; nahe liegt doch auch hier, an eine inhaltliche Ver-
knüpfung zu denken, wie ich sie oben beim 'Spaziergang'
vermuthete : der das Leben des Einzelnen wie der Gesammt-
heit nach allen Seiten durchmessenden Betrachtung des
Glockenliedes entspricht die Deutung der drei Dimensionen
des Raumes.
Zweiter Abschnitt 8. 113—206.
Ahnlich wie in der zuletzt betrachteten Gruppe lösen
sich hier die verschiedenen Arten von Gedichten ab, nur
sind die gleichartigen Gedichte zu kleineren Gruppen zu-
sammengestellt. So ergeben sich vier Gruppen, innerhalb
derselben lässt sich wieder viergliedriger Aufbau erkennen.
Die erste Gruppe (9. 113—148) bilden die vier Balladen
'Der Kampf mit dem Drachen', 'Der Taucher', 'Der Hand-
schuh', 'Der Ring des Polykrates' ; die erste aus dem Musen-
almanach f. 1799, die drei andern aus dem f. 1798, wo
sie aber getrennt von einander und in anderer Ordnung,
auch mit anderen Balladen, wie 'Ritter Toggenburg' und
den 'Kranichen des Ibycus' vermischt stehen; wenn Schiller
sie hier zu einer eigenen Gruppe zusammenstellte, kann
es nur mit Rücksicht auf die unleugbare Verwandtschaft
des Grundgedankens geschehen sein. Die Anordnung sucht
Gegenbilder zu schaffen (den 'Handschuh' nannte er be-
kanntlich schon im Briefe an Goethe vom 18. Juni 1797
Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 141
ein Nachstüok zum ^Taucher'); der 'Ring des Polykrates'
leitet ausserdem bequem über zu den Antikes behandelnden
Epigrammen der nächsten Gruppe. Diese
Zweite Gruppe (S. 149 — 154) umfasst die vier didak-
tischen Gedichte 'Archimedes und der Schüler' (aus den
Hören 1 795 Bd. 4 St. 1 1 ), 'Die Antike an den nordischen
Wandrer' (ebda. Bd. 3 St. 9), 'Dithyrambe' (im Musenalma-
nach f. 1797 'Der Besuch'), 'Poesie des Lebens' (aus dem
Musenalmanach f. 1799). Die gemeinsame Tendenz derselben
ist unverkennbar, alle vier wenden sich gegen eine begei-
sterungs- und phantasielose Nüchternheit. Die beiden ersten
sind Pendants, sie geissein in epigrammatischer Form, das
eine die nur praktischen Zwecken dienende Beschäftigung
mit der Wissenschaft, das andere ein ganz äusserliches
Interesse für die Kunst. Das dritte und vierte sind Gegen-
stücke : malt uns jenes die begeisterte Erhebung des Dich-
ters über die dürre Wirklichkeit durch Wein, Liebe und
Dichtung, so bekämpft dieses eine dünkelhafte, öde Ver-
ständigkeit, welche das Leben aller freundlichen Illusionen
als eines nichtigen Scheins entkleiden möchte.
Dritte Gruppe (S. 155 — 183). Wieder folgen erzählende
Gedichte. Das erste derselben 'Die Kraniche des Ibycus',
und das vierte 'Der Gang nach dem Eisenhammer', ent-
standen zeitlich fast unmittelbar hinter einander, im August
und September 1797, sie standen auch im Musenalmanach
f. 1798 nahe beisammen (S. 267. 306, indessen doch durch
fremde Gedichte und 'Das Geheim niss' getrennt) — hier
sind sie an einander gerückt, weil in beiden das unent-
rinnbare Walten der Nemesis dargestellt ist.
Auf das erste folgt 'Die Erwartung' (aus dem Musen-
almanach f. 1800) ohne inneren Zusammenhang, nur ist es
jenem Gedicht ähnlich durch die ebenso aufs höchste ge-
steigerte Spannung und die plötzlich den Leser über-
raschende Lösung. Dem vierten ist voraufgeschickt 'Die
Sänger der Yorwelt' (aus den Hören 1795); man könnte
in diesem Preis einer im höchsten Sinne volksthümlichen
Dichtung eine Art Motto für das folgende Gedicht sehen,
da ja gerade 'Der Gang nach dem Eisenhammer' durch die
schlichte, den Yorstellungen des Yolkes sich anbequemende
142 Kettner, Die AnordnuDg der Schillerschen Gedichte.
AufFaseung des Grundmotivs und die naive, oft mit starker
Absichtlichkeit dem Yolkston sich annähernde Anspruchs-
losigkeit der Darstellung unter den Schillerschen Erzäh-
lungen einzig dasteht.*)
Mit der vierten Gruppe (S. 184 — 206) kehren wir zum
Kreis der zweiten zurück, sie bringt fünfzehn, meist kürzere,
lehrhafte Gedichte. Man kann dieselben in zwei parallele
Reihen von 7 -f 8 Gedichten theilen ; innerhalb derselben
ist paarweise Gliederung unverkennbar, mehrfach bilden je
zwei Paare wieder ein kleineres Ganze. Die ganze Gruppe
ist durchzogen von dem Gegensatz zwischen einem naiven
sittlichen Vertrauen, einem schlichten thatkräftigen Wirken
einerseits und anderseits einem durch die Reflexion ge-
trübten, selbstsüchtigen Wesen, einer Yerkehrung der
höchsten Bestrebungen des Menschen in Kunst und Wissen-
schaft ins bloss Nützliche oder in leere Ausserlichkeiten.
Durch diesen Gegensatz ist die Gegenüberstellung der
Paare bedingt, altemirend haben sie positiven und negativen
Inhalt.
1. Am allgemeinsten bringt diesen Gegensatz zum Aus-
druck ^Licht und Wärme^ (aus dem Musenalmanach f. 1 798),
es ist deshalb wieder wie ein Motto an die Spitze gestellt.
Sehr klar entwickelt dann denselben das folgende
Doppelpaar. ^Der Kaufmann' und der ^Der Sämann' ^^)
(beide aus dem Musenalmanach f. 1796, hier aber getrennt
S. 144 und 97) geben sich offenbar schon in der Form als
Pendants. Preist der Dichter hier ein in fröhlicher Hoff-
nung den Göttern vertrauendes, praktisches Wirken, dem
von selbst neben dem Nützlichen das Gute entspringt, so
spottet er in Tegasus im Joche' (Musenalmanach f. 1796
*) Schon den Zeitgenossen fiel dieser eigenartige Charakter der
Romanze anf, vgl. Brann, Schiller im Urtheile seiner Zeitgenossen 3,
143. 168.
>•) Es scheint noch nicht bemerkt zn sein, dass dieses Epigramm
eine anffallende Übereinstimmung mit Cicero ,. Tuscul. I 14, 32 zeigt:
'Ergo arbores seret diligens agricola, quarum adspiciet bacam ipse
nunquam: vir magnus leges, instituta, rempublicam non seret?' Man
sieht, auch die eigenthümliche Form der Schlussfolgerung — durch
iv9vf4fjfjia — findet sich hier wieder; trotzdem ist das Zusammentreffen
wohl zufllllig, der antithetische Schluss ist ja bei Schiller nicht selten.
Ketiner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 143
S. 62) und ^Der philoeophiBche Egoist' (Hören 1795) des
Missbrauchs der Poesie zum Nutzen und zu einer engherzig
den Menschen isolirenden Philosophie.
In lockerer Verbindung zwar, doch immer noch mit
klar erkennbarem Zusammenhang sind hier noch zwei kurze
Epigramme angehängt Hebt der Dichter am Schluss des
letzten Oedichtes die ununterbrochene Wechselwirkung
alles Geschaffenen hervor, um die egoistische Selbstgenüg-
samkeit dadurch zu beschämen, so wendet er sich in dem
Epigramm ^Würden' (aus d. Musenalmanach f. 1 796 S. 48)
gegen das Selbstbewusstsein, welches sich eitel den Glanz
der erlangten Stellung zuschreibt, während doch nur die un-
ablässig dahinrollende Welle des Lebens einen Augenblick
unter der Stelle den Menschen hindurchtrug, von welcher
der Glanz auf ihn fiel. Und es ist wohl kaum ein Zufall,
wenn Schiller gerade hier die Distichen ^Das Geschenk'
(Musenalmanach f. 1797 S. 71) einreihte, mit denen er für
eine ihm vom Coadjutor Dalberg dargebrachte Verehrung
dankte: ^Dich gewann mir die Muse'!
2. Die beiden ersten Paare dieser Reihe stehen in
Parallelismus zu den ersten beiden der vorigen. ^Macht
des Weibes' (aus demselben Musenalmanach wie das letzte
Gedicht, aber von demselben getrennt, S. 88) und ^Die Jo-
hanniter' (Musenalmanach f. 1796 S. 90) bilden typogra-
phisch, in der Form und im Inhalt wieder Pendants: dort
preist Schiller die ruhige Anmuth als die höchste der Kronen
des Weibes, während er 'Kraft erwarte vom Mann, des
Gesetzes Würde behaupt' er' — hier rühmt er die Ver-
einigung solcher sittlichen und heldenhaften Kraft an einem
historischen Beispiel. Im Gegensatze zu diesem Preis der
Verkörperung der sittlichen Idee im Leben bringt dann
wieder das nächste Paar 'An die Proselytenmacher' (Musen-
almanach f. 1796 S. 155) und 'Der Metaphysiker' (ebenda
8. 171) die Satire auf eine in verstiegenen Abstractionen
sich gefallende Philosophie.
Die beiden letzten Paare schliessen die Reihe in posi-
tivem Sinne ab. Zusammengestellt sind 'Deutsche Treue'
(aus den Hören 1795), 'Nadowessische Todtenklage' (aus
d. Musenalmanach f. 1798), 'Hoffnung' (Hören 1797), 'Die
144 Ketiner, E>ie Anordnung der Schillerschen Gedichte.
zwey Tugendwege' (Musenalmanach f. 1796). Ausserlich
sind sie so gruppirt^ dass auf zwei lebendig vergegenwär-
tigte Scenen aus dem Leben zwei betrachtende Gedichte
folgen, während zugleich chiastisch epigrammatische und
liedartige Form abwechseln. Schwieriger scheint es, einen
inneren Zusammenhang zu finden, und ich erwähnte schon
oben S. 132, dass Goedeke gerade die drei ersten zum Beweis
für die Zusammenhangslosigkeit der Crusiusschen Ausgabe
heranzieht. Und doch scheint mir gerade hier die Absicht
des Dichters evident.
Auch der flüchtigsten Betrachtung muss zunächst ent-
gegentreten, dass jene Scenen, in welche die beiden ersten
Gedichte uns versetzen, einen scharf ausgeprägten nationalen
Charakter zeigen. In der indianischen Todtenklage ist der-
selbe mit seltener Realistik bis in den kleinsten Zug durch-
geführt, aber auch das Epigramm trägt nicht umsonst am
Kopf den Namen 'Deutsche Treue', nicht umsonst schliesst
es mit der scharfen Pointe gegen wälsches Wesen:
^Wahrlich! So ist's I Es ist wirklich so. Man hat mir 's geschrieben.'
Rief der Pontifex aus, als er die Kunde vernahm.
Aber wie diese nationalen Typen den Dichter an sich nicht
interessirt hätten, wenn sie nicht eine ethische Bedeutung
enthielten, so sucht er hier in der Sammlung seiner Ge-
dichte diese Bedeuitung durch die Zusammenstellung noch
schärfer hervorspringen zu lassen : in einer durch keine
Beflexion gebrochenen, kraftvollen nationalen Sitte sehen
wir dort die Bethätigung der höchsten sittlichen Forderungen
im Leben, hier die feste Zuversicht auf die Vollendung deß
irdischen Lebens im Jenseits verkörpert. So führen uns
diese Gedichte aus dem Kreis einer unfruchtbaren Philo-
sophie, welchen die unmittelbar vorhergehenden streiften,
wieder zurück in die Welt des schlichten, gesunden sitt;
liehen Gefühls — 'Und was kein Verstand der Verständigen
sieht Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüth'.
Wie Goedeke dann den Zusammenhang zwischen der
'Nadowessischen Todtenklage' und der 'Hoffnung' nicht be-
merken konnte, ist mir, offen gestanden, unverständlich: er
ist ja mit Händen zu greifen! Man denke nur an die Verse:
Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 145
Dann beschliesst er im Grabe den müden Lauf,
Noch am Grabe pflanzt er — die Hoffnung auf.
Es ist kein leerer schmeichelnder Wahn
was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.
Was Schiller in dem letzten Gedichte als naiven Instinct
schilderte, das sucht er hier nun in seiner tieferen Be-
deutung zu erfassen: derselbe Instinct durchzieht als Hoff-
nung die Geschichte der Menschheit wie das einzelne
Menschenleben, aus seiner Allgemeinheit folgt seine Rich-
tigkeit.
Endlich das letzte kurze Distichon enthält einen all-
gemeinen Schlussgedanken: jede Lage des Lebens ist nur
als ein anderer Weg zur Tugend aufzufassen.
Dritter Abschnitt S. 207 (bezw. 262) — 324.
Die hier (S. 207 — 261) eingeschobene Übersetzung des
'zweiten Buchs der Äneide' (aus d. Thalia y. 1792) übergehe
ich, da sie wesentlich nur, wie ich schon oben hervorhob,
den folgenden Theil auch äusserlich von dem vorhergehen-
den trennt, zu dem Inhalt desselben aber naturgemäss in
keinem engeren Yerhältniss steht. Doch hat Schiller wohl
nicht ohne Absicht diese Nachbildung einer antiken klassi-
schen Dichtung gerade an dieser Stelle eingerückt, wo er,
wie wir sehen werden, sich anschickt, die Forderungen der
reinen Kunst gegenüber den rohen und platten Producten
der damaligen Zeit geltend zu machen.
Denn wir betreten in diesem Abschnitt die letzte und
höchste Stufe der poetischen Weltanschauung des Dichters,
seine ästhetischen und ästhetisch-ethischen Ghrundsätze finden
hier ihren unmittelbarsten Ausdruck.
Die Erste Gruppe (S. 262-^278) umfasst drei Gedichte
von rein ästhetischem Inhalt. An die Spitze tritt das ästhe-
tische Glaubensbekenntniss des Dichters 'Das Reich der
Formen' oder, wie er es in der zweiten Auflage — es war
dies die einzige Abweichung derselben von der ersten —
umtaufte 'Das Ideal und das Leben' (in den Hören 1795
'Das Reich der Schatten'). Nachdem er hier die höchsten
Anschauungen vom Wesen des Schonen und dem ästheti-
ViarteyiOinohxift fttr Littentoigwohichta DI 10
146 Kettner, Die Anordnung der SchiUerschen Gedichte.
sehen Genuas wie in einem Hymnus verkündet, wendet er
sie im folgenden Gedichte 'An Goethe, als er den Mahomet
von Voltaire auf die Bühne brachte' (im Januar 1800 ent-
standen und hier zuerst veröffentlicht) auf die dramatische
Poesie an, das Eunstprincip der Weimarer Dichter wird
hier wie in einem Manifest ausgesprochen, von ihm aus
auch dem idealisirenden Stil der französischen Tragödie
seine Bedeutung zuerkannt. Die Kehrseite bilden die hier
unter dem Gesammttitel 'Shakespears Schatten' vereinigten
parodistischen 'Xenien' (aus dem Musenalmanach f. 1797):
sie enthalten die schneidendste Verhöhnung und Verurthei-
lung des herrschenden nüchternen Realismus.
Zweite Gruppe (S. 279—302). In engstem Zusammen-
hange stehen wieder die nächsten fünf Gedichte, sie führen
uns aus dem Ästhetischen in eine die sinnliche und geistige
Natur versöhnende, in dem irdischen Leben wurzelnde Ethik
ein. Bewundemswerth ist die Kunst, mit der es dem
Dichter gelang, einige Jugendgedichte so in diesen Zu-
sammenhang zu verflechten, dass sie wie einzelne drama-
tische Momente in der Entwicklung jener ästhetisch-ethi-
schen Anschauungen wirken.
Das erste Gedicht 'Der Kampf (in der Thalia 1786
Heft 2 Nr. IV 'Freigeisterei der Leidenschaft. Als Laura
vermählt war im Jahre 1782') setzt ein mit der schroffsten
Dissonanz zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, der Geist
des Dichters bäumt sich auf gegen das Gebot einer die
Rechte der letzteren missachtenden Tagend. Schiller hat
dies zügelloseste seiner Jugendgedichte um zwei Drittel ver-
kürzt und namentlich die religiösen Beziehungen als gar zu
anstössig gestrichen. So ist auch die Schlussapostrophe an
Gott gefallen:
Besticht man dich mit blutendem Entsagen? -~ ~ ~
0 diesem Gott lasst unsre Tempel uns verschliessen.
Kein Loblied feire ihn,
Und keine Freudenthräne soll ihm weiter fliessen.
Sie hätte den Zusammenhang dieses Gedichtes mit dem
folgenden in noch handgreiflicherer — allerdings auch in
gar zu absichtlicher und für viele Leser verletzender Weise
gezeigt, denn nun folgt die begeisterte Verherrlichung einer
Keitner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 147
Religion, in der das Sinnliche vergeistigt, das Menschliche
vergöttlicht ist: ^Die Gotter Griechenlands' (aus dem März-
heft des Merkur 1788). Und wie hier kein Zweifel an der
zweckvoUen Gruppirung bestehen kann, so auch nicht bei
dem nächsten Gedichte, welches der Dichter aus einer viel
späteren Zeit (aus d. Musenalmanach f. 1 797) hierher holte,
'Pompeji und Herkulanum': lebendig ersteht diese antike
Welt aus ihrem Grabe, in wunderbarer Anschaulichkeit ent-
hüllt sich uns ihr ganzes Sein bis in alle Einzelheiten und
ladet uns ein, im Geiste es mit zu durchleben; die Schluss-
worte:
Die Altäre, sie stehen noch da, o kommet, o zündet —
Lang schon entbehrte der Gott, zündet die Opfer ihm an!
scUiessen es noch enger an das Yorhergehende Gedicht an.
Das nächste Gedicht 'Resignation' folgt in der Thalia
von 1786 als Nr. Y mit dem Zusatz zum Titel 'Eine Phan-
tasie' unmittelbar auf das erste unserer Gruppe, den 'Kampf.
In beiden lebt dieselbe Stimmung, beide sind ja auch den
schweren inneren Wirrnissen entsprungen, in welche den
Dichter 1784 in Mannheim sein Yerhältniss zu Frau v. Ealb
gestürzt hatte. Trotzdem hat Schiller sie bei der Redac-
tion der Sammlung trennen zu müssen geglaubt und die
'Resignation' gerade mit einem seiner jüngsten Gedichte,
'Die Worte des Wahns' (zuerst gedruckt im Taschenbuch
f&r Damen a. d. J. 1801, im Register der Gedichte ins J. 1799
versetzt), verbunden. Auch hier müssen wir das Zweckvolle
der so rücksichtslos die Fäden des ursprünglichen Zu-
sammenhangs zerschneidenden Redaction bewundem und be-
dauern, dass man jetzt wieder 'Kampf und 'Resignation'
zusammen liest. Denn wenn der Dichter hier unter innerer
Empörung daran verzweifelt, dass im Jenseits ein Ersatz
für die auf Erden der Tugend dargebrachten Opfer lohne,
und in bitterem Unmuth in dem hoffnungsvollen Glauben
daran nur einen beglückenden Wahn sieht, so erhebt er
sich in den 'Worten des Wahns' zu der ruhigen Erkenntniss,
dass es überhaupt eine Thorheit sei, auf eine Belohnung
oder auch nur die äussere Verwirklichung unserer Ideale zu
hoifen, dass wir vielmehr denselben in uns selbst ihre Rea-
lität geben müssen.
10*
148 Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
Und von hieraus ergibt sich auch wiederum leicht der
Zusammenhang dieser zwei mit den ersten drei Oedichten
unserer Gruppe. Ich glaube ihn nicht besser andeuten zu
können, als mit den Worten, mit welchen Schiller selbst
später die Bedeutung seiner 'Resignation' erläutert hat —
sie werden zwar der ursprünglichen Stimmung derselben
nicht gerecht, zeigen aber, wie er sie künftig aufgefasst
wissen wollte: ^^) ^Das Gedicht ist nicht gegen die wahre
Tugend, sondern nur gegen die Beligions-Tugend ge-
richtet, welche mit dem Weltschöpfer einen Accord schliesst
und gute Handlungen auf Interessen ausleiht.' So ist es
kein Sprung, wenn Schiller yon jener Verherrlichung der
antiken Welt zu diesen Gedichten überging.
Den Scfaluss der Gruppe bilden die Gedichte 'An Emma'
(aus dem Musenalmanach f. 1798) und 'Hektors Abschied'
(aus den Räubern). In beiden ist die unvergängliche Macht
der Liebe dargestellt, dort im Leben trotz Trennung und
Treubuch ^^), hier auch über den Tod hinaus. Den im Liede
Amalias enthaltenen Trost Hektors (Str. 2, 6)
Und wir sehn uns wieder in Elysium
") Goedekelö, 1,419; Hempel 15, 724. Goedeke gibt an, dass
nach dem Antorenexemplar des Morgenblattes, wo diese Bemerkungen
1808 yerOffentlicht wurden, der Kaufmann und Kunstfreund Bapp in
Stuttgart der Einsender war. Da derselbe zu ihnen bemerkt: 'Nachdem
meine Apologie längst ausgedient und schon eine geraume Zeit im
Schreibtische geruht hatte, ward ich .... veranlasst, solche einem mir
sehr lieben Freunde in Stuttgart mitzutheilen, bei dem — was ich
freilich nicht wusste — gerade damals unser Schiller wohnte. So kam
sie in dessen Hftnde, und er schrieb auf dem letzten Blatte, was die
beikommende Urkunde enthält*, so müssen jene Bemerkungen aus dem
Frahling 1794 stammen.
>*) Zu den Versen
Deckte dir der lange Schlummer,
Dir der Tod die Augen zu,
Dich bes&sse doch mein Kummer,
Meinem Herzen lebtest du.
bietet eine interessante Parallele Uhlands These in dem 1816 ge-
führten 'Sängerstreit* mit RQckert, es sei
minder Tod zu klagen,
Als gebrochner Treuverspruch.
Vgl. 0. Jahn, Uhland (Bonn 1868) S. 127—31; Notter, Uhlands Leben
und Dichtungen (Stuttg. 1863) S. 167—171.
KeÜner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. t49
hat Schiller bei der Umarbeitung desselben für die Samm-
lung in
Steig ich nieder zu dem stygschen Fluss
geändert, obwohl ein äusserer Anlass dazu nicht vorlag, die
Correctur des prosodisch und syntaktisch anstössigen Y. 4
zog jene Änderung nicht nach sich. Wollte er, indem er
das Leben nach dem Tode ganz nach homerischer Vor-
stellung auffasste, bloss das Colorit strenger wahren oder
zugleich das Gedicht in dem Gedanken der vorhergehenden
festhalten?
Die dritte Gruppe (S. 303-324) bringt als Abschluss
des ganzen Abschnittes unter besonderem Titel und mit Ein-
leitungsdistichon die ^Yotivtafeln' (zum grossen Theil aus
den im Musenalmanach f. 1797 bereits unter demselben Titel
und mit demselben Einleitungsdistichon veröffentlichten Epi-
grammen zusammengestellt, doch sind auch noch andere
Distichen und ein Xenion aus demselben Jahrgang, sowie
einige aus dem vorhergehenden und aus den Hören 1795,
dazu drei neue hinzugefügt), die Resultate der Philosophie
des Dichters knapp und scharf in kurze Sinnsprüche zu-
sammenfassend. ^*)
'*) Die Gliederung derselben im einzelnen zu y erfolgen, würde hier
zu weit führen. Ich begnüge mich zur VeranBchaulichung der re-
dactionellen Thätigkeit des Dichters die hier gew&hlte mit der ur-
sprünglichen Ordnung zusammenzustellen.
S. 903 Votivtafeln Musenalmanach f. 1797 S. 152
Die verschiedene Bestimmung . „ „ 152
, 304 Das Belebende „ ,153
Zweierlei Wirkungsarten . . « . « 153
Unterschied der Stände .... « „ 153
« 305 Das Werihe und Würdige ... » „153
Die moralische Kraft .... „ „ 154
Mittheilung „ „ 154
, 306 An • „ ,154
An •• „ ,155
An •*► , ,155
, 307 Jetzige Generation , i> 49
An die Muse « , 156
Der gelehrte Arbeiter .... „ „ 156
, 306 Pflicht für jeden , ,156
Aufgabe » ,168
Das eigne Ideal » n 168
I
1
n
»
150 Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
Vierter Abschnitt S. 325—335.
Noch vier Gedichte sind als Schluss angehängt: ^Nänie'
(hier zuerst; von Schiller 1799 angesetzt), ^Die Hochzeit der
S. 309 An die Mystiker Musenalmanach f. 1797 S. 167
Der Schlüssel „ „158
Der Aufpasser „ »56
310 Weisheit und Klugheit .... Hören 1795 IX 13 „ 132
Die Übereinstimmung .... Musenalmanach f. 1797 „ 157
311 Politisehe Lehre , „32
Miy'estas populi „ »33
812 An einen Weltverbesserer . . . Hören 1795 IX 14 , 133
„ 313 Meine Antipathie Musenalmanach f. 1797 „ 164
An die Astronomen „ »99
n 314 Astronomische Schriften ... „ „ 244
(Xenie *Der astronomische Himmer)
Der beste Staat „ f. 1796 „ 167
Mein Glaube. „ f. 1797 „ 163
0 315 Inneres und Äusseres .... „ „ 104
Freund und Feind „ „104
Licht und Farbe „ »167
316 Schöne IndiyiduaUt&t „ „169
Die idealische Freiheit .... Hören 1795 XII 11 „.114
('Ausgang aus dem Leben'; unter diesem ursprünglichen
Titel nochmals abgedruckt 2,207)
317 Die Mannichfftltigkeit .... Musenalmanach f. 1797 S. 170
Die drey Alter der Natur . . . neu (1800)
318 Der Genius Musenalmanach f. 1797 S. 172
Der Nachahmer „ „ 172
319 Genialität n »173
Die Forscher „ 160—161
(die beiden Epigramme 'Metaphysiker und Physiker* und
*Die Versuche' sind vereinigt)
„ 320 Die schwere Verbindung . . . Musenalmanach f. 1797 S. 174
Korrektheit „ „174
Das Naturgesetz „ „ 175
„ 321 Wahl „ „177
Tonkunst neu (1800)
Sprache Musenalmanach f. 1797 S. 177
„ 322 An den Dichter „ „177
Der Meister „ „177
Der Gilrtel neu (1800)
323 Dilettant Musenahnanach f. 1797 S. 178
n
n
n
n
9
Die Kunstschwätzer „ „ 181
Die Philosophieen „ „ 162
„ 324 Die Gunst der Musen .... „ „ 156
Der Homeruskopf als Siegel . . „ » ^
I
I
Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 151
Thetis. Nach dem Euripides' (aus der Übersetzung der
Iphigenie in Aulis, Thalia 1789), 'Würde der Frauen' (aus
dem Musenalmanach f. 1796 S. 186 mit starken Kürzungen)
und 'Abschied vom Leser' (aus dems. S. 203).
Niemand wird von einem solchen Nachtrag strengere
Gliederung erwarten. Auf das erste Gedicht leitet schon
die letzte Seite des vorigen Abschnittes über: 'Die Gunst
der Musen':
Mit dem Philister stirbt auch sein Ruhm, du himmlische Muse,
Trfigst die dich lieben, die du liebst, in Mnemosynens Schooss.
Dem entspricht der Grundgedanke der 'Nänie': 'Auch
das Schöne muss sterben' . . . doch 'das Gemeine geht klang-
los zum Orkus hinab'.
Und wenn er dann in diesem Gedichte als Beispiel den
göttlichen Helden anfuhrt, um dessen Schicksal die unsterb-
liche Mutter 'mit allen Töchtern des Nereus' und den Göt-
tern allen den Klagegesang anstimmt, so war der Übergang
zu dem nächsten Gedichte gegeben, wo bei der Hochzeit
dieser Mutter die Göttinnen 'den schönen Stern, der aus
ihrem Schooss ersteht', besingen und Apollo mit Chiron seine
Thaten vor Troja verkündet.
An dieses Epithalamium mochte sich dann der Preis
der Frauen passend anschliessen. —
Das letzte Gedicht sollte schon bei seiner ersten Yer-
öfiFentlichung, wie er an Eömer 25. September 1 795 schreibt,
den Almanach beschliessen; da aber dann in demselben noch
Goethes 'Yenetianische Epigramme' erschienen, so wurde es
einfach als 'Stanzen an den Leser' abgedruckt; jetzt bot es
sich Ton selbst als Schlussdar, um, wie er damals schon gewollt
hatte, 'den Leser auf eine freundliche Art zu yerabschieden'.
3. Der zweite Theil der Gedichte. 1803.
Als Schiller den ersten Theil zusammenstellte, konnte
er aus dem reichen Schatz von Gedichten, der sich seit
zwanzig Jahren angehäuft hatte, frei nach künstlerischem
Ermessen wählen, sichten und ordnen, so dass ein schön
gegliedertes Ganze sich ergab. Die Bedingungen für die
Redaction des zweiten Theils waren wesentlich andere. Nur
eine dürftige Nachlese solcher Gedichte, die nach seinem
152 Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
strengen Masstab ^Werth nicht bloss für den und die
Freunde, sondern für die Welt und für die Dichtkunst hatten^
(an Körner 21. October 1800), war übrig. Die reiche Ernte
der 90er Jahre, der für die Lyrik so fruchtbaren Zeit der
Musenalmanache und der Hören, war fast völlig eingebracht;
von bedeutenderen Gedichten waren nur 'Das verschleierte
Bild zu Sais' (Hören 1795) und 'Die Macht des Gesanges^
(Musenalmanach f. 1796) bisher noch zurückgelassen. Nur
wenige neue Gedichte waren in der Zwischenzeit entstanden,
unter ihnen ragten 'Hero und Leander', 'Kassandra', 'Sehn-
sucht', 'Die deutsche Muse' hervor, die übrigen waren meist
Gelegenheitsdichtungen. — Und wenn Schiller nun weiter
zurückschaute, so bot auch die Zeit der Thalia nur geringe
Ausbeute, dagegen war bisher die Anthologie (abgesehen
von 'Meine Blumen') noch gar nicht verwerthet.
Schiller hatte ursprünglich auch nicht die Absicht
gehabt, seine Jugendgedichte in grösserem Masse heranzu-
ziehen. Man weiss, dass er selbst die strengste Kritik an
sich zu üben gewöhnt war und namentlich unnachsichtig die
Schöpfungen verwarf, welche, wie er in jenem Brief an
Eömer schreibt, 'eine Stufe der Bildung bezeichneten , die
er durchaus hinter sich lassen musste, um etwas Ordent-
liches hervorzubringen'. So hatte er, als er den Plan einer
Sammlung seiner Gedichte zuerst fasste, nur 17 ältere der
Aufnahme für würdig befunden und bittet Körner am
5. Mai 1793 auch seinerseits dieselbe Anzahl auszuwählen,
um eine Gegenprobe zu seinem Urtheil zu haben; die ge-
wählten sollten ausserdem einer umfassenden Correctur unter-
worfen werden. Schon damals hatte Körner zu einem nach-
sichtigeren Verfahren gerathen. 'Es ist mir bange vor der
zu strengen Revision Deiner Gedichte', antwortet er am
21. Mai, 'Du hast Deine Manier geändert. Vieles mussDir
jetzt missfallen, was die Spur einer jugendlichen Wildheit
trägt, was aber vielleicht gerade für den Geist einiger, in
ihrer Art sehr schätzbaren Arbeiten passend ist. Verstösse
gegen Sprache und Versification brauchst Du nicht zu dulden.
Aber schon gegen eine gewisse Üppigkeit der BUder wollte
ich um Nachsicht bitten. Ich weiss, dass sie der reifere
Geschmack nicht verträgt Aber die Jahrzahl über jedem
Eettner, Die Anordnang der SchiUerschen Gedichte. 153
Gedichte ist zu Deiner Rechtfertigung hinreichend/ Schiller
hatte sich seither dem Standpunkt des Freundes ge-
nähert. Seinem Rathe folgend setzte er im Register zum
ersten Theile seiner Sammlung die Jahreszahl der Ent*
stehung hinter jedes Gedicht und yersprach, einen Theil
der älteren 'entweder in einem möglichen zweiten Theil oder
doch in einer neuen und erweiterten Ausgabe des gegen-
wärtigen' nachzubringen (an Körner 3. Septembe^ 1800).
Wenn er diesen Entschluss nachher in grösserem Umfange,
als er damals dachte — er verwarf damals z. B. das 'Lied
an die Freude' schlechthin als durchaus fehlerhaft — aus-
führte und auch an der ursprünglichen Gestalt der Gedichte
nicht so viel änderte, als er eigentlich für nöthig hielt, so
geschah dies wohl zum grossen Theil mit Rücksicht auf die
von Behrens eigenmächtig veranstaltete Sammlung der
Schillerschen Gedichte ^*), in der gerade die Jugendgedichte,
speciell die Anthologie, reich vertreten waren. . Hatte doch
der Herausgeber es gewagt, seinen elenden Nachdruck eben
mit Bezug hierauf zu empfehlen: 'Da es übrigens sehr wahr-
scheinlich ist, dass der Yerfasser eine strengere Wahl bei
einer selbst besorgten Ausgabe treffen wird, so behält die
vorliegende dennoch immer ihren Werth, da sie neben den
vollendetsten Meisterwerken zugleich auch die charakter-
vollsten Erstlinge unsers Lieblingsdichters enthält.' Schiller
konnte diese dummdreiste Speculation auf seine künstleri-
sche Gewissenhaftigkeit nicht ignoriren. Indem er in der
Vorrede des zweiten Theils die Gesichtspunkte angibt, welche
ihn zur Aufnahme 'der wilden Produkte eines jugendlichen
Dilettantism , der unsichern Versuche einer anfangenden
Kunst und eines mit sich selbst noch nicht einigen Ge-
schmacks' bewogen, wendet er sich zum Theil direct gegen
Behrens. 'Bei einer Sammlung von Gedichten, welche sich
grösstentheils schon in den Händen des Publicums befinden,
konnte der poetische Werth nicht allein in Betrachtung
kommen. Sie sind schon ein verjährtes Eigenthum des
Lesers, der sich oft auch das unvollkommene nicht gern ent-
reissen lässt, weil es ihm durch irgend eine Beziehung oder
^*) Ygl* Anmerkung 2,
154 Kettner, Die Anordnimg der Schillerschen Gedichte.
Erinnerung lieb geworden ist, und selbst das Fehlerhafte
bezeichnet wenigstens eine StufFe in der Geistesbildung des
Dichters .... Möchte diese rechtmässige, korrekte und
ausgewählte Sammlung diejenige endlich verdrängen, welche
vor einigen Jahren von den Gedichten des Verfassers in
drei Bänden erschienen ist.' ^^)
Es lag, wie man sieht, dem Dichter, als er den zweiten
Theil zusammenzustellen unternahm, ein sehr sprödes und
wenig ergiebiges Material vor, welches den Gedanken, aus
ihm, was beim ersten Theile so glücklich gelungen war, ein
bis ins einzelnste kunstvoll gegliedertes Ganze zu schaffen,
von vornherein ausschloss.
Der historische Gesichtspunkt war von Anfang an
durch die Yoraussetzungen der Sammlung gegeben, er war
in der Yorerinnerung als Rechtfertigung benutzt für die
Aufnahme der Jugendgedichte, und die schroffen Unter-
schiede im Stilcharakter der einzelnen Dichtungen mussten
ihn immer wieder aufs neue dein Redactor aufdrängen.
Trotzdem durfte er ihn nicht ausschliesslich verfolgen.
Hätte er ihn rein zur Geltung gebracht, so wäre unzweifel-
haft; einem grossen Theile der Leser die eine Hälfte seiner
Sanmilung als Ballast erschienen. Für die Würdigung der
allmählichen Entwicklung eines Dichtergeistes hatte das
weitere Publicum damals noch weniger Sinn als heutzutage.
Reichardt urtheilte sicherlich im Sinne vieler Leser, wenn
er im Freimüthigen 1804 ^*) gegen die von Schiller in der
Yorerinnerung aufgestellten Grundsätze bemerkte: ^Lassen
wir sie gelten, so können hinfort grosse Männer selbst ihre
Enabenexercitia herausgeben, denn auch diese bezeichnen
ja ein^ Stufe in ihrer Geistesbildung'. — Auch hätte dann
der zweite Theil gar zu sehr gegen den ersten abgestochen.
So hat denn Schiller einen Mittelweg eingeschlagen.
Er verfuhr so, dass er die einzelnen Schichten mehrfach
mit einander abwechseln Hess, von der einen zur andern
thunlichst überzuleiten suchte und innerhalb der einzelnen
^*) Der Abdruck dieser *Vorerinnerang' bei Goedeke 11, X ist
orthographisch mehrfiarch ungenau.
*■} Braun, Schiller im Urtheile seiner Zeitgenossen 3, 364.
Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 155
die Gedichte so umstellte, dass sich wenigstens ein gewisser
Zusammenhang ergab.
Die Anordnung des zweiten Theiles kann daher der
vollendeten künstlerischen Gruppirung des ersten allerdings
nicht an die Seite gestellt werden; aber auch sie legt
Zeugniss dafür ab, mit welcher Gewissenhaftigkeit Schiller
jenes Frincip festhielt und mit welchem Geschick er es
auch unter den ungünstigsten Umständen noch bis zu einem
gewissen Grade durchzuführen suchte.
Erster Abschnitt 8.3—77.
Das Verfahren des Dichters wird am besten deutlich
werden, wenn ich im Folgenden bei den einzelnen Gruppen
von Gedichten gleich die Fundorte übersichtlich zusammen-
stelle.
Erste Gruppe S.3 — 30.
Der Antritt des neuen Jahrhun-
derts
Taschenb. f. Damen 1802 S.
167
Hero und Leander
ebda. „
153
Die Gunst des Augenblicks
Beckers Taschenb. 1803 „
205
Sehnsucht
ebda. „
251
Die Antiken zu Paris
ebda. „
231
Die deutsche Muse
neu
Dem Erbprinzen zu Weimar, als
er nach Paris reis'te
Beckers Taschenb. 1803 ,,
293
Zweite Gruppe S.31— 77.
Thekia, eine Geisterstimme
Taschenb. f. Damen 1803 „
201
Die vier Weltalter
ebda. ,,
205
An die Freunde
ebda. ,,
1
Die Künstler
Merkur 1789 März
Kassandra
Taschenb. f. Damen 1 803 „
210
Die Macht des Gesanges
Musenalmanach f. 1796 „
1
Das Mädchen von Orleans
Taschenb. f. Damen 1 802 „
231
Man sieht, Schiller hat die Sammlung mit seinen
neuesten Dichtungen eröffnet — nur die ^Künstler' gehören
einer früheren Zeit an. Die Introduction war sehr ge-
schickt: er brachte dem Leser gleich das Beste, was er
ihm zu bieten hatte; dieser Anfang tauschte die Erwar-
tungen nicht, welche der erste Theil erregt hatte; auch die
Zusammenstellung der Gedichte zeigte dieselbe sorgsamq
Hand des Künstlers.
156 Kettner, Die Anordnuog der Schillerschen Gedichte.
Sehr glücklich ist das Einleitungsgedicht gewählt: aus
einer drangvollen Gegenwart will uns der Dichter führen
4n des Herzens heilig stille Räume' und in die Welt des
Schonen. Und auch ^Hero und Leander' brechen 'die
süsse Frucht der Liebe am Abgrund der Gefahr', und wenn
auch ^frühe schon ihr Lauf beschlossen ist', so kann Hero
doch rühmen 'das schönste Loos war mein'. So klingt der
Grundaccord dieser Ballade hinüber in das Lied heitrer
Geselligkeit: 'jede schöne Gabe' ist nur eine 'Gunst des
Augenblicks', 'schnell in ihrem düstern Grabe schliesst die
Nacht sie wieder ein'. Wohl mag uns oft tiefe 'Sehnsucht'
überkommen nach einer schöneren Welt, deren 'Blumen
keines Winters Raub werden', aber nicht müssig sollen wir
uns in dieser Sehnsucht verzehren, — jeden Augenblick
trägt uns der Wunderkahn der Poesie hinüber.
Und nun reihen sich passend die Gedichte an, welche
sich auf die Kunst beziehen. Nur 'wer sie trägt im warmen
Busen', dem werden ihre Werke lebendig ('Die Antiken zu
Paris'). Gegenüber der äusserlichen Pflege der Kunst bei
den 'Franken', mag 'Die Deutsche Muse' — die Einstellung
des neu hinzugekommenen Gedichts an diesem Orte mag
wieder als Beweis gelten für die bewusste Absicht des
Dichters — voll Selbstgefühl ihr Haupt erheben. Mit der
Mahnung an den 'Erbprinzen von Weimar', auch in dem
wälschen Lande 'den vaterländischen Geist' zu wahren,
schliesst die Gruppe ; das letzte Gedicht bildet zugleich in dem
hoiFnungsfrohen Hinweis auf den neu gewonnenen Frieden
(Str. 2 und 4) ein Gegenstück zu den düsteren Bildern des
Einleitungsgedichtes, dem es auch in der Form ähnelt.
Mit der Apotheose der Liebe 'Theklas' eröffnet er die
zweite Gruppe. Auch die Schilderung der 'vier Weltalter'
gipfelt in dem Preise der Liebe, die in allen Wandlungen
des Lebens 'lieblich und mild blieb' und an der stets 'neu
die Flamme des Liedes entbrannte'. Neben dieses 'Tafel-
lied' hat er das zweite gleichzeitig entstandene 'An die
Freunde' (vgl. an Körner 4. Februar 1802) gestellt, wie dort
die verschiedenen Zeiten werden hier die verschiedenen
Länder verglichen, um froh den Werth der Gegenwart und
der Heimat zu empfinden. Der Schluss des Gedichtes: 'Alles
Kettner, Die Anordnung der Scfaillerschen Gedichte. 157
wiederholt eich nur im Leben, Ewig jung ist nur die Phantasie'
gab die directe Überleitung zu den 'Künstlern' ; auch sonst
reihte sich dies Gedicht trotz seines grossen zeitlichen
Unterschiedes hier am besten an : der culturhistorische In-
halt näherte es den vorhergehenden, namentlich dem vor-
letzten. Der Gedanke der 'Künstler', dass die Wahrheit
als 'furchtbare' Göttin 'nur angeschaut von reineren Dä-
monen verzehrend über Sternen geht', lässt die Einfügung
der 'Kassandra' an dieser Stelle nicht ganz unvermittelt;
anderseits mag der. furchtbare Ernst dieses Gedichtes vor-
bereiten auf die 'Macht des Gesanges'^''), in der gerade
die tragische Erschütterung und die Erhebung über das
'Yerhängniss' (Str. 3. 4) als tiefste Wirkung der Poesie ge-
schildert wird. Und die 'Macht des Gesanges' zeigt endlich
am schönsten 'Das Mädchen von Orleans', dem 'die Dicht-
kunst ihre Götterrechte reicht', damit es 'unsterblich lebe'.
Zweiter Abschnitt S. 78— 107.
Er bringt zunächst das Lied der Amalia aus den
^Räubern' ('Schön wie Engel' u. s. w.), dann aus der Antho-
logie 'Fantasie an Laura' (S. 7— 11), 'Laura am Klavier'
(S. 19-21), 'Die Entzückung an Laura' (S. 38-41), 'Die
Kindesmörderin^ (S. 42 — 48 ; 'Spinoza' steht dazwischen),
'Der Triumph der Liebe' (S. 58—68).
Man sieht, Schiller hat die leidenschaftliche Liebes-
poesie seiner Jugend vereinigt. Die Anordnung konnte
sich einfach der Folge der Gedichte in der Anthologie an-
schliessen, da sie von selbst eine zweckvolle Steigerung bis
") Es ist neben den 'Künstlern' das einzige ältere Gedicht dieser
Reihe. Schiller hatte es bei der Eedaction des ersten Theils Wjohl
deshalb zurückgestellt, um es — entsprechend dem 'Mädchen aus der
Fremde* in diesem — zur Eröffnung des zweiten Theiles zu benutzen.
Wie letzteres Gedicht nach der selbständig vorangestellten 'Idylle*
Goethes den Musenalmanach für 1797, so leitete es den für 1796 ein,
welchen die 'Stanzen an die Leser* ursprünglich beschliessen sollten;
diese beiden Gedichte werden im Brief an Kömer y. 25. September
1795 ausdrücklich als Eröffhungs- und Schlussgedicht bezeichnet. In-
zwischen war aber das Gedicht beim 'Antritt des neuen Jahrhunderts*
entstanden, welches noch besser für jenen Zweck geeignet scheinen
mochte.
158 Kettner, Die Anordnang der Schillerschen Gedichte.
zu dem Magischen Abschluss in der ^Kindesmörderin^ und
dem grossen ^Hymnus' auf die Liebe darbot; der metaphy-
sische Oehalt des letzteren, die Auffassung der Liebe als
Gesetz des Universums, wies zugleich hinüber zu den
folgenden Gedichten.
Dritter Abschnitt S. 108—134.
Die Reihe der älteren unterbricht der Dichter noch
einmal durch jüngere Gedichte ; er greift aber bereits weiter
zurück, in die Hören von 1795, den Musenalmanach für
1796, ja sogar bis in die Thalia von 1786. Die anfangs
noch klar erkennbaren Linien der Composition beginnen
gegen den Schluss hin unsicher zu werden.
Das erste Paar 'Das verschleierte Bild zu Sais' und
'Die Weltweisen' (Hören 1795 St. 9 S. 94 und 11 S. 29) steht
in leicht erkennbarem Gegensatz zum zweiten 'Der spielende
Knabe' und 'Einer jungen Freundin ins Stammbuch' (Musen-
almanach f. 1 796 S. 79 und 36) ; jenes zeigt eine alle Lebens-
freude vernichtende, unfruchtbare Weisheit, dieses das
Glück der ahnungslosen Unschuld des Kindes wie der noch
durch keine Erfahrung getrübten Seelenreinheit des blüh-
enden Mädchens. Der Hymnus 'An die Freude' (Thalia
1786 Heft 2 S. 1) kann als voller Abschluss dieser Ge-
dankenreihe gelten.
Die noch übrigen Gedichte sind ganz äusserlich hier
angefügt. So zog das letztgenannte 'Die unüberwindliche
Flotte' nach sich, weil sie- aus demselben Heft der Thalia
(S. 76) allein noch übrig war (die andern waren schon im
ersten Theil verwendet). Endlich schob Schiller hier noch
zwei kürzere Gedichte aus den Hören von 1795 ein: 'Einem
jun'gen Freund als er sich der Weltweisheit widmete' (aus
St. HS. 41) und 'Karthago' (aus St. 12); so schloss er den
Abschnitt mit einem Gedichtepaar aus den Hören, wie er
ihn damit begonnen hatte.
Vierter Abschnitt S. 135—178.
Yon den neueren kehrte Schiller noch einmal in beab-
sichtigtem Wechsel zu den ältesten Gedichten zurück. Elf
Gedichte aus der Anthologie sind hier in einer von der
Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 159
ursprünglichen Ileihenfolge durchaus abweichenden Anord-
nung zusammengestellt, und vor den drei letzten ist aus
dem Kalender des Luxus und der Moden für 1789 ^Die
berühmte Frau^ eingeschoben.
Dies freiere Yerfahren des Dichters beweist schon, dass
er auch hier wieder Yon einer künstlerischen Absicht ge-
leitet wurde. Freilich viel war bei dem vorliegenden Ma-
terial nicht zu erreichen. Er musste sich im wesentlichen
darauf beschränken, die ähnlichen Gedichte zusammen-
zustellen und durch starke Contraste sie zu heben. Und
doch, wie vortrefflich hat er auf diese Weise Leben und
Bewegung auch in diese Gruppe zu bringen gewusst!
So liess er — ich füge die Seitenzahlen der Anthologie
bei, um die starken Umstellungen bei der Redaction er-
kennen zu lassen — auf das im Volkston gehaltene,
kecke und frische Kampflied 'Graf Eberhard der Greiner'
(S. 251—256) das weiche, fröhliche Lied 'An den Frühling'
(S. 123 — 124) folgen; ebenso auf die wilde, ganz dramatische
Scene des Mordens 'Die Schlacht' (S. 49—53) den 'Flücht-
ling' (S. 184 — 186 'Morgenfantasie'), der todesmüde auf-
athmet in der im Morgenlicht sich verjüngenden Natur.
Nach der 'Gruppe aus dem Tartarus' (S. 147) zieht das
'Elisium' (8. 196—198) an uns vorüber, der Anfang 'Vorüber
die stöhnende Klage!' scheint direct an jenes Gedicht an-
zuknüpfen, obwohl beide ursprünglich gar nicht in Zu-
sammenhang standen. Neben die thränenreiche Liebesklage
'An Minna' (8.190—192) trat die nüchtern verständige
Resignation in einer Fabel in Gellerts Geschmack 'Das
Glück und die Weissheit' (8. 76—77) und — sehr glücklich
hier eingefügt — die lustige Satire auf die Schmerzen des
enttäuschten Ehemanns der 'berühmten Frau'. Endlich:
die überschwängliche, alle Himmel überfliegende Begeiste-
rung in der Hymne 'Die Grösse der Welt' (8. 128—130)
wurde in keckem Humor abgelöst durch die mehr als
irdische, strotzende Lebenslust in 'Männerwürde' (8.115 —
122 'Kastraten und Männer') und die übermüthige Ver-
höhnung einer asketischen Ethik in dem Gedicht 'An einen
Moralisten' (8. 78—81).
160 Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
Fünfter Abschnitt 8. 179—240.
Er bringt noch eine Nachlese zu den beiden Abthei-
lungen der älteren und jüngeren Gedichte. Abgesehen
davon, dass er die kleinen didaktischen Gedichte, sowie die
Parabeln und Räthsel zusammenstellte und in der zweiten
Gruppe ernste und heitere Gedichte abwechseln Hess, hat
Schiller auf eine strengere Gliederung als unmöglich ver-
zichtet. Ich begnüge mich deshalb, um seine Redaction zu
veranschaulichen, ein Schema der einzelnen Gedichte mit
ihren Fundorten zu geben.
Erste Gruppe S. 179—208.
Griechheit
Musenalm. f.l 797XenlonNr.320— 22
Die Sonntagskinder
»>
9}
„ 331 . 330
Die Homeriden
»y
99
„ 366—68
Die Philosophen
tf
»f
„371—89
B. B. [im Register richtig
G. G. — Gdehrte Gesell-
schaften]
99
»
288
Die Danaiden
>l
l>
45
Der erhabene Stoff
>
f9
»1
22
Der moralische Dichter
M
»
11
Der Kunstgriff
tf
»
14
Jeremiade
>>
)9
„ 309—18
Wissenschaft
99
f»
62
Kant und seine Ausleger
19
»
53
Die Flüsse
99
»
yf »Jim 90«
100-12
Schön und Erhaben
Hören 1795 St, 12 Nr.
IV
Breite und Tiefe
Musenalmanach f.
1798 S. 263
Kleinigkeiten
Der epische Hexameter j
Das Distichon [
Die achtzeilige Stanze )
Musenalmanach f.
1797
S.67
Der Obelisk j
Der Triumphbogen (
Musenalmanach f.
1 798 S. UO
Die schöne Brücke |
Das Thor 1
Die Peterskirche
ebda. S. 255
Zenith und Nadir
neu hinzugefügt,
ursprflnglich fflr
Hören 1795 St
. 12
bestimmt")
») Schiller an Cott« 27. November 1795 (S. 140 vgl. S. 120 Anin. 3).
Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 161
Ausgang aus dem Leben Hören 1795 St. 12 Nr. XP*)
Das Kind in der Wiege Musenalmanach f. 1 796 S. 4
Das Unwandelbare Musenalmanach f. 1 796 S. 24
Theophanie Hören 1795 St. 11
Zweite Gruppe S. 209—240.
Die Götter Griechenlands. Merkur 1788 März
Für die Freunde der
ersten Ausgabe abge-
druckt
Das Spiel des Lebens neu (October 1796 für Speners
Guckkastenmann)
Parabeln und Räthsel (10) aus der Turandot, nur 6 und 8
schon daselbst gedruckt
Rousseau Anthologie S. 33—37
Punschlied ('Vier Elemente*) neu entstanden
Das Geheimniss der Remi-
niszenz Anthologie S. 137— 146
Sechster Abschnitt S. 241-358.
Er beschliesst die Sammlung, ähnlich wie dies beim
ersten Theil geschehen war, mit den Übersetzungen des
'vierten Buches der Äneide' (S. 241—305; aus der Thalia
f. 1792 St. 2 u. 3) und der 'Scenen aus den Phönizierinnen'
(S. 309—358; aus der Thalia 1789 Heft 8). Zwischen beide
ist eingeschoben S. 306—308 'Der Pilgrim\ aus einem ganz
äusserlichen Grunde, weil der Drucker Göpferdt um ein
Gedicht zur Ausfüllung der leeren Seite 306 vor dem
Schmutztitel der Phönizierinnen bat (Geschäftsbriefe S. 308).
4. Die zweite Ausgabe.
Der erste Theil erschien in ^zweiter von neuem durch-
gesehener Auflage' Leipzig bei Crusius 1804. Die frühere
Anordnung ist darin ohne jede Änderung beibehalten, die
neue Ausgabe stimmt selbst bis auf die Seitenzahlen mit
der ersten überein.
^*) Schon Theil 1 S. 316 unter dem neuen Titel *Die idealische
Freiheit' und mit einzelnen orthographischen Abweichungen abge-
druckt. Schiller Hess sich offenbar durch den früher geänderton
Titel beirren.
Vierte\jahzBehiift für LittexatoigeBchichte III 1 1
162 Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedickte.
Vom zweiten Theil besorgte der Dichter ebenfalls noch
eine 'zweite, verbesserte und vermehrte Auflage' (ebda.
1805).^®) Auch hier änderte er an der früheren Ordnung
nichts Wesentliches; er fügte nur zu den Räthseln drei
neue hinzu und schob sechs inzwischen hinzugekommene
Gedichte 8. 313 — 340 ebenso bequem als zweckmässig hinter
dem 'Pilgrim' ein, der bisher zwischen den beiden grossen
Übersetzungen doch gar zu verloren und eingezwängt dastand.
Passend knüpfte er an ihn das 'Berglied' an (entstanden
Anfang 1804, zuerst gedruckt im Taschenb. f. Damen f. 1805
S. 173), enthielt dasselbe doch auch eine märchenhafte
Wanderung, die zu symbolischer Deutung reizte. Das Bild
der Alpen weit, welches dabei vorschwebte, bereitete vor
auf die Scenerie, in welcher die vom 'Grafen von Habs-
burg' (beendet 25. April 1803, zuerst im vorhergehenden
Jahrgang des eben genannten Taschenbuches S. 1) erzählte
Anekdote spielt. Die Schilderung des festlichen Mahles zu
Anfang der Ballade leitete über zu der ähnlichen und doch
so verschiedenen Scenerie des 'Siegesfestes' (beendet 22. Mai
1803, zuerst in demselben Taschenbuch S. 116). Und zu den
furchtbar ernsten Lebensbildern dieses Gesellschaftsliedes
trat dann wieder die ruhige Zufriedenheit in dem für den-
selben geselligen Kreis bestimmten zweiten 'Punschlied'
('Auf der Berge freien Höhen', entstanden im April 1803,
zuerst in Beckers Taschenbuch f. 1804 S. 163) in wirkungs-
vollen Gegensatz. Ebenso sind des Contrastes wegen die
beiden letzten Gedichte zusammengestellt 'Der Alpenjäger'
(abgesandt im Juli 1804, zuerst in Beckers Taschenbuch
1805 S. 279) und 'Der Jüngling am Bache' (aus dem im
Mai 1803 beendeten 'Parasiten' veröffentlicht in demselben
Jahr in Ehlers Gesängen u. s. w., dann in dem Taschen-
buch f. Damen 1805 S. 1); dort sehen wir den Jüng-
ling in trotzigem Übermuth 'schweifen auf den wilden
Höhn', hier an der Quelle in traurig-süsser Liebesträumerei
ruhen.
'^) Am 21. November 1804 sandte er das Manuscript an Crusius
(Geschäftsbriefe S. 324).
Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 163
5. Die projectirte neue Sammlung (1804).
Fast möchte ich es bedauern, dass ich mit der Analyse
des zweiten Theils schliessen musste, denn es ist zu be-
fürchten, dass das hier vielfach durch äussere umstände
behinderte, nachlässigere Verfahren des Dichters den Blick
trübe für die Würdigung der vollendeten künstlerischen
Composition des ersten Theils.
Es ist keine Frage : die Hand des Dichters war im Ver-
folg seiner Arbeit über den sich häufenden Schwierigkeiten
und nicht zum geringsten Theile wohl auch unter dem
Drang seiner dramatischen Thätigkeit, die ihn immer völ-
liger in Anspruch nahm, allmählich erlahmt. Er selbst
tauschte sich über die gegen den Schluss hin hervortre-
tenden Mängel der Composition wohl am wenigsten, in-
dessen er mochte sich trösten in dem Gedanken, mit dem
er einst Goethes Scrupel bei der Redaction seiner Gedichte
zu beruhigen gesucht hatte: ^Es wird eine reiche und er-
freuliche Sammlung werden, wenn sie auch nicht nach Ihrer
eigenen höheren Forderung ausgeführt wird, und was jetzt
nicht geschieht, kann ein andermal geschehen, da ein solches
Werk ohnehin in drei bis vier Jahren vergriffen ist'
(6. August 1799).
Eine Prachtausgabe seiner Gedichte zu veranstalten,
war immer sein Wunsch gewesen, schon als der erste Plan
einer Sammlung auftaucht, wird sie ins Auge gefasst (an
Crusius S.September 1792, an Körner 28. Februar 1793).
Im letzten Jahre vor seinem Tode werden bestimmtere
Verabredungen wegen derselben mit Crusius getroffen und
hierzu eine Neuordnung der Gedichte begonnen. Bei der-
selben, das sah er ein, Hessen sich die Schwierigkeiten nur
dadurch heben, dass er die bisherige Scheidung in zwei
Theile, von denen der erste das beste Material vorweg-
genommen hatte, aufgab; nur wenn er mit dem Ganzen frei
schalten und walten konnte, Hess sich eine gleichmässige
künstlerische Gliederung durchführen. So beschloss er denn
'die Gedichte, welche den Inhalt der Prachtausgabe aus-
machen sollten, in vier Bücher zu ordnen'. Am 24. Juni
1804 verspricht er Crusius 'das Schema dazu binnen acht
Tagen (Geschäftsbriefe S. 322). Am 21. November hat er
11*
164 Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
^die Eintheilung zu der Prachtausgabe gemacht und sämmt-
liehe Gedichte, die darin Platz finden sollen, mit
genau ausgerechneter Zeilen-Zahl und in der Ordnung, die
er für die schicklichste hielt, abschreiben lassen. Es
sind vier Bücher, deren jedes im Durchschnitt 10 Bogen
oder 80 Quartseiten hält'. Mit nächster Montagspost denkt
er das Manuscript senden zu können und hofft, dass das
Werk zur nächsten Michaelismesse erscheinen werde (Ge-
schäftsbriefe S. 324).
Das Manuscript befindet sich jetzt im Goethe-Schiller-
Archiv zu "Weimar. Dank der grossen Liberalität der Ver-
waltung desselben ist es mir gestattet, die sehr unbestimmten
Angaben, welche Goedeke tl,XII darüber gemacht hat,
zu ergänzen und ein klares Bild von der Einrichtung der
Sammlung zu geben.
Die Gedichte sind von Schillers Diener Budolf auf
Quartbogen geschrieben. Für die Gestaltung des Textes ist
das Manuscript, wie schon Goedeke richtig erkannte, ohne
wesentliche Bedeutung, denn Budolf copirte nach der Cru-
siusschen Ausgabe (Bd. 1 in zweiter, Bd. 2 in erster Auf-
lage). Nur bei wenigen Gedichten, am häufigsten noch im
ersten Buch, hat Schiller leise Correcturen vorgenommen,
die in dem Lesartenverzeichniss bei Goedeke alle gewissen-
haft berücksichtigt sind. Sichtlich ist Schiller mit der Re-
vision nicht zu Ende gelangt, in den ^Idealen' hat er z. B.
Y. 72 den offenbaren Schreibfehler ^auf dem finstern Weg'
stehen lassen. Grössere Änderungen scheint er bei den
^Künstlern' beabsichtigt zu haben, wie er schon für die Cru-
siussche Ausgabe eine Umarbeitung geplant hatte (an Körner
21. October 1800); das Manuscript enthält nur eine Reihe
leerer Blätter mit der Überschrift von Schillers Hand. —
Die Übersetzung des zweiten Buches der Äneide liegt in
einem Ausschnitt aus dem ersten Bande der Gedichte bei;
Schiller hat darauf vermerkt: ^Auf die erste Seite kommen
zwey, auf alle folgenden immer drey Strophen'.
Von Schillers Hand ist femer der Umschlagtitel ^Erstes
Buch. I Mscrpt zu der Prachtausgabe' und ebenso die Über-
schrift der übrigen Bücher ausser der des dritten, welche
von jüngerer Hand ersetzt ist. Ausserdem hat er auf den
Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 165
vier Seiten eines Foliobogens den Inhalt je eines Buches
verzeichnet. Erst hierdurch ist natürlich die Reihenfolge
der Gedichte fixirt, da die Lage der losen und nicht pagi-
nirten Blätter des Manuscripts gar keine Gewähr bietet.
Leider ist indessen fast die ganze untere Hälfte des zweiten
Blattes weggeschnitten ; auf Seite 3 bürgt sowohl das letzte
Gedicht ^Trojas Zerstörung' als das Spatium unter dem-
selben dafür, dass nichts fehlt; dagegen ist auf S. 4 die
Handschrift offenbar verstümmelt, über dem Schnitt ist noch
der obere Bogen eines Buchstabens zu erkennen. Ich gebe
das Verzeichniss in buchstabengetreuem Abdruck.
[Seite 1] Erstes Buch.
Das Mädchen aus der Fremde
An die Freude
Dithyrambe
Das Siegesfest
5 Die vier Weltalter
Das Geheimniss
Sehnsucht
Thekla
Rektors Abschied
10 Des Mädchens Klage
Die Erwartung
Reminiscenz an Laura
Würde der Frauen
An Emma
i& Der Abend
Die Blumen
Amalia
Die Kindsmörderii)
Punschlied
90 Berglied .
Reiterlied
Nadowessiers Todtenlied
Der Pilgrim
Der Jüngling am Bache
3A Punschlied im Norden zu
singen
An die Freunde
Das Lied von der Glocke
[Seite 2] Zweites Buch.
Der Ring des Polykrates
Die Kraniche des Ibykus
Dämon und Pythias [Qber
diese Namensform vgl. Goe-
deke 11,456 u.]
Kassandra
5 Hero und Leander
Der Taucher
Ritter Toggenburg
Der Handschuh
Der Graf von Habsburg
10 Der Gang nach dem Eisen-
hammer
Der Alpenjäger
Der Kampf mit dem Drachen
[Seite 3] DriUes Buch.
Die Sänger der Vorwelt
Der Tanz
Das Glück
Der Genius
6 Pompeji und Herkulanum
Shakespear
Die Geschlechter
Der Spaziergang
Votivtafeln
10 Nänie
Trojas Zerstörung
[Seite 4] Viertes Buch.
Der Antritt des neuen Jahr-
hunderts
Die Götter Griechenlands
Die Ideale
Worte des Glaubens
166 Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
5 Worte des Wahns lo Resignation
Klage der Ceres An Goethe
Das Eleusische Fest Theilung der Erde
Die Künstler Die Antiken zu Paris
Ideal und das Leben Deutsche Muse
In dem Manuscripte selbst liegen noch folgende Ge-
dichte in besonderem Umschlag und folgender, doch wohl
zufalliger Ordnung: Sängers Abschied — Poesie des Le-
bens — Hoffnung — Breite und Tiefe — Spruch des Con-
fucius [über die Zeit] — Licht und Wärme — Spruch des
Confucius [über den Baum] — Gunst des Augenblicks. Da
unter ihnen 'Sängers Abschied' sich befindet, so darf man
wohl mit ihnen die Lücke am Schluss des Inhaltsverzeich-
nisses von Buch lY ergänzen, zumal auch der Inhalt der
übrigen, wie wir unten sehen werden, gerade in den Ge-
dankenkreis dieses Buches gut passt.
Für Buch I zeigt das Manuscript noch Andeutungen
einer anderen Anordnung. Auf die leere Bückseite von
'Die Erwartung' hat Schiller oben geschrieben 'Des Mäd-
chens Klage', hinter 'Das Geheimniss der Beminiszenz'
ebenso 'Dithyrambe' und hinter 'Würde der Frauen'; 'Der
Abend. Nach einem Gemähide'. Es muss zweifelhaft bleiben,
welche Anordnung die spätere ist, ich möchte die des Ver-
zeichnisses dafür halten, da sie einen besseren Zusammen-
hang ergibt.*^)
In Buch II hat er die von Budolf mit abgeschriebenen
Nebentitel 'Ballade', 'Erzählung' gestrichen; sie wurden
überflüssig, da das Buch lauter gleichartige Gedichte ver-
einigte.
In Buch III haben die 'Yotivtafeln' eine ganz neue
Ordnung erhalten, viele der früheren fehlen, dafür sind
mehrere bisher selbständig aufgeführte gnomische und epi-
grammatische Gedichte unter diesem Titel mit zusammen-
gefasst. Die Beihenfolge derselben im Manuscript — die
betr. Bogen sind in einander gelegt — ist folgende :
*^) Von den im Inhal tsverzeichniss genannten Gedichten fehlen
im Manuscript wohl durch äusseren Zufall Nr. 17. 20. 2L
Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. 167
V
Votivtafeln
Die verschiedne Bestimmung
Das Belebende
Zweierlei Wirkungsarten
5 Unterschied der Stände
Das Werthe und Würdige
Die moralische Kraft
Aufgabe
Pflicht für jeden
w An die Proselytenmacher
Archimedes und der Schüler
Jetzige Generation
Die Übereinstimmung
Politische Lehre
i& Majestas populi
An die Astronomen
Meine Antipathie
Der Genius
Der Nachahmer
20 Genialität
Die Forscher
Der Sämann
Schöne Individualität
Die Mannichfaltigkeit
3& Menschliches Wissen
An die Mystiker
Weisheit und Klugheit
Würden
An einen Weltverbesserer
30 Der beste Staat
Der Schlüssel
Der Aufpasser
Mein Glaube
Inneres und Äusseres
35 Freund und Feind
Das Unwandelbare
Kolumbus
Der gelehrte Arbeiter
Das Naturgesetz
40 Korrektheit
Sprache
An den Dichter
Der Meister
Der Gürtel
45 Die zwei Tugendwege
Licht und Farbe
Die schwere Verbindung
Dilettant
Die Kunstschwätzer
M G. G.
Die drei Alter der Natur
Die Antike an den nordischen
Wanderer
Der Obelisk
Die Peterskirche
55 Der Triumphbogen
Das Distichon
Die achtzeilige Stanze
Tonkunst
Odysseus
«0 Theophanie
Die Gunst der Musen
Der Homeruskopf als Siegel
Astronomische Schriften
Die Danaiden
65 An die Muse
Der Kaufmann
Für die Anordnung der Sammlung hat offenbar die
Eintheilung der Goetbeschen Gedichte in den ^Neuen Schriften'
(1800), welche der Dichter als abschliessend ansah, da er
sie nachher den Cottaschen Ausgaben (von 1806 an) zu
Grunde legte, als Vorbild gedient. Wie Goethe dort die
Rubriken macht: Lieder — Balladen und Romanzen — Ele-
gien — Epigramme u. s. w., so hat auch Schiller hier seine
Gedichte zunächst nach Gattungen geordnet. Bei der
Zusammenstellung des ersten Buches schwebte ihm auch
wohl Goethes Sammlung der der Geselligkeit gewidmeten
168 Ketiner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
Lieder (in Wielands und Goethes Taschenbuch f. 1804) vor
Augen. So bringt:
Buch I Lieder und Liedartiges, meist auf geselliges
Leben, Freundschaft und Liebe bezüglich,
Buch II Balladen und Romanzen,
Buch III Elegien und Epigramme; die Übersetzung des
zweiten Buches der Äneide ist hier ausgeschlossen, weil
der antike StofF am besten zu der antikisirenden Form der
vorhergehenden Gedichte passte.
Buch lY Reflexionspoesie über Ethisches und Ästhe-
thisches.
Innerhalb der einzelnen Bücher hat er dann wieder
Gruppen gebildet, die zum Theil denen der früheren Samm-
lung entsprechen; sie sind nicht alle gleich sorgfaltig ge-
gliedert, vorzügliche Klarheit zeigt die Gruppirung der
Romanzen und Balladen.
Buch I.
Die Sammlung wurde wieder mit dem ^Mädchen aus
der Fremde' eröffnet, welches schon zweimal als Einleitungs-
gedicht gedient hatte (vgl. S. 135). Die übrigen Gedichte
zerfallen in drei Gruppen.
Erste Gruppe (2— 5): Gesellige Dichtungen. Der grosse
Hymnus ^an die Freude' ist passend an die Spitze gestellt,
verwandt sind ihm die folgenden Lieder durch ihren dithy-
rambischen oder chorartigen Charakter.^*)
Zweite Gruppe (6 — 18): Liebespoesie. Sie beginnt mit
der Schilderung still verschwiegenen Liebesglückes und findet
in der ^Eindsmörderin' ihren tragischen Abschluss. Vor
letzteres Gedicht tritt zweckmässig der volle Sinnestaumel
der Leidenschaft in ^Amalias' Lied, auch ^Die Blumen' stehen
inhaltlich und formell nahe. Ebenso schliessen sich 8 — 10
auf das engste zusammen : alle drei verherrlichen die Macht
treuer Liebe auch über den Tod hinaus. Die übrigen Ge-
dichte aber zeigen kaum einen inneren Zusammenhang,
r-
**) Schiller selbst gebraucht einmal (an Körner 11. Juni 1803) den
Aasdruck: *ein ernstes Gesellschaftslied im Geschmack des Liedes an
die Freude'; welches Gedicht er damit meinte, wissen wir zwar nicht,
sehen doch aber, dass ihm der Begriff der oben angenommenen
Gattung bewusst war.
Eettner, Die Anordnung der Schillersch en Gedichte. 169
ganz fremdartig ist 7 hier eingeschoben. — Die Abweichungen
des Verzeichnisses von den Notizen des Dichters im Manu-
Bcript, welche nur in diesem Abschnitt sich finden, zeigen
dass er wegen der Anordnung schwankte.
Dritte Gruppe (19—27): Lieder vermischten Inhalts,
zum Theil wieder geselliger Art, doch von leichterem Ton
als in der ersten Gruppe. Trotz der Mannigfaltigkeit des In-
halts hat Schiller die einzelnen Gedichte in engere Beziehung
zu einander zu setzen gewusst. An das erste Tunschlied'
mit seiner heiteren Symbolik^') schliesst sich der märchen-
hafte, ins Allegorische spielende ^Stieg auf den Gotthard',
den Goethe eine 'artige Aufgabe zum Dechiffriren' nennt.
An dies Bild einer verwegenen Wanderung reiht sich das
kecke 'Reiterlied'; die frischen Klänge der todesverachtenden
Lebenslust der Wallensteinschen Soldateska werden ab-
gelöst von dem 'Todtenlied^ des indianischen Eriegßrs. Die
ernste Stimmung des letzteren klingt aus in der schwer-
müthigen Allegorie der ruhelosen Wanderung des Lebens
(in Anlehnung an Bunyans pilgrim's progress gedichtet) und
der Klage des Jünglings, der seine Tage 'wie die Quelle
rastlos fliehn' sieht. Dem gegenüber spricht aus den beiden
letzten geselligen Liedern das ruhige Glück des sich Be-
scheidens an dem Orte und in der Zeit, in die uns das
Leben stellte.
So haben sich in diesem Buche die Bilder frohen
Lebensgenusses, mit denen es anhob, allmählich erweitert
zu einem Abbild des Menschenlebens in Lust und Schmerz ;
alle die zerstreuten Züge fasst am Schluss in einem grossen
Gesammtbild zusammen das 'Lied von der Glocke^ der
Begriff der Geselligkeit, von dem der Dichter ausging, wird
hier erhoben zu dem der Gesellschaft.
Buch IL
Schiller hat die Balladen und Romanzen in zwei Gruppen
getheilt und innerhalb derselben wieder paarweise geordnet.
'*) Sollte Schiller zu derselben nicht angeregt sein durch Bürgers
Symbolisirung der Elemente (Gedichte hg. v. Sauer S. 81) :
Horch! Hohe Dinge lehr' ich dich!
Vier Elemente gatten sich;
Sie gatten sich, wie Mann und Weib,
Voll Liebesgluth in einen Leib. u. s. w.
170 Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
Erste Gruppe (1—5): antike Stoffe. 1 und 2 stellen das
Walten des Schicksals dar, dort erscheint es als die allem
Übermass menschlichen Wesens feindliche Macht, hier als
rächende Nemesis. In 4 und 5 bildet ein Monolog einer
einsam in Liebe sich verzehrenden Priesterin den Mittel-
punkt, in beiden greift das Schicksal tragisch ein. Das
Mittelstück 3 unterbricht die düstre Stimmung der ganzen
Gruppe durch die Verherrlichung einer über jedes Geschick
triumphirenden Preundestreue.**)
Zweite Gruppe (6 — 12): mittelalterliche (Schiller würde
wohl gesagt haben: romantische) Stoffe. Von 5, der Er-
zählung von dem griechischen Jüngling, der aus Liebe kühn
allen Schrecken des Meeres trotzt, leitet der Dichter
zwanglos über zu dem ^Taucher\ Ritterliche Minne behan-
deln 7 und 8, dort vergeht der Held in Liebessehnen, hier
stösst er. trotzig die Übermüthige zurück. Frommen Sinn
sehen wir belohnt in 9 und 10, in beiden spielt auch —
was ^Der Freimüthige' dem Dichter sehr übel genommen
hatte — der katholische Cultus eine Rolle. Endlich 11
und 12 sind als Jagdstücke zusammengestellt, eine scharfe
Contrastwirkung ergab sich ungesucht.
Buch m.
Die Gedichte sind ausschliesslich mit Rücksicht auf die
Gleichartigkeit der Form hier vereinigt; ein innerer Zu-
sammenhang ist kaum zu erkennen. Die 'Nänie' ist hier
ebenso der 'Zerstörung Trojas' voraufgeschickt, wie sie in
Bd. I der Crusiusschen Ausgabe die Übersetzung der 'Hoch-
zeit der Thetis' einleitete.
Buch IV.
Einleitungsgedicht ist das erste Gedicht von Bd. H der
Crusiusschen Sammlung. Die Schlusstrophe 'In des Her-
zens heilig stille Räume' u. s. w. enthält das Motto für den
Gedankenkreis dieses Buches, der sich ähnlich wie die
Hauptabschnitte des ersten Bandes der Gedichte um den
**) J. Meyer, Beiträge S. 35 bemerkt, dass Schiller den Titel der
*Börg8chafl' wohl nur deshalb änderte, um die Überschriften aller aus
der antiken Welt entlehnten Stoife gleichmässig durch Eigennamen zu
geben ; so weit ging seine Rncksicht auf die äussere Form !
Eettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. t71
Gonflict zwischen Ideal und Wirklichkeit und die ethische
und ästhetische Versöhnung beider bewegt.
Erste Gruppe (2—5). Den Verlust der idealen Welt
in der Culturentwicklung der Menschheit (2) wie im Gange
des Einzellebens (3) beklagt das erste Paar, zu dem uner-
schütterlichen Festhalten an den sittlichen Idealen trotz
aller Enttäuschungen des Lebens ruft das letzte auf.
Zweite Gruppe (6 — 10). Die Begründung der Cultur
überhaupt schildert ^Das Eleusische Fest', mit welchem rein
mythologisch sich die ^Klage der Ceres' verbindet. Die
culturhistorische Bedeutung der Kunst entwickelt 8. In 9
und 10 ist die ästhetische Erhebung des Menschen über
alle Schranken des Irdischen und die Resignation auf ein
jenseitiges Glück zusammengestellt: das ästhetische und
das religiöse Glaubensbekenntniss des Dichters sind hart an
einander gerückt.
Dritte Gruppe (tl — 14). Sie behandelt die äussere
Erscheinung der Kunst im Leben und zwar in dem ersten
Paar den Idealismus der wahren Kunst, die Abkehr der
Dichtung von dem groben Bealismus (11) wie die Abkehr
des Dichters von allem Materiellen (12), in dem zweiten
Paar an einem negativen (13) und positiven (14) Beispiel
die Entwicklung einer gesunden Kunst aus einem inneren
Verhältniss zum Schönen und aus eigner Kraft.
Die im Manuscript noch beiliegenden Gedichte, deren
Titel, wie ich vermuthete, hier abgeschnitten sind, würden
sich auch inhaltlich hier gut anschliessen. Die beiden
Sprüche des Confucius waren schon in der Crusiusschen
Ausgabe zum Abschluss ähnlicher Gedankenreihen, wie sie
hier namentlich die erste und zweite Gruppe zeigen, benutzt.
Ruhige Lebensweisheit in spruchartiger Form bieten auch
die übrigen Gedichte, 'Hoffnung' wird ausserdem durch
dieselbe metrische Form wie die Worte des Glaubens und
Wahns in dies Buch verwiesen, auch die Form von ^Breite
und Tiefe' ist ähnlich.
So mag auch diese Prachtausgabe zum Zeugniss dafür
dienen, welchen Werth der Dichter auf eine planmässige
Anordnung seiner Gedichte legte. Für uns kann indessen
t72 Kettner, Die Anordnung der Schillerschen Gedichte.
die hier getroffene Eintheilung nicht massgebend sein, denn
die Ausgabe bringt, wie Schiller von Anfang an beabsich-
tigt hatte (vgl. in dem oben angeführten Brief an Crusius
vom 21. November 1804 die Worte 'sämmtliche Gedichte,
die darin Platz finden sollen'), nur eine Auswahl.
Eine abschliessende Revision des Textes und der An-
ordnung der Qesammtausgabe seiner Gedichte vorzunehmen,
blieb dem Dichter versagt. Die zweite Crusiussche Aus-
gabe ist die letzte vollständige geblieben und muss als
solche, trotz der Mängel des zweiten Bandes, die Geltung
einer Ausgabe letzter Hand behalten. Wie die hier
gegebene Gestaltung des Textes zur Yulgata geworden ist,
so müssen auch alle Ausgaben die hier getroffene Anord-
nung getreulich wiedergeben, damit das Publicum wieder
in derselben Reihenfolge die Gedichte geniesse, in welcher
der Dichter einst sie ihm vorführen wollte. Es wäre daher
dringend zu wünschen, dass zunächst in den für einen
weiteren Leserkreis berechneten Ausgaben die Eömersche
Anordnung, welche, obwohl sie schlechterdings keinen An-
spruch auf selbständige Geltung erheben kann, sich 'wie
eine ewige Krankheit fortschleppt', verschwinde und der
vom Dichter selbst getroffenen Platz mache.^^) Aber auch
wissenschaftliche Ausgaben würden einen schweren Unter-
lassungsfehler begehen, wenn sie — wie die Goedekesche —
") Bei der Gorrectnr dieser Untersuchung kann ich nachtragen,
dass H. Kurz in seiner Ausgabe von Schillers Werken Hildburghausen,
Bibliographisches Institut 1868 (nicht der kritischen) Lief. 1. 2 die
Gedichte in der Anordnung der Crusiusschen Sammlung abdrucken
liess. Ich erfahre dies aus der jüngst in Eürschner-Spemanns National-
litteratur Bd. 118. 119 erschienenen Bozbergerschen Ausgabe (119, XX),
welche ihrem 'Ersten Buch' die Ordnung der 2. Crusiusschen Samm-
lung (mit einem Nachtrag) zu Grunde legt, die Trennung derselben in
zwei Bände aber nur in einer Anmerkung S. 181 anzeigt und also ver-
wischt, die Phönizierinnen und mit Recht die Dublette 'Ausgang aus
dem Leben* (Crusius 2, 207 = 'Die idealische Freiheit* 1, 316) auslftsst
Boxberger und ich haben uns also unabhängrig von einander für die*
selbe Anordnung entschieden. Er hat auch erwogen, die Anordnung
der Prachtausgabe zu befolgen, und sagt, sein Versuch sei an der Un-
klarheit und Mangelhaftigkeit derselben gescheitert. Diese Gründe
bestreite ich, verstehe aber völlig, dass auf derselben als einer fest in
sich gegliederten Auswahl, kf^ine Gesammtausgabe sich aufbauen Hess.
Schönbach, Zur Volkslitteratnr. 173
die vom Dichter geschaffene Composition einfach ignoriren
wollten. So bequem für rein wissenschaftliche Zwecke die
von Qoedeke gewählte historische Constituirung des Textes
ist, den Forderungen des Forschers wie des Liebhabers
würde gleichmässig nur die Ausgabe gerecht werden, welche
die Crusiussche zweite Auflage zu Grunde legte und von
hier aus die Gestaltung des Textes rückwärts verfolgte.
In sich abgeschlossene Sammlungen, wie die ^Anthologie'
von 1782 und die ^Xenien' müssten natürlich daneben noch
besonders abgedruckt werden — das verlangt, von allen
anderen Gründen abgesehen, schon der Zweifel über die
Herkunft einzelner Gedichte — . ebenso müssten am Schluss
die — sehr wenigen — in der Crusiusschon Ausgabe noch
ausserdem fehlenden Gedichte nachgetragen werden.
Schulpforta. Gustav Kettner.
Zur Yolkslitteratur.
1.
In der Wiener Handschrift, welcher ich das 'Steirische
Scheltgedicht wider die Baiern' entnommen habe (Viertel-
Jahrschrift f. Litteraturgesch. 2, 321 ff.), findet sich eine
Fassung des Liedes von der Martinsgans, welche mit keiner
der mir bekannten übereinstimmt. Sie lautet:
[89^] Wie man von Sand Marien singt an seiner nacht und von
der ganss
(1) Hys denegans
Lat uns zw der ganss hast ain gute ganss. wo ist ain gute
fayste ganss Leugst nit. Leugst nit. Das ist gut Wo ist nun dy
ganss Sneyd uns auf dy ganss essen wir sy mit hohen frewden
Daz ist ain gute pratne ganss. pratne ganss. Gib uns auch zw
trinken auf dy praten ganss [90*] auf dy praten ganss | daz sy
uns den magen nit zereyss
(2) Atque nimis denegans
Kumbt her zw der ganss Ich hab ain fayste ganss In der Khuchel
auf dem hertt. Nayn ich Nayn ich. Hocher mut | [Hs. munt]
Wo ist nun dy ganss. Zwreyst und Nym sy pey dem Kragen.
Ful den pauch mit yerem guten magen gras daz rat ich dir Trink
1 74 Schönbach, Zur Volkslitteratur.
mit mir Malvasyer und Ray fei und welsch wein der ist also gut
pringt dir hohen mut Schenk ein lass umbher gan des gottes
nam trinken wir ann
(3) Salvatoris
Gutter wirt schenk ein pring her den pesten wein | alle gut ge-
sellen sullen frolich sein | lass wir uns heynt nyemant yeren. den
grossen kopff zw diser frist | drink wir auss an argen list | dar
zw wel wir essen ain gute pratne ganss. pratne ganss | und dy
gepraten pyeren [90*"] auf dy praten ganss auf dy praten ganss
dy ist also guet
(4) Presulem
Dem guten herren sand Mertein | wel wir alczeyt eren | daz er
uns lass frolich sein j und gib uns heyndt ain guten wein | Mal-
vasir und Rayfei | gut [ der macht frolich unsern mut | Und gib
uns auch herre an diser nacht | dy guten faysten praten. Und
dy genss dy wir haben gepracht von dem felde | also gut | Und
pehut uns von der helle glüt Amen
Berührungen freilich mit den bekannten hat auch dieses
Stück. So 1 mit Böhme, Altdeutsches Liederbuch Nr. 352. —
2 mit Böhme Nr. 353 = Uhland, Volkslieder Nr. 208 =
Wackernagel, Deutsches Lesebuch 2', 321 f. — 3 mit Böhme
Nr. 349. 350 == Altdeutsche Blätter 2, 314 f. — 4 mit Böhme
Nr. 348 = Altd. Blätter 2, 315. -^ Von den lateinischen
Überschriften kann ich nur die vierte mit Bekanntem in Ver-
bindung setzen, sie bezeichnet aller Wahrscheinlichkeit nach
die Zeilen, mit denen das verbreitetste Martinslied Böhme
Nr. 353 anhebt: Traesulem sanctissimum veneremur, gaude-
amu8\ Vgl. dazu Eehrein, Lateinische Sequenzen des
Mittelalters Nr. 649. 650 und des Herausgebers Zusammen-
stellungen über den Gebrauch von 'praesul' S. 617, woraus
besonders 672, 1. 750, 1. Zu den Schlussversen vgl. Eehrein
Nr. 649, 9: ^a morte animae tu nos libera'. Denn diese
lateinischen Worte des am Vorabende (Vigilie) des Martins-
tages gesungenen Liedes werden doch irgendwie mit der
Liturgie zusammenhängen, obgleich es mir unmöglich ge-
wesen ist, dies nachzuweisen.
Die Strophen sind ungleich, 1 und 2 stimmen in den
ersten acht Versen zu einander, ja sie respondiren inhalt-
lich Vers um Vers, so dass diese wohl im Wechsel (nicht
aber Strophe 1 nach Strophe 2) gesungen worden sind,
nach Vers 8 werden die Strophen ungleich. Am Schluss
Schönbach, Zur Volkslitteratur.' 175
von 2. ist wohl zu lesen: 4n des [ins?] gottes namen trinken
wir amen'. In 3 bilden 'yeren' (= irren) und 'pyeren' einen
ßeim, in 4 'nacht: gepracht', 'gut: glüt'. Die Gliederung
ist aber doch undeutlich, weil die Melodie fehlt.
2.
Eben dieselbe Wiener Handschrift enthält folgendes
Stück :
[211*] Ain lyed von der armuel
1 Armüet dw bist ein pöser püeb. Armöet dw pisl etc.
Dw zwingst mir dy meinen schüech.
^ In meiner köchl stets nit woll: Ich wayss nit wass
ich kochen soll.
3 Wan ich von ersten soll richten an: Wie paldt ich
zw der nachpeyrin gan.
4 Und das sy mir ein schussel leich: Und auch des
löffel nit verczeich.
6 Von meiner küchl hab ich khain twr: Dy armüet ist
chomen darfür.
[211^] 6 Ich hab ein phan dy hat chain still: Des anderen
hawssgeratt ist nit vill.
7 So hab ich ross noch rindt: Wie soll ich neren meine
kindt.
s Mein weih hat weder mantel noch rock: Und biet ich
geldt so chäuft ich irs doch.
9 Hiet ich drey haller das war geldt: Ich schlüeg dy
armüet aus dem veldt.
10 Hiet ich dy armüet yn ainem sack: Ich woldt sye
pfrengen jar und tag.
11 Piss das der sack czwrissen würdt: So khäm dy ar-
müet wider aüss.
[212*] 12 Der unss das liedt newss sang: Ein güetter gesell ist
ers genandt.
13 Er singt uns das und singt uns mer: Es gett von
ainer armüet her.
14 Er hat es auch gar woll gedacht: Der armüet hiet
maniger woll ratt.
Interessant ist, dass der Inhalt dieses Liedes zum Theil in
einen ^guten abenteurlichen spruch^ aufgenommen worden ist,
den Adelbert von Keller im dritten Bande seiner Fastnacht-
spiele (Bibliothek des Stuttgarter Litt. Vereins 30) S. 1349 ff.
aus einer Wolfenbüttler Handschrift des 15. Jahrhunderts
veröffentlicht hat. . Der Spruchdichter redet im Eingang
seines Werkchens von der Armuth als einem ^freulein auss-
176 Schönbach, Zur Volkslitteratur.
erweit', um das er sich beworben hat, im Liede ist die
Armuth ein 'püeb'. Im weiteren Verlaufe der Darstellung,
welche t06 Yerse umfasst, entsprechen folgende seiner Verse
den Strophen unseres Liedes: S. 1350 Z. 8 ff. ^ Armut, ich
kan dein nit vergessen, wann ich pin dir sicher nit holt, du
tregst doch von mir klein solt. ich wolt mich gern ver-
wegen dein, so wilt du allzeit bei mir sein' = Lied 10. 11. —
Z. 18 ff. 'Armut, mein klag ist gross, ich hab an zwen pos
schuch, ich han sicher weder hemd noch tuch' = Lied 1 . —
Z. 21 ff. 'Armut, was hab ich dir getan, mein frau muss an
ein mantel gan, sie hat weder scurz noch schlair' == Lied
8. — Z. 32 f. 'Armut hat ir gezelt auf geschlagen bei meinem
haus' = Lied 5. — Z. 35 ff. 'wenn ich mein kost sol richten
an, so muss ich zu meinem nechsten nachtpauren gan, das
er mir ein schussel leih und mich der loffel nit verzeih' =:
Lied 3. 4. — Z. 40 'mein haus ist an allen rat zwar' =»
Lied 6. — S. 1352 Z. 3 f. 'ob ich mocht entrinnen und
mein kinden ein gelt gewinnen' = Lied 7.
Gewiss ist das Verhältniss nicht umgekehrt und gewiss
hat nicht das Lied von dem Spruch geborgt. Abgesehen
davon, dass dies an und für sich unwahrscheinlich ist, lässt
sich die Unrichtigkeit einer solchen Vermuthung auch deut-
lich zeigen. Der Inhalt des Liedes ist in stetigem Fort-
schritt verknüpft: Schuhe, Küche, Hausrath, Stall, Kinder,
Frau, allen ist die Spur der Armuth aufgedrückt; mit drei
Hellem könnte sie vertrieben werden; sie in einen Sack
zu zwängen, hilft nicht, sie käme doch wieder heraus ; den
Schluss machen Auskünfte über den Sänger und das Lied. —
Die humoristische Haltung des Ganzen ist unverkennbar.
Sie fehlt dem Spruch gänzlich, der sich immer von neuem
in Klagen verliert und dann eine langweilige Geschichte
von einem 'golter' (Bettdecke) berichtet, der gepfändet
worden ist. An der Stelle, wo der Spruch vier Zeilen des
Liedes wörtlich aufnimmt, stehen diese unvermittelt da und
fügen sich in keinen Innern Zusammenhang. Zudem ist der
Text des Liedes bei der Übernahme in den Spruch ver-
derbt worden.
Damach ist w^ohl sicher, dass dieses Lied beliebt war
und bedeutend älter ist als die Aufzeichnung des Wiener
Mayerhofer, Faust beim Fürstbiachof von Bamberg. t77
Codex, es muss im 15. Jahrhundert entstanden sein. Aus
der wiederholten Bezeichnung ^Lied^ ergibt sich, dass man
es wirklich mit zweizeiligen Strophen zu thun hat und nicht
mit fortlaufenden Reimpaaren ; dazu stimmt ferner die Weise
der Aufzeichnungen in Absätzen (die Strophenziffem sind
von mir), endlich auch die Repetition im ersten Absatz,
welche auf die Melodie weist.
Zum Text bemerke ich noch: 1 'zwingen' ist ganz con-
cret: drücken, pressen. Lexer 2, 1602. vgl. 'twengen'1598. —
5 1. 'Vor'. — 10 'pfrengen' == zwängen, pressen, ist haupt-
sächlich mhd. Lexer 2, 263. Aber die Verbindung mit 'sack'
ist noch aus der Sprache des 1 6. Jahrhunderts mehrfach
belegt durch v. Lexer, DWB. 7, 1793. — 11 1. 'wider her
für'. — 14 Der Schlussreim muss wohl belassen werden.
Zu dem Ganzen vgl. noch Uhland, Volkslieder Nr. 277. 278.
279 und El. Schriften 4, 246 ff.
Graz. Anton E. Schönbach.
Faust 1t»eim Fflrstblsehof von Bamberg.
Den schönen Funden Szamatölski's und Ellingers, wo-
durch die Wirksamkeit des Dr. Faust historisch nachgewiesen
wird (Vierteljahrschrift f. Litteraturgeschichte 2,156ff. 314 ff.),
bin ich in der Lage, einen neuen anzureihen.
Bei Nachforschungen über den Eichstädter Bildhauer
Loyen Hering, welcher das Grabmal des Fürstbischofs
Georg Schenk von Limburg (gest. 31. Mai 1522) im Dome
zu Bamberg fertigte, stiess ich in der prächtigen Serie der
'Hofkammerrechnungen' des kgl. bair. Kreisarchivs Bam-
berg bei 'Hansen mullers Camermeysters Rechnung vom
Sontag nach purificacionis marie biss yff Sontag Remini-
scere Anno XX' unter dem Ausgabe -Titel 'Pro diuersis'
auf folgende Stelle:
'Item X gülden geben vnd geschenckt Doctor Faustus pho
[philosopho] zuuererung; hat m[cinem] g[nedigen] herren ein
natiuitet oder indicium gemacht; zalt am Sontag nach scolastice.
lussit Reverendissimus*.
Yierte^jahrschrift für Littentnigeschichte III 12
i 78 V. Weilen, Gerstenberg und J. G. Jacobi.
Wenn Ellinger, a. a. 0. 8. 318 bei Paust nur die 'Wahr-
scheinlichkeit eines grossen Eindruckes auch auf lebens-
erfahrene und gebildete Männer' annimmt, so ist durch
diese Stelle die Gewissheit des 'grossen Eindruckes' er-
bracht. Denn der Bamberger Fürstbischof Georg Schenk
von Limburg zählt zu den sehr gebildeten Fürsten seiner
Zeit und lässt sich trotzdem nur zwei Jahre vor seinem
Tode von Faust die Nativität stellen und ihm hierfür durch
seinen Kammermeister am 12. Februar 1520 eine ^Verehrung'
von 10 Gulden auszahlen. Da Georg Schenk von Limburg
mit Vorliebe auf Schloss Altenburg ob Bamberg weilte, wo
er auch starb, so dürfte es sehr wahrscheinlich sein, dass
die Consultation Fausts i. J. 1520 auf der schönen Burg
stattfand.
Speier. Johann Mayerhofer.
Gerstenberg und J. G. JacoM.
Ernst Martin theilt in seiner Schrift : Ungedruckte Briefe
von und an J. G. Jacobi (Quellen und Forschungen 2 S. 54)
ein Schreiben Jacobis an Gerstenberg mit. Bei Durch-
forschung des in der Münchener Bibliothek aufbewahrten
Gerstenbergschen Nachlasses stiess ich auf Concepte zweier
Briefe, der eine kurz nach Beginn der freundschaftlichen
Verbindung, der andere als Antwort auf Jacobis pathe-
tisch-weinerliche Elageepistel geschrieben.
Der AUerweltsfreund Gleim hatte die zwei Dichter zu
einander in Beziehungen gebracht. Am 28. December 1768
schreibt Gerstenberg an Gleim (Morgenblatt für gebildete
Stände 1817 Nr. 25) voll Bewunderung für Jacobi: 'Sagen
Sie ihm, dass ich unsern deutschen Gresset viel lieber lese,
als den Gresset der Franzosen. Er muss durchaus mein
Freund seyn. Aber nun, da er eine Pfründe hat, möge er
nie sein Rheinfass missbrauchen, sich zur Hallischen Kritik
zu begeistern! Sagen Sie ihm das, liebster Freund, und
halten Sie darüber. Ist es nicht ewig Schade, dass ein
so feiner, treiflicher Kopf in eine Brüderschaft hat gerathen
V. Weilen, Gerstenberg und J. G. Jacobi. \ 79
müssen, die bey dem besten Theile Deutschlands in so
üblem Kufe steht? Ich wünsche das nicht meiner Sicher-
heit wegen'. Vielleicht ist es auch Gerstenberg, der in
der Hamburger Neuen Zeitung (1768 Nr. 99) die Briefe
Gleims und Jacobis anzeigt: 'Unsere Sprache kann sich
noch keiner solchen Sammlung von gedruckten Briefen und
allerliebsten Gedichtchen rühmen. Herr Jacobi zeigt sich
als unsern Chaulieu und unsern Gresset. Und Gleim! Man
sollte sagen, es wären die Briefe der Musen an einander.
Der letzte sehr simpel, naiv und reizend, wie ein Grieche:
der andere ist reich an Erfindungen, lieblichen Bildern, die
er zum Theil den Lippertschen Gemmen abgesehen zu
haben scheint, weniger correkt, witzig und jugendlich'. Für
Gerstenberg scheint besonders das. Lob zu sprechen, das
der Recensent einer S. 315 der Briefe an J. G. Jacobi ab-
gedruckten Ode der Frau Earschin spendet (vgl. meine
Ausgabe der Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur,
Deutsche Litteraturdenkmale 29, 89 ff.). Jacobi muss Gersten-
berg schriftlich seine Freundschaft angetragen haben, denn
Gerstenberg erwidert in einem undatirten Briefe:
Mit dem grösten Vergnügen lese ich den Brief Ihrer zuvor-
kommenden Freundschaft, worinn Sie mir so viel Schmeichel-
haftes und Angenehmes sagen. Wenn man Liebe durch Liebe
verdienen kann, so dürfte ich freylich hoffen, Ihnen nicht ganz
gleichgültig zu seyn. Denn unser Gleim muss Ihnen erzählet
haben, wie lange ich Sie geliebt habe. Nur geradezu habe ich
es Ihnen nicht sagen mögen; man ist in solchen Fällen manch-
mal ein bischen schüchtern, weil Liebe doch nicht immer Liebe
verdient! Errathen Sie nun selbst, wie gross das Vergnügen ist,
das mir Ihr freundschaftlicher Brief gemacht hat.
Aber der Anlass des freundschaftlichen Briefes! sollte mich
der nicht demüthigen? Schon längst wollte Jacobi mich so er-
freut haben: itzt muss er. Muss? das ist traurig. Warum muss?
Weil er Feinde hat, die seinen Charakter verstellen. — Ich ver-
sichere Sie aufrichtig, dass ich nie das geringste zum Nachteil
Ihres Charakters weder gehört, noch gelesen habe; und wenn
ich auch zufälliger Weise von der Art gehört oder gelesen hätte,
dass ich niemals zum Nachteil des Charakters von irgend einem
Menschen, am wenigsten von solchen, die ich hochachte, leicht-
gläubig seyn kann. Zwar fehlt es auch hier nicht an Anekdoten-
trägern, die von den berühmten Poeten alte treue Herzens-
freunde sind, und von ihnen heimliche Geschichten viele
zu erzählen wissen: allein, wo ich einen solchen sehe, da fliehe
12*
\ 80 V. Weilen, Gerstenberg und J. G. Jacobi.
ich ihn, wie einen Vergifter; das einzige zu Ihrem Nachtheile,
was ich gelesen haben könnte, müssten Kritiken seyn: doch die
betreffen Ihren Charakter nicht, und dem Kunstrichter Jacobi
brauche ich nicht zu sagen, wie wenig Eindruck heutigen Tages
selbst eine gegründete Kritik macht, geschweige eine unbegrün-
dete. Jedermann, der sich öfTentlich zeigt, Schriftsteller oder
nicht, ist der Kritik ausgesetzt: niemand mehr als Ihr Gersten-
berg. Was schadets? Man lässt die Leute nach ihren Einsichten
urtheilen : oft ist es Triumphes genug, dass sie eben dadurch ihre
Mängel verrathen; und wo sie Recht haben, Dank sey Ihnen;
man ist nie zu alt, etwas zu lernen. Prenez votre parti sur moi,
sagt Rousseau vortrefiflich, car j^ai pris le mien sur vous.
Empfehlen Sie mich meinem unschätzbaren Gleim. Wenn Sie
ihn doch überreden könnten, uns diesen Sommer in Kopenhagen
zu besuchen! und vollends wenn Jacobi sich entschlösse, ihn zu
begleiten ! Einen angenehmeren Gedanken giebts auf der Welt nicht.
Ich bin mit ausnehmender Hochachtung Ihr G.
Je mehr sich Gerstenberg an Lessing anschloss, desto
entschiedener musste er sich von der spielenden Unnatur
Jacobis abwenden; dazu kam noch, dass man Jacobi all-
gemein für einen Partner von Klotz ansaht nach Martins
Versicherung mit Unrecht (S. 11), während Koch in seinem:
Helferich Peter Sturz S. 127 ihn als Träger der Chiflfre 'P'
in der Hallischen Bibliothek bezeichnet. Unter ihr er-
schienen bereits 1767 und 1768 die wüthenden Recensionen
gegen die Schleswigischen Briefe, über die ich in der Ein-
leitung meiner Ausgabe derselben auszugsweise berichtet
habe. Martin theilt a. a. 0. 8. 28 Anm. 27 einen Brief von
Gleim (datirt vom 11. April 1770) mit, der den Sach-
verhalt ebenfalls nicht klar stellt: 'In der Hallischen Ge-
lehrten Zeitung 25. Stück, las ich gestern die Recension von
meines Freundes Jacobi Schrift an die Einwohner der Stadt
Zelle. Jacobi, sagt der Recensent, schwatzt nicht in holp-
richten Hexametern und sagt in Gerstenbergischer schwer-
fälliger Prosa keinen Unsinn. Wie? Dachte ich, wenn
Gerstenberg in dieser Zeitung oder in der Bibliothek mehr
dergleichen Stellen wider sich gefunden hätte? Wie? wenn
er wüsste, dass mein Jacobi der Recensent seines Ugolino
wäre^)? wie? wenn er daraus die Folge machte, dass kein
*) In der Halliachen Bibliothek II St. 8 S. 600-621 sehr massvoll
besprochen, Chiffre *B\'
V. Weilen, Gerstenberg und J. G. Jacobi. Igl
anderei^ als mein Jacobi sein Criticus in den Zeitungen und in
der Bibliothek seyn könne? Sollte dann nicht einiger Grund
zur Muthmassung , dass Gerstenberg der Hamburgische
Recensent meines Jacobi wohl sein könnte, vorhanden seyn ?'
Gleim hatte richtig gesehen. Gerstenberg hatte wirklich
die 'Winterreise' und 'Abschied von Amor' in der Ham-
burger neuen Zeitung 1770 Nr. 35, 36 und 46 besprochen.
Leider ist mir nur ein kleines Fragment des Conceptes aus
dem Nachlasse zugänglich. Spöttelnd spricht er, ganz im
Gegensatze zu seiner früheren Äusserung, über die Liebes-
götter, die dem Dichter aus den Lippertschen Abdrücken
schaaren weise entgegenfliegen. ^Nun sieht er nichts als
scherzende, reitende, zitherschlagende . . . Amoretten, dass
dem standhaftesten Leser ein Grauen angeht, und er sich
selbst genöthigt sieht, den guten Amor, wiewohl nicht ohne
Unwillen, förmlich zu beurlauben.' Die 'zierlichen Galanterie-
briefe' werden jetzt durchgehechelt, die AfFectation und wider-
liche Lüsternheit scharf charakterisirt. Der gute Gleim ge-
räth in die fürchterlichste Aufregung. Noch will er zweifeln
(s. Martin a. a. 0.), es wäre zu schrecklich, wenn Gersten-
berg wirklich das ausgesprochen haben sollte. Jacobi
schreibt sofort an Gerstenberg, und da die Antwort aus-
bleibt, sendet er im Mai das von Martin publicirte offene
Schreiben, mit Beistimmung Gleims (Martin S. 29), der noch
immer Gerstenberg für 'unschuldig' halten möchte. Auch
gegen Klopstock macht er seinem Kummer Luft und sucht
ihn in die Affare zu verwickeln (s. Elamer-Schmidt, Klop-
stock und seine Freunde 2, 243 Brief vom 16. Juli 1770).
Vornehm abweisend erwidert Klopstock (ebda. 28. August
1 770 S. 248) : 'Und nun möcht ich eine Sache , wenigstens
heute lieber nicht berühren. Aber ich muss es doch thun,
weil ich Gerstenberg zu lieb habe und weil er meine
Freundschaft zu sehr verdient. Was hat Gerstenberg doch
gethan, dass er Jacobi gelobt und auch getadelt hat?' Mit
dem Bescheid kann sich Gleim natürlich nicht zufrieden
geben (ebda. S. 251).
Das zweite Schreiben Jacobis wurde von Gerstenberg
beantwortet. Man muss den Brief Jacobis daneben halten,
um Gerstenberg ganz zu verstehen. So sehr er in der
1 82 ▼. Weilen, Gerstenberg und J. G. Jacobi.
Sache selbst recht hat, wirkt doch die Form und die Ab-
lehnung der früheren freundschaftlichen Beziehungen ver-
letzend.
Die Kritik Ihrer Winterreise und des Abschiedes von Amor
ist von mir« Hätten Sie mich in Ihrem ersten Briefe darum ge-
fragt, so hätte ich Ihnen dasselbe geantwortet. Ich habe nichts
gesagt, was nicbt noch diese Stunde in aller Absicht meine wahre
Meynung ist; und ich sehe keine einzige Ursache, warum ich es
nicht sollte gesagt haben.
Dass ich Jacobi nach dem, was ich zuerst von ihm las, lieb
gewann, kann mich das verbinden, gegen seine späteren Schriften
parteyisch zu seyn? Soll ich weniger freymüthig von ihm urtheilen,
als von andern, die ich noch länger liebe? Was bekümmert sich
das Publicum um meine Privat -Achtung gegen den Scribenten?
Es will wissen, was ich von der Schrift halte.
Wo habe ich Ihren Charakter verläumdet? Wo habe ich
Ihrer Person gespottet? Wie dürfen Sie mir solche Vorwurfe
machen?
Es wäre Trost für Sie zu wissen, ob Gramer oder Klopstock
mir verziehen haben, weil alsdann Sie mir verzeihen könnten?
Mir verzeihen! Sie nehmen wahrhaftig einen sehr hohen Ton an.
Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, dass ich Ihrer Verzeihung
nicht bedürfe, und dass weder Klopstock noch Gramer sich je
haben einfallen lassen, meine Meynung von Ihrer Winterreise für
unverzeihlich oder auch nur der Verweisung bedürftig zu halten.
'Muss Gerstenberg mein Freund sein' — Ich bin Ihr Freund
nie gewesen und verlange es auch nicht zu werden: aber Ihre
Schriften tadeln, wenn sie tadelhaft sind, und wenn ich mich ver-
bindlich gemacht habe, öfTentlich zu urtheilen: das will ich, und
will es mit eben dem Rechte, womit Sie und Alle mich tadeln
können, die mich tadelhaft finden.
Ich sollte Ihren Bruder öfTentlich haben lächerlich machen
wollen? Wo? Wann? Wie? der ich Ihren Bruder weder von
Person, noch auf andere Weise kenne?
'Wenn ich den Menschen noch Tugend und Aufrichtigkeit
zutraue' — Ich will glauben, dass Sie Ihren Brief in einer un-
besonnenen Hitze geschrieben haben. Sie scheinen überhaupt für
die Kritik empfindlicher zu seyn, als ein Mann, der sich seiner
Fähigkeiten bewusst ist, seyn sollte. Wenn Ihnen das nicht zur
Entschuldigung diente, so wüsste ich kaum, welche Antwort auf
ein so ausserordentliches Wenn hart genug seyn könnte.
Kein Mensch hat mir je einen so seltsamen Brief geschrieben,
als Sie. Sie werfen Fragen auf, Sie zweifeln, Sie glauben, Sie
sagen mir Schmeicheleyen, Sie sagen mir Grobheiten — und alles
in einem Athcm — und alles in einem Tone, als ob es unmög-
lich wäre, wider Ihre Schrift etwas zu erinnern, ohne Sie zu
V. Weilen, Gerstenberg und J. 6. Jacobi. 1 83
hassen und ohne ein Bösewicht zu seyn.^) [Ich freue mich, dass
ich anders denke. Ich bezeugte Ihnen durch Gleim meine Hoch-
achtung zu einer Zeit, da ich gar wohl wusste, dass Sie einer
von meinen hällischen Gegnern wären; und ich tadelte Sie, ohne
Ansehen der Person, bloss als Autor, zu einer andern zeit, da
Sie meinen Ugolino (übergeschr.: mich) vortheilhafter beurtheilt
hatten, als man mich in der hällischen Bibliothek jemals beur-
theilt hatte. Die Wahrheit zu gestehen, alle Urtheile der hällischen
Kunstricbter sind mir zu gleichgiltig , als dass sie einen Einfluss
auf das haben könnten, was ich von ihnen urtheile. So haben
mich viele rechtschaffne Leute gefunden, und wenn Jacobi das
Gegentheil glaubt, so weis ich nun, wie ichs erklären soll.]
Ich versichere Sie, dass ich Sie als einen Mann mit vieler
Fähigkeit hochschätze; dass mir aber Ihre späteren Schriften bey
weitem so gut nicht gefallen, als Ihre früheren. Dass es viele
rechtschaffne Männer giebt, die von Ihnen ebenso urtheilen wie
ich: dass mir die Kritiken der hällischen Kunstrichter allzugleich-
giltig sind, als dass ich mich als Kritiker für eben nicht weniger
verbunden halte, dem Publico aufrichtig zu sagen, was mir an
Jacobis Schrift fehlerhaft erscheint, als ich Gleim aufrichtig ge-
sagt habe, dass ich Jacobis feines Genie liebe. Mit dieser Ge-
sinnung bin ich unwandelbar
Ihr
aufrichtigster und ergebenster
G.
Dass dieser Brief wirklich abgegangen, bezeugt die
Äusserung Gleims gegen Jacobi vom 16. Mai 1770 (Martin
8. 29) : 'Warum aber schickten sie von Gerstenbergs Briefe
mir nicht eine Abschrift?' Eine weitere Correspondenz
scheint unterblieben zu sein; wie die Klotzsche Partei die
ganze Streitfrage aufblähte und ausposaunte, habe ich in
meiner Einleitung zu den Schleswigschen Litteraturbriefen
zu zeigen gesucht. In späteren Jahren entstand ein reger
Briefwechsel mit P. H. Jacobi über Fragen der Kantischen
Philosophie. Dieser vermittelte auch Gerstenbergs Er-
nennung zum ordentlichen wirklichen Mitglied der bai-
rischen Akademie der Wissenschaften (1808) und suchte ihn
nach München zu ziehen.
Wien. Alexander von Weilen.
*) Von hier an bis zum Schlüsse des Absatzes im Concept durch-
strichen.
1 84 Roetteken, Goethes *Amine' und *Laune des Verliebten*.
Goethes ^Amlne' und ^Laune des Verliebten'.
Geiger in den Anmerkungen zu Goethes Briefen an
seine Schwester und an Behrisch (Goethe- Jahrbuch 7, 149)
meint, die *Laune des Verliebten' sei die Bearbeitung eines
in Frankfurt entstandenen Schäferspiels ^Amine' ; das ältere
Stück kritisire Goethes Schwester am 26. Juni; diese Kritik
habe mit Goethes eigenen Ansichten übereingestimmt und
er habe wegen des hervorgehobenen Fehlers, der zu grossen
Zärtlichkeit der Heldin, die Umarbeitung vorgenommen.
Ähnlich sagt Minor (Zeitschrift f. allgem. Geschichte 3, 656),
aus dem Frankfurter Schäferspiel ^Amine' sei in Leipzig
die 'Laune' geworden.
Fasst man die 'Laune' als eine wenn auch durchgreifende
Bearbeitung eines schon in Frankfurt concipirten Stückes
auf, so müssen jedenfalls die Grundlinien der Handlung
schon vor der Leipziger Zeit festgestanden haben, muss
Goethe das Chacakterproblem, die Bekehrung eines Eifer-
süchtigen, schon damals erfasst haben. Dann können wir
die Entstehung des Stückes nicht mehr auf Goethes Yer-
hältniss zu Käthchen zurückführen, wie es bisher in Über-
einstimmung mit Goethes eigenem Zeugniss in Dichtung
und Wahrheit geschehen ist; höchstens für die Ausarbeitung
des Details könnte dann das Yerhältniss die Farben her-
gegeben haben. Allein ich glaube nicht, dass der Wortlaut
der Briefstellen eine solche Auffassung nöthig macht.
Eine 'Amine' war allerdings in Frankfurt vorhanden,
das geht klar hervor aus der Briefstelle (Goethes Werke
Weim. Ausg. IV 1, 114): 'Die Amine, und die Höllenfahrt,
sind zurückgeblieben'. Aber von dieser 'Amine' wissen wir
weiter nichts, als dass 'gar nichts dran ist', die kleine
Kunkel sie nicht lesen und Brevillier sie nicht spielen soll
(ebenda S. 96), und dass Goethe sie gerne verbrannt wissen
möchte (S. 114).
Von dem Stück, das Cornelia kritisirte, müssen wir
freilich annehmen, dass es der ^Laune' sehr ähnlich ge-
Roetteken, Goethes * Amine' und 'Laune des Verliebten'. 185
wesen ist; aber dieses Stück ist nicht die in Frankfurt zu-
rückgebliebene ^Amine', sondern das unvollendete Schäfer-
spiel, das Goethe seiner Schwester am 15. Mai 1767 ge-
schickt hat. Der betreffende Abschnitt in dem Briefe vom
12. October beginnt: 'Nun von meinen bis her verfertigten
Dingen. Das Schäferspiel scheint dich zu interessiren' u.s.w.
Bisher verfertigte Dinge sind offenbar in letzter Zeit ver-
fertigte Dinge ; denn nachdem Goethe über das Schäferspiel
gesprochen hat, fahrt er (S. 113) fort: 'Sonst habe ich aber
gar nichts dieses halbe Jahr gemacht'. — Nach 'inter-
essiren' folgt: 'es freut mich sehr, dass es sowohl dir als
meinen Critickern gefallen hat, ob ihr gleich alle die darinn
überfliessende Fehler bemerckt habt. In dem Briefe vom
26 Juni schreibst du deine Meinung darüber die deiner
Empfindung viel Ehre macht'. Wie unwahrscheinlich diese
ganze Eritisirerei nicht nur durch Cornelia, sondern auch
durch andere Kritiker, wenn es sich um ein altes in Frank-
fort gebliebenes Stück handelt, wie naheliegend, wenn sie
sich auf das neue, unvollendete Schäferspiel bezieht! —
Endlich heisst es: 'Das Lob das du mir giebst, hält, ohne
dass du es wüstest, die Critick von dem Hauptfehler des
Stücks das ich dir damals sandte'. Goethe also findet
die Kritik auf das unvollendete Schäferspiel passend, nicht
auf die Frankfurter 'Amine'. Nur die Worte 'ohne dass du
es wüstest' machen eine momentane Schwierigkeit: man
könnte sie so erklären, dass Cornelia zwar über das alte
Stück gesprochen, damit aber auch ohne es zu wissen, den
Hauptfehler des neuen getroffen hätte. Aber diese Er-
klärung ist nach dem Vorherigen nicht nur höchst gezwungen,
sondern sie wäre überhaupt nur möglich, wenn man an-
nehmen wollte, Cornelia habe bei Abfassung ihrer Kritik
am 26. Juni das am 15. Mai übersandte Stück noch nicht
gekannt. Ich fasse also die Worte so auf, dass Cornelia
zwar den Fehler richtig eingesehen, dabei aber nicht be-
merkt hat, dass es der Hauptfehler ist. Ihre Worte 'et en
Yerit6 mon frere du la fais trop tendre' machen ja auch
den Eindruck einer gelegentlichen Bemerkung.
Aus diesen Worten und der damit in Verbindung
stehenden Erwähnung Egles durch Goethe (S. 113) gewin-
186 Behaghel, Zu Heinse.
nen wir also keine Andeutungen über den Inhalt der Frank-
furter 'An)ine\ Dass nun diese ^Amine^ mit dem unvoll-
endeten Schäferspiel vom 15. Mai nichts gemein gehabt
haben kann als den Namen der Heldin und die poetische
Gattung, scheint mir klar hervorzugehen aus den Worten:
'Gruse die kleine Runckel, und sage ihr, sie sollte ja meine
Amine nicht lesen, wie ich nicht wollte, dass Brevillier sie
hätte, und spielte, weil gar nichts dran ist. Apropos, ich
will dir hier ein unvollendetes Schäferspiel schicken, das
lesst' (S. 96). Wäre das Schäferspiel wirklich nur eine Um-
arbeitung der Frankfurter 'Amine', so würde man hier, wo
das alte Stück eben genannt ist, dringend irgend eine An-
deutung dieses Verhältnisses, sei es durch einen Zwischen-
gedanken, sei es auch durch eine blosse Bezeichnung, er-
warten; es ist ganz unmöglich, dass Goethe eine Umarbei-
tung so nach einem Apropos mit der ganz allgemeinen
Bezeichnung 'ein unvollendetes Schäferspiel' sollte einge-
führt haben. So konnte er nur schreiben, wenn das neue
Stück mit dem alten gar nichts zu thun hatte.
Goethe hat also im Februar 1 767 ein vollkommen selb-
ständiges Schäferspiel auf Grund seiner eigenen Erlebnisse
entworfen, für dessen Heldin er zußLllig den Namen aus
einem anderen älteren Stück nahm. Von dem Schäferspiel
schickt er am 15. Mai eine Skizze oder ein Bruchstück an
seine Schwester; darin ist Amine zu zärtlich; Goethe sieht
den Fehler ein, arbeitet das Geschriebene wieder um und
schreibt weiter, bis er endlich am 26. April 1768 das Ganze
mit Ausnahme der siebenten Scene an Behrisoh schicken
kann.
Würzburg. Hubert Roetteken.
Zu Heinse.
i.
Eoberstein (4^, 155 Anm. 3) hat darauf hingewiesen,
dass die Erzählung 'Schäferstunde\ die Laube in seine Ge-
sammtausgabe von Heinses Werken aufgenommen hat (10,
57), nicht Heinse zugehört, sondern von Rost herrührt. Sie
Behaghel, Zu Heinse. 187
steht in dessen ^Schäfererzählungen' 8. 43, von deren ur-
sprünglicher Passung ich Ausgaben von 1742 und 1744
kenne (die letztere verzeichnet Goedeke unter einem falschen
Titel). Es ist aber Koberstein entgangen und ebenso
Schober (Heinse, Leipzig 1882), dass auch ^Die eilfertige
Schäferin\ die bei Laube der ^Schäferstunde' unmittelbar
vorangeht, nicht von Heinse, sondern gleichfalls von Rost
stammt (Schäfererzählungen S. 6).
Wie kam nun Laube dazu, von Rosts Schäfergedichten
gerade nur diese zwei seinem Helden beizulegen? offenbar
auf Grund des gleichen Irrthums, der auch Schober (S. 73
Anm.) begegnet ist. Wie bekannt, hat Heinse heraus-
gegeben: Erzählungen für junge Damen und Dichter, in
zwei Bänden, Lemgo 1775. Darin stehen Dichtungen von
Wieland, Hagedorn, Lessing, Löwen, Licht wer, Kästner,
Gleim, Rost, Geliert, Pfeffel, der Earschin, Jacobi, Gersten*
borg. Ein Gedicht ist mit ^Ungenannt' unterzeichnet, einige
tragen gar keine Unterschrift ; wie weit diese etwa Heinses
Eigenthum sind, lasse ich dahingestellt. Wo Goedeke im
Grundriss die von Heinse herausgegebene Sammlung vor-
zeichnet, nennt er die vorhin aufgezählten Verfasser , mit
Ausnahme von Lessing, Löwen, Pfeffel. Schober, der
augenscheinlich die ^Erzählungen' nicht selber in der Hand
gehabt, schreibt (S. 73 u.) Goedekes Liste einfach ab;
nur ersetzt er den Namen Rosts durch den von Heinse
selber. Die gleiche Vertauschung hat nun Laube vor-
genommen, indfem er sich daran erinnerte, dass Heinse eine
Zeit lang unter dem Namen Rost lebte (Laube, Einleitung
S. XXXII). Und so sind denn gerade die beiden Er-
zählungen Rosts, die Heinse in seine Sammlung aufgenom*
men, in Laubes Ausgabe der Heinseschen Schriften über-
gegangen. Laubes Irrthum ist um so befremdlicher, als
Heinse an Rosts 'Schäferstunde' folgende Bemerkungen
anschliesst: 4n den wenigen Erzählungen, die wir von ihm
(Rost) haben, übertrifft er bisweilen den la Fontaine an
Naivetät; nichts desto weniger aber werden Viele mit mir
wünschen, dass er etwas anderes beschrieben haben mögte,
als das, was Jedermann weiss. Seine Doris und sein Amynt
sind ein paar gewöhnliche Menschenkinder'.
188 Behaghel, Za Heinse.
Der Text Rosts, den Heinse bietet, stimmt in einzelnen
Punkten nicht mit dem überein, den die Sehäfererzählungen
von 1742 und 1744 enthalten. Die Abweichungen sind
aber nicht etwa auf Heinses Rechnung zu setzen. Rost
hat später seine Schäfererzählungen im Verein mit einer
Anzahl anderer Gedichte herausgegeben als ^Versuch von
Schäfer -Gedichten und andern poetischen Ausarbeitungen'.
Die älteste Ausgabe mit diesem Titel, die ich kenne und
die Goedeke verzeichnet, ist vom Jahr 1748; ausserdem
kenne ich Ausgaben von 1751 (fehlt bei Goedeke), 1756,
1760 (fehlt bei G.), 1768, 1778 (fehlt bei G.); dafür ver-
zeichnet Goedeke noch eine solche von 1 764. Dieser 'Ver-
such' hat nun auch im Texte der Schäfererzählungen manches
geändert, und Heinse stimmt in den meisten Stellen mit
der Ausgabe von 1748 (von der, so viel ich aus meinen
N^otizen entnehmen kann , die folgenden genaue Wieder-
holungen sind) überein, gegen den Text von 1742 und 1744.
In V. 82 der 'Eilfertigen Schäferin' allerdings hat Heinse
'fodert' mit 1744 gegen 'fordert' 1748, und V. 85 'nicht' mit
1 744 gegen 'nie' 1 748. Dies können aber von Heinse selber
verschuldete Ungenauigkeiten der "Wiedergabe sein, wie er
auch z. B. V. 44 'hernach vergiss' gegen 'vergiss hernach'
in 1744 und 1748, und V. 93 'vieles' gegen 'allzuvielcs' der
beiden Rostschen Texte bietet.
2.
Das im Vorstehenden besprochene Versehen Laubes
erweckte in mir Bedenken gegen die Zuverlässigkeit seiner
Ausgabe überhaupt, und ich prüfte daher seine Wieder-
gabe von Heinses Ardinghello nach. Während Heinses
Lebzeiten sind zwei Ausgaben desselben erschienen, die
eine 1 787, die andere 1 794. Schober verzeichnet (a. a. O.
S. 101) zwei Abweichungen der zweiten Auflage gegenüber
der ersten und fügt hinzu: 'weitere Veränderungen gibt
es nicht'. Das ist nicht zutreffend. Heinse hat in der
zweiten Auflage nicht nur die zahlreichen Druckfehler der
ersten Ausgabe verbessert; er hat auch an den Sprach-
formen öfters geändert und sonst — ausser dem von Schober
Angeführten — mancherlei Umgestaltungen eintreten lassen.
Bt'hiighel, Zu Jleinse.
189
Es zeigt sich hier, wie schon bei Betrachtung der ersten
Ausgabe, dass Heinse grosse Sorgfalt auf die äussere Eorm
seines Werkes verwendet hat. Daher der hohe Wohlklang
in der rhythmischen Gliederung seiner Rede; den Hiatus
hat er nach Kräften vermieden. Im Folgenden vergleiche
ich S. 3—60 der ersten Ausgabe mit dem entsprechenden
Theile der zweiten.^)
1. Auflage.
Seite
11 Blüthe, und
um Mund
12 kennet
U geht
U Titian
15 dan
16 ferne
18 freuete
18 •von neuen
19 Cyperwein
19 seltener
20 Insul
22 Herren
24 Herren
27 vollkom-
mene
28 streift
30 scheinet
30 seinem
[falsch]
30 Wahrheit
32 wäre es
33 drey Jahre
40 vor dem Ort
43 hinführe
2. Auflage.
Seite
0 Blüthe, um
Mund
2 kennt
3 geht man
3 dem Tizian
3 denn
4 fern
6 freute
6 vom neuen
7 Cypernwein
9 seitner
8 Insel
9 Herrn
21 Herrn
23 vollkommne
24 streicht
25 scheint
25 seinen
26 Wahrheit
des Aus-
drucks
27 war es
28 drey Jahr
33 von dem
Orte
35 forthin
1. Auflage.
Seite
43 hat er
44 walzen
50 angefange-
nen
50 Ardinghel-
Ion
51 aufgemaurt
55
55 unendliche
Wohnung
55 wann [Con-
junction
55 die Säulen-
gänge behiel-
ten die Schön-
heit mensch-
licher Propor-
zion; welche
verschwindet,
wenn sie ins
Ungeheure
getrieben
werden
56 Manne
[Dativ
59 die schön
bewachsene
2. Auflage.
Seite
36 hab er
36 wälzen
41 angefangnen
41 Ardinghello
43 aufgemauert
45 Grösserer
Zusatz
45 Wohnung
45 wenn
45 die Säulen
richteten
sich nach
der Propor-
zion
46 Mann
48 die schön
bewachsnen
*) Das Exemplar der Göttinger Bibliothek, das ich för die
zweite Auflage benütze, entbehrt des ursprünglichen Titelblattes; ich
muss also der handschriftlichen Bemerkung des Vorsetzblattes ver-
trauen, dass wir es wirklich hier mit der zweiten Auflage zu thun
haben. Die Beschaffenheit des Textes ist durchaus im Einklang mit
dieser Angabe. — Das an der Stelle des echten vorgesetzte Titelblatt
gehört zu einer Schrift Kretschmanns, die Goedeke im Grundriss nicht
190
Behaghelf Zu Heinse.
Laube hat nun zweifellos nicht die erste Auflage für
seinen Text zu Grunde gelegt; nur S. 17 bietet er auf-
fallender Weise 'streift' mit der ersten Auflage gegen 'streicht'
in der zweiten. Ob er nun einen spätem Druck als die
zweite Auflage oder etwa einen Nachdruck benützt hat,
kann ich nicht untersuchen. Hat er, wie es den Anschein
hat und wie es allein richtig war, die zweite Auflage ab-
gedruckt, so ist die Wiedergabe von Heinses Text als eine
sehr leichtfertige zu bezeichnen. Ich gebe im folgenden
die Abweichungen, w^elche zwischen Heinses Text letzter
Hand S. 3 — 31 und Laubes Text S. 3—23 bestehen, ohne
dabei die Verschiedenheiten der Orthographie und der Inter-
punction zu berücksichtigen. Das Vorwort zur zweiten
Auflage geht bei Heinse dem zur ersten voraus und trägt
keine Überschrift; bei Laube folgt es nach und ist be-
titelt: Vorbericht zur zweiten Auflage. Im Übrigen ^r-
zeichne ich Folgendes:
Heinse,
2. Auflage.
Seite 1
3 ahnden
4 ausgemerzt
5 liefre
5 solches
6 Geschrieben
im December
1785
9 brannten . .
los
10 aus der
Mundart
10 darinnen
11 Lande; wo-
durch
12 zum Exem-
pel
12 herrliche
lebendige
12 nackende
verzeichnet: Litterarischer Briefwechsel an eine Freundin. Claudian.
Von Karl Friedrich Rretschmann. Erster Theil. Mit einem Titel-
knpfer. Zittau und Leipzig, bei Johann David Schöps, 1797.
Laube.
Heinse,
Laube.
Bite
3 ahnen
2. Auflage.
Seite
13 Zimabue
Seite
8 Gimabue
3 entfernt
13 keinen
8
durchaus
2 liefere
keinen
1 dies
13 denn
8
dann
2 [fehlt
15 vollkomm-
10
vollkomme-
nes
nes
16 schlimme
11
schlimmen
5 feuerten . .
16 bezeugte
11
bezeigte
ab
16 vom neuen
11
von neuem
6 an der
Mundart
16 verfügt ich
11
entgegnete
ich
6 darin
6 Lande, und
16 glaub ich
17 erwiedert
11
12
glaube ich
erwiederte
wodurch
ich
ich
7 zum Bei-
spiel
17 etwannige
18 Gilicien
12
12
etwaige
Gicilien
7 herrliche
18 Famaugusta
18 auf Vorbe-
12 Famagusta
12 nachVorbe-
8 nackte
deutungen
deutungen
£. Sebmidtf Kleists 'heilige Cäcilie\
191
Heinse,
Laube.
Heinse,
Laube.
2. Auflage.
2, Auflage.
"
Soite
Seite
Seite
Seite
18 war Auf-
13 war in Auf-
26 Porträte
19 Porlräts
ruhr
ruhr
27 einzeln
20 einzig
19 Herrn
13 Herren
28 sagt ich
21 sagte ich
21 platterdings
15 durchaus
28 war ihr
21 wäre ihr
21 Herrn
15 Herren
28 hab ich
21 habe ich
21 noth wendig
15 nothwen-
29 hangende
22 hängende
diges
29 schlum-
22 ich schlum
22 Anm. diesen
16 diese . .
merte
merte
. . Ausfällen
Ausfälle
29 nachfolgte
22 nachgab
23 Anm. was
16 was es
30 geh in
23 gehe in
sie
30 edel
23 edles
23 versetzt ich
16 Versetzteich
30 wohinein
23 in das
24 hätt ein
17 hätte ein
31 möcht es
23 möchte es
24 streicht
17 streift
31 eigen
23 eignes
24' Tags
18 Tages
31 mach ich
23 mache, ich
26 nicht mög-
19 fast nicht
lich schier
möglich
Vielleicht lässt durch die Wahrnehmung, wie unzuver-
lässig Laubes Text, Seuffert sich bestimmen, den Ardinghello
unter seine Neudrucke aufzunehmen.
Giessen.
Otto Behaghel.
Kleists 'heilige Cäeilie' in urspriingliclier
Gestalt.
Die von mir seit Jahren geplante kritische Ausgabe
der Werke Heinrichs von Kleist wird auch nach Muncker-
Yollmer, Grisebach (dessen Anmerkungen bei Reclam grössere
Beachtung verdienen) und Zolling nicht überflüssig er-
scheinen; und wie sehr es noch an einer methodischen
Ausbeutung der Berliner Abendblätter fehlt, davon hat mich
schon die rasche Lektüre eines unvollständigen Exemplars
wiederum überzeugt. Noch immer wird mit Eöpke fremdes
Gut aufgerafft und ohne Fragezeichen in Kleists Schriften
abgelagert, statt mindestens einer Abtheilung ^Zweifelhaftes'
zugewiesen oder, was in einigen Fällen dem Prüfer des
Inhalts, des Stils, der Chiifern unschwer gelingen müsste,
192 E. Schmidt, KleiHts 'heilige Cacilie\
auf Arnims Rechnung gesetzt zu werden. Nicht einmal,
was die Unterschrift hk. trägt, ist vollständig verzeichnet
oder abgedruckt. Aber die ^Empfindungen vor Friedrichs
Seelandschaft' (12. Bl, 13. October 1810, S. 47 f.), die Kleist
umgearbeitet hat, erscheinen zwar mit seiner eigenen Er-
klärung über die Autorschaft Brentanos (und Arnims), doch
ohne den unentbehrlichen Hinweis auf Brentanos Gesammelte
Schriften 4, 424 ff. Kein Herausgeber sagt, welche Nummern
er selbst vor Augen gehabt hat und worin er nur dem Ge-
währsmann Eöpke folgt. Den empfindlichsten Mangel will
ich hier erledigen. Zolling 4, 193 äussert über die Er-
zählung ^Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik'
nur, sie sei in den Abendblättern vom 15. November 1810
erschienen mit dem Zusatz 'Zum Taufangebinde für Cäcilie
M . . . .', gezeichnet yz (vgl. 4, XV) , und weckt in dem
Leser die irrige Vorstellung, dieser erste Druck stimme mit
der Wiederholung im zweiten Theil der 'Erzählungen' t811
völlig überein, weil er keine einzige Variante bucht und
nirgends das Geständniss ablegt, dass er beide Drucke mit
keinem Auge verglichen hat. Denn gleich die Angabe des
Fundortes täuscht, da nur der erste Theil der Novelle am
15. November herauskam, der zweite (Zolling 195, 17 — 196, 7)
am 16., der Schluss am 17., also sich der Abdruck durch
Bl. 40—42, 8. 155 — 164, mit Unterbrechungen hindurchzieht.
Abgesehen von der Interpunction und Orthographie ist
aber Folgendes einem kritischen Apparat einzuordnen:
193, 3 sechjsehnten] sechszehnten, 9. 10 toeü — köfmen] toeü
sie hofften, dass das Geschäft baM abgenutcht sein würde. 23
da fehlt. 24 Aexten %md fehlt. 25 frohlockend] jvhdnd. 29
andern] anderen. 30 in — da] als. 31 heim — Tages], in
der Stunde der Mittemacht,. 32 w — das] die Ober dem. 33
zu — Malen fehlt.
194, 1 sich] ihn. 2 eine — aus] um eine Wache. 3. 4 ob —
Lehre] der neuen Lehre, unter der Hand,. 4. 5 stcuxtsUugen
Vorgeben] Vorwand. 5 auch fehlt. 10 siebenzig] siebzig. 15 Ver-
stand] Verstände (Hiat). 26 möchte] sollte. 27 mehrmals] oft-
mals I besondem] besonderen. 33 daniederliege] damiederliege \
dass fehlt. 35 welchem] welchen was natürlich kein Druck-
fehler.
E. Schmidt, Kleists 'heilige Cäcilie\ 193
195, 8 Aber die] Die. 9 des höchsten fehlt. 13 weil —
schlug fehlt. 14 unter — Beben] zitternd. 15 gleichviel — sei]
das häufig in der Kirche vorgetragen wurde, obschon es von
minderem Werth war, 18 — 20 ;die — gestimmt fehlt. 21 ein]
obschon ein was vorzuziehen. 21—23 von — Arm] erschien,
und den Vorschlag/ machte, ungesäumt noch das alte, oben er-
wähnte, italiänische Musikwerk, auf welches die Aebtissinn so
dringend bestanden hatte, aufzuführen. 24 ivo — und fehlt.
25. 26 gleichviel — gleichviel!] dass keine Zeit sei, zu schwatzen;.
26 bei sich] unter dem Arm. 28 vortrefflichen] treßichen.
30. 31 sie — Pulte; fehlt. (32 ist bei Zolling une vor auf
ausgefallen.) 33 das Oratorium] die Messe. 34 atisgeführt]
aufgeführt. 35 kein Odem vor während.
196, 2. 3 Bevölkerung — Kirche] Kirche, von mehr denn
dreitausend Menschen erfüllt, gänzlich. 4 und — Anhang fehlt.
5 an den] am.
Worauf CS aber eigentlich ankommt: die letzten drei
Viertel 196, 8—205, 5 treten in den 'Erzählungen' von
1811 als neue Dichtung hervor, inhaltlich und stilistisch
ganz abweichend von der knappen Fassung in den Abend-
blättern , welche die nachforschende Mutter noch gar nicht
kennen, für die Figur des wackern Tuchhändlers nur das
flüchtigste Motiv geben, weder die Kirchenscene noch den
langen Wahnsinn breit ausmalen und statt des grossen Auf-
tritts im Kloster nur sparsamen Bericht über das Cäcilien-
wunder erstatten, uns auch weder mit einer Bekehrung der
Frau, noch einer heitern Erlösung der Wahnsinnigen ent-
lassen. Man vergleiche im einzelnen, wie Kleist auch in
dieser Periode sinkender Kraft alles ausgemünzt hat, manch-
mal bis zu ungeheuerlichen Hyperbeln: so entbehrte erst
der grässliche Gesang doch eines musikalischen Wohlklangs
nicht — nun wird an Leoparden und Löwen erinnert, wie
sie im eisigen Winter das Firmament anbrüllen. Die Ein-
leitung blieb kurz und sachlich, aber die Nachgeschichte
aus der Nachtseite der Menschenseele und der mystischen
Wunderwelt schwoll, erst im Stil des Eingangs vorläufig
erledigt, in Kleists Phantasie zu der unheimlichen Fülle
an, die, seit jene Abendblätter verschollen sind, wir bisher
allein gekannt haben.
Vierte^ahnchxift fUr Litteratorgeschichte UI 13
j^94 E. Schmidt, Kleist» ^heilige Cäcilie*.
Der ursprungliche 'Beechluss' lautet (42. BL, 17. November
1810, S. 163 f.):
Aber der Triumph der Religion war, wie sich nach einigen
Tagen ergab, noch weit grösser. Denn der Gaslwirth, bei dem
diese vier Brüder wohnten, verfügte sich, ihrer sonderbaren und
auffallenden Aufführung wegen, auf das Rathhaus, und zeigte der
Obrigkeit an, dass dieselben, dem Anschein nach, abwesenden
oder gestörten Geistes sein müssten. Die jungen Leute, sprach
er, wären nach Beendigung des Frohnleichnamsfestes , still und
niedergeschlagen, in ihre Wohnung zurückgekehrt, hätten sich, in
ihre dunkle Mäntel gehüllt, um einen Tisch niedergelassen, nichts
als Brod und Wasser zur Nahrung verlangt, und gegen die
Mitternachtsstunde, da sich schon Alles zur Ruhe gelegt, mit einer
schauerlichen und grausenhaften Stimme, das gloria in excelsis
intonirt. Da er, der Gastwirth, mit Licht hinaufgekommen, um
zu sehen, was diese ungewohnte Musik veranlasse, habe er sie
noch singend alle vier aufrecht um den Tisch vorgefunden: wo-
rauf sie, mit dem Glockenschlag Eins, geschwiegen, sich, ohne
ein Wort zu sagen, auf die Bretter des Fussbodens niedergelegt,
einige Stunden geschlafen, und mit der Sonne schon wieder er-
hoben hätten, um dasselbe öde und traurige Klosterleben, bei
Wasser und Brod, anzufangen. Fünf Mitternächte hindurch,
sprach der Wirth, hätte er sie nun schon, mit einer Stimme, dass
die Fenster des Hauses erklirrten, das gloria in excelsis absingen
gehört; ausser diesem Gesang, nicht ohne musikalischen Wohl-
klang, aber durch sein Geschrei grässlich, käme kein Laut über
ihre Lippen: dergestalt, dass er die Obrigkeit bitten müsse, ihm
diese Leute, in welchen ohne Zweifel der böse Geist walten
müsse , aus dem Hause zu schaffen. — Der Arzt, der von dem
Magistrat in Folge dieses Berichts befehligt ward, den Zustand
der gedachten jungen Leute zu untersuchen, und der denselben
ganz so fand, wie ihn der Wirth beschrieben hatte, konnte
schlechterdings, aller Forschungen ungeachtet, nicht erfahren, was
ih-[164]nen in der Kirche, wohin sie noch ganz mit gesunden
und rüstigen Sinnen gekommen waren, zugestossen war. Man
zog einige Bürger der Stadt, die während der Messe, in ihrer
Nähe gewesen waren, vor Gericht; allein diese sagten aus, dass
sie, zu Anfang derselben, zwar einige, den Gottesdienst störende,
Possen gelrieben hätten: nachher aber, beim Beginnen der Musik,
ganz still geworden, andächtig. Einer nach dem Andern, aufs
Knie gesunken wären, und, nach dem Beispiel der übrigen Ge-
meinde, zu Gott gebetet hätten. Bald darauf starb Schwester
Antonia, die Kapellraeisterinn , an den Folgen des Nerven fiebers,
au dem sie, wie schon oben erwähnt worden, daniederlag: und
als der Arzt sich, auf Befehl des Prälaten der Stadt, ins Kloster
verfügte, um die Partitur des, am Morgen jenes denkwürdigen
Leitzmann, Zur EDtsfcehungsgeschichte des ^Julius von Tarent\ 195
Tages aufgeführten Musikwerks zu übersehen, versicherte die
Äbtisinn demselben, indem sie ihm die Partitur, unter sonderbar
innerlichen Bewegungen übergab, dass schlechterdings niemand
wisse, wer eigentlich, an der Orgel, die Messe dirigirt habe.
Durch ein Zeugniss, das vor wenig Tagen, in Gegenwart des
Schlossvoigts und mehrerer andern Männer abgelegt worden, sei
erwiesen, dass die Vollendete in der Stunde, da die Musik auf-
geführt worden, ihrer Glieder gänzlich unmächtig, im Winkel
ihrer Klosterzelle danieder gelegen habe; eine Klosterschwesler,
die ihr als leibliche Verwandtin zur Pflege ihres Körpers bei-
geordnet gewesen, sei während des ganzen Vormittags, da das
Frohnleichnamsfest gefeiert worden , nicht von ihrer Seite ge-
wichen. — Demnach sprach der Erzbischof von Trier, an welchen
dieser sonderbare Vorfall berichtet ward, zuerst das Wort aus, mit
welchem die Äbtisinn, aus mancherlei Gründen, nicht laut zu
werden wagte: nämlich, dass die heilige Cäcilia selbst dieses, zu
gleicher Zeit schreckliche und herrliche, Wunder vollbracht habe.
Der Pabst, mehrere Jahre darauf, bestätigte es; und noch am
Schluss des dreissigjährigen Krieges, wo das Kloster, wie oben
bemerkt, säcularisirt ward, soll, sagt die Legende, der Tag, an
welchem die heilige Cäcilia dasselbe, durch die geheimnissvolle
Gewalt der Musik rettete, gefeiert, und ruhig und prächtig das
gloria in excelsis darin abgesungen worden sein.
Berlin. Erich Schmidt.
Zur Entstehungsgeschichte des
^Julius von Tarenf.
Von dem vielen Interessanten, das uns Werners jüngst
erschienene Ausgabe des 'Julius von Tarent' nach des
Dichters Originalmanuscript (in den Deutschen Litteratur-
denkmalen 32) bietet, ist sicher das interessanteste die den
einzelnen Scenen beigescbriebene Datirung. Im allgemeinen
vergleiche man darüber Werner S. XII flF. ; ich glaube mit
ihm (S. XYII), dass diese Daten mit wenigen Ausnahmen
sich auf die erste Entstehung und nicht auf eine über-
arbeitende Abschrift der betreffenden Scenen beziehen.
Gänzlich undatirt sind zehn Scenen: I, 1 in der Um-
arbeitung A; 1,4; 1,5; 11,4; 11,5; 11,6; 111,5; IV, 3;
IV, 5 ; V, 4. Hierzu kommt als elfte V, 3, die im Original-
manuscript überhaupt fehlt, aber vorhanden gewesen sein
1 96 Leitziuann, Zur Entstehungsgeschichte des ^Julius von Tarent'.
muss ; ferner als zwölfte Y, 1 in der Fassung des Druckes.
Alle übrigen Scenen sind mit Datenangaben zwischen dem
24. Juli und 12. September 1774 versehen, unklar sind jedoch
die von II, t und II, 3.
II, t trägt die Randbemerkung Wor dem 24. Julius 1 774^
woraus mit Sicherheit hervorgeht, da mir nicht möglich
scheint das 'vor' als 'Vormittag' zu verstehen (Werner
S. XIII), dass der Dichter am 24. Juli den Entschluss fasste,
jeder Scene das Datum ihrer Entstehung beizuschreiben.
Ausgeschlossen ist natürlich nicht, dass er es einmal ver-
gessen konnte: es gehören also darum noch nicht noth-
wendig alle undatirten Scenen vor den 24. Juli, wohin sie
Werner (S. XVI Anm.) aus Gründen der Vergleichung von
Papier und Schrift verweisen möchte; doch führen seine
Beobachtungen nicht weiter und er selbst bezweifelt ihre
Brauchbarkeit, weshalb ich sie im folgenden nicht berück-
sichtige. — II, 3 trägt die Randbemerkung 'Hannover (oder
vielleicht 'Sonnabend') den 18. October'; Kutschera (S. 69
Anm. 3) las 'Hannover';Werner bemerkt (S. XIII) : 'die Lesung
Hannover ist kaum denkbar; man würde eher Sonnabend
herauslesen, der 18. October fiel aber in jenem Jahre nicht auf
einen Sonnabend'. Diese Datirung fällt aus dem Rahmen der
übrigen ganz heraus, auch wenn man die wenigstens äusserlich
richtige Lesung 'Sonnabend den 8. October 1774' annehmen
wollte ; hier ist, glaube ich, ein Fall, wo das Datum nicht den
Tag der Entstehung der Scene bedeuten kann, und zwar auf
Grund von Beobachtungen, welche auch die Entstehungszeit
mehrerer undatirten Scenen annähernd erschliessen lassen.
Die Wahl der Namen für seine Personen scheint dem
Dichter Schwierigkeit gemacht zu haben. Der alte Fürst
heisst an der einzigen Stelle, wo sein Name vorkommt
(124, 13), Constantin, war aber erst Garsias genannt, wie
in de Thou, der Quelle des Dichters, der dem Guido ent-
sprechende Sohn heisst. Der Name der Fürstin, Ämilia,
die persönlich nicht auftritt, erschien an einer Stelle (zu
36, 10—12), wurde aber wieder beseitigt. Auch Julius hatte
vielleicht in der ältesten Phase des Stückes noch keinen
Namen: wenigstens erscheint er in der ältesten datirten
Scene II, 1 schlechtweg als 'der Prinz'.
Leitsinann, Zur Entstehungsgeschichte des * Julius von Tarent\ t97
Julius' Geliebte hiess zuerst Bianca, wofür dann aber
Bianca eingesetzt wurde (jenen italienischen Namen hat
Shakespeare im ^Othello' und der ^Widerspenstigen-, diesen
spanischen im *Eönig Johann'j. Von einem bestimmten
Zeitpunkt datirt jedenfalls der Entschluss des Dichters,
Bianca für Bianca einzusetzen: er verbessert dann an den
meisten Stellen diese Form in jene und gebraucht yon da
an fast nur noch die erste. Und zwar begegnet in den
Scenen des Juli und August der Name in der Form Bianca
oder Bianca aus Bianca verbessert (der einzige nicht stim-
mende Fall wäre 86, 2: ist Werners Angabe hier ganz ge-
nau?), vom 1. September an in der Form Bianca unver-
bessert (wobei ich an den Stellen 14,5, 15, 1 gegenüber 15, 5. 14
und 79, 2 gegenüber 79, 9. 80, 4 augenblickliche Correcturen
annehme). Lässt man diese Auffassung gelten, so gehören
von den undatirten Scenen II, 5, II, 6 und Y, 4 wegen der
Namensform Bianca (oder Bianca aus Bianca) in den Juli
oder August, dagegen I, 1 in der Fassung A, I, 4, 111,5
und IV, 5 wegen der unverbesserten Form Bianca in den
September (81, 5 gegenüber 80, 18. 82, 4. 10. 15 ist dann
wieder augenblickliche Correctur). Nach diesem Argument
würde die vom 18. October datirte Scene II, 3 in den Juli
oder August gehören: sie bietet einmal Bianca, achtmal
Bianca aus Bianca.
Weiterhin lässt sich in den nachweisbar ältesten Scenen
des Stückes die Gewohnheit beobachten, Eigennamen mit
lateinischen Buchstaben zu schreiben: so in I, 2; II, 1 ; II 7;
III, 1 ; IV, 6 ; V, 1 ; V, 5 sowie in gestrichenen Stellen zu I, 6
und III, 7. Diese Scenen sind sämmtlich im Juli und An-
fang August (bis zum 8.) geschrieben: später ist kein weiterer
Fall belegt. Auch nach diesem Argument gehört die vom
18. October datirte Scene II, 3 in eine weit frühere Zeit:
sie bietet ein lateinisch geschriebenes Bianca (46, 2).
Eine achte undatirte Scene glaube ich durch folgende
Beobachtung einreihen zu können. In II, 6 ist nach 61, 8
folgende Wendung gestrichen worden: ^Sehen Sie wie in
einem Saamenkom ein künftiger Wald schlummert so liegen
in einem Wunsche schon tausend'. Dieselben Worte kehren
dann in IV, 3 wieder (98, 6). Mir scheint dies nur so denk-
1 98 Leitzmann, Zur Entstehungsgeschichte des 'Julius von Tarent\
bar, dass Leisewitz die Worte später an einer zweiten Stelle
für besser angebracht hielt, als sie an der waren, wo er
sie zuerst gebraucht hatte , dass also II, 6 älter als lY, 3
und zwar kaum viel älter ist. II, 6 gehört wegen der Form
Bianca in den Juli oder August, also auch lY, 3, worin der
Name nicht vorkommt.
Ich bin mir wohl bewusst, dass das Yorgetragene nur
Wahrscheinlichkeit, nicht absolute Beweiskraft hat. Eine
gewisse pedantische Genauigkeit in solchen Kleinigkeiten
ist durchaus glaubhaft, wenn man sich an Leisewitzens
Naturell, an das Actenmässige , Steife seiner Schriftzüge
erinnert (Werner S. lY). Interessanter noch wäre es, den
inneren Faden aufzeigen zu können, an dem die productive
Phantasie des Dichters sich beim Schaffen die einzelnen
Scenen nacheinander aufreihte. Ansätze zur Lösung dieser
schwierigeren Fragen macht Werner S. XYII— XIX. Hier
überall klar zu sehen ist unmöglich: ich möchte hier nur
einen Punkt berühren. Unter anderm weist Werner auf
eine gewisse Yerwandtschaft der vom 26. und 27. Juli
datirten Scenen III, 1 und Y, 1 mit den beiden im Musen-
almanach für 1775 erschienenen kleinen Dialogen ^Die
Pfändung^ und ^Der Besuch um Mitternacht' hin. Während
mir die Yerwandtschaft zwischen Y, 1 und dem 'Besuch'
kaum bedeutend genug scheint, um einen Schluss darauf
zu gründen, gebe ich eine solche zwichen III, 1 und der
'Pfändung' zu. Ich möchte namentlich auf die Einführung
des Bauern Werth legen, der in beiden Fällen als Repräsen-
tant des Yolkes über den Herrscher gewissermassen das
Urtheil spricht (vgl. auch E. Schmidt, Anzeiger f. deutsches
Alterthum und deutsche Litt. 3, 197). 'Beide Male', sagt
Werner S. XYIII, 'der Hinweis auf die ewige Vergeltung':
davon steht streng genommen in der Scene III, 1 nichts,
während bei der 'Pfändung' gerade darin die Pointe liegt.
Kann aber das Yorkommcn dieser Gedanken, zumal sie
allgemein im Göttinger Bunde sind (Kutschera S. 68), allein
ausreichen , um die frühe Entstehung von III, l und Y, l
zu erklären? Bemerkens werth ist allerdings, dass specifisch
den Göttinger Dichtern Eigenes hauptsächlich in den ältesten
Scenen der Tragödie vorkommt: so auch der Mondschein
0. Hoffmann, Noiiz zu Lessing. 199
nur in I, 1, III, 7 und IV, 6, also zwischen dem 24. Juli
und 4. August (vgl. E. Schmidt a. a. 0. 3, 198).
Halle. Albert Leitzmann.
Notiz zu Lessing.
Im 'Zweyten Beytrag aus der Wolfenbütteler Bibliothek'
1773 8. 319 stehen die bekannten Worte: 'Man muss, auch
in der gelehrten Welt, hübsch leben und leben lassen
Was uns nicht dienet, dienet einem andern. Was wir
weder für wichtig noch für anmuthig halten, hält ein andrer
dafür. Yieles für klein und unerheblich erklären, heisst
öftrer die Schwäche seines Qesichts bekennen, als den
Werth der Dinge schätzen. Ja nicht selten geschieht es,
dasB der Gelehrte, der unartig genug ist, einen andern
einen Mikrologen zu nennen, selbst der erbärmlichste Mikro-
log ist: aber freylich nur in seinem Fache'.
Mit diesen Worten weist Lessing einen Vorwurf zurück,
den ihm der Recensent seines ersten ^Beytrages' in den
Frankfurter Gelehrten Anzeigen vom 20. Februar 1 773 (Nr. 15
S. 117) gemacht hatte. Derselbe leistete bald darauf Ab-
bitte. In der Recension des 'Zweyten Beytrags' nämlich
heisst es (Frkf. Gel. Anz. vom 19. November 1773): 'Wir
halten es denn nun für unsre Pflicht, Herrn Lessing hier-
mit feyerliche Abbitte und Ehrenerklärung zu thun, dass
wir ihm in der Recension des ersten Beytrages ein wenig
Mikrologie vorgeworfen haben.'
Steglitz. Otto Hoff mann.
Anspielungen auf die Faustsage.
Zwischen die bisher aus dem 18. Jahrhundert bekannt
gewordenen poetischen Anspielungen auf die Faustsage bei
Zachariae, Lessing, Löwen, Wieland und die dankenswerthen
Nachweise Burdachs und Eichlers (in dieser Vierteljahr-
achrift 1,9 ff. 290) reiht sich eine Reminiscenz in einer
Ode von S. G. Lange aus dem Jahre 1 745. Diese besingt
den eben als Dichter auftretenden Ramler, ganz im Stile
200 Schüddekopf, Anspielungen auf die Faustsage.
der 1747 gedruckten 'Horatzi sehen Oden', unter welche sie
jedoch, wohl in Folge der Gleimschen Ausstellungen, nicht
aufgenommen wurde; erst dreissig Jahre später fand sie
verändert ('An Herrn Ramler. 1745') eine Stelle im Taschen-
buch für Dichter und Dichterfreunde 5, 55, aus welchem
Matthisson sie mit den willkürlichsten Kürzungen in seiner
Lyrischen Anthologie 2, 45 wiederholte. Die metrisch und
stilistisch recht nachlässige Ode preist Ramlers 'zauberndes
Lied', welches den Frühling im Winter mit beschwörenden
Worten zurückruft; und nachdem in einem aus Horaz
Carm. I 12, 7—12 entlehnten und von Lange bis zum Uber-
druss wiederholten Bilde *) dieser Gesang dem Wunder
wirkenden Spiele des Orpheus gleichgestellt ist, folgt in
Strophe 5 (hier nach einer gleichzeitigen Abschrift im
Gleimarchive) der Vergleich :
So zauberte Faust vor den erschrockenen Gästen
Den fruchtreichen Herbst, die Trauben beugten den Weinslock,
Schnell kleidete sich der dürre Obstbaum mit Blättern
Und Blüthen und Früchten.
Ob Lange hier aus einer der Prosaerzählungen schöpfte, von
denen das Pfitzersche Volksbuch die Anbohrung des Tisches
vorführt (vgl. Greizenach S. 163), oder ob die Gastmahlsscene
im Puppenspiele von ihm dichterisch ausgeschmückt wurde,
wage ich nicht zu entscheiden. Wie stereotyp aber der Ver-
gleich eines Zauberkünstlers mit dem 'grossen Erzzauberer'
in dieser Zeit geworden war, erhellt aus der Zusammen-
stellung des von Burdach angeführten Eönigschen Verses:
'Der Doctor Faust ist nur ein Narre gegen dir' mit einer
Stelle in dem ungedruckten Briefe von Uz an Gleim
(Anspach 25. März 1748): 'Haben Sie von dem Italiener
gehört, der in Berlin sich durch Prästigia bekannt macht,
wie Circo verwandelt und Todte lebendig macht? D. Faust
ist ein Schüler gegen ihn, wenn wahr ist, was man erzehlt.'
Wolfenbüttel. Carl Schüddekopf.
^) Vgl. Freundschaftl. Lieder S. 43. 52 (Deutsche Litteraturdenkniale
22,41.47) Horatz. Oden S. 39. 55. 94. 108. 120. 153. 158. Auch Pyra
(Deutsche Litteraturdenkmale 22, 87), Götz (Anakreon 1746 S. 92) und
Klopstock (Auf meine Freunde V. 9-— 12) gebrauchen den Vergleich.
Baechtold, Quellen zu »Aller Praktik Grossmatter'. 201
Quellen zn ^AUer Praktik Grossmutter'.
1.
Fischarts ^Aller Praktik Grossmutter' erschien zuerst
1572, wahrscheinlich in Basel, (Abdruck in Braunes Neu-
drucken Nr. 2, 1876), bedeutend erweitert 1574 und öfter
(diese Bearbeitung, aber nach einem Druck von 1623, in
Scheibles ^Kloster' 8, 545 ff.). Über das Bibliographische vgl.
Meusebachs Fischartstudien S. 194 ff. W. Wackernagel,
Johann Fischart von Strassburg (2. Ausg. 1874) S. 60 ff. be-
schäftigte sich, nachdem Goedeke, P. Gengenbach S. 415 ff.
die Practica Practicarum' Ton Joh. Nas herbeigezogen, zum
ersten Mal eingehender mit dem Werklein und deckte, in-
dem er sich gegen Goedekes Annahme wandte (S. 67
Anm. 148), einige andere Quellen auf. So wies Wacker-
nagel darauf hin, dass sich hier die ersten Spuren von
Rabelais' Einfluss zeigen, indem Fischart an die dem
Gargantua angehängte Pantagrueline Prognostication an-
knüpft. Ebenso zeigte Wackernagel, wie Fischart neben der
Practica des Doctor Grill von dem Narrenstein (1540) die
lateinischen Prognostica Jacob Henrichmans aus Sindel-
fingen benutzte, und theilte diese Vorlage im Anhang S. 131 ff.
nach einem Strassburger Druck von 1509 mit. Henrichman
in der (1508 datirten) Widmung an Christof von Schwarzen-
berg und Heinrich Bebel gesteht selber, dass er nur ein
älteres deutsches Büchlein übersetzt: ^Superioribus autem
diebus quidam, nescio quis, sed profecto homo industrius
exiguum edidit opusculum, quod prognostica recte et latine
Yocamus a barbaris vero inepto vocabulo practica nuncu-
patur; quo libello perlecto nihil falsi usquam in eo depre-
hendere potui, nihilque quod non futurum sit, invenire licet;
ita bonus ille homo cuncta, quae vera sunt, narrare studuit.
Ob id ego opusculum theutonica lingua scriptum latinitate
donare volui, ut idipsum non Germani tantum, sed et
ceterae nationes legerent. Pauca etiam ego adjeci, quae
prius opusculum non continebat.'
Viertelijahnchrin für Litteratozgeschichte m 14
202 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter'.
Die deutsche Vorlage Henrichmans, den Fischart in der
zweiten Bearbeitung ausdrücklich nennt, ist nun unzweifel-
haft die folgende ^Practica Doctor Johannis Ross-
schwanz', in einem Druckexemplar von 1509 auf der kgl.
Bibliothek in Berlin (Yz 21 11, aus Meusebachs Sammlung,
4 BU. in gr. 8^) aufbewahrt. Meusebach hat das seltene
Stück wohl aus Martin Usteris Bibliothek in Zürich erworben.
Der Ursprung dieser Practica ist in der Schweiz zu suchen,
wie denn auch ein besonderes Eapitelchen (21) von den
Eidgenossen handelt. Vielleicht gab es einen noch altern
Druck; wofern sich Henrichman, der schon 1508 übersetzte,
nicht etwa einer blossen altem Abschrift der Practica Ross-
schwanz bedient hat. Die Möglichkeit des umgekehrten
Verhältnisses, dass Rossschwanz etwa aus Henrichman über-
tragen ist, ist deswegen nicht glaublich, weil die lateinische
Fassung in der That die oben erwähnten Zusätze aufweist.
Ich kann leider nicht feststellen, wie weit die Practica Ross-
schwanz mit einer deutschen Übersetzung Henrichmans, die
im Anhang der Verdeutschung der Facetiae Bebeis : ^Die Ge-
schwenk Henrici Bebelii' 1558 steht, übereinstimmt. Die
lateinische Practica entspricht, abgesehen vom Eingang und
dem ersten Kapitel ('de anni qualitate') in Bezug auf den
Inhalt und die Reihenfolge der einzelnen Abschnitte mit
wenig Änderungen genau der Practica Rossschwanz. Das
lateinische 14. Kapitel 'de religiosis^ ist zusammengezogen
aus 13 und 14 der deutschen Practica. Das lateinische
11. Kapitel — es entspricht dem deutschen 10. — lässt die
Stelle vom Bodensee weg. Im 20. Abschnitt setzt der
Schwabe (wie Fischart) Tübingen ein statt Speyer. Kap. 21
aus Rossschwanz Won den Eidgenossen^ ist weggelassen.
Darnach ist auch die Bemerkung Wackernagels S. 17 Anm.42,
dass der Abschnitt in 'Aller Praktik Grossmutter' 'von Na-
tionen und Städten' der älteste Beleg von Fischarts Reisen
sei, einzuschränken, indem dieser auch da theil weise dem 19.
und 20. Kapitel seiner Quelle folgt. Daneben benutzt er in
seiner bekannten freien Manier die Practica Rossschwanz
hauptsächlich für die Abschnitte: 'von Früchten, Obst,
Wein', 'von Metall, Gold und Reichthum', 'von Nationen
und Städten'.
Baechtold, Quellen zu *Aller Praktik Grossmutter'. 203
Über andere Scherzkalender und Spottpraktiken vgl.
Naumanns Serapeum 26, 236 fF. Dort ist auch die Practica
des Eselbert Trinkgern abgedruckt, die sich inhaltlich mehr-
mals mit der folgenden berührt. Vgl. Serapeum S. 254 : 'von
Buhlern und Singern' mit Rossschwanz Kap. 12. Ebenso
finden sich Anklänge an Kap. 5 und 9.
Ein new abetörlich Practica | Doctor Johannis Rosz|
schwantz von Langen Lederbach do man | die alten
laternen pletzt. Vff dis kunff | tig jar. M .v«. vnd ix.
Practiciert in | der hohen schul zu Montefla | schkon, do
5 d' dreck iss mer | hangt, nach rechtem | lauff der
ganlze | wyten welt.|
[Vignette: Ein Doctor sitzt vor einem auf dem Pulte auf-
geschlagenen Buch und zeigt mit der Rechten nach sechs Sternen,
die über ihm stehen.]
to NAch dem gott der allmechtig den Egiptern vnd andern
grossen meistern als Aristotel. Sibil. vnd andern etc. sein götliche
gnad verüben hat das sie durch das gestirn vn firmament zu
künfftige ding practiciert vn geweissagt haben, vnd noch vil be-
rümpter meister vff erden die mit der selben kunst begabt semd
1!» das sie schön ding practiciere dar durch ein yeder erkennen mag
wann es tag oder nacht ist. Wie wol mancher grober knebel
hoch dar wider redt, Aber niemant veracht die kunst dan der si
nit verstat (Das es also sey) So hab ich Doctor Rossschwantz
von Lange lederbach ein grosser lerer der kante, gleser vnd
20 krausen on alle kunst in der Silberkammer do man die sattel
vfT henckt, neben der pernuersitet do man mit Mistgabele schreibt,
dise practick vn Weissagung angefange vnd durch die zu leüfT
etlicher stern die dis jar ingangen seind z& regiren Rumorisch
vnd leunisch kurtz in den tagen des arssrumuss do die schwein
95 lige bey Frissen im loch do Hans schwynfuss in die Hosen schiss
lassen aussgon in der nachuolgender weise.
Dise practica wärt geteilt in xxv. Capittel.
% Das erst Capittel von den Herren dis jares. Der Herren
dis jares werden mancherley, ye einer würt sich vnd'ston zu über-
so hebe über den andern, die stfll vfif die benck, die magt vnder den
knecht, d' man für die thür, d* pfafif vfif die fraw, die katz über
die mauss vnd allweg würt der gewaltiger de mindern gebiete.
Das ander Capittel von den fürsten.
Die Fürsten solle sich hüte dis jar vor grosser kräckheit so
35 bleibe sie gesunt vfi wolmüged dan wo sie dz nit theten, ist zu
besorge wo die kranckheit überhant nem, es würd etliche zuschwer
vnd sie erwürgen.
14»
204 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter*.
Das drit Capittel von den epten ?n prelatö.
fl Die Ept vnd Prälaten werden diss jar grosse geselschafft
ynd hilff haben von dem Adel, die vass zfi lere, aber kleine
schirm wid' ihre veinde. Auch werden sie irß mQnchß vil ver-
biete dz sie selbs nit halte werde. ^
% Das .iiij. capitel vö kräckheit des gemeine volcks.
Das gemein voick, Wan sie zöuil Saure milch Pflaume od' der
gleiche essen, vn die scheissen dar vö flberkumme, iss zu be-
sorgen trincken sie wasser es geschwell yn der bauch vnd fallen
in gross krankheit vorauss so sie ein vngelerten artzet haben. ^^
Das .V. Capittel von den fruchte dis jares.
^ Weitzen, vesen, rogken, haber, gersten, vnd alles das der
halm tregt, würt heür vff herten velsen geringe wachsung habe,
Aber in starcken veldern wo die wol gebuwe seind vnd gott sein
gnad gibt, würt überflüssig genug aller frucht vnd nit in eim is
kauff bleiben sunder vff vnd ab steige als d' knecht vff die magt,
also werde auch alle and*e ding zu glück ston.
Das .vj. Capittel von Wein vnd Bier.
S Wyn würt dis jars geringe wachsung haben ym Schwarlz-
wald, doch sunst an andern orte würt ein g&te notdurft werde, »
vn vast gut vn lustig zu trincken, er würt auch manche ein irrig
lebe mache, vn die trusen vnde vnd oben auss treibe, auch würt
er sunst vil vffrur vn rumor machen vnd mit manchem die Stege
ab fallen. Darzu würt er grosse hitz vn böse kleyder machen,
auch ein lere seckel besund' so würfifel vn karte mit lauffen. ss
Aber das Bier würt vast gfit wer[a ij] den wann man des wassers
nit zuuil darin tbät.
Das .vij. capittel von dem Steinobs.
% Kirschen, nesplen, pflume vnd der gleich werden heür
wol gerate am obernmarck zä Costentz. vn zu Augspurg vff de so
Berlach, vn über nacht wid* wachsen. Doch wirt das gemein
volck den reisenden stein vast do von überkumme, dan binde auss
werden sie vnzallich stein werffen. vn wo er dan also überhand
neme würd, ist zu besorge man werd etlich frawen lebendig grabe
als wol zu glaube. 3s
Das viij. Cappitel von Retich, ruhe, zwibel vnd Knoblauch etc.
9 Dis alles würt dis iar wol gerate zfi Strassburg an dem
Fischmarck vnd auch au dem fronhoff vnd vmb ein zimlichen
Pfenning, doch sol niemant derselbe zuuil essen, dan es macht
huste vnde vn obe vn wer das isset von de fliehe die meitlin yn 4o
zii küssen.
Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter'. 205
Das neQnd Capittel von Metallen.
9 Silber würt dies iar mer gelten dan zin, vnd das golt
wQrt mer gelte dan das bley, Aber Stabel vn eysen wärt man
vil z& Helmbarten vnd harnasch brauchen, Auch wärt das kupffer
5 werd ynd tefir, das macht dz man es yetz gar vil z& d* münlz
ist brauche.
Das .X. Capittel von rytem vn edelleOten.
Ryter edel leQt, werde dis jar gross glück habe z& jagen vff de
Bodesee Ir etlich werde vil gefleh vahen. sie werde auch vast
10 steche vö humiere, sie werde sich auch halte das yn kein würt
nichts schuldig bleibt.
Das .xi. Capittel von den Studenten.
^ Studente vn meyster d' vnwissende kunst werden docli
also lebe dz ir borger mer angstiger sein wie sie bezalt werde,
15 dan sie wie sie das bezalen. du magst auch wol sicher die kunst
bind* sie verberge, daß ir keiner ist so gelustig das er such was
in ir steck, sie werden dis jar gfit wesen habe mit frawe, wan
der wein wflrt wolfeil aber ir etlich werde grosse mangel haben
an dem gelt das alle falsche lieb beschleösst.
90 Das .xij. Capittel vö singern, bälern, malern pfeifiTem,
spilleflte, goldschmid.
9 Singer, bfiler, pfeiffer, spilleQt, maier etc. werden dis jar
gross glQck habe gege den frawe, an d* syte do der seckel hanget.
Sie werde sich selb im argwon haben die sach sey schlecht Dar
95 nach werde sie des selben an de wein auskumme. doch sollen
sie sich hflten vor sant Vrbäs plag, wan sie würt vast by jn
regire.
Das .xiij. Capittel von den geistlichen.
9 Pfaffen werden dis jar nit geytig, sund' voll vnd begnügig
so sein, auch fleissig zfi kirche geen wafi die presentz g&t ist, Ir
etlich werde gross vMange habe nach dem winter, also das sie
sant Martins tag gern zä Pfingste sehe so sie zinss vn gült ent-
pfahe. Sie werden ire vnderthon vast lieb habe vorab die junge.
Das .xiiij. Capittel von den München.
95 ^ Die münch werde dis jar vil kess samle, waö das futer
ist wol gerate, das würt sie fast steche vn gusel mache, vorauss
die noch schopff vfi schwantz haben. Auch werde die Closter-
flrewlin sie etwan heimsuche vn begere das sie yne die vogel-
sucht büssen.
40 Das .XV. capittel von frawen vnd junckfrawe.
9 Frawe vfi junckfrawe werde dis jar kurtz gedenck habe
der man halb, etlich zfi dreye mer dan z& zweie auch werde ir
206 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter*.
etlich in grossem arckwon sein, vnd für junckfrawe geacht, den
vnrecht beschicht, doch werde [a lij] sie es gedultiglich leiden vnd
es lassen in gon.
Das .xvi. capittel vO etliche krankheite d* frawe.
^ Vff den früling vn in dem meyen so sich das geblät er- 5
hebt vn ernüwert in de mensche, werde etliche frawe kretzig
zwüsche den beine, darfür solle jne die man wol schrepfiTen vnd*
de nabel, Ob es nit hülffe so salb sie wol zwische de haubt vnd
grossen zehen mit eine vngespalten reiff od* eine eiche federwisch.
Das .xvij. capittel von den alten mannen. ^q
9 Die alte man werde dis jar grosse anfechtung haben vmb
das hertz gege den frawe, aber kleinen schaden thSn, wan ir
gesell würt yn das nit gestaten.
Das .xviij. capittel von dem gemeinen volck.
9 Das gemein volck, als schuster, Schneider, hotten kürss- 15
ner etc. werden dis jar vast liegen vnd das th&n von irer narüng
wege vn vm gewins wille. Es wirt aber niemant so nerisch sein,
er gewin lieber dan dz er verlüre. Mangel des gelts wirt dis jar
vii keüff hindern, vn dz gelt wurt vngleich aussgeteilt werde.
Das .xix. capittel von de gemeine volck etlicher land, 20
als Vngern, hole, meissen, türinge francke Sachsen,
wirtemberger, beyer, Schwaben.
^ Die Vngern vn holen werden dis jar vil veindscbafft habe,
wan d' grossen leüs werde vil. Meichssner, Türinger vnd Saxen
werde klein trinck ser verschmehen vnd wenig Butter od* hier ver- 25
meide. Wirtenberger werde oft das gicht flftchen, Wirtzburger das
gemein volck werde dis jar nit so vil vffzfihebe haben als die
thumherren. Beier vnd Schwaben werden lieör wol bestan, vorauss
in der fasten daö sie haben vil hutzelbiren gemacht, auch seind
yn die schieben wol gerate, darauss werde sie gäts tranck mache. 30
Das .XX. capittel von Nürnbergern Augspurgern Vlmern
vfi Gonstentz. was sie werde habe.
^, Nürnberger werden dis jar vil vngleicher keüffe haben, wan
ein Zentner wachs wirt heür mer gelten dan ein zentner wagen-
Schmer. Augspurger Vlmer werde dis jar vil geselschaft habe, 35
aber sant Vrbas plag wirt dis jar vast by jn regire. Costentz
wirt dis jar grosse anfechtung haben der Meüss vn ratze halb
wafi es wirt ir gar vil bey ynen wonen. zu Speyer viKirt ein gross
feür gesehe werden vm vesper zeit bey de napff vor de münster
in den wyhenacht fyertage. 40
Das .xxi. capittel von den Eidgenossen.
Die Eidgenossen werden dis jar vil gelts lösen ist es das sie
vil kess vnd rinder haben zS verkauiTen.
Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik 6ro8smutter\ 207
Das .xxij. capittel von einer grossen verkerung des gemeine volcks
nach vnser frawe liechtmess.
9 Nach liechtmess wirt ein grosser vfflauff vnder de ge-
meinen folck vh werden die narren wolfeil. Darnach im apprillen
5 am nechsten tag nach dem karfrytag wirt ein gross blfituergiessen
vnd es werden vil würst vnd kuttel vff der walstatt bleiben. Die
hund werden ser erschrecken am freytag nach Ostern, desshalb
sie meinen das die fast wider sey kummen.
Das .xxiij. capittel von mangel etlicher mensche.
10 ^[ Es wirt grosser brüst werden d' Priester, also das einer
drey oder vier vnnd mer pfrQnden haben wirt. Des adels wirt
auch gebrechen vnd der reiche, wan die Bauren werde vnd^ston
edel zu werden, vn d^ armen wirt vil mer dan der reichen.
Darzu wirt auch mangel an Jude dan die cliriste werden vnd'ston
15 z& wuchern. Die frawen werde auch das ausslauffen gewinnen
das sie nit bey ire eige manne müge bleibe.
Das .xxiiij. capittel von etlicher fyntschafft.
9 Gross feintschafft würt dis jar vnd* den leie vn . geleiten,
vnd' den edle vn baure, vnd' den frumme vnd vnfrumme. Dan
20 ye einer begert des andern gät zfi haben, welche alle vnder ynen
erst verfient werde, so eyner ein bad' findet d' nye schwitzte.
Ein rossdeüscher d' nye log, od' ein koler der nye schwartz ward
od' zwen berg findet on thal, dan so würt fryd überal.
Das .XXV. capittel vnd beschluss aller diser red.
35 9 Die tag werden etliche vil kürtzer duncken dan die nacht,
vn herwiderum die tag löner würt dis jar der arbeit verdriessen,
besser würt gelt entpfahen wed' geben, besser ist reite dan z&-
fuss gon, wer nit wein hat d' sol das wasser nit verachte. Die
weiber werde so lang fride halte, die weil sie nit anfahe hadern,
30 vil werde sich dis jar lieber an das beth lege zu nacht, dan am
morge vff ston. Schwartze küw werde weiss milch geben, das
thfit ein roter münch nit. Es würt auch niemant ersticken vff
dem rheyn so er befroren ist. Vnd es würt auch niemant er-
friere in einer heissen badstuben. Reich vnd arm werde gleich
35 sterbe, Ich het vch noch vil zäsagen, so hat mich Pyctagoras
heissen still schweigen.
Dis practik hat alhie ein end, Gott vns all vnser vnseld wend.
Gegen disem künftigen nüwen jar, Ich hoff zu gott es werd
„ ^^ ''"• AMEN.
40
2.
Die Tractica Rossschwanz' ist fünfzig Jahre später in
einem schweizerischen Fastnachtspiele theilweise verwendet
208 Baeobtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter'.
worden, in dem Stück ^von Astrologie und Wahrsagen^
mit dem Nebentitel : 'Bracdica von seltzamen gschichten die
jars, Calculiert durch Doctor Rossschwantz von langen leder-
bach', 1560 zu Freiburg in der Schweiz aufgeführt. (Vgl.
meine Gesch. d. d. Lit. in d. Schweiz S. 335 f. u. Anm. S. 87.)
Der Abschnitt 'von Früchten und Theure' V. 502 ff. setzt
Kap. 5 und 6 der oben abgedruckten Practica Rossschwanz
voraus, V. 525 ff. 'von Theure des Metalls' Kap. 9, V. 542 ff.
'von Krieg und Feindschaft' Kap. 24, V. 566 ff. 'von etlichen
Ländern insonderheit' die Kap. 19, 20, 21, 25, V. 602 ff.
'von Wundergeschichten' Kap. 22, theilweise 20 und 25. Die
y. 109 ff. entsprechen der prosaischen Einleitung. Die Hand-
schrift, der auch das bekannte Spiel 'vom klugen Knecht'
beigebunden ist (a. a. 0. S. 210) befindet sich auf der Bürger-
bibliothek in Luzern Nr. 182 und wird erwähnt in Mones
Schauspielen des Mittelalters 2, 422 und A. v. Kellers Fast-
nachtspielen 3, 1372 f. Die Rollen des Doctors, des Edel-
manns, des Alten, des jungen Gesellen , des alten Weibes,
des ersten und zweiten Bauern sind noch jede besonders
ausgeschrieben. Es folgt hier ein genauer Abdruck des
interessanten Fastnachtspiels. Die Interpunction einzig,
sowie einige Erklärungen sind Znthaten des Herausgebers.
Fassnachtspil von Astroiogy | vnd Warsage .1560.
Z& Fryburg In Uchtland | gehalltte.
[Bl. 8^] 15. person. 630^) vers
4 p- n A I 1***^ •7« sprich
1. Em Doctor j ^^ .273. verss
Hans Wicht
2. Doctors Diener ] ^^^^ ^q ^^^""^
Wilhelm vö Praroman
o r- i?j 1 Qx i H*^' ®'ß Spruch
3. Em Edelman«) j ^^ ^^ J^
. „. i. I Halt zwen sprich
4. Em alter man J ^j q „^^«
( vnd .8. vers
my Herr schfilmeyster
') ursprünglich: 720 Vers^ d4e Zahl ist aber in der Es. gestrithm,
*) Als Ifihaber der Boüe ist Fetter Heydt angegeben, vndess wieder
gestrichen. Äüe Spielenden sind FreHmrger Bürger,
Baechtold, Quellen zu *Aller Praktik Grossmutter'. 209
„. . ,, i Halt zwen sprich
0. Em junger gesell j ^^^ g^ ^^^s
„. , ^ l Halt ein spruch
6. Em alt weyb j ^^^ jg ^^^s
Niclaus sefflinger
„. , , l Halt drey sprich
7. Em Jungfraw | ^„^ gg y^^g
Lux schöffily
^ ^. , , i Halt zwen sprüch
8. Em Jod I ^j 2ß ^^^g
Wilhelm KrOm^oll
« X.. r, I .. \ Hatt drey sprich
9. Em Schweitzer j ^^^ ^^ ^^^^
Hans V6gilly
«. . , . 1 . i halt drey sprich
10. Em landsknecht j ^^^ ^q ^^j.^
Hfidolfif L6uwestey
.. _. , ^ I tatt .4. sprich
11. Em krömer | ^^^ 33 ^^^^
Jacob schnewly
-« « . 1 i Halt .4. sprich
12. Erst bawr | ^^^ g^ ^^^^
Niclaus Biderma
^ , \ hatt .2. sprich
13. ander bawr j ^^^ g^ ^^^^
Petler L6uw
i£ Frcf narr ^ ^^^^ ^ ^P"^*^
14. Erst narr j ^^j 34 ^^^z^
Daniel vö Mötenache
.^ . , \ hatt 4 sprich
15. Ander narr j ^^j 35 ^^g
Ludwig vö Affry
Suma 630 vers^)
•) sUUt 8 stand erst 109 ufui «to^e 34 erst 10, dann 74. Diu*
Zahlen wieder gestridien,
*) wrgprün^ich: 720 yers, ge^richen wie oben.
210 Baechtold, Qaellen zu * Aller Praktik Qrossmatter*.
[Bl. 9*] Bracdica von seltzamen gschichten | dis jarsi,
Galculiert durch Doctor | Hossschwantz von langen
lederbach | da selbst jn solcher gestalt der | gmeind
fOrghalten wie volgt.
Der erst narr spricht zum andern.
los, lieber, los, ich ghortt ein sag,
gestern da ich im rossstall lag,
von einem wunder gschickten man,
des gleichen niemand finden khan!
& ist das nitt ein wunder sach?
er khan beschweren gens im bach.
sie sagten, das er Doctor wer,
vom rossschwantz khom sein stame her.
2. narr.
das dreckh loch vnderm rossschwantz statt,
10 darinn iss eytel dreckh vnd khatt,
iss vssen dreck vnd innen voll!
du machst mich mitt deira doctor tholl.
lieber, sag, wa hast das kheert,
das rossdreckh ettwas khonst hab glertt?
1» er ist ein narr gleich wie du auch,
schweig still, du klapperst wie ein gauch!
Der erst bawr ziüm andern narren.
vngott, vngott, sag, was du witt,
mitt deym gschrey yberredst mich nitt!
der doctor ist ein gschickter man:
wens regnett, khan er zeigen an;
dameben sagt er vns gar frey,
wan es gfttt rieben sehen sey
vnd auch, wens äckhritt gratten werd.
Der ander bawr.
Riede, bey goll, er radt vngferd!
25 glaubs nitt, hast nie das gsehn?
wens regnen solt, so ward es sehen.
meinst, wen der himel wasser schwitz.
Das es miess sein nachs doctors witz?
lieber, schweig, du machst mich zlachen;
30 bey goll, ich glaub, du seyst nitt bachen.
20
10 Die Form iss für ist häufig, i3 kheert = gehört. 22 wann
es günstig sei, Rüben zu säen. 23 eckritt = mhd. ackeran, Frucht
der Eiche und Buche, Viehniast. 24 Rudi: bey goll, euphemistisch
für: bei Qatt. so bachen, vgl. DWB. 1, 1065 unten.
Baechtold, Quellen zu *Aller Praktik Grossmutter'. 21 1
Der erst bawr.
du hast ein selzam dipel hirn,
denckst nitt, er khan das anss dem gstiru.
er weist, wennd sonnen nider gatt
vnd weist auch, wen der nion auff statt;
3f* darauss so mag er rechnen gschwind,
obs regen, schnee geh, oder wind.
[Bl. 9**] Doctors knecht zöm volg.
schawt z8, ir herren, all gemein,
was seltzam leldt auff erden sein!
die bawren wend sich vnder stan,
40 das mancher glerter man nitt khan;
der narr khompt mitt seim kolben her,
vermeint ziigeben auch ein 1er;
giert menner durch sy wernd ?eracht,
durch das wernd vil in angsten bracht.
45 doch hatt mein Doctor den verstand,
hofft ehr zeerlangen vnd nitt schand;
sein khonst will er euch zeigen an,
wen schon vil bawren vm in stan,
darzS noch ander narren mer,
!»o die wend verachten solche 1er,
da von sy nie nichts hond gehert,
vnW gschweygen, das sis betten giert.
darumb sag ich das ieder man:
der bawr nem sich des ackhers an,
&5 der narr l8g, wa sein schellen sey.
das also sein der gschlechter drey:
ein narr vnd auch ein glerter man,
ein bawr, der das feld bawen khan;
der groben bawren gsehnd ir fil,
60 die nare sind auch hie im spil.
darumb will ich ietz hier fieren
ein man, ders dritt gschlecht thie probieren,
der ist ein Doctor wol geleert:
die voll zoufft wirdt dur in gemeert,
65 ein gschwinder köpf, sag ich für war,
Seins gleich was nitt in hundert jar;
all kranckheitt heilt er gleich von handt,
die vogel sucht ist im bekhandt,
der drunckhen siechtag vnd noch vil,
70 das er euch selber sagen wil.
lost ietz mitt ernst vnd gantzem vleyss,
wa hin meins Doctor red euch weys!
38 leidt = Leute. 6i hieher führen. 69 thie = thue. 64 die
volle Zunft.
212 Baechiold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter'.
Der krömer.
lieber, fier vns den Doctor hari
damitt er gsech mein kromer war!
75 ich han gfltt senff in zweyrley gstalt,
wurmsamen auch für jung vnd alt.
Der narr.
Dein senff mecht ich versfichen wol,
lieber, streich mir mein kolben vol,
damitt ich in versächen khen.
uimpt eiD senff fessien*) vnd laufft den schütten ab.
80
Der krömer schreytt.
heb still, du must mirn nitt gar nehn.
vnd laufft dem narren nach, feldt mitt dem krom
vnd verbricht sein gleser.
[Bl. 20* «)] Der narr zum volg.
Das khan ein gfitter sawr senff sein,
seh hin, versöch den kolben mein!
streichts einem ins maul.
Der krömer.
Ich bin doch ietz ein armer man,
khein glas, khein senff ich gar nitt han;
85 hatt mich der ritt zum narren dreytt?
wie bös hab ich mein zeitt an gleytt!
Der Doctor spricht.
Hie khompt der man, als mir ist gsagt,
den bawr vnd narren hond verklagt,
darumb lost ietz, ir herren mein,
90 merckt auff, das seind die khinste mein,
von den man glesen hatt vil mer
im Eylenspiegel hin vnd her,
bey Kallemberg vnd dem Schmossman,
von den lert ich mein khonst verstau,
95 die hond mich also gschwind verkhert,
bis ich so dieff ind gschrifft han giert,
das ich durchs gstirn ein grund ietz han,
vries iedem durch das jar werd gan.
das narren schiff, der rollwag ouch
100 mfich mich zu meiner khonst so gouch,
•) Senff&sslein. •) so statt 10».
90 meine Künste. loo müch =: machte.
Baechto]d, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter'. 213
in den man fand eins ieden ardt,
warzfi der mensch gnatürett ward;
doch ist der aller Bracdic auss,
darumb hab ich bas glugt ind krauss,
105 hab sy offt gleert, mitt khonst mich gfilt,
das mir fürwar ein gross gfitt gilt,
dan drey wordt macht ein kibei vol,
begibt sich offt, friss du dich vol.
Doctor Rossschwantz bin ich genandt
HO von langen lederbach, weydt bekhandt,
leerer der khanu, des glas vnd krauss,
mein sin ist leben in dem bauss.
on arbeytt ich mein khonst nitt fand,
do man die settel henckt an dwand,
^'^ auss gschwinder art han ich sy gleert,
da dfeder den ross mist ymb kheert.
mein schäl oder peruersitett
ist Schlampamp, da ich als verthett.
jn suma ich dahin bin khon,
1^ das ich auss meir khonst han vernhon,
durch hinderlaufT des mars iss drauss,
was gschehen soll dis jar durauss
eim ieden land vnd auch person,
wies in alwegen werde gon,
[Bl. 20**] von krieg, sterbett vnd mer vnfal,
jn suma alles yberal,
was sich z8 tragen werd noch me,
es sey mitt regen, wind vnd sehne;
das will ich mich ietz vnderstan
130 euch allen gmeinlich zeigen an.
mich hindert nitt, das vil hie send,
die solche khonst verachten wend,
dan khonst verachtett allein der man,
der ir nitt würdig vnd sy nitt khan.
135 wer meine wordt nitt khan verston,
der soll zu meine haussgsind khon,
der findt da vihb sein geht zu khauffe
in gschrifiPt, was sich hewr werd verlauffen;
oder bist du hie, redsl selbs mitt mir,
140 so gib ich gleich ein antwordt dir.
Der krömer.
khein man soll nit verzagen gar.
schaw zu, mein glückh khumpt also bar!
der narr bracht mich vm all mein gfitt,
her Doctor, nempt mein red fürgftttl
14& auif hewtt do plagt mich frie der ritt,
214 Baechtoldy Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter*.
das ich mein krom han gantz rerschitl,
was nitt verbrach, das gilt nitt mer,
ach, das ich nie geboren wer!
ein wenig gelt ich noch da han,
ISO das muss mir helffen auff die ban,
allein, her Doctor, ich das bitt
vnd das ir mirs versagen nitt:
die bracdic, von der ewr red ietz war,
verkhaufifend mir, das gelt ist bar,
1S5 mitt der ich mein nutz suchen will,
wirdt gwisslich darauss lesen vil.
Doctor.
se hin, mein gsell, die schenkh ich dir,
verkhaufTst dus all, khum mer zu mir!
khauff senff vnd gleser vm dein gelt,
160 reich bracdic mer, wen es dir gfelt!
Der krömer.
Her Doctor, ietzund bin ich reich.
Das glückh will mir, o glückh, nitt weich !
ich weis noch gleser zimlich gnug
vnd senff, dar z& ein essig krug.
*6* mir brist nichts mer;
nur khaufTleidt her!
hie sies vnd sawrsenlT, auch wurmsame,
Bracdic vnd essig hab ich zusamen!
Narr spottet des krömers.
[Bl. 21*] Hie ist khein witz vnd narren spil;
170 herbey, wer mitt mir gaucklen will!
2. narr zum krOmer.
los mein, gib mir vom siessen senf darein!
vers&cht in vnd spricht.
Der senff ist gutt, doch gar fast sies,
macht schier, das ich ein biss ind hosen lies;
gib mir vom sawren auch ein biss!
Der krömer gibt im, do sagt der narr.
17& pfuch, pfuch, schmeckt grad, als ob ich ind hos€ schiss!
streichts dan eim andern ins maul.
Ein alt weyb auff dem schütten.
Ach, wol recht khom ich zu dem man,
da mitt ich seins radts pflegen khan,
160 reich s= hole.
Baechtold, Quellen zu * Aller Praktik Grossmutter*. 2.15
weiss nitt, wie mich der vnfali reidt
ietzunder so ein lange zeitt:
ISO es sind vergangen dreyssig jar,
das ich ein wittfraw bin für war,
an gutt vnd gelt brist mir gar nitt,
im betth hatt es alweg den ritt,
jch bin, ach gott, fast alt vnd bledt,
185 derft eins mans, der mich werraß dedt;
ja kheiner khompt, der mein beger,
ach, das ich zweintzg jar junger wer!
darum ist das ietz mein begir,
das ir, her Doctor, rathen mir,
iw wies doch mitt mir das jar werd gan,
dan ich stirb nitt gern on ein man.
Nar.
was seist du, alte zehe hawtt!
dein nasen dreöfft dir in das krawt,
thust nichts dan husten vnd furtzen,
195 wilt bfilen, must dich bas verbutzen.
Jungfraw.
lug einer, was das alt weih thutt!
ich hab noch frisches junges blutt
vnd lig ietz manche nacht allein,
khem ein gutt gsell, er miest mein sein;
300 ich hab schier tag vnd nacht khein rw,
thus pfenster auff vnd wider zu,
aufif manchen gsellen hab ich acht,
wünsch in zu mir die selbe nacht;
doch will es als khein reymen han.
»5 mich wundert wies mir hewr werd ghan;
her Doctor, gend mir eine radt,
mein sach ietz auft dem nottknopf Stadt !
[Bl. 21^] Der alt man mitt einer deschen auff dem
ruckh voU zalpfennig.
wie wol ich bin ein alter greiss,
dannocht such ich mitt gantzem vleiss
210 die jungen frewlen schön vnd zart.
gantz nitt gedenckh meines grawen bardt.
ein halbe wastei, zwo mass win.
id5 verbutzen = vermummen. 208 Bekannter Liedanfang. Im
Drama des 16. Jhs. oft parodirt. 312 wastei = bastel, DWB. 1, 1151.
216 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter'.
vorab doch solche frewelin
bringt mir ein grosse freid im hertz.
Jungfraw.
315 doch feit die sach, wens gatt an schertz.
darum, mein lieber Eeren man,
mitt euch darff ich nichts vnderstan,
dan ich ghortt offt der alten klag,
das Jungs bey in nitt gsieden mag.
no iedoch gsich ich euch da fQr an,
das ir mich sonst werdt gantz lieb han.
gelt, ir hond mich lieb?
vmbfacht in vnd greifft in deschen.
Der alt man.
Die liebe stilk vns gwiss khein dieb.
Der jung gsell.
Hurtig, ich bin ein junger hach,
2SS mitt hipschen frewlen wag ich. die sach;
ein lang zeitt ich ietz trawrig war,
gross freyd hoff ich auffs khinfftig jar.
her Doctor, wist ir nichts dar von,
ob mein freid werd ein firgang hon?
830 mein ding ist nichts, dan hurtig sein,
mein lust z& hipschen frewelein.
ir priempt euch einer newen khonst,
sagt her, ob mein lust sey vm sonst;
ich gsich ein frewlen, die mein wardt.
935 gott griess euch, schöne jungfraw zartt,
last vns ein klein dentzle thoni
mein hertz, das gib ich euch zum Ion.
Jungfraw.
Ach junger knab, meim hertz ein freid,
bey euch vergiss ich all mein leid!
S40 ewr bitt khan ich nitt schlagen ab,
wolt gott, das solchs gsech alle tag!
vm euch furtt ich fil manche klag,
ewr gstalt lang in meim hertzen lag.
Dantz.
Junggsell.
Ich dankh euch vm ewm dantz gar schon,
3^ bitt euch, ir weltt mich nitt verlon.
217 euch fehU Es. 994 hach = Gesell.
Baechtold, Quellen zu * Aller Praktik Grossmutter'. 217
[Bl. 22^] dan mein hertz gegen euch entzendt,
auss hitz vnd liebe das selb brendt;
allein das statt an ewerm will,
geliept es euch, gend mir ein zil.
850 was wend mir auflf den Doctor harren?
er macht vns mitt im aucli zu narren,
er radtetty das er selbs nitt thutt,
wen das euch gliept, die sach ist gutt.
Voigt mir, das gstirn gitt khein Verzug,
355 der Doctor dreipt mitt dem betrug.
.2. bawr.
vngott, ich derfts schier mitt dir hon!
far du mitt deinem lieb dar von!
der Doctor mecht dir anders radten,
zu lest derfl es dir ybler gradten.
860 was ist der doctor für ein man,
so er schon dwirm vertreyben khan !
mein gfatter nimpt ein knollen kreidt,
jrn khinden in eim essig geidt,
das ronipt den magen binden auss,
265 drey spennig wirm dreipt sy in* drauss.
was dariT man dan des Doctors vil,
die weil das gstirn vns all wol will?
bawr.
lug, lug, stoss dhend nitt ztieff in teig,
das man vns nitt den narren zeig!
a7i) gwiss werden sy vns anders bachen.
das mir des selb nitt werden glachen;
der doctor khan on das noch vil,
das er ietz selb anzeigen wil.
narr, zum bawren.
Es gfelt mir wol die meinüg dein,
875 mein narr da spottet auch vor mein.
zum .2. narren.
kherst du, gauch, was man ist sagen?
ich solt dir ietz dein grind zerschlagen,
wen du nitt werest narren gschlecht.
Nach y. 256 gibt die Hs. den gestrichenen Vers: ich radt, Ifig,
das dein lieb megst hon. 26i Die Würmer. 27 1 des] das Hs,
876 kherst du = hörst du.
Yiertoyahnchrift fOi litteratargeschiobte lU 15
218 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter*.
Der ander narr.
Darumb so lass mich ietz bey recht,
»80 mein kolb der wirdt dir sonst wol lause,
wirdt auch dein har nach lust verzausen,
ich bin ein narr, du hast khein witz,
auss meiner bruch nem dir ein bilz!
narr,
friss, was ich auss den hosen schwitz!
Ein lands knecht.
38& was ficht mich an das gauckhel spil?
narren vnd frawen acht ich nitt vil,
ein frischer krieg vnd khieler wein
allein erfreytt das hertze mein.
[Bl. 22^1 darumb, her doctor, klag ich das,
290 das ietz lang zeitt khein krieg nitt was;
doch muss ich leben in dem bauss,
meim seckhel ist der boden auss.
man sagt mir weidt von ewer 1er,
darumb ich auch bin zogen her,
295 au(T das ich selbs von euch vernem,
obs khinfftig jar khein kriegslüff khem;
on krieg khan ichs nitt mer ertragen.
zSm Schweitzer.
mein bruder hie thutt auch das klagen.
Der Schweitzer.
furwar, das ist mein höchste klag,
300 die ich mag han auft disen tag,
ich bin ein junger gstandner man,
das ich nitt ietz ein hauptman han;
mein lust allein ist in dem krieg,
das man einander köpf zerschlieg;
305 mein leib den wag ich auch daran,
drey man die darff ich dapfer pstan;
on krieg versom ich nur mein zeitt,
glitt leben nichts dan wal holtz geitt.
zfim landsknecht.
klierst du, ich han das nitt vergessen,
310 das bey dir selbs des bist vermessen,
als ob ein Schwab mein bruder wer.
ich radt dir, red das nimer mer!
*i8s bruoch, Hose. 308 walbolz, das Holz zum Durchwalken.
Baechiold, Quellen zu 'Aller Praktik Qrossniutter*. 219
Der landsknecht.
Ein gsell ist doch des andern werdt.
gfelt dir das nitt, so greiff zum schwerdt.
Schweitzer.
315 Die weil dir sonst nichts anders brist,
so wer dich mein, als starckh du bisti
narr schreitt: frid.
landknecht.
Das ist ietzunder kriegisch sitt,
das man ein ander vm Verzeihung bitt.
bietten ein ander die hend.
Ein aller Jud.
mein stam der khompt von Juden her,
S30 verworfen ist gantz vnser 1er,
khein gwalt noch gutt lalt man vns zfi,
des ich mich ser beklagen thS.
mein narung was auff wucher gleitt,
die selb ist mir ietz auch verseitt.
325 vil Gristen, die mich band verflucht,
das ich mitt dem mein narung sucht,
die nemend solchen wucher auflf,
ein ieder will mer treyben draufT;
[Bl. 23*] finf krönen was vor hin mein gwin,
330 von hundert gond ietz zweintzig hin.
die Gristen nemend mir mein spiess.
wen man in' nur auch das rengle liess!
da bey man auch erkhennen mecht
das new aufTgstanden Juden gschlecht;
335 jch khan nit pleiben bey meim stand,
dieweii das khompt in cristen band.
her Doctor, darumb bin ich hie,
das ich von euch erfaren thie,
wa doch mein glückh dis jar werd sein,
340 das ich nitt gar khom vm das mein.
Narr.
gherst du, jud, was ich beger?
zwen wirfei gib mir hurtig her,
wies dan alweg der brauch ist gsin,
sonst zeig ich dir den kolben min!
15*
220 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter*.
Jud.
345 Ach, ach, ietzund khompt es dar zu,
die narre lond mir auch khein rfi!
seh hin, da hast ein hipscher par,
bin ich iedoch verachtett gar.
Narr.
welcher ist so dapfer man,
350 der mir ein vmbschantz halten khan?
ein par filtzleis wag ich dran.
die narren spilen.
Ein Edelman.
jch hab nur ghert ietz vil der klag,
was iedem in seim hertzen lag,
was triepsal vnd was khimernuss,
3&& was iedes gschlecht hab für vertruss.
drumb khan ich das nitt vnderian,
her Doctor, euch auch ghen zverstan,
das der was priempt in allen landt,
der von seim stam was edel gnandt,
3<» des gleichen auch das gschlecht ist gsin,
von denen ich geboren bin;
sy wasend hoch von iedem g*acht,
sy lepten all in grosser macht,
das will ietz nitt mer förgang han,
365 khem bawr der gsech vns ietz mer an;
wer nott, das mir uns thätten duckhen,
ein ieder will vns vnderdruckhen.
sey edel hin, sey edel her,
wolt schier, das ich ein bawrsman wer.
370 den namen habend mir allein,
den gwalt vnd bracht nemend ander ein:
jn suma, es khompt ietz da hin,
ein ieder bawr will edel sin.
weiss nitt, wie ich das soll verstan.
375 sagend doch, her, wie wirdts khinftig gan!
[Bl. 23^»] Der Doctor.
Ewr frag von mir han ich vemhon,
von allen, die send zu mir khon.
au(T das soll ieder nemen ab,
warauss mein khonst, wa von ich sag.
361 bin] boren Hs*
Baechiold, Quellen zu *Aller Praktik Grossmutter'. 221
380 Sag nitt von einem gauckhel spil,
vom gstirn ich als probieren wil.
mein spher hab ich als vmher gwindt,
mein arslap auch, darfn man findt
föl wiest vnd sawr Coniunction,
385 der lufft ist gantz vergifl davon;
darzfi ist mars im finster hauss,
macht dir den durstupf dnacht hinauss.
nitt weytt vom mars die venus statt,
vm schleckh loch hewr sein circel gatt.
390 da schluckh den dreckh vnd luna ist
auss disem loch, mein khonst als iss.
ein finsternuss khompt auch schier gantz,
die ist nitt weytt vom drecken schwantz,
facht an vm sechsen in der nacht;
395 hertt auff, wens wider sechsen Schlacht.
darumb die finsternuss im mon
vnd ander schwer Coniunction,
als dir mein bractic hie för schreipt,
ful vnglickh, krieg vnd sterbett geitt.
*oo das wüll ich euch ietz zeigen an.
in gschriften megt irs auch da han.
da zeigt er in' die kalender.
iedoch von erst auff ewer klag
eim ieden ich sein antwortt sag.
Zum edelman.
her junckher, khomend her zu mir!
405 dein frag will ich erkleren dir:
man wirdt euch dis jar khorsam sein,
doch nur dein knecht, der mäss es thein.
vom stamen hewr khein junckher bist,
vom gfitt allein man Edel ist;
410 fQl Edel miessend zwilch antragen,
die bawren gwer mitt silber pschlagen,
des bavn-en rockh mitt samett psetzt,
des junckhers hosen wol gebletzt,
in daffett khompt der bawr bekleitt,
415 zäm schlam vnd dampf ist er auch preitt:
jn suma, was der adel thStt,
ist hewr dem bawren recht vnd g&tt,
dunckt sich dar zu ofift heher sein,
sein pflüg wirdt sein der beste wein;
407 Der muss es thun. 4i5 Zum Schlemmen und Dämpfen.
417 über hewr steht in der B». ietz.
222 Baechtold, Quellen zu ^Aller Praktik Gro8smutter\
[Bl. 24^] die freyheitt gwisslich das jar macht,
das ir im adel werdt veracht.
nur merckhend ietz die tugendt ab,
die s^ khinftig jar der adel hab:
erstlich ziagen auff dem disch
425 rebhiener, wachtlen vnd gätt fisch,
wildenthen, hasen vnd phasan,
solch thugendt ieder junckher khan;
jm beth zhurnieren sind sy grist,
das niemand zlest in* schuldig ist.
Zum Jaden.
430 vnd du, Jud, das dich hast beklagt,
dein gschlecht von cristen werd veriagt,
so sag ich dir vnd glaub mir frey,
das solchs des gstirns anzeigung sey:
dein wöcher wirdt dis jar sein schlecht,
435 das macht, bin cristen ist es recht,
mitt Wucher sy yber diuden sind,
jn suma, gelt macht manchen blind.
Zum Jungen gsellen vnd jungfrawen.
vom jungen gsellen find ich auch,
zu hipschen medlen im wirdt gauch,
440 sein frewd vnd sin wirdt gen ir stan,
die jungfraw werdt gross argwon han;
dan feischlich man auf! vil erdicht,
sie sey ein jungfraw vnd ist nicht;
die jungfraw auch khein r& wirdt han,
445 bis sy ein jungen halt zum man.
Zum alten.
den alten man sy gar veracht,
sy merckt, das er nitt mer hatt macht;
mitt detschlen, kissen rieht ers auss,
die weil lertt sy im deschen auss.
Zum b&ler.
450 vil ander werdt auch vnder stan,
ob sy das frewlen mechten han,
so Ifig vm gelt, das radt ich dir,
dan on das gelt must hinder thir.
Zum alten weyb.
Das alt weyb wirdt das selb nitt achten,
439 gauch = gftch. 440 frewd] fred Hb,
Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter'. 223
4!>& dem man allein sy nach ist trachten,
[Bl. 24*»] sy gibt im gelt, bis er wirdl reich,
das er Ir nur den kautzen streich;
also dis jar der weyber artt
ingmein alweg gen Qiannen statt.
Der bawr.
460 bey goll, bey goU, er radtett wol,
er steckhett alier khinsten vol!
mein grietta hatt auch solche artt,
wen ich lang schlaff, rauffts mich beim hart;
sy latt mir in dem betth khein ru,
46.*) bis ich irs nest verzausen th8.
Der narr ist krauck, den dreitt der ander zum Doctor.
gsich, Doctor, was dem esel brist,
das er also bauchstessig ist,
er hatt den donner in dem bauch,
der blitz vnd straal steckt in im auch,
470 der stral schlecht im zum mars hinauss:
ich ein hagel volg darauss.
Doctor.
Der khranckheitt will ich helfen schon:
nim feigen, die von esel khon,
ein quintlen hosen hecht darbey,
475 zwen winckhel karpfen oder drey,
zerknitsch das vndern zenen wol
vnd stoss im beide backhen vol,
br8ch grundlen gib im niechter ein,
er wirdt gar bald friss vnd gsund sein,
480 doch trag in vor zum krömer gleich,
das er im seins sawr senf ein streich!
ietz macht der nar vnd krömer bossen vngfar.
Der Doctor zum volg.
Narrstottels schript ein regel für,
zu alle kranckheitt nutzt sy dir;
er sagt: die kranckheitt fieich all stund,
485 die selbe weil pleipst du gesund!
volgst dan mir nitt, so sag ich das:
der durstupf schlecht dir gleich in ars,
die rott rSr, wie mans nemen will,
gitt knollen, wie hackhmesser stil.
487 durstupf: s. o. V. 387, dUHs. gibt dursupf. 489 über gitt »Uht
in der Hs. iss.
224 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Qrossmutier'.
Vom wetter.
490 mein bracdic weist auch weitter auss
vom wetter dis gantz jar hinauss,
als nämlich: auff den windter kalt,
im sumer beltz ind kisten phalt,
[Bl. 25*] dan warm vnd regen werdt mir hon,
495 dar zwischen wirdt offt schöne khon;
vm die zeitt wechst vil gras vnd klee,
jm windter gibt es eisch vnd schnee.
der wind wirdt wehen durchs gantz jar,
das bissen vm den ars vngfar.
&00 nach regen nem der schöne acht,
dsonn scheindt beim tag, der mö zur nacht.
Von frichten vnd thewre.
auss disem wetter, liebe frind,
als ich in meiner bractic find,
band fricht vnd sonderlich das khorn
&05 khein fÜrgang in den spitzig dorn,
auff herten felsen hatts khein pstand,
doch in eim gätten fruchtbar land,
wen gott gnad gibt, vnd hasts bawt wol,
so filst du all dein spicher vol.
510 khein gleicher khauff wirdt pleiben hewr,
von wolfle steigts gleich auff, wirdt thewr;
das wirdt auch gschehen mitt dem wein,
jm schwartzwald wirdt des wenig sein;
an ander orth wirdt zimlich ston,
515 das man zfir notturft gnäg mecht hon,
wens eir dem andern gennen weth
in lieb vnd trew im theilen thett.
die kraft des wins, nem eben ab,
wirdt werfen vil die stegen ab,
&20 den seckhel leren bis auff den grundt,
vorab, wen khartt vnd wirfei khundt.
ziblen, knoblauch vnd kuchen speis
dis jar z8 Strassburg hatt den breis.
von thewre des methall vnd khauffmanschatz.
von gelt merckh aber disen pscheid,
595 das mir von hertzen selbs ist leid,
doch weiss ich khonst vnd sag dir frey:
gold wirdt hewr gelten mer dan pley,
das siJber wirdt her gacht dan zin,
ist gwiss, gedenckh der weyssag min;
528 höber geachtet als Zinn.
Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Groesmutter'. 225
530 das khupfer wird! auch mächtig thewr,
das macht, es gibt der müntz ein stewr,
darumb wirdt mangel in der weht
dis jar wie vor alweg im geltt.
khein khauffman wirdt so vnbedacht,
'»SA der dis jar sein war selbs veracht;
aufT borg must alles thewrer han,
dan so du bar gelt gebest dran.
[Bl. 25»] lands knecht.
botz marter, du sagst bese meer!
ich hab khein gelt vnd weiss kheins mer,
MO von frischem krieg wilt mir nitt sagen,
ich wirdt dir bald die hawt zerschlagen.
Doctor, TOD krieg vnd findschafitt.
gross findschafft dis jar werden han
der giert mitt dem gemeinen man,
der adel vnd das volck im land,
545 der from beym bösen hatt khein pstäd;
dans volck dermassen hewr verkhertt,
ie eyr des andern gutts begertt,
ie eins das ander vnder druckt:
der knecht legt die magt aufT den ruck.
550 das kissi m8ss sein vnderm mars,
wer sterckher ist der söllichs frass;
die katz auss findschafft wist auft mauss,
der han auss hoffart fleigt aufs hauss.
der gleichen krieg hatt hewr khein endt,
555 bis man die nachgend stuekh all fendt:
ein bader, der nie gschwitzett hab,
rossdeischler, der khein lug. dar gab,
ein furman, der nitt schweren thutt,
vnd staub vons fromen miliers hätt;
560 oder fmdst zwen berg on ein thal,
so wirdt gleich frid sein yberal.
kriegsman Schweitzer zum landsknecht.
jch sich, das als vnmQglich ist,
darumb eins kriegs du sicher bist,
das khompt vns auss der massen wol.
565 khom, mir wend vns drauff saufen vol!
Nach V. 553 stehfc in der Hs. der gestrichene Vers: nach dir
khompt gleich der pfaff ins haus. S62 sich fehU Hs.
226 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter'.
Doctor von ettlichen lender in sonderheitt vnd in gmein
durchs gantz land.
merckt von lendem in sonderheitt,
was auch mein bracdic durs land auss seitt!
wen dmeissner leiss nitt seind im ban,
wernd vnger hewr gross findschafift han;
570 Thüringer, franckh vnd Sachsen land
den butter hewr nitt gend von band;
gross drinckh wernd sy auch nitt vermeiden,
[Bl. 26*] das hier muss in* den durst vertreyben,
das auch den beyr vnd Schwaben brist,
575 dan schlech gsaft gutt, wa nitt wein ist.
zu niermberg auff das khinftig jar
vi! vngieich kheiff findst du fürwar,
ein centner wachs wirdt gelten mer,
weder ein Zentner wagen schmer.
580 jn der eydnoschaft dis khinftig zeitt,
so kh& vil milch vnd anckhen geitt,
oder band sy vil rend vnd megt vil kesen,
so werden sy hewr vil gelt lesen,
jn allen landen von fulen acht,
585 das sy dunckt kürzer tag dan nacht,
entgegen dem taglener auch,
zum beth vnd essen wirdt sein gouch.
galt einzenemen wirdt ieder grist,
aussgeben seer vertrisslich ist.
5ao wer nitt hab win, soll das betrachten,
das Wasser er nitt thie verachten;
vil besser wirdt sein nider gan,
dan zu morg vom beth auff stan.
jm Hhin verstickt kheir, sag ich frey,
595 so feer, das er verfroren sey;
jm heissen bad wirst nitt verfrieren;
reich, arm wernd gleich ir leben verlieren.
Narr.
Du magst mir wol ein gauckler sein;
Bracticierst vnd machst khein narren drein,
600 hast gsen ein spil, so sag mir das,
das nitt mitt narren gspickhett was.
Doctor von wunder gschicht.
vil wunder gschehen in dem jar:
vm liechtmess wirdt ein gleiff vngfar,
die narren werden wolfeil sein,
575 Schlehensaft. 58? vgl. zu 489. 694 Hhin] rim Hs,
Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik 6ro8smutter\ 227
605 schier bis vmb mitterfast hinein;
jm samstag nach dem Car freitag
wirst heren grosses gschrey vnd klag,
on blutt vergiessen nempts khein endt,
beim lermen man vil khuttlen findt.
610 jm nechsten freitag gleich, merckh wol,
die hund werd sein all schreckhes vol:
[Bl. 26**] si ferchtend, fast khom widerumb,
band sorg, bis in ein fleischtag khom.
zu Speir vorm minster gsicht man hewr
615 vm weyhenacht ein grosses fewr.
ein schwartze khu auch weiss milch gitt,
das thätt ein rottes menchle nitt.
mein bracdic halt also ein end.
all vnser vnseld gott abwend!
Doctors knecht.
620 jetzund, ir herren all gemein,
gleich wie ir hie versaralett sein,
ir hond, als ich glaub, wol vernhon
die khonst, so von dem doctor khon,
er hatt sich lang on schlaffen gleidt,
635 bis er die hatt zesamen dreidt;
von arslap bis gen supfloch auss
hatt er die dreckh khonst zogen auss,
glitt gsellen zdienst das selb er thutt.
nempt ir mitt dem also vergfitt!
630 kheim zlieb noch zleid hond mir das gspilt,
zur fasnacht solche kurtzweil gilt.
das ist, ir herren, vnser pscheid.
gott phiett vns alle sampt vor leid!
Amen.
Der krömer mag sein spnich, wie oben statt, durch
all gassen brauchen.
Ein ieder mag sein spruch meren oder mendem, nach
dem sich die bossen schickhen
Das ist gmacht au£b schlechtest, g{itt gsellen megens
besseren nach irm gedunckhen.
3.
Qoedeke, Pamph. Gengenbach S. 526 f. war der An-
sicht, dass der Pischartsche Abschnitt 'von den zwölf Mo-
617 menchle, verschnittener Hengst; Wallach. 626 Der Vers ist
in der Hs. gestrichen.
228 Baechtold, Quellen zu *Aller Praktik Grossmutter*.
naten', zumal in der späteren Bearbeitung, der Practica
Practicarum des Job. Nas von 1572 entlebnt sei. Wacker-
nagel, Job. Fiscbart S. 67 Anm. 148 vermuthete, Nasus und
Fischart hätten eine und dieselbe ältere Quelle benutzt.
Dem ist in der That so: beiden lag eine ältere schweize-
rische Praktik auf das Jahr 1565 vor, deren Verfasser der
Berner Johannes Weiermann ist. Nas und Fischart
benutzten daraus vornehmlich die Monate Januar, April,
Mai, Juni, August, September, October und December.
Ein Hans Weiermann erscheint nach Leu, helv. Lexicon
19^399 als Landvogt und Venner in Bern zwischen 1576 und
1604. Ein Schulmeister Niclaus Weiermann ist als Verfasser
zweier geistlicher Lieder von 1564 bekannt; vgl. Wellers
Annalen 2, 152; Grüneisen, N. Manuel S. 212. 230. Von
der Praktik des Johannes Weiermann besitzt die Züricher
Stadtbibliothek zwei verschiedene Ausgaben:
A. Die unten abgedruckte vom Jahre 1564. Ent-
halten in dem Sammelbande Mscr. S 108.
B, Eine etwas spätere Ausgabe, enthalten in Mscr.
F 171. 8 Bll. Ihr Titel lautet:
Practica auff { das künfTtig jar, von körn, | win, vn andern fruchten,
auch { von kranckheitten, kriegen, tod, J thüre, vn' andern dingen,
so sich I alls zebesorgen, allenthalbe | zutragen werden. | Durch D.
Hanss Wyerman, der siben fulen künsten meister, | in der
nechsten Statt bey Chillion, do man die | hürling facht. | Mit
priuilegium auff 12. monat | nit nach zetrucken, aber wol | ab-
zeschryben.
[Rückseite:] M. Cato Vticensis. | [Holzschnitt: Der Doctor
sitzt vor einem Bücherpult.] | Interpone tuis interdum gaudia
curis, I Vt possis animo qu^uis sufferre laborem.
Auch von dieser seltenen Praktik folgt hier ein Ab-
druck nach A.
Practica. | Vff das M. D. LXV. Jar, | Von künfftigen
Thüre vnd anderen
zfi besorgen, alient-
Kranckheyten, Kriegen, Todt,
dingen, so sich diss Jars, alls
halben zätragen | werdend, etc. | Planeten vnd Re-
genten I disers Jars. | Hoffart. [dazu Holzschnitt.] 5
Gytt. [dazu Holzschnitt.] | Durch Johannem Wyerman,
der sybenj fulen Künsten ein Meyster.
1 Die Querstriche des Druckes wurden hier überall durch Kom-
mata ersetzt.
Baechiold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter*. 229
Dem Eerenuesten Fürsichtigö) Ersamen, Wysen Sulpitio BrOggler,
Burgern zä Bern minem Eerenden vnd gebiettenden Junckern, etc.
ERenuester, Fürgeliebter, günstiger Juncker, Diewyl ich un-
gezTvyfflet vergwüsset bin, das üch von angeborner natur har die
5 waarheyt fast angnäm ist, vnd für ein kostlich kleinot by üch
gehalten wirt, dargegen das üch die zwiffel verdunckleten ge-
förbten vnnd zwyspaltigen wort fast widerig synd, wölcher sich
der meertheyl, deren, so z8 vnseren zyten die Practica und Pro-
nosticationen schrybend gebruchend: So han ich der waarheyt
10 zlyeb, vnd üwer Veste zu ehren, dise volgende Practica gestelt,
vnd durch die Monat nach Ordnung vssgetheylt, in hoffnung, jr
werdind den raeerentheyl, so darinn begriffen, waarhafTtig finde;
dem Allmächtigen Gott syge syn gwalt vorbhalten. Vnd wie
wol durch Herren Doctor Ada von Bodensteyn vnd andere, Mars
15 und Luna für Regent^ diss Jars dargstelt werdend, so find ich
doch durch myn Galculation zwen ander Planeten, wölche gwüss-
lich diss Jars Regieren werdend. Nämlich der Gytt vnd die
Hoffart, das wirt mengklich sähen ; und diewyl ich nun lange zyt
har üwer tugend vnd sänfftmüttigkeyt by mir vnuerdient em-
20 pfunden, so han ich gern üch ails mynem Eerenden vnnd ge-
biettenden Junckern diss myn werck wollen zustelle, in hoff-
nung, jr werdind söUichs in gnaden, als von üwerm geneygten
Diener, von mir vffnemmen vnd empfahen vnnd nach üwer
wysshyt die fäler Gorrigieren, etc. Der Allmächtig Gott wolle
9s üch allzyt in synen Göttlichen gnaden erhalten. Datum zu Ghillion
im vestem Huss den XII. October im 1563. Jar durch üweren
kleinf&gen vnd gantz güttwilligen
Diener Johannes Wyerman,
der syben fulen künsten Doctor.
30 Der Mars ist gantz Kriegischer art,
Zanck vnd hader anzrichten sich nit spart.
[Holzschnitt '-.Marsf]
1 Brüggler] Brdckler B 4 vergwüsset] vor gewiast B har
fehÜ B 6 zwiffel] zwiffel ten B 8 deren] der B Practica] Prack-
ticken B 9 schrybend] scbribendten B vi begriffen] vergriffen B
13 — 15 Vnnd wiewol die Astrologen Mars vnd Jupiter für regenten u. 8. f. B
16—18 wölche] welliche gewisslicb diss jars in der gantzen weit reg^ieren
werden, nämlich der Gyt, vn die Hoffart, der ein ist generis foemi-
nini, der ander masculini. Vnd dieweill ich u. s. /*. B i9 vnuerdient
gespürt vnd empfunden B 20 vnd geliebten Junckeren B 22 söl-
lichs von mir in gnaden, als von eüwerm geneigten Diener auffnemen
vnd nach eüwer Wyssheit die f%Iler corregieren B 26 im] in dem
vesten Hauss den zwelffben Wintermonats durch eüwem B 30—31
fthH B
230 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter'.
I. Jenner.
Im Jenner wirt es kalt, tr&b vnnd trochen sein, es wirt
meer schnee vff den Bergen gesähen werden, dann vff dem
Jenffer See, vnnd meer yss dann im Ängsten; die Schnecken
werdend mächtig ballen , es wirt sy aber nit vil lötten hören ; s
jedoch wirt man in disem Monat gr&n äbbich, Thannen, Buchss-
böum un Palmen finden; das fhür wirt meer hitz gäben dann
die Sonnen, es wirt ouch dem menschen besser syn, dan die
grime kelte. du solt dich disen Monat warm halten by dem
fhür oder warmen Ofen mit feyssten Kappunen. bratwtirsten, lo
Pomerantzen, Kestenen, s&ssem RyfTwyn, mit gitter gesellschafill
vn schöne fröwhnö.
IL Hornung.
Im Hornung trinck den besten Wyn, so du jn haben magst,
fach am morgen fr& an, so magstu den gantzä tag voll syn. es 15
werdend disen Monat vil lütten das zitterend Kaltwee haben, in-
sonders aber die, so barffiss im. schnee wandlen m&ssendt vnd
liechtlich bekleidt sindt; yedoch wirt jnen mit holtz und strouw
wol vnd fast bald mögen widerumb geholffen werden, so das
mit fhür vermischt wirt. es werdend in disem Monat vil böser 20
Practicken vnd anschleg beschächen ; es wirt mancher syn eygen
vnglück wünschen; es werdend vil Pfaffen an statt der ersten
Mess die letste singen.
III. Mertz.
Im Mertzen soitu weydlich ynnemmen für die würm: Bur- 25
gundischer wyn, Ryfifwyn, Rotten Wallis wyn, Martynacher syndt
fast gSt darzu, dess solt du zu yedem trunck ein halb massig
glass vol niessen, so wirst du jhren dester minder innen werden,
h&t dich ouch vor Zürich wyn, Klingnouwer, Hochbirger, etc.
Gutte vnd wol gekochte spyss mit specery wirt dir fast nutzlich so
syn, magstu sy aber nit ankommen, so iss ein dicken Haber-
bry, der fült dir ouch den buch. Crocodillen, Tracken, Lindt-
würm, Schlangen, Krotten, Scorpionen, Spinnen vnd derglichen
thier sind im Mertze alle vergyflft. es werdend inn disem Monat
2 kalt , trochen vnd trüb syn B 4 yss gefunden , dan B
5 lütten] lüt B 6 äbich , balmen , buchssbaum vnnd thannen B
8 Vnd wirt den menschen B 11 Ryf win , gStte gselschafft , mit
frommen vnd hüpschen fröuwlinen B 1» Es werden in disem B
16 zitterend] zittret B insonders] in Sonderheit B 19 — 20 bald (so
das mit führ vermischlet wirt) mögen geholffen werden. Es werdend B
25 Burgundischen win, rotten Walliswin B 29 ouch fehlt B so wol
kocbette B 31 aber feMt B
Baechtold, Quellen zu ^ Aller Praktik Grossinti tter\ 23t
vil lütten in der gantzen weit stfirben, aber allein die, so in
diser zyt nit länger laben mögend.
1111. Aprel.
Im Aprellen wirt meer blust syn dan sonst im gantzen Jar.
i> Es ist gSt lassen, insonders was man nit bebalten mag; schräpffen
an heymlicben orten wirt vil gebrucht werden; bade ist gut den
unrath abzuwaschen, yedoch so wirt (Am) der ynflatt an etlichen
menschen so starck bafTten, das er weder mit warmem wasser,
lougen, seyfTen noch andern dingen, vnd ob man schon ein
10 sandribel darzu bruchte, nit möchte ab jnen geryben werden,
bruch diss Monats Wermut, Cardenbenedicten, insonders aber das
Edel tusendguldenkrut, so du es haben magst, dan es ist nutz-
licher vnd besser dann die andern alle.
V. Mey.
15 Der holdsälig Mey wirt vil wermer syn, dann der ver-
schinen Hornung; er wirt zfim theyl focht syn, yedoch so wirt
es niemer nesser syn, dann wann es regnet, hflt dich vor aller-
ley kranckhyten, das wirt dir fast gsundt syn. man wirt meer
gr&ner bletter sehen vnnd krut vss der Erden schliefTen in
20 disem Monat, dann hieuor durch den gantzen winter. wyb vnd
mann werdend sich in diser lieblichen zyt mächtig paren, daruss
dann volgen wird, das die wyber und Mägt vfTgan und ge-
schwällen werdend, wölliche geschwulst vor nun Monaten gar
kQmerlich mag vertryben werden, vnnd nach verschiner zyt wirt
n jnen mit der hiliT Gottes widerumb möge geholffen werden , ye-
doch so wirt Doctor Agnes vil meer darzu berfifft werden zu
helfTen, dann Doctor StelTan.
VI. Brachmonat.
Brachmonat wirt warm, LufTtig vnd mit Ragen vermischt
30 syn, vil mordt, diebstal vnnd brandt, sampt anderen unbillichen
Sachen werdend sich vnder dem schyn der Religion zutragen,
der vnheylig Bapst zu Rom der wirt in grossen sorge slan, ye-
doch so wirt er hillT gnug finde, syn Apostolischen stul zu be-
waren, sampt sinen mithafften, diewyl die Guldinen vnd Silbe-
t vil lütt sterben, ja in der gantzen weit, aber B 5 insonders]
insonderheit dass man nit erhalten mag B 7 etlichen] etlich B
9 schon] gleich B lo nitt wirt mögen ab inen B n diss Monats
fehlt B 12 nützlicher weder die andern alle B 16 sin, so wirt es
aber nimmer nässer B i9 blätter an den böumen sehen in disen
monat vn kraut B -Jb Gottes geholffen werden B 36 so fehlt B
z& helffen fdilt B 29 regen auch vermischlet sin B 32 unheylig
fdUt B Rom wirt B 33 so fehlt B 34 sampt] mit B
232 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutier*.
rinen Kleinot werend; so bald aber die selbigß verschwindint, so
wirt die frändtschafift syner nottheliTeren ein end haben vn der
gross yfer, den sy zu seiner vnheylligkeyt trage, ouch verstieben,
in ansehen, das er syn vrsprung von zeitlichen dingen empfangen
hat. Item es wirt mit tröwen, bochen, schweeren vnd vntruw 5
wenig guts vssgericht werden, in disem Monat werdend aller-
meerest thäler zwischen den Bergen erfunde werden, wölches
allen denen, so das vorhin nie gesähen, gantz nuw vnnd seltzam
sin v^rt. der Bodensee wirt diss Monats dermassen mit wasser
überdeckt sin , das man von Costantz biss gan Brägentz on vss- lo
lenden schiffen mag.
VII. Höwmonat.
Der Höwmonat ist an jm selbs ein herte vnnd fast schwäre
zyt, desshalb alle Melancolische fantasten, waanwitzigen, die sich
selbs one verhörung jrer nachpuren vi! r&mend, sich erhebe vnd is
hoch schätze, jre Cutter vnd Tube sollend [sy] fliegen lassen, die
mfiss louffen, die Grillen springen, vnd den Minuten jren gang
lassen; wölcher aber das übersähen wurde, so ist zubesorgen,
der Narr wurde in jm vffwachsen, vnnd diewyl der Meyster z8
Murten, von wägen vile der geschafften sälten anheimsch ist, so so
soll man söllicher dingen wol waarnemmen. es wirt in disem
Monat donneren, haglen vnnd pjitzgen. Gott der Herr wolle es
alles zum besten wenden, hfit dich vor witz, so es dir nit aner-
boren ist, dann es ist ein misslich ding allen denen, die sich
selbs darzu zwingen wollend. 2s
VII. Augstmonat.
Der Augstmonat ist fast hitziger natur, inmassen, das, wan
ein schwartzer Krebs in disem Monat gesotte oder vff der glut
gebraten wirt, so mri er gantz rott. Item die Trubel nemend in
disem Monat mer zä, dan im Jenner, Hornung noch im Mertzen. 30
h&t dich vor Artzny, insonders das du kein Harnischplätz frässest,
dann sy sind gar undöuwig. der hirss wirt diss Monats wol ge-
rathen, für ander mfisskorn vss; man sol aber wol waar nemmen,
das er in disem Monat nit zu heiss gebrucht werde, dann er
1 kleinot] götzen B bald fehit B 3 siner heiligkeit habend B
ö Item fehlt B schweren vnd bochen wenig B 1 den bürgen B
8 80 das hievor nie gsehen gantz neüw sin wirdt B i& sich er-
habend B 16 jr kater vn düben B sy fehU B n und fehU B
18 ist schwerlich B 20 gschefften nit eim jeden gleich auffwischen
kban , sol B 22 monat regnen , vfl plitzgen , thonderen , haglen B
welle diss alles B 23 witz, so es din angeboren natur nitt ist B
24 allen deren die sich selbs darzu halten wellend B 28 uff der gl&t
fdUt B 29 Item fthü B so Hornung vnd Mertzen B 32 sind vast B
diss Monats fdüt B 3S uss fehU B wol fehU B 34 zu fthÜ B
Baechtold, Qaellen zu 'Aller Praktik Grossmutter*. 233
bringt grossen schaden dem verstandt, verbrennt die witz, ver-
dorret die vernunfift; der getrölt Hirss aber ist yederman erloubt.
Ein fülin, das in disem Monat wirt, ist meer wärt, dann ein
gantze zucht Räbh&ner; man wirt in disem Monat meer Fisch
5 im Genffersee fahen, dann Reckholler vögel. Item das Meer
wirt so gross syn, das die gantze. Statt Venedig darmit wirt
vmbfangen syn; man wirt zu Glaris räss zyger machen. Item
die Käss, so vff der Wasserfallen gemacht, werdend den
Plesentinern vnänlich, vnd den Sannenkässen fast vnglych syn
10 an schöne, g&te vnnd grosse; es wirt aber vil meer Milch von
den Kfien gezogen werden, dann von den feysten Ochsen. Item
es wirt ouch in disem Monat besser zfi abend zessen syn in
einem vollen Käller, dann by einem kfilen brunnen vff einem
wyten feld.
ji5 IX. Herpstmonat.
Der Herpstmonat zerstört zum theyl die vorgende grime
hitz, vnd erfrischet den menschen; in disem Monat wirt vil
Räbensafft gesamlet werde; Sant Vrbans plag wirt mächtig re-
gieren; es werdend vil Wallfarten beschähe zu Sanct Ottmars
30 Lägelin; Bachus rych wirt mächtig gezieret, vnnd dess vollen
Fürsten von Lignitz Hoffhaltung vil gedacht werden, es werdend
meer inn sünd verharrender Huren sich vff Sanct Verena tag
gan Zurtzach verf&gen, dan am Jüngsten tag vff der rächten
syten erfunden werden, der meertheyl Ops wirt in disem Monat
25 vil vollkomner vnd ouch besser syn, dann im Brachmonat. Räb-
h&ner, Vrhanen, Wachtle, Reckholteruögel, Tröstlen, Mistler vnd
Ampsslen, werdend vil meer nach frag haben un meer gälten,
dan schiächte Brambeer, Thannzapffen vnd Buttlen. diser Monat
wirt nit vil lenger dann vier wuchen wären. [B]
30 X. Wynmonat.
Der Wynmonat wirt lufflig syn, mit kalten ragen, vff den
Bergen schnee, in den Seen vil wasser. es werdend in der
4 wirt auch diss nionats B 5 Jenffer see B Item fehU B
6 die statt Venedig gentzlich dormit B 7 kässziger B 8 Wasser-
fallen im SohthnrneT Jwra, Item fehtt B lo schöne, grosse vnd
glitte. Jedoch so wirt B milch, ziger vnd ancken B 11—14 Item
— feld fäüt B 16 dise vorgend B 20 und der fQrsten von Lügnuss B,
Zu dieser SteUe vgl. meine GeschidUe der dewtschm Literatur in der Schweiz.
Anm, 92, Es werdent sich mehr thausend verharrender hören auff sant
Yrenen tag zu B u syten des gewaltigen gottes B frücht vnd
opssB 35 und ouch besser /e/iftJ9 imHOwmonatJB 26 Mistler /e^ ^
97 in disem monat mehr B 28 dan die schlechten bntten, bramberi vnd
tanzapfen. Diser monat wirt nitt vil mehr dan B ai lufftig] löufftig B
regen durch miscblet, auff den bürgen vil schnee B 32 Es werden
mehr bürger in der kleinen statt Basel mit hanss sitzen B
Viertsljahnchrift fllr littoratnrgesohichta III 16
234 Baechtold, Quellen zu 'Aller Praktik Grossmutter'.
kleinen statt Basel mer Burger mit huss sitzen, dafi in der
gantzen statt Wiettlispach ; im Tburgöuw werdend nit vil Granat-
öpffel noch Pomerantzen wachsen, aber vil Byrö, wölche, nach
dem sy in dem ßacbofen gedort, werdend sy den nammen Byren
verlieren, vnd Hutzlen genennt werden, sy werdend ouch vff- &
koufft vnd in das Allgöuw gf&rt, daselbs werden sy für Fygen
gessen. es wirt diss Monats meer Lynwaat in der Statt Sanct
Gallen gewäben werde, dan durch das gantz jar Sammat zu
Eglysouw noch Bülach gewäben werde. Item der Bhat der Statt
VJm wirt mit ytel Schwaben besetzt werden; Ghurer welsch wirt lo
in disem Monat nit im Truck vssgan, sy wirt ouch nienen meer
gälten noch geredt werden, dan in Grau wen PQnten. Item ein
haller gutter möntz wirt nit als vil gälten, noch so vil silber
halten, als ein Basel plaphart. Item es wirt ouch mer Wyn im
Thal wachsen, dan in der gantze GrafTschafft Gryers. i&
XL Wintermonat.
Im Wyntermonat wirt es nit viel donneren noch plitzgen,
aber es ist zu besorge, nach dem es sich ansehen lasst, es werde
inn disem Monat meer schnee fallen, dan hieuor von Osteren
biss Sant Michels tag. Es wirt ein grosser tod syn, aber es wirt 20
sich mancher dess tods erfröuwen vnd mit grosser begird der
stund t erwarten , yedoch wirt er fast über die seh wyn vssgan.
Item es wirt in einem gutten arsspect syn, insonders wan
die schwyn feisst vn wol geniest sind, das wirt man dann
glych sehen by dem Aßterdarm. Es werden ouch vil Düppel, 85
Narren vnd Trunckenböltz allenthalben in der gantzen weit ge-
funden werden, inmassen das die, so sich selbs für wyss haltend,
gar kümerlich vnder den Narren mögend erkennt vnd vnder-
scheyden werden ; dann die Esel werdend disers Jar nit all lange
Oren haben, darby man sy erkennen möchte, dan sy werdends so
verborgen by jhn im bfisen tragen ; nim sy waar, so wirst du es
sehen, etc.
2 Wietliabach Dorf im Kanton Bern. 3 noch Pomerantzen
fehU B 4 in den bachöffen gederret B 5 ouch fdüt B 6 gefürt,
vnd daselbst in der vasten für feigen gessen werden B 7 wirt in
disem monat B s werden fehU B 9 Item fMt B 10 wird selten
in jB 12 in den B Ein Friburger haller wirt B u halten] haben B
Item fdüt B ouch fehit B 17 thonderen B 18 besorgen] ge-
denken B 21 vnd der stund mit grosser begirt erwarten B 23 Item
fehU B 24 geniest] gemescht B 24. 25 man sechen gleich bei dem
affter. Es werden vil narren in der gantzen weit sin, in massen B
27 halten, vil zeits gar kummerlich werden mögen von den narren
vnderscheiden werden. Die Esel werden nit alle lang oren tragen,
dan es werden etlich menschen gestalt haben, niA sie B
Baecbtold, Quellen zu *Aller Praktik Orossmutter*. 235
XII. Christmonat.
Der Christmonat wird der letst Monat in disem könfiflige
M. D. LXV. Jar, Vnnd wirt so lang syn vnnd wären, vnnd sich
erstrecken , biss das man zeit M. D. LXVl. Es wirt tr&b vnd
5 trochen syn, yedoch ist zu hoffen, es werden keine Raben vff
dem stockhorn erfrieren, in disem Monat werdend die Hfiner nit
bruntzen, ouch werdend sy keine Tuben eyer leggen. du solt in
disem Monat gäte spyss vnnd den besten Wyn niessen, so du
jn haben magst, magst du es aber nit an kommen, so gang syn
10 gentzlich mfissig, dan es ist ein narrächt fürnämen [Bii] essen vnd
trincken, das man nit hat. der mensch hat wenig bluts in disem
Monat, vnd insonders die zuuor mit dem feber vnd andere
schwären kranckheyten lange zyt sind behaffl gewesen, vnd dar-
durch vss gemärklet worde. h&t dich vor armiit, dann sy bringt
15 vnlust; so sy dich anstiesse, so bruch das hieuor angezogen
tusend gülden krut, das ist fast nutzlich vnd bewärt darz8. vor-
uss aber h&t dich vor sterbe, dann es ist z& besorgen, so du in
disem jar sturbist, du wurdest das nachgender jar nit erlaben,
vnd volgest du miner leer, so wirst du on zwyffel alt werden.
30 Durch den wyt ber&mpten Doctor Johanem Wyerman, der
syben fulen Künsten ein Meyster, in der nächsten Statt by Chil-
lion, da man die Hürling faht, etc.
End diser Practica.
Getruckt zfi Chillion by Meyster | Hans Sältengelt, in der
25 wachtstuben | glych by der wachtkammeren.
Mit Priuilegium vff die zwölff Monat nit | nach zätrucken, by
straaff vnd peen zwölff | thonnen Hürling, etc. | 1564.
Nachtrag zu S. 202. Ich habe nun die deutsche Uber-
setzang der Practica Henrichmans im Anhang der Schwanke
Bebeis 1558 nach dem Münchener Exemplar eingesehen;
sie entspricht wörtlich dem lateinischen Texte.
Zürich. Jacob Baechtold.
1 Wolffmonat B 2 letst syn in disem jar B 3—5 lang syn,
dass er sich erstrecken wirt biss an dz nacbgende jar. Wirt trüb
v& kalt syn B 6 erfrüren B 7 Du solt gutt spys B 9 in hast,
magst du B 12 monat, insonders die so zevor B is gewesen]
gesin B dardurch aussgemercblet B 15 So sy dich aber nitt de-
sterminder anstiesse B I6 darziL Vnd voruss hüt B n es ist
zegedencken, so da in disem monat stirbst B 19 werden. Amen B
20 Gedicht zfi Chillion, in der wachtstuben, bey meister Hanss Selten-
gelt, gleich bey der wachtkannen. [Wappen] eclesiastes cap. III
Omnia tempns habent, etc. tempns flendi, et tempns ridendi. Neqne
omnia omni tempore licent, neque omnibus. J. K. B
16*
236 Po^ Vorbilder ftr Schwiegers 'Veniis*.
ROmisebe Torbilder fOr Sebwiegers
^ebamscbte Yenus".
Jacob Schwieger sagt selbst, dass er zuweilen andere
Poeten als Vorbilder für seine ''Geharnschte Yenns^ ge-
nommen habe, nnd zwar solche, welche die gleichen Stoffe
behandelten wie er. In der 'Zuschrift" nemlich vor dem
zweiten Zehn (Neudruck S. 29) lesen wir:
Wo mich kan ein Beyspiel schflzz»i,
zieh* ich die Poeten an,
die dergleichen auch gethan
mit Ergezzen und mit Nüzzen.
Sein Freund Chirander nennt in seinem 'Zuschreiben^
an Schwieger jene Dichter 'die alten liebenden Poeten^
(S. 7) und rechnet unter ihre Zahl Catull, TibuII, Properz,
Yergil, Horaz und Ovid. So mögen also die wenigen und
schwachen Anklänge Schwiegers an Horaz, auf welche
Arnold Mayer in dieser Yierteljahrschrift 2, 470 f. hinwies,
als Parallelen gelten.^) In ganz erheblich weiterem Um-
fange lässt sich jedoch das you Schwieger betriebene ^An-
ziehen der Poeten^ aus Properz und Tibull belegen.
Beweisend sind hierfQr folgende Stellen:
Liebe, der Poeten Wezz- , n. n « * i»
stein. ^8*- *^'^P^" "' ^' ^ ff-
(Erstes Zehen Nr. 11 S. 14.)
Str. 1.
Warum ich nur von Lieben
die Blätter voll geschrieben,
V. 1 f.
Quaeritis, unde mihi totiens scri-
bantur amores,
^) Vielleicht mOchten sich den gefundenen noch eine oder zwei
Stellen hinzufügen lassen. Das Gedicht Nr. V im zweiten Zehen
(S. 38 f.) 'Hoffart kommt zu Falle' erinnert lebhaft an Horaz Oarm.
IV, 13. Sollten nicht die Verse: *Ku kan ich meinen Schimpff ver^
schmerzen, es trifft dich mein gewünschter Fluch* nicht das Horazi-
sche *Audivere, Lyce, di mea vota, di andivere, Lyce: fis anus* wieder-
geben? — Die letzten Verse der *ZuschrifV vor dem ersten Zehn:
*denn wird Euer Filidor .... über dem Gestirne wallen' (S. 12) rufen
unwillkarlich den letzten Vers von Horaz Carm. I, 1 (Zuschrift an
Maecenas) ins Gedflchtniss: *sublimi feriam sidera vertice".
Puls, Vorbilder för Schwiegers *Venue\
237
Liebe, der Poeten Wezz- ,
stein. ^^*-
Warum mein Buch verzärtlet
lacht:
möchr einer wundernd fragen.
Str. 2.
Der Feuer -hauch der Musen
hat meinen engen Busen
mit solchen Flammen nicht ge-
rührt.
Apoll ist hier nicht Meister,
nicht Pallas, so die Geister
auff Helikons Gebüsche führt.
Properz II, 1, 1 ff.
Unde meus veniat mollis in
ora Über.
V. 3.
Non haec Calliope, non haec
mihi cantat Apollo
Str. 3 u. 4
Str. 5.
Ist wo ihr Leib entblösset:
so bin ich schon beflösset
mit Wasser aus dem Pferde-Guss.
Auf ihr Bewegen, regen,
wächst mir geschwind ent-
gegen
ein Buch, das Troja trozzen muss.
Str. 6
Str. 7.
Der Schiffer schwazzt von Stür
men.
vgl.
V. 4-12.
V. 13 f.
Seu nuda erepto mecum luctatur
amictu.
Tum vero longas condimus
Uiadas.
vgl. V. 19-42.
V. 43.
Navita de venlis . . . [narrat].
Der Hass küsset ja nicht, vgl. Properz I, 8, 27 ff.
(Erstes Zehen Nr. VI S. 21)
Str. 1.
Die ernstliche Strenge steht end-
lich versüsset . . .
Ich habe gewonnen ....
Str. 2.
es fliehe der ächzende kräch-
zende Neid!
Mein Gang ist gegründet auch
über die Sternen,
Str. 4.
Ich habe die Schöne mit nichten
gewonnen
V. 28.
Vicimus: assiduas non tulit
lila preces.
V. 29.
Falsa licet cupidus deponat gau-
dia livor:
V. 43.
Nunc 'mihi summa licet con-
tingere sidera planus :
V. 39.
Hanc ego non auro, non Indis
flectere conchis.
-l-T fc_
238
Pula, Vorbilder für Schwieg^rs *VenuB'.
Der Hass küsset ja nicht, vgl.
mit Solde von Golde, mit Per-
lenem Wehrt ....
Die Zeilen die süssen
aus Pegasus Flüssen
die haben ihr härtliches Hertze
gerührt:
Verliebt, Sinnen-krank, vgl.
(Erstes Zehen Nr. VIII S. 24.)
Str. 1.
Dorinde hat mich erst gelehrt
der edlen Freyheit abzusagen.
Mir war kein Amor je geehrt,
ein Spott der Venus göldner
Wagen.
Str. 3.
Ich spüre, dass die Götter mich
um dessentwegen fliehn und
hassen:
das weiss ich zwar, iedoch kann
ich
diss schlimme Thun nicht
unterlassen.
Str. 4.
Was mir an Jungfern meist be-
liebt,
hass^ ich und strafiT es an der
Meinen :
Das gröste, das mich iezt be-
trübt, . . .
ist ihrer Keuschheit reine
Zucht,
Str. 5.
Der Tag wird mir zur finstern
Nacht,
die Nacht zur Marter, Furcht
und Zagen,
ja zu der Hölle selbst gemacht,
so plagen mich die Liebes-
Plagen
des Tages kann ich auch nichts
schaffen,
so bin ich auff die Lieb* er-
picht.
Properz I, 8, 27 ff.
Sed potui blandi carminis ob-
sequio.
Properz I, 1, 1, ff.
V. 1 f.
Cynthia prima suis miserum
me cepit ocellis
Contactum nullis ante cupidi-
nibus.
V. 7f.
Et mihi iam toto furor hie non
deficit anno.
Cum tamen adversos cogor
habere deos.
V. 5.
. . . me docuit castas odisse
puellas
V. 33.
In me nostra Venus noctes ezer-
cet amaras.
Et nullo vacuus tempore defit
amor.
Puls, Vorbilder für Schwiegers *Veiius\
239
Verliebt, Sinnen-krank, vgl. Proporz I, 1, 1 IT.
Str. 6.
Ach helfft mir, helCfl, wer helffen
kan?
Ich muss sonst heute noch er-
kalten,
tragt mir GefÜngnüss, Marter an,
ich will es auss- ganz willig
-halten.
V. 25 ff.
. . vos, qui sero lapsum revo-
catis, amici,
Quaerite non sani pectoris
auxilia.
Fortiter et ferruni saevos patie-
mur et ignes.
Lass die Verstorbenen ,
ruhen. ^^'
(Zweites Zehen Nr. X S. 45.)
Str. 1.
Stirb FiUdor,
Warum wilstu nicht willig
sterben?
Str. 2.
Zwar Florilis
wird wegen deines Todes lachen,
Sie wird gewiss
sich lustig bey dem Sarge machen,
und auff dem Grabe singen
mit jauchzen und mit springen.
Str. 3.
die abgefaulten Knochen
wird sie auch selbst bepochen.
Properz II, 8, 17 ff.
V. 17 f.
Sic igitur prima moriere aetate,
Properti?
Sed morere
V. 18 f.
.... interitu gaudeat iila tuo.
Exagitet nostros Manes, sectetur
et umbras.
Insultetque rogis
V. 20.
Calcet et ossa mea.
Der verbrannte Amor. vgl. Properz III, 3, 1 ff.
(Drittes Zehen Nr. VI S. 54.)
Str. 1.
Solt* Amor wohl geflügelt sein?
Str. 3.
Er muss wohl halten Stand,
die Federn sind verbrannt.
Str. 4.
Er aber hat selbst Schuld daran,
dass er nicht weiter kann.
Er hat ein Feur in meinem
Herzen
entzündet mit der Liebes-
Kerzen . . .
V. 5.
. . . non frustra ventosas addidit
alas,
V. 14.
. . . certe pennas perdidit ille
suas.
V. 15 f.
Evolat heu nostro quoniam de
pectore nusquam
Assiduusque meo sanguine
bella gerit.
240
Puls, Vorbilder für Schwiegers 'Venus'.
Verzweiffeite Liebe. vgl.
(Sechstes Zehen Nr. I S. 100.)
Str. 3.
Ach! hätte mich der Lebens-
Schwestern eine
umgebracht
die erste Nacht,
als ich noch ohn Vernunft
und kleine
an der Mutter sog
und mein Elend nicht er-
wog.
Nacht-Gläkk. vgl.
(Letzeres Zehen Nr. I S. 117.)
Str. 1.
Lyeus hatte mir den Sinn
durch seines Saütes Zug be-
nommen,
ich gieng und wüste nicht, wo-
hin,
Str. 2.
doch wüst' ich recht nicht, wo
ich war,
so hatte mich der Rausch be-
dekket.
Str. 4.
Sie hätt' ihr aufgelöstes Haubt
unachtsam auff dem Arme
liegen,
Str. 5.
Sie zog den süssen Zimmet-Geist
bald ein, bald haucht sie ihn
zurükke,
Str. 8.
Hie stritte bey mir die Begier,
die Schaam und brünstiges
Verlangen:
sonst hätt' ich diese Götter-Zier
so, wie sie lag, entblösst um-
fangen.
Properz HI, 5, 28 f.
Atque utinam primis animam
me ponere cunis
lussisset quaevis de tribus
una sororl
Properz 1, 3, 1 ff.
V. 9.
Ebria cum multo traherem ve-
stigia Baccho
V.U.
. . nondum etiam sensus deper-
ditus omnes,
V. 8.
Cynthia non certis nixa caput
manibus,
V. 7.
. . . Visa mihi mollem spirare
quietem
V. 13 «f.
Et quamvis duplici correptum
ardore iuberent
Hac Amor hac Liber, durus
uterque deus,
Subiecto leviter positam temptare
lacerto
Osculaque admota sumere
cara manu, . . .
Puls, Vorbilder für Schwiegers * Venus'.
241
Nacht-Glükk.
Str. 9.
dass ich lange Zeit
vgl. Properz I, 3, 1 ff.
allein mit Ansehn war zu-
frieden.
Str. 10.
Nicht Argus gab so eben acht
auff die ihm anvertrauten Kühe,
Str. 11.
Wie oft scholt* ich den Traum-
Gott auss,
wenn sie liess einen Seuffzer
hören,
beförchtend, dass durch einen
Grauss
er ihre Ruhe möchte stören.
Str. 15.
Er [der Mond] schoss^ ihr einen
Demant-straal
in die verschlossnen Augen-
lieder,
V. 19.
. . intentis haerebam fixus ocellis.
Argus
V. 20.
ut ignotis
Inachidos
cornibus
V. 27.
Et quotiens raro duxti suspiria
motu,
obstupui vano credulus auspi-
cio.
Ne qua tibi insolitos portarent
Visa timores . .
V. 31 ff.
luna . .
conpositos levibus radiis patefecit
ocellos.
Der Wein erfreuet des .
Menschen Herz. ^'
Tibull 1,2, 1 ff.
(Fönffles Zehen. Nr. II S. 85.)
Str. 1.
Auff! bringet Wein.
Mein Schmerze will ertränket
sein.
Str. 4.
Du harte Tühr,
verfluchet seystu für und für!
es müssen deine Pfosten
zu ihrem eignem UnheU rosten.
Str. 5.
Diespiter
stürm* über deine Pforten her!
es müssen deine Schwellen
durch seinen Blizz in stükken
schellen.
V. 1.
Adde merum vinoque novos com-
pesce dolores
V. 7.
Janua difßcilis domini, te ver-
beret imber
V. 8.
Te lovis imperio fulmina missa
petant.
242
Puls, Vorbilder für Schwiegere *Venu8'.
Frisch bei der Liebe! vgl. Tibull I, 2, 15 ff.
(Fünfftes Zehen. Nr. III S. 87.)
Str. 2.
Sie lehrt auffKuDst- gemachten
Lettern
zur Liebsten Fenster ein zu
klettemi
die Liebe weiss ein Loch zu
zeigen
in ein verriegelt Hauss zu
steigen.
Str. 3.
Sie kan uns unvermerket führen
durch so viel wolverv^ahrte
Tühren,
den Tritt kan sie so leise lehren,
die Mutter solt' auf Kazzen
schweeren.
Str. 4.
sie lehrt das Bette sacht auf-
heben,
Str. B.
Diss lehrt und sonst vielmehr
das Lieben.
Doch willstu dich im Lieben
üben:
so muss die Faulheit stehn
bey Seite,
die Lieb' erfordert frische
Leute.
(Audendum est ; fortes adiuvat
ipsa Venus)
V. 17.
Ula favet, seu quis luvenis nova
liniina tentat,
V. 18.
seu reserat fixo dente puella
fores.
V.20.
Ula pedem nullo ponere posse
sono [docet],
V. 19.
Ula docet moUi furtim dere-
pere leclo,
V. 23.
Nee docet hoc omnes, sed quos
nee inertia tardat,
Nee vetat obscura surgere
nocte timor.
Nacht-Lied. vgl.
(Fünffles Zehen. Nr. IV S. 88.)
Str. 4.
Der Himmel riss'
auff mein Bekümmernüss
mit Hagel und mit Schlössen,
Str. 5.
Latern und Licht
entdekket mich nur nicht!
kehrt ab das Judas-Feuer.
Tibull 1,2,31 ff.
V. 32.
cum multa decidit imber
aqua.
V. 38.
neu prope fulgenti lumina ferte
face.
Puls, Vorbilder für Schwiegers *Venu8\
243
Nacht-Lied.
Schaut mir nicht nach,
ihr Leute, was ich mach*
ich armer Freyer.
Str. 6.
Geht mich vorbey
und fragt nicht, wer ich sey,
doch, wird mich wer er-
kennen :
Der werde stumm.
Str. 7.
Schweert und beteurt
bey Ammon der da feurt
mit Blizz und Donner-
schlägen :
es sey niemand,
als der euch unbekant
gewest zugegen.
vgl. Tibull I, 2, 31 ff.
V. 35.
Parcite luminibus, seu vir seu
femina fiat
ObTia: celari vult sua furta
Venus.
V. 37.
Neu strepitu terrete pedum neu
quaerite nomen
V. 39.
Si quis et imprudens aspexerit,
occulat ille
V. 40.
Perque deos omnis se memi-
nisse neget.
Treugeliebt, unbetrübt. vgl. Tibull I, 3, 57 ff.
(Fünfftes Zehen. Nr. VII S. 91.)
Str. 1.
Es ist ein Ort in dfistrer Nacht,
wo Pech und blauer Schwefel
brennet, . . .
mit Schlamm und schwarzen
Wasserwogen
ist sein verfluchter Sitz um-
zogen.
Str. 2.
Megera denkt dar Martern auss
mit ihren Schwestern, denen
Schlangen
um die vergifften Schiäffe
hangen.
man höret dar des Zerbers
Brauen.
V. 67 f.
. . . scelerata iacet sedes in nocte
profunda
. . . quamcircum flumina nigra
sonant.
V. 69 f.
Tisiphoneque') impleza feros
pro crinibus angues
Saevit, et buc illuc impia turba
fagit
V. 71.
Tum niger in porta serpentum
Cerberus ore
stridet ...
') Der Name ist von Schwieger durch dea bekannteren Furien^
namen *Megaera' ersetzt.
244
Puls, Vorbilder für Schwiegers 'Venus'.
Treugeliebt, unbetrübt. vgl.
Str. 3.
Ixions Marter-rad ist da
und Tantalus zum Durst ver-
bannet.
der Tizius steht ausgespannet
und wuntscht sein Ende were
nah.
Dar sind die ausgehöhlten
Fässer
in Letens dunkelm Tod-
gewässer.
Str. 4,
Zu dieser Holen ist bestimmt,
wer mit der zarten Liebe
spottet,
wer gegen Amorn au ff- sich-
rottet,
und wieder Venus Waffen nimt,
Str. 5.
Hergegen ist ein grünes Tahl
wo die beblühmten Weste
kühlen.
Hier höret man von Seiten-
spielen
von Lust und Freuden ohne
Zahl.
die Felder blühn in bunten
Nelken
und Rosen , welche nie ver-
welken.
Str. 6.
Hier wehet eine Zimmet-Lufft,
Tibull I, 3, 57 ff.
V. 73 f.
lUic lunonem temptare kionis
ausi
Versantur celeri noxia membra
rota
V. 77 f.
Tantalus est illic, et circum
stagna; sed acrem
lam iam poturi deserit unda
sitim;
V. 75 f.
Porrectusque novem Tityus per
iugera terrae
Assiduas atro viscere pascit
aves.
V. 79 f.
Et Danai proles, Veneris quod
numina laesit,
In Cava Lethaeas dolia portat
aquas.
V. 81 f.
Illic sit, quicumque meos violavit
amores,
Optavit lentas et mihi militias.
V. 58 ff.
Ipsa Venus ducit campos in
Eiysios.
Hie choreae cantusque vigent,
passimque vagantes
Dulce sonant tenui gutture
Carmen aves.
V. 61 f.
totosque per agros
Floret odoratis terra benigna
rosis.
V. 61.
Fert casiam non culta seges . . .
Puls, Vorbilder fiir Schwiegers 'Venus'.
245
Treugeliebty ungetrübt, vgl.
Str. 7.
Hier ist ein milder Liebes- streit,
das junge Volk spielt mit
Jungfrauen
auf Elis bunten Silber-auen.
Str. 8.
Wol dehm , der sich der Lieb'
ergiebt !
der wird bekrönt mit Myrten-
kränzen
geniessen diesen steten Lenzen.
Felder-Preyheit.
(Fünffles Zehen. Nr. VIII S. 93.)
Str. 1.
Die Freud' hat sich aufTs Land
begeben.
Was mach' ich in der Stadt?
Ein Narr ist, der allhier zu
leben
sich überredet hat.
Str. 3.
Selbst Venus wil zur Hirtin
werden
nu sie der Schaffe wacht.
Der Amor fleuget um die Heer-
den
und treibet ein zu Nacht.
Str. 4.
Sollt' ich mich des Pflügens
schämen y
wenn sie mir Essen bringt,
mich um die' Bauren - Arbeit
grämen,
wenn sie zu Abend singt . . .
Str. 5.
Jezt brennt der Sonne heisse
Kerze
im wilden Hundes-stern :
Tibull I, 3, 57 ff.
V. 63 f.
Ac iuvenum series teneris im-
mixta puellis
Ludit, et assidue proelia miscet
Amor.
(Vgl. ob. V. 58.)
V. 65 f.
Ulic est, cuicumque rapax mors
venit amanti.
Et gerit insigni myrtea serta
coma.
vgl.
Tibull II, 3, 1 ff.
V. 1.
Rura meam, Cornute, tenent
villaeque puellam:
Ferrens est, eheu, quisquis
in urbe manet.
V. 3.
Ipsa Venus laetos iam nunc mi-
gravit in agros,
Verbaque aratoris rustica discit
Amor.
V. 5ff.
0 ego, ut aspicerem dominam,
quam fortiter illic
Versarem valido pingue bi-
dente solum
Agricolaeque modo curvum se-
ctarer aratrum,
Dum subigunt steriles arva
colenda boves.
V. 9f.
Nee quererer, quum sol graciles
exureret artus,
246
Puls, Vorbilder för Schwiegera 'Venus'.
Felder-Freyheit.
Was acht ich Hizze, schrunden,
schwerze?
Str. 6.
Zu Delfos schwieg die Pyte
stille,
als Föbus war entbrannt,
Ihm liebt' Admetus Schaaff-ge-
brülle
als Amor ihn verband:
Str. 8.
Die alte Welt wohnt' in den
Hatten
und ass die Eichel-nuss,
Str. 9.
Da war kein Hüter, der die
Pforten
in harte Riegel schloss,
die Freyheit war an allen Orten
in ihrer Freyheit gross,
Es Hebt' und herzte sich ein
Jeder.
Kommt, ihr Gebräuche, kommt
doch wieder.
vgl. TibuUII, 3, 1 ff.
Laederet et teneras pussula
rupta manus.
V. 11.
Pavit et Admeti tauros formosus
Apollo
Nee cithara intonsae profue-
runtve comae.
Nee potuit curas sanare salubri-
bus herbis
Quidquid erat medicae vicerat
artis amor.
V. 72.
Gians aluit veteres ....
V. 76.
NuUus erat custos, nulla ex-
clusura dolentes
lanua ....
V. 72.
.... et passim semper amarunt.
V. 77.
. . . si fas est, mos, precor, ille
redi.
Was Musen, wo kein
Geld ist.
(Fünffles Zehen. Nr. X S. 96.)
Str. I.
Pakket euch, ihr Pierinnen,
wo ihr mir nicht helffen könnt I
Str. 2.
Nu mich Kloris ausgeschlossen,
nüzzt mir keiner Verse Zier.
Nu der Geiz sie hat verblendet:
ist mein Dichterwerk geschändet.
Str. 3.
Darum hat mir euer Feuer
meine Brust nicht auffge-
flammt, ....
vgl.
TibuIlII, 4, 13 fr.
V. 15.
Ite procul, Musae, si non pro-
destis amanti:
V. 13 f.
Nee prosunt elegi nee carminis
auctor Apollo:
lila cava pretium flagitat us-
que manu.
V. 16.
Non ego vos, ut sint bella
canenda, colo.
Puls, Vorbilder für Schwiegers *Venus\
247
Was Musen, wo kein .
Geld ist. ^^*-
dass ich wollte Mavors- Helden,
Krieges -Zucht und Schlachten
melden.
TibullII, 4, 13 ff.
Str. 4.
Dass ich des Gestirnes Läuffe,
Gross* und Einfluss schreiben
soIt\
meiner kleinen Htrten-Pfciffe,
ist die Kloris der nicht hold:
wil ich sie in stQkken schmeissen
und den Lorber - Kranz zer-
reissen.
Str. 5.
Jupiter
Sengy verbrenn, zerreiss, zer-
schmetter,
dehn, der um die Ufer wacht
auf die Perlen und Gesteine,
Str. 6.
Daher ist die Hoffart kommen
daher hat der grimme Neid
seinen Anfang erst genommen,
darum ward zur Abend -Zeit
erst die harte Töhr verschlossen
und ein Armer ausgestossen.
Str. 7.»)
Daher wurd' ein Hund gehalten
der doch Augenblicklich
schweigt,
wenn ihm eine Hand der Alten
Panken-tahler wird gezeigt.
V. 17 ff.
Nee refero solisque vias et quah's,
ubi orbem
Complevit, versis Luna recurrit
equis.
Ad dominam faciles aditus per
carmina quaero:
Ite procul, Musae, si nihil ista
valent.
V. 27,
0 pereat, quicumque legit viri-
desque smaragdos
V. 29.
Hinc dat avaritiae causas • . . .
V. 31.
Haec fecere malas : hinc clavim
ianua sensit
V. 32 ff.
Et coepit custos liminis esse
canis.
Sed, pretium si grande feras,
custodia victa est:
Nee prohibent claves et canis
ipse tacet.
') Die beiden letzten Verse geben in der überlieferten Fassung
keinen Sinn. Die Situation ist nach Tibnll doch die, dass die alte
Thürhüterin, durch Geld bestochen, Einlass gewährt und den Hund
beschwichtigt. Nach der Lesung bei Schwieger jedoch würde der
Hund dadurch beschwichtigt, dass ihm Geld gezeigt wird. In diesem
4 hm' liegt demnach der Hauptfehler. Um den oben angegebenen Sinn
zu erhalten, müsste man etwa lesen:
wenn in meiner Hand der Alten
Blanker Thaler wird gezeigt.
248
Puls, Vorbilder für Schwiegers *Venu8\
Was Musen, wo kein
Geld ist.
vgl.
Tibull II, 4, 13flF.
Str. 8.*)
Aber du, der du mit Gaben
mich Verliebten stössest auss,
Feuer, Wind und Diebes-Raben
Sturzen dein hochprangend
Hauss,
biss es möge gleich der Erden
und mit dir vertilget werden.
V. 39 ff.
Ät tibi, quae pretio victos ex-
cludis amantes,
Diripiant partes ventus et ignis
opes;
Quin tua tunc iuvenes speclent
incendia laeti,
Nee quiaquam flammae se-
dulus addat aquara.
Zuschrift vor dem letz-
teren Zehen.
vgl.
(S. 116. An Priapus.)
ein dikk beschattend Laub soll dir
Beschirmung reichen
vor aller Sonnenhizz und schaffen
kühle Lust,
der Nordwind sol dich nie mit
rauhem Schnee be-
wehen . . .
Tibull 1,4, 1 ff.
Sic umbrosa tibi contingant tecta,
Priape,
Nee capili soles, ne noceantve
nives.
Zugabe Nr. 10 S. 151 f. vgl.
Tibull I, 2, 91 ff.
Einst sah ich einen alten Narren
die grauen Haare reissen aus
vor einer Schönen Haus*
und wer alda vorübergieng
hub weidlich an zulachen,
dass er erst an- im Alter
-fieng
die Liebe mit zu machen.
Vidi ego
. . . Veneris vinclis subdere
coUa senem . . .
Et manibus canas ßngere velle
comas ;
Stare nee ante fores puduit . . .
Hunc puer hunc iuvenis turba
circumterit arta
Despuit in molles et sibi quis-
que sinus.
*) Die beiden ersten Verse werden erst durch die lateinische
Parallelstelle verständlich. Statt *der du* ist ohne Zweifel *die du*
zu schreiben. Die Pointe liegt in dem ^pretio victos*, das tritt bei
Schwieger in der überlieferten Fassung nicht hervor; ausserdem ist
der Ausdruck *mit Gaben mich Verliebten stössest ans* härter, als wir
es sonst bei ihm gewohnt sind. Sollte er *mit Gaben mich Be-
siegten* geschrieben haben?
Puls, Vorbilder ftlr Schwiegers 'Venus'. 249
Zugabe Nr. 16 S. 153 f. vgl. Tibiall I, 8, 39 f.
Nim Gold einmahl, und leg es
in das Bette,
Versuch es ob es Wärme gibt
und ob dichs wieder liebt
Non lapis hanc gemmaeque iuvant,
quae frigore sola
Dormiat et nulli sit cupienda
viro.
Zugabe Nr. 18 S. 154 vgl. Tibull IV, 13, 1 f.
V. 5f.
Ach ! möchtestu doch mir nur
schöne sein
so nennte sich kein ander deinen
Knecht.
Atque utinam possis uni mihi
bella videri,
Displiceas aliis! sie ego tutus
ero.
Dies sind die Belegstellen, die ich jetzt zu erbringen
vermag. Wer schärfere Augen hat, wird vielleicht noch
mehr finden. Sie genügen für die Behauptung , dass
Schwieger Properz und Tibull in seinen Gedichten häufig
^angezogen' bat. Anlehnungen an Yergil sind mir in der
'Gehamschten Yenus' nicht aufgestossen ; Ovid und Catull
klingen zuweilen schwach an, doch kann ich vorläufig die
einzelnen Stellen nicht nachweisen.') Dagegen glaube ich,
am* Schlüsse von Schwiegers Werk S. 154 eine Parallele
zu Martial zu finden:
Der Kato nennt es Zoten,
was ich bissher gesezzt.
Wer ist denn je gewesen,
der ihn es zwang zu lesen?
So sagt Martial in seiner ^Epistola ad lectorem' vor dem
ersten Buche: 'Non intret Cato theatrum nostrum' und im
ersten Epigramm:
Nosses iocosae dulce cum sacrum Florae
Festosque lusus, et licentiam vulgi.
Cur in theatrum Cato severe venisti?
Dass Schwieger in der That diese Martialstelle im Ge-
dächtniss gehabt hat, geht klar hervor aus seiner Yorrede.
Seite 3 heisst es : 'Sagstu . ., ich sey in etlichen Gedichten
ein wenig zu natürlich gegangen: so gebe ich zur Ant-
wort, dass ich selbige denen katonischen Gemühtem auss-
*) Einen Anklang an Ovid, Ars amat. II, 635 f. könnte man finden
in »Zngabe' Nr. 14 V. 1 u. 2. — Ebenfalls könnte man Nr. 3 im Fünften
Zehn (S. 87) vergleichen mit Ars amat. II, 229 £P.
yiert«\jahxBobiift Ar litteratuKMchiehte m 17
250 Fuh, Vorbilder für Schwiegers *Venu8\
drücklich zu lesen verbiete, auch nur zu der Zeit, wenn
die Florischen Feste angestellet werden, gesungen
haben wil/ Von diesem strengen Sittenrichter Cato
spricht Schwieger auch in der 'Zuschrift' vor dem Lezteren
Zehen (S. 116):
Weg Kalo, Kurius, nu habt ihr satt gelesen,
was hiernegst folget, ist vor eine muntre Stirn,
die Spiel und Scherz verstehet
und nicht zu ernstlich gehet.
Die Regul welch' ersann Fabrizius Gehirn
ist meiner Jugend Form und Richtschnur nie gewesen.
Hier treten Curius und Fabricius als Vertreter einer
ernsten Lebensführung hinzu. Dass diese beiden Männer
hier zusammen genannt werden, ist vielleicht daraus zu
erklären , dass sie im Valerius Maximus (IV, 3 , 5 u. 6)
nacheinander behandelt werden. Die Erzählung des Vale-
rius zeigt uns auch, was wir unter der 'Regul' des Fabri-
cius zu verstehen haben. Es heisst dort a. a. 0.: '(Fabri-
cius) legatus ad Pyrrhum profectus, cum apud eum Cineam
Thessalum narrantem<audisset, quendam Atheniensem darum
sapientia suadere, nequid aliud homines quam voluptatis
causa facere vellent, pro monstro eam vocem accepit con-
tinuoque Pyrrho et Samnitibus istam sapientiam deprecatus
est.'
Zum Schluss noch ein paar Worte zur Kennzeichnung
der Art und Weise, in der Schwieger seine Vorbilder be-
handelt. Ich sehe hierbei ab von den nur ganz vereinzelt
sich findenden Parallelen zu Horaz und Martial und be-
trachte sein Verhältnis zu den häufig angezogenen Ele-
gikem TibuU und Properz. — Mir ist unter den Zeitge-
nossen des Verfassers der 'Geharnschten Venus', ja noch
höher hinauf kein Dichter bekannt, der in der Behandlung
und Bearbeitung entlehnter Stoffe eine gleiche Meister-
schaft zeigt, der mit gleicher Freiheit seiner Vorlage gegen-
über steht. Wir gewahren bei Schwieger auch nicht die
leiseste Spur einer ängstlichen Nachahmung, sondern ein
Umschmelzen und Übersetzen des Gegebenen in den Sinn
und Ton seines Volkes und seiner Zeit. Mit feinem Takt
sucht er sich bei den Alten Vorwürfe und Stoffe für seine
Lieder. Er ist sich sehr wohl des Unterschiedes zwischen
Witkowski, Ein Gedicht Ewald von Kleists. 251
einem Liederdichter und einem Elegiker bewusst. Die ab-
wechselnden Bilder und Stimmungen der römischen Elegie
zerlegt er deshalb in verschiedene Gedichte und sucht
durch den Wechsel von Versmass und Melodie die ver-
schiedenen Töne zu treffen. Zur Erläuterung dieses Yer-
fahrens dient aufs beste Tibull I, 2. Aus dieser Elegie
hat Schwieger den Stoff zu drei seiner besten, lebens-
frischesten Lieder entnommen (vgl. Fünftes Zehn Nr. 2.
3. 4.), in der Weise, dass der Römer die Zettelföden liefert,
er selbst den Einschlag.
Auch da, wo der Dichter sich enger an das Stoffliche
seiner Vorlage anschliesst (vgl. Fünftes Zehn Nr. 7), lässt
er sich durch das Vorliegende doch nicht behindern, son-
dern schreitet frei und ungezwungen einher, ändernd und
neu schaffend, wo es ihm beliebt. So macht er das
Fremde sich ganz und gar unterthänig, dass es wie sein
Eigenthum aussieht.
Ein Beispiel solcher Behandlung der Alten aus der
neueren Zeit bietet Goethe. Ich erinnere nur an das Ge-
dicht 'Der Besuch' (Hempel 1, 176), das er dem Properz
(I, 3) nachgedichtet hat. Dieselbe Properzische Elegie ist
auch von Schwieger behandelt in dem Liede 'Nachtglück'
(Letzteres Zehn Nr. 1 S. 11 7). Ein Vergleich Schwiegers
mit Goethe ist höchst lehrreich. Wenn des ersteren Ge-
dicht auch nicht im entferntesten an die hohe Kunst und
Zartheit des Goetheschen hinanreicht, so gleichen sie sich
doch darin vollkommen, dass sie beide durchaus originelle,
wohlgelungene Neubearbeitungen derselben Vorlage sind.
Flensburg. Alfred Puls.
Ein Gedicht Ewald von Kleists.
Sauer erwähnt in der Einleitung zu seiner Ausgabe
der Gedichte Ewald von Kleists (S. 4) ein Gedicht, das er
nur aus der Anfuhrung Chr. H. Schmids (im Nekrolog der
vornehmsten teutschen Dichter 2, 393) kennt , da er die
dort als Quelle bezeichnete Zeitschrift S. G. Langes, 'Einer
17*
252 Witkowski, Ein Gedicht Ewald von Kleists.
Gesellschaft auf dem Lande poetische, moralische, ökono-
mische und kritische Beschäftigung (Halle 1777)' nirgends
auffinden konnte.^) Die Zeitschrift ist auf der Egl. Biblio-
thek zu Berlin vorhanden (Sign. Ac 6415) und enthält in
der That, neben manchem andern Bemerkenswerthen (z. B.
einer Reihe sonst nirgends gedruckter Opitzischer Gedichte),
auf S. 203 ff. ein 'Aufgefunden früheres Gedicht von dem
Herrn Ewald von Kleist'. Es ist betitelt 'Pilinde' und
lautet folgendermassen.
Filinde lag am Strauche
Gekühlt von Zephirs Hauche.
Aus Müdigkeit vom Kummer
Befiel sie bald ein Schlummer.
Die Locken rollten um die Brust
Der Mund war tausend Sylphen Lust.
•
Weg Rosen und Narcissen!
Ich mag von euch nichts wissen ;
Ihr pflegt mich oft zu rühren
Und mich zu balsamiren.
Jetzt Übertrift dies schwarze Haar
Den Duft, der mir sonst Ambra war.
Dies lispelte vor Freuden
Den Sylphen, die sich weiden,
Die um die Lippen schwärmen
Und küssen, saugen, lärmen,
Der sanfte Südwind lieblich zu,
Und lies den Locken keine Ruh.
Schweig Zephir von den Haaren!
Versetzeten die Schaaren,
Du würdest ob den Küssen,
Die Locken leichtlich missen;
Ihr Athem duftet Veilgen gleich.
Wie ist das Haar so anmuthsreich !
Der kleine Gott mit Flügeln,
Der auf smaragdnen Hügeln
Mit seinem Bogen spielte.
Bald hier, bald dorthin zielte.
War von Filinden nicht zu weit
Und hörte diesen Vorzugsstreit.
^) Sauer hat die Zeitechrift später gefanden; schon 1885 hat er
sie für Deutsche Litteraturdenkmale 22 benutzt. Siehe auch unten
Sauers Neue Mittheilungen über E. v. Kleist JV. Sfit.
Witkowski, Ein Gedicht Ewald yon Kleists. 253
Er fing sich an zu heben,
Wie Schwäne wallend schweben,
Wenn sie mit Silberschwingen
Die Luft zu tönen zwingen,
Bis er sich endlich nieder liess,
Wo Zephir Rosen von sich bliess.
Hier fand er die Filinde,
Ein Spiel vom Mit tags winde.
Er sah des Busens Steigen
Beschneyte Hügel zeigen
Und Lügen auf der Stirne blühn^
Der Wangen Farbe gleich Rubin.
0! sprach er: Freyheits-Klippen !
Corallen dieser Lippen!
0 Schnee vermischt mit Rosen!
Wer wird dich nicht liebkosen?
Du lockigt Haar, das sie bekränzt.
Bist Wolken gleich, draus Venus glänzt.
Des Leibes schlanke Zierde,
Ihr Fuss erweckt Begierde,
Der Arme Milch entzücket;
Ein Feld von Schönheit blicket
Aus ihr hervor, darinn man irrt.
Das jeden reizt und ihn verwirrt.
Doch, das was mir gefallen,
Ist freylich unter allen
Am würdigsten zu loben.
Schnell ward ihr Kleid gehoben.
Der lose Zephir hauchte drein;
0 Anblick, voll von süsser Pein!
Ja Locken mit den Lippen,
Ihr seyd der Freyheit Klippen,
Glückselig, wer euch wehleti
O Reitz, der Götter quälet,
Rief Amor, gieb mir doch Gehör,
0 Zephir säussle mir noch mehr!
Drauf grif er nach dem Bogen;
Ein Pfeil kam angeflogen
Nach dieser Schönen Herzen.
Schnell wachte sie voll Schmerzen:
Sie schrie: 0 liebster Venus -Sohn!
Allein, der Lose war entflohn.
254 Sauer, Mittheilungen über B. v. Kleist.
Der Umstand, dass Lange das Gedicht veröffentlichte^
gibt uns einen äusseren Anhalt für die Entstehungszeit.
Denn gewiss wird es aus der zweiten Hälfte der vierziger
Jahre stammen, wo Gleim, Lange und Kleist durch innige
Freundschaft verbünden waren , während später , nach
Kleists Verbindung mit Lessing, seine Beziehungen zu
Lange erkalteten. Auch innere Gründe weisen das Ge-
dicht der ersten Dichtungsperiode Kleists zu, in der er
unter dem Einfluss Gleims und der Anakreontik stand.
Der Apparat derselben ist fast vollständig verwendet, der
Stoff conventionell anakreontisch , die Form spielend. Es
fehlt an künstlerischer Durcharbeitung: der Ausdruck lässt
Schärfe und Anschaulichkeit vermissen und eine Anzahl
Wiederholungen fallen störend auf. Das Ganze macht noch
weit mehr als die andern anakreontischen Gedichte Kleists
aus derselben Zeit (Sauer 1, 21. 39. 52) den Eindruck
äusserlicher Nachahmung. Das Spielen der Sylphen und
Amoretten um die schlafende Geliebte, das wetteifernde
Preisen ihrer Beize, das neugierige Blasen Zephirs sind
typische, aus der romanischen Anakreontik übernommene
Züge. Der ernsteti Natur Kleists sagte die Gattung, der
unser Gedicht angehört, nicht zu, und er ward wohl nur
durch die Autorität Gleims veranlasst, sich ihr vorüber-
gehend zuzuwenden. Immerhin verdient es aber als Jugend-
product des Dichters und als charakteristisches Erzeugniss
der anakreontischen Mode Beachtung.
Leipzig. Georg Witkowski.
Neue Mittheilungen über Ewald von Kleist
Seit dem Abschluss meiner Ausgabe von Kleists Werken
sind mir durch Freunde und Pachgenossen mancherlei wich-
tige Nachträge und Ergänzungen zugeführt worden, welche
ich hier zusammenfasse. Insbesondere hat Carl Schüdde-
kopf in Wolffenbüttel nicht nur meine Auszüge aus Ramlers
Briefen an Gleim yervollständigt und durch die Mittheilung
Saaer, Mittheilungen über £. v. Kleist. 255
der entsprechenden Antworten^) erst benutzbar gemacht,
sondern mir auch die beiden Briefe Kleists an Kamler zur
Publication überlassen und meine einschlägigen Arbeiten
seit Jahren durch die treueste Theilnahme gefördert, so
dass ich ihm in erster Reihe zum Danke verpflichtet bin,
wenn ich meine älteren Forschungen jetzt um einen Schritt
weiter bringen kann.
I. Kleist und Ramler.
In meiner Untersuchung: Ober die Ramlerische Be-
arbeitung der Gedichte E. C. v. Kleists S. 21 habe ich die
Yermuthung ausgesprochen, dass Ramler bei seiner Um-
arbeitung des ^Frühlings' nach Kleists Tode seine ältere,
in den Jahren 1749 und 1750 vorgenommene Umarbeitung,
die sich naturgemäss an die erste Kleistische Fassung {F ^)
anlehnen musste, benutzt habe. Da aber in den mir da-
mals zugänglichen Papieren und Drucken von jener älteren
Ramlerischen Umarbeitung nichts erhalten war, blieben
Zweifel an meiner Argumentation nicht ausgeschlossen,
vgl. SeufFert im Anzeiger f. deutsches Alterth. und deutsche
Litt. 7, 440. Jetzt kann ich nicht nur an der Hand des
Briefwechsels zwischen Gleim und Ramler die Entstehung
von Ramlers älterer Arbeit genauer verfolgen, sondern ich
kann auch mehrere Bruchstücke davon zur Yergleichung
vorlegen.
Ramler lernt den Trühling' schon im ersten Entwürfe
1746 durch Gleims Vermittlung kennen; er schreibt an
diesen:
15. October 1746. Das Gedicht des Herrn von Kleist schicken
Sie mir gantz gewiss mit. Ich will es zum wenigsten von dem
Freunde bekommen der mir, den 8*®° dieses schrieb: *Ich habe
den Anfang von dem Landleben des H. v. El. mit gebracht, aber
sie sollen nichts davon lesen, als nur auf meinem Zimmer. Doch
ja, ich will es ihnen schicken; denn sie sollen sich schämen,
dass ein Oflicier, der unaufhörlicli prügeln muss, dem es nicht
erlaubt ist aus der Stadt zu gehen, fleissiger diclitet, als sie.'
So weit dieser Freund, der sein Wort halten muss.
*) Vgl. seine Schrift: Karl Wilhelm Ramler bis zu seiner Ver-
bindung mit Lessing, Wolfenbüttel 1886.
256 Sauer, MitÜheiliingen über E. ▼. E[lei8t.
Darnach scheint es, dass Gleim Ende September 1746
in Potsdam war — wozu auch sein Brief an Kleist vom
7. October 1746 (Werke 3, 24 «. 'So oft ich nicht mehr
bei Ihnen bin, bedaure ich, dass ich Sie nicht mehr ge-
nutzt habe^) ganz gut stimmt — und das Manuscript des
Frühlings' mitnahm.^) Ramler gehört also zu jenen Freun-
den, von denen Gleim bei der Rücksendung des Manu-
scriptes an Kleist im Januar 1747 (Werke 3, 32) spricht.
Bald nachdem Ramler und Kleist in Berlin Anfang Januar
1749 sich persönlich kennen gelernt hatten (Werke 2, 136),
sucht Gleim die ihm selber aufgetragene Herausgabe des
Gedichtes auf Ramler abzuwälzen (8. Februar 1749):
Wissen Sie was, mein Liebster? Ich werde ihnen was zu
thun geben, und ich hoffe, dass sie damit zufrieden seyn werden.
Herrn v. Kleists Frühling soll endlich unter die Presse; er hat
ihn mir, zum Druck fertig, übersand, dass ich ihn einem Verleger
geben möchte. H. Sulzer hat dazu H. Nicolai vorgeschlagen, und
ich bin damit zufrieden, nur muss er an Sauberkeit des Drucks
und überhaupt des Äusserlichen nichts fehlen lassen, die Kosten
auf eine gute Vignette nicht schonen, und in allem ihrem Ver-
langen ein Genüge thun. Denn sie werden hiemit zum Aufseher
und Corrector bestellt, und kraft dieses bevollmächtigt, den Ver-
leger zu dem, was er an einem so schönen Werke zu leisten
schuldig ist, anzuhalten. Aber was nehmen wir für eine Vignette?
Es muss eine nach dem schönsten Geschmack seyn, sonst wäre
keine, besser. Solte des Marggrafen Mahler der H. v. N. [?] wohl
Geschicklichkeit genug haben eine zu erfinden? Eine kleine Land-
schaft mit den Schätzen des Frülings, und mit einigen im Ge-
dichte selbst befindlichen kleinen Gemählden solte sich nicht übel
schicken. Z. £. der Bock der ernsthaft herunter sieht.') Viel-
leicht weiss H. Nicolai einen besseren Erfinder in Leipzig oder
Dresden. H. v. Kleist verlangt zum Format gross S^^. Am
besten wäre wohl, wenn jeder Vers unabgebrochen in einer Zeile
stehen könte, aber dann müssen wohl all zu kleine Lettern ge-
nommen werden. Es müssen alle Exemplare Schreibpapier haben,
überdem 2 Dutzend recht feines für den H. v. Kleist und 1 Dutzend
für mich. So bald sie mir antworten, will ich ihnen das Manu-
script zusenden, in welchem sie ein paar Stellen antreffen werden,
die mir H. v. Kleist bey seiner Freundschaft zu verändern ver-
*) Meine Vermnthnngen Werke 1, 136 und 3, 30 Anmerkung
sind hinfällig.
«) Werke 1, Nr. 89 Vers 270.
Saner, Mittheilungen über E. y. fi^leist. 257
bothen hat, und deshalb mir die Correctur nicht wollen machen
lassen. Können sie es nicht thun? —
Damit war das Werk in Ramlers Hände gegeben, durch
den Schluss des Briefes aber auch der Same der Besse-
rungssucht in seine Seele gestreut. Am 15. Februar oder
bald darnach sandte Gleim das Manuscript nach Berlin
(Werke 3, 96. 99) und unmittelbar nach einer heftigen Er-
krankung treffen wir Ramler an der Arbeit.
1 3. März 1 749. Dass ich ietzt besser bin, sehen sie daraus,
dass ich ihnen schreiben kann ; denn dieses wurde mir im Fieber
zu sauer. Meine Augen konten nicht so lange sehen, wenn mein
Kopf gleich so lange denken konte. Jetzt kan ich mir schon
wieder einen angenehmen Zeitvertreib machen, mit Briefeschreiben,
mit Lesung der Briefe des Abb6 le Blanc, mit Tirannisirung des
Kleistischen Frölings. Von meinen gemachten Veränderungen will
ich ihnen hier eine Probe beylegen, und auf diese Art werde ich
ihnen das gantze Gedicht noch einmal zusenden, ich bitte mich
wieder zu corrigiren, oder auch Kleisten selber, wo ich zu nach-
lässig gewesen bin. Ich solle ihnen einen Vorwurf machen, dass
sie zu wenig daran ausgefeilt haben, aber da sie es ietzt nach-
holen werden, habe ich kein Recht es zu thun . . . Was meinen
sie, wenn wir lateinische Buchstaben zu unserm Frülinge nähmen?
Der gantze Druck wird so prächtig, sollen die Buchstaben nicht
auch 'die besten seyn? Herr Sulzer stimmt auf gross octav. Er
meint es Hesse sich gross Quarto nicht recht binden, er will
gern einen schicklichen Band, und glaubt die Zeilen litten nicht
drunter.
Diese erste Tyrannisirungsprobe ist nicht erhalten ; Gleim
scheint mit ihr nicht unzufrieden gewesen zu sein; er ant-
wortet am 17. März 1749:
Der arme Kleist, er soll wieder in den Krieg. Was wird er
da wieder ausstehen müssen, und wie werden wir für sein Leben
besorgt seynl Sie werden sich ihm durch ihre bessere Critik
seines Frülings sehr verbindlich machen, sie dürfen nicht zweifeln,
dass er nicht völlig damit zufrieden seyn wird; ich bin nicht
fähig gewesen, ihn so gründlich zu beurtheilen, und ich bin es
noch weniger ietzo, da meine itzigen Arbeiten, mich immer
trockener machen. Ich sende ihnen den Anfang so gleich wieder
zurück; denn ob ich gleich besorgt bin, sie möchten sich allzu
viel zu thun machen, so wünsche ich doch den Früling bald
gedruckt zu sehen. Ich habe ihrem Verlangen gemäss etwas
weniges angemerkt; wo ich schweige, da unterschreibe ich ihre
Veränderung. Das Sylbenmass ist mir auch all[zu] wenig ge-
läufig, als dass ich hie und da noch etwas bessern könte. Wenn
258 Sauer, Mittheilungen über E. v. Kleist.
sie aber fortfahren, wie sie angefangen haben, so wird nicht viel
übrig bleiben. Ich lasse mir alles gefallen, was sie und H. Sulzer
wegen des Druckes belieben, nur könten sie den H. v. Kleist
selbst befragen, ob er Lust habe, zu lateinischen Lettern. Er
wird nicht dawieder seyn, nur wäre zu überlegen, ob es nicht
scheinen möchte, dass man all zu viel besonderes haben wollte,
da die Poesie schon so sehr von der gewöhnlichen abweicht.
Wenn die Verse auf 8^° in eine Zeile sollen, so werden ziemlich
kleine Lettern dazu nöthig seyn, sonst wäre dis Format freylich
das beste. —
Ramlers nächster Brief vom 9. April 1749 gewährt uns
einen lehrreichen Einblick in seine Arbeitsweise, zeigt uns
insbesondere, wie er bei seiner Umgestaltung wesentlich
von formellen Gesichtspunkten ausgieng. Er schreibt:
Doch wül ich . . . erst von grammaticalischen Kleinigkeiten
reden, ehe ich von häusslichen anfange. Sie fragen, welches ist
besser Athem oder Odem?*) Das Wort Athem muss gut seyn,
weil es ein Stammwort ist. Es kommen davon her: athmen,
einathmen etc. Odem ist sehr gebräuchlich im gemeinen Leben
und in der Bibel. <Er bliess ihm einen lebendigen Odem ein.
Du lassest aus deinen Odem, so vergehen sie' etc. Wenn ich so
glücklich wäre als 01ivct[anus], wolte ich folgenden Unterscheid
wagen, und wenn ich eine Academie wäre, ihn ätabliren: Athem,
bedeutet die Luft, die ich einziehe, Odem, die Luft, die ich aus-
lasse. Also heisst es von der ersten Art mit Recht: zum Athem-
holcn ist die Lunge gemacht: dieser Fisch hat auf dem Rücken
ein kleines Athemloch. Athem rauben (die Luft benehmen, die
ich einziehen soll:) Ich kan noch nicht zum Athem kommen: ia
selbst das Wort athmen heisst: Luft einziehen.
Von der letzten Art heisst es billig: Er bliess ihm einen
Odem ein: Du lassest aus deinen Odem: Sein Odem ward ge-
fühlt: Wer weiss wohin der Odem des Menschen fährt etc.
Den Athem an sich halten = die eingezogene Luft.
Ein stinckender Odem = die ausgelassene Luft.
Aber warum suche ich einen Unterschied auf! Es mag
vieleicht nur ein unterschiedener Dialect seyn. Wenn dieses ist,
so wehle ich lieber Athem als Odem. Herr Langemack hat
grosse Lust Synonimes allemandes zu schreiben. Vieleicht ist er
hierin glücklich, den er hat ia einen logicalischen Kopf. Wir
wollen , wenn uns ohngefehr etwas aufstosst , ihm ein Present
damit machen. Gestern fiel mir bey Kleists Frülinge folgender
Unterscheid ein:
♦) Vgl. dazu meine Beobacbtung: Über die Ramlerische Bearbei-
tung S. 81.
Sauer, Hittheilungen über E. y. Kleist. 259
Acker = das Getrayde-Land.
Feld = der allgemeine Nähme von Acker und von Wiese.
Gefilde = noch allgemeiner als Feld, (Wald und Wasser
mit eingeschlossen).
Wiese = das Grase-Land.
Aue = Ein besonderes und angenehmes Grase-Land der
Schafe, nebst einem Bach etc.
Trift = Grase-Land für Vieh, das gehütet wird, (be-
sonders für Schafe).
Gegend = Lage eines Landes.
Revier = Begräntzte Gegend.
Flur = die Gegend vor einer Stadt oder einem Dorfe.
Anger = ist vieleicht mit dem Wort Acker einerley.
Weil ich doch bey der Arbeit bin, will ich noch diese Seite
mit dergleichen füllen:
Wald = ein grosser Platz voll grosser Bäume; Eichen,
Fichten etc.
Busch = hält kleinere Bäume, Tannen, Bircken.
Hayn = ein heiliger Wald.
Forst = ein Jagd- Wald.
Weide = Ein Busch, worin geweidet wird.
Wollen sie auch so spielen, wie ich hier thue, so werden
wir einen Tractal zusammenspielen, einen Theil zur künftigen
deutschen Grammatic. Als Poeten werden wir aber allzuoft solche
Gesetze brechen.
Bald werde ich wieder einen Theil des Frülings fertig haben.
Ich weiss nicht wie es zu geht, dass ich nicht mehr so ge-
schwinde censire, wie zuvor. Solte es die Neuigkeit zuvor ge-
than haben, oder thut es letzt das Gedicht selber, oder thut es
endlich meine eigene Seele? Freylich hat sie Schuld, sie hat
Haussorgen . . .
Vier Wochen später, 9. Mai 1749 ist er endlich so
weit, um Gleim wieder ein Stück seiner Überarbeitung
senden zu können:
Nun ich einmal den Tod los geworden bin, nun will ich
machen, dass er mir nicht zur Last wird, wenn er wieder kommt.
Ich grämte mich dass ich keine geistlichen Kinder hinterliesse.
Sehen sie, bald will ich Vater werden, und zwar zuerst Stief-
vater. Hier ist sogleich ein Zeichen meiner Unbarmhertzigkeit.
Geben sie dem H. v. Kleist noch nichts davon zu lesen. Ich habe
ihm auch nichts mitgebracht, als ich ihn ehegestern mit Herr
Sulzern besuchte. Ein gewisser v. Arnheim^) nahm uns in seine
sechsspännige Carosse. Ich habe mich in die marmorne Göttin
verliebt, die sie selbst einmal angebetet haben, und dem kleinen
») vgl. Kleiats Werke 2, 148,
260 Sauer, MittheiluDgen über £. r. Kleist.
Cupido bin ich so gut, als wenn er mein ßruder wäre. Scliade
dass ich den H. v. Kleist nur sieben Stunden sprach.
Die Absendung dieses Briefes verzögerte sich. Fol-
gende Nachschrift dürfte erst zwei Tage später geschrieben
sein: ^Das Exemplar welches ich ihnen vom Frülinge zu
lesen und zu bessern gebe ist das neueste. Die alte Les-
art sollen sie auch bekommen^ denn die Beilage, auf welche
sie sich bezieht, ist vom 11. May 1749 datirt (vgl. Werke
1, Nr. 89 Vers 74—137); ich nenne das Bruchstück R\
Hier, wo der halbnackende Fels mit Strauch und Tannen be-
wachsen,
Zur Hälfte den bläuligten Strom, sich drüber neigend, be-
schattet
Und weint lebendige Quellen, hier will ich, im Mosse gelagert
Zu Wundem mein Auge bewafnen; und danken dem glück-
lichen Künstler,
& Der erst Dich hellen Grystall gewölbt und gehölt und in Röhre
Gepflanzt hat, ein himmlisches. Auge, gemacht, auf blauen Ge-
bürgen
Die weidenden Schafe zu schaun, desgleichen dem fleckigten
Monde
Nach Klippen und Meeren zu spähn. Nichts bleibt des Sterb-
lichen Tiefsinn
Verschlossen, auch niclit der Natur geheimste Werkstatt: er
stirbet,
10 Und iässt zu forschen noch übrig selbst einer ewigen Nachwelt.
Ach Schade! die Künste vergehn, und Überschwemmung und
Flamme
Frass tausendjährigen Witz.
0 welch ein Gelächter der Freude
Belebt rund um mich das Land ! Friedfertige Dörfer, vne dieses,
Und Hügel schliessen uns ein und tragen den niedrigen Himmel:
15 Auch kräntzt und röthet daselbst ein Zaun von blühenden Domen
Das fern sich verliehrende Feld; Hier läuft der Weitzen vorüber,
Mit buntem Mohne vermischt, in langen sich schmälernden
Beeten,
Gestört durch weiblichen Flachs. Feldrosen-Hecken und Schlee-
strauch
Mit ihrer Blüte besprengt umringen drey spiegelnde Teiche.
20 Scheint dort aus Mitternacht nicht, vom Sonnenstrale getroffen,
Das blaue sich welzende Meer mit spielenden Sternen ge-
gründet?
Es schimmert sein gelbes Gestade von Muscheln und farbigten
Steinen
Sauer, Mittheilangen über E. v. Kleist. 26t
Und Lieb und Freude in^ird wol in kleiner Fische Geschwadern
Und in den Riesen des Wassers die gantze Fläche durch
taumeln.
ii^ Die dort mich tiefsinnig empfing, und aus dem dichtrischen
Schatten
Hieher mich lockte, die Wiese sieht finstere Rosse den Nacken
Gen Himmel werfen und stampfen mit freudig wiehernder
Stimme
Der Fichtenwald wiehert zurück. Gehörnte Kühe durchwaten
Geführt vom denckenden Stier, des Meyerhofs Sümpfe sanft
kauend
30 Und rühren Ohren und Schweif — Hier zieht sich mein Auge
durch Linden
Und Espenschatten zurück; die frölichen Linden am Bache
Beschatten das milde Gewässer, das weiter durch Binsen sich
windet
Von hellen Schwänen besucht; und hinten sehn Rebengebürge,
Das Haupt mit Epheu gekrönt, stoltz über den Garten, und
stehen
35 Ein Theil mit Schimmer um webt, in Flohr der andre gehüllet;
Es flieht die Wolcke, der Schimmer eilt Staffel weis über den
andern.
Die Lerche besteiget die Luft, sieht wieder beblümete Thäler,
Bleibt schweben, und singet entzückt. Der Klang des wirbeln-
den Liedes
Ergötzt den ackernden Landmann; er horcht eine Weile, dann
lehnt er
M Sich über den wühlenden Pflug, wirft braune Wellen aufs
Erdreich
Verfolgt von Krähen und Älstern ; der SäeMann schreitet gemessen
Giesst goldenen Hagel ihm nach, der gleich von zackigter Egge
Mit ebener Decke bewelzt wird. 0 streute der mühsame Land-
wirth
Für sich den Seegen doch aus ! wenn ihn sein Weinstock doch
tränckte
*^ Zu seinem Munde die Zweige mit saftigen Früchten sich
beugten !
Allein, der gefrässige Krieg, vom Zähnebleckenden Hunger
Und wilden Schaaren begleitet, macht Hoffnung und Freude zu
nichte.
Gleich Hagel vom Sturme geschleudert zerschlägt er die nähren-
den Halmen,
Reisst Stab und Rebe zu Boden , entzündet Dörfer und Forste
M Zur Lust; das unschuldige Wild, von lauffenden Flammen
ereilet,
Brüllt ängstlich gen Himmel, und fsillt. Nun blitzen die Thäler
von Waffen,
262 Sauer, Mittheilnngen über £. y. Kleist.
Es welzen sich Wolcken voll Feuer aus offenen ehernen Rachen
Und donnern , und werfen mit Keilen umher ; zerrissene
Menschen
Erfüllen den schrecklichen Sand. Des Himmels allsehendes
Auge
M Bedeckt sich, die Grausamkeit scheuend, mit blauer Finstemiss.
Siehe I
Der schönste Sterbliche lehnt sein Haupt an seinen Gefährten,
Und hielte das strömende Blut und seine fliehende Seele
Noch auf, und würde die Braut noch wiedersehen, und glücklich
In ihren Armen den Lohn der langen Treue geniessen:
60 Ein Schwerd zerspaltet ihn letzt. Sie wird in Thränen zer-
rinnen,
Es wird ein Vater des Landes in ihr und ein Weiser erblassen.
Ihr denen die Völcker freywillig die Macht und die Schätze
der Erden
Ertheilten, ach! wollt ihr sie nun mit ihren eigenen Waffen
Verderben, oder begehrt ihr Väter der Menschen mehr Kinder,
65 Und kauft sie, nicht ohne das Blut der ältesten? Ist es zu
wenig
Viel tausend Burger beglücken, erheischt es wenige Sorgen?
Seyd menschlich, ihrPrintzen, seyd göttlich! Gebt eure Schwerdter
den Schnittern.
Die Lantze dem Pflüger zurück! Lasst eure Seegel den Reich-
thum
Aus allen Inseln des Meers in Schatten nehmen ; sucht Gärtner
70 Für menschliche Baumschulen auf; Belohnt mit Ansehn und
Ehre
Die deren nächtliche Lampe den gantzen Erdball erleuchtet;
Forscht nach in den Hütten, ob nicht, von Gold und Schmeich-
lern entfernet.
Ein Weiser sich selber dort lebt, und schenckt ihn dem Volke
zum Richter:
74 Er schlage das Laster im Pallast und helfe der weinenden Un-
schuld.
Zwei andere Blätter enthalten dieselben Yerse gleich-
lautend mit F ^ bis auf folgende Varianten : Nr. 89 Vers 82
Beete\ 91 voU FbKtis^; 99 traurt\ 103 ins Erdreich; 110
verheert) 118 Flamme; offenbar 'die alte Lesart' d.h. Kleists
eigenen Text. Gleim antwortete 18. Mai 1749:
Sie sind ein fürtreülicher Stiefvater des Frülings, aber machen
sie nur, dass sie das Kind bald zur Vollkommenheit bringen. Ich
habe bey diesem Blat nichts zu erinnern, als einige kleine Sünden
wieder die Construction gleich anfangs, -und weint lebendige
Quellen [Vers 3] item: und danken [V. 4] — dem fleckigten
Sauer, Mittheilungen über £. v. Kleist. 263
Monde [V. 7] soll woll heissen : im fleck. Monde. Das übrige
moste ich wohl erst mit dem Original vergleichen. Aber es
scheint mir alles unverbesserlich.
Weder Gleim noch Raraler selbst theilten Kleist vor-
erst diese Verbesserungen mit, obgleich dieser sie wieder-
holt zu sehen begehrte: Werke 2, 148 f. 153. 156. Ramler
scheint im Laufe des Sommers die Arbeit nur langsam ge-
fördert zu haben ; er schreibt an Gleim 8. Juli 1 749 :
Was ihnen beym Frülinge einfallen wird, schreiben sie mir
fleissig und getreulich, damit er etwas weitläuftiger werden kan,
etwan tausend Zeilen stark Dies ist das gewöhnliche Maass
der Tragödien, der Helden Bucher und andrer grossen Gedichte,
wenn ich richtig überschlagen habe. Vielleicht sammelt der H.
V. Kleist jetzt auch noch, und wird es einstreuen, wann sein Ge-
dicht wieder zu ihm, als zu ]etz[t]en Instanz, kommt.
Gleim mahnt 4. September 1749:
Haben sie den Fröling bald fertig? Seyn sie doch um so
vieler Freunde willen , die darnach verlangt , etwas fleissiger.
H. V. Kleist wird hernach desto mehr Lust bekommen, den Sommer
zu singen. Es wäre freylich gut, wenn er zuvor einen Plan
machte, und ihn zum vorgängigen Urtheil communicirte , aber
dann machte er es vielleicht wie sie, mit den Plans zu ihren
Oden. Sie werden nimmermehr bebauet.
Bald darauf, noch im September sendet Ramler das
fertige mit einem undatirten Briefe an Gleim:
Hier haben sie die Abschrift seines Frülings, so weit ich
nemlich damit fertig bin. Nicht wahr das Gedicht kommt zeitig
genug zum Druck, wenn es auch gleich nicht eilig dazu kommt.
Herr Hcmpel wird die Zeichnungen zu den Kupfern machen.
Treiben Sie diesen berühmten Faullenlzer etwas an. Am natür-
lichsten nimmt man wo! auf das Titelblatt einen persöhnlichen
Früling; auf die erste Seite des Gedichts das erste Bild das uns
aufstösst, und dieses ist eine schöne Landschaft, die man dort
übersehen kan, dort, sage ich, wo der halbnackende Fels sich
über den Strom bückt. Auf die letzte Seite komt ein Bild das
den Schluss des Gedichts gemacht hat, und dieses Bild kenne ich
noch selber nicht. Seyn sie doch so gut und critisiren etwas
stark, damit Bodmer in den neuen Critischen Briefen recht be-
hält, wenn er die goldenen Tage ankommen sieht. (Haben Sie
Bodmem geantwortet?) Ich weiss wol dass ich mir sehr viel
Freyheit herausgenommen habe mit dem letzten Theil den ich
ihnen schon überschickt habe, und ich werde mir noch oft diese
Freyheit nehmen, ob es-mich gleich jammert ein würklich schönes
Haus einzureissen um an die Stelle ein andres zu bauen, das
264 Sauer, Mittheilungen über £. v. Kleist.
etwan nur einen andern Schornstein und eine andre Treppe hat.
Indessen hoffe ich dass unser Kleist meinen Eifer nicht übel
nimmt. Hätte ich sein Gedicht gemacht und er hätte es so stark
verändert, so würde ich sehr zufrieden seyn; ich beurtheile ihn
nach mir selbst, also ist er auch zufrieden. Wie habe ich mich
über sein Avancement gefreut, und wie sehr werden sie es thun,
wie viel Gläser werden sie ausgetrunken haben, und zwar über
ihren Durst! Er schreibt an Sulzern, dass er dadurch zum
wenigsten die Freyheit erhalten hätte vor das Thor zu gehen,
ohne Furcht, in Arrest zu kommen. Also hat er den Früling
nicht in den schönen Gegenden um Potsdam gemacht, sondern
in vier weissen Wänden? Welch ein Wunder! Und wie gut
muss nun der Sommer gerathenl Er wird uns doch einen Plan
davon geben, ehe er uns das ganze Gedicht fertig liefert? Er-
suchen sie ihn darum, damit wir uns unsere Gedanken mittheilen
können. Wäre dieses beym Frülinge geschehen, so wäre die
Critik nicht so einreissend und verheerend wie sie ietzt oft ist.
Als Kleist Anfang October auf Urlaub in seine Hei-
mat reiste, lernte er endlich in Berlin Ramlers Umarbei-
tung kennen ; am 4. October schreibt dieser an Gleim :
Was für Vergnügen wartet auf sie, wann unser Kleist zurück
kommt! Am Donnerstage wurden wir, Sulzer, Sucre und ich,
durch ihn und Krause recht angenehm überrascht. Er hielt sich
nicht länger als eine Nacht und einen halben Tag auf, und im
December vrird er erst wiederkommen. Nein, im November. Sie
werden seine Gesellschaft am längsten geniessen, und es ist auch
billig, so schwer mir dieses zu sagen ankömmt. Ich habe ihm
den Früling vorlesen müssen, und was ich von ihm glaubte, und
was sie von ihm glaubten, ist wahr gewesen, nemlich er war
nicht böse über meine verwegne Arbeit, sondern nahm sie so
gut auf, als ich sie von ihm aufgenommen hätte. Ich habe seit
dem noch mehr, besonders in dem ersten Theil des Gedichtes
verändert, seit dem ich es wieder von ihnen zurück bekommen
habe. Ich weite die Veränderungen gern auf ihre Rechnung
schreiben, weil sie mehr Recht haben, dreist zu seyn, als ich;
aber aus Furcht für der Hölle kont ich es nicht. Ich werde
ihnen nächstens so viel überschicken als fertig ist, von fernen
an, bis auf Sie.^)
Auch diese Sendung verzögerte sich wieder ; am 8. De-
cember 1749 ist sie noch nicht in Gleims Händen und am
24. Januar 1750 meldet Bamler:
Der Früling, meine sonst so angenehme Beschäftigung, liegt
auch darnieder, wenn sie mir nicht Recensionen [zu den kriti-
•) Nr. 89 Vers 236: 'Und Du, mein redlicher Qleim.'
Sauer, Mittheilungen Über E. v. Kleist. 265
sehen Nachrichten] schaffen wollen. Doch es ist gut, dass der
PrüJing liegen bleibt, bis alle Jahreszeiten fertig sind. Nein, es
ist nicht gut, wenn es möglich wäre durch den FrOling ein Glück
zu machen.
Die wahre Ursache der Stockung liegt aber zweifellos
in dem Urtheile, das Kleist über die Umarbeitung gefallt
hat und das wir aus dessen Briefen an Gleim (Werke 2,
158. 160. 165) kennen; bei allem Lobe, das er den Ver-
besserungen des Freundes spendete, musste er gestehen,
dass er ihm doch das Exercitium ein Bisschen zu stark
corrigirt habe, musste er es ablehnen, das so gänzlich um-
geformte Qedicht für sein Eigenthum auszugeben und ent-
schloss sich nun trotz Ramlers Widerrede zur raschen Ver-
öffentlichung des Originals. Ramler an Gleim 12. Februar
1750:
Kleists Früling ist gedruckt. Ich bin mit meiner Widerrede
zu spät gekommen. Was meinen sie, soll mich dieses in der
angefangenen Arbeit hurtiger oder behutsamer machen? Mir ge-
fallt indessen der Früling, wie er jetzt ist, ungemein wohl, und
obngeachtet ich alle meine Augen für die Fehler desselben auf-
gemacht hatte, so schliesse ich doch eines nach dem andern zu,
nun ich das Gedicht als ein gantz fremdes Werk betrachte. Ich
habe schon eine Recension davon im Kopf, worinn ich mehr
vom Gantzen als von eintzelnen Dingen reden möchte. Von der
Art Gedichte wozu es gehört: (hieher kommen die Lehrgedichte
von Lucretz, Horatz, Virgil, Thomson) hernach von dem Plan
dieses Frülings, von seinen grossen Episodischen Parthien, von
seinen Sprüchen, Mahlereyen, und von dem Sylbenmaasse. Ich
will nur diejenigen Stellen anführen, die künftig am meisten un-
verändert bleiben, diese sind ohnedem die besten. Zuletzt will
ich einen Brief des Verfassers vorgeben, worinn er verspricht
seinen Früling selber herauszugeben, weil der gegenwärtige durch
einen guten Freund nach einer unrechten Handschrift gedruckt
sey. Ich habe unserm lieben Kleist geschrieben, dass er mir er-
lauben möchte, versteckt zu bleiben. Warum soll die Welt nebst
seinen sechs Buchstaben auch meine sechs Buchstaben im Kopf
behalten, die ohnedem so unglücklich zusammengesetzt sind. Er
wolte haben, dass ich den Früling zum andernma,! herausgeben,
und in der Vorrede melden solte, dass mir der Verfasser, der
mein Freund sey, die Erlaubnis? gegeben habe, ihn nach meinem
Gefallen zu verändern. Aber glauben sie wohl, dass ich dieses
thun werde? und ist es nicht genug für mich, wenn ich die
guten Urtheile davon, ohne Schamröthe, anhören darf? Ist es
nicht genug, wenn wir ein schönes Gedicht bekommen I Soll
YierteUAtunchrift für Littenttoigesclüchte III 18
266 Sauer, Mittheilungen über £. v. Kleist.
man uns Deutschen vorwerfen, dass wir niemals etwas machen
könten, ausser wenn zwey Seelen ihre Kräfte zusammen brächten?
Die wenigen Freunde die darum wissen , werden von ihrer Mei-
nung abgebracht werden, wenn ich ihnen sage, dass Kleist sich
meine Erinnerungen zwar zu Nutze gemacht, aber alles selbst
weiter umgearbeitet habe. Und dieses muss er und sie selbst
müssen es auch thun, damit ich wahr rede.
Über die Recension, welche in den Critischen Nach-
richten 6. März 1750 erschien, vgl. Werke 1, 160. Zu einer
selbständigen Yeröffentlichung der Umarbeitung, die Kleist
seinen Freunden ankündigte (Werke 2, 165 f.), kam es
nicht. Es wäre aber ein Irrthum zu glauben, dass die per-
sönlichen Beziehungen der beiden Dichter durch diese Hei-
nungsverschiedenheiten getrübt worden wären. Wie herz-
lich diese vielmehr gerade damals waren, beweist ein neu-
aufgefundener Brief Kleists , den ich hier einschiebe (vgl.
Werke 2, 180 f.):
Kleist an Ramler.
Allerliebster Freund
Ich bin auf der Wache da ich ihr Schreiben erhalte, ich
muss Ihnen aber doch hurtig antworten. Entschuldigen Sie wenn
ich Ihnen verwirrtes Zeug schreibe, ihr Brief hat mich ganz in
Unruhe gesetzt, mein Kopf kan nicht denken, aber mein Herz
will nur sprechen. Mein Gott ist es denn in dieser besten Welt
nicht möglich dass gute Menschen zusammen bleiben können!
und werde ich denn endlich gar keinen Freund in der Nähe be-
halten! Wir sind zwar selten genug zusammen gewesen, es war
mir aber doch immer ein Trost dass ich wusste dass Sie nicht
weit waren, und nun soll ich Sie in meinem Leben nicht wieder-
sehen ! Ach ! dieser blosse Gedanke macht mich ganz wehmüthig
dass ich gleich wünschte zu sterben, was würde ich nicht leiden'')
wenn Sie wirklich sich so weit von mir entfernten. Doch Sie
werden dieses nicht thun, Gleim wird so woll vor das Nein seyn,
als Herr Langemack und ich, und der wird schon so viel Ge«
walt über Sie haben , dass er Sie zum Entschluss bringen wird
hier zu bleiben, und hier eine Bedienung abzuwarten. Zwar
glaube ich dass Ihrer zufriedenen Gemüthsart nach das Land
ihnen woll gefallen würde, weil ich glaube dass einem zufriedenen
alle Gegenden der Welt gefallen, sonst aber hat Dänemark nichts
vorzügliches vor andern Ländern. Es herrscht daselbst eine sehr
stille und schlaaf-machende Lebensart, und die Dummheit auf
einem Trohne von Eis sitzend, den Kopf auf einen Grützbeutel
^) Zutrat: empfinden
Sauer, Mittheilunge n über £. v. Kleist. 267
gestützt, gebiethet dem ganzen Lande. Sie ist schuld dass ich
den Stand habe erwehlen müssen, in dem ich bin, weil sie mir
etliche^) Jahre durch, die einfältigsten Tröpfe*), die kaum lesen
und schreiben konten aber einen guten Reverence zu machen
wüsten, zu den schlechtsten Secretariats-Stelleu, die ich aus Noth
suchte, vorzog. Doch in diesem Falle wird sie Ihnen nicht mehr
schaden können, da Sie nicht nöthig haben werden was zu
suchen ; indessen wird sie ihnen doch vielleicht zu weilen Ver-
druss machen. Gesetzt aber auch dass sich in meinem Urtheile
von dem Lande etwas Partheylichkeit mit einschliche, welches
auch wieder meinen Willen geschehen könte, gesetzt, es sey das
beste der Welt, werden Sie auch daselbst so viele Freunde wie
hier, und solche, antrefifen? Ich bin nicht der, der Sie zurück-
halten kan, aber bedenken [Sie] was Sie sonst verliehren. Gleim,
Klopstock , Spalding , Sulzer , Sukrow , Krause , Langemack,
Schmidt etc. was vor genies ! was vor Charactere ! welche Freunde I
Diess sind vielleicht die besten Menschen die auf der Welt sind,
die Blumen des menschlichen Geschlechts! Der Himmel giebt
nur denen solche Freunde, die er beglücken will. Ich wenigstens
wünschte mir keinen Augenblick zu leben, wenn ich sie nicht
hätte, denn wäre mir die ganze Welt ein finstres Loch. Über-
legen Sie dieses also doch bey Leibe recht ^^), ehe Sie sich ent-
schliessen, wenigstens engagiren Sie sich nicht auf ewig, sondern
denken Sie auf eine Rückkehr, wenn sich einmahl Gelegenheit
finden solte dass Sie hier eine Bedienung bekommen könten.
Ich küsse Sie und bin unaufhörlich
Potsdam den 12*«° August 1750. Ihr getreuster
Kleist
[Randschrift auf S. 4:] Mein alter Seidlitz und ich, wir
möchten gerne etwas Tulpen , Tazetten und Hiacinthen Zwibeln
in unsere Gärten haben. Bitten Sie doch den H. Langemack in
meinem Nahmen, dass er sich bey dem Hr. Geheimtenrath Gause,
oder H. Hofrath Bergius die Blumisten sind, nach einem Gärtner
erkundige der welche verkauft, und mir den Nahmen desselben,
wie auch was der Rummel Bacchetten Zwibeln, und das
Dutzend von den andern benandten Sorten kostet, wissen lasse.
Yon Ramlers Umarbeitung hören wir lange nichts.
Erst nach dem Eingehen der Critischen Nachrichten scheint
er sich wieder lebhafter mit ihr beschäftigt zu haben; die
'Stelle von seiner Arbeit', welche er Ende des Jahres 1 750
an Kleist übersandte und welche dieser ^ganz ausnehmend
') corrigirt aiM: ganse
*) corrigirt aus: Köpfe
^*) corrigirt aus: Bedenken Sie sich alao — erst
18 ♦
268 Sauer, Mittheilungen über £. y. Kleist.
schön' fand, so dass sie die seinige ganz verlösche, ist
offenbar dieselbe, von der Ramler 14. Mai 1751 an Oleim
schreibt:
Habe ich oder hat er [Kleist] ihnen das Lob der Gottheit,
das ich in seinen Früling hineingebracht habe, zugeschickt? Wo
nicht, so federn sie es von mir, weil sie doch ein Paar Zeilen
von meiner Muse haben wollen. Dieses faule Mädchen wird in
Kleists Frülinge mehr plaudern, als sie in ihrem Leben ge-
plaudert hat.
Auf Gleims Bitte übersendet er die Verse, in einem
undatirten Briefe, Anfang October 1751 (vgl. Nr. 89 Vers
337); ich nenne das Bruchstück R^:
Durch dich ist alles was gut ist, vollkommenstes Wesen und
Erstes!
Du, Vater der ewigen Welt, gleich gross im zärtlichen Vogel
Der hier im Dornstrauch hüpft, gleich gross in der Sonne, die
schweigend
Rund um sich an goldenen Seiten bevölkerte Welten herumführt,
•^ Im Wurme der einen bestäubeten Erntetag lebt, und im Cherub,
Der lange Jahrtausende schon die Kunst der Schöpfung durch-
denket
Und viele Glieder bereits an der Kette der Wesen verknüpft sieht
Er selbst der oberste, doch in deiner Grösse verschwindet,
0 Fülle deiner unendlichen Welt! alleuchtcnde Fülle!
10 Von unterschiedenen Zungen der Weisen Jehova gegrüsset
Und Oromazes und Gott. Die Feuermeere der Sterne
Sind Widerscheme von Tropfen des Lichts, mit welchem du
blendest.
Ja fleuch durch den Raum, und fleuch ewig, und Sphären um-
fliessen dein Antlitz,
0 Seraph, du theilest umsonst den flammenden Abgrund der
Gottheit,
15 Kein Pünctchen nälier dem Grunde, dann vor bey der Aus-
flucht — schaudernd.
Und einsam, bey Nacht, im heiligsten Walde, versenk ich mich
in Ihn:
Und 0 wie verschwindet mir dann die niedere Wollust! Wie
werden
Mir alle Begierden erhöht! Du Weltgeist, hier steh ich ver-
lohren
Auf einem Staube des Gantzen und breite die Hände zu dir aus !
20 Erhältst du wann einst das Gewebe des schönen Leibes sich
auflöst.
Ein höheres Antheil von mir: so soll die Bewunderung deiner
Mein Janges Geschäfte verbleiben, mein langer Gesang.
Sauer, Mittheilungen über £. y. Kleist. 269
Noch ein drittes BruehBtück aus Kamlers Umarbeitung
(R^) hat sich erhalten, ist sogar im Jahre 1753 gedruckt
worden. Werke 1, XCI und 2, 253 f. habe ich auf eine von
Krause veranstaltete für die Oeschichte des Gesellschafts-
liedes äusserst wichtige Odensammlung hingewiesen, welche
ich nachträglich 3, 325 in den 1756—1763 bei Breitkopf
in Leipzig erschienenen drei Heften ^Berlinischer Oden
und Lieder' gefunden zu haben glaubte; aber die be-
treffenden Briefstellen beziehen sich vielmehr auf die ^Oden
mit Melodien Berlin, gedruckt und verlegt bey Fr. Wilh.
Birnstiel' (zwei Theile o. J., die Vorreden datirt vom l. Oc-
tober 1753 und vom 22. April 1755), welche mir Schüddc-
kopf im Besitze der' Berliner Egl. Bibliothek nachwies,
welche Lindner - Erk in der Geschichte des deutschen
Liedes S. 52 ff. ausführlich besprechen, und deren ersten
Theil auch Lessing 1753 anzeigte (Werke, Hempel 12,
525). Der erste Theil ist einem Fürsten Lobkowitz, der
zweite dem aus Kleists Briefwechsel bekannten Herrn von
Arnim gewidmet. Die bei Lindner - Erk mitgetheilte Vor-
rede des ersten Theiles ist mit Benutzung eines Briefes
von Krause an Gleim, den ich in Kleists Werken 2, 253 f.
abdrucken liess, von Ramler verfasst (vgl. Schüddekopf
S. 35). Darin ist auch von den Veränderungen die Rede,
welche die Liedertexte erfahren hatten : zum Theile rührten
sie von den Verfassern selbst her, einige wenige Verände-
rungen seien 'wegen versäumter Anfrage einigermassen un-
gebeten hinzugekommen'. Wir wissen, dass diese Ver-
änderungen von niemandem andern als von Ramler stam-
men: 'H. Ramler hat alle Texte vorher noch die Revue
passiren lassen, ehe sie componirt worden und er hat die
Hagedornes excellent gemacht' (Kleists Werke 2, 254). Im
ersten Theile dieser Sammlung stehen zwei Lieder von
Kleist, als Nr. 5 'Ja liebster Dämon' ('Phyllis an Dämon'
Werke 1, 51) componirt von Graun jun. und 'Sie fliehet
fort' ('Amynt' Werke 1, 74) componirt von Bach jun.,
das erstere sehr stark corrigirt, so dass es nur an drei
Stellen von der Fassung in Ramlers Lyrischer Blumen-
lese 1778 (6, 4) abweicht: V. 2 Ich fühl, ich fühl es
V. 4 Dass ich dich liebe V. 10 Ein heftig Fetter löste meine
270 Sauer, Mittheilungen tiber E. v. Kleist.
Olieder^^)] der *Amynt' gleichlautend mit der AuBgabe von
1760.^^) Im zweiten Theile aber stehen als Nr. 8 mit der
Überschrift 'Das Landleben' die Verse 200—211 des 'Früh-
lings' (Nr. 89 'O dreimal seliges Volk' u. s. w.) und zwar
gleichlautend mit der Fassung in der Ramlerschen Ausgabe
von 1760 (Nr. 90 V. 160—172); blos Vers 165 fehlt Nur.
Diese letztere Thatsache macht eine ausführliche Unter-
suchung überflüssig. Es ist jetzt bewiesen, dass Ramler
an dieser Stelle seine ältere Umarbeitung R^ in die erste
Ausgabe der Eleistschen Werke einfach herübernahm ; das
Bruchstück B^ fallt in jene Partie des Qedichtes, welche
Bamler 1760 und später unangetastet liess; es weicht so
sehr von der Eleistschen Vorlage ab, dass es eine Ver-
wendung dort nur hätte finden können, wenn der Heraus-
geber die ganze zweite Hälfte des Gedichtes dement-
sprechend umgearbeitet hätte, wozu ihm Zeit und Lust
fehlte. Das Bruchstück B^ zeigt uns aber nun deutlich,
Yfie Ramler eklektisch vorgieng, wie er älteres und jün-
geres , eigenes und fremdes mit kecker Hand mischte.
Den einzigen grösseren Zusatz der Ausgabe 1760 (Anhang
Nr. 104 Vers 76—82 meiner Ausgabe), den ich (Über die
Ramlerische Bearbeitung S. 14) richtig als Ramlerische
Mache erkannte, steht fast wörtlich schon in JR* Vers 55
— 61; ja die ganze Stelle R 72—94, in deren Anordnung
ich ebendort den näheren Anschluss an F^ nachzuweisen
versucht habe, hat Ramler mit geringen Kürzungen und
^^) Ramler ist also 1760 hier conservativer gewesen, als ich:
Über die Ramlerische Bearbeitung S. 10 annahm; da V. 3. 4 in dieser
Fassung, wie sich später zeigen wird, von Kleist selbst herrühren, so
scheinen auch die wenig gelungenen Änderungen in V. 11, 12 und
14 auf den Dichter selbst zurückzugehen, und erst in den späteren
Auflagen griff Ramler auf seine ältere Umarbeitung zurück.
*•) Die Umarbeitung des *Amynt' (Nr. 22 meiner Ausgabe) ist also
hier zuerst gedruckt, da die 'Oden mit Melodien' früher erschienen
als die Zürcher Ausgabe des Frühling 1754 (F^), und sie rührt von
Ramler her, der, fälschlich das. 'Trinklied* an Stelle von 'Phyllis an
Dämon* nennend, an Gleim 19. November 1755 schreibt: 'Herr v. Kl.
hat seinen Amint und seinen 'Weisen Dämon, dessen Haupt* so drucken
lassen, wie wir ihn hier zugerichtet hatten und also kan es seinen
Nahmen fuhren*: Ramler muss seine Correcturen vor dem Druck von
J^ Kleist übergeben haben.
Sauer, Mittheilungen über E. y. Kleist. 27 t
Änderungen seinem älteren Manuscripte entnommen. Dass
der Vers B 88 f. 'Spannt eure Segel den Ost auf und erntet
den Reichthum der Inseln im Meer' nicht ohne Grund für
Ramler in Anspruch genommen wurde, bezeugt dessen Fas>
sung in 22* 68 f.: ^Lasst eure Segel den Reichthum | Aus
allen Inseln des Meers in Schatten nehmen' u. dgl. mehr.
Ein Vergleich des Bruchstücks i2* mit R 1760 lehrt femer,
dass auch die metrischen Grundsätze, welche Ramler bei
seiner Correctorthätigkeit leiteten, innerhalb der zehn Jahre
wesentlich dieselben geblieben sind, womit die Stelle seines
Briefes an Gleim yom 12. November 1749 in Verbindung
zu bringen ist:
Der Hexameter [in Uzens Frühlingsode] aber ist der aller-
wohlklingendste , und hat die Cäsur da, wo ich sie in Kleists
Früling so gern setzen mag. Doch weil es eine grosse Voll-
kommenheit vom Hexameter ist dass er sich abändern lässt, so
wolle ich ihm nicht gern, auch nicht in Lyrischen Gedichten, eine
Fessel anlegen. Horatz thut es auch nicht. Der Abschnitt aber
müste wohl bleiben, weil er zur Harmonie oder vielmehr zur
Respiration unentbehrlich ist. Kleist hat etliche Uzische Verse
z. E. Ich will die V^ollust in mich mit eurem Balsamhauch ein-
ziehn etc. (V. IS); Scheint dort aus Mitternacht nicht, vom
Sonnenstrale getroffen etc.
Wie Ramler immer mehr vom Originale sich entfernt
hat, möge die Vergleichung einiger Stellen beweisen:
F^ 96 f. iJ» 33 f. JB 1760, 56 f.
Gebirge, die Brüste und hinten stehu Re- und hinter ihm hebt
derReben, bengebürge, sich
Stehn fröhlich um DasHaupt mitEpheu Ein Rebengebirg
ihn herum; gekrönt, st oltz über empor, mit Thyr-
den Garten, susstäben be-
pflanzet;
JPi 100 f. ü» 37 f. jB mO, 60 f.
Die Lerche steigt in Die Lerche besteiget Die Lerche besteiget
die Luft, sieht unter die Luft, sieht wie- die Luft, sieht unter
sich Klippen und der beblümete sich seel ige Thäler,
Thäler ; Thäler,
Entzückung tönet Bleibt schweben, und Bleibt schweben und
aus ihr. singet entzückt. jubiliret.
Diese Andeutungen mögen genügen, da doch die Unter-
suchung im ganzen Umfange nicht ein zweites Mal ge-
macht werden kann. Ich glaube aber wenigstens noch auf
272 Sauer, Mittheilungen über £. v. Kleist.
zweierlei Schwierigkeiten hinweisen zu müssen, die bei
einer genaueren Yergleichung sich ergeben. Obgleich die
oben besprochene Vorlage Ramlers dem 1749 gedruckten
Texte (F^) sehr nahe steht, so scheint er doch ursprüng-
lich nach einer Fassung gearbeitet zu haben, welche noch
einige, später veränderte, Lesarten aus dem zu Nr. 89 mit-
getheilten Manuscripte des Trühlings' (M) enthielt, wie
folgende drei Stellen beweisen:
M F' Ä*
76 ins Moos mich ins Grüne mich 3 im Mo sse gelagert
setzen setzen
79 Ein Kranz von Ein Zaun von blü- 15Auchkräntzt und
blühenden Dornen henden Dornen röthet daselbst ein
Umschliesstundröthet Umschliesst und röthet Zaun von blühen-
den Domen
131 wenige Sorgen wenige Mühe 66 wenige Sorgen
Ferner; so wie Kleist in F^ die Ramlerische Umarbei-
tung des 'Amynt' aus den 'Oden mit Melodien' herüber-
nahm, so scheint er dies auch in F^ (1754) bei einer
Stelle des Frühlings' gethan zu haben, wie folgende Zu-
sammenstellung beweist :
F^ 206 B« F^ 160
DeristeinGünstling Nur der ist ein Lieb- Der ist ein Liebling
des Himmels, den, ling des Himmels, des Himmels, den,
fern von Foltern der, fern vom 6e- fern von Lastern
der Laster, tümmel der Tho- und Thorheit,
ren,
Die Ruh"* an Quellen am Bache schlummert Die Ruh* an Quellen
umschlingt. umschlingt
Directen Antheil hatte Bamler weder an den späteren
Einzelausgaben des ^Frühlings' noch an der Gesammtausgabe
des Jahres 1756; wollte Gleim in letzterer 'sogleich beim
ersten Anblick' Ramlers Meisterhand erkannt haben (27. Oc-
tober 1756), so versicherte ihn dieser vielmehr (17. No-
vember 1756): *Sein Frühling ist von ihm selbst verbessert
worden, ohne dass ich einen eintzigen Pinselstrich hinzu-
gethan habe'. Erst bei der im Jahre 1759 geplanten Aus-
gabe der Werke tritt Ramler wieder helfend und bessernd
ein. Der glückliche Zufall hat uns Kleists entscheidenden
Brief über die Anordnung dieser Sammlung erhalten:
Saaer, Mittheilungen über E. v. Kleist. 273
Kleist an Ramler.
Liebster Freund
Für Ihr schönes Geschenk des Batteux, bin ich Ihnen sehr
verbunden. Ich blättre fleissig darein, und sehe mit Vergnügen
wie ihn mein lieber Ramler zum deutschen Original gemacht hat.
Dass Sie mich nun nicht besuchen können, ist mir sehr leid, ich
werde mich nun nach dem Sommer sehnen, wie ich mich nach
dem Winter, sonst wieder meine Natur, gesehnt habe. Herr
Lessing stellt sich auch noch nicht ein, er wird woll zu mir
kommen wenn die Campagne angeht, und wenn ich nicht mehr
hoffen werde dass er komt. —
Ihre verbesserten Stellen im Früling, kan ich nicht adop-
tiren, ich habe Ihnen ohnedehm schon die Erfindung der Emire
und Agathocles, und sonst verschiedene Gedanken und Verbesse-
rungen abgeborgt. Wenn ich einmahl todt bin, den mögen Sie
ausbessern was Sie wollen, oder vielmehr den sollen Sie alle
meine Sachen ausbessern, und dieser Brief soll mein Testament
seyn, darin ich Ihnen legire, dass Sie alles nach ihrem Gefallen
ändern, und ein Pflegevater meiner Poesien seyn und diess in
der Vorrede sagen ^^) sollen. Herr Lessing wird Ihnen doch woil
überliefert haben, wie jetzo meine Kleinigkeit[en] gedruckt werden
sollen. Nemiich im ersten Theil:
1) Vorbericht des Verlegers, (ohne das geringste Lob)
2) Dedication an die Freyfrau von der Goltz.
Oden (ein apartes Titelblatt)
1) Der Vorsatz
2) Hymne
3) An die preussische Armee im Martz 1757 [4]^^)
4) Einladung aufs Land im December an Herrn Hofrath E.
(NB. so muss es gedruckt werden) Der Westwind flieht
nun Flur und Weiden, die nicht mehr blühn etc. [5]
5^ An Herrn Rittmeister Adler. [3]
6) Das Landleben, an Herrn Ramler [7]
7) An Herrn Gammerherrn v. W.^*) (Mein Tirsis lass dich
nicht) [6]
Lieder Titelblat.
1) Phillis an ihren Dämon
2) An Dämon (Weiser Dämon dessen Haupt etc.)
3) Galathee
4) Die Heilung
") ü. d. Z.
**) Wo die Ramlerische Ausgabe 1760 von der Kleistiscben
Beihenfolge abweicht, setze ich die Zählung der ersteren in Klam-
mem bei.
") Zuerst: an Tirsis.
274 Sauer, Mittheilungen über E. v. Kleist.
5^ Lied eines Canibalen
6) Lied eines Lappländers
7) Liebslied an die Weinflasche
8) Trinklied an — (Freund versäume nicht zu leben)
9) Lesbia und Damöt
10) Cfaloris (nach dem Zappi) [11]
11) Gedanken eines betrunkenen Sternsehers (hat H. Voss) [10]
12) Grablied
13) Gebuhrtslied.
Idyllen. Titel[blatt].
1) Menalk
2) Gephis (NB. nicht an Gessner) Mreil es lässt, als wen ich
ihn anrede: Sey mir gegrässt etc.
3) Amint [4]
4) Milon und Iris [3]
5) Nach dem Bion [6]
6) Irin, an Herrn Gessner den Verfasser der prosaischen
Idyllen. [5]
Erzählungen und Fabeln. T[itelblatt]
1) Die Freundschaft an H. Gleim [i]
2) Emire und Agathocles [1]
3) Arist
4) Die Seefarth (wird Ihnen Gleim schicken) [fehlt]
5) Der gelähmte Kranich. [4]
Sinngedichte T[itelblatt].
Ausser denen die in der alten Auflage stehen
1) Grabschrift auf den M. v. Bl. etc. [15]
iS Über 2 einäugigte Geschwister etc. [7]
3; Auf den Altindes (wird Ihnen Gleim schicken) [20]
4) Ein Gemähide (Portrait ist woU besser) [13]
5) Auf den Tod eines grossen Mannes (NB. Dies war Geliert
den man todt sagte) [1]
6) Über das Bildniss Raphaels von ihm selbst etc. [2]
Unausgearbeitete Gedichte. T[itelblatt].
Lob der Gottheit
Sehnsucht nach Ruh
Fragment eines Gedichts an den König.
2*«' Theil.
Dedication an den Hauptmann von ManteuSSel, (unten muss
der datum stehen an dem ich sie gemacht habe den 18. Sept.
1758, denn jetzo ist er erschlagen)
1) Cissides und Faches nach dem beykommenden Exem-
plar [2]
2) Der FrQling, (italiänisch an der Seite) [1]
3) Die Unzufriedenheit der Menschen an H. P. Sulzer.
Sauer, Mittheiluiigeii über E. v. Kleist. 275
4) Seneka ein Trauerspie), [steht am Schlüsse des ersten
Theües]
Ende.
Ob Sie die Vorberichte wollen cassiren oder stehen lassen,
das soll von Ihnen dependiren. Klein Oetav hätte ich am lieb-
sten, wenn Sie es aber besser finden, kan man auch gross 8^^
nehmen, aber 30 Bogen (jeder Theil zu 15) müssen es werden.
NB. wenn es angeht
Hier haben Sie noch einige Verbesserungen, die ich zu
notiren bitte:
1) In dem Vorbericht zum FrGling, stat unnachahmbar, un-
nachahmlich. [Werket, 138]
2) Im Fröliug nicht weit vom Anfange stat: die unabseh-
bare Fläche (des Meers), unabsehliche. [Nr. 90 Vers 60;
Nr. 104 Vers51]>»)
3) Hier wo das hohe Gebürge, bekleidet mit Sträuchen
und Tannen etc. im Früling [Nr. 90 Vers 45; Nr. 104
Vers 40]
4) Im Früling: auf der Insel:
Die Blüthen küssen einander, und scheinen eine
am Athem
Der andern sich zu ergötzen etc.
stat: Es küssen die jungen Blüthen etc. [Nr. 90 Vers
343 f.]
5) Im Lob der Gottheit: Tausend Sternenheere loben meines
Schöpfers Huld und Starke etc. [Nr. 4 Vers IJ
6) Die nahen Felsen und Hügel hiedurch zum Mitleid be-
wogen
Erheben ein zärtlich Gcwinsel etc.
stat: Die strauchichten Hügel etc. im Früling: wo die
Nachtigal gefangen wird. [Nr. 90 Vers 225]
7) Im Arist: oft, wenn er schwieg
Fiel schnei ein Wolkenbruch, mit wildem Lerm
Zur bangen Erd herab etc. [Nr. 72 Vers 4 f.] NB. Die
Fabel die Geliert nachgeahmt ist.
8) In dem sapphischen Liede Phillis an ihren Dämon [Nr.
11 Vers 1-4]:
Ja, liebster Dämon! ich bin überwunden
Mein Geist empfindet was er nie empfunden.
Dein Harm von dem dein Angesicht erbleichet
hat mich erreichet. (Den Rest
hat H. Lessing.)
9) Im Früling : Mit Arbeit würtzt er die Kost (NB. Ramler)
[Nr. 104 Vers 171] — Diess ist nun auch bald alles.
Die übrigen Verbesserungen, wird Ihnen Herr Lessing
^*) Von hier ab in Klammem die Nummern meiner AuBgab?,
276 Sauer, MiitheiluDgen über £. v. Kleist.
gegeben haben. NB. die Stücke dürfen nicht numerirt
werden, ob ich es gleich hier gethan. Noch eine Ver-
besserung im Früling [Nr. 90 Vers 73—76; Nr. 104
Vers 62—65]:
— — Er horcht eine Weile, den lehnt er
Sich auf den gleitenden Pflug, zieht braune Wellen ins
Erdreich —
Der Sämann schreitet gemessen, giesst gleichsahm trocke-
nen Regen
Von Saamen, hinter ihm her. — 0 dass der müh-
sahme etc. etc.
(Die Krähen und die Egde kommen weg NB)
[Randschrifl] Was werden Sie für Mühe haben allerliebster
Freund! Aber Sie sollen mir [nie] wieder einmahl dergleichen
machen. Ich bin ewig
Ihr getreuster
Zwickau den ^ß^^ Januar 1 759. Kleist, sonst Menalk.
[Randschrift auf S. 3] NB. In der Fabel: Die Seefarth, muss
der Anfang heissen [Nr. 82 Vers 1—4]
Filind und Egle fuhr mit Daphnis auf dem Meer
Im Kahn. Der Himmel war von Wolken anfangs leer
So wie ihr Geist von Schmerz. Sie sahn im Wasser blühen
Den Strand, und ihn dem leichten Kahn entfliehen etc. etc. —
und nicht wie ihn Gleim schicken wird.
[Randschrift auf S. 2] P.S. Machen Sie doch an den Herrn
Stallmeister v. Brandt meine gehorsahmste Empfehlung, und
fragen Sie ihn, ob kein Printz oder Printzessin etc. Pagen ge-
braucht. 4 junge Edelleute 2 Plötzen, 1 Manteufel, und 1 Kleist,
bitten mich sie unterzubringen, und ich bin sehr ohnmächtig.
Sie sind 14 bis 15 Jahr alt, und sollen gut aussehen. Mir ge-
schähe woll eine ungemeine Freundschaft, wenn es möglich wäre
sie zu employiren.
[Randschrift auf S. 1] Tausend Grüsse an unsere Freunde.
Herrn Lessing bin ich eine Antwort schuldig, aber ich besorge, dass
sie ihn nicht mehr in Berlin findet, daher will ich sie schuldig
bleiben.
Die Erfindung der Vignetten etc. überlasse ich Ihnen gänz-
lich. Zum 2^^^ Gesang des Cissides könte allenfals die Geschichte,
da Paches dem sterbenden Cissides den Pfeil aus dem Rücken
zieht, und zum 3**" der Waffenträger der bey dem Todten liegt,
gestochen werden etc. Verzeihen Sie mein Geschmier.
^ Aus diesem Briefe geht folgendes mit Sicherheit her-
vor: 1) Von der letztwillig angeordneten Reihenfolge der
Gedichte wich Eamler ohne sichtbare Qründe mehrfach
Sauer, Mittheilungen über E. y. Kleist. 277
ab ; das Gedicht 'Die Seefahrt' blieb gegen Kleists Ver-
fügung aus der Sammlung weg. 2) Von den ihm hier mit-
getheilten Änderungen des Dichters nahm Ramler nur zwei
unversehrt in seine Ausgabe auf, in 'Arist' und in Thyllis
an Dämon'; die unter 1 — 6 yerzeichneten Besserungsvor-
Bchläge Hess er ganz unbeachtet. 3) Ramlers ältere Um-
arbeitung des 'Frühlings' wurde allerdings yon Kleist an
6iner Stelle Nr. 104 Vers 171 gebilligt und angenommen;
denn nur auf diese kann sich das 'NB. Ramler in Punkt 9
beziehen. 4) Ramler aber sah diese partielle Verfügung
als einen allgemeinen Freibrief an, schob seine Fassung
auch dort unter, wo Kleist sie nicht gebilligt, yielmehr
eigene Besserungsyorschläge gemacht hatte , und putzte
sein Erzeugniss gelegentlich mit einem Fetzen aus Kleists
Nachlass auf. Es genügt wohl, dies hier an einer Stelle
des ^Frühlings' zu zeigen, die die mannigfachsten Schick*
sale durchgemacht hat.
Vers 104 f. lautet ursprünglich {F^): 'Der Säemann
schreitet gemessen, Giesst güldne Tropfen ihm nach'. Im
Briefe an Gessner 16. Mai 1753 schlägt Kleist die Ände-
rung yor: 'und streut den Samen ihm nach' mit der Be-
gründung 'Die goldenen Tropfen sind gar zu sehr getadelt
worden'; so steht auch in F^\ in F^ und G (1756) ähnlich:
'Und wirfk den Samen ihm nach'. Die Änderung nun,
welche der obige Brief bietet, ist nur eine halbe und zag-
hafte Rückkehr zum ursprünglichen kühnen Tropus, der
yon beiden Seiten abgeschwächt und yerklausulirt wird:
'giesst gleichsahm trockenen Regen Von Saamen, hinter
ihm her', eine Rückkehr, die aber immerhin beweisen
mag, dass Kleist für seine letzte Umarbeitung die älteren
Drucke seines Gedichtes bei der Hand hatte. Oder ist
hier gleichfalls ein Einfluss Ramlers zu constatiren, der
1749 geschrieben hatte: 'giesst goldenen Hagel ihm nach'?
Ramler beharrt auf seiner Fassung, nur den 'Hagel' lässt er
1760 in 'Regen' zerfliessen. An derselben Stelle opfert er
zwar die 'Egge', die Kleist ja schon 1756 hinausgeworfen
hatte, auf; aber die 'Krähen' nimmt er gegen Kleists Verdam-
mungsurtheil auch fernerhin in Schutz. Auch von dieser
Seite kommen wir also zu demselben Urtheile, dass Ramler
278 Sauer, Mittheilungen über £. y. Kleist.
die falschen Münzen seiner älteren Umarbeitung als echtes
Kleistisches Gepräge ausgegeben hat.
Für den Herausgeber der Kleistischen Werke aber
wäre dieser Brief von der höchsten Wichtigkeit gewesen;
wäre ihm auch die Untersuchung nicht eben vereinfacht
worden, jedenfalls hätte ihm mancher Fehlschluss erspart
bleiben können und mit grösserer Sicherheit hätten sich die
Ramlerischen Zusätze nachweisen lassen; vielleicht auch
hätte er sich dadurch bestimmt gefühlt, von der geraden
Linie der chronologischen Reihenfolge zu Kleists eigener
künstlerischer Gruppirung abzuschwenken, was jetzt spä-
teren Ausgaben vorbehalten bleiben muss.
Ramler selbst hatte ein schlechtes Gewissen, als er
den Freunden des dahingeschiedenen Dichters über seine
Arbeit Rechenschaft gab; ja er wagte es trotz seiner Be-
rufung auf das Testament nicht, ihnen seinen eigenen An-
theil an der Textesgestaltung im ganzen Umfange einzu-
gestehen; an Gleim 6. November 1759:
Jtzt suche ich alle seine Briefe mit Herrn Lessing durch,
worin er uns Lesearten über seine Gedichte geschrieben hatte.
Einen Brief hebe ich noch immer auf, worinn er es mir gleich-
sam als in einem Testamente vermachte, dass ich nach seinem
Tode nach meinem Gefallen Lesearten darin machen könne, und
dass er sie schon im voraus als die seinigen adoptirte. Der
gute, der mir allzuviel zutrauende Freund, Dichter, Mensch! Es
müssten unendliche Kleinjgk[eiten] ^^) seyn, die ich hineinsetzen
könnte; ich mag seinen schönen Cha[rakt er] ^'') der sich so sicht-
bar in allen seinen Worten mahlt, durch fremde [Zusätze] ^'^)
nicht unkenntlich machen. Sein melancholischer, oft kühner
Pinsel geßLllt mir allzusehr, als dass ich ihn mit meinem allzu
furchtsamen Pinsel verunstalten sollte.
Gleim traute dem Erzkritikus doch nicht ganz und
ahnte, dass das Gespenst des verbesserten 'Frühlings'
noch nicht zur Ruhe gelangt sei; 24. Februar 1760 an
Ramler:
So fürtreflich Ihre ehemaligen Veränderungen seines Frü-
lings waren, so billige ich doch den Vorsatz sehr, dass Sie uns
den wahren Kleist liefern wollen; ich könte Ihnen mit einem
Briefe beweisen, dass Er Ihren Zusätzen und Verbesserungen den
vollkommensten Beyfall gegeben, aber nie gewünscht hat, dass
") ausgerissen.
Sauer, Mittbeilungen aber £. y. Kleist. 279
es Ihnen Ernst seyn möchte, sein Gedicht damit zu verschönern.
Er sagt in angeführtem Schreiben ohngefehr, Herrn Ramlers
Früling würde unendlich viel schöner seyn, als der meinige, aber
er würde nie der Meinige seyn. Bei dem allen wünschte ich
doch sehr, dass es möglich wäre, dass sie Ihre schönen Zusätze,
uns auch zu lesen geben könten. Vielleicht finden Sie ein Mittel,
entweder dadurch, dass Sie sie als Fragmente liefern, weil sie
doch mit Ihrer Idee der höchsten Vollkommenheit, schwerlich es
dahin bringen, dass sie uns ein ganzes Stück geben, oder, dass
sie — doch, wenn noch ein anderes Mittel ist, so werden sie es
besser wissen als ich.
Er wusste ein besseres Mittel und scheute sich nicht
es anzuwenden, hatte aber doch nicht den Muth Gleim
die volle Wahrheit zu sagen, wie das folgende Schreiben
Qleims •— ein Vorläufer des späteren Bruches mit Ramler —
beweist:
22. August 1760. Dann, liebster Freund, verlangten Sie von
mir das Leben unsers Kleists. Wenn Sie in den dreyen Wochen
ihres Hierseyns nur einen Tag davon mit mir hätten sprechen
wollen, welches ein so grosser Trost für mich gewesen wäre, so
würde dieses mich nicht befremden. Aber sie beobachteten so
wohl hievon, als von der Ausgabe der Gedichte unsers
Kleists, ein, wie es mir vorkommen muste, wohlbedächtiges
Stillschweigen, und wenn ich sie darauf bringen wolte, so eilten
sie von dieser Materie, auf eine andere; und mir war dieses
allerdings ein Rätzel, welches dadurch, dass Sie Herrn Lessing
zum Herausgeber machten, und auf ihn desshalb, dass man mich
nicht zu Rathe zöge, alle Schuld schoben, nicht aufgeiöset wurde.
Oft fieng ich von den Briefen unsers Kleists an zu sprechen,
und da mag Ihnen eingefallen seyn, dass ich Ihnen von einem
gesagt habe, darinn Er alle Veränderungen seiner Gedichte ver-
bittet; den werden sie vielleicht nicht haben sehen wollen, um
die Freiheit zu verändern; die sie, aus einem andern Schreiben
sich anmassen, von mir nicht streitig machen zu lassen — Diese
Ursach Ihrer Zurückhaltung so bald ich von meinem Kleist mit
Ihnen sprechen wolte, ist, ich gestehe es, mir noch die erträg-
lichste ....
Gleim lieferte die früher in Aussicht gestellte Lebens-
beschreibung Kleists nicht. Ein ausführlicheres Urtheil
über das fertige Werk fehlt uns von ihm; er tadelt nur den
hohen Preis und schlüpft über den wesentlichen Punkt
rasch hinweg (10. December 1760):
Kaum habe ich noch hineinsehen können! Viele fürtref-
liche Besserungen habe ich wahrgenommen ; ich muss meine
280 Sauer, Mittheilnngen über E. v. Kleist.
Augen erst mehr daran gewöhnen, ehe ich sie mit Fleiss lesen,
und mit Ihnen mehr, als itzo, davon sprechen kan.
Erst bei der zweiten Auflage von 1761 rückt er mit
seiner wahren Meinung heraus. Auf diese beziehen sich zu-
nächst zwei Stellen aus Ramlerischen Briefen ; aus der ersten
(3. December 1760): *Das Wörtchen, was von einer neuen
verbesserten Ausgabe in der Vorrede vorkömmt, werden
Sie für einen Buchhändierkniff halten, und er ist es auch.
Indessen macht Voss wirklich zu einer wohlfeilen Aus-
gabe Anstalt, damit diese Anstalt kein anderer Buchhändler
machen möge' ist mit Sicherheit zu schliessen, dass die
von mir gesuchte kleinere Ausgabe mit der Jahreszahl 1 760
gar nicht existirt (vgl. Über die Raralerische Bearbeitung
8.28); an der zweiten Stelle (16. October 1761) charak-
terisirt sie Ramler: ^Die Edition ist sehr sauber und findet
fast mehr Liebhaber als die vorige. Mit Recht, weil sie
vollständiger ist. Drei Gedichte die durch Herrn Lessings
Übersehen ausgelassen waren, sind itzt hinzugekommen.
Auch sind ein Paar Correcturen in den kleinen Gedichten,
die schon bey seinem Leben lange abgedruckt waren, an
ihren Stellen eingeschaltet.' Vgl. Werke 1, XCIV f. und
Über die Ramlerische Bearbeitung S. 28 f.
Gleim geht in seinem Dankbriefe von einem verhält-
nissmässig geringfügigen Fehler aus, den er gewiss nur
deshalb so heftig tadelt, weil er mit der ganzen Sudel-
arbeit nicht einverstanden war, und Ramler entschuldigt
sich nur deshalb so umständlich, weil er sich um das Ein-
geständniss seines eigenmächtigen Vorgehens herumdrücken
will.
Gleim an Ramler 22. November 1761 (nach dem Con-
cepte). Sie haben mir die neue Ausgabe der Kleistischen Werke
in sauberm Bande geschickt , ohne mir zu sagen, von wem ich
dafür Schuldner geworden bin. Angenehm würde sie mir seyn,
wenn ich nicht argwohnen müsste, dass man die Jahrzahl 1739
über dem Gedicht an Adler mit Vorsatz habe stehen lassen.
Sie werden sich erinnern, lieber Ramler, dass ich bey meinem
Dortseyn^^) sie recht sehr bat diesem Gedicht die rechte Jahr
Zahl zu geben, und dass sie in Ihrer Schreibtafel diese Bitte auf-
schrieben ; da sie nun nicht allein dieselbe nicht gewehrt, sondern
") Juni, JuH 1761.
Saaer, Mittheilangen über E. r, Kleist. 28 1
überdem das Stehenbleiben derselben mit keinem Worte entschul-
digen, so kan ich wohl nicht anders als meine verschiedenen Be-
schwerden über meinen Ramler mit dieser vermehren — Diese
Offenherzigkeit y mein liebster Freund, wovon ich Ihnen schon
mehr Proben gegeben verdienet, dass sie mir sagen, womit ich
sie beleidigt haben mag. Denn es ist mir unerträglich von
meinem Freunde etwas zu denken , das ich von mir nicht
möchte gedacht wissen. Sagen Sie mir es bald und unverholen,
denn ich bin ja beständig Ihr getreuer Gleim.
Ramler an Gleim 9. Januar 1762. Ich habe ihr Bildniss
gerade vor mir hängen, es lächelt mich an, wenn ich glaube,
dass sein Original etwan böse werden möchte. Aber in der
That schreibt mir mein Gleim etwas böse über den Druckfehler
in der Jahreszahl über Kleists Gedichte an Adler. Allein mein
Gleim thut seinem Ramler unrecht — So bald ich den Fehler
in meiner Schreibtafel aufgezeichnet hatte, lief ich^ grosser Freund
der Symmetrie, und Feind aller Druckfehler, sporenstreichs nach
dem Garten hinaus, wo Voss sich damals aufhielt. (Ich schämte
mich nachmals für meinen Eyfer, dass ich in der Sonnenhitze,
um einer kleinen Symmetrie willen, mich so abgemattet hatte.)
Doch ich lief hinaus, und verkündigte es dem Buchhändler, der
mir sagte, er würde nach Leipzig schreiben, und es Breitkopfen
erinnern, wofern es nicht zu spät wäre. Als ich, nach wenigen
Tagen, wider Nachfrage that, berichtete er mir, es wäre zu spät
gewesen: dieser Bogen und zwey nachfolgende wären bereits ab-
gedruckt gewesen. Er selbst schien diesen Druckfehler für un-
erheblich zu halten, ich aber zeigte ihm die Unschicklichkeit;
Man sagt in der Lebens Beschreibung, Kleist sey erst Anno 40,
beym Antritt der Regierung des jetzigen Königs, nach Potsdam
gekommen, und durch diese Jahrzahl 39 giebt man ihm doch
schon eine potsdamrasche Bekanntschaft zu den Lebzeiten des
höchst seeligen Königs. Ferner wird des Krieges in der Ode er-
wähnt, an den Anno 39 doch noch nicht gedacht war etc. etc.
Ich sprachs, und gieng weg, und vergass bald darauf diese ganze
nunmehr abgethane Sache. Als ich endlich nachher einige
Exemplare von ihm erhielt, fand ich noch einen andern Fehler,
nehmlich auf dem Titelbl. heisst unser seliger Freund Christian
Ewald, und in der Lebens Beschreibung Ewald Christian. Ein
Fehler, den ich Vossen gleich anfangs, bey der Ausgabe mit
Kupfern, künftig zu ändern gebeten hatte. Aber genug von
dieser Sache. Wenn alle Klagen, die mein Gleim über mich
führen zu können sich merken lässt, eben so leicbt zu entschul-
digen sind, als diese Anklage, so bin ich gewiss die Unschuld
selber.
Die beiden Briefe sind wichtig, weil auch sie auf
den drohenden Bruch vorbereiten, der ja wesentlich durch
Vierteljahrsohrift filr lii ttoratorgoüchichte 111 15)
282 Sauer, Mittbeilungen über E. v. Kleist.
Ramlers Besserungssucht veranlaBst wurde. Ramlers Yer-
halten nach Kleists Tod gab der alten Freundschaft mit
Gleim den ersten Stoss, wie dieser selbst nach der Ent-
zweiung im Briefe vom 4. Januar 1765 hervorhebt: 'Seit
der Zeit, da mir berichtet wurde, dass Ramler verlangt
hätte, in Kleists Leben eine gewisse Stelle wegzulassen,
die aus Kleists Briefe so natürlich eingeflossen war, seit
dieser Zeit ward mir sein Caracter verdächtig.'
IL Zwei Briefe Kleists an Gessner.
Yon den in alle Welt zerstreuten Briefen Kleists an
Gessner^*) sind neuerdings wieder zwei in Autographen-
sammlungen aufgetaucht. Den ersten verdanke ich der
Güte des Besitzers A. Meyer Cohn in Berlin (vgl. dessen
Katalog einer Autographen - Sammlung 1886 8. 3), der
zweite ist auszugsweise in dem Oatalogue de lettres auto-
graphes composant le cabinet de M. Alfred Bovet, Series
V et VL Paris 1884 Nr. 1001 gedruckt und mir von Ed-
mund Goetze mitgetheilt worden.
1. Kleist an Gessner.
Mein liebster Freund
Eben da ich ihr werthes Schreiben erhalte, erzeigt mir der
Herr Baron v. Escher der von hier nach Zürich reisen will, die
Ehre und besucht mich, ich kan Ihnen also bey dieser Gelegen-
heit gleich antworten. Sie haben mir mit ihrem Portrait eine
ausnehmende Freude gemacht, es ist eine zierde meiner Stube,
und ich danke es unserm Hirzel (den ich in meinem Nahmen zu
küssen bitte:) sehr, dass er Gelegenheit zu diesem meinem Ver-
gnügen gegeben hat. Ihr Ursprung der Gärte ist sehr schön.
Sie sind ein Meister in der poetischen Mahlerey, wie in der Mah-
lerey mit dem Pinsel, und ich bin sehr begierig ihre Idyllen zu
sehen. Herr Ewald empfiehlt sich Ihnen. Er wird ihrem Rath
folgen, und seine Sammlung fortsetzen er hat schon wieder einen
ziemlichen Vorrath Lieder und Epigrammen gemacht. Vielleicht
hat das eine Epigranie: Vorzug der Schweitz, Sie choquirt. Allein
es ist eine badinerie, und wenn die Samlung wirklich vors publi«
**) Auf diese Briefe scheint sich Lenz^ Anfrage in einem Briefe
an Sarasin (Derer -Egloif S. 237) zu beziehen: *Ich höre von Herrn
Hathsherm Gessner, Herr Rathschreiber Iselin habe noch eine Samm-
lang originelle Briefe des seligen von Kleist, Dichter des FrQhlings
liegen*.
Sauer, Mittheilungen über E. y. Kleist. 283
cum gedruckt wird, soll alles was darin wieder die respectable
Schweitz enthalten ist, wegbleiben.*) Ich habe aus Spas, und
Rache, über meine zörchische Affaire, die^®) mich wegen der
Suiten ganz erstaunend ärgerte, auch einige Singedichte in dem
selben Thon gemacht, davon ich ein paar Ihnen aufschreiben
will. Sie sollen aber niemahls gedruckt werden. So viel Tugend
und Gottheit als ich sonst gepriesen habe, schickt sich mit Käse
nicht gut zusammen. Ich schicke Sie Ihnen nur zum lachen.
Zu meinem Sommer habe ich in Ernst niemahls Hofnung gemacht,
und kau es auch noch nicht. Ich muste einmahl in eine ruhi-
gere Lebensart kommen, wenn ich noch lange Gedichte verfertigen
solte. Jetzo ist es genug für mich wenn ich ein Odchen oder
ein Liedchen trillere. Die Welt wird auch nichts dadurch ver-
liehren. In Zürich und Braunschweig sind jetzo genies die mich
verdunkeln würden, wenn ich auch aus allen Kräfften arbeitete.
Machen Sie doch an Herrn Bodmer, Wieland (den ich sonst
nur hochgeachtet aber nicht geliebt habe weil er meine Freunde
zu attaquiren schien, jetzo aber beydes im höchsten grade thue,
obngeachtet ihm daran woll wenig gelegen ist) Machen Sie diesen
beyden grossen Männern, und HE. Breitingern , und unsern Crito-
Freunden insgesamt, meine grosse Empfehlung. Ich umarme Sie
tausendmahl und bin mit der grössten Aufrichtigkeit
Ihr
Potsdam d. 1 9*®" October 1 755 getreuster Freund
Kleist.
Wie? Gessner noch in Zürch? [u. s. w. vgl. Werke 1, 81]
NB. hier solte eine Note unten kommen, worin ich alle
unsere Freunde auch wolte Lands verweisen lassen.
Der Blumist und der Schweizer [vgl. 1, 80]
Görgen aus Zürich und Belidor. [vgl. 1, 82]
Auf Blasen einen erzürnten Schweitzer, [vgl. 1, 80].
Warum verstellst du dein Gesicht und zürnest liebster Blase?
Sieh herl (er sieht und wird schon gut) sieh her! hier hast du
Käse.
Die schweitzerische Nachtigall. [Nur der Titel; vgl. 1, 80]
Ich werde durch jemand gehindert, fortzufahren. Ohel
jam satis est ineptiarum? Noch was, das aber soll gedruckt
werden:
Christoph und Adelgunde. [vgl. 1, 81]
[am Rande S. 3] Verzeihen Sie mein Geschmier. Idi habe
nicht Zeit.
*) [am Rande] Es sind nur ohngefehr 10 [?] exemplare ge-
druckt worden.
••) zuer^: meinen zürchiscben Verdrusa, der
19*
284 Sauer, Mittheilungen über E. y, Kleist.'
[am Rande S. 1] Mein Brief ist zu spät gekommen dHE.
B. V. Escher ist schon abgereiset, ich muss ihn also auf die Post
geben.
2. Kleist an Gessner.
Leipzig 15. April 1758.
II remercie Gessner de Pindulgence avec laquelle il a juge
ses po6sies et la piäce de th^ätre quUI lui a envoy^s, et ajoute :
'Vielleicht wenn ich lebe und Zeit habe, mache ich einmal was
besseres von dieser ArtT — 11 a bien requ sa lettre, niais on
ne lui a pas encore remis le 'po^me de la mort d'AbeP; il se
r^jouit de lire le chef-d'oeuvre de son eher Gessner, car ce sera
un chef-d'oeuvre, ä en juger par ses Idylles. — 'Dann werde
ich das grosse Vergnügen haben, meines lieben Meister Gessners,
Meisterstuck zu lesen. Ich bin versichert dass es ein Meisterstück
sein wird da seine Idyllen schon ein so grosses sind.' II le loue
surtout d'avoir cherch6 ä imiter la simplicit^ des Anciens. —
Consid^rations interessantes sur le r61e du po§te; louanges et
critiques des Idylles de Gessner. — II parle de Geliert et de Les-
sing qui le fait saluer. 'Herr Lessing macht Ihnen sein grosses
compliment.' II annonce en post-scriptum qu'il vient de recevoir
ordre de marche et qu'il va rejoindre le corps du prince Henri.
— Gleim est le grenadier qui compose les chants de victoire.
'Gleim ist der Grenadier der die Siegeslieder singt.' — Int6r-
essants et piquants d^tails sur Zachariae, Bodmer, Gleim, Uz.
11 lui demande s'il connait un ouvrage intitule: TOrgueil national,
dont le style rapelle celui de Montesquieu et de Rousseau.
[Unterschrift] ganz der ihrige
Kleist.
III. Kleist und Christian August Clodius.
Über den Verkehr Kleists mit Clodius habe ich Werke
1, LV wenig beizubringen gewusst und daher dessen Innig-
keit in Zweifel gezogen. Edmund Goetze weist jetzt in
Goedekes Grundriss 4, 39 einen Aufsatz in ^Scipio Der
neuen vermischten Schriften von Christian August Clodius
zweyter Theil' Leipzig 1780 S. 89— 127 nach, in welchem
Kleistische Briefe und Gespräche mitgetheilt sind und den
ich mit Weglassung der eingestreuten Verse des Verfassers
und mit starker Kürzung seiner überschwänglichen Lobes-
hymnen auf Kleist im nachfolgenden wiedergebe. Er
scheint an jenen Grafen von Reuss gerichtet zu sein, den
Kleist Werke 2, 570 so liebevoll charakterisirt hat.
Sauer, Mittheilungen über E. y. Kleist. 285
Kleist.
ich wage es nicht zu entscheiden, ob Gottes ewige Weisheit
der unsterblichen Seele ein geheimes ahndendes Gefühl der Zu-
kunft aus Mitleiden gegeben, oder versagt hat; so viel weiss ich,
vortreiTlicher Graf, dass mein Herz blutete, da ich zum letzten-
mal den Tyrtäus und Thomson der Deutschen, den Vater des
Frühlings, Ihren, und meinen Kleist umarmte. —
Er stand an der Spitze seines nach Thätigkeit und Sieg
dürstenden Bataillons. ^^) Auf seiner Stirn ruhete stiller Ernst,
mit einer Heiterkeit gemildert, die den ruhigen Mann und den
entschlossenen Helden; aber auch den warmen theilnehmenden
Freund verrieth. Er bemerkte meine Thränen, und belohnte sie
durch eine stillschweigende Umarmung, die ich itzt noch fühle.
— Nichts war rührender, als die Idtzte Unterhaltung mit dem
ehrwürdigen alten Cl[odius]^^) .... Er liebte den Major, wie
ein Greis seinen Bruder. — Mit welcher edlen Heftigkeit dieser
zweite Palämon um den Hals des Helden fiel ! — .... 'Mir will
das gar nicht in den Kopf, Herr Major, sagte der Greis: dass
Sie, wie man glaubt, wider die Russen gehen. Sie, Herr Major,
sind brav, und werdens nicht zugeben wollen, dass die Leute so
fest stehen; und überhaupt die Kanonen sind gar nicht meine
Sache* Du scherzest, alter Silberkopf, antwortete der Major, ich
hätte dich für stärker gehalten; aber deine Thränen verrathen
dich. Leb wohl, und freue dich vielmehr, wenn mich der König,
mein Herr, dahin ruft, wo Gefahr, aber auch Ehre zu erwerben
ist. — Kleist umarmte seine Freunde. — Das Bataillon brach
auf. —
Wer sollte in dem heftigen, zürnenden und glühenden Aus-
fall zum Cissides und Pacches, bey allem Eifer für die Mensch-
heit, den Kleist erkennen, der, gerührt von den Schrecken der
eisernen Schlacht, und dem Tode eines blühenden Jünglings, in
seinem Frühling ausrufl: — Väter der Mensehen, wollt ihr noch
mehr glückselige Kinder, o so erkauft sie nicht mit dem Blute
der Erstgebohrnen. — Höret mich, Fürsten, dass Gott euch höre.
— Wie viel Sanftmuth?
Ich erkläre mir diesen Kontrast der Empfindung sehr natür-
lich. Denn ich war eben bey ihm, als er die Nachricht erhielt,
dass zwo seiner geliebtesten Niecen, bey einem Ueberfall unregel-
mässiger Truppen, geplündert und in die Gefahr des Todes ge-
kommen waren. Er las den Brief dreymal mit Thränen, und
schrieb unmittelbar darauf die Stelle — 'Ich, der ich dieses sang.'
[Werke 1, 266.]
Eben so les* ich den Monolog eines Engländers in den pro-
saischen Aufsätzen [Werke 1, 310 f.] mit mehr Rührung, weil ich
*^) Beim Abmarsch aus Zwickau, Anfiuig Mai 1759.
") Christian Augusts Vater, Rector der Lateinschule in Zwickau.
286 Sauer, Mittheilnngen über E. t. Kleist.
die malerische Gegend auf dem Berge an der rauschenden Mulde
weis, wo er sie schrieb, und der Ort mir noch ehrwördig ist,
wo er im Ernst, auf seiner poetischen Bilderjagd, beym Anblick
dieser Berghemischen Natur, eine stille Thräne fallen liess.
.... So rührt mich der gelähmte Kranich [Werke 1,
104]; .... weil ich weiss, dass die erste Idee durch das wirk-
liche Unglück eines Leidenden geweckt wurde, der eben vom
Tode errettet war.
Die Hymne auf Gott hörte ich ihn vorlesen, da sie noch
warm aus seiner Einbildungskraft kam, und fibersendete sie zu-
erst an meinen verehrungswürdigen Freund Weisse.
Von dem einfachen, sich überall gleich ernsthaften, milden
und strengen Charakter dieses vortrefflichen Mannes, der gleich
unserm verewigten Hagedorn mit tiefen Kenntnissen des Natur-
und Völkerrechts, weise Politik, Menschenliebe, Geist und Er-
findungskraft verband , will ich nichts sagen .... Nur noch ein
Wort von seiner strengen Liebe zur Wahrheit, und seiner scharfen
kritischen Einsicht in die Werke des Geistes ....
Eine der würdigsten Damen, von grosser Geburt, und er-
habenen Eigenschaften des Geistes, warm für die Religion, und
edel in ihren Gesinnungen^'), übersetzte aus einer Absicht, die
dem Unternehmen einen höhern Werth gab , das lehrreiche Ge-
dicht des jungem Racine von der Religion. ^^) ... die Übersetzung
übertraf ihre eigne bescheidne Hoffnung, und Sie wagte es, durch
mich, mit der Bedingung, ihren Namen zu verschweigen, den
Major um sein Urtheil zu bitten. Er las es mit Sorgfalt, und
hier haben Sie Sein Urtheil .... Der zweyte Brief betrifft mich.
Liebster Gl[odius].
Wider die Übersetzung der fürtreftlichen Dame habe ich
nichts. Was ich anders möchte, sind Kleinigkeiten, z. E. Dass
Ketten seinen Stolz so Kraft als Freyheit rauben etc. ist ein
wenig genirt — den tobenden Verstand zum Zweck legen, soll
heissen, unterdrücken etc. Rührt es der Erde Glanz etc. berührt
es die Erde, so etc. — Der Gnadenquell goss Licht etc. Hier ist
die gnädige Übersetzerinn nicht bey einer Metapher geblieben. —
Dein Ton dringt in der Gottheit- Gründen, darinn sie sich ver-
birgt etc. soll heissen, in die Gründe, darinn die Gottheit sich
verbirgt. — Der Sinn des Rousseau ^'^) ist zuletzt auch nicht ge-
troffen. Denn er sagt: was wartest du, was verziehst du, uns
") Etwa die Gräfin Solms, über die Kleist Werke 1, 570 an Gleim
schreibt?
**) La religion von Louis de Racine 1746, vgl. Haller, Göttinger
Gelehrte Anzeigen 1748 8. 62 (Tagebuch seiner Beobachtungen 1, 41).
'■) Kleist schreibt im ganzen Briefe irrthümlicb Rousseau statt
Racine.
Sauer, Mittheilungen über £. v. Kleist. 287
die Geheimnisse der Gottheit etc. aufzudecken? Und in der
Übersetzung heisst es: willst du sterben? — Doch diess letztere
ist gewiss mit Fleiss verändert, und nicht übel. — Aber warum
erinnre ich dergleichen Kleinigkeiten, da das Ganze schön ist?
Und ist es nicht zu dreust und zu unhöflich, so sans faqon seine
MeynuDg zu sagen? Ich habe sonst keine Neigung zur Unhöf-
lichkeit, aber wenn sie mit der Ehrlichkeit in CoUision kommt?
— Ha! dann bin ich Soldat. Uberdem wäre es Schade, dass
ein Fleckchen in dieser sonst schönen Übersetzung bliebe, und
die Übersetzerinn muss eine unvergleichliche Dame seyn, die ich
adorire.
Wider den Rousseau habe ich mehr. Er will, dass das
todte Ding, der Wille, an unsern Fehlem Schuld seyn soll, und
Ideen sind immer daran Schuld. Will man den Willen bessern,
so bessre man vorher seine Begriffe, seinen Verstand. — Rous-
seau wurde vielleicht sagen: Es ist ausgemacht, dass uns Leiden-
schaften verführen, und die kommen aus dem Herzen. — Nein,
sie kommen aus Ideen. Die untern Kräfte, die Einbildungs-
kraft etc. übertäuben die obere, die Vernunft. Aber diess hat
Rousseau gemeint, — so hätte er es sagen sollen.
Ich wünsche Ihnen nochmals eine glückliche Überkunft nach
Leipzig, und tausend Glück.
Zwickau den 15*«°Jun. 1759.
Kl.
Kleists Urtheil über den Conradin von Glodius.
In Ihrem Trauerspiel geföllt mir der Ausdruck, und die
natürliche Schreibart sehr, und so weit ich gelesen habe, find
ich wenige kleine Fehler, was diesen Punkt betrifft, darinn.
Allein , die viele und lange Moral verdrängt die Action etc. Die
zwey ersten Scenen sind so lang, wie ein Trauerspiel, und es
wird gewiss das längste Trauerspiel, das jemals ist gemacht
worden. Nahe an zweytausend Verse zähle ich schon; und es
sind erst drey Acte. Indessen macht diess alles nichts. Sie
werden dem allen abhelfen, und leicht hie und da was weg-
werfen können. Machen Sie es nur immer zu Ende; alsdenn
will ich oder Herr Weiss es ganz durchgehen, und es muss doch
ein gutes Stück werden. Ehe Sie zu arbeiten anfiengen , hätten
Sie sollen einige Meisterstücke der Alten, oder Voltairs etc. in
der Absicht lesen, um etwas ähnliches zu machen. Diess hätte
Ihnen viele Mühe und Weitläuftigkeit erspart. Sie haben aber
gleichsam das Trauerspiel neu erfunden. Man muss immer Lehr-
geld geben. Ich predige gut, habe aber eben so gehandelt.
Übrigens sind Sie doch ein braver Mann, und Sie werden den
Deutschen gewiss einmal .... Wenn ich nicht Ihr Freund wäre,
würde ich Ihnen die Wahrheit und alles diess nicht gesagt haben.
KI.
288 Sauer, Mittheilungen über £. v. Kleist.
Conradin.
.... Gonradin . . . war der Gegenstand meines ersten dra-
matischen Versuchs . . . Mein fünfter Akt war, nach Herr Weissens
lachender Anmerkung, ein gottseliges Gespräch der hohen Leid-
tragenden über den im 4ten leider zu frQh verschiedenen Helden
, . . Ich liess Amalien, nach vielen Monologen, auf dem Theater
ihre edle Seele aushauchen, ohne daran zu denken, dass sie ge-
rettet werden konnte. —
Schicken Sie doch, sagt Weisse, lieber nach Aerzten und
Barbier, um, wo möglich, eine der edelsten Seelen, die Sie
sich denken, zu retten. — So Weisse, und in eben dem Tone,
Kleist.
Bey einer der sössen, schmelzenden, sanften Ideen, mit der
man so allgenügsam und selbstzufrieden ist, schrieb Kleist:
(Ridebis, et licet rideas, — ) 'kostbar — gezwungen — corri-
gatur.' —
Carl, in einer gewissen Entfernung, den Brief aus Rom in
der Hand — sagt zu sich selbst, nach einem Monolog vom ersten
Range :
'Der Tod des Conradin ist Carl des Königs Leben,
Das Leben Conradin ist Carl des Königs Todt.'
Kleist schreibt hinzu:
'Warum muss Carl den Brief aus Rom in der Hand haben?
Diess geföllt mir nicht. In einem Schlosse wird man nicht so
lange mit einem Briefe in der Hand spatzieren gehen. Sie
haben hier, LTieber] CFlodius] das Theater zu viel im Kopfe ge-
habt.'
Auf einmal, da, Carl, wider die metaphysische Möghchkeit
eines auch erdichteten Charakters, (und diess war hier der Fall
nicht,) von Grossmuth gegen die Feinde und erhabenen Gesin-
nungen pathetisch spricht — schrieb Kleist hinzu — 'Aber er
hatte doch dem jungen Prinzen die Krone geraubt?' —
Carl sagt:
'Gott rief mich auf den Thron die Tugend zu belohnen' —
'Er denientirt seinen Charakter. Herr M[agister] Cl[odius]
spricht, sagt Kleist; doch vielleicht bat Gonzalvo Sicilien con-
quetirt, und Carl hat nur den Namen darzu hergegeben: wenn
dieses ist, so hätte man es sagen sollen. — Recht gut — ge-
zwungen — stärker. Es scheint, als wenn Carl sich vorgenom-
men hätte, durch seine Rhetorik Gonzalvo zur Empfindung zu
bewegen. — Es muss weg. — Nach so viel grossen Zügen er-
wartet man etwas stärkeres. Hierbey könnte ein Schwachgläu-
biger denken — Ja.' —
Einmai schrieb Kleist: — 'Sehr schön' — und wo schrieb
ers? Bey einem Gedanken, der aus der Rede des Cicero für
den Marcellus genommen war. Hier ist er.
Sauer, Mittheilnngen über £. ▼. Kleist. 289
Fusciniens grossen Sieg erfocht ich nicht allein,
Mein Heer (heilt ihn mit mir; doch dieser Sieg ist mein.
Wie viel Wahrheit und Richtigkeit in der Beurlheiiung! . • .
Damöt und Lesbia.
.... Noch einen Zug seiner ausserordentlichen Bescheiden-
heit. — Wer liebt nicht den röhrenden Dialog, Damöt und Lesbia
[Werke 1, 84]? Einer seiner Freunde verglich einmal in Beyseyn
des Majors die lyrische Wendung dieses kleinen Liedes mit seinem
Original, dem Horaz, und Hagedorns Selim und Zulima, und be-
hauptete, dass die Anlage, die stufenweise Erhöhung der Leiden-
schaft, die feinen Zöge der Eifersucht, die Auflösung dieser kleinen
Katastrophe, und besonders der vortreffliche Schluss, von Hage-
dorn näher erreicht wäre als von ihm. Kleist war dadurch so
wenig beleidigt, dass er vielmehr die Horazische Ode selbst, bis
auf ihre feinsten Nöancen, zergliederte, und das Urtheil seines
Freundes unterstötzte. Die Unterhaltung fiel unvermerkt auf Hage-
dorns Geist in Nachahmung der Alten; man zog verschiedene
Parallelen, und fand zuletzt bey der Zusammenstellung des
Schwätzers von Regnier, Hagedorn und Horaz, dass es auch den
trefflichsten Genies schwer werde, die naive Leichtigkeit, Einfalt,
Körze, und den glucklichen Dialog der Alten zu erreichen. . . .
IV. Kleine Nachträge und Verbesserungen.
Werke 1,XIII: Nach Schüddekopfs Mittheilung wurden
am 15. September 1729 in die zweite Klasse des Gymna-
siums zu Danzig aufgenommen: Tranz Casimir de Kleist
und Ewaldus Christianus de Kleist. Equ. Pom.'
1, XVI Z. 15: vgl. L. Fromm, Geschichto der Familie
V. Zepelin. Schwerin. 1876.
1, LXI: Nach Schüddekopfs Mittheilung Vierteljahr-
schrift 2, 136 ist der Eintrag in das Stammbuch von
Krünitz, das sich jetzt im Britischen Museum befindet,
datirt: 'Francof: 14. Aug. 1759'.
1, LXXXII: Die Ausgabe JP'^ war am 10. April 1750
fertig vgl. Anzeiger für deutsches Alterthum und deutsche
Litt. 10, 260.
1, 4: Langes ^Kritische Beschäftigungen' wurden nach-
träglich in Halle und Berlin aufgefunden vgl. Deutsche
Litteraturdenkmale 22, XL VI und t63. Das Gedicht Kleists
liegt mir seit Jahren in Burdachs Abschrift Tor; vgl. auch
Goedeke^ Grundriss 4, 39.
290 Sauer, MittheiluDgen über £. y. Kleist
l, 89 Nr. 50: vgl. Waldberg, Die deutsche Renaissance-
Lyrik S. 44. Nr. 5t : vgl. Lichtenbergs Werke 4, 320 f. und
Hamburger Musenalmanach für 1780 S. 12t.
1 , 99 Nr. 63 : Den ersten Druck hat Lier aufgefunden
vgl. Archiv für Litteraturgeschichte 13, 409, wo auch eine
Grabschrift auf den Major von Goetze mitgetheilt ist, die
möglicher Weise von Kleist herrührt.
1,107: Zu Nr. 70 Vers 4 'Die Erde weinete, der Him-
mel freute sich' verweist Bernays auf den Anfang von
^Franco Sacchettis Canzone auf Petrarkas Tod (1374): Gran
festa ne fa il ciel, piange la terra,' mitgetheilt von Lami in
den Deliciae Eruditorum, Florentini 1743 p. LXXXVHI
(am Schlüsse des Bandes).
1, 108: Hamburger Musenalmanach 1786 S. 13 Lied
eines Lappländers. Nach dem ^SchefFer' von v. Halem.
1,120: Einfluss des Hamletmonologes ^Sein oder Nicht-
sein' auf das Geburtslied wurde schön nachgewiesen von
D. Jacoby Sonntagsbeilage der Yossischen Zeitung 5. Mai
1889.
1, 130: Zu Nr. 86 vgl. Bürgers Aesthetik 2, 291.
1, 146: Über die Kleistischen Hexameter vgl. Bürger,
Strodtmann 4, 29.
I, 154: Eine Übersetzung Thomsons von D. W. Soltau
erschien Braunschweig 1823; den ersten Druck der Ewal-
dischen Übersetzung des Hymnus Frankfurt a. d. O. 1754
weist Lier nach im Archiv f. Litteraturgeschichte 14, 284.
1, 163: Ein directes Urtheil aus dem Gottschedischen
Kreise über den ^Frühling' weist mir Bernays im ^Neuen
Büchersaal' (1750) 9, 301 nach; vgl. auch Muncker im Lit-
teraturblatt für germanische und romanische Philologie 1881
Nr. 10.
1, 184: Die Yerse, welche nach Hamels Klopstock-
ausgabe I, LY Klopstock in einem Briefe als aus Kleists
^Frühling' stammend citirt: ^Der Liebling wärmet die Hand
im warmen Pelze des Mädchens. Es lacht das Mädchen
und hindert ihn falsch' sind offenbar nur ein sehr unge-
naues Citat von Nr. 89 Vers 179 f.
1, 224: Zu Vers 251 und 262 vgl. Bürgers Stilistik
S. 205. 372.
Saaer, Mittheilungen über £. ▼. Kleist. 291
2, 29 letzte Zeile v. u. lies : 'Die Siege Friedrich8\
2, 48 f. : Die Beilage zu diesem Briefe hat sich unter
den Briefen Gleims an Uz in Halberstadt erhalten: Die
Ode von Uz: ^Wohin, wohin reisst mich die strenge Gluth'
(später 'Die Lyrische Muse' überschrieben) in Kleists Ab-
schrift und mit dessen Bemerkung am Schlüsse : 'Die letzten
2 Strophen wird er woll verändern müssen, er kann ja
leicht Dianen stat der Yenus setzen, mit veränderten neben
Umständen' vgl. Deutsche Litteraturdenkmale 33, 43. Dar-
nach ist die Anmerkung 3, 17 zu verbessern.
2,63: Über Garths Armen - Apothek vgl. Mahler der
Sitten* 2, 415; über Murcky vgl. Lindner-Erk S. 16.
2, 72: Das Original des Billetes an Hirzel befindet sich
im L. Meisterschen Nachlass auf der Stadtbibliothek in
Zürich; aus derselben Sammlung theilt mir Baechtold ein
zweites undatirtes Billet an Hirzel mit, das gleichfalls
während dessen Potsdamer Aufenthalt geschrieben sein muss,
Herbst 1746 — Ostern 1747:
Liebster Freund
Meine Landlust ist mir gantz eckelhaft geworden. Schicken
Sie mir doch den Thomson bis Morgen, dass er mich wieder be-
geistere. Was ich Ihnen neulich weggenommen, kommt hiebey.
Fahren Sie doch fort, der Anfang ist gut. Schlafen Sie wohl
mein geliebtester, schlafen Sie sich gesund.
2,76 : Nach Nr. 38 fehlt ein Brief Kleists wie aus dem
undatirten Briefe Gleims an Ramler hervorgeht, der am
18. April 1747 (vgl. Werke 3, 41) geschrieben sein muss:
Kleist schreibt: 'Koramen sie mit H. Ramlern zu mir, als-
dann soll mich der Frühling vergnügt machen.* — — Bodmer
hat an Hirzel geschrieben [Ostern 1747 vgl. Briefe der Schweizer
S. 45 f.]. Kleist schreibt: 'Er hat sie so caracterisirt , wie sie
wahrhaftig sind. Er kennt sie so gut, als wenn er 10 Jahre mit
Ihnen umgegangen wäre, und ich wundre mich über die Einsicht
dieses Mannes der sie bloss aus ihren Schriften so gut kennt, als
ich/ Ich möchte es doch lesen, was kan er denn von mir sagen,
als dass ich ein lustiger ehrlicher Kerl sey! —
2, 136: vgl. Ramler an Gleim, Anfang Januar 1749:
Ich habe ihren Kleist gesehen und ihn auch in meinen ver-
wandelt. Herr Sulzer hat ein grosses Verdienst um mich be-
kommen, dass er ihn aus Potsdam entführt hat. Ich bin mit
ihm in der Gomödie, in der Oper, aber in allzu weniger Ge-
sellschaft gewesen. Den Tag seiner Abreise erwarteten ihn bey
292 Sauer, Mittheilungen über E. ▼. Kleist.
Herr Krausen zwölfe und den folgenden Tag bey Herr Germers-
hausen etliche wenige. Die Gesellschaft bey Herr Krausen war
in der Thal für einen Fremden und zwar für einen heimlichen
Gast zu zahlreich. Indessen gieng es bey dieser Anzahl wie ge-
wöhnlich. Nach zwey Stunden Betrübniss, die mir Kleistens
Abschied machte, ward ich erst ein Theil der Gesellschaft.
Wer jetzt auf meine Stube gerälh, der kommt nicht ohne den
Horatz herunter. H. v. Kleist hat sie auch anhören müssen — .
2, 164: SeufFert hat nachgewiesen Anzeiger f. deut-
sches Alterth. u. deutsche Litt. 10, 262, dass Nr. 88 in den
Januar 1750 zu setzen und vor Nr. 103 einzureihen sei.
2, 172: Um dieselbe Zeit (20. Juni 1750) schrieb Kleist
über Ewald an Ramler, vgl. des letzteren undatirten Brief
von Ende Juni (Archiv f. Litteraturgeschichte 14, 281) an
Gleim :
Kleist hat mir geschrieben, dass er in Potsdam einen Freund
gefunden habe, Ewald heisst er, und soll mir, ich weiss nicht
worinn, sehr gleichen. Er übersendet mir zugleich einen Brief
von diesem Freunde, worinn ein Paar Anakreontische Oden stehn,
worüber er sich ein Urtheil ausbittet. Dieses liefert mir B[leist
als einen Beytrag zu den crit. Nachrichten. Ich habe aber viel
Mühe mit meiner Antwort gehabt, worinn ich vom Anakreon
discuriren muss und zugleich eine Tour finde, Ewalds Oden in
Prosa umzusetzen.
2, 206 : 4ch habe neulich in langer Zeit nicht vergessen
können, dass ich sie aus Mangel eines dienstfertigen Ka-
meraden so bald musste von mich reisen lassen' vgl. Gleim
an Kamler 20. Februar 1752:
Wären Sie doch nur noch mit nach Potsdam gereist, Viel-
leicht hätten Sie da, einen Tag mit mir zufrieden seyn können.
Aber nur einen Tag, denn ich bin nur den Sonntag da geblieben ;
mein lieber Kleist muste den Montag auf die Wache, sonst hätte
ich den Tag noch zugegeben. Wenn ehr werde ich nun ein-
mahl wieder Neun Wochen abwesend seyn dürfen! —
2, 209 ff. : Über den Zürcher Aufenthalt haben Seuffert
im Anzeiger 10, 262 und Baechtold im Feuilleton der Neuen
Zürcher Zeitung Januar — März 1883 aus Briefen und
Actenstücken neues Licht verbreitet.
2, 235 : Das Wort 'Dudenkopf findet sich z. B. auch in
Pyras 'Erweis' S. 29: 'wer ist ein so erstaunlicher Duden-
kopf, dass er nicht mit leichter Mühe den eigentlichen Sinn
einsehen solte?' vgl. Grimms DWB.
Sauer, Mittheilungen über E. v. Kleist. 293
2,236: Zwischen Nr. 141 und 142 föllt ein verlorener
Brief an Ramler, vgl. dessen Brief an Gleim vom Anfang
December 1753:
Ich schicke ihnen hiebey die Lieder die in den zweyten und
dritten Theil unsrer Sammlung gehören [vgl. oben S. 269], und
die ich bald, bald wieder haben muss. in Potsdam sind sie
schon gewesen, aber unser liebster Kleist, der noch ein wenig
fauler ist, als icb, hat allzu wenig dabej erinnert. Was er aber
erinnert hat, ist strenger gewesen, als ich es vermuthet hatte.
Es betraf eines Ihrer Lieder, welches unter lausenden von Ihnen,
wie er schreibt, ihm allein allzuwitzig dünkte. Es lassen sich die
todten Fürsten balsamiren etc. Ich weil ich mich schon im Leben
balsamire um desto länger lebendig zu seyn, darf nicht erst Im
Tode balsamirt werden. Dieses, sagt er, hängt nicht genug zu-
sammen und ist nicht wahr genug. — Ich habe ihm durch eine
kleine Veränderung diese Falschheit zu benehmen gesucht. Sehen
sie, ob es so recht ist. Ferner dünkt ihm die Laura, die in
einer schönen Wildnis besungen wird, allzuwilzig. Mich jammert
die Laura, ohngeachtct d. H. v. Kleist wol Recht haben mag.
Vielleicht wird sie dem Componisten zu schwer werden und also
weg bleiben müssen.
Vgl. ferner Qleims Antwort vom 20. Januar 1754:
Das [Lied] welches H. v. Kleist getadelt hat, ist aus dem
französischem; es hat mir schon einmahl gefallen, dass seine
Gritik just ein übersetztes betroffen hat, deren doch nur wenige
sind. Ihre Änderung dünkt mich, hebt den Grund der Gritik.
Es thut mir leid, dass ich für etwas bitten soll, wieder welches
mein Kleist ist, aber ich kan es nicht ändern, ich bitte für Laura.
2, 260: Zwischen Nr. 143 und 144 fallt ein Besuch
Qleims vgL dessen Brief an Ramler 15. März [verschrieben
für Februar] 1754 aus Brandenburg:
Gestern Abend hat der Herr v. Kleist mit uns im Wirths-
hause gegessen. Wir waren bis um 12 Uhr beysammen, und
recht vergnügt.
2, 271 : ^Sie empfangen hiebe! Ramlers SchachspieF
vgl. Ramler an Gleim 11. August 1754:
Zwey Tage habe ich leicht abwesend seyn können, und die
habe ich bey dem H. v. Kleist zugebracht, zur Antwort auf seinen
letzten Brief, worinn er mir schrieb: meine Freunde werden
ihnen alsdann mein Grab zeigen und sagen: hier liegt der, dem
sie so nahe wohnten, und den sie niemals besuchten. Geschwinde
setze ich mich den Frey tag Abend auf die Journal iere und blieb
zwey gantze Tage und drey Nächte dort, und fuhr den Mon-
tag früh wieder nach Berlin. So kann ich es oft machen, aber
294 Sauer, Mittheilungen iSber £. v. Kleist.
unser Kleist sagt: man muss so lange bey einander bleiben, bis
man M^ieder etwas kalt geworden ist. Wenn man weiss, dass
man sich nur zwey Tage geniessen kan, so greift man sich so
heftig an , dass man ermüdet . . . Das Schachspiel hat der H.
y. Kleist noch bey sich und er soll es ihnen zu ihren Anmer-
kungen, aber nicht zum Drucke schicken.
2, 309: Der Inhalt von Gleims verlorener Antwort
6. Februar 1756 ergibt sich aus Ewalds Brief an Ramler
10. vom Februar, Archiv f. Litteraturgeschichte 14, 286.
2, 310: vgl. Ramler an Oleim 2t. Januar 1756:
Unser theurer H. v. Kleist ist zum zweitenmale bey mir ge-
wesen und hat die feindlichen Brüder ['II fratelli nemici' Oper von
Graun, Text von Tagliazucchi] mit angesehn, er der das voll-
kommene Gegentheil eines feindlichen Bruders ist.
2, 361 f.: Nr. 203 habe ich jetzt mit dem Original im
Besitze Alexander Meyer Cohns vergleichen können; dar-
nach ist zu lesen: S. 362 Z. 4 gtisammen gerafft; Z. 16 zu-
sammen gezogen; Z. 17 Oerten; Z. 19 Thiele; an S. 362 Z. 26
schliesst durch ein Yerweisungszeichen S. 363 Z. 24 ff. das
Kleistische Begiment u. s. w. an; S. 363 Z.'19 Frühlinge; 7i, 20
setzen etc. Z. 21—23 steht auf Seite 1 am Rand. Das-
selbe gilt für Brief 208 S. 376 ; es ist zu bessern S. 377
Z. 9 unser; 378 Z. 2 sä fehlt; 379 Z. 19 Über 7 Tage;
379 Z. 2 V. u. dauret . . . Stunde.
2, 509: Z. 12 ist vor Briefe zu ergänzen [keine] vgl.
Anzeiger 10, 262.
2, 538: Ziemlich gleichzeitig ging ein Brief mit ähn-
lichem Inhalt an Lessing ab, den dieser am 8. December
1758 empfieng, vgl. Ramler an Gleim 9. December 1758.
2, 543: Nach Nr. 303 ist einzuschieben der Brief an
Gleim, Zwickau 13. Januar 1759, Archiv für Litteraturge-
schichte 14, 248 f.
3, 41: Zu Zeile 1 vgl. den undatirten Brief von Gleim
an Ramler, der an demselben Tag geschrieben sein muss:
Ich wolte schon Morgen nach Potsdam abreisen; allein man
sagte, der König kommt morgen her. Ich habe also in omnem
eventum eine Supplique an H. v. Kleist geschickt, der sie noch
heute immediate eingeben soll.
3, 77 Z. 16: H. von Rosee, Ramlers Prinzipal 1747 bis
1748.
Bob^, E. y. Kleist in dänischen Diensten. 295
3, 143: Zwischen Nr. 53 und 54 fehlt ein Brief Gleims,
auf den Nr. 99 in Theil 2 die Antwort ist, vgl. Gleim an
Ramler 9. November 1750:
Ich war eben recht traurig, als ich diesen Morgen ihren
Brief bekam. Ich hatte nemlich in den Zeitungen gelesen, dass
ein U. V. Kleist Krieges Rath in Königsberg geworden sey, und
ich dachte gleich, weil keine Nachricht dabey stand : Das ist dein
Kleist. 0 wie solte es mir so nahe gehen, wenn er es wäre!
In Königsberg wäre er ja ganz Tod für mich, so wie er es in
Potsdam halb ist. Ich schrieb den Augenblick an meinen lieben
Kleist, und wünschte eben das was sie wünschen, neml. dass
wir einen Theil unsers Lebens bey einander möchten zubringen
können.
3, 247: Nr. 98 war dem Briefe Ewalds an v. Brandt
vom 19. October 1757 beigeschlossen, hätte also mit Nr. 99
seine Stelle zu tauschen ; vgl. Archiv f. Litteraturgeschichte
13, 465 f.
3, 321: An den Schluss der Briefe rückt jetzt der lang
nach Kleists Tod geschriebene von Ewald aus Neapel 8. Ja-
nuar 1760, Archiv f. Litteraturgeschichte 14, 270 f.
3,324: Suphan verrauthet als Schreiber von Nr. 132
den Major Guichard, Quintus Jcilius, vgl. Deutsche Litte-
raturzeitung 1882 Nr. 42.
Prag. • August Sauer.
Ewald Yon Kleist in dänisclieii Diensten.
Da über Kleists Lebenslauf in Dänemark sehr spar-
same Nachrichten erhalten sind, so mögen die folgenden
Mittheilungen der Beachtung werth sein, obwohl sie nur
der äusserlichen Biographie dienen. Sie sind entnommen
aus den sog. ^Keferierten Sachen' der dänischen Kriegs-
kanzlei, aufbewahrt im dänischen Reichsarchiv.
Kleists Oheim, Friedrich Wolldemar von Fölckersam
(s. Sauers Kleist- Ausgabe 1,XVI. 2, 370), wendet sich an
den Konig mit folgendem Gesuche:
Ewer Königliche Majestät geruhen Allergnädigst zu vernehmen,
welcher Gestalt meiner Frauen Bruder Sohn Ewald Christian von
Kleist beynahe Ein Jahr bey des Capitaine Schestedts Compagnie
296 Bob^, E. Y. Kleist in dänischen Diensten.
des mir Allergnädigst anbetrauten Regiments gedienet, und wäh-
rend er solcher Zeit sich nicht nur fleissig apphciret , sondern
auch sich aliemahl gut und wohl verhalten , anjetzo aber das
Malheur hat, dass ihm sein Vater, der ihn studiren lassen und
sonst viel an ihn gewandt, abgestorben. Wann nun derselbe
wegen sothanen Trauer-Falls gemüssigel ist, nach Hause zu reisen,
um mit seinen übrigen Geschwistern die Erbtheilung des väter-
lichen Nachlasses vorzunehmen , und doch nicht gerne sonder
Garactere von Officier die Reise thun mögte: So flehe Ewer
Königlichen Majestät ich hiedurch allerunterthänigst an, mir die
hohe Gnade wiederfahren zu lassen und dem ermeldten von Kleist
den Garactere als Fähndrich reform^ im Regiment Allergnädigst
beyzulegen, und im Fall Ewer Königliche Majestät mir diese
meine allerunterthänigste Bitte in Gnaden • gewähren wollten, dem-
selben einen Reise- Pass nach seiner Heymath in Preussisch-
Pommern, wie auch nach Dantzig, Allergnädigst zu ertheilen. Ich
lebe der allerunterthänigsten Hoffnung , Ewer Königliche Majestät
werdet) meiner alten SchwiegerMutter, welche durch den schmertz-
lichen Verlust dieses ihres eintzigen Sohnes gar sehr gerOhret
worden, die hohe Gnade angedeyen lassen, und zu ihrem Trost
und Erquickung, den allerunterthänigst gebethenen Garactere dem
gedachten ihrem Enkel allergnädigst schencken. Ffir welche be-
sondere Königliche Gnade ich Lebenslang in allerunterthänigster
Devotion verharren werde
Ewer Königlichen Majestät
Gitadelle Friderichshafen, allerunterthänigster
den 23"***° Aprilis, anno 1737. und treu gehorsambster
Knecht
Friedrich Wolldemar von Fölckersam.
Die Bitte hatte Erfolg. Den 29. April erhielt Kleist
die königliche Ernennung zum Fähnrich reformÄ im see-
ländischen geworbenen Infanterieregiment.
Unterm 30. Januar 1738 verwendet der General Fölcker-
sam sich wiederum für seinen jungen Schützling und Ver-
wandten beim König. Er empfiehlt 'den Fähndrich Re-
form6 Ewald Christian von Kleist, so ein Mensch von sehr
guten Studiis ist, und eine Zeit hero dem Regiment in
der Dantziger Werbung schon gute Dienste gethan hat,
zum würcklichen Fähndrich bey der Leib-Compagnie zu
avanciren'. Demgemäss wurde Kleist am 10. Februar zum
wirklichen Fähnrich befördert.
Den 8. Juni 1739 empfiehlt der Oeneral 'den ältesten,
bey der Loib - Oompagnift stehenden Fähndrich Ewald
Bobd, E. V. Kleist in d&niachen Diensten. 297
Christian von Eleisten, zum würcklichen Second-Lientenant
bey des Capitaine Arnoidts Compagnie, .... weil gedachter
Kleist den Sommer über jederzeit in Dantzig auf Werbung
lieget , die Leib - Compagnie aber , in Abwesenheit des
Capitaine - Lieutenants eines Lieutenants nicht entbehren
kann'. Kleist erhielt diese Charge durch kgl. Patent vom
19. Juni.
Den 3. Februar 1741 reichte Fölckersam ein Gesuch
um Dienstentlassung für E. C. y. Kleist ein :
Aller Durchlauchtigster, Grossmächtigster
Erb - König !
Allergnädigster König und Herr!
Ewer Königlichen Majestät habe hiemit in allertiefster Sou-
mission vorstellen sollen, wie der Second-Lieutenant Ewald Chri-
stian von Kleist mir berichtet, dass er von Ihre Königlichen
Majestät in Preussen Befehl erhalten, unter Dero Trouppen Dienste
zu nehmen, und er dahero, weilen er ein Landes-Kind, sfch ge-
müssiget sehe, um seinen Abschied geziemend anzuhalten, mit
Bitte, ihm dabey den Caractere als Premier -Lieutenant auszu-
würcken. Wann nun Allergnädigster König und Herr, beregter
Kleist, so lange er bey dem mir Allergnädigst anbetrauten Re-
giment gestanden, sich allemahl wohl aufgeführet, und einige
Jahre her in der Werbung zu Dantzig dem Regiment gute
Dienste gethan hat, anjetzo aber, da ein Vasall und Landsass in
Hinter-Pommern , schuldig ist, seines Landes-Herrn hohen Befehl
in aller Unterthäuigkeit zu gehorsamen: So kann nicht umhin,
Ewer Königlichen Majestät hiedurch allerunterthänigst zu ersuchen,
ermeldtem Kleist die hohe Gnade angedeyen zu lassen, und ihm
den gebethenen Abschied, als Premier-Lieutenant, zur Vergeltung
seiner allerunterthänigst treu geleisteten, absonderlich in der Wer-
bung bewiesenen guten Dienste allergnädigst zu ertheilen.
Ewer Königlichen Majestät
allerunterthänigster undt gehorsamster
Knecht
Friederich WoUdemar v. Fölckersam.
Copenhagen, den 3*«'' Februarii 1741.
Das Gesuch wurde unterm 13. Februar t74t vom König
bewilligt.
Kopenhagen. Louis Bob 6.
Viorteljahxvchrift Ar UttentoiKesohichte m 20
298 R-- M. Meyer, Lessings Theater.
Lesslngs Theater.
Die folgenden Erörterungen wollen in der gesammten
dramatischen Thätigkeit Lessings einen Zug nachweisen,
der in einzelnen Theilen derselben schon oft bemerkt und
besprochen worden ist. Es handelt sich um die Art, wie
Lessing sich zu seinen Vorgängern stellt. Denn directe
Vorgänger hat er auf theatralischem Gebiet allemal. Les-
sing ist der einzige deutsche Dramatiker mindestens der
neueren Zeit, dessen dichterische Production völlig der-
jenigen der von ihm verehrten antiken Vorbilder verglichen
werden kann. Wie die Meister der athenischen Tragödie
legt auch er auf Erfindung der Fabel nicht das geringste
Gewicht: der gesammte dramatische Vorrath, wie er vor
seinen Augen liegt, ist für ihn — gerade wie die Welt-
geschichte auch — nur ein Repertorium dankbarer Stoffe.
Ein litterarisches Eigcnthumsrecht erkennt Lessing nur für
die Behandlung dieser Themata an; hier hat er wieder-
holt Nachahmungen und Plagiate gerügt, bei Wieland wie
bei Voltaire.
Lessing selbst ist nun aber äussert bescheiden in der
Ausbeutung dieses allgemeiner Benutzung verstatteten
Schatzes. Wesentlich sind es nur gerade die berühmtesten
und am häufigsten behandelten Stücke des allgemeinen
Motivvorraths, die er — wenigstens in ausgeführten Stücken
und nicht in blossen Entwürfen — angefasst hat; ich
nenne die Motive Faust, Phädra, Lucretia, Regulus, Oedipus.
Und in der Art, wie er diese in allen Zeiten und bei allen
Völkern beliebten Themata sich zu eigen gemacht hat, be-
dient er sich ausnahmslos ein und derselben Methode: er
modernisirt sie, er versetzt sie in seine Gegenwart.
Beides aber hängt untrennbar zusammen. Denn eben
deshalb sind jene Motive überall behandelt worden, weil
typische Gegensätze von grosser Wirkung ihnen zu Grunde
liegen, die in den Verhältnissen der Menschheit selbst be-
gründet und deshalb unsterblich sind. So z. B. der Gegen-
satz des strengen Vaters und des leichtlebigen Sjohns, für
B. M. Meyer, Leasings Theater. 299
die Komödie ein unerschöpflicher Vorwurf, aber auch für
die Tragödie fruchtbar in den Alexisdramen. Solche Mo-
tive also lassen sich modernisiren , d. h. der dauernde
Gegensatz kann in zeitlich wechselnde Formen eingekleidet
werden. Motive , deren veraltete Voraussetzungen eine
wahrhafte Erneuerung verbieten, hat Lessing nie berührt;
so z. B. die wirksame Fabel des Vaters, der sein Kind
auf göttlichen Befehl opfern soll (Abraham, Jephthah, Aga-
memnon).
Nun beschränkt sich aber die Erneuerung Lessings
keineswegs auf einen Wechsel der Kostüme. Er versetzt
die Stoffe in seine Gegenwart, das will heissen, er zieht
sie mitten hinein in seine persönlichen, augenblicklichen
Interessen; er findet in ihnen den Ausdruck für Fragen,
die ihn selbst berühren.
Wie Lessing zwischen der Neigung zur Einsamkeit
und dem Bedürfniss nach Unterhaltung fast periodisch
schwankt, so wechselt bei ihm auch die Lust an theoreti-
scher Untersuchung mit der Freude an deren praktischer
Bethätigung ab. Besonders stehen seine Dramen fast
stets zu seiner wissenschaftlichen Arbeit in Beziehung:
dieser verdanken sie in der Regel den Stoff, seinem Leben
die Auffassung desselben. Daher eben die Analogie mit
der Thätigkeit der alten Dramatiker: ein uralter Tradition
entnommener Stoff wird individuell erneuert. Nur in den
beiden allerbedeutendsten seiner Dramen thut Goethe das
Gleiche, in Iphigenie und in Faust; Schillers Arbeitsweise
aber ist eine völlig andere: seine wesentlich mythologisch
gerichtete Denkart, in der wie in den Urzeiten Dichter
und Denker zu einem untrennbaren Ganzen verwuchsen
und deren Kraft eine mythologische Figur von der Bedeu-
tung des Marquis Posa schaffen konnte, hat fast stets für
die ihn bewegenden Gedanken die dramatisch wirksame
Verkörperung erst suchen müssen. —
Jene Eigenart Lessings zeigt sich schon im Gesammt-
bestande seiner theatralischen Gestalten. Julian Schmidt
bemerkte, dass Lessings Neuerung grossentheils auf der
Einführung der Technik des Lustspiels in die Tragödie be-
ruhe; dies aber wieder besteht hauptsächlich darin, dass
20*
300 Br. M. Meyer, Leasings Theater.
er die Beschrankung auf eine bestimmte Anzahl fester
Rollenfacher, die für die Komödie immer gegolten hat, auf
die Tragödie übertrug. Und zwar nicht bloss die Be-
schränkung selbst, sondern wirklich did Rollenfacher; so
dass von seinem Odoardo R. M. Werner mit Recht äussern
durfte, er rücke dem polternden Alten der Komödie öfters
schon zu nahe, — Ohne Zweifel verdankt Lessing diese
Neuerung seiner persönlichen Bekanntschaft mit den fähren-
den Schauspielern seiner Zeit. Was er aber aus dem
Studium des lebenden Theaters gewonnen hatte, erwarb er
sich völlig erst durch eine Umformung der ganzen Truppe
nach seinem Bilde. Seine Hauptfiguren sind allemal der
edle Jüngling und der biedere Greis — Rollen, über die
das Beste Lessings einsichtsvollster Freund gesagt hat:
^Am glücklichsten war er in solchen Charakteren, die an
den seinigen grenzten', schreibt Mendelssohn an Karl Les-
sing. ^Tellheim und der Tempelherr werden mit den Jahren
Odoardos. Just wird durch Religion zum Klosterbruder.'
Am merkwürdigsten zeigt sich diese Durchdringung alter
Typen mit seinem eigenen Blut in den kleinen Gelegen-
heitsdramen der Polemik Lessings, wo der Autor selbst
auf die Bühne springt und den Gegner heraufzerrt, um in
wirkungsvoll extemporirtem Wortkampf den Pedanten oder
den Intriganten in einem raschen Maskenspiel zu entlarven;
da erinnert er denn sich selbst, den dort oben ringenden
Protagonisten , an seines Vaters Irascibilität , an den guten
und zugleich so hitzigen Mann, wie er die Zähne knirschte
— es ist Odoardo , es ist Lessings Vater , es ist der geal-
terte Lessing, der auf der Stegreif bühne gegen Dottore und
Ruffiano kämpft. — Besass er so für die Hauptträger seiner
Dramen in sich selbst ein Modell, das grade seiner eigenen
Verwandlungen und Schwankungen wegen dem Dichter
immer neuen Anhalt bieten konnte, so hat er für andere
Gestalten nicht versäumt, lebende Vertreter der festen
Rollen auszuwählen und abzubilden. Schreiben wir über
Lessings dramatische Production, so haben wir wesentlich
also über zwei Dinge zu handeln: über seine Motive —
und über seine Modelle. Wie beides sich bei ihm durch-
dringt, sei an den wichtigsten Beispielen gezeigt. —
R. M. Meyer, Leasings Theater. 301
In seinem ersten Theaterstück hat Lessing seine Ma-
nier noch nicht gefunden. 'Der junge Gelehrte' wird
gewöhnlich als eine That der Selbstbefreiung aufgefasst,
und Scherer sagt, mit diesem Lustspiel habe Lessing den
Kampf zwischen Pedanterie und Weltleben ein für alle-
mal abgethan, während Wieland lebenslänglich mit dem
Streit zwischen Schwärmerei und Sinnenlust zu thun ge-
habt habe, der für seine Production die gleiche Bedeutung
habe. Wieland aber hat später mit dem Schwärmer völlig
abgeschlossen , während Lessing die polyhistorische Art
Dämons nie ganz aufgegeben hat, ja selbst im Alter noch
manches zeigt, was geradezu an den eigentlichen Schulfuchs
erinnert. Man denke nur an die Art, wie er Italien sah.
Andererseits ist er aber auch nie ein Pedant gewesen, der
sich an Dissertatiönchen läppisch gefreut hätte. Des fer-
neren ist es eine selten trügende Bemerkung, dass in
Besserungsstücken solcher Art, die ihre pädagogische Ten-
denz gegen den Autor selbst richten, kaum je eine Com-
plementärfigur (wie ich die symmetrischen Gegenbilder der
Charakterfiguren nenne) fehlt, die der getadelten Eigenart
ein nachahmenswerthes Idealbild gegenüberstellt, wie bei
Lessing selbst z. B. der frei denkende Geistliche dem in-
toleranten Freigeist. In Damis' glücklichem Gegner Yaler
wird man ein Ideal Lessings nicht sehen wollen; er ist
der typische farblose Liebhaber, und wenn Damis einmal
von Yaler aussagt, was Lessing in dem berühmten Briefe
von 1749 über seine eigene Umwandlung berichtet hatte ^),
so stellt sich das nur in die Beihe zahlreicher aus dem
Leben aufgenommener Züge, die auch sonst das Stück
erfüllen. Dennoch modernisirt Lessing hier nicht in jenem
grossen Sinne, sondern kleinlicher durch Anhängen und
Einstopfen actueller Beziehungen. Schon Danzel hat be-
merkt, dass Damis mit der Declamation 'die Zeiten ändern
sich nicht' (S. 265) Lessings pedantische Glückwunschrede
parodirt. Professor Christ, dessen Einfluss auf Lessing ja
bekannt ist, hatte die ältere Schrift 'ob die Frauenzimmer
auch Menschen seien' hervorgezogen, und Damis spricht
>) Lachmann-Maltzahn 1, 307 vgl. E. Schmidt, Leasing 1, 127.
302 R- M. Meyer, Leasings Theater.
(S. 306) über das 'Mulier non homo\ Die ästfaetischen
Streitigkeiten werden hineingezerrt, wobei wieder Leasings
yiel bestaunte und doch durch Kästners Beispiel leicht er-
klärte Neutralität sich zeigt: die Helden der Schweizer,
Milton und Haller werden (S. 313) rühmlich genannt, aber
der Spott auf die 'neuen Wörter' (8. 397) geht von Gott-
scheds Antipathie gegen die Neologisten aus. Massenhaft
drängen sich theologische und sociale Zeitfragen herein:
das Sakrament des Ehestandes (S. 275), die Frauenbildung
(S. 278), der Eosmopolitismus der Gelehrten (S. 294. 341.
343). Aber die Figuren selbst bleiben noch fast unberührt
die der alten Komödie, und Leasings Freude an diesen
Typen ruft zu den handelnden Gestalten noch verschiedene
andere gleicher Art wie den Adelsstolzen (S. 279), den
Advocaten (S. 287), den für Reclame sorgenden ZeitungST
Schreiber (S. 290), ^en politischen Kannegieser (S. 310).
Manche dieser Rollen hat Lessing später selbständig ge-
macht, manchen dieser Züge später breiter ausgeführt.
Und dabei zeigt sich wieder, wie nah bei ihm (wie bei
Schiller) die satirische und die tragische AuiFassung sich
berühren: was hier über die gelehrte Frau gespottet wird,
soll später die Orsina in ganz anderem Sinne wiederholen ;
und wenn Damis distinguirt, dass er den Yater zwar nicht
qua Yater schlagen dürfe , wohl aber qua Mensch (S. 295 ;
bekanntlich eine Entlehnung von Holberg oder vielleicht
auch direct von Aristophanes) , so setzt nicht lange darauf
Soliman im Giangir (1,417) auseinander, der Sohn, der
sich empöre, sei sein Kind nicht mehr:
'Drum wenn der Vater strafft, strafft er als Vater nicht.'
Motive von allen Seiten, sieht man, Typen in Menge
zusammengetrommelt — aber weder die Auffassung der
alten Elemente noch ihre Verjüngung ist klar und con*
sequent. Denn noch weiss Lessing nicht Modelle zu be*
nutzen, um Einheit in seine Gestalten zu bringen: die
neuen Kleider schlottern um die alten Gestelle. Und doch
ein Ansatz schon hier dazu: Damis ist nicht schlechtweg
Lessing, aber in dem Augenblick, wo er mit seinem Corre-
spondenten in Dialog geräth (S. 340) — da ist er einmal
Lessing. —
R. M. Meyer, Leasings Theater. 303
Wir übergehen ^Damon\ 'Die alte Jungfer^ und andere
kleinere Stücke, um einen Augenblick bei dem merkwür-
digen Vorläufer und Gegenstück des 'Nathan', den 'Juden'
von 1749 Halt zu machen. Wenn Schiller vom 'Nathan'
mit Becht gesagt hat, dass man schwer ein gutes Trauer-
spiel daraus machen könnte, aber sehr leicht ein gutes
Lustspiel, so gilt von diesem Stück das Oegentheil. Es
wäre, um ihm eine tragische Spitze zu geben, nur der Zug
erforderlich, dass die Tochter des Barons von dem Beisen-
den geliebt würde, wovon bei Lessing nicht die Bede ist.
Aber in tieferem Sinn gehören die beiden Stücke zu-
sammen nicht bloss wegen der gleichen Tendenz, sondern
auch wegen der identischen Technik: beidemal ist der Jude
der Prüfstein für die anderen, an dem ihre Toleranz oder
Intoleranz sich darthut. Es sind umgekehrte Charakter-
stücke : während in Charakterdramen alle Nebenfiguren nur
dazu dienen, den Charakter der Hauptgestalten zu ex-
poniren, während dort ein einzelner Typus von lauter
'Beagenzfiguren' umgeben ist, kreisen hier die Typen (wie
in der mittelalterlichen 'Satire auf alle Stände') um eine
einzelne Beagenzfigur. Um die beiden Stücke als Cha-
rakterkomödien zu bezeichnen, brauchte man nur das eine
'die Intoleranten', das andere etwa 'die Unweisen' zu
nennen, wie Goethe ein Stück ähnlicher Art 'die Auf-
geregten' genannt hat. — Und vielleicht haben beide Stücke
noch mehr gemein.
Lessing schreibt in den Jahren des Kampfes mit Goeze
an Elise Beimarus: 'Sobald ich mit Semlern fertig bin und
auch Lessen geantwortet habe, arbeite ich meinen Frommen
Samariter, ein Trauerspiel in 5 Aufzügen, nach der Er-
findung des Herrn Jesu Christi, aus. Der Levit und der
Priester werden eine gar brillante Bolle darin spielen'.^)
Vielleicht nun kehrte Lessing mit dieser — schwerlich
ernst gemeinten — Ankündigung nur zu einem schon 1 749
ausgeführten Plane zurück. Dass er in jenen Jahren mit
dem Problem des Kampfes zwischen Sekten und Ortho-
doxie sich ernstlich beschäftigte, zeigen die bedeutenden
*) Briefe hg. von Redlich 1, 793.
304 R« M. Mejer, Leasings Theater.
'Gedanken über die Herrenhuter' (Werke 11, I 26) von
1750. Man hat bei der Fabel von den drei Ringen öfters
an Swifts 'Märchen von der Tonne' und die fromme Um-
deutung desselben in Gellerts 'Geschichte von dem Hute'
erinnert; auf beides aber bezieht sich Lessing schon in
diesem Erstling seiner Toleranzbetrachtungen: 'Ich be-
haupte also: es erging der Religion wie der Weltweiss-
heit', sagt er, und spielt an auf Geliert: 'Es ging dem Hute
fast wie der Philosophie'. Beschäftigte sich so Lessing
schon damals mit der Frage nach dem Werth der reli-
giösen Minoritäten, so durfte er wohl die Lage der Sa-
mariter unter den Juden mit der damaligen Stellung der
Juden unter den Christen parallelisiren. Yen Räubern
überfallen findet der Yerletzte Schutz und Rettung nur
durch den Angehörigen eines verstossenen und verachteten
Volkes. — Das wäre denn der erste Fall, wo Lessing
einen alten Stoff dramatisch verjüngt hätte. —
Zweifelhaft wie hier bleibt es auch beim 'Henzi' 1753,
ob wirklich die Modemisirung eines alten Problems an der
Hand eines neuen Ereignisses vorliegt. Danzel bejaht die
Frage, und seine Aufi^assung wird durch Lessings bekannten
Plan, den 'rasenden Herkules' am Masaniello zu erneuen,
gestützt: auch hier dramatische Ausbeutung eines histori-
schen Revolutionsdramas. Aber E. Schmidt hat doch
schwerwiegende Gegengründe vorgebracht; und mehr als
eine Parallele des Verhältnisses zwischen Henzi und
Ducret zu dem zwischen Brutus und Cassius lässt sich aus
den Fragmenten nicht gewinnen. —
Volle Sicherheit gewinnt man auch noch nicht für
Lessings erstes grosses Drama, 'Miss Sara Sampson'
1755. Mit den 'theatralischen Vorstellungen der Alten'
beschäftigte sich ja in demselben Jahre das dritte Stück
seiner 'Theatralischen Bibliothek', und so wäre eine Medea
als Grundlage seines bürgerlichen Trauerspiels von vorn-
herein wahrscheinlich genug. Scherer hat denn auch die
Behauptung erneuert, es sei eine modemisirte Medea, und
hierauf deuteten die eigenen Worte der Marwood : 'Sieh in
mir eine neue Medea' — grade wie am Ende der 'Emilia
Galotti' die Heldin ihren Vater an Virginius erinnert.
R. M. Meyer, Leasings Theater. 305
Gegen diese Auffassung hat zwar schon Danzel vorgebracht,
dass für die Bolle der Medea gerade der Mord der eigenen
Kinder bezeichnend sei, während Marwood den Mord der
Arabella gar nicht ernstlich beabsichtigt. Jedoch vor allem
ist Medea die verlassene Ckttin, welche aus beleidigter
Liebe oder noch mehr aus gekränkter Ehre rachsüchtig
die glückliche Nebenbuhlerin ermordet Und so vergiftet
Marwood die Sara wie Medea die Creusa. — Daneben hat
Lessing aber zur Bekleidung der alten Fabel noch Lillo's
Drama 'Der Kaufmann von London' und Bichardsons Bo-
man ^Clarissa Harlove' benutzt und beide sogar für die
Namen ausgebeutet. Es ist zu bemerken , dass Lillo's
Stück eine alte Yolksballade dramatisirt und also eine ge-
wisse poetische Durcharbeitung des Stoffes schon voraus-
setzt. — Somit ist für 'Miss Sara Sampson' die Benutzung
wenigstens alter Motive, die schon durch mehrere Hände
gegangen waren, zweifellos, wenn auch nicht völlig die
einer antiken Fabel. Was aber Lessings specifische Art
der Erneuerung angeht, so macht er wahrscheinlich hier
den ersten Schritt in jener Bichtung, durch Einführung
moderner Modelle zu verjüngen. Wenn nämlich wirklich
dem Schwanken Meilefonts zwischen Marwood und Sara
die unsichere Stellung Jonathan Swifts inmitten zweier
Geliebten zum Vorbild gedient hat (wie bekanntlich zu-
erst Caro, Lessing und Swift, Jena, 1869 behauptete), so
könnten wir zum ersten Mal ein solches modernes Modell
nachweisen. Doch würde es der Oharakterzeichnung nur
insofern gedient haben, als es für einen neuen Typus die
bestimmende Grundidee geliefert hätte — eben für den
Typus, den Goethe in Weislingen, Ferdinand, mit Modifi-
cation auch in Olavigo ausgebildet hat und der dann in
Grillparzers Theater zum eisernen Bestand gehört. Im
einzelnen hat Meilefont von Swift gewiss so wenig wie
möglich — und doch hätte dessen Charakter so leicht und
gut von Lessing nachgezeichnet werden können, der ihm
in so vielem verwandt war, in theologischem und litterari-
schem Interesse, im Trotz der Isolirung, zuletzt fast in der
Menschenverachtung! Höchstens ein Zug Mellefonts, der
freilich fast allein für ihn charakteristisch ist, kann von
306 ^- ^* Meyer, Leasings Theater.
Swift stammen: es ist die beinahe pathologisch wirkende
Ehescheu, deren eigentlicher Dramatiker dann späterhin
Immermann geworden ist, in 'Gardenie und Gelinde' der
weiblichen, in Tetrarca' der männlichen. — Lessing hat
mit der ^Miss Sara' nach den verschiedensten Richtungen
hin eifrige Nachahmer und Nachbeter gefunden, selbst für
die kleinsten Einzelheiten'), und die grosse Hauptscene,
Marwood und Sara, hat Schiller, Lessings grösster Schüler,
zweimal nachgebildet, in der Begegnung zwischen Lady
Milford und Luise, und im Streit der Königinnen in ^Maria
Stuart^ für Lessing selbst aber bedeutete das Stück nur
eine rasch zurückgelegte Etappe seiner dramatischen Ent-
Wickelung. —
Das Jahr 1759 ist reich an dramatischen Entwürfen
Lessings, unter denen mehrere berühmte Themata erneuern,
vor allem der 'Faust' und der 'Philo tas'. An dem letz-
teren lässt sich recht deutlich die Geschichte eines Motivs
studiren. Dreimal hat eine Lieblingsfigur Lessings , der
waffenlose Offizier, in seinen Dramen Verwirklichung ge-
funden: im 'Philo tas' beherrscht er allein das Stück, in
der 'Minna von Barnhelm' ist er immer noch die Haupt-
figur, im 'Nathan' ist er eine noch immer bedeutende
Nebenfigur geworden. Dass Teilheim und der Tempelherr
mit einander und mit Lessing verwandt sind, sprachen wir
schon mit Mendelssohns Worten aus; aber auch Philotas
ist aus derselben Sippe. Diese interessante Situation des
kampfgewöhnten und kämpf bedürftigen Mannes, den äus-
sere Umstände aus seinem Element geworfen haben, ha>t
Lessing an Gh. E. von Kleist studiren können, eh dieser
in dem ersehnten Felddienst den Tod fürs Vaterland fand,
den Philotas verfehlt; er sollte das Tragische dieser Situa-
tion noch inniger empfinden lernen, als ihm der weitere
Kampf gegen die Theologen verboten ward. Das Motiv
aber ist uralt: es hat seine klassische Gestalt in der Volks-
sage Roms von Regulus gefunden und die höchste Blüthe
auf dem spanischen Theater in Galderons 'Standhaftem
Prinzen'. Die Waffenlosigkeit des Soldaten wird dadurch
*) Vgl. Sauer, Quellen und Forschungen 30, 80 f.
R. M. Meyer, Lessings Theater. 307
verschlimmert) dass er zugleich als Geissei in den Händen
der Feinde ist, dass er so selbst als Waffe gegen sein
Volk gebraucht wird ; dies unterscheidet den Stoff des Be-
gulus von dem des Philoktet, welch letzterer gleichsam
der ins Heroische übersetzte gefesselte Prometheus ist.
Und wieder hat Lessing ein Thema ergriffen, das leicht
auch komisch zu gestalten war: in Eomödienform bildet es
dasjenige Stück, welches Lessing für das beste erklärt,
das je eine Bühne beschritten: die ^Captivi^ des Plautus.
— Hier also finden wir sicher alte Motive, vielleicht mo-
derne Modelle; aber die ideale Ferne bleibt gewahrt, wie
bei all den zahlreichen Entwürfen dieses Jahres. —
Das Jahr 1760 führte Lessing durch sein ^Leben des
Sophokles' von neuem zu jener für seine theoretische und
praktische Dramaturgie so bedeutsamen Gestalt des ver-
lassenen Dulders Philoktet. Und bald reift unter dem
Einfluss seiner Breslauer Umgebung in ihm sein Drama
vom ^Soldatenglück', in dem der entwaffnete Offizier
abermals in der Mitte steht, nun aber völlig erneut und
mit Lessings eigenem Blute belebt. Teilheim ist unzweifel«
haft die Hauptfigur, nicht Minna; und die Wiedererobe-
rung des grollenden 'Krüppels' für die menschliche Gesell-
schaft ist die Aufgabe, zu deren Lösung erst mit nur
scheinbarem Erfolge die List, dann zu dauerndem Siege
die Aufrichtigkeit angewandt werden. Dass die körper-
liche Wunde, welche den Philoktet isolirt, in eine geistige
Verletzung umgewandelt werden musste , ist erklärlich ;
wenn Teilheim sich zweimal mit sichtlich gewollter Wieder-
holung *an der Ehre gekränkt , ein Krüppel , ein Bettler'
nennt, so zeigt diese Folge, wie viel mehr Bedeutung er
der Kränkung beilegt als der Lähmung und gar der Ver-
armung. Der steife Arm wird denn auch nur nebenbei er-
wähnt, als Just sich deswegen unentbehrlich nennt. Aber
die Kränkung ist die Wunde, die den Major in die Ein-
samkeit getrieben hat, die ihm auch dort noch diejenigen
verdächtigt , welche ihn der Gesellschaft , dem Leben
wiedererobern wollen. Was der Überredung und der List
nicht gelang, gelänge kaum der Liebe, käme nicht wie im
Thiloktet' schliesslich der deus ex machina — Friedrichs
308 R* M. Meyer, Lessings Theater.
Brief; wie in Moliöres ^Tartuffe'' ersetzt königliche Gerech-
tigkeit das Eingreifen der Götter.
Wie ganz ist aber die alte Fabel in neue Form ge-
kommen! Modernes Empfinden durchdringt jede Figur —
es ist das älteste uns noch lebende Drama der deutschen
Litteratur. Es sind Deutsche, die vor uns stehen, Deut-
sche des achtzehnten Jahrhunderts in ihren Yorzügen wie
in ihren Schwächen. Wenn in dem klassischen Drama der
Franzosen, welches Lessing bekämpfte, antik gekleidete
Figuren moderne französische Empfindungen aussprachen,
so hat er diesen Zwiespalt überwunden, indem er den
Geist der neuen Zeit sich auch einen entsprechenden
Körper bauen liess. Nicht dass die französische Tragödie
zu sehr modernisirt, tadelt er, sondern dass sie es zu
wenig thut, und nicht consequent wie er selbst. Das also
ist das Wesentliche, und nicht einzelne actuelle Züge, die
benutzt sind, wie jene von E. Schmidt glücklich auf die
Ausfragerei des Wirths bezogene preussische Polizeiver-
ordnung, oder irgend ein Vorgang in der ^Goldenen Gtans*
zu Breslau, der nach dem Bericht von Garve's Mutter zu
Grunde liegt. Lessings Mittel aber, diese Modernisirung
durchzufahren , ist wieder das lebendige Modell. Ein
preussischer Offizier Marschall von Biberstein soll für den
Tellheim das erste Vorbild gewesen sein und ihm auch
durch seinen Beinamen ^der Teil' zum Namen verholfen
haben; Paul Werner hat es in der preussischen Armee
bis zum General gebracht, und an Riccauts kann es nicht
gefehlt haben. Dieser , nebenbei bemerkt , ist aber so
wenig wie die anderen einfach aus der Wirklichkeit auf
die Bühne verpflanzt: er ist ein Abkömmling des Kapitäns
von Schlag in der ^ Alten Jungfer', der gerade thut, was
Tellheim gethan zu haben scheinen könnte, folgte er so-
gleich der Werbung Minna*s: der seine Schulden durch
eine reiche Heirat, zu der er aufgefordert wird, deckt.
Der Kapitän ist das dramatische Gegenbild des Majors : er
ist der verabschiedete Offizier, der es nicht verschmäht,
nach Möglichkeit sein Glück zu machen. So wirken selbst
in dieser scheinbar episodischen Figur theatralische Ge-
wöhnung, theatralisches Bedürfniss und Zeichnung nach
R. M. Meyer, Lesäings Theater. 309
dem Leben zusammen; und ein schalkhafter Zug thut das
Letzte: für Lessing muss Biccaut das Hazardspiel ver-
theidigen.
Wie vollkommen aber Lessing damals schon die dra-
matische Form beherrschte, beweist das Gelingen zweier
hier gewagter Experimente. Für Franziska hat Lessing
einen Wink Oellerts ausgeführt, der in seiner von unserm
Autor wieder abgedruckten Abhandlung Tro comoedia com-
movente' die zierlichen und witzigen Kammermädchen der
üblichen Komödie mit Recht tadelt. ^Allein wenn man
voraussetzt^ fährt er fort, ^dieses Mädchen sei, von ihren
ersten Jahren an, in ein vornehmes Haus gekommen, wo
sie Gelegenheit gefunden habe, ihre Sitten und ihren Geist
zu bessern: so wird alsdann die zuerst unwahrscheinliche
Person wahrscheinlich^ (Lachmann-Maltzahn 4, 152). Diese
Andeutung hat Lessing in der ausgezeichneten Fremden-
buchscene wirklich ausgeführt. — In derselben Richtung,
in der Tendenz auf ein ernstes Lustspiel, bewegt sich ein
tiefer gehender Yersuch. Lessing hat in der Tragödie von
den beiden ^Leidenschaften\ die Aristoteles nennt, jeder-
zeit mehr das Mitleid betont; und mittelst eben dieser
^Leidenschaft' sucht er das Trauerspiel in die ernste
Sphäre zu erheben. Am deutlichsten spricht das Tellheim
selbst aus: 'Ärgemiss und verbissene Wuth hatten meine
ganze Seele umnebelt, die Liebe selbst, in dem vollsten
Gange des Stückes, konnte sich darin nicht Tag schaffen.
Aber sie sendet ihre Tochter, das Mitleid, die, mit dem
finstern Schmerze vertrauter, die Nebel zerstreuet und alle
Zugänge meiner Seele den Eindrücken der Zärtlichkeit
wiederum eröffnet' (1, 624). So macht also Lessing eine
Triebfeder der Tragödie zum treibenden Motiv seines Lust-
spiels statt der in dieser Sphäre sonst herrschenden Liebe.
Es entspricht das völlig jener schon citirten allgemeinen
Beobachtung Julian Schmidts. —
Recapituliren wir die Entstehung der 'Minna'. Mir
liegt daran, zu zeigen, dass sie nicht (wie die übliche An-
sicht ist) plötzlich aus den Einwirkungen des siebenjährigen
Krieges und der militärischen Umgebung auf den Dichter
entstand , sondern dass auch sie wie alle poetischen Pro-
310 R. M. Meyer, Leasings Theater.
ductionen Leseings mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten
zusammenhing. Zarte Fäden spinnen sich herüber vom
'Leben des Sophokles' wie zum 'Laokoon' so zur 'Minna'.
Es ist die Gestalt des Philoktet, die Lessing in Anspruch
nimmt. Eine einzelne Gestalt — nicht wie bei der Vir-
ginien-Fabel in der 'Emilia' und vielleicht bei der Medea-
Fabel in der 'Sara' das Problem, die grosse Scene. Auch
nimmt daher Lessing nicht wie in jenen Fällen völlig
systematisch eine Erneuerung vor. Sondern jene Gestalt
beschäftigt ihn, die Figur des durch Unglück vereinsamten,
durch Unglück und Vereinsamung verbitterten braven
Mannes, der der Gesellschaft wiedergewonnen werden soll.
Das Zurücktreten der körperlichen Verwundung neben der
seelischen lag so nahe, dass selbst jener betrübte Ghateau-
brun, dessen französirten 'Philoktet' Lessing im 'Laokoon'
verspottet, statt der Wunde ihre psychologische Folge, die
Verbitterung des Helden', zum Grund seiner Vereinsamung
gemacht hat. So rückt von selbst jene Gestalt dem ge-
wohnten. Lessing so sympathischen Typus des empfind-
lichen ehrgeizigen Mannes näher; in Anlehnung an die
antike Fabel, die den Philoktet mit dem Raub der Waffen
wenigstens bedroht, bringt er ihn in seine Lieblingssituation,
die des waffenlosen Offiziers. Nun übertragen sich fast
unwillkürlich auf diese Gestalt Züge seines liebsten Freun-
des; hatte er doch Kleist in ähnlicher Lage lange be-
dauert, wie er krank, dann als Hüter des Lazareths un-
geduldig in den Kampf zu ziehen begehrte. Und schon
zur Zeit der Litteraturbriefe war ihm Kleist der typische
Vertreter des edelen Offiziers geworden. Von Kleist noch
mehr als von Lessing selbst stammt das idyllische Ver-
langen nach Frieden; und eine gewisse Ironie liegt ja frei-
lich darin, wenn der weltscheue Mann vor der Welt doch
etwas zu viel Ruhe hat. — Alles gruppirt sich nun um
diese Gestalt; den Nathan ausgenommen hat Lessing keine
Figur mit solcher Liebe geschaffen wie diese: in ihnen
liebte er Kleist und Mendelssohn. — Allerlei Zeitereignisse
werden Fermente der Neuschöpfung. Das Ganze aber
durchdringt Lessings freie und milde Stimmung, die in der
Behandlung gleichsam Tragödie und Komödie wie Sachsen
R. M. Meyer, Lessings Theater. 311
und Preussen aussöhnt. Familienbande schlingen sich aus
einem Lager ins andere wie im 'Nathan' (oder wie am
Schluss der mittelhochdeutschen 'Kutrun') ; Technik des
Lustspiels und Motive des Trauerspiels arbeiten Hand in
Hand und das Stück gipfelt in jenem von E. Schmidt
schön gewürdigten Lobe König Friedrichs, des grossen und
guten Mannes. —
1772 erschien Lessings grösstes Trauerspiel: 'Emilia
Galotti'.
Wenn man den Zusammenhang zwischen Lessings
theoretischer und dichterischer Thätigkeit bei der 'Minna'
vielleicht unterschätzt hat, so hat man ihn bei der 'EmiHa'
wohl übertrieben. Man hat dies Drama geradezu 'eine
Probe auf das Exempel' genannt, nämlich als Ausführung
der Regeln, welche die 'Hamburgische Dramaturgie' predigt.
Es sollte die Lösung jener Wette sein, die Lessing dem
grossen Corneille geboten hatte: kraft seines Glaubens an
Aristoteles, kraft seiner Methode jede Tragödie besser zu
machen als er. Aber dann hätte der deutsche Dichter
doch einen Stoff aussuchen müssen, den auch der französi-
sche behandelt hätte, gerade weil nach seiner Ansicht nicht
der Stoff, sondern nur seine Yerarbeitung dem Autor eigen-
thümlich ist.
Vielmehr interessirte dieser Stoff Lessing ja seit langer
Zeit. 1754 hatte er in der 'Theatralischen Bibliothek' die
französirende 'Virginia' eines Spaniers analysirt, 1 757 selbst
eine 'Virginia' in Angriff genommen^), die Januar 1758 sich
in das bürgerliche Trauerspiel 'Emilia' verwandelte. Er-
zählt er doch anschaulich genug von der Arbeitsweise
seines 'jungen Tragicus'.
Aber dann ruht die Arbeit lange. Ebert, dessen Ver-
dienste um Lessing noch nicht genügend anerkannt sind,
um die Vollendung von Lessing Plänen besorgt wie
Schiller für die Goethes, mahnt fortwährend. Nun kam
sie endlich zu Stande, um den 13. März 1772 zum Ge-
burtstag der Herzogin aufgeführt zu werden.
*) Vgl. jetzt Boethe, Vierteljahrachrift 2, 516 ff.
312 R. M. Meyer, Lessing^ Theater.
Das Motiv ist eins der ältesten und wichtigsten der
Weltlitteratur. Es lässt sich kurz so fassen: ein Vater
wird gezwungen, seine Tochter zu tödten. Denn dies ist
der eigentliche tragische Yorwurf, dass der Vater zum
Mord gezwungen wird, und nicht (wie bei der ^Lucretia'),
dass die Tochter stirbt; Odoardo ist so gut wie Teilheim
die Hauptfigur und nicht die Namensheldinnen beider
Stücke. Und zwar ist das Specifische dieses Vorwurfs,
dass der Vater die Tochter um ihre Ehre zu retten tödten
muss ; dies scheidet unser Thema von dem schon oben be-
rührten des Jephthah oder Agamemnon, der sie um seinet-
willen opfern soll. — Das Virginia-Motiv setzt also voraus,
dass die Tochter in ihrer Unschuld von einem Versucher
bedroht wird, dem überlegene Mittel zu Gebot stehen;
denn sonst müsste der Vater zu ihrer Rettung andere
Wege statt dieses verzweifelten Auswegs einschlagen
können. Es ist also gegeben , dass ein Mächtiger die
Schutzlose bedroht. — Die komische Kehrseite des Motivs
bietet die Amphitryon - Fabel. Heinrich v. Kleist hat die
Jungfrau (oder Gattin), die ein Übermächtiger in ihrer
Ehre bedroht, sowohl tragisch (in einer Episode der ^Her-
mannsschlacht') als komisch (im ^Amphitryon') behandelt.
— In epischer Form hat Thümmel in der 'Wilhelmine'
den gleichen Stoff lustig angefasst und auch dem ver-
zweifelten Vater der Tragödie die frohlockende Mutter
gegenübergestellt. Angedeutet ist aber deren Stellung
schon im Trauerspiel: meint doch Marinelli, jede Mutter
fühle sich geschmeichelt durch den Gedanken eines Prinzen
Schwiegermutter zu werden. Auch darin ahmt Schiller in
'Kabale und Liebe' die 'Emilia' nach.
Aber wenn Lessing in den Eltern der Emilia die Füh-
lung mit den komischen Alten des Lustspiels im Trauer-
spiel zu wahren wagte, hat er durch ein anderes Vorgehen
die Virginia-Fabel noch weiter aus den gewohnten patheti-
schen Pfaden gelenkt. Mit der Ermordung der Tochter
kann das Stück ja schliessen. Aber alte Tradition ver-
bindet damit die Staatsumwälzung, welche den Tyrannen
bestraft. Das Verlangen nach der 'poetischen Gerechtig-
keit' hat diese Verbindung festgehalten; deshalb verletzte
R. M. Meyer, Leasings Theater. 313
auch die Straflosigkeit des Prinzen seine Zeitgenossen und
regte sie zu antityrannischen Declamationen auf, während
in unsern Tagen Yictor Hugo mit seinem unerträglichen
^Le roi s'amuse' gerade durch die schneidende Yerhöhnung
dieses Verlangens wirken wollte. — Den ursprünglichen
Anlass zu solcher Verbindung, die aus dem Opfer der
Wollust ein Opfer der Tyrannei macht, gab wohl die
historische Wahrheit. Wie die sicilianische Vesper und
der Volksaufstand des Wat Tyler durch derartige AngriiTe
der Höhergestellten auf die sittliche Ehre von Jungfrauen
aus dem Volk hervorgerufen sein sollen, so mag auch der
Tod der Lucretia und der der Virginia (freilich zeigen
beide eine verdächtige Ähnlichkeit!) wirklich zur Befrei-
ung der Stadt geführt haben. So hat auch Kleist dies er-
regende Motiv verwerthet. Aber Lessing verfolgt auch
hier den Plan der strengsten Vereinfachung. Jene Be-
schränkung auf das If othwendigste , die seine TheiM-ie der
Fabel beherrscht, jene Anschauung die man als ^ästheti-
schen Utilitarismus' bezeichnen könnte, lässt ihn auch hier
den Stoff auf seine kürzeste Forroulirung zurückführen.
Er beschränkt sich völlig auf das Grundmotiv: der Vater
wird zur Ermordung der Tochter gezwungen. ^Was hat
die gekränkte Tugend mit der Bache des Lasters zu thun ?'
fragt Odoardo ausdrücklich (2, 170).
Dadurch wird nun freilich die Tragödie, wenn sie auch
eine politische zu sein aufhört, noch keine bürgerliche. So
wenig wie 'Eabale und Liebe^ wie ^Othello', welche man
auch ^bürgerliche Tragödien^ genannt hat, ist 'Emilia Ga-
lotti^ dies im vollen Sinn. Denn der Hof spielt nicht etwa
bloss äusserlich herein, sondern alle die Voraussetzungen,
welche das bürgerliche Drama zurückweist, werden hier
unabweislich gefordert ; auf der Übermacht der social
Höhergestellten beruht eben die Katastrophe. Aber 6in
Charakter wird aus der Sphäre der alten Virginia^ Tragödie
gerückt: der Träger der Handlung hört auf, Leiter der
Staatsumwälzung zu sein. Also: die Umwandlung der
'Virginia' in die 'Emilia' beruht ganz und gar auf der Um-
wandlung des Vaters.
Der Virginius der alten Fabel ist eine Wiederholung
Vierte^ahnchrift fOr Litteratoigeflchichte m 21
314 B. M. Meyer, Lessinga Theater.
jenes Typus des strengen und sittenreinen römischen Re-
publicaners, des Fabricius, Regulus, Brutus, Cato, der dem
Gesetz und der Pflicht jedes Opfer unbedenklich bringt —
jenes Typus, den Kleists Trinz von Homburg' so schön
mit einem modernen Ideal des Staatsmanns und Vaters
contrastirt. Odoardo dagegen ist bei all seiner rauhen
Tugend nicht frei von jener moralischen Unsicherheit, die
die ganze Zeit charakterisirt. So misstraut auch Tellheim
seinem Charakter — wie Emilia — und seinem Verstände
— wie Odoardo — (1, 559. 615). Der Alte weiss — wie
Lessing und wie sein Vater — dass er heftig ist, und das
beirrt ihn. Er will den Prinzen erdolchen — da tritt
dieser auf ihn zu und sagt freundlich: ^Fassen Sie sich,
lieber Galotti.' Und er steckt den Dolch wieder ein. Ge-
wiss ist dies psychologisch fein beobachtet. Solche Mah-
nungen haben den Odoardo oft von Unbesonnenheiten ab-
gehalten , und dies Wort wirkt deshalb auch diesmal.
Aber wäre es hier nicht männlicher, unbesonnen zu sein?
Hier zeigt es sich, wie sehr das Modell wirkt. Dieser
Virginius lebt wirklich im achtzehnten Jahrhundert; es ist
ein Zeitgenosse seines Autors.
Diese Unsicherheit zusammen mit der der Claudia, die
ich schon andeutete, überliefern Emilien ihrem Verhäng-
niss. Für diese braucht man schwerlich ein Modell zu
suchen. Lessing hat ausdrücklich erklärt, er kenne an
jungen Mädchen keine andere Tugend als Frömmigkeit
und Gehorsam. Aus diesen beiden Eigenschaften bildete
er Odoardos Tochter; der Emilia gegen seine Worte an-
dere Eigenschaften beizulegen sind wir nicht berechtigt. —
Wohl aber fliesst in Appiani wieder das Blut der Kleist
und Lessing, wie in Tellheim und dem Tempelherren:
auch er gehört in die Gruppe der schwermüthigen Offiziere,
Man hat über seine Melancholie viel gesagt, diese aber ist
wohl auch in Lessings Absicht begründet. In der 'Drama-
turgie' hatte er sich gegen die 'Überraschung' erklärt und
gemeint, er wolle wohl ein Stück so schreiben, dass alles
von Anfang an vorauszusehen sei, und deshalb solle es
nur mehr rühren. Appiani ist schwermüthig, damit wir
auf seinen Tod vorbereitet sind.
R. M. Meyer, Lessings Theater. 315
Auch sonst ist die Zeichnung der Figuren in diesem
Drama durchaus dem Interesse der Handlung unterge-
ordnet. Das ganze Stück ist auf den ^inen Moment an-
gelegt, in dem der Yater seine Tochter ermorden muss.
Die Frage ist: wie kann ein Odoardo des achtzehnten
Jahrhunderts in diese Situation gebracht werden? Und in
dieser Berechnung sind nun wirklich alle Charaktere und
Umstände mit feinster Überlegung abgezirkelt. Yor allem
ist die Bolle des Prinzen danach abgemessen. Ein wilder
Tyrann wie Appius Claudius würde den Dolch heraus-
fordern. Der Fürst muss deshalb nach Möglichkeit ent-
lastet werden, damit er die Gegenpartei nicht zu heftig
reizt, auch damit der Zuschauer seine Straflosigkeit er-
trägt. Hettore ist daher ein ganz gutmüthiger Mensch
und voll feiner Gewandtheit. Aber er ist nicht einmal
eine roh sinnliche Natur. Von dieser Seite hat ihn die
treffliche Conti-Scene zu exponiren, die im Übrigen gleich-
sam Lessings Abschied an den Gedankenkreis des ^Laokoon'
ist. Der Prinz ist ein ästhetisirender Epikureer; der
Mensch ist ihm lediglich ein — gelungenes oder miss-
lungenes — Kunstwerk« Den innern Werth vergisst er so
völlig, wie er ihn entbehrt. Es ist ganz gut, heut die
Orsina malen zu lassen und morgen ihr Bild wegzustellen ;
der Mensch aber empört sich gegen solches Yerbrauchen.
Die herrlichen Züge, die den Maler begeistern, entflammen
den Prinzen zu sinnlicher Leidenschaft und diese Leiden-
schaftlichkeit malt auch die meisterhafte kleine Scene mit
Rota. Hier hat Lessing einen älteren Zug aufgenommen:
sein Abdallah in der Tatime' ist in der Aufwallung bereit,
Todesurtheile vollziehen zu lassen. In der 'Emilia' aber
sollen wir sehen, wie Hettore über dem augenblicklichen
Ziel alles vergisst und zuerst seine Pflicht. — Und endlich
ist dieser Mann noch in den Händen Marinellis. Damit
entschuldigen ihn die Schlussworte (welche äusserlich an
die der ^Matrone von Ephesus' auffallend erinnern); aber
scharf doch treffend hat Börne über diese Worte bemerkt:
'Die Yerantwortlichkeit der Minister gilt nur in Staats-
angelegenheiten\ —
Wir sehen: Lessings Dramaturgie hat hier eine völlig
21*
316 R. M. Meyer, Lessings Theater.
andere Stufe erreicht. In den 'Juden' — unsere Vermu-
thungen als zutreffend angenommen — Modernisirung der
Fabel ohne alle feste Gharakterzeichnung ; in 'Miss Sara'
mit Hilfe des zeitgenössischen Modells Swift, das aber
nur ganz allgemein benutzt wird; im 'Philotas' bei Wah-
rung der idealen Ferne zuerst Spuren Lessingischer Charak-
teristik. Dann völliger Umschwung: nunmehr beherrscht
der moderne Charakter das Stück , zuerst und mit gründ-
licher Umwandlung der Fabel in 'Minna von Barnhelm',
dann in der 'Emilia' so unumschränkt, dass sein Verhält-
niss zu dem alten Motive die einzige Richtschnur für alle
anderen Charaktere und Momente wird. Einen modernen
Charakter in eine typische Situation von dramatischer Be-
deutung hineinzudenken — das ist nunmehr Lessings klare
Technik. Wenn auch nicht 'un coin de la nature', sondern
vielmehr 'un coin de la litt^rature' zu Grunde zu liegen
pflegt, so ist es doch nun stets 'vu ä travers d'un tempe-
rament'; durch Lessings Augen gesehen verjüngen sich die
berühmten Dramenstoffe.
Vereinzelte Zeiteinflüsse übrigens aufzunehmen bleibt
durch alle Phasen seine Gewohnheit. So mag Winckel-
manns Mörder dem Banditen Angelo zu seinem Namen ver-
helfen haben; der Überfall durch (hier scheinbare) Räuber
aber, ein uraltes Hilfsmotiv schon vom altgriechischen Ro-
man her, war von Lessing bereits in den 'Juden' benutzt
worden. — In der Art wie Marinelli dem Appiani unver-
schämt (aber freilich ebenfalls nur scheinbar) Freundschaft
aufzudrängen sucht, hat sich wohl der Beginn des Streites
mit Klotz, welcher für Lessing nun einmal der typische
Intrigant geworden war, leise abgespiegelt. Andere An-
spielungen suchten die Zeitgenossen wohl mit Unrecht.
Erst in der 'Emilia' hat Lessing vollkommen seine
eigene Sprechweise den Figuren zu leihen gewagt. Man
hat die Sprache als zu sentenziös getadelt und selbst
Emiliens schöne letzte Worte als zu schön gerügt. Aber
mit Recht ist darauf erwiedert worden , dass dies Lessings
eigne Art war, dass er wirklich in Noth und Verzweiflung
Briefe voll bitteren Witzes schreibe. Individuelle Wahr-
heit lässt sich dem nicht abstreiten, gerade wie die Bon-
R. M. Meyer, Lessings Theater. 317
mots vor der Guillotine die effectvollen Abgänge der fran-
zösischen Tragödie vor dem Tadel der Unwahrheit retten.
— Hierin also ist das Modell Herr geworden selbst über
den kunstvollen Rechner, als den die Romantiker den
Autor der 'Emilia^ darstellen. Emilia spricht wie Les-
sing als Mensch sprach, nicht wie er als Dramaturg for-
derte. —
Für den ^Nathan' können wir uns kurz fassen. Dass
Lessing hier ein altes vielbehandeltes Motiv aufgriff, ist
weltbekannt; dass er es zu einem Mittel des Kampfes
gegen die moderne Intoleranz umformte , nicht minder.
Dass für den Nathan Moses Mendelssohn als Vorbild ge-
dient hat und für den Patriarchen Goeze hat Züge liefern
müssen, all das ist allgemein anerkannt; ebenso dass in
dem Tempelherrn ein verwandtes Herz schlägt wie in
Teilheim und Lessing. Nur ein Mittelglied der Ent-
stehungsgeschichte des 'Nathan' wird oft übersehen, ob-
wohl z. B. der Herausgeber von Mendelssohns Schriften
(1, 2t) darauf aufmerksam gemacht hat. Wie kam Lessing
plötzlich auf die Geschichte von Melchisedech Giudeo im
Boccaccio? Wohl hatte er — wie erwähnt — schon in
den 'Betrachtungen über die Herrenhuter' 1750, die ver-
wandten Fabeln Swifts und Gellerts gestreift und in der
Rettung des Cardanus 1 754 sich dem gleichen Thema noch
mehr genähert; in der 'Dramaturgie' hatte er andererseits
bei der Besprechung von Cronegks 'Olint und Sophronia'
das Gebiet, auf dem Christen und Mahommedaner neben-
einander lebten, betreten und die letzteren gegen den Vor-
wurf der Götzendienerei vertheidigt. Wie aber kam beides
jetzt plötzlich zusammen? Es war wohl jene berüchtigte,
übrigens nicht so übel gemeinte als taktlos ausgeführte
Herausforderung Mendelssohns durch Lavater, welche ver-
mittelte. Lavater forderte von Lessings Freund, dass er
Bonnets Vertheidigung des Christenthums widerlegen oder
dies selbst annehmen solle. Hier wiederholte sich die Si-
tuation des Juden jener alten Novelle: er ward in die Ver-
legenheit gesetzt, seine Religion gegenüber den Bekennern
eines anderen Glaubens, unter denen er nur geduldet lebte,
zu behaupten. Mendelssohn hielt sich trefflich; auf Les-
318 B. M. Meyer, Leasings Theater.
sing aber musste dieser Kampf grosBen Eindruck machen.
Als nun ihm das Gleiche wiederfuhr, als Goeze von ihm
ein Glaubensbekenntniss ausdrücklich forderte, gerade weil
ihm bekannt war, wie gefahrlich dies abzulegen wäre —
da stand von neuem jene Scene vor den Augen Lessings
und um ihretwillen ward die Fabel von den drei Bingen
einem idealen Abbild Mendelssohns als Abwehr intoleranter
Forderungen in den Mund gelegt.
Die Erzählung von den drei Ringen ist durchaus
Mittelpunkt des Dramas; und wie bei der Begegnung
zwischen Mellefonts Geliebten in der ^Miss Sara\ wie bei
Emiliens Tod in der ^Emilia' kündigt die Hauptscene sich
durch eine gewisse Nervosität des sonst so sorgsam moti-
virenden Autors an, den nun eine entschiedene Ungeduld
zur Hauptsache treibt. Wie jene Zusammenkunft nur
durch den unverantwortlichen Leichtsinn Meilefonts er-
möglicht wird, yne der Dolch etwas leicht in Odoardos
Hände kommt, so wird auch das Beligionsgespräch über-
stürzt. Aber welche Fülle von Licht giesst sich von seiner
Höhe über das ganze Drama aus! wie wahr und einfach
wirkt diese Scene noch heut, wo wir ihre grosse Nach-
ahmung — Posa vor Philipp — nur noch zweifelnd wür-
digen können!
Nur die beiden Charaktere, die diese Scene confrontirt,
sind ^primär'; alle anderen dienen — wie in dem frühen
Gegenstück, den 'Juden' — der Exposition der Haupt-
figuren. Wir treffen wieder den gefangenen Offizier,
Templer aber noch nicht Freimaurer, noch nicht Nathan:
gegen vermeintliche Intoleranz ruft er die wirkliche In-
toleranz an , unbesonnen aber edel wie seine Genossen
Philotas und Teilheim. Daneben Typen aus Lessings
letzten Kämpfen: der Patriarch als Wortführer der starren
lieblosen Orthodoxie, der Bruder Bonafides als Vertreter
herzlichen, ungelehrten Glaubens; und Daja, nicht ohne
eine gewisse Ähnlichkeit mit Frau Marthe Schwerdtlein,
hat direct jene Seelenwerbung für die allein selig machende
Kirche zu vertreten, welche gleich wohlwollend und gleich
beschränkt Lavater vorgenommen hatte. Sie sind Prüf-
steine für die Toleranz des Herrschers und des Weisen;
B. M. Meyer, Lessings Theater. 319
sie alle dienen der Durchleuchtung der beiden auf der
Menschheit Höhen wohnenden Charakterfiguren.
Noch hat auf die Gestaltung des Stückes eine Idee
eingewirkt, die stärker und stärker Lessings letzte Jahre
beherrscht. Es ist seine Lieblingsidee von der Umwände-
lung willkürlicher Mittel in nothwendige, ^künstlicher' in
^natürliche'. Diese Idee sollte den ^Laokoon' krönen: weil
im Drama ^Eunst sich in Katur verwandelt', darum eben
sollte es den Gipfel seiner ästhetischen Betrachtungen
bilden. Doch noch stärker regirt diese Idee seine Philo-
sophie. Es ist eine gedankliche Tendenz, die, wie schliess-
lich wohl jede, von der psychologischen Veranlagung des
Autors bestimmt wird. Eine so entschieden verstandes-
mässig angelegte Natur wie die Lessings fühlt sich beun-
ruhigt, wenn in seine scharfen Rechnungen als unberechen-
bares fremdes Element der Zufall hineinspielt. Und daraus
erwächst ihm der Wunsch, dies Element zu beseitigen.
Praktisch beherrscht ja eben diese Tendenz die gesammte
Yolkswirthschaft unserer Tage. Wenn wir etwa ein Haus
versichern, so beabsichtigen wir durch eine genau zu be-
rechnende regelmässige Abgabe die Möglichkeit abzu-
wehren, dass ein unberechenbarer plötzlicher Unglücksfall
uns alles nimmt. Der Ring des Polykrates ist in eine
regelmässige Steuer umgewandelt, welche den Neid der
Götter nicht verhüten aber unschädlich machen soll. Was
so der einzelne für sich anstrebt, dass wollte Lessing der
Menschheit gesichert wissen. Wenn Leibniz die Erschei-
nungsformen und Lebensbedingungen seiner Monaden zwar
von einem göttlichen Willen regeln liess, dessen Bestim-
mungen aber doch für menschliche Urtheilskraft zufallig
und willkürlich erscheinen, so vermeidet Lessings Lehre
von der Seelenwanderung alle Willkür. Jeder Monade
wird gleichsam ein fester Cursus der Erziehung vorge-
schrieben, der ganz äusserlich sich durch die drei nach
Pope und Haller von Lessing pointirt ausgedrückten Stufen
Thier — Mensch — Engel ausdrücken lässt: ^bald weniger
als Thier bald mehr als Engel' sagt Nathan (2, 180). Diese
Abneigung gegen die ^Gotteslästerung' des Zufalls wird für
Lessings letztes grosses Werk ich möchte fast sagen ver-
320 ^* ^* Meyer, Leasings Theater.
hängnissYoU. Er führt eine Anzahl Typen zusammen, die
eine geistige Verwandtschaft bindet; aber diese ^künstliche
Familie', um mich eines freilich anders gemeinten Ter-
minus der Culturgeschichte zu bedienen, wandelt er in
eine wirkliche Familie um; er ersetzt die 'Wahlverwandt-
schaft' durch physische Verwandtschaft. Freilich sind auch
in den ältesten Formen der Fabel die Viörtreter der drei
Religionen Brüder (wie Sem, Ham, Japhet), deren Ver-
hältniss zu dem gemeinsamen Vater eben für ihren Werth
bezeichnend ist ; und diese naheliegende Symbolik hat Les-
sing auch in der 'Familie Philalethes' (tl, II 19) durch-
geführt. Aber dass die Verwandtschaft zwischen Saladin,
Recha und dem Tempelherren von vornherein nicht be-
kannt ist, sondern nach dem Erwachen ihrer gegenseitigen
Zuneigung als eine Steigerung gegeben wird — das grade
ist die eigenthümliche Anwendung jener Lieblingsidee.
Sie wirkt nicht glücklich; der Zuschauer theilt die Ent-
täuschung des Tempelherren und sieht überrascht ein
Stück von so hohem Anlauf als analytisches Drama (wie
es tragisch der 'Oedipus', komisch der 'Zerbrochene Erug'
sind) enden: man empfindet die beabsichtigte Steigerung
als Rückgang. Aber wie schön ist dennoch die Lehre,
nicht aus subjectivem Behagen die Nebenreligionen zu
lieben, sondern als Glieder der gleichen Familie!
Noch in einem anderen Punkt führt Lessing die Um-
wandlung künstlicher in natürliche Mittel durch. Er
nimmt die Sage von der Wunderkraft des echten Ringes
wieder auf, die jüngere Fassungen der Parabel verloren
hatten: er aber erklärt die Siegeskraft des Ringes psycho-
logisch. Das heisst denn doch wohl im vollsten Sinne
modernisiren ! Etwas spricht freilich in solchen Dingen
auch der Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts mit,
die Wundererklärung der 'Aufklärer', zu denen Lessing
übrigens sonst durchaus nicht in jeder Beziehung zu rechnen
ist. —
Im 'Nathan' also schaltet Lessing völlig frei nicht bloss
mit dem Stoff, sondern auch mit der Form. So bietet sein
schönstes Drama uns den Höhepunkt, von dem aus virir
noch einmal deutlich Lessings dramaturgische Entwicke-
R. M. Meyer, Lessings Theater. 321
lung übersehen können. Wie bisher übergehen wir dabei
die kleineren Stücke und Entwürfe, um in den wichtigeren
Arbeiten die Marksteine dieses stetigen Fortschrittes zu
verfolgen. — Lessing übernimmt von der theatralischen
Production aller Zeiten die wichtigsten Motive, von der
seiner eigenen Zeit die beliebtesten Typen. Anfangs
arbeitet er völlig in der Weise seiner Genossen: von den
Vertretern der stehenden Rollenfächer lässt er Charakter-
komödien wie den Pedanten, die alte Jungfer, den Weiber-
feind aufführen und würzt die alte Technik nur durch
actuelle Anspielungen. Aber je mehr seiner durchaus
dramatisch angelegten Natur die Bühne (wie er im Kampf
mit Goeze sagt) zur gewohnten Kanzel wird, desto mehr
rückt er sie in das wirkliche Leben. In den ^Juden' zu-
erst versucht er, ein ewiges Problem, das ihm gerade
damals zur brennenden Frage wurde, auf die Bühne zu
bringen ; aber erst im Thilotas' wagt er es auch Personen,
die ihn interessiren, dort auftreten zu lassen. Erst sind es
Naturen, die ihm menschlich befreundet oder geistig ver-
wandt sind, wie Kleist und Swift ; endlich nimmt er muthig
Züge zur Ausstattung der Gestalten aus seinem Innern.
Und nun, seitdem er gleichsam selbst mitspielt wie der
grosse Moli^re, gewinnt auch das Motiv für ihn ein ver-
ändertes Aussehen: statt der Betonung des Bleibenden in
den grossen Problemen studirt er besonders die Wande-
lung der Formen. Der zukünftige Verfasser der ^Erziehung
des Menschengeschlechtes^ verfolgt die Seelenwanderung
der theatralischen Typen. Wie sieht ein moderner Phi-
loktet aus? kann ein Yirginius heut noch vorkommen? das
sind Fragen, die ^Minna von BarnheW und 'Emilia Ga-
lotti' lösen. Noch macht es ihm öfters Mühe, seine neuen
Modelle — gleichsam Dilettanten auf der Bühne neben
den alten Berufsschauspielem — an die neuen und doch
uralten Aufgaben zu gewöhnen ; und nur eine geringe Zahl
neuer Typen hat er geschaffen, die aber sind für unser
Theater ein dauernder Erwerb. Doch näher und näher
dringen die grossen Probleme ihm selbst an den Hals ; der
Kampf des ^inen Toleranten gegen vielerlei Intoleranz, der
in den ^Juden' ihn nur theoretisch interessirt hatte, wird
322 B- M. Meyer, Leseings Theater.
Ereigniss seines Lebens. Und jetzt gebietet er YÖllig über
seine neue Technik: das alte Motiv in neuer Beleuch-
tung , das lebende Modell in ideali'&irender Einkleidung
yerscbmelzen ihm in eins: da steht die grosse Scene, die
er wohl mit Augen gesehen haben mag wie Otto Ludwig
die Kernscene seines 'ErbfSrsters'. —
Für unser Drama aber war ein Grosses gewonnen.
In den ältesten Zeiten hatte der Dichter wohl selbstver-
ständlich für die Theaterfiguren lebende Modelle benutzt,
schon weil er selbst mitspielte und aus seiner Eigenart
Nutzen ziehen musste. Das war wohl überall so, und ge-
wiss auch bei den volksthümlichen Schauspielern Deutsch-
lands. Aber hier greift das plötzliche Entstehen eines be-
rufsmässigen Schauspielerstandes verhängnissvoU in die Ent-
wickelung: statt der concreten bestimmten Personen, denen
eine Bolle auf den Leib geschrieben werden konnte, sind
nun abstracto Rollenvertreter zur Hand, der Liebhaber,
der komische Alte. Wie deutlich fühlt man z. B. bei
Gryphius die damit gegebene Yerallgemeinerung der Cha-
raktere! Lange ging es dann so weiter, im gelehrten Be-
trieb wie im volksthümlichen, nur mit dem Unterschied,
dass die typischen Figuren dort aus Büchern, hier aus der
Praxis stammen. Erst bei Lessing tritt neben die Tra-
dition wieder das Leben: moderne Fragen, moderne Ge-
stalten.
Die beiden grossen Dramatiker, die dem Neubegründer
der deutschen Litteratur folgten, theilten sich hier in seine
Erbschaft. In grossem Stile wagte Goethe sich mit seinen
Figuren zu identificiren und so verdanken wir Lessing zum
Theil den ^Tasso' und den ^Faust'. In grossem Stile wagte
Schiller alte Probleme mit neuen zu identificiren und so
verdanken wir Lessing zum Theil den ^Don Carlos' und
den ^Tell'. In grossem Stile also, in grossartigerem Wurfe
als er es gethan , schritten sie auf seinen Bahnen fort ;
was aber auf der Bühne ihm selbst noch anhaftete von zeit-
genössischer Kleinlichkeit, das hat Lessing selbst im Leben
überwunden. Wie in der Polemik so wandelte auch sonst
seiner dramatischen Natur die künstliche Form des Bühnen-
stücks sich zur natürlichen, nothwendigen ; und das grösste
Raiz, Goethes Fanstredaction 1790. 323
und vor allen unsterbliche seiner Dramen wurde dasjenige,
in dem mit so hohem Glanz uralte Fragen neu durchge*
kämpft werden sollten, das Drama der Erziehung Teil-
heims zu Nathan dem Weisen — das Trauerspiel seines
Lebens!
■
Berlin. Richard M. Meyer.
Ooethe's Faustredaetlon 1790.
Die Veränderungen, welche die Scenen der Goch-
hausen'schen Abschrift des sogenannten Urfaust auf dem
Wege zum Faustfragmente vom Jahre 1 790 erfahren haben,
sind bisher zumeist auf den allgemeinen Eindruck hin be-
urtheilt worden. Nur gelegentlich wurden einzelne be-
zeichnende derselben hervorgehoben und auf ihre Gründe
geprüft. Ich suche im folgenden sie im Zusammenhange
und annähernd vollständig vorzulegen, ihre Gründe aufzu-
decken, soweit diese greifbar oder wenigstens mit Wahr-
scheinlichkeit zu vermuthen sind, endlich ihre Wirkung
auf Form und Sinn, unbekümmert ob sie vom Dichter
beabsichtigt gewesen ist oder nicht, zu charakterisiren,
wo sich Anlass dazu bietet. Ausgeschlossen habe ich übers
Redigiren hinausgehende Änderungen , welche aus be-
sonderen und andern Gesichtspunkten betrachtet werden
wollen, als denen, die für die Mehrzahl der Scenen mass-
gebend erscheinen. So fällt aus dem Rahmen meiner Be-
trachtung die Scene ^Auerbachs Eeller\ so weit sie pro-
saisch ist, da sie mit der Yersificirung der Prosa zugleich
eine weiter greifende Umgestaltung als die übrigen Scenen
theils erforderte theils gestattete. Doch habe ich nicht
unterlassen, aus dieser Scene analoge Fälle denen, die sich
sonst ergaben, an die Seite zu stellen. In ähnlicher Weise
sind auch hie und da jene Scenen aus dem Urfaust heran-
gezogen worden , welche in dem Fragmente keine Auf-
nahme fanden. Umgestaltung des Planes oder veränderte
Auffassung der Personen ist nur in so weit berücksichtigt,
als sie ihre Spuren in Veränderungen des Textes oder der
324 S^iz, Goethes Faustredaction 1790.
Scenenanweisungen im einzelnen hinterlassen hat. Mit
diesen beginne ich die Reihe der sachlichen Änderungen.^)
Dass der Mutter Qretchens im ursprünglichen Faust-
plane eine grössere Rolle zugedacht war, als wir sie that-
sächlich in der Handlung spielen sehen, darauf deutet
neben jenem in der Eerkerscene angeschlagenen, aber
nirgends ausgeführten Motive ({7Z. 86 ff.) und anderem die
Angabe der Domscene 'Exequien der Mutter Gretgens'.
Mit dem Zurücktreten der Mutter musste diese Angabe in
S fallen, wodurch das weitere 'öretgen alle Verwandte'
gegenstandslos und in S durch 'Grethchen unter vielem
Volke' ersetzt ward.
Das abgerissene Stück von U Taust . Mephistopheles'
(V. 1398 ff.), hinter der Domscene liegend und wahrschein-
lich die Begegnung mit Valentin vorbereitend, ist von
V. 1408 ab in einen ganz andern Zusammenhang aufge-
nommen worden. Die Verquickung dieses Theiles mit dem
in S neu auftretenden Stücke der 'Wald und Höhle' be-
titelten Scene erforderte äusserlich nur geringe Änderungen.
In U ist Faust auf dem Wege zu Qretchen, hier treibt
ihn Mephistopheles dazu; daher mussten die V. 1408—10
'Nur frisch dann zu! Das ist ein Jammer Ihr geht nach
eures Liebgens Kammer Als gingt ihr in den Tpdt' in
diesem Sinne geändert werden. S hat: 'Nur fort, es ist
ein grosser Jammer ! Ihr sollt in eures Liebchens SLammer,
Nicht etwa in den Tod'. Was in den folgenden Versen
geändert ward, hat seine Ursache in Fausts besonderer
Seelenstimmung, wie sie durch das in S Vorhergehende
erregt wird. In U fühlt sich Faust über sein zweck-
und ruhloses Leben unglücklich und fragt: das Glück in
Liebchens Armen 'Verdrängt es diese (Fausts) Seelen
Noth?'; in S dagegen hat er eben das Glück der Natur-
betrachtung genossen, seine Klage muss sich daher vor
allem Gretchens Schicksale zuwenden: 'Lass mich an ihrer
Brust erwarmen! (= wie ich auch an ihrer Brust er-
*) Ich citire nur nach ü = Göchhauseneche Abschrift, aus-
nahmsweise auch nach 8 = Fragment 1790, was ich durch den der
Versziffer beigesetzten Buchstaben kenntlich mache.
Baiz, Goethes Faustredaction 1790. 325
warmen mag) Führ ich nicht immer ihre (Gretchens)
Noth ?'
Eine zweite Verschmelzung von Altem und Neuem
hat in der Schülerscene stattgefunden. Die burschikos-
triviale Belehrung über 'Logie' und 'Tisch' (V. 263-332)
ward gestrichen, die Lücke durch 14 Verse {S 361—374)
ausgefüllt, welche den Gedanken von V. 262 ausspinnen und
zur Frage nach der Facultät überleiten, wo U V. 333
wieder einsetzt. Um den Kreis der Facultäten zu er-
schöpfen, ward nach U V. 394 ein Abschnitt von 37 Versen
{S 443 — 479) eingeschoben, welcher die Rechtsgelehrsam-
keit und Theologie behandelt, mit Anknüpfung an den
Gedanken von U 393 f. und Wiederholung der Frage nach
der Facultät. Dies machte die Tilgung des Verses 335
'Soll zwar ein Mediziner werden^ ü nothwendig, dessen
Platz aus dem Gedanken des Folgenden ausgefüllt ward
S V. 377: 'Ich wünschte recht gelehrt zu werden'. Zugleich
musste auch ü V. 431 ^Das sieht schon besser aus als die
Philosophie' geändert werden, weil in S nicht wie in ü
unmittelbar vorher und einzig von der Philosophie die Rede
ist. S bietet dafür: 'Das sieht schon besser aus! Man
sieht doch wo und wie.'
Der 'Student', den Mephistopheles in dieser Scene
empfangt, ist in S in einen 'Schüler' umgetauft, nur um-
getauft natürlich, denn er bleibt ebenso Student, wie die
'Schüler' in der Scene des vollständigen Faust 'Vor dem
Thor' Studenten sind. Mephistopheles , der gewiss den
'Professorton' gegen den Studenten persiflirend anschlägt,
sagt in S nicht mehr (V. 403): 'Bin des Professor Tons
nun satt', sondern ohne den Professor zu verunglimpfen:
'Ich bin des trocknen Tones satt'. Überhaupt ward das
Wort 'Professor' in S ganz vermieden; es trat dafür 'Ma-
gister' ein: V. 7 'Heisse Docktor und Professor gar' ü
'Heisse Magister, heisse Doctor gar' S; V. 14 'Professors' ü
'Magister' /S, während doch eigentlich Wagner der Magister
ist vgl. V. 195. Goethe liess hier eine Standesrücksicht
walten, die uns heute wenig begreiflich ist. Oder glaubte
er die Scene durch die ungewohnteren Titel mehr der
Gegenwart zu entrücken in alte Zeit? Erklärlicher, wenn
326 Raiz, Goethes Fausiredaction 1790.
auch für unsere Auffassung ebenso unnöthig ist die Vor-
sicht Goethes, der nun an einem Fürstenhofe lebte ^ gegen
fürstliche Personen; er lässt Mephistopheles nicht mehr
sagen wie in ü V. 588 ein Schmuck 'Um eine Fürstin zu
gewinnen', sondern ganz allgemein 'Um eine andre zu ge-
winnen'. An der Hand dieses Beispieles hof männischer
Zurückhaltung verstehen wir auch , warum die Y. 526 — 9
'Er thut als war er ein Fürsten Sohn Hätt Luzifer so ein
Duzzend Prinzen Die sollten ihm schon was vermünzen
Am Ende kriegt' er eine Comission' weniger anzüglichen
weichen mussten: 'Gleich schenken? Das ist brav! Da
wird er reüssiren! — Ich kenne manchen schönen Platz
Und manchen alt yergrabnen Schatz, Ich muss ein Bisschen
revidiren'.
Hier schliesse ich an die Änderung von Y. 688 'ach
kristlich so gesinnt' U zu 'So ist man recht gesinnt' 5,
wo das 'kristlich' ausfiel. Doch hat hier wohl ebenso ein
formeller Anstoss, nemlich der elliptische Satz die Ände-
rung bewirkt wie Schonung der Religion ; jedesfalls sollte
das Wort 'kristlich' nicht stehen bleiben. Mehr formell als
sachlich begründet scheint mir die Änderung Y. 1307 'Hilf
retten mich' ü 'Hilf! rette mich' S; stilistisch ist letzteres
stärker und besser, rhythmisch dagegen schlechter, weil
der Auftakt durch den Ton und die eingetretene Pause
übermässig schwer wird; sachlich ist die Auffassung Marias
der katholischen Lehre von ihrer Machtstellung genähert,
wohl nur eine Folge der Änderung (vgl. aber unten zu
Y. 1117 unter Apokope).
Dagegen hat ohne Zweifel ein sachlicher Grund, eine
Änderung der Ansicht, die Tilgung der Y. 194 f. 'Was
Yortrag! der ist gut im Puppenspiel Mein Herr Magister
hab er ErafFt' bedingt ; es sollte dem Yortrage, der schönen
Form, wie die für {7 197 eingesetzten Yerse zeigen (vgl.
'mit wenig Kunst', also doch mit Kunst!) nicht mehr jede
Berechtigung so schroff abgesprochen werden. Durch diesen
Strich verwaisten die Y. 193 und 197 in Bezug auf ihren
Reim; 193 ward etwas anders gewendet und zu einem
Reimpaare erweitert: 'Allein der Yortrag macht des Red-
ners Glück; Ich fühl' es wohl, noch bin ich weit zurück'.
Raiz, Gh>ethe8 Faustredaction 1790. 327
An Stelle von 194 f. trat ein neuer Vers 'Snch' er den
redlichen Gewinn!' Zur Herstellung des Reimes musste
197 ^Und FreundschaiFt, Liebe, BrüderschafFt' fallen, an
seinen Platz trat, mit Umgestaltung des Folgenden: ^Es
trägt Verstand und rechter Sinn Mit wenig Kunst sich
selber vor'. Also statt der Empfindungen Verstand, der
nach dem Rechten zielt, statt der Kraft ein wenig Kunst.
Verstärkungen, welche indess, der Absicht des Dichters
nach, mehr als stilistische denn als sachliche Verstärkungen
aufzufassen sein dürften, haben stattgefunden mit der Er-
weiterung von ^enthüllen' ü (V. 85) zu ^ring's um mich her
enthüllen' S und der Änderung V. 348 ^Irrlichtelire den
Weeg daher' ü zu ^Irrlichtelire hin und her' S.
Moderner möchte ich die Auffassung des Königs in
Tule nennen, die sich zeigt in den Änderungen von V. 620
'seine Stadt und Reich' U zu 'seine Stadt' im Reich' S
und V. 621 'seinen Erben' U zu 'seinem Erben' 8: 6\n
Reich, 6in Erbe. — Nicht mit Bestimmtheit lässt sich eine
veränderte Auffassung "Wagners aus der Änderung V. 168
'der trokne Schwärmer' ü zu 'der trockne Schleicher' S
erkennen, da vielleicht der äusserliche Widerspruch zwischen
dem Nomen und dem Epitheton in ü anstössig erschienen
ist; dann hätten wir einen Fall von falscher Correctheit
vor uns, unter der die Charakteristik zu Schaden kam. —
Wohl aus einem fiachlichen Grund scheint V. 404 'Will
wieder einmal den Teufel spielen' U zu 'Muss wieder recht
den Teufel spielen' 8 geändert worden zu sein, da sich
ein formeller Orund höchstens in der zweisilbigen Senkung
entdecken lässt, dem Rhythmus aber Goethe sonst nur
wenig Sorgfalt widmete; die Änderung kann der Reflex
einer schwärzeren Auffassung des Mephistopheles sein, wie
umgekehrt und deutlicher der Erdgeist lichter gefasst ist;
er erscheint nicht mehr wie in U (Scenenanweisung vor
V. 130) 'in wiederlicher Gestallt'. — Die Charakteristik
Gretchens wird um einen Zug bereichert und vertieft, wenn
nach V« 748 U in 8 zwei Verse eingeschaltet werden, wo-
rin Gretchen nach dem Spender des Schmuckes fragt:
'Wer konnte nur die beiden Kästchen bringen? Es geht
nicht zu mit rechten Dingen'; doch fällt dieser neugierig-
328 B^iZ) Goethes Faustredaction 1790.
ängstliche Zusatz so wie ein zweiter, später anzuführen-
der, auch unter den formellen Gesichtspunkt der strengern
Dialogcomposition.
Hiemit gehe ich zum Theatralischen über und finde
zunächst eine Beschleunigung der Zeit, weiche für den
Verlauf der Handlung gedacht ist, zu verzeichnen, wenn
in V. 1055 'Schon lange lieb ich dich' ü zu 'Von Herzen
lieb' ich dich' geändert und somit die weit zurückweisende,
wenn auch allgemeine Zeitbestimmung beseitigt ist; sach-
lich ist hier zugleich ein äusserliches Moment durch ein
seelisches ersetzt. Beschleunigt ist die Zeit ferner, ohne
dass dies auf die Handlung weitem Bezug hätte, wenn in
V. 494 die 'sieben Tage' zu 'sieben Stunden' verkürzt
wurden ; es ist damit wohl nicht mehr beabsichtigt, als die
Ungeduld, die für Fausts Liebesleidenschaft bezeichnend
ist, bis zur Übertreibung zu verstärken.
Die Angaben des scenischen Locales, in ü zum Theil
bis ins einzelne genau, haben in 5 an Bestimmtheit da
und dort verloren. Dem Dialoge 'Faust . Mephistopheles'
(V. 879 ff.) ward zwar die Localangabe 'Strasse' vorange-
stellt, ein rein äusserlicher Zusatz, da man sich diese
Scene wohl schon in ü auf die Strasse verlegt denken
muss. Dagegen hat der vorausliegende Dialog zwischen
denselben Sprechern (V. 657 ff.) statt der bestimmten
Scenenangabe 'Allee' die allgemeinere 'Spatziergang' er-
balten. Aus dem Locale der Scene 'Zwinger' ist der
Brunnen entfernt: 'Gretgen gebeugt schwenckt die Krüge
im nächsten Brunn füllt sie mit frischen Blumen die sie
mitbrachte' Z7, 'Grethchen steckt frische Blumen in die
Krüge' S. Dadurch wird dem Locale nach diese Scene
von der vorangehenden weggerückt und beider Zusammen-
hang, sofern man einen solchen für den ursprünglichen
Plan beanspruchen will, gelöst.
Derselbe Zug nach Verkürzung und Beseitigung des
individuellen Colorites lässt sich auch weiter in den Scenen-
anweisungen verfolgen. Unter andern Gesichtspunkten
habe ich bereits den Wegfall des 'in wiederlicher Gestallt'
bei der Erscheinung des Erdgeistes und der Angabe 'Exe-
quien der Mutter Gretgens' bei der Domscene erwähnt.
Raiz, Goethes Faustredaction 1790. 329
Aus 'Auerbachs Keller' lassen sich, wo die Scenenanwei-
Bungen in U und 8 correspondiren, noch folgende Fälle
beibringen: nach Zeile 22 'den Krug auf den Tisch stos-
send' U heisst in 8 allgemeiner 'auf den Tisch schlagend';
nach Z. 75 'leise zu Frosch' U = 'leise' S; nach Z. 180
Siebel 'lässt den Pfropf fallen, es fliesst auf die Steine und
wird zur Flamme die an Siebein hinauf lodert' U^=^ 'trinkt
unvorsichtig, der Wein fliesst auf die Erde und wird zur
Flamme' 8. Dass der Wein an dieser Stelle in 8 aus dem
Olase, nicht aus dem Tische fliesst, hängt mit der doppel-
ten Verwendung des Motives in 8 zusammen (vgl. 8 nach
V. 777 u. 789); sie machte eine Abstufung nothwendig,
die damit erreicht ward, dass der Wein zunächst aus dem
Glase vergossen und zur ^Flamme' wird, beim zweiten
Male als 'Feuer' aus dem Tische springt. Schon deshalb
musste der starke Zusatz 'die an Siebein hinauf lodert'
verschwinden; aber auch scenisch ist das Hinaufschlagen
der Flamme schwer darstellbar und zudem überflüssig.
Man beachte noch die Änderung des Wortes 'Steine' in
das allgemeinere 'Erde' (== Boden). Dem also modificirten
Vorgänge entsprechend musste in der folgenden Scenen-
anweisung für Faust (nach Z. 183) 'er verstopft die Öff-
nung und spricht einige Worte, die Flamme flieht' ge-
ändert werden ; sie ward gleichzeitig auch verkürzt : Mephi-
stopheles 'die Flamme besprechend' (der Wechsel der
Person unterliegt meiner Besprechung nicht). Allgeraeiner
gewendet ward (nach Z. 208) 'er visitirt die Pfropfen' IJ
= 'sich nach dem Tische wendend' iS, auch aus einem
durchaus sachlichen Grunde : die Pfropfen sollen nur Schein
gewesen sein.
Verkürzung zeigen noch: nach Z. 191 derselben Scene
'sie stehn in frohem Erstaunen auf einmal' U = 'sie stehn
erstaunt' 8 und nach Z. 196 'Es gehen ihnen die Augen
auf, sie fahren mit Geschrey aus einander' ü = 'die Ge-
sellen fahren aus einander' 8. Hier sind äussere Vorgänge,
wie das Aufgehen der Augen, oder seelische Affecte, wie
das 'frohe' Erstaunen, welche für die Bühnendarstellung zu
subtil sind, beseitigt. Ganz entzieht sich der Darstellung
die Anweisung vor V. 1054 'Margrete mit Herzklopfen her-
Vierte^ahrschrift fOr Littentnigeochichte III 22
330 Raiz, Goethes Faustredaction 1700.
rein'; das Unsichtbare musste einem Sichtbaren weichen
'Margarethe springt herein'. Dem gleichen theatralischen
Gebote trug Goethe Rechnung, als er bei der Überarbei-
tung der prosaischen Eerkerscene die Anweisung nach
Z. 12 Faust ^hört die Ketten klirren und das Stroh
rauschen' in Worte des Faust umwandelte. Der Zu-
schauer erfasst, selbst wenn er das Klirren und Rauschen
hört, dessen seelische Wirkung auf Faust nicht, ohne dass
es dieser selbst ausspricht; und für den Zuschauer ist
das Klirren und Rauschen nicht von Belang, er braucht
es gar nicht zu hören, wofern es nur der nahestehende
Faust hört.
Mit den zuletzt angeführten Beobachtungen bin ich
bereits stark auf das Gebiet der formellen Änderungen ab-
gewichen; denn die Änderungen der scenischen Angaben
gründen sich, obgleich sie Sachliches betreffen, doch wesent-
lich auf grössere Strenge im Theatralischen, sind also aus
formellen Rücksichten geflossen. Auch vorher hatte ich
öfter Gelegenheit, dort, wo sachliche Änderungen vorzu-
liegen schienen, darauf zu deuten, dass ebenso leicht, ja
zuweilen mit grösserer Wahrscheinlichkeit Gründe formaler
Natur angenommen werden können. Ich finde mich zu
letzterer Annahme um so geneigter, als ich die Hartnäckig-
keit vor Augen habe, mit der Goethe, wie aus dem Fol-
genden ersichtlich wird, nach Correctheit der Form strebte,
dieser sogar bisweilen den bessern Sinn aufopferte. Ich
habe aber gerade deswegen alles, was auf sachliche Ände-
rung irgend hindeutet , gesondert zusammengestellt , um
nicht unter den Gesichtspunkt der Correctheit vielleicht
etwas zu ordnen, was nicht unbedingt oder nicht völlig
von ihm aus zu fassen ist.
Die formellen Änderungen sind so mannigfacher Art,
dass eine feste Gliederung in Gruppen schwer fallt. Ein
mehr inneres Eintheilungsprincip, wie etwa in sprachlicher
Hinsicht die Provenienz des Geänderten aus Dialekt, alter
Sprache u. s. w. zu Grunde zu legen, wäre vielleicht lehr-
reicher gewesen, allein der Versuch scheiterte an der
Schwierigkeit, jeden Fall einer bestimmten Gruppe sicher
zuzuweisen. So nahm ich denn die äusserlichen gramma-
Baiz, Goethes Faustredaction 1790. 331
tischen Kategorien zu Hilfe, wo sie mir dienlich schienen,
ohne mich indess an das hiemit gegebene Schema strenger
zu halten, als es für die Darlegung des Stoffes bequem
war.
Correctheit ist vor allem angestrebt durch Beseitigung
von Verstümmelungen des Wortes: Apokopen vor Conso-
nanten, Synkopen, Verschleifungen und Kürzungen, mögen
dieselben dialektisch, archaistisch, idiotistisch oder Freiheiten
der Umgangssprache sein; besonders dieser möchte ich die
Mehrzahl der ursprünglichen Formen zurechnen. Jedes-
mal tritt die schriftdeutsche Form dafür ein.
Die Apokope vor Consonanten , in U ungemein zahl-
reich, wurde in S in vielen Fällen aufgehoben. Belege
dafür sehe man im Eingangsmonologe V. 1. 10. 11. 16. 17.
18. 19. 23. 41, in der Schülerscene V. 259. 262, im Ratten-
liede von 'Auerbachs Keller' V. 27. 28. 30. 32 f. 37. 39.
48 f., in der Scene 'Strasse' V. 504. 508, 'Abend' V. 645
(wo übrigens wahrscheinlich ein Schreibversehen vorliegt),
'Allee' V. 657. 658, 'Ifachbarinn Haus' V. 740. 749. 753.
755. 769. 776. 845. 875. 876 , 'Garten' V. 996 , 'Garten-
häusgen'V. 1065, 'Marthens Garten' V. 1164, 'Am Brunnen'
V. 1258. In der Prosa: Scenenanweisung nach V. 546 'am
Bett' TJ = 'am Bette' S am Satzschlusse. Apokope vor
consonantischem Anlaute liegt femer in ü vor und ist in S
beseitigt V. 994 'Bald wenns nicht schweigen wollt vom
Bett aufstehn' U = 'Bald, wenn's nicht schwieg, vom Bett'
aufstehn' S; veranlasste die Apokope allein schon die
Änderung? In V. 1117 'Wie lang bist du zur Kirch zum
Nachtmal nicht gegangen ?' erscheinen mir als erster Grund
zur Änderung die zwei Apokopen (ausser 'Nachtmal'); ein
'lange' und 'Kirche' würde den Rhythmus verworren ge-
macht haben; darum wurden die Worte anders gewählt,
freilich nun so dass sie auch den Katholicismus der
Sprecherin hervortreten lassen (vgl. oben zu V. 1307): 'Zur
Messe, zur Beichte bist du lange nicht gegangen'. Wie
viel natürlicher aber ist die Frage {ü) als die Behauptung
(S) in Gretchens Munde!
Obwohl also eine beträchtliche Zahl von Apokopen vor
Consonanten beseitigt wurde, so blieb doch eine noch
22*
332 UsLiZy Goethes Faustredaction 1790.
grössere unangetastet, ohne dass ich hiefür ein Princip
entdecken könnte. Dies ist um so auffälliger, als selbst
vor Yocalischem Anlaute der apokopirte Vocal gelegent-
lich eingesetzt wurde, wo offenbar dem Ohre des Dichters
die Äpokope empfindlicher war als der Hiatus. Deutlich
ist dies in V. 680 'mit Himmels Mann' erfreun' ü = 'mit
Himmelsmanna erfreun' S, Ein Fall leichterer Art ist Y.
369 'die Theil in' U = 'die Theile in' S und leichtester
Art in der Prosa, nach V. 168 'im Schlafrock und' ü =
'im Schlafrocke und' S. Umgekehrt wurde in 8 apokopirt
Scenenanweisung vor 1054 'Thüre' ü = 'Thur' S.
Die Apokope oder Aphäresis bei Enklise ist gelegent-
lich beseitigt: V. 1243 'hat 's' U = 'hat sie' S; V. 182
'Wenns' ü = 'Wenn es' 8 (vgl. jedoch denselben Fall
V. 199 u. ö., wo sie in S verblieb).
Die Yerschleifung des Artikels mit der vorhergehen-
den Präposition ist getilgt : Scenenanweisung nach Y. 450
'übern' ü = 'über den' S (vgl. indess S 1220 'über 'n').
Hieher zu zählen sind auch: Scenenanweisung nach 596
'in Schrein' U = 'in den Schrein' S, Y. 601 4n Hörsaal' U
= 'in den Hörsaal' S, wo die Yerschleifung den Schein
hervorruft, als wäre der Artikel ausgelassen.
Fälle von Synkope^), härtere sowohl als auch leichtere,
sind beseitigt: bei dem Präfix Y. 755 'gnug' U = 'genug' S
(238 blieb 'gnug' stehen); bei dem Adjectivsuffix —ig Y. 153
'ewges' ü = 'ewiges' S, vgl. noch die Y. 158. 345. 629. 908,
951; bei dem Adjectivsuffix — isch Y. 344 'Spansche' U
= 'Spanische' S; im Wortinnem: Rattenlied Z. 46 'Yer-
gifftrinn' U = 'Yergifterinn' S, Y. 520 'Nachbrinn' U = 'Nach-
barinn' S, 768 'frohre' U = 'frohere' Ä, 811 'Erinnrung'
Z7= 'Erinnerung' S ; in der Nominalflexion : nachY. 1 29 'Geists'
U = 'Geistes' Ä, Y. 403 'Tons' U = 'Tones' 8 (258 'Eim' U
ward anderweitig beseitigt), 752 und 862 'Praun' ü =
^Frauen' /S, besonders zwischen gleichartigen Consonanten
*) Vielleicht infolge Wechsels des Goetheschen (und allgemeinen)
Sprachgebrauches, wohl auch zu Gunsten des Wohllautes wurde in
der Umgebung von Liquiden anders synkopirt: V. 843. 895. 1007
»eurem' U = *euerm* S (doch 1024 schon in U) , 1088 'Lachlen* U =
Lächeln' S; vgl. Kerkerscene Z. 79 *lauren\
Baiz, Goethes Faustredaction 1790. 333
40t 'ein' U= 'einen' S, Plohlied Z. 103 'sein' U= 'seinen'
S, V. 458 'Mein' U = 'Meinen' S\ in der Verbalflexion
zwischen gleichartigen Consonanten Y. 460 'ohngeleit' U
= 'ungeleitet' S, 503 'geknät' U = 'geknetet' S, 664
'kleidt' U = ^kleidet' S. Ganz geändert musste werden
462 'Die hat was in mir angezündt' U, da die synkopirte
Form im Reime steht; S hat dafür den lückenbüssenden
Vers 'So etwas hab' ich nie gesehn' im Zusammenhange
mit der Änderung des Vorhergehenden: 'Das ist ein herr-
lich schönes Kind' U zu 'Bey'm Himmel , dieses Kind ist
schön!' S. Dagegen sind unter dem Schutze des Reimes
unangetastet geblieben: Rattenlied Z. 28 'angemäst', V. 503
'zugericht\ 1065 'findt\ In S ward synkopirt, um einen
Auftakt zu gewinnen V. 1161 'Liebes Kind' U = 'Lieh's
Kind' S.
Durch Abwerfung von Silben verstümmelte Formen
sind hergestellt oder ersetzt: V. 356 und 1331 *rüber' U
= 'herüber' 8, 1331 'nüber' ü = 'hinüber' S, 601 "nein'
U == 'hinein' 8, 1255 'n'abe' (soll wohl sein: 'nahe) U =
'hinunter' 8 (des Rhythmus wegen) , 366 'worden' U =
^geworden' fif, 1242 'gangen' U = 'gegangen' 8, 1231
'borgnen' U = 'verborg'nen' iS, 492 'Gebt mir zum wenigst
vierzen Tag' ü = 'Ich brauche wenigstens vierzehn Tag"
8 (der Rhythmus dürfte die Änderung der übrigen Worte
bewirkt haben), 895 'Es ist gewiss das erst in eurem Leben^
ü = ^Ist es das erstemal in euerm Leben' 8 (man beachte^
wie die Verwandlung der behauptenden Form in die fra-
gende, welche wohl geschehen ist, um den Vers nicht
übermässig auszudehnen , die Ironie abgeschwächt hat).
Als Verstümmelung dürfte aufzufassen sein die Form 4nn'
(aus 'innen') im V. 58 'Sich inn in deinem Busen klemmt';
8 weicht zugleich der Eakophonie der gleichlautenden
Wörter aus, indem es den räumlichen Begriff 'innen' durch
den seelischen 'bang' ersetzt.
Befremdend ist, dass die eben beobachtete Unduld-
samkeit gegen Kürzungen auch die in der gleichzeitigen
Litteratur sehr geläufige Form 'Jungfer' (V. 872) verpönte
und das dem hohen Stile allein gerechte ^Jungfrau' ein-
334 I^iz> Goethes Faustredaction 1790.
setzte, obwohl nur ^Jungfer' als die übliche Anrede am
Platze ist.
Noch habe ich der mannigfach synkopirten (und im
Druck gekürzten) Formen des Namens 'Margarethe' in den
Anführungen desselben als des Namens der sprechenden
Person zu erwähnen; dieselben sind einheitlich durch die
Yolle Form ersetzt. Das Diminutivum ^Gretchen' bleibt
davon unberührt; es wird nicht nur in den Scenen bewahrt,
in welchen ü diese Form allein hatte, sondern auch in der
Scene ^Marthens Garten^ in S durchgeführt, weil die Kose-
form hier schon in ü überwog. Das heisst also: der Ge-
brauch der beiden Formen 'Margarethe' und 'Gretchen' ist
innerhalb der einzelnen Scenen geregelt.
In einer Anzahl von Wörtern, deren Lautbestand der
schriftdeutschen Form nicht entsprach, sei es nun dass sie
mit Absicht der altern Sprache entnommen sind oder dia-
lektischen Charakter haben, bedurfte es nur der Änderung
eines Yocales oder Consonanten oder der Zusetzung eines
solchen, um sie correct Schriftdeutsch zu machen. Dort
freilich , wo das derartig zu bessernde Wort im Beime
stand , wurde eine weitergreifende Umgestaltung noth-
wendig. Ein solcher Fall begegnet gleich in Vers 1 , wo
die alterthümelnde Endung des Wortes Thilosophey^ zu
beseitigen war; es musste 'Philosophie' dafür eintreten.
Da jenes den Eeim trägt, in der modernisirten Form aber
einen Reim auf Y. 3 ergibt , genügte eine Umstellung in
V. 2 und die leichte Änderung von 'Müh' zu 'Bemühn'
in Y. 4, um das zweite Reimband herzustellen; nur dass
S nunmehr nicht zwei Reimpaare, sondern im Gegensatze
zur folgenden Yersgruppe bis Y. 32 zwei sich kreuzende
Reime hat. Mit dieser Änderung ward zugleich die Über-
einstimmung in den Endungen — 'Theologie' steht in ü
vereinzelt neben 'Philosophey', 'Juristerey' — erzielt. Zwei
Yerse wurden berührt durch die Beseitigung des dialekti-
schen 'umsunst' im Y. 885: 'Doch gehts nicht ganz um-
sunst'; S drückt den Gedanken anders aus: 'Doch wird
auch was von uns begehrt'. Dieses neue Reimwort, her-
vorgerufen durch das 'werth' des nächsten Yerses, ver-
langte die Yerschiebung des folgenden 'Eine Gunst ist
Raiz, Goethes Faastredaction 1790. 335
worth der andern Gunst^ U zu ^Ein Dienst ist wohl des
andern werth' S; das Wort 'Gunst' ist vielleicht nur darum
mit 'Dienst' vertauscht, um den zweisilbigen Auftakt 'Eine'
zu vermeiden. Leichter war die Änderung, weil der Reim
mit geringer Umgestaltung des Ausdruckes beibehalten
werden konnte, in Y. 587 'Ich sag euch es sind Sachen
drein' U = 'Ich that euch Sächelchen hinein' S. Ich er-
blicke in dem dialektischen Gebrauche von 'drein' für
schriftdeutsches 'drin' den Grund zur Änderung, obwohl in
Y. 3669 des ganzen Faust, einer in U nicht vorhandenen
Stelle, 'drein' in gleichem Sinne gewahrt ist: 'Sind herr-
liche Löwenthaler drein'. Weiter wurde dem Schrift-
deutschen entsprochen im Präfixe — un: Y. 438 'ohnmög-
lich' ü = 'unmöglich' S , 460 'ohngeleit' U = 'luigeleitet'
S, 853 und 1 1 52 'ohugefähr' U = 'ungefähr' S.
Die Präposition 'für', welche in U noch als 'vor' er-
scheint, ist in S fast ausschliesslich (nur Y. 508 ist 'vor'
geblieben) in der schriftdeutschen Form vorhanden : Scenen-
anweisung nach Y. 402. 857. 861 'vor sich' U = 'für sich'
S, daher consequenter Weise auch 928 'vorlieb' U = 'für-
lieb' S und mit rein äusserlicher Consequenz im Ratten-
liede Z. 42 'vor Angst' U = 'für Angst' S, wenngleich die
Präposition hier eine andere Bedeutung hat.
Nicht so durchaus geregelt ist der Gebrauch der For-
men 'dann' und 'denn', zwischen welchen dem damaligen
Sprachstande gemäss Schwanken herrscht; doch überwiegt
in S schon 'denn' gegenüber dem in U vorherrschenden
'dann'. In der Frage ward 'dann' zu 'denn' geändert:
Y. 659. 767. 1058. 1106. Da es an letztcitirter Stelle den
Reim trägt, so musste der ganze Satz geändert werden:
'Was ist dann' ü = 'Was ich kann' S. Hier ist, abge-
sehen von einem metrischen Bedenken, wohl auch der
Grund zur Änderung der ersten Yershälfte zu suchen:
'Sag mir doch Heinrich' U = 'Yersprich mir, Heinrich!',
da die. Antwort 'Was ich kann' auf letzteres besser passt;
jedoch ist 'Yersprich' sinnwidrig, da im Yerlaufe des Dia-
loges von einem Yersprechen weiter nicht die Rede ist«
'Denn' steht in l'Y. 860. Stets 'denn' hat TJ im behaup-
336 Raiz, Goethes Faustredaction 1790.
tenden Satze vgl. 227, 1259. An ersterer Stelle ist es so-
gar in S durch 'dann^ ersetzt.
Beim consonantischen Lautstande kommt zunächst die
Vertretung von dialektischem g durch hochdeutsches ch
im Yerkleinerungssuffix und im Präteritum des Yerbums
^mögen' in Betracht. Das Yerkleinerungssuffix, welches in
U ohne Ausnahme als — gen auftritt, ist durch die hoch-
deutsche Form — chen ersetzt; die Fälle sind überaus
zahlreich, da die Yerkleinerung sehr beliebt ist. Ebenso
ist 'mögt^ in ^möchte^ gewandelt; auch diese dialektische
Form weist in U keine Ausnahme auf.
Yereinzelt, und wie mich dünkt ohne charakterisirende
Absicht, in U auftretendes dialektisches 'nit' ist dem cor-
recten 'nicht' gewichen ; am häufigsten kommt es in 'Auer-
bachs Keller' vor (Z. 54. 69. 94. 102. 201 ohne Unterschied
der Personen), sonst einmal von Mephistopheles (Y. 676),
einmal von Marthe (735) und zweimal von Gretchen (1061
und 1273) gesprochen.
Alte, wohl im Dialekte noch bewahrte Formen, 'ehe'
in comparativem Sinne (402) und 'hie' (571) wurden zu den
geläufigen 'eher' und 'hier' ergänzt; durch den Beim ge-
schützt blieb 'hie' Y. 605.
An diese Gruppe sohliesse ich die Änderung von 'thö*
rig' (238 und 610) zu dem in der Schriftsprache festge-
setzten 'thöricht' an, obwohl es sich hier um eine Yer-
schiedenheit in der Wortbildung handelt.
Einen vereinzelten Fall von Änderung des Genus
schalte ich ein: im Battenliede Z. 26 wird das dialektische
Masculinum 'ein Ratt' zum correcten Femininum 'eine
Batt" gebessert.
Der Ersatz der im Dat. Sing, belegten Form 'Pulten'
durch die gebräuchliche Form 'Pult': Scenenanweisung vor
Y. 1 'am Pulten' ü = 'am Pulte' S (letztere Form schon in
U 36 'An diesem Pult') leitet uns zu den Flexionsände-
rungen hinüber.^)
') Ygl. Yierteljahrschrift 1, 55. 291. Albert Leitzmann
in Halle sendet mir folgende Notiz : 'Der Dativ 'am Pulten'
begegnet noch ein drittes Mal beim jungeo Goethe: im
Raiz, Goethes Faustredaction 1790. 337
In der nominalen Flexion zeigt sich das Streben nach
Einheitlichkeit darin , dass die Flexion von ^Sinn' und
'Wurm' geregelt wurde. Bei ersterem, welches in U starke
und schwache Form im Plural hat, ist in S die schwache
Pluralflexion durchgeführt, vielleicht der Consequenz halber,
weil 'Sinnen' zweimal im Reime gebunden ist. Vgl. V. 78
Acc. und 586 Nora. 'Sinnen' U = S^ beidemal im Reime;
127 Nom. 'Sinne' U = 'Sinnen' S im Versinnem (die bei-
den andern Fälle von [7 331 Acc. 'Sinnen' und Prosascene
'Faust . Mephistopheles' Z. 63 Acc. 'Sinne' fehlen in 8).
Von 'Wurm' findet sich in U zweimal die alte Pluralbil-
dung 'Wärme' (V. 50 und 'Auerbachs Keller' Z. 65), da-
neben einmal die jüngere Form 'Würmer' (V. 248); S hat
letztere durchgeführt.
Der Plural auf s ist beseitigt: V. 14 'Docktors' U =
'Doctoren' 8 ('Professors' ebenda fiel aus andern Gründen),
1008 'Frauens' U = 'Frauen' 8 (vgl. Vierteljahrschrift 2,
551 f.).
Eine syntaktisch richtige Flexion ist zu Gunsten des
Wohllautes geändert: V. 257 'allem gutem' U = 'allem
guten' 8; umgekehrt nach Goethes Sprachgebrauch (vgl.
Scenenanweisung nach V. 1035 'ihre beyde Hände' 8): V.
693 'meine lieben Frauen' U = 'meine liebe Frauen' 8.
Die verbale Flexion ward von dialektischen und archai-
stischen Formen gereinigt. Der dialektische Imperativ im
Flohliede (Z. 106 f.) 'mess' wurde zu 'miss' berichtigt, das
archaistische Präteritum 'stund' (V. 990) in das schrift-
deutsche 'stand' geändert. Von den archaistischen Präte-
ritalformen 'hett (hette)' und 'thät', welche die beiden
volksmässigen Lieder in 'Auerbachs Keller' zahlreich auf-
weisen, ist nur erstere zu 'hatte' oder 'hätte' modernisirt,
wogegen letztere unberührt blieb. Dass im 'König in Tule'
Concept zu einer später geänderten Stelle des 'Werther'
bei Scholl, Briefe und Aufsätze ^ S. 144 heisst es: 'Albert
stand am Pultem', wo 'Pultem' sicher für 'Pulten' verdruckt
oder verschrieben ist. Grammatisch scheint mir die Form
trotz Kögels Zweifel als schwach flectirter Dativ eines
Hasculinums aufzufassen zu sein.' Sift.
338 Baiz, Goethes Fauetredaction 1790.
(V, 612) 'hett' im Reime steht, hat eine vollständige Um-
gestaltung der Strophe nothwendig gemacht. Die Form
'thät' gab, wohl zugleich mit der dialektischen Umschrei-
bung und der grammatisch unrichtigen Wortstellung, An-
lass zur Änderung in V. 1269 'Wenn thät ein armes
Mägdlein fehlen' U = 'Sah ich ein armes Mägdlein feh-
len' 8.
Unflectirte attributive Adjectiva erhalten gelegentlich
die Flexion r V. 370 'Das geistlich Band' U = 'Das gei-
stige Band' S, 258 'Eim leidlich Geld' U = 'Leidlichem
Geld' S, 832 'Mein wohlgemessen Theil' U = 'Mein wohl-
gemessnes Theil' S. Doch bleibt noch eine Anzahl solcher
Fälle stehen vgl. 52. 217. 384. 394. 398 u. ö. Zur Ver-
meidung des unflectirten Pronomens dürfte in V. 875 ge-
ändert worden sein 'vor solch Herrn' IT = 'vor dem Herrn'
S , zum Schaden des Sinnes , da das ausgefallene 'solch'
den Inhalt der vorhergehenden Verse in sich begreift; die
Flexionsendung beizufügen, liess der Rhythmus nicht zu. —
Ferner wurden frei attributiv gebrauchte Substantiva,
welche im Sinne eines ersten Compositionstheiles unflectirt
an andere angerückt sind , flectirt und somit aus ihrer
engen Verbindung gelöst: Scenenanweisung vor V. 719
'Nachbarinn Haus' V = 'Der Nachbarinn Haus' S, 882
'Nachbaar Marthen' V == 'Nachbars Marthen' S,
Freie oder ungebräuchliche Zusammensetzungen wurden
beseitigt oder durch die gebräuchlichen ersetzt: V. 957
'Liebaustheilenden' V = 'liebevoll austheilenden' S, 1328
'ahnde voller' JJ === 'ahndungsvoller' S (so schon U 1*186),
31 'Würkungskrafft' IJ = 'Wirkenskraft' S. Die unge-
heuerliche Zusammensetzung 'Brandschande Maalgebuti:'
(1326 vgl. Vierteljahrschrift t, 60) wurde ganz fallen ge*
lassen; aber damit ging auch der charakteristische Zug von
Gretchens Aberglauben, welcher dessen Seelenpein er-
höht, verloren. Dem gewöhnlichen Sprachgebrauche gab
Goethe nach, indem er für das Compositum 'Herzenswille'
das üblichere 'Herzenswunsch' setzte: V. 599 'Nach eurem
Herzens Will' JJ = 'Nach Herzens Wunsch und Will' S,
wodurch allerdings das Compositum 'Herzenswille' nicht
beseitigt ist, aber doch nicht unmittelbar ins Ohr fällt.
Raiz, Goetlies Faustiedaction 17dO. 339
Es erhellt schon aus dem bisher Betrachteten, dass
sich Goethe in der Wahl der Formen und Worte strenger
an das anschliesst , was im schriftdeutschen Sprachge-
brauche conventionell eingebürgert ist. Die Reihe der
folgenden Fälle wird diese Beobachtung noch erweitern
und verstärken. Was Goethe als archaistisch oder dialek-
tisch der Form, aber auch der Bedeutung nach empfunden
haben mag, ja was nur nicht der gewählten Sprache an-
gehörte, suchte er zu berichtigen, zu beseitigen, zu er-
setzen. Deshalb musste auch Idiotistisches entfernt, Derbes,
Drastisches, Sinnliches gemildert, die Spuren seines Jugend-
stiles getilgt werden.
Als Archaismen, die im Dialekte vielleicht noch leben-
dig waren, dürften aufzufassen sein Y. 763 ^Schmeid', 855
^Geding\ wenn nicht ersteres unter die bei Goethe sehr
beliebten Kürzungen gehört; jenes erhielt die schriftdeut-
sche Form 'Geschmeide', dieses ward, da es durch den
Reim geschützt ist, durch die Änderung in 'Beding' ihr
wenigstens genähert.
Aus dem Bibeldeutschen stammt die Form ^ehrbietig'
(Scenenanweisung nach Y. 442 und 752); sie ward zum
geläufigen ^ehrerbietig' erweitert.
Dialektische Bildungen sind berichtigt: Y. 367 4ebigs'
U = 'lebendiges' S, 368 'Muss erst den Geist herauser
treiben' U = 'Sucht erst den Geist heraus zu treiben' S,
1244 'ein gespatzieren' [7= 'ein Spatzieren' S, 1267 'Häxel'
U = 'Häckerling' S. Ersetzt ward als im Schriftgebrauche
nicht geläufig und kaum verständlich: 185 'einweil' U =
'nur immer' S, 1016 'letzt' U = 'jüngst' S. Als incorrect
der Bedeutung nach musste das 'gar', dessen ursprüng-
lichen Sinn im Schriftdeutschen nur mehr feste Yerbindungen
gewahrt haben, in der Z. 179 von 'Auerbachs Keller':
'Uns ist gar kannibalisch wohl' einem 'ganz' weichen. Mit
ungewöhnlicher Bedeutung erscheint das Wort 'taub' im
Y. 1282 'Mit tauben Schmerzen' gebraucht (vgl. Yiertel-
jahrschrift 1, 59); es ward in 'tausend' geändert und so-
mit die sinnliche Yorstellung, welche 'taub' noch gibt, ver-
geistigt.
Als dialektisch beschränkte oder der Umgangssprache
340 Raiz, Goethes Fauetredaction 1790.
angehörige Wörter durften vielleicht noch gelten und
niussten den gemeingiltigen und gewählten Platz machen:
V. 659 'petzt' U = 'kneipt' S, 1 432 'brozzelt' U = 'siedet'
5. Aber das Streben, die Sprache zu heben, ergriif auch
ein Wort wie 'Spinnrocken' (Scenenanweisung vor V. 1066)
und änderte es in 'Spinnrad'; und das volksthümlich an-
klingende, naive 'heime' (Scenenanweisung nach Y. 1267)
ward zu dem vornehmern 'nach Hause' erhöht. Dagegen
stellt sich ein vereinzelter Fall ein, in welchem ein volks-
thümlicheres Wort, seiner präciseren Bedeutung wegen, in
S eingeführt ward: Plohlied Z. 123 'jagen' U = 'jucken'
5, allerdings an einem Orte, wo die volksthümliche Form
durchaus herrscht.
Eine idiotistische Neubildung Y. 767 'Neugierde' (als
Yerbum!) ist durch 'Yerlange' ersetzt; das ohne sprach-
liche Berechtigung in reflexivem Sinne gebrauchte 'ab-
wendend' (Scenenanweisung nach Y. 130) zu 'abgewendet'
gebessert.
Der Ausdruck sollte aber nicht bloss der Form nach
gewählt, sondern auch inhaltlich edel und massvoll sein.
Auf diese Weise ging, durch Beseitigung oder Milderung
eines Wortes, mancher naturalistische Zug, einem derbern
Striche in der Charakterzeichnung gleichend , verloren.
Goethe verfuhr wie hinsichtlich der äussern sprachlichen
Form, so auch in Bezug auf die in den Worten gegebene
Charakteristik nivellirend im Sinne des hohen Stiles. So
erschien ihm zu drastisch das 'Guckguck' in Gretchens
Munde: Y. 637 'Was Guckguck mag dadrinne seyn' ?7;
es wurde daraus 'Es ist doch wunderbar! Was mag wohl
drinne seyn?' S, Zu gewöhnlich lautet ihm nun, was Lies-
chen als Mädchen aus dem Yolke sagt in Y. 1264 'Er ist
auch durch'; gewählter klingt, was in /S steht: 'Er ist auch
fort'. Zu derb ist es, wenn Frosch in 'Auerbachs Keller'
Y. 445 zum 'sauffen' auffordert; in S spricht er gemässigter
vom 'trinken'. Etwas gemildert ist wohl auch die Derb-
heit, wenn ebenda Y. 451 f. 'Esel! Schwein! Muss man
mit euch nicht beydes seyn' umgestaltet ward zu 'Doppelt
Schwein! Ihr wollt' es ja, man soll es seyn!'. Als zu
niedrig wurden einige, vermuthlich der Yolkssprache ent-
Raiz, Goethes Faustredaction 1790. 341
nommene Redensarten befunden und entweder umschrieben:
Y. 372 'Bohrt sich selbst einen Esel' U = 'Spottet ihrer
selbst' /S, oder ganz gestrichen: Y. 667 f. 'Hätt einer auch
Engelsblut im Leibe, Er würde da zum Heerings Weibe'
U. Durchaus anstossig war der unverhüllte Ausdruck der
Sinnlichkeit Y. 1098 'Mein Schoos! Qott! drängt sich nach
ihm hin' ü; der Gedanke ward in S so gewendet, dass er
auch seelisch zu verstehen ist: 'Mein Busen drängt sich
nach ihm hin'.
In einigen Fällen zeigt sich das Streben nach Correct-
heit in der Präoisirung des Ausdruckes: Y. 1050 ist ^Oe-
spräch' durch das präcisere 'Gered'', Scenenanweisung nach
Y. 634 'Sachen' durch 'Kleider' ersetzt, welch letztere die
Yolkssprache unter 'Sachen' an und für sich versteht.
Einem unklaren , missverständlichen Worte ward ausge-
wichen durch die Änderung Y. 1314 'Und im verblätterten
Bücheigen' U = ^Aus dem vergriffnen Büchelchen' S.
Auch mit der Änderung Y. 580 'weggeschmolzen' ü ==
'hingeschmolzen' S ist der Wortsinn verdeutlicht worden.
Y. 987 steht in U: ^Wars freundlich zappelich und gros'.
Der Sinn ist: in meinem Schoos war das Eind freundlich
und zappelig und ward gross, wobei das 'ward' aus Y. 985
in U ergänzend vorschweben mochte. Für S war dieser
Bezug nicht genau genug, es wurde vor 'gross' ^ward' ein-
gesetzt; danach störte die asyndetische Zusammenstellung
'freundlich zappelich' im ersten Satzgliede und so wurde
aus 'zappelich' ein selbständiges Prädicat gebildet, wodurch
der Satz wieder dreigliedrig wurde: 'War's freundlich,
zappelte, ward gross' S.
Strengere Bildlichkeit ward erreicht, indem der Aus-
druck der sinnlichen Anschauung gemäss berichtigt ward:
Y. 815 'am Rand des Todts' C7, eine Metapher, die für
Goethe mehr conventionell und verblasst als sinnlich vor-
gestellt scheint (dieselbe Metapher in 'Götter, Helden und
Wieland' Der junge Goethe 2, 392 Z. 2 v. u.) ; in S liest man
richtiger: 'am Rand des Grab's'.
Dagegen hat die Deutlichkeit der Anschauung unter
der Änderung von 'besteckt' zu 'umsteckt' und 'bestellt' zu
'umstellt' in Y. 52 f. gelitten ; sie ward vermuthlich durch
342 Raiz, Goethes Faustredaction 1790.
das 'rings' vor 'bestellt' hervorgerufen. Überhaupt macht
diese Stelle, besonders die V. 51 f. in 5^ der Interpretation
Schwierigkeit. U hingegen gewährt eine vollkommen klare
Anschauung des 'Mauerloches', wenn man in V. 52 das
'Mit' der Handschrift festhält und die V. 51 f. nicht, wie S
thut, in den Relativsatz einbezieht, sondern das 'besteckt'
als Participium den übrigen Participien von 'Beschränkt'
bis 'gestopft' gleichstellt und auf das gemeinsame Subject
'Mauerloch' bezieht. Dieser Deutung gegenüber kann in
S nur ein Missverständniss , veranlasst durch das schlecht
verstandene 'und', vorliegen; das 'besteckt' ist irrthümlich
mit dem 'bedeckt' syntaktisch verbunden worden: der
'Bücherhauff, den ein angeraucht Papier umsteckt, ist eine
völlig unklare Vorstellung.
Die ursprüngliche strenge Anschaulichkeit wird etwas
verflüchtigt durch die Änderung in den ersten Versen
der Scene 'Zwinger'. Zu dem Bilde der Mater dolorosa,
welches zum Gekreuzigten aufblickt, fleht Gretchen : 'Ach
neige Du schmerzenreiche Dein Antliz ab zu meiner Noth'.
Goethe ersetzte das 'ab zu' in S durch 'gnädig', wahr-
scheinlich um die etwas auffällige Zusammenstellung dieser
Wörtchen zu vermeiden und weil die Composition 'ab-
neigen' keine gangbare ist.
Wie Goethe sprachlichen Eigenheiten auszuweichen
und der Norm des festgesetzten schriftdeutschen Sprach-
gebrauches gerecht zu werden sucht, zeigt eine Anzahl von
Fällen, in denen einfache Verba, in U mit der vollen
Stärke ihrer Bedeutung als Transitiva verwendet, in 8
theils durch Zusammensetzung, theils in der Rection mit
Präpositionen ausgestattet wurden: V. 493 die Gelegenheit
'zu spüren' U = 'auszuspüren' S , 922 'Der hälts' ü =
'Behält's' S, 1021 'Dass ihn sogleich die Lust mögt wan-
deln' U = 'Es schien ihn gleich nur anzuwandeln' iS, 915
'und alle höchsten Worte greife' ü = 'Nach allen höch-
sten Worten greife' S, 1119 'Ich glaub einen Gott' U =
'Ich glaub' an Gott' S. Daneben tritt auch für den ein-
fachen Dativ der Präpositionalausdruck ein V. 665 'den ich
Margreten schafft' U = 'für Grethchen angeschafft' (vgl.
'Auerbachs Keller' ?7 143 'Schafft mir einen Bohrer' =
Raiz, Goethes Faustredaction 1790. 343
S 736 'Schafft einen Bohrer an'; U 153 'Nun schafft
Wachs' == S 745 'Verschafft ein wenig Wachs') ; doch blieb
das einfache Verbum öfter vgl. U b\\. 513; dabei Ersatz
des Dativs durch Präposition V. 912 f. 'Und dem Gefühl
und dem Gewühl Vergebens Nahmen such' U == 'Für das
Gefühl, für das Gewühl Nach Namen suche' S. — Aber
auch der umgekehrte Fall findet sich; es ist die präposi-
tionale Zusammensetzung als ungebräuchlich aufgegeben
in V. 1315 'Deinen Gebeten nachlalltest' U = 'Gebete
lalltest' /S, womit der vorhergehende Vers 'Und im ver-
blätterten Bücheigen' U in Übereinstimmung gebracht ward
'Aus dem vergriffnen Büchelchen' S,
Verbale Composita , wie 'durcherschüttern , durcher-
warmen', welche das Gepräge des Sturms und Dranges
tragen, mussten getilgt werden; es trat an der bezüglichen
Stelle V. 1412 ein dem veränderten Zusammenhange der
Scene entsprechender Vers ein.
Überhaupt sind gröbere Spuren des Goetheschen
Jugendstiles möglichst beseitigt. Ungemein häufig kommt
Goethes Lieblingswort 'all', meist in Verbindung mit folgen-
dem Artikel oder Pronomen, in gewissen Partien von U
vor. Es ward in der Form geändert 43 'all dem' U =
'allem' 8 , ganz vermieden 49 'all dem' U = 'diesem' iS,
61 'all der' U = 'der' S (was des Rhythmus halber die
Änderung von 'lebenden' ü zu 'lebendigen' S verlangte),
82 'all das' ü = 'mir das' S, 112 'All Erden weh und all
ihr Glück' U = 'Der Erde Weh, der Erde Glück' S, 201
'Und all die Reden' U = 'Ja, eure Reden' S. Sämmtliche
eben angeführte Stellen sind aus der ersten Scene. Durch
eine tiefergreifende Änderung, deren Grund mit in der
Häufung des 'all' zu suchen ist, ist dies Wort entfernt in
der Schülerscene 336 ff. 'Doch wünscht ich rings von aller
Erden , Von allem Himmel und all Natur So viel mein
Geist vermögt zu fassen' U = 'Und möchte gern, was auf
der Erden, Und in dem Himmel ist, erfassen, Die Wissen-
schaft und die Natur' S; beachtenswerth ist hier, dass in
S neben der Natur auch die Wissenschaft zur Geltung
kommt (vgl. oben zu V. 197 f. wo Verstand für Empfin-
dungen eintritt). Stehen blieb V. 1420 'all ihr'. Um das
344 Baiz, Goethes Faustredaction 1790.
Yorkommen diesem 'all' in U vollständig übersehen zu
lassen , weise ich noch folgende Stellen aus Theileh nach,
die S nicht enthält: Schülerscene 263. 270 f., Monolog des
Valentin 1374 'Und all und all mir all den Flor'(!), 1379.
1389 'alle die Lober', Kerkerscene Z. 33. 77.
Eine Phrase der Goetheschen Jugendsprache (vgl. Der
junge Goethe 1 , 14 Z. 7 'Wie grosser Hass in meinem
Busen schlug' und S. 143 Z. 3 v. u. 'es schlägt mein wal-
lend Blut') ist beseitigt: Y. 898 'und was ihm in Eopf und
Herzen schlägt' U = 'was sich ihm in Eopf und Herzen
regt' iS, infolge dessen in dem vorhergehenden Yerse das
Reimwort geändert werden musste 'was sich drinne regt'
U = 'was sich d'rin bewegt' S; ferner 1325 'Schlägt da
nicht quillend schon' U = 'Regt sich's nicht quillend
schon' 8.
Als incorrect ward ein kühner Gebrauch eines steigern-
den Comparativs vermieden und dem Gedanken durch die
neue Fassung freilich eine Wendung gegeben, die im Zu-
sammenhange nicht begründet ist : Y. ! 66 'Nun werd ich
tiefer tief zu nichte' U = 'Es wird mein schönstes Glück
zu nichte' S.
AufPallend und incorrect mochte Goethe in Y. 602
'Als stünden grau leibhafftig vor euch da' U die unver-
mittelte Zusammenstellung der beiden Epithet erscheinen;
er lässt in 8 das erste fallen 'Als stund' leibhaftig vor
euch da', und schwächt damit das Sinnlich - Anschauliche
des Bildes.
Wie Idiotistisches, so durfte auch • Dialektisches in der
Ausdrucksweise nicht stehen bleiben. Y. 584 'wo anders-
wo genommen' wurde zu 'wo anders hergenommen' ge-
bessert, die dialektische Construction tl67 'Des Menschen
sein Gesicht' richtig gestellt 'Des Menschen widrig Ge-
sicht'. Ich glaube, dass in dem 'widrig' nur eine Yerstär-
kung, kein sachlicher Zusatz liegt, geschweige eine be-
sondere Auffassung des Mephistopheles angedeutet ist ;
denn Gretchen wenigstens muss Mephistopheles auf jeden
Fall widrig vorkommen. Hieher stelle ich Y. 443 'dem
Spruch von meiner Muhme' U = 'dem Spruch und meiner
Muhme' 5, indem ich annehme die der Umgangssprache
Raiz, Goethes Faustredaction 1790. 345
geläufige Umschreibung des einfachen Qenetiys durch den
Fräpositionalausdruck habe Goethe als incorrect empfunden
und in /S, allerdings mit einer kleinen Störung des Sinnes,
yermieden.
Die Negation, nach dialektischem Gebrauche doppelt
gesetzt, ist vereinfacht Y. 495 ^Braucht keinen Teufel nicht
dazu' TJ = 'Brauchte den Teufel nicht dazu' S. Hier
möge der Fall einer ano tlocvov verwendeten Negation
Platz finden: Y. 739 f. 'Darf mich ach leider auf der Gassen
Nicht in der Kirch mit sehen lassen' U; in S liest man
correcter 'Darf mich, leider, nicht auf der Gassen Noch in
der Kirche mit sehen lassen'.
In Y. 1257 'Auf der Thürbanck und dem dunckeln
Gang' gehört die Ausdrucksform 'auf dem Gang' vor-
wiegend der Umgangssprache an; S hat daher rein Schrift-
deutsch 4m dunkeln Gang'. Nicht die gewählte Präposi-
tion , sondern der von ihr abhängige Casus ist Y. 475 'Ich
schlich mich hart am Stul herbey' anstössig; diese, viel-
leicht dialektische, Unrichtigkeit umging Goethe auf un-
glückliche Weise , indem er 'herbey' in 'vorbey' änderte
und damit den Sinn schädigte.
Der Form nach dialektisch ist Y. 1175 'Es ist ein
Kautz wie's mehr noch geben' (vgl. Yierteljahrschrift 1, 54);
S wendet anders 'Es muss auch solche Käuze geben' und
macht aus dem Satze mit persönlicher Beziehung eine
Sentenz. Eine dialektische Ausdrucksweise enthält Y. 1253
'Bedauer sie kein Haar'; in 8 ist der Aussagesatz in einen
Ausruf gewandelt: 'Bedauerst sie noch gar!' wodurch zu-
gleich die Apokope der Flexionssilbe des Yerbums ver-
mieden ist.
In syntaktischer Beziehung sind eine Reihe von Ände-
rungen zu verzeichnen, als deren Princip sich im allge-
meinen wieder sprachliche Correctheit im Sinne des Schrift-
deutschen geltend macht; hiezu tritt noch einerseits die
RQcksicht auf Wohllaut und stilistisch glatte, auch auf
rhethorisch wirksame Yerknüpfung von Sätzen und Satz-
gliedern, andererseits die Abneigung gegen syntaktische
Eigenheiten, namentlich des Jugendstiles.
Mangelnde Satzglieder wurden eingefügt. So gelegent-
VierteUahischrift für LitteratuKeschichte III 23
346 RaiZ) Goethes Faustredaction 1790.
lieh ein ausgelassenes pronominales Subjeet Y. 403 ^Bin
U = ^Ich bin' S, 480 'Sprichst' U = 'Du sprichst' S, 616
'Trank draus bey jedem Schmaus' U = 'Er leert' ihn
jeden Schmaus' S wo der Binnenreim zugleich beseitigt
ist, 768 'Ach wollt hätt' U = 'Ich wollt' ich hätt" S, 844
'Betrauert' U = 'Betraurt' ich' S trotz der lautlichen
Härte; dagegen blieb ohne Subjeet Y. 904. Die fehlende
Copula ward eingesetzt Y. 1149 'Kahme Schall und Rauch'
U = ^Name ist Schall und Bauch' S mit empfindlichem
Hiatus. Ein fehlendes unbestimmtes 'es' ward eingesetzt :
bei unpersönlichem Prädicate Y. 499 'Was hilft so grade
zu geniessen' U = 'Was hilft's nur g'rade zu gemessen' S,
508 'Geht ein vor allmal nicht geschwind' U = 'Geht's
ein- vor allemal nicht geschwind' S (vgl. 1325 'Schlägt da
nicht quillend schon' ü); als Object Y. 652 'man lässt
auch alles seyn' U = 'man lässt's auch alles seyn' 5, 242
'Wir müssen diesmal unterbrechen' U = 'Wir müssen's
diesmal unterbrechen' S (umgekehrt 457 'darf ichs wagen'
U = 'darf ich wagen' S weil der folgende Yers das Ob-
ject gibt); endlich bei der Inversion Y. 801 'Ist eine der
grösten Himmelsgaben* U = 'Es ist eine der grössten
Himmelsgaben' S.
Für ein nachdruckloses demonstratives 'das', welches
sich in U mehrmals findet und wohl in dieser Yerwendung
der Umgangssprache angehört, tritt das schwächere 'es'
ein: Y. 68 'Ist dir das nicht Geleit genug' U == 'Ist dir
es nicht Geleit genug' 5, 852 'das konnte gehn und stehen'
U = 'so könnt' es gehn und stehen' S, 1145 'Nenn das
dann' U == 'Nenn es dann' S\ als überflüssig ward es
ganz ausgelassen 1118 'Mein Kind wer darf das sagen' U
= 'Mein Liebchen , wer darf sagen' 8. Ein den Ton
tragendes, flectirtes 'der' ist durch die Wahl einer andern
Ausdrucksweise beseitigt, wobei indess wohl in erster Linie
der Rhythmus gebessert werden sollte Y. 28 'Rede von
dem was ich nicht weiss' U = 'Zu sagen brauche , was
ich nicht weiss' S.
Die Kakophonie, welche der Yerbindung eines solchen
betonten Demonstrativs mit folgendem flectirtem relativem
'der' anhaftet, ist durch Entfernung der relativen Satz-
Raiz, Goethes Faustredaction 1790. 347
fügung vermieden V. 1225 'Dass der nun den sie liebt
verlohren werden soll' U = ^Dass sie den liebsten Mann
verloren halten soll' S. In einer Art ano %oivov gesetzt
ist 'die' in V. Uli 'Für die ich liebe lies ich Leib und
Blut' U^ auch hier wird die relative Unterordnung ver-
mieden 'Für meine Lieben Hess' ich Leib und Blut' S. Ein
ähnlicher Gebrauch otvo xocvov findet sich 383 'Für was
drein geht und nicht drein geht', wo Goethe in S, natür-
lich ohne Erfolg, mit einem Beistriche nach 'Für' abzu-
helfen suchte.
Doppeltes flectirtes relatives 'der' hintereinander musste
der starken Eakophonie halber und um Satzschachtelung
zu vermeiden getilgt werden Y. 144 'der den kaum mein
Hauch umwittert' U = 'der, von meinem Hauch umwittert'
S; leider musste das den Sinn wesentlich bestimmende
'kaum' wegen des Rhythmus ausfallen.
V. 1323 'Die durch dich sich in die Pein hinüber-
schlief' U mit seiner Folge von einsilbigen, gleichklingen-
den Wörtern ist kakophon und musste deshalb geändert
werden, abgesehen davon, dass das Yerbum reflexiv nicht
gebraucht wird ; S hat mit Verstärkung 'Die durch dich
zur langen, langen Pein hinüberschlief'. Zu Gunsten des
Wohllautes ist die Wiederholung desselben Wortes in un-
mittelbarer Nähe vermieden V. 387 'Fünf Stunden nehmt
ihr jeden Tag' ü (vorher geht 'Nehmt euch der besten
Ordnung wahr'), S setzt statt 'nehmt' 'habt' und benimmt
so dem Satze die Sinnnüance des Rathes. Wegen des un-
mittelbar vorangehenden 'kommen' mag wohl das 'Komm,
Komm' in V. 582 zu 'Fort! Fort!' geändert worden sein.
Einen dritten Fall der Wiederholung, Y. 953, behandle ich
unten. S. 352.
Vielleicht hat in V. 548 'In Freud und Schmerz in
offnen Arm empfangen' die missklingende Wiederholung
derselben Präposition zur Änderung geführt 'Bey Freud*
und Schmerz in offnen Arm empfangen', wofern nicht, wie
aif den folgenden Stellen , die Wahl der Präposition selbst
dem Dichter unpassend schien. Während an dieser Stelle
'bei' wenigstens ebenso gut ist, kann der Wechsel der
Präposition in V. 49 'beschränkt von all dem BücherhauflF'
23*
348 ^^z> Goethes Faustredaction 1790.
J7, wo S 'mit' einsetzt, kein glücklicher genannt werden,
weshalb seit 1816 die alte Lesart wieder auftaucht. Cor-
recter gemacht sind V. 1205 umhüllen 'In tiefen Schlaf U
= 'Mit tiefem Schlaf S, 609 Mir läuft ein Schauer 'am
ganzen Leib' ü = 'über 'n Leib' S, 914 'in der Welt —
schweife' U = 'durch die Welt — schweife' S. Wechsel
der Präposition, zugleich mit strengerer syntaktischer Ver-
knüpfung, trat ein V. 644 'Drinn' U = 'Mit dem' S.
In der Wortfolge ward gebessert V. 121 1 'Ich habe
schon für dich so viel gethan' U = 'Ich habe schon so
viel für dich gethan' S. Verschoben ist die Wortfolge V.
1241 'Sie füttert zwey, wenn sie nun isst und trinkt' S
gegenüber dem ursprünglichen 'Sie füttert zwey letzt wenn
sie isst und trinkt' {7, ohne dass ich einen stichhaltigen
Grund erkennen kann. Eine im Zusammenhange der Sätze
fehlerhafte Wortstellung ist berichtigt V. 1178 Kommt er
einmal zur Thür herein 'Er sieht immer so spöttisch
drein' U = 'Sieht er immer so spöttisch drein' 8 vgl. V.
1188 f.
Bei nebengeordneten Sätzen, welche in U mit dem
Subjecte anheben, verwendet S die Inversion als ein Mittel,
den Fluss der Rede zu befördern und dadurch ihre Leb-
haftigkeit zu steigern : V. 339 'Ihr seyd da' U = 'Da seyd
ihr' S , 670 'Es fängt ihr heimlich an zu grauen' U ==
'Gleich föngt's ihr heimlich an zu grauen' 5, vgl. 664 'Es
kleidt dich gut' ü = 'Dich kleidet's' S, wo indess der erste
Grund der Änderung ein lautlicher ist, und 852 'das konnte'
JJ = ^80 könnt' es' S.
Auf den Anschluss und die Verbindung der Sätze
untereinander verwendete Goethe auch in logischer Be-
ziehung Sorgfalt und berichtigte demgemäss ihre äussere
Form. In V. 1018 'Es konnte niemand von dir Übels
sagen' U fällt es auf, dass Gretchen sich selbst apostro-
phirt, während erst der nächste Vers das dafür entschei-
dende 'dacht ich' bringt; logischer ist, wie S thut, den
Vers an das Vorhergehende anzuschliessen und 'mir' statt
'dir' zu setzen. Logischer und gefalliger im Anschlüsse,
auch wohlklingender ist V. 1252 die Fassung von S 'Da
ist denn auch das Blümchen weg', aber für Lieschen pas-
Raiz, Goethes Faustredaction 1790. 349
Bender die eckigere Form ^Ja da ist dann das Blümgen
weg' TT. Ein logisch abhängiger Satz ward auch äusser-
lich als solcher gestaltet Y. 673 f. Und riechts einem ieden
Meubel an ^Ist das Ding heilig oder profan' U = 'Ob das
Ding heilig ist oder profan' S. In der Satzfolge ist for-
mell gebessert Y. t429 'Was muss geschehn, mag^s gleich
geschehn' S, wogegen U logisch richtiger den wichtigern
Satz vorausnimmt 'Mags schnell gesehen was muss ge-
schehn'.
Eine der Umgangssprache entlehnte Freiheit in der
Yerwendung des Infinitivs mit 'zu' liegt vor Y. 1 79 f. 'Man
weis nicht eigentlich wie sie zu guten Dingen Durch Über-
redung hinzubringen' U; formell strenger und in der Aus-
drucksweise gehoben ist 'Kaum durch ein Fernglas, nur
von weiten, Wie soll man sie durch Überredung leiten' S^
was zur Hälfte den Gedanken von Y. 178 fortsetzt. Ähn-
lich frei gebaut und auch logisch bedenklich ist Y. 849
'Ihm fehlte nichts als allzugern zu wandern' {7, was S in
die Form 'Er liebte nur das allzuviele Wandern' umgiesst.
Formell und dem Sinne nach untadelig scheint Y. 926
'Herab sich lässt bis zum Beschämen' (7, und doch ändert
S in sinnstörender Weise: 'mich zu beschämen'.
Zu knapp und gedrungen, gleichsam zu scharfkantig
mochte Goethes am Ebenmasse antiker Bildwerke ge-
schultem Auge das Satzgebilde Y. 1356—8 'Yerbirgst du
dich! Blieben verborgen Dein Sund und Schand!' ü er-
scheinen ; aber wie viel sprechen die wenigen Worte, deren
keines entbehrlich ist , in concentrirter Form aus , wie
wirkungsvoll und mit wie einfachen syntaktischen Mitteln !
Nur die Frageform im ersten und die Optativform im
zweiten Theile, kein Formwort bezeichnet das logische
Yerhältniss beider Sätze. Wie scharf klingt die unmittel-
bare Gegenüberstellung der contrastirenden Worte , wie
wuchtig der Abschluss! Selbst der jähe Übergang des
steigenden in den fallenden Rhythmus prägt den Contrast
aus. Alles dies ist in 8 abgeschwächt, ausgeglichen, stili-
sirt: 'Yerbirg dich! Sund* und Schande Bleibt nicht ver-
borgen'. Der zweite Satz ist seiner Beziehung auf Gret-
chen äusserlich entkleidet und zur Sentenz geformt.
350 Baiz, Goethes Faustredaction 1790.
Dasselbe Bedürfniss ausgleichenden Stilisirens faeisst
kurze Ausrufe, in denen der Gedanke zusammengefasst ist,
in Sätze auflösen: V. 144 'Du!' U = 'Bist du es?' S (vgl.
Kerker Z. 55 'Du?' = Bist du es?), 1336 'Der Posaunen
Klang!' U = 'Die Posaune tönt' S, Hier setzt S über-
dies statt des Plural von U den collectiven Singular; bei
dieser Gelegenheit will ich der Änderung in V. 465 'Der
Lippen Roth der Wange Licht' U gedenken. Sollte ein
Ausgleich zwischen dem Plur. 'Lippen' und dem Sing.
'Wange' stattfinden, so würde man beidemal den Plural,
als der Wirklichkeit entsprechend, erwarten ; allein Goethe
zog den Singular vor, also die Lippe, die Wange an
und für sich — wieder ein Entfernen vom Naturalisti-
schen.
Ein elliptischer Satz ward beseitigt: 'König in Tule'
(615) 'Der Becher war ihm lieber' (sc. als alles andere) U
= 'Es gieng ihm nichts darüber' 8.
In der Verknüpfung der gleichartigen Satzglieder eines
zusammengezogenen Satzes, welche in U meist durch 'und'
verbunden sind, zeigt S eine Vorliebe für Wiederholung
des gemeinsamen Satzgliedes. So wird gerne die Ana-
phora angewendet: V. 7 'Heisse Docktor und Professor
gar' C = 'Heisse Magister, heisse Doctor gar' S, 1000
'Doch schmeckt dafür das Essen und die Ruh' U = 'Doch
schmeckt dafür das Essen, schmeckt die Ruh' 8^ 112 'AU
Erden weh und all ihr Glück' U = 'Der Erde Weh, der
Erde Glück' S, wo das wiederholte Wort zugleich die
durch Beseitigung des 'all' ausfallende Hebung ersetzen
musste.
Nach demselben Principe ward verknüpft V. 605 'so
schwül und dumpfig' ü = 'so schwül, so dumpfig' 8^ mit
Wiederholung des Relativums 140 'und mit Freude Beben'
U = 'die mit Preudebeben' S, ebenso 51 'Und bis ans
hohe Gewölb hinauf U = 'Den bis an's hohe Gewölb
hinauf 8.
Diese Vorliebe hat im V. 850 'Und fremde Weiber
und der Wein' U sogar das 'fremd' in 8 wiederholt 'Und
fremde Weiber und fremden Wein', wodurch der Wein in
ganz überflüssiger, ja sinnstörender Weise specialisirt wird.
Raiz, Goethes Faustredaction 1790. 351
Zeigt sich in den angeführten Fällen die Neigung, das
'und' durch bedeutungsvolle Wörter zu ersetzen, was den
Satz ohne Zweifel rhetorisch wirksamer macht, so ist an
einer andern Stelle das 'und' ausgefallen, wo es gehäuft
als rhetorisches Mittel sehr wohl am Platze war: Y. 91t
— 15 'Wenn ich empfinde Und dem Gefühl und dem Ge-
wühl Yergebens Nahmen such und keine Nahmen finde.
Und in der Welt mit allen Sinnen schweife Und alle höch-
sten Worte greife' U= 'Wenn ich empfinde, Für das Ge-
fühl, für das Gewühl Nach Namen suche, keinen finde.
Dann durch die Welt mit allen Sinnen schweife. Nach
allen höchsten Worten greife' S. Neben dem Polysyndeton
hat hier, wie ich schon ausgeführt habe, die Verbindung
der Prädicate mit directem Objectscasus , auch wohl das
doppelte 'Nahmen' Anstoss erregt. — Der Charakteristik
nachtheilig ward die Yereinfachung der Ausdrucksweise,
bei welcher auch ein 'und' ausfiel, V. 985 'Mit Wasser und
mit Milch, und so wards mein' U = 'Mit Milch und
Wasser, so ward's mein' S; wie gut spiegelt sich in der
wortreichen Ausführlichkeit Gretchens Yolksart ! S geht der
naturalistischen Treue der Nachahmung aus dem Wege.
Vgl. noch V. 1 203 'Hier ist ein Fläschgen und drey Tropfen
nur' U = 'Hier ist ein Fläschchen, drey Tropfen nur' S,
664 'das Rasen und das Toben' U = 'wie ein Rasender
zu toben' S.
'Und' ist durch das bedeutendere 'auch' ersetzt V. 793
'Und er bereute' ü = 'Auch er bereute' S, was eine dem
Sinne nach incorrecte Wortstellung ergab. Eine syntak-
tisch freie Ausdrucksweise ward geregelt, wodurch das ver-
bindende 'und' ausfiel, V. 951 'Und weit verständger' U =
'Sie sind verständiger' S.
Anderwärts erachtete Goethes Geschmack eine An-
knüpfung mit 'und' für passend, wo sie in U fehlt: V. 702
'Sie wahren sehr erbaut davon' U = 'Und sie waren sehr
erbaut davon' S^ ein pointirter, abschliessender Satz, dessen
Wirkung durch den Anschluss ans Vorhergehende ge-
schwächt ward. Eine Besserung dagegen ist V. 821 'Ich
konnte' U = 'Und konnte' S.
Anstössig erschien dem Dichter das Asyndeton , viel-
352 ^iz» Goethes Faustredaction 1790.
leicht auch die herauszulesende Steigerung der Begriffe
V, 1120 'Magst Priester, Weise fragen' £/, daher /S: 'Magst
Priester oder Weise fragen'. Ein gleicher Fall ward, je-
doch auf andere Weise, beseitigt Y. 1414 'Ha bin ich
nicht der Flüchtling, Unbehauste' U = 'Bin ich der Flücht-
ling nicht, der Unbehauste' S.
Satzschachtelung und die unpoetische subordiqirte Satz-
fügung ward vermieden und der Fluss der Sprache und
des Rhythmus dadurch gehoben Y. 952 f. 'Glaube dass
was man so verständig nennt, Mehr Kurzsinn, Eigensinn
und Eitelkeit ist' U = 'Glaube, was man so verstandig
nennt, Ist oft mehr Eitelkeit und Kurzsinn' S. Zugleich ist
der Kakophonie 'Kurzsinn Eigensinn' hiemit ausgewichen.
Auch sonst noch sind durch Änderungen, welche aus an-
deren Gründen erfolgten und die ich schon besprochen
habe, subordinirte Sätze beseitigt, und zwar: kurze Re-
lativsätze durch Yerwendung des Participiums Y. 144, 665,
von Substantiven Y. IUI. 1225, ein dass-Satz durch Yer-
wandlung in einen Hauptsatz Y. 1021.
Ich trage nun eine Anzahl von Fällen nach, welche
bisher nicht wohl einzureihen waren, weil sie vereinzelt
stehen oder nicht sicher beurtheilt werden können.
Da ist zunächst eine rhetorische Hervorhebung Y.
1367 'Schauerts ihnen. Den Reinen' ü = 'Schauert's den
Reinen' S und ein auffalliger Dativus ethicus Y. 386 'Nehmt
euch der besten Ordnung wahr' U = 'Nehmt ja der besten
Ordnung wahr' S beseitigt. Eine ungewöhnliche Ausdrucks-
weise hinter Y. 1035 ^er fasst ihr beyde Hände' U ist zur
gangbaren umgeformt 'er fasst ihre beyde Hände' S. Der
Singular Y. 1316 'Einderspiel' U ist wohl nur deshalb in
den Plural abgeändert worden, weil das Wort im abstracten
Sinne nicht üblich ist.
In folgenden Fällen ward der bestimmte Artikel als in
dem gegebenen Zusammenhange weniger gebräuchlich in
S weggelassen; denn man pflegt nicht zu sagen 'ich stu-
dire die Philosophie (Y. 1), die Theologie (Y. 2)', auch
seltener 'ich glühe vom neuen Wein' (Y. 110 U) als 'von
neuem Wein' (jS). Der Umgangssprache entstammt der
Gebrauch des Artikels bei Eigennamen Y. 480 'wie der
Eaiz, Goethes Faustredaction 1790. 353
Hanns Lüderlich' U; er ward in 8 vermieden: 'wie Hanns
Liederlich'.
Eine Angleichung hat stattgefunden, wenn im ^Eönig
von Tule' (V. 619) 'Und als es kam zu sterben' ü das
persönliche Subject aus den folgenden Versen herüber*
genommen ward: 'Und als er kam zu sterben' S; beides ist
sprachlich nicht ganz correct , jedoch ersteres richtiger.
Ein äusserlich gleicher, aber wesentlich verschiedener Fall
ist V. 1434 f. 'Wo so ein Köpfgen keinen Ausgang sieht,
Stellt es sich gleich das Ende vor' CT, wo S 'er' für 'es'
setzt; dies föllt auf, da es dem sonst beobachteten Streben
nach sprachlicher Correctheit zuwider läuft ; wozu die Deut-
lichkeit, da ja der Zusammenhang, besonders Y. 1430 f.,
die Stelle nur auf Faust beziehen lässt? Oder sollte dem
Miss Verständnisse vorgebeugt werden, dass der Leser oder
Zuschauer, verführt durch V. 1433, unter dem 'Köpfchen'
Oretchen verstehe?
Angeglichen scheint an das Folgende Y. 1152 'Ohn-
gefahr sagt das der Cathechismus auch' CT, indem S statt
der Sache die Person, statt des 'Cathechismus' den 'Pfarrer'
einführt; denn Y, 1155 sind 'alle Herzen' und 1157 'ich'
entgegengestellt.
Ich habe schon zu Y. 51 f. vermuthet und ausgeführt,
dass ein Missverständniss der Stelle vorliege, dadurch ver~
ursacht, dass Goethe die zu Grunde liegende Anschauung
abhanden kam und bei der Durchsicht der alten Scene sich
vielleicht eine neue unterschob. Einen ähnlichen Yorgang
glaube ich annehmen zu sollen, um die Umgestaltung der
Yerse 1 1 36 f. zu erklären : 'Und steigen hüben und drüben
Ewige Sterne nicht herauf U = 'Und steigen freundlich
blickend Ewige Sterne nicht hierauf S. 'hüben und drü-
ben', offenbar im Ost und West, zu beiden Seiten des
Sprechenden, dagegen in S 'hier', zwischen Himmel und
Erde. Sprachlich konnte Goethe das 'hüben und drüben'
nicht beanstanden, da es zu seinen Lieblingswendungen,
auch später noch, gehört (vgl. DWB. unter 'hüben' und
Lehmann, Goethe's Sprache S. 339 f.). Ein seelisches Ele-
ment kam mit dem 'freundlich blickend' in die früher rein
sinnliche Yorstellung hinein.
354 Raiz, Goethes Faustredaction 1790.
Nicht mehr verstanden hat Goethe augenscheinlich Y.
1027 'Keinen Straus?' U, indem er die in ihrer Form sehr
berechtigte Frage positiv wendete 'Einen Straus?' (vgl.
Vierteljahrschrift 1,59); vielleicht auch V. 885, wo Fausts
Bemerkung 'Sie ist mir lieb', welche man sieh wohl
zwischen die Worte des Mephistopheles hineingeworfen
denken muss, dem rücksichtslosen, frivolen 'So recht'
wich.
In Y. 900 f. scheint Goethe das 'in Geist und Brust'
(es Gorrespondirt genau mit Y. 898 'in Kopf und Herzen')
entweder nicht mehr ganz verständlich oder wegen der
Zusammenstellung von Unsinnlichem und Körperlichem an-
stössig gewesen zu sein , was Anlass zur Yerschiebung
des Gedankens und zu der Erweiterung gab: 'Brust'
blieb als Reim wort stehen, es ward jedoch der Yers ganz
geändert und dem vorhergehenden angeschlossen ; zwischen
ihn und den folgenden sodann ein Reimpaar eingeschoben,
welches auf seinen Gehalt geprüft zum Theile bedeutungs-
loses Füllsel aufweist ('ihr müsst es g'rad gestehen!').
Schwer zu beurtheilen ist, warum Y. 80 'Fühl neue
Glut' U zu 'Neuglühend mir' geändert ward; das doppelte
'Fühle' konnte nicht stören, da doch die Anaphora beliebt
ist. Es ist möglich daran zu denken, dass das Yerbum in
jedem der Yerse 79. 80 in U eine etwas verschiedene Be-
deutung hat, aber auch, dass 'Fühl' eine Apokope vor
Consonant darstellt und in der correcten Form einen zu
schweren Auftakt gäbe.
Geringfügig ist die Änderung Y. 169 'hört ich' U =
'hör ich' S, aber sie ist eine Yerschlechterung, weil nur
ersteres sachlich richtig ist und zu dem folgenden Präteri*
tum 'Ihr last' stimmt; ziemlich indifferent und lediglich in
Goethes Sprachgefühl begründet scheinen mir die Ände-
rungen Y. 26 'werde' U = 'würde' S, 700 'Als wenns' U
= 'Als ob's' S, 446 'Ich werd' U = 'Ich will' S, 1176
'Mögt nicht' U = 'Wollte nicht' S.
Es sei mir noch gestattet, eine Beobachtung zu er-
gänzen, welche ich bisher an zwei Fällen hervorzuheben
Gelegenheit hatte: es erhalten nämlich einige Sätze von
durchaus individuellem Bezüge durch anderweitig begrün-
Raiz, Goethes Faustredaction 1790. 355
dete Änderungen in S eine sentenziöse Färbung. Der-
gestalt ergaben sich die Sätze ^Es muss auch solche Käuze
geben' und ^Sünd' und Schande Bleibt nicht verborgen'
aus U Wlb und 1357 f. Recht deutlich ist die Neigung
zur sentenziösen Yerallgemeinerung von ursprünglich sub-
jectiv ausgesprochenen Gedanken an einigen Stellen yon
^Auerbachs Keller' wahrzunehmen. Ich stelle die corre-
spondirenden Fassungen nebeneinander: 17 4 f. ^Kann ich
davor dass das verflucht niedrige Gewölbe so wieder-
schallt' = S 564 f. 'Wenn das Gewölbe wiederschallt,
Fühlt man erst recht des Basses Grundgewalt'; U 159 iF.
'Die Franzosen kann ich nicht leiden, so grosen Respeckt
ich vor ihren Wein hab' = S 751 f. 'Ein echter Deutscher
Mann mag keinen Franzen leiden, Doch ihre Weine trinkt
er gern'. Neu ist in S 744 der allgemeine Satz 'Das
Vaterland verleiht die allerbesten Gaben' hinter 17 150 f.
derselben Scene. Auch unter den vier Versen, welche S
am Schlüsse der Scene 'Wald und Höhle' hinzufügt, haben
drei sentenziösen Inhalt: 'Es lebe, wer sich tapfer hält'
und 'Nichts abgeschmackters find' ich auf der Welt, Als
einen Teufel der verzweifelt'. — Aber auch schon in ü
finden sich sentenziös gefärbte Sätze , von denen die
meisten , wie zu erwarten ist , Mephistopheles angehören :
V. 432 f. 777. 867 f. 886; von den übrigen spricht je einen
Wagner (205 f.), Faust (921 f.) und, wenig passend, Gret-
chen (654—6).
Von den Einschaltungen, welche nicht im Gefolge
einer Änderung zu verzeichnen waren, ist die Frage nach
dem Bringer des Schmuckes S 1356 f. auf den sachlichen
Werth hin schon behandelt worden; mehr äusserlich ist,
dass jS^ im V. 862 von U auch Gretchen den Abschieds-
gruss 'Lebt wohl' sprechen lässt; beides mag von Goethe
im Zusammenhange der Scene vermisst worden sein und
weist auf grössere Strenge in der Dialogcomposition.
Aus rein metrischem Grunde, um ein Reimpaar zu er-
halten, ward V. 154 zu zwei Versen erweitert: 'Ein wech-
selnd Leben' U = 'Ein wechselnd Weben, Ein glühend
Leben' S. Im allgemeinen ist, wie aus der vorgelegten
Untersuchung zur Genüge hervorgeht, bei AnderungeQ,
356 "RbIz, Goethes Fauetredaction 1790.
mögen sie sachlich oder formell sein, auf den Rhythmus
nur secundäre Rücksicht genommen und eine Verlängerung
und Verkürzung des Verses nicht gescheut worden. Dies
war um so leichter möglich, als ja in U selbst die Verse
über das Mass der vier Hebungen, das nur in gewissen
Partien, in dem ersten Theile des Faustmonologes bis V. 76
und dem Monologe Valentins, rein durchgeführt jst, je nach
den einzelnen Scenen öfter oder seltener hinausgehen oder
hinter ihm zurückbleiben. Sehr häufig ward in Folge von
Änderungen der regelmässige Qang des Rhythmus gestört,
in andern, den seltenern Fällen allerdings erst hergestellt.
Jcdesfalls kam die metrische Form für Goethe nur in
zweiter Linie in Betracht, ein Umstand, der mein XJrtheil
im einzelnen beeinflusst hat. Nichts desto weniger bleibt
ein Rest von Änderungen übrig , welche sich , wie es
scheint, allein aus metrischen Gründen erklären lassen; dem-
nach ward im Rhythmus gebessert: V. 333 'Sagt mir erst^
U = ^Erklärt euch' S, 389 'Habt euch zu Hause wohl
preparirt' U = 'Habt euch vorher wohl präparirt' /S, 729
'Frau Marthe! Gretgen was soUs?' U = 'Frau Marthe!
Grethelchen, was soll's?' S, 998 'Und immer so fort heut
und morgen' U = 'Und immer fort so heut wie morgen'
5, 1161 'Liebes Kind' U = 'Lieb's Kind' S. —
Das Ergebniss dieser Beobachtungen gipfelt in folgen-
den Sätzen: Weitaus die meisten Änderungen sind for-
meller Art und zielen auf schriftdeutsche Correctheit ab;
demnach ward Archaistisches, Dialektisches, Idiotistisches
abgestreift. Naturalistische Wahrheit in Form und Wort-
charakteristik, worunter sich Drastisches, Derbes, Sinn-
liches begreift, ward vermieden. Dies zusammengefasst :
Sprache und Ausdruck wurden dem Niveau des hohen
Stiles genähert. Soweit diese Änderungen Gelegenheit
boten, und auch selbständig, ward das individuelle Gepräge
verwischt zu Gunsten einer stilisirten Allgemeinheit, die
sinnliche Anschaulichkeit zurückgedrängt zu Gunsten des
seelischen Elementes. Selbst die Änderungen in den
Scenenanweisungen entsprechen weniger den theatralischen
Anforderungen als diesen allgemeinen Stilgesetzen. Diese
elementaren Züge stimmen durchaus zu der Entwickelung,
RaIz, Goethes Fausiredaction 1790. 357
welche der Qoethesche Stil in der Zeit, die zwischen der
Abfassung der Scenen des Urfaust und der Herausgabe
des Fragmentes liegt, genommen hat. Sie zeigen Goethe
als den gereiften Künstler, der von den Schlacken der
Jugendperiode in AuiFassung und Stil befreit, die schöne,
massvolle Form schätzen gelernt hat und die Kraft des
Dichtergenius in die Fesseln der Kunst zwingt.
Ergänzend treten zu diesem Bilde die wenigen sach-
lichen Änderungen, soweit sie nicht durch Verschiebung
im Plane bedingt sind. In ihnen erscheint Goethe überdies
als der Weltmann, der duldsam und taktvoll die Schwächen
und die Herzensmeinungen der ihm nahestehenden Kreise
schont.
Freilich ging bei dieser Umformung des Fragmentes
gar manchmal die Kraft des Ursprünglichen verloren ; doch
der Verlust mag leicht ersetzt sein durch die höhere Kunst.
Bedauerlicher ist, dass der Form bisweilen auch der Inhalt
zum Opfer fiel. An einer nicht ganz unbedeutenden Zahl
von Fällen musste eine offenbare Verderbniss, an andern
wenigstens eine Verschlechterung des Sinnes im Gefolge
von formellen Änderungen constatirt werden. Mag für
Goethe die Correctheit der Form immerhin bis zu dem
Grade bindend gewesen sein, dass er, um ihr zu genügen,
hie und da eine Schädigung des Inhalts nicht scheute, so
drängt sich doch, wie mich dünkt, die Vermuthung auf, es
habe ihm an liebevoller Versenkung in das Einzelne der
alten Scenen gemangelt; dafür sprechen am eindringlich-
sten die missverständlichen und verschobenen Auffassungen,
welche sinnlich zu vergegenwärtigende Objecto (wie Fausts
Studirzimmer) oder ebensolche Vorgänge (wie das Zer-
pflücken der Blume, welchem Fausts Frage ^Kein Strauss?'
gilt, oder das Aufsteigen der Sterne 'hüben und drüben')
erfahren haben. Ausserdem spricht für die ja auch sonst
bekannte Hast der Redaction, dass sich die Veränderungen
in ihrer Gesammtheit, mit wenigen besondem Ausnahmen,
ziemlich auf der Oberfläche halten, und vor allem, dass
noch manches ungeändert stehen bleibt, was aus denselben
Gründen hätte geändert werden müssen und^ebenso leicht
zu ändern war. Es kann uns nicht wundem, dass nach
358 Raiz, Goethes Faastredaction 1790.
den mannigfachen Innern und äussern Wandlungen, welche
Goethe in der Zwischenzeit erlebt hatte, und nach den
mehrfachen Pausen, welche in der Arbeit am Faust sicher*
lieh eingetreten waren, seinem Bewusstsein die Details der
alten Dichtung entrückt und ohne hingebende Vertiefung,
zu welcher er sich die erforderliche Ruhe und Einkehr
nicht gönnte oder vielmehr die genügende Selbstverläug-
nung seines neuen Wesens nicht besass , nicht mehr mit
der nöthigen Starke lebendig wurden. Dem widerspricht
nicht, dass Goethe, ehe er das Fragment herausgab, das
Vorhandene auch dichtend erweiterte; wo es galt, Altes
mit Neuem zu verquicken oder Altes durch Neues in grös-
serem Masstabe zu ersetzen, dort finden wir mehr Sorgfalt
und Genauigkeit; und wo er Neues schlechtweg schuf, be-
durfte es einer derartigen Vertiefung in das Einzelne der
alten Gedanken und Worte überhaupt weniger.
Altes und Neues zu scheiden, geben, wie ich glaube,
die vorstehenden Beobachtungen Kriterien an die Hand.
Wir sind berechtigt anzunehmen, dass auch die Theile von
Ä, welche uns in [7 nicht überliefert sind, nicht sorgfaltiger
redigirt wurden als diejenigen, deren Vergleichung möglich
ist; wir dürfen wohl auch, weil Nachlässigkeiten von S in
den vollständigen Faust übergingen, voraussetzen, dass
auch dieser nicht aufs strengste redigirt ward. Nehmen
wir noch hinzu, dass es Goethe trotz der gelegentlich aus-
gesprochenen Absicht, das Neue dem Alten völlig anzu-
passen, nicht gelang seinen neuen Stil zu verläugnen,
weil er ihn ja so beherrschte, dass er zuweilen selbst den
alten Text vergewaltigte , so kommen wir zu dem Satze :
da wo im vollständigen Faust noch Formen und Wen-
dungen , wie sie von U zu S zumeist beseitigt sind , vor-
kommen, da ist die Vermuthung erlaubt, dass die betref-
fende Stelle aus früher Zeit stammt. Aber auch im Rah-
men des sog. Urfaust haben manche Erscheinungen (ich
verweise nur auf das 'all') ein mehr oder weniger be-
grenztes Verbreitungsgebiet und können als Kriterien mit
gelten, um das zeitliche Verhältniss der einzelnen Scenen
und Theile in erschliessen ; nicht minder sondert eine
Vergleichung der metrischen Gestalt die Theile von
Schönbach, Sprüche und Spruchartiges aus Handschriften. 359
einander ab. Doch sollen diese Beobachtungen hier, wo
ich die stilistischen Absichten der Redaction des Trag-
mentes^ Faust erschliessen wollte, nicht vorgelegt werden.
Graz. Agid Raiz.
Sprüche und Spruchartiges ans Hand-
schriften.
1. Die Handschrift Nr. 692 der Stiftsbibliothek zu
Set. Gallen, Papier, 15. Jahrhundert, enthält auf S. 491
folgende Sprüche:
Manchman meint, er sig ouch ein man;
Wenn aber manchman kumet do manchman ist,
Manchman weisset nüt wer manchman ist.
Wist manchman wer manchman were,
& Manchman det manchman ere.
Manchman wennet manchman sin
Und triltet her in grossem schin.
Wenn manchman kumet do manchman ist,
So endowet manchman mitt einem ßst.
V. 4. 5 dieses Spruches sind noch jetzt allenthalben ver-
breitet. V. 2 — 5 stehen, mangelhaft überliefert, auch im
Liederbuch der Hätzlerin, Haltaus S. LXIX*.
2. In der Handschrift folgt:
Alte IQt crauwent sich,
Kön lüt höwent sich,
Suberlich lüt schöwent sich,
Wise lüt versinnent sich,
& Jung lüt minnent sich.
3. Die Papierhandschrift der kgl. Hof- und Staats-
bibliothek zu München, Cod. Germ. Monac. 384, 15. Jh.,
enthält F. 85^ zwischen Recepten den Spruch:
Tätt liegen als we als stein tragen,
Es beschlus menger sinen kragen.
Bei Simrock, Sprichwörter S. 354 heisst es: 'Wäre Lügen
so schwer wie Steine tragen, würde mancher lieber die
Wahrheit sagen'.
360 Schönbach, Sprüche und Spruchartiges aus Handschriften.
4. Die Papierhandschrift Nr. 2977 der k. Hofbiblio-
thek zu Wien, 15. Jh., enthält auf dem Vorsetzblatt als
Pederprobe den Vers:
Wer das beste gerne ramet
und sich des bossen schämet,
der hat das wordinet woll
das man in dar urame loben sol.^)
5. Die Papierhandschrift Nr. 3011 der k. Hofbiblio-
thek zu Wien, 15. Jh., enthält F. 62^ die Verse:
Ich pin laider unmare
da ich gern lieb bare;
oft mir da Heb geschach
da ich mich liebes nicht versach,
1 . 2 davon stehen Freidank 1 10, 3 f.
6. Dieselbe Handschrift liest F. 165»:
Wer das puech stel,
des selben chel
muzze sich ertoben
hoch an eim galgen oben.
Das Wort 'ertoben' ist in dieser Verwendung sicher un-
gewöhnlieh, wird aber durch eine von den Wörterbüchern
citirte Stelle aus Eonrad von Würzburgs Trojanischem
Krieg bestätigt, wo es verwünschend heisst V. 3088 ff. :
Swer iemer des getürre jehen,
er kunne vihes hüeten,
der müeze sich erwuelen
und iemer §wecliche erloben.
7. Aus der gleichen Handschrift F. 20 1^
Tempora mutantur et homines deteriorantur.
Qui verum dixerit caput confractum habebit.
Audi, Uli, tace, si tu cupis esse cum pace.
Zu 2 vgl. Simrock, Sprichwörter S. 607: 'Wer die Wahr-
heit geigt , dem schlägt man den Fiedelbogen um den
Kopf. — Zu 3 vgl. Simrock 8. 506: 'Harren, sehn und
schweigen verhütet manchen Erieg\ Sicherlich muss es
da 'Hören' statt 'Harren' heissen; 'Sohn' statt 'sehn' halte
ich für möglich, aber nicht für wahrscheinlich.
8. Die Handschrift Nr. 3000 der k. Hofbibliothek zu
Wien, Papier, 15. Jh., enthält F. 70** von einer Hand des
') in fehlt der Hs.
Schönbach, Sprüche und Spruchartigea aus Handschriften. 361
16. Jahrhunderts folgende Verse, die wohl einem Volks-
liede angehören, welches ich aber jetzt nicht nachweisen
kann.
Wein mirs aber heben an
und welln auch singen was ich kan,
durch niemant welen mirs lassen :
Das ungelt das ys kumen ins land,
5 das hört man auf der gassen.
Dy Prawnawer sind aller eren wol werd,
das ungelt hat so lang gewerd,
es ist auch vi! gesommen.
Der AfTehaimmer ist
Die letzten Zeilen sind verwischt, mit ihnen bricht das
Stück ab. — Bei 'Braunau' hat man die Wahl unter ver-
schiedenen Städten; am nächsten liegt es vielleicht, da die
Handschrift aus Schloss Ambras bei Innsbruck stammt, an
das oberösterreichische Braunau am Inn zu denken. Aber
auch das böhmische Braunau wäre nicht zu weit. — Ist
^Affenheimer' ein Spottname, dann würde es sich zu den
'Aflfenbergern', 'Affenthalern', ^Eselsheimern' u. dgl. stellen,
über welche Wackernagel, Die deutschen Appellativnamen,
Kl. Schriften 3, 125 if. ausführlich handelt.
9. Die Handschrift Nr. 2967 der k. Hofbibliothek zu
Wien, Papier, 15. Jh., enthält P. !•> Folgendes:
1 Ich wolt dir gute ding practiziern, magst du mir der gryln
wem.
2 Und also werden auch für war. zwo finsternüss in dysem
jar. die erst ist so sich die maid enpleckt. und sich under
den knecht streckt.
3 Die ander ist so man yn erwischt, so knört man yn daz
ym (lies: yms) liecht erlischt.
4 Die allmach ist gedieht, nach den judischen pösswicht. und
geben den cristen ertzeney. da ist genssschmaltz und seil-
dreck pey. Mich wundert daz sy gelauhen dar an. wann
sy thöten manigen cristenmon.
5 Wer sich ertzeney gebrachen (lies: gebrächet) dar. und
nimpt der zaichen nit wol war. auch sein sach nie richtt
dar nach, die gelid ob er schad enpfacli. hüt dich nit las
das glid an dir. so yetlichs zaichen sein ader rür.
6 Es sein nit alle zerbreche (lies : zerbrochen) ding wider gantz
zu machen, dann der sich selbs nit gesundt wille haben,
(des: getilgt) dem hilfft kain artzett.
Vierteljahnohrift fQr Litteratniveschichte III 24
362 Schönbach, Sprüche und Spracbartiges ans Handschriften.
7 Sy sein und wollen es nit sein, und wenn sy es nit sein,
so weren sy es geren.
8 Es mag nit sein daz ein ding ein dinck sey, woll mag sein
daz ist nayn und zwir nayn daz ist ja.
1 — 3 bilden eine Scherzrede; 3 ^knören' bedeutet: puffen,
knuffen, mit den Knöcheln stossen. DWB. 5, 1490. —
4 wendet sich wohl gegen die jüdischen Ärzte. Wenn
'allmach' = Almanach ist, dann wäre es wahrscheinlich
der älteste Beleg dieses Wortes im Deutschen. — 5 ist
nicht ganz klar, ich denke, es wird sich auf die Beob-
achtung der richtigen Zeit zum Aderlassen beziehen. —
6—8 sind allgemeine Sprüche, ich halte 7 nicht für ein
Rathsel.
10. Diese Handschrift enthält femer F. 128^ f. zu-
nächst folgende Sprüche:
1 Sag nymant deinen (lies: deinen) taugen daz es dir nit
geworffen werd under die afigen.
2 Hab lieb in styl daz ist alzeitt meyn will.
3 Ich bynn gangen berg und tal und Rnd kain treu
überall.
4 Es kenn und mag nit änderst sein wer hie sOndet der
leidet dortt pein.
5 Gerechtikaitt ist ain hört und pringt uns dortt zum
ewigen wordt.
6 Wer stelt nach gerechtikait der hat dem onrecht wider
sagt (lies: sait).
[129*] 7 Hörett yeder man die warhait gern so wOrd man vil
sQnd enbern.
8 Manger weiss des rechten vil der es doch nit wissen
will.
9 Für reichtüm und für alles gut so ist der hortl der
recht thütt.
10 Der weisshait pflegen willen (lies: will) der hütt sich
vor allen b6sen gesellen und spillen (lies: spill).
11. Zwischen den Nummern 8 und 9 dieser Sprüche
stehen folgende Räthsel:
1 Welicher mensch ist gestorben und nit geboren? daz ist
Adam und Eva.
2 Welicbe menschen sein geboren und nit gestorben? daz ist
Enoch und Elyas.
3 Welicher mensch hat geredt e daz er geborn word? Johannes
der taüffer.
4 Weliche menschen haben krieget in irem haOs e si geboren
warden? Jacob und Esaü.
J. Meier, Zur Genovefa-Legende. 363
5 Welicher mansch halt nach seinem tod geredt? Laserüs.
6 Wer lebt in seinem haüs e daz es geboren wirtt? ain kind
in mütter leib.
7 Wer ist in dem himel und sein haubt auff ertrich? daz ist
ain yeder cristenmensch.
8 W^elicher mensch ist nit gewessen in dem himel noch aulT
erden noch in dem mer? daz ist Abacück, da er von dem
engel gotes in dem lufft bey schopflf gefört ward zu dem
hol Daniel.
9 Wer hat in im ain brindenten sun? der [129**] kysling
stain.
10 Wer wirt gebom vor vatter und mütter? daz ist der rauch.
11 Wer ist trüncken an trincken? ain thor.
Von diesen Nummern finde ich 1 und 2 in Simrocks Deut-
schem Räthselbuch (Deutsche Yolksbücher 7. Band) S. 415,
bei 2 lautet dort die Antwort: ^Henoch und du 8elber\
5 steht bei Simrock S. 421 mit der Antwort: 'Christus',
10 ebenda mit der Antwort: 'Adams Kinder\
Graz. Anton E. Schönbach.
Zur Entstehungsgeschichte der Genovefa-
Legende.
SeufFert hat in seiner Habilitationsschrift Die Legende
von der Pfalzgräfin Genovefa (Würzburg 1877) die Ent-'
stehungsgeschichte dieser Sage zu erforschen gesucht. Er
weist in überzeugender Weise die einzelnen Elemente nach,
aus denen sie zusammengeschweisst wurde. Die meiste
Schwierigkeit macht es, die Einfügung des Namens Geno-
vefa in die Fabel zu erklären. SeufFert ist der wohl richtigen
Meinung (S. 20 f.) , dass der Name von der Pariser Hei-
ligen genommen sei, aber es fehlt ihm ein äusserer Be-
weis, dass ihr Cultus in jenen alten Zeiten in der Nähe
von Laach in Blüthe gestanden habe. Doch auch diese
erwünschte Bestätigung finden wir, und zwar in einer
Urkunde vom Mai 1255 (Mrh. Urkdb. 3, 941. Mrh. Reg.
3, 1207): 'Die Abtei Malmedy vererbpachtet dem Cister-
zienser-Nonnenkloster Namedy (Namendeth) einen Wald,
24*
364 J* Meier, Zur Genovefa-Legende.
que communiter sancte Genofeve Gerenht^) appel-
latur, für den Zins von 6 Köln. Denaren, zahlbar jährlich
in Andernach. Da diese Pachtsumme aber dem Werthe
des Grundstücks gegenüber viel zu niedrig bemessen ist,
so verpflichten sich die Nonnen von Namedy von allen
Gütern und Nutzungen, welche a monasterio nostro
Malmundariensi vel capella S. Genofeve Ander-
nachensi herrühren, den kleinen und grossen Zehnten zu
bezahlen.'
Durch dieses Zeugniss ist die Yerehrung der heiligen
Genovefa in der dortigen Gegend — Namedy und Ander-
nach liegen in nächster Nähe von Laach, dem Entstehungs-
orte der Legende — für das erste Viertel des 13. Jahr-
hunderts gesichert. Denn in die zwanziger oder dreissiger
Jahre dürfen wir nach den Angaben der Urkunde den Be-
ginn des Gultus mindestens zurückschieben , da die Ge-
novefacapelle schon einige Zeit bestanden haben muss,
und wir ein längeres Weilen des Cultus an jenem Orte
anzunehmen haben, ehe der Name zur Flurbezeichnung ver-
wandt werden konnte.
Soweit gehen die Thatsachen; eine nicht allzu ge-
wagte Muthmassung möchte ich hier nicht unterdrücken.
Seuffert erwähnt (S. 25) die Vorliebe und die Kunst des
Verfassers der Legende, mit der er es verstanden hat
'durch Verwerthung von Ortsnamen aus der Umgegend
seines Klosters und der zu feiernden Capelle seiner Er-
') So, nnd nicht Gereuht, wie Mrh. Urkdb. nnd Mrh. Reg. (a. a. 0.)
angeben, steht in dem zu Coblenz im Staatsarchive befindlichen Ori-
ginal. Diese Mittheilung verdanke ich dem Vorstande des Coblenzer
Staatsarchivs , Staatsarchivar Dr. Becker , der auf meine Anfrage in
liebenswürdigster und eingehendster Weise Auskunft gab. — Was
gerenht bedeutet, ist nicht ganz sicher zu bestimmen; man kann
an Zweierlei denken: 1) gerente = nhd. rente, vgl. Frisch, Teutsch-
Lateinisches WB. 111 a. Hierfür spricht die Erwähnung der Ge-
novefa-Capelle zu Andernach; man mag annehmen, dass der Wald
ursprünglich eine Rente dieser Kirche war. 2) man kann es aber
auch als Collectivbildung zu rante, Schössling, schlanker Fichten-
stamm (vgl. Schmeller ' 2, 126, Lexer in Frommanns Zeitschrift f. deut-
sche Mundarten 6, 193) stellen. Mir ist eigentlich das erstere wahr-
scheinlicher.
Tille, Anspielungen auf die Faustsage. 365
Zählung jene Glaubwürdigkeit zu verleihen, die sich neue
äussere Anhaltspunkte schafft'. Und ' so möchte ich es
nicht für unmöglich halten, dass derYerfasser der Legende
oder seine Zeitgenossen, an die Flurbezeichnung anknüpfend,
als den Auffindungsort der Oenovefa jenen Wald bezeich-
neten, und dass auf diesem Platze später die Capelle in
Frauenkirchen, welche, wie Seuffert a, a. 0. angibt, auf
dem Maifelde zwischen Ochtendung und Niedermendig liegt,
erbaut ist.
Halle a. S. Juni 1889. John Meier.
Anspielimgeii auf die Faustsage.
In den ^Deliciae biblicae oder Biblische Ergötzlich-
keiten^ hg. von Misander (Johann Samuel Adami, Pfarrer
zu Pretzschendorff in der Ephorie Dipoldiswalde in Sachsen),
Bd. 17 (Nov. Test. 1.) Januarius 1692 finden sich zwei Er-
wähnungen Fausts.
S. 387 .... Hieher gehöret alles dasjenige, was man von
D. Fausten schreibet, den man, ob er gleich kein Doctor
gewesen, daher den Doctor genennet, weil er so gelehrt soll ge-
wesen seyn. Von diesem ist ein eigen Buch heraussen, so ein
Theologus mit vielen Theologischen Anmerckungen heraus ge-
geben hat, als darinne lauter Verblendungen zu finden, als wenn
er einst einem Bauer Schweine verkaufTt, und hernach aus den-
selben Stroh-Wische worden sind, item, dass einer einmahl dem
Fausto, der jenem schuldig gewesen, ein Bein ausgerissen,
so alles Blendwerck gewesen, it: da er einem Bauer den
Wagen mit sammt dem Heue gefressen, davon ein mehrers
hin und wieder kan gelesen werden
S. 389—391 .... Der andere vortreffliche Held, welcher
von uns soll auffgefflhret werden, ist Käyser Carol der V. dieses
Nahmens, welcher dergleichen Blendung einsten mit seinen Augen
auch mit angesehen. Denn als er mit seiner Hoffstatt nach Ins-
pruck . verrückt, ward auch mit dahin gebracht D. Job. Faustus,
weil er durch seine Kunst vielen Freyherren, Graffen und Edlen
geholffen hatte, und von allerley sclimertzlichen Kranckheiten be-
freyet, auch ihnen durch seine schwartze Kunst viel wunder-
liche Sachen gewiesen. Dieses D. Fausts Händel wurden dem
Käyser auch förgetragen, und ihm das Gemütli dadurch lüstern
gemacht, dass er denselbigen vor sich fordern liess, und von
366 Tille, Anspielungen auf die Faustsage.
ihm begehrete, dass er durch seine Kunst den allerberiihmtesten
Käyser Alexandrum den Grossen, und sein Gemahl in der
Form und Gestalt, so sie im Leben geführet, herfür bringen
solte. Faust antwortete, er wolte, so viel er durch Hülffe seines
Geistes vermöchte, Ihr Käyserl. Majest. Bitte gewähren, und be-
gehrte Personen erscheinen lassen: Aber das solte Ihre Majestät
wissen, dass ihre Leibe nicht auffstünden, und aufT dissmal aus
der Erden herfür kämen : Aber die uhralten Geister , welche
Alexandrum und sein Gemahl gesehen haben, die könten sich
in ihre Form und Gestalt verwandeln, dadurch wolte er beyde
Personen wahrhafftig Ihrer Majest. sehen lassen, in aller Gestalt,
wie sie geleibet und gelebet. Allein Ihre Majestät solte ihm sagen,
dass sie nichts mit ihm reden wolte, aber besichtigen möchte
er sie stillschweigend mit allem Fleisse. Hierauff gieng Faust
aus des Käysers Gemache, sich mit seinem Geiste hiervon zu
unterreden, und da sie der Sachen eins worden, gieng er wieder-
um hinein zum Käyser, und Hess die Thür offen. Alsbald trat
nach ihm hinein Käyser Alexander M. in der Gestalt, wie er
gelebet; Ein wohlgesetztes Männlein, mit rothen oder gleichfalben
und dicken Barte, rothen Backen, und eines gestrengen Angesichts,
als ob er Basilisken - Augen hätte, hatte einen gantzen schönen
vollkommenen Harnisch an, trat zum Käyser, und bückte sich für
ihme mit tieffer Reverentz. Der Käyser wolte auffstehen und ihm
die Hand bieten, aber Faust winckete ihm, dass ers nicht thun
solte. Hierauff neigte sich der Käyser Alexander und gieng
zur Thür hinaus. Bald darauff trat hinein sein Gemahl in einem
blauen Sammet-Rocke mit güldenen Stücken und Perlen gezieret,
Sie war aus der massen schöne und rothbäckigt, wie Milch und
Blut, länglicht, und eines rundten Angesichts. Wie sie nun
Käyser Carl lange mit Verwunderung angeschauet, fiel ihm ein,
dass er gelesen und gehöret hätte, sie solte im Nacken eine
grosse Wartzen gehabt haben, stund derhalben auff von seinem
Stuhle, und gieng zu ihr, zu besichtigen, ob er diss Wahr-
zeichen auch an ihr finden, und also erkennen könte, dass der
Geist in ihrer beyder Gestalt sich wahrhaffliglich verwandelt
hätte, und ihn nicht mit falscher Form betrogen, sie stund stille,
bückte den Kopff und Halss, dass er die Wartze sehen, und
augenscheinlich erkennen kunte. Hierauff neigte sie sich für ihm,
gieng zur Thür hinaus und verschwand. Also gewähret D. Faust
dem Käyser seine Bitte, trieb sonst viel lächerliche Abentheur
am Hofe, und erlangete eine gute Verehrung, darmit zog er hin-
weg.
Der 'Theologischen Anmerkungen' wegen, welche das
nach der ersten Stelle dem Pfarrer Adami vorliegende
Faustbuch enthält, liegt es am nächsten an Widmann oder
an Pfitzer als Quelle zu denken. Es ist jedoch fraglieh,
Geiger, Ein Brief von Cbr. Mylius an Haller. 367
ob Adaini diese kannte, da sie die zweite von ihm angezogene
Stelle an Eeyser Maximilianus , nicht an Karl Y. knüpfen.
Auch hält sich Adami offenkundig an das Spiessische Faust-
buch. Es stimmen ganze Wendungen wie der umständ-
liche Gang der Erzählung zu Kap. 33 (S. t32) desselben.
Man vergleiche nur die ^allerley schmerzlichen Krank-
heiten', von denen Faust die Edelleute befreit, mit Spiess'
Worten: ^namhaiften Schmertzen vnd Kranckheiten', die
Erklärung, dass ^ihre Leibe nicht aufstünden' mit Spiess'
Satz: ^dass jre sterbliche Leiber nicht von den Todten
aufferstehen', die Beschreibung Alexanders als ^ein wohl-
gesetztes Männlein, mit rothen oder gleichfalben und dicken
Barte, rothen Backen, und eines gestrengen Angesichts,
als ob er Basilisken - Augen hätte' mit Spiess' Abmalung:
^ein wolgesetztes dickes Männlein, rohten oder gleichfalben
vnd dicken Baris, roht Backen, vnd eines strengen An-
gesichts, als ob er Basilisken Augen hett'.
Leipzig. Alexander Tille.
Ein Brief Yon Chr. Mylius an Haller.
Der nachstehende Brief, dessen Original, 10 SS. in 4^
eigenhändig, seit mehreren Jahren in meinem Besitz ist, darf
wohl einiges Interesse beanspruchen. Über die Beziehungen
seines Yerfassers Chr. Mylius^) zu dem Adressaten A. v.
Haller hat L. Hirzel in seiner ausgezeichneten Einleitung
zu Hallers Gedichten (besonders S. CCCXVn flf.) gehandelt.
Die von ihm erwähnten Briefe befinden sich, wie er mich
freundlichst belehrt, handschriftlich auf der Berner Stadt-
bibliothek. Hirzel fahrt in seiner Mittheilung (26. September
1889) fort: ^Gedruckt ist von diesen Briefen nichts oder
soviel wie nichts; ich erinnere mich augenblicklich nicht,
^) Fehlt in der Allg. deutschen Biographie; am ansfährlichsten
über ihn handelt Jördens 3, 770—776; seine schriftstellerische Bedeu-
tung wird sehr gnt bei Erich Schmidt. Lessing 1, 59—65, 290—292
auseinandergesetzt.
368 Geiger, Ein Brief von Ohr. Mylius an Haller.
auch nur einen gedruckt gesehen zu haben.' Ich darf
daher wohl auch den nachfolgenden Brief als ungedruckt
in Anspruch nehmen. Yorauszuschicken ist dem Briefe nur
die Erinnerung, dass Haller an der Spitze einer Qesellschaft
stand, welche Mylius nach Amerika zur Vornahme natur-
wissenschaftlicher Untersuchungen schicken wollte. Dass
Mylius die auf ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllte, die
für wissenschaftliche Untersuchungen zusammengebrachten
Summen zu seinem Yortheile und seinem Vergnügen ver-
wendete und sich in Briefen, die er an Freunde richtete,
über den grossen Gelehrten lustig machte, den er in unserm
Schreiben als Gönner zu verehren scheint, ebenso wie er
ihn ehedem offen und versteckt heftig angegriffen hatte, —
alle diese bekannten Thatsachen sollen, wenn sie auch nicht
unmittelbar zum Verständniss dieses Briefes nothwendig
sind, wenigstens kurz vorangeschickt werden.
Der Brief lautet:
Hochwohlgeborner Herr
Insonders hochzuehrender Herr Hofrath
Hochgeschätzter Gönner.
Ew. Hochwohlgeb. Letztes nebst dem Recommendations-
schreiben des Hrn. Geh. Raths von Hardenberg an den Gouver-
neur von Surinam habe ich vorgestern mit grösstem Vergnügen
erhalten. Ich bitte, diesen rechtschaffenen Cavalier dafQr meiner
beständigen Ehrfurcht und meines unterthänigen Dankes zu ver-
sichern. Ich hoffe damit, wenn die andern Recommendationen
dazu kommen werden viel auszurichten. Dem Hrn. von Swieten
habe ich nunmehr aufs höflichste den Kauf aufgesagt, nachdem
ich ein zweytes Schreiben vom 6. September von ihm erhalten,
welches hier in Abschrift beyliegt. Ich hatte Um in meiner ersten
Antwort um einige Wochen Bedenkzeit gebeten, damit ich meiner
Reisekostengesellschaft Nachricht geben und ihr Gutachten ein-
ziehen könnte. Und darauf beziehet sich sein aequum est, quod
peiis. Übrigens scheint er so von der Vortrefflichkeit seines Vor-
schlages eingenommen gewesen zu seyn, dass er, da ich es ihm
nicht gleich abgeschlagen, geglaubt, ich wäre alles sogleich ohne
Bedenken eingegangen und sey schon auf dem Sprunge nach
Wien zu kommen. Aber mein letzter Brief wird ihm zeigen,
dass er sich sehr geirret hat. Ja, ich bleibe gewiss bei der
ersten Partey und unter Dero Direction, ob der Hr. v. Swieten
gleich wieder grosse und lockende Versprechungen thut. Dero
letzteres ist mir mehr als alle diese grossen Worte und ich habe
-■*-"
Geiger, Ein Brief von Chr. Mylius an Haller. 369
nuDmehr so wenig einen Zweifel an der gewissen Ausführung
des Vorhabens, als wenn ich des Hm. v. Swieten seine 3000 ThI.
schon in Händen hätte. So gut sich übrigens die Adspecten
immer noch in Göttingen anlassen, so gut lassen sie sich auch
hier an. Der Hr. Graf von Kamecke, ein sehr reicher Herr, hat
mich eigenhändig schriftlich versichert, dass er jährlich 50 Tbl. geben
will. Er schrieb zugleich, dass er die ersten 50 Till, so bald er
nach Berlin käme, an Ew. Hochwohlgeb. übermachen wolle.
Da er nun gestern gekommen, so kann es seyn, dass Dieselben
diese 50 Tbl. mit diesem Briefe zugleich erhalten. Der Hr. Asdorf
in Lübeck wird seine Assignation nun wohl auch geschickt haben.
Der Staatsminister, Hr. von Arnim, ein gleichfalls sehr reicher
Herr, hat mir durch den Hrn. Prof. Kies einen ansehnlichen
Beytrag, welchen, wenn er sterben sollte, sein Hr. Sohn gewiss
fortsetzen wird, versprochen. Hierauf kann ich ganz sicheren
Staat machen. Er kommt aber erst künftigen Monat von seinen
Gütern zurück. Der Staatsminister, Graf v. Podewils, der jüngere,
hat auch sein Versprechen nochmals wiederholt: er ist nur auch
auf den Gütern noch. Die Frau Gräfin von Bentink ist ganzer
3 Wochen in Oranienburg bei den sehr lustigen Festins ge-
wesen, welche der Prinz von Preussen daselbst gegeben. Gleich
nach ihrer Rückkunft bin ich zweymal hingegangen um den Brief
selbst zu überreichen. Beydemal aber hatte sie einen vornehmen
Besuch; und das dritte mal auch, da ich denn den Brief nicht
länger auflialten wollte, und ihn ihrem Kammerdiener gegeben.
Sie hat seitdem gesagt, sie würde mich zu sich bitten, und wenn
dieses auch nicht geschähe, so werde ich doch gewiss meine Auf-
wartung nächstens machen; und überhaupt bin ich dieser Dame
wegen ohne Sorgen. Hr. Cuno wird um Ew. Hochwohlgeb. willen
gerwiss thun, was er kann wenn er auch gleich durch den Hrn.
Denso erfahren haben sollte, dass ich einmal etwas an seinem
Gartengedicht ausgesetzt. An den Hrn. Prof. Spielmann will ich
noch schreiben. Ich muss je länger je mehr Dero besondere
Gütigkeit gegen mich bewundern und verehren. Sie tragen eine
väterliche Sorgfalt für meine Gesundheit. Ich hoHe, sie durch
Massigkeit und Diät zu behalten. Die Veränderung des Wetters
und die herumgehenden Staupen (ausser die Blattern und Masern)
haben mir niemals was anhaben können, und niemand, der mich
sieht, will mir es glauben, dass ich sonst niemals ordentlich krank
gewesen. Starke Getränke liebe ich nicht; aber den Taback.
Jenes ist schädlich, und dieses nützlich für einen Reisenden. Über-
dieses werde ich mir die Lehren aller Erfahrenen und besonders
Ew. Hochwohlgeb. wohl zu nutzen machen. Ferner so denken
Sie schon, ausser den Reisekosten auf eine Belohnung. Daran
hat der Hr. v. Swieten nicht gedacht; er redet nur von so vielem,
als ich zur Reise brauche. Ich erkenne auch diese Dero Gütig-
keit mit gehorsamstem Dank, und sie wird gewiss meinen Eifer
370 Geiger, Ein Brief von Chr. Mylius an Haller.
verdoppeln. Aber ich nehme hierbey Gelegenheit, Ew. Hoch-
wohlgeb. mit einem ökonomischen Vortrage zu beschweren. Ich
würde Ihnen die kostbare Zeit dadurch nicht wegzunehmen mich
unterstehen, wenn mich nicht die Nothwendigkeit dazu triebe,
und wenn nicht eben diese Dero Gewogenheit mir im Voraus
Verzeihung verspräche. Ew. Hochwohlgeb. haben, wie gedacht,
die Gewogenheit, und denken schon, mir mit dem Ueberschuss
des Reisegeldes ein Geschenk zu machen. Dieselben werden
dabey auch wohl überlegt haben, dass ich zu dem ersten Termine
mehr nöthig habe, als zu den beyden andern. Denn von dem
ersten muss ich nicht nur die Hinreise bestreiten, sondern auch
mich auf 3 Jahr und auf eine so weite Reise equipiren; und
mich nicht allein, sondern auch meinen Bedienten. Wenn ich
selbst ein Capitalist wäre, so wollte ich mich nicht nur von
meinem eigenen Gelde equipiren, sondern auch von meinem
eigenen Gelde reisen. So aber habe ich nur, was ich mir ver-
diene, und ich habe mir noch nicht mehr verdienen können, als
ich gebraucht. Was mir Hr. Sulzer vorgeschossen, habe ich
nöthig gehabt, um mich meiner beschwerlichsten Geschäfte zu
entschlagen und mich zur Reise vorzubereiten. Ich wende diese
Zeit an, mir die Länder wohin ich reisen will, bekannt zu machen,
wie auch allerley dazu nöthige Bücher in der bist. nat. besonders
Dero Enum. stirp. Helvetiae, um mir recht Dero Methode geläufig
zu machen, etc. Da nun meine Reise gar nahe bevorstehet, und
ich auf das neue Jahr wohl von hier abgehen möchte: so muss
ich wirklich keine Zeit versäumen, mich zu equipiren. Mit Klei-
dern, und besonders mit Wäsche, muss ich mich nothwendig auf
ganze 3 Jahr versehen ; denn wenn ich diese Vorsichtigkeit nicht
brauchte, so wäre es so gut, als bekäme ich 100 Tbl. weniger
Reisegeld. Ich muss mir auch diese Sachen an einem Orte ttn-
schaffen, wo ich am meisten Bekanntschaft habe, und wo ich
durch Hülfe guter Freunde alles am wohlfeilsten bekommen kann.
Und nun folgt in der gleichen lästigen Weitschweifig-
keit eine Berechnung dessen was er für Kleider, Schuh
und Stiefeln, für den Bedienten u. s. w. nöthig habe, mit
der ich nicht beschwerlich fallen will. Kurz, MyliuS bettelt,
ihm sofort 200 Thir. zu senden. Dann fahrt er fort:
Wenn nun über 1 000 Thaler jährlich einkommen sollten, so
würde ich doch fast 1000 Tbl. nach Surinam mitnehmen, wo ich
damit ein Jahr gar wohl auszukommen gedenke, wenn es auch
nur 800 Tbl. wären, weil ich dahin ganz besonders gute Recom-
mendationen habe. In Georgien ist auch der Prediger Bolzius,
mein Landsmann (ein Lausitzer) nebst Dero Bekannten, welche
alle mich keine Noth werden leiden lassen, dass ich also diese
200 Tbl. gar wohl im voraus zu der ein für allemal unumgäng-
Geiger, Ein Brief von Chr. Mylius an Haller. 371
lieh nöthigen Equipirung auf 3 Jahr, wegnehmen kann. Dass ich
damit wohl umgehen werde, das werden mir Ew. Hochwohlgeb.
vermuthlich zutrauen; weil davon meine ganze Ehre und Glück-
seligkeit abhängt. Doch ich glaube, meine persuasoria sind hier
sehr überflussig. — Die zugesandten gedruckten Zettel sind bald
alle. Könnte ich nicht noch einige bekommen? — Wenn in
meinem Namen die geringste Spur einer Ausradirung wäre, würde
mich dieses nicht sehr des Betrugs verdächtig machen? Des
Herrn R. Königs Appel au Public habe ich mit grosser Freude
gelesen, auch gehörigen Orts eine Recension eingeschickt. Kaum
hatte Hr. Euler diesen Appel gelesen, so hatte er gleich in
12 Stunden darauf (in der ersten Hitze!) die Antwort fertig,
welche auch schon fast gedruckt ist. Sie ist in Form eines
Briefes an den jeune auteur de la piöce singuli^re: Gogito, ergo sum.
Ich habe alles dem Hm. Pr. König schon vor 8 Tagen selbst
berichtet, welcher mir letztlich durch den Ganal des holländischen
Gesandten ein Gompliment machen Hess ; welches ich für ein gut
Zeichen halte. Ich habe ihn in meinem Briefe zugleich um Vor-
sprache bei der Prinzessin Gouvernantin gebethen. Seine in
London zu druckende Schrift wird grausam Lärmen machen.
Mit Hrn. Euler bin ich (wie Ew. Hochwohlgeb. werden gesehen
haben) ordentlich in den Zeitungen in Streit gerathen. Mit dem
Verklagen hat es keine Noth. Ich habe deswegen hinlängliche
Nachricht aus Hamburg eingezogen. In Erwartung hochgeneigter
Antwort habe ich die Ehre mit grösstem Respect zu seyn
Ew. Hochwohlgeb.
Berlin, den 26. September 1752. gehorsamster Diener
Ghristlob Mylius.
Mit der Erklärung der Einzelheiten will ich mich und
die Leser nicht lange aufhalten; es wäre überflüssig, über
alle in dem Schreiben erwähnten Hofleute und Fürstlich-
keiten biographische Daten zu bringen. Nur kurz seien
daher die Personen hervorgehoben, an die sich ein litterari-
sches Interesse knüpft. Über Bolzius in Georgien weiss
ich nichts zu sagen. Prof. Spielmann ist wohl der Strass-
burger Mediziner (1722—1783), dessen auch Goethe als seines
Lehrers in Strassburg gedenkt (Dichtung und Wahrheit
9. Buch). Ueber Cuno s. AUg. deutsche Biographie 4,
642 f.; das Gartengedicht ist die 1749 erschienene ^Ode
an seinen Garten'. Denso ist Naturforscher (vgl. Allg.
Deutsche Biographie 5, 57 f.) und als solcher wohl mit
Mylius bekannt. Die * gedruckten Zettel', die gegen Ende
des Briefes erwähnt werden, sind wohl Subscriptionsauffor'
372 Geiger, Ein Brief von Chr. Mylius an Haller.
deruDgen , die Haller an die Grossen und Vermögenden
richtete. Die Konig- Eulersche Angelegenheit verdient,
weil ja auch Voltaire hineinverwickelt wurde und weil
sie eine damals sehr berühmte Streitsache war, eine kurze
Beleuchtung.^) Sam. König (1712—1757) hatte durch seine
in den Leipziger Acta eruditorum 1751 veröffentlichte ^Disser-
tatio de universali principio aequilibrii et motus' viel Staub
aufgewirbelt; besonders Maupertuis aufgestachelt, der die
von König als Leibnizsche Gedanken angeführten Gesetze
(das Gesetz de la moindre quantite d'action) selbst entdeckt
zu haben glaubte. Er, als Präsident der Berliner Akademie,
hatte diese gelehrte Körperschaft für sich und hatte nicht
blos erwirkt, dass die Akademie selbst sich in seinem
Interesse erklärte, sondern dass eines der bedeutendsten
Mitglieder derselben Leonh. Euler eine 'Dissertatio de prin*
cipio minimae actionis una cum examine objectionum
Koenigii' (Berlin 1752) schrieb und dazu beitrug, dass jene
Leibnizschen Briefe, aus denen König ein Plagiat seitens
Maupertuis erwiesen zu haben meinte, als gefälscht erklärt
wurden.
Wo der litterarische Streit zwischen Euler und Mylius
ausgefochten ist, vermag ich nicht nachzuweisen. In den
beiden damaligen Berliner 'Zeitungen^ der Vossischen und
der Spenerschen jedenfalls nicht. Die Spenersche Zeitung
steht durchaus auf Seiten Maupertuis'. Am 10. Juni lobt
sie sehr seine ^Lettre sur le progr&s des sciences' als Zeug-
nisB seiner Menschenliebe und tiefen Einsichten ; am 11. Juli
zeigt sie das gegen König gerichtete ' Jugement de Tacademie
royale' an, das den von König vorgebrachten Brief Leib-
nizens für falsch erklärt, in einer Weise, die erkennen lässt,
dass die Zeitung Maupertuis für den siegreichen hält.
Übrigens wird auch Mylius gelegentlich gelobt. Bei der
Anzeige (29. April) von 'H. E. v. Spilckers Übersetzung
der Satyren des Prinzen von Cantemir' wird von der Vor-
rede ^des gelehrten Herrn Mylii' gesagt, ^sie enthält unver-
gleichliche Recepte wider die hässlichen Vorurtheile'. —
*) König stand auch mit Haller in Verbindung, vgl. Hirzel
S.CCXLff. und S. 133. 358.
Harnack, Ans dem Nachlasse H. Meyers. 373
Die YosBische Zeitung steht Mylius näher, bringt z. B. ge-
naue Inhaltsverzeichnisse der einzelnen Hefte der 'Physi-
kalischen Belustigungen', enthält aber nichts von dem im
Briefe erwähnten Streit.
Berlin. Ludwig Qeiger.
T^otizen aus dem Naehlasse Heinrich Meyers.
Die nachfolgenden Notizen sind mir bei einer leider
nur flüchtigen Durchsicht des auf der Weimarer Bibliothek
befindlichen Nachlasses von Qoethes langjährigem Kunst-
freunde Meyer aufgestossen und sollen dazu beitragen, die
Autorschaft der vielfach noch zweifelhaften Aufsätze der
W. K. F. festzustellen.« Wenn ich dabei die jüngst er-
schienene Arbeit Paul Weizsäckers zu ergänzen, hin und
wieder auch zu berichtigen hoffe, so liegt dem nicht die
Absicht kleinlicher Kritik, sondern der Wunsch nach ge-
deihlicher Fortarbeit auf dem von ihm eingeschlagenen
Wege zu Grunde. Ich gebe in Folgendem nur eine Ma-
terialsammlung und verweise im Übrigen auf meinen im
Novemberheft der Treussischen Jahrbücher' abgedruckten
Aufsatz: 'Goethe und Heinrich Meyer'.
1. Der 1794 erschienene Aufsatz Meyers 'Über ein
altes Gefass von gebrannter Erde etc.' (Weizsäcker, Deut-
sche Litteraturdenkmale 25 Nr. 8) zeigt in seinem Manu-
script eigenhändige Correcturen Goethes.
2. Die im dritten Bande der 'Propyläen' erschienenen
Aufsätze 'Neue Art die Malerei zu lehren', 'Versöhnung
der Bömer und Sabiner', 'Der hülflose Blinde' sind nicht
von Meyer, sondern von Wilhelm Humboldt , wie auch
Weizsäcker vermuthet ; doch sind die beiden letztgenannten
Aufsätze überarbeitet worden , sowie dem ersten und
zweiten eine Einleitung hinzugefügt (vgl. Goethes Brief-
wechsel mit den Gebrüdern von Humboldt S. 117 — 118.
120-122. 126-130).
3. Von der Meyer vermuthungsweise zugeschriebenen
Recension über das 'Leipziger Mode>Magazin', sowie
374 Hamack, Aus dem Nachlasse H. Meyers.
4. Über 'Hempel, Abbildung und Beschreibung der
Völkerstämme' u. s. w. (beide in der Jenaischen Allgemeinen
Litteraturzeitung 1804) finden sich die Originalmanuscripte
Meyers im Nachlass.
5. Separatabdrücke, sowie Reinschriften von Schreiber-
hand liegen Ton vielen in der Litteraturzeitung erschienenen
Aufsätzen in Meyers Nachlass ; jedoch auch von solchen,
welche unzweifelhaft Goethe zum Verfasser haben.
6. Die Vermuthung Weizsäckers, dass von den Auf-
sätzen des Frogrammes zur Jenaischen Litteraturzeitung
1808 die sechs ersten von Meyer, der siebente von Goethe
herrühren, wird durch Briefe Goethes an Meyer vom 11.
und 14. December 1807 bestätigt.
7. Die ausführliche Recension 'Albrecht Dürers christ-
lich mythologische Handzeichnungen' in der Litteratur-
zeitung von 1808 und 1809, welche Strehlke in Goethes
Werke aufgenommen hat und an welcher auch Weizsäcker
Meyer nur einen unbedeutenden Antheil zuschreiben will,
gehört fast ganz diesem an, wie das Originalmanuscript
von seiner Hand erweist. Dasselbe unterscheidet sich von
dem Abdrucke , der jedenfalls Goethes Redaction erfahren
hat, nur in folgender Weise: Nachdem es bis zu den
Worten 'Eunstzügen des Schreibemeisters' (Hempel 28, 820)
übereingestimmt , folgen einige Zwischenbemerkungen.
Daran schliesst sich die Beschreibung der einzelnen Zeich-
nungen, die erst im nächsten Jahre in der Litteraturzeitung
abgedruckt wurde (Hempel S. 826—831). Dann folgt nach
einer abermaligen Zwischenbemerkung die Charakteristik
der Zeichnungen nach ihren Haupteigenschaften, jedoch in
einer anderen Reihenfolge als sie später im Druck beob-
achtet worden (Hempel 8. 820—824), nämlich: Hohes und
Würdiges, Edles und Zartes, Humoristisches, Allegorisch-
Bedeutendes, Naives, Malerische Freiheit, Zieraten, Christ-
liches, Künstlerische Behandlung. Die Abschnitte: Humori-
stisches und Naives unterscheiden sich von der gedruckten
Fassung, und der Abschnitt: 'Malerische Freiheit' enthält
einige Sätze, die nicht abgedruckt wurden. Endlich lässt
in dem letzten Theile: 'Anderweitige Betrachtungen und
Harnack, Aus dem Nachlasse H. Meyers. 375
Schlu88' das Manuscript einige Sätze des Abdruckes ver-
missen.
8. Bafaels Gemälde in Spanien (Programm der Je-
naer Litteraturzeitung von 1809) ist in der That, wie auch
Weizsäcker in dieser Zeijtschrift 2, 600 vermuthet hat, von
Karoline von Humboldt. Schon 1799 schrieb Humboldt an
Goethe (Briefwechsel S. 147): ^Meine Frau macht sich ein
eigenes Geschäft daraus, (die Gemälde) .... zu beschreiben ;
sie bestimmt diese Arbeit Ihnen'. Goethe theilte dieses
Manuscript Meyer mit; vgl. den Brief des letzteren vom
22. Januar 1807: ^In diesen Tagen habe ich zuerst die
Geschichte der Malerei in Spanien von Fiorillo gelesen, wo-
raus sich recht viel zum besseren Verstehen des Manu-
scripts der Frau von Humboldt lernen lässt\
9. Die Recension in der Allg. Litteraturzeitung vom
19. December 1809 über ^ Handzeichnungen berühmter
Meister aus dem königlich baierischen Eunstkabinette \
welche Strehlke in Goethes Werke aufgenommen hat, ist,
wie schon Weizsäcker vermuthet, von Meyer. In einem
Briefe vom 5. September 1809 bittet Goethe ihn, die be-
treffende Recension abzufassen. .
10. Dass Meyer den Aufsatz ^Uber die Bronze-Pferde
von Venedig' (Journal für Litteratur, Kunst, Luxus und
Mode 1817) verfasst hat, wird wahrscheinlich durch eine
Aufzeichnung: ^Vergleich zwischen einem venetianischen
und einem Pferdekopf vom Parthenon'.
11. Zu dem Aufsatze in ^Eunst und Alterth'um' I 3,
113 — 188 'Abendmahl von Leonardo da Vinci' (Hempel 28,
502 — 530), der unbestritten für ein ausschliessliches Werk
Goethes gilt, findet sieh ein flüchtiges Bleistiftconcept von
Meyers Hand auf vier Quartseiten, welches hauptsächlich
die Gedanken des dritten Abschnittes ^Das Abendmahl'
skizzirt und in manchem abweichend, in anderem auch
wörtlich übereinstimmt. Bei dem grossen Interesse und
der hohen Wichtigkeit, welche die Bestimmung des Ver-
hältnisses dieser Skizze zu Goethes Aufsatze beansprucht,
glaube ich sie wörtlich (mit Auflösung der Eürzungen) hier
mittheilen zu dürfen.
376 Harnack, Aus dem Nachlasse H. Meyers.
Abendmahl von Leonardo.
Meister mit Jüngern
göttlicher Meister weil ältere dem jQngern sich offenbar Sub-
ordiniren.
Ruhigster Zustand — Gastmahl.
unterbrochene Ruhe Gastmahl mit leidenschaftlicher Bewegung
Der Meister hat einen wichtigen gefährlichen Punkt ge-
äussert; der ihm und der Societät den Umsturz droht — Einer
unter euch
Das Wort hat gewirkt Er wiederholt's durch Mienen — ja
es ist nicht anders Amen.
Er sitzt in der Mitte mit dieser hohen Resignation. Dj XII
zu beyden Seiten je 3 und 3
Motive der 4 Gruppen
I. links zu der er spricht
passive Theilnahme
1. Thomas Zweifel ablehnend mit einer Art von Jüdischer Cari-
katur — was soll mir das! was sagt der Herr
2. . . . Hippochondrische Zustimmung mit aufgehobenem Finger
Ich habe Dir's lange gesagt dass Du zu zutraulich
bist.
3. Jugendliche Figur. Hände nach der Brust gerichtet. Gut-
mülhig. Egoistische Verlegenheit. Auf mich ist's nicht
gesagt. Ich bin's gewiss nicht.
II. Gruppe Recht's
Active Theilnahme
1. Johannes Pendant zu Christus. Nach der rechten gebogen
in sich versenkt traurig zärtlich resignirt.
2. Petrus. Hinter Judas her dem Johannes dj Schulter be-
rührend mit der linken — Forsche wer es sey In der
rechten hält er das Messer um die Exekution wj nachher
mit Malchus kurz und gut abzuthun.
3. Judas zwischen beyden fahrt in den Tisch herein wj Einer
der Platz macht — Er hat das Salzfass umgestossen In der
Rechten hält er den Beutel mit fester Faust dj Linke macht
eine verlegene Bewegung.
III. Gruppe Links am Ende des Tisches
Rath
1. Ein junger lebhafter Mann deutet mit beyden Händen gegen
Christus als wollt er sagen so gehts dem trefflichen
Manne
2. Hinter Ihm Ein Alter schlägt von oben herab mit der um-
gewendeten Hand in dj Flache und betheuert verdriesslich
So habe es gehen müssen
3. Edle ruhig sitzende Figur mit vor sich hingehaltenen Händen
— Was wäre nun zu thun
Harnack, Aus dem Nachlasse H. Meyers. 377
III. Gruppe Rechts am Ende des Tisches
leere Theilnahme
1. Reine Verwimdrung und Aprähension.
2. lehnt sich über den vorhergehenden weg um durch den
fragenden Petrus an Johannes zu fragen Wer gemeint sey
3. am Ende des Tisches dunkler Neugieriger Horchend und
lauernd . hat sich aufgerichtet und biegt sich auf die Hände
gestützt über den Tisch hin.
[Strich]
Zu betrachten im Allgemeinen
1. Dj Motive als Charakteristisch bezüglich auf dj einzelnen
Personen Sittlich leidenschaftlich
2. Gebärdensprache. Händesprache.
3. Im Kunstbezug als künstl[erische] Anordnung.
Betrachtung.
1 Tafel 2 Speisen 3 Tischtuch Tisch ftisse und Füsse der
Personen beygebracht ist.
Lokal Bestimmung als 4** Seite der Refeclorien wo die Tische
sich fortsetzen.
Zustand des Bildes A. 1797.
Zeichnung durch wen und Ausführung einer alten Copie.
12. Eine Reihe von Manuscripten findet sich im Nach-
lasse, welche in Zeitschriften abgedruckt sind, die Weiz-
säcker in seinem Verzeichniss der Meyerschen Schriften
unberücksichtigt gelassen hat:
a) in 'Wiener Jahrbücher für Litteratur' 1818—1849. Die
Aufsätze sind zum Theil umfangreich, so z. B. die
Anzeige der ^Annali delFinstituto di corrispondenza
archeologica per Tanno 1829' und des Bulletins des-
selben Instituts.
b) in Boettiger, Amalthea oder Museum der Kunstmytho-
logie, Leipzig 1820—1825.
13. In dem Briefe Goethes an Meyer vom 16. No-
vember 1795 (Riemer, Briefe von und an Qoethe S. 18
Z. 16) ist nach dem Original statt ^Benannten' zu lesen
^Bramanten'.
Berlin. Otto Harnack.
Vierteljahrschrift fdi Litteratargeschichte III 25
378 Suphan, Ein Brief von Bückert an Goethe.
Ein ongedruekter Brief Ton Friedricli Mekert
an Goethe.
Das Wenige, was über persönliche Beziehungen Rückerts
zu Goethe zu sagen ist, habe ich in meinem Vortrage an
Rückerts hundertjährigem Geburtstage 8. 7 ff. zur Sprache
gebracht und bei diesem Anlass den Dedicationsbrief des
Dichters zu den 'Ostlichen Rosen' veröffentlicht.^) Es ist
dies nicht , wie dort gesagt ward , der einzige , den das
Goethe- und Schiller- Archiv verwahrt. Bei der Durchsicht
Goethischer Briefconcepte hat sich noch ein zweiter ge-
funden, ein Begleitwort zu einer älteren Widmung.
Höchstzuverehrender Herr Geheimeralh!
Von äussern Umständen beschränkt, musste ich bisher das
Glück mir versagen, £w. Excellenz persönlich aufzuwarten, da
mein Vorsatz, auf hiesiger Lehranstalt die Laufbahn eines aka-
demischen Lehrers als Privatdocent zu beginnen, mir ein Recht
und eine Pflicht zu geben scheint, Ew. Excellenz meine ehr-
furchtsvollste Huldigung darzubringen. Ich wage es also, das
erste Product meines wissenschaftlichen Strebens, so sehr auch
seine wohlerkannte Unbedeutendheit mich zurückschrecken mag,
Ew. Excellenz als ein Opfer meiner tiefsten Verehrung zu weihen,
bittend, dass Höchstdieselben die jugendliche Mangelhaftigkeit mit
gnädiger Schonung aufnehmen, nicht besorgend, dass Ew. Ex-
cellenz allumfassender Blick das etwa neue Streben desselben
wegen seiner Neuheit unbedingt verdammen werden. Zugleich
bitte ich Ew. Excellenz demüthig um Verzeihung wegen einer
poötischen Unbesonnenheit, von der ich allerdings fCirchten muss,
dass, wenngleich nunmehr vergessen, doch mein Name sie Höchst-
denselben ins Gedächtniss zurückrufen werde. Ich bin in tiefster
Prosa
Ew. Exceilenz
Jena den 9. Mai 1811 unterthäniger Verehrer und Diener
Fr. Rückert.
Das Product, welches Rückert dem Meister mit diesem
Schreiben darbietet, ist seine ^Dissertatio philologico-philo-
sophica de idea philologiae\ über die er am 30. März
*) Friedrich Rückert. Vortrag gehalten in Weimar am 16. Mai
4888. Weimar, Böblaa 1888 S. 32.
Suphan, Ein Brief von Bückert an Goethe. 379
Öffentlich disputirt hatte. Ein merkwürdiges Schriftchen,
von dessen Inhalt und Tendenz man sich hinlänglich aus
den Proben und Auszügen unterrichten kann, die C. Beyer
in sein ^Biographisches Denkmal^ Rückerts (Frankfurt a. M.
1868) 8. 41 — 50 aufgenommen hat. Der speculativ- poeti-
sche Charakter des Verfassers ist diesem ersten wissen-
schaftlichen Versuch deutlich aufgeprägt. Die weitsinnige
Fassung des Begriffs der Sprachwissenschaft, im Zusammen-
hang mit ihr der Ausblick auf eine Weltpoesie, die Wür-
digung des Deutschen als des geeignetsten Organs für eine
solche, dies und manches andere war wohl dazu angethan,
Goethes Interesse für den Verfasser zu wecken. Gleich-
wohl, scheint es, ist das Schreiben unerwidert geblieben,
und so bleibt es sogar fraglich, ob Goethe das Büchlein in
Betracht gezogen hat. Erklären lässt sich dies (wenn nicht
das schon Erklärung genug ist, dass es manchem Brief-
und Widmungs - Schreiber ebenso ergangen) daraus, dass
die Sendung zu ungünstiger Zeit kam. Goethe trat schon
am 12. Mai die Reise nach Böhmen an. Vielleicht auch
war etwas Persönliches im Spiele. Der demuthsvolle De-
dicant (und Goethe gegenüber war er aus innigster Über-
zeugung demüthig) war auf dem Katheder keck genug auf-
getreten. Er war bei der Disputation dem alten Eichstädt
über den Mund gefahren, hatte vor dem alten philologi-
schen Grundbesitz überhaupt wenig Respect bewiesen.
Sollte nicht hiervon etwas nach Weimar gedrungen sein?
Goethe konnte den Geruch der Arroganz nicht ausstehen,
zumal bei Jüngeren. Und kam es auf Mittelspersonen an,
so war der junge Docent jedenfalls übel empfohlen. Den
Fall gesetzt, Riemer hätte über die 4dea philologiae' dieses
Neologen das Wort gehabt, so würde das ungefähr so ge-
lautet haben, wie das Urtheil des ihm nahe stehenden
Franz Passow, der die Dissertation rundweg für das Opus
eines Narren erklärte.
Schon ein Mal hatte sich Rückert, wie wir nun er-
fahren, vergeblich bemüht, Goethes Aufmerksamkeit auf
sich zu lenken. Die Worte, mit denen er im Frühjahr
1811 verschämt daran erinnert, besagen, dass das nicht
unlängst, sondern vor Jahr und Tag geschehen war. Er*
380 Philippsthal, Maitre Jacques.
hat ein Qedicht übersandt, jedenfalls doch in der Hand-
ßchrift. Welches? wird sich schwerlich ermitteln lassen.
So hat er denn wiederholt umsonst um die Gunst des
Meisters geworben. Und nach Goethes Tode durfte er sich
in der That das Zeugniss ausstellen, dass er sonder 'Eigen-
nutz^ sein Anhänger und Herold gewesen sei und bleibe.
'Hat er mich gelobt, genannt? Mich gehoben, anerkannt?^
Das Wort, das Goethe öffentlich den 'Östlichen Rosen' ge-
gönnt hatte, war ja eine Anerkennung, aber eine spärlich,
ja kärglich zugemessene.
Weimar. Bernhard Suphan.
Maitre Jacques.
In demselben Sinne wie Goethe — vgl. Vierteljahr-
schrift f. Litteraturgesch. 1, 286 f. — den Ausdruck Mattre
Jacques gebraucht, verwendet ihn bereits Helfrich Peter
Sturz in dem ^Brief über das deutsche Theater', den er
seinem Trauerspiel 'Julie' beigegeben hat. Die Stelle
lautet: ^Unsere Schauspieler werden sich nie der YoII-
kommenheit nähern, wenn man sie wie Maitre Jacques zu
allen Verrichtungen braucht, und denn tragische, denn
comische Rollen von ihnen fordert' (Schriften von H. P.
Sturz. 2. Samml. Carlsruhe, Schmieder 1784 S. 2t 1).
Vermuthlich ist der Ausdruck aus derselben oder aus frü-
herer Zeit noch öfter zu belegen, da er im Französischen
in vertraulicher Rede üblich war und noch ist. Auch
Littr6, Dictionnaire, und Sachs-Villatte, Wörterbuch, geben
als Quelle der Redensart Moli^res Avare an. Die Phrase
ist also keine private Liebhaberei Goethes.
Hannover. Robert Philippsthal.
Hauffen, Fischarts Enlenspiegel. 38t
Flscharts ^Enlenspiegel Beimensweiss%
Fischart erscheint in seiner Bearbeitung des Volks-
buches vom Eulenspiegel, wie ich bereits an einer anderen
Stelle nachzuweisen versucht habe/) insoferne von Scheidts
^Qrobianus' abhängig, als er hier im Gegensatze zur ein-
fachen, objectiven Darstellungsweise des Volksbuches mit
stark hervortretender Subjectivität sich seinem Helden wie
ein Lehrmeister seinem Schüler und Schützling gegenüber
stellt. Er ermahnt und belehrt Till Eulenspiegel, rühmt
oder tadelt dessen Thaten, begründet oder entschuldigt gar
zu grobe Streiche, nimmt regen Antheil an dessen Charakter-
entwicklung und innerem Leben, schildert seine Angst und
seine Freuden, seine Pläne und Absichten, versucht Erklä-
rungen für seinen häufigen Berufswechsel und verwandelt
den Schalksnarren, indem er den ihm angebornen Zug
eigennütziger Genusssucht bedeutend verstärkt, zum echten
Grobianer um.
Doch damit ist die Beurtheilung der freien Bearbeitung
Fischarts bei weitem noch nicht erschöpft. Fischart hat
seinen gereimten *Eulenspiegel' zu einem ganz neuen Werk
umgeschaffen und weit mehr aus der Vorlage gemacht, als
er von Scheidt allein hätte lernen können. Auf dem enger
umgrenzten Felde der grobianisch-satirischen Litteratur hat
ihn Scheidt sicher kräftig gefördert und vielleicht auch der
lehrhaften Tendenz seiner Satire die Richtschnur gegeben,
aber dem genialen, weitausblickenden Geist des Schülers
konnte er nicht als einziger Lehrer genügen. Fischart hat
vielmehr schon sehr früh seine angebornen reichen Talente
in der Schule des Lebens zur Reife gebracht, er hat bereits
vor der Abfassung seines Eulenspiegels weite Reisen unter-
nommen und Universitäten besucht, viel gesehen und be-
obachtet, gelesen und studirt und seine eigenen Fähigkeiten
') Caspar Scheidt (Quellen und Forschungen 66) Strassburg 1889
S. 113—120. Hier auch über divs Bibliographische und das Abfassungs-
jahr des Enlenspiegel.
VierteUahnchrift fOr littaratuveschichte m 26
l
382 HaufFen, Fischarts Eulenspiegel.
durch Nachahmung grosser Vorbilder gefördert, darum er-
weist er bereits in diesem Jugendwerke eine schier erstaun-
liche Kenntniss der Geschichte und Eigenart des deutschen
Volkes, einen scharfen Blick und ein tiefes Urtheil in der
Beobachtung der politischen und kirchlichen Streitigkeiten
und der gesellschaftlichen Misstände der Zeit.
Der Eulenspiegel ist Fischarts erste Umarbeitung einer
fremden Quelle; aber er hält sich hier noch enger an die
Vorlage, er wollte 'keinen eingriff in die Ordnung' der
Schwanke thun, er hat diese nur 'gereutert, gereimpt vnd
explicirt' und noch nicht wie später den Gargantua 'inn einen
newen Model vergossen'. Doch in Einzelheiten ändert er
Form und Inhalt ab. Er belebt den Ausdruck, er sorgt
für drastische Vergleiche und würzt den Vortrag mit einer
Fülle volksthümlicher Redensarten; er überbietet sich in
neuen Wortbildungen, kühnen Sprach Verrenkungen und
Reimspielen, er schaltet völlig selbständig in seinen umfang-
reichen Zusätzen, die er nicht nur ^an wenig verführerischen
Stellen'^) sondern in jedem Kapitel zu wiederholten Malen
anbringt. Er führt jede Andeutung der Vorlage weiter aus,
erfindet neue Züge der Handlung und Motivirung, unter-
drückt auch derbe Cynismen nicht, wo sie die Situation
heraufbeschwört, und trifft mit seinen witzigen Anspielungen
allemal ins Schwarze. Der frohe Ubermuth seines frei
herrschenden, echten Humors, die reichen Bezüge auf
Heimat und Gegenwart bilden klar erkennbar eine Vorstufe
zur 'Geschichtklitterung'.
Fischart kehrt im Eulenspiegel wieder einen sehr anti-
katholischen Standpunkt hervor, aber seine grosse satirische
Kraft, die er in seinen ersten Schriften gegen die Geistlich-
keit übt, bewährt er nun im Kampfe gegen die Schälke
und Narren aller Stände, gegen Fürsten und Gelehrte,
Richter und Kaufleute^ Advocaten und Handwerker. Dies
war auch der Hauptzweck seiner Bearbeitung. Er wollte
damit nicht die Unterhaltungslitteratur seiner Zeit ver-
mehren, sondern benutzte die Schwanke als Mittel. Und
wie er später im ^Flöhfaatz' in einer tollen Einkleidung das
') Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung 3*, 200.
Hauffen, Fischarts Eulenspiegel. 3g3
Überheben, die Unzufriedenheit mit dem eigenen Stande
geisselt, so hat er sich bestrebt bei den Eulenspiegeleien,
*allerley zu errathen' was des ersten Verfassers ^bedeneken,
vorhaben vnd endt in Moraliteten vnd sittlichen Lehren
gewesen seye' und hat darnach 'Morische, Thorische, Eulen -
spieglische Moraliteten, wie es sich geschickt genug ge-
stellet'.»)
Da Till Eulenspiegel den ganzen Kreis damaliger
Thätigkeit durchprobirte und an den verschiedensten Orten
seine Possen trieb, so bot das Volksbuch den satirisch-lehr-
haften Absichten Fischarts die beste Handhabe dar.
Fischart folgte dem Volksbuche nach der Erfurter Aus-
gabe vom Jahre 1532. Er lässt die 97. Historie 'Von Eulon-
spiegels angeblicher Ehefrau' weg, zieht einige Male je
zwei Historien zu einem ^Kapitel' zusammen und ändert
hie und da die Reihenfolge ab.^) Historien, die ihn inhaltlich
nicht weiter interessiren, weil er durch sie nicht eine lehr-
hafte oder satirische Tendenz aussprechen kann, schweisst
er ohne nennenswerthe Änderungen einfach in Verse um,
so z. B. Nr. 16: 'Eulenspiegel und das kranke Kind zu
Peyne'. Seine Kapitelüberschriften sind fast ausnahmslos
den Titeln der Historien in der Vorlage gleichlautend, ja
auch an den Wortlaut der fortlaufenden Erzählung hält
sich Fischart dort, wo ihm keine neue Bemerkung oder
Abänderung nothwendig erschien, so genau, als es ihm
nur Vers und Reim gestatteten; so z. B. Erfurter Text,
Historie 69 'Got grüss euch herr vnd ewer haussgesind
*) Vorrede zum Eulenspiegel bei Wackernagel, Fischart von Strass-
burg S. 144.
♦) Lappenberg, Mumera Ulenspiegel, Leipzig 1854 gibt S. 187
eine Nebeneinanderstellung der Kapitel Fischarts und der Historien
des Volksbuchs. Die Erfurter Vorlage schreibt immer Vlenspiegel,
Fischart hingegen Eulenspiegel. Die Holzschnitte zu den einzelnen
Kapiteln sind oifenbar Nachahmungen derjenigen in der Vorlage, nur
im Detail besser ausgeführt; stammen sie ja doch aus dem Verlage
Feyerabends und Jobins. Zu jenen Kapiteln, die in der Vorlage ohne
Bild sind, wiederholte Fischai-ts Verleger einfach eines von den früher
verwendeten Bildern, ohne Rücksicht ob es zum Texte passt oder
nicht, also ähnlich wie die älteste (Strassburger) Ausgabe des Volks-
buches (vgl. Braune's Neudrucke 55. 56 S. IV).
26*
384 Hauffen, Fischarts Eulenspiegel.
vnd alle die ich ynn diesem reinhauss find\ Fischart
Bl. 205»:
Gott grfiss euch Herr vnd Gsindt
Vnd all die ich im Reinhauss iindt.
Oder Erfurter Historie 38: 'ein klein seuberlich wacker pferd'
Fischart: 'ein klein sauber wacker Pferdt'. Endlich Erfurt.
Hist. 29: 'stirbet der Rector so bin ich frey, stirb dann ich,
wer wil mich manen, stirbt dann mein diszipel, so bin ich
aber ledig'. Fischart 83^:
Stirbt der Rector, so bin ich frey
Vnd stirb dann ich, wer wil mich manen?
Stirbt mein diszipel dann von dannen
— — bin ich gantz ledig.
Im übrigen aber weiss Fischart in seiner Bearbeitung
den Ausdruck mannigfaltiger, den Vortrag lebendiger zu
gestalten; er huldigt der Vorliebe seines Jahrhunderts für
gepaarte Ausdrücke z. B. Volksbuch: 'vngeheissen\ Fischart
j49b. 'vngeheissen vnd vnbefohlen' ; Volksbuch: 'gut meister',
Fischart 4^: 'Gauckler vnd Spiegelfechter'; Volksbuch:
'sprach', Fischart 109 •: 'schalt vnd flucht'. Er liebt die
Zusammenstellung von drei und mehr Gliedern und zeigt
schon hier die Ansätze zu seinem später so übermässig
hervortretenden Stilprincip der Häufung: Das Erfurter
Volksbuch erzählt, dass beide Narren AiFenspiel trieben,
krumme Mäuler machten u. s.w. Fischart 67^ fügt hinzu:
'narrentheiding , gaucklen , springen , zanplecken , lachen,
schreyen, Zung aussstrecken'; oder Volksbuch: 'von dem
heubt Brandonis', Fischart 90*:
Predigt von Roche, Grillo, Lande
F&rnemlich von eim der hiess Brande.
Bilder und Vergleiche hat Fischart immer zur Hand,
gern entnimmt er sie der Thierwelt, 4* 'wie ein aussgelassen
Pferdt', 108*» 'wie ein Hund, der grass bekompt', 223 ** 'ein
stachlechter gsträubter Igel', 224^ 'ein Fledermauss' ; häufig
sind sie derb, immer anschaulich: 143* (vor Schreck sahen
sie aus) 'wie die gelbe Bieren'; 153^ (Eulenspiegel kroch
unter den Fellen hervor) 'wie der Teufi^el auss der Hellen';
10** (Schuhe flogen im Streit hin und wieder) 'wie die
Schifflein auff dem Meer'.
Hauffen, Fischarts Eulenspiegel. 385
Mit Yollen Händen aber schöpft Fischart für seine
Bearbeitung aus dem reichen Schatze volksthümlicher
Redensarten und Sprichwörter, die er bereits in früher Zeit
in erstaunlichem Grade beherrscht. Yor allem liebt er, ab-
weichend Yon der Vorlage, mit einem Sprichwort das Ka-
pitel zu eröffnen und diesem dadurch einen Stempel auf-
zudrücken, der den Inhalt der folgenden Erzählung andeutet.
Ein besonders anschauliches Beispiel hiefür ist der Anfang
des 67. Kapitels (Volksbuch Hist. 70, Fischart Bl. 207<>):
Dieweil wir bey der Milch nun sein
So fehlt mir jetzt ein Sprichwort ein.
Man sagt, man macht auss Sfissmilch
Ein Sawrmilch vnd auss warmer kalt,
Das ist auss leid trawrigkeit
Dess wil ich geben hie bcscheidt. '
In ähnlicher Weise schliesst er andrerseits häufig ein
Kapitel mit einem Sprichwort, das die Moral der Historie
kurz und bündig darthun soll. So Kap. 84 (Bl. 254*): ^Wer
schälcken glaubt, ist krank im Haupt^ oder Kap. 47 (Bl. 143^):
^Wer sich an schalck vnd Meelsack reibt. Das Meel ge-
wisslieh an jm bleibt\ Diese bekannte Wahrheit, welche
eigentlich als Grundlehre aller Eulenspiegeleien betrachtet
werden kann, setzt Fischart in den mannigfaltigsten Wen-
dungen an den Schluss vieler Kapitel. Und wo ihm nicht
gleich ein Sprichwort in die Feder fliesst, da füllt er dessen
Stelle doch durch eine abschliessende, zusammenfassende
Wendung aus.
An vielen Stellen häuft er in langer Reihe Sprichwort
auf Sprichwort. Eine stilistische Eigenthümlichkeit, die er
später besonders im 'Gargantua' auf die Spitze getrieben
hat, und die wir im 16. Jahrhundert auch sonst öfters finden,
etwa im Volksbuch vom Doctor Faust, oder, um ein fremd-
ländisches Beispiel der Zeit zu nennen, in den Reden
Sancho Pansas. Eulenspiegel ruft bei Fischart dem ruhm-
redigen Wirth, der vor einem todten Wolf erschrak, zu:
Kap. 75 (Bl. 231% vgl. Volksbuch Hist. 78):
Aber verba sunt ist Gerbers Hund,
Mit Worten gsundt, in wercken wundt
386 Hauffen, Fischarts Eulenspiegel.
Hoch wort on werck vnd keck on sterk
Den setzt man kein Triumphgemerck
Es seind Kuhschellen on die K6h u. s. w.
Auf jedem Blatt des gereimten Eulenspiegel finden
wir mehr, als ein Beispiel dafür, dass Fischart die Darstel-
lung der Vorlage jeden Augenblick durch eine Kedensart
oder einen Spruch unterbricht, der den Kern des Erzählten
genau bezeichnet, ja oft dem besondern Gewerbe entnommen
ist, von welchem in dem betreffenden Kapitel gerade die Rede
ist. Er setzt häufig an Stelle des Sprichworts der Vorlage
ein neues, das ihm besser taugt, und erfindet während des
Niederschreibens manches schöne geflügelte Wort. Volks-
thümliche Betheuerungen und Schwüre, kräftige Flüche und
saftige Schimpfnamen verstreut er besonders reichlich in
die Reden der auftretenden Personen. Auch ergreift er
jede günstige Gelegenheit, statt der einfachen Andeutung
in der Vorlage die Gespräche oder den Gedankengang der
handelnden Personen in breiter, derbkomischcr Ausführung
dem Wortlaut nach vorzutragen. Wenn z. B. das Volks-
buch 7. Historie kurz berichtet, der Bauer habe die Kinder
durch Schläge gezwungen, übers Mass zu essen, so sagt
dafür Fischart Bl. 18»:
So wolt er mit der Gerten sie
Die Rfiben lehren essen hie
Vnd trulz keiner von dannen gang
Dass ich jn nit hesslich empfang
Verwendt nur keiner nit den fuss
Ich wiJ euch gsegnen hie das muss
Dass jr ein weil dran dencken werdt
Vnd darnach sein nit mehr begert
Es wird heissen auff dieser kirb
Sech zu Vogel, friss oder stirb.
Ähnlich an zahllosen anderen Stellen. Doch wie Fischart
seinen Helden und die übrigen Figuren der Schwanke laut
denken lasst, so verschweigt er auch nicht, was ihm selbst
bei jedem einzelnen dargestellten Vorgang einfällt. Der
Schalk sitzt ihm jeder. Zeit im Nacken und er verläugnet
seine Gesellschaft nicht. Sein Muthwillen bricht an ernsten
und heiteren Stellen durch und sprudelt über in witzigen
Anspielungen, boshaften Bemerkungen und humoristisehea
Hauffen, FischarU Enlenspiegel. 387
Wendungen. Wenn z. B. die Vorlage den Vater Eulen-
spiegels nennt, so fügt Fischart hinzu P:
Wie alt das gschlecht sey niemandt weiss
On zweiffel auss dem Paradeiss.
Im Volksbuch 36. Historie lässt Eulenspiegel dem
Bauernweibe den Hahn zum Pfand und nimmt die Hennen
mit, bei Fischart 105 ** fügt er zur Beruhigung der Frau
hinzu, der Hahn sei geil und darum könne er ihn nicht von
den Hennen auf lange Zeit scheiden. Ist Eulenspiegcl
hungrig, so eilt er bei Fischart 22P ins nächste Dorf, ^dass
er sein Magenweh da heilt'; schläft er auf einer Bank, so
erwacht er früh 233' 'Weil jn gar sehr die federn stachen\
Der Pfarrer schlemmte gern: Fischart 197*» *Da man jm
nichts andoriFte kreiden'. Meisterhaft versteht es Fischart,
die Komik, die häufig in den vom Volksbuch erzählten
Situationen unbenutzt, gewissermassen latent liegt, zu hu-
moristischer Wirkung zu verwenden. Die erste Historie
berichtet, dass Eulenspiegel nach der Taufe ins Wirthshaus
getragen wurde, Fischart betont nun ausdrücklich 2^:
Also kam fein das Kindlein Tyl
Zeitlich ins Wirtshauss on sein will.
In der 9. Historie wird Eulenspiegel im Bienenkorb bei
Nacht von zwei Dieben, die Honig zu stehlen vermeinen,
davon getragen. Eulenspiegel rupft nun bald den einen,
bald den anderen beim Haar und denkt sich dabei 22':
Du will jn zeigen die Bienenstich
Wollen sie meinen Honig essen
So m&ssen sie mein stich auch fressen.
In der 29. Historie blättert der Esel im Messbuch herum,
weil er den Hafer sucht; Fischart bemerkt hiezu 84':
Vmbs Habern willen lass er Metten
Der Hunger lehret ein wol betten.
Da Eulenspiegel in der 68. Historie ein grünes Tuch für
blau ausgibt, spricht er zu sich bei Fischart 20 P: ^Dass
du jm machst ein blawen dunst'. Und der in ein Hasenfell
eingenähten Katze der 55. Historie gibt Fischart 158^ die
köstliche Bezeichnung: ^Der Eetzrisch Hase\
"v
3gg Hauffen, Fischarts Eulenspiegel.
Zu den Städten, Ländern und Yolksstämmen, welche
das Volksbuch erwähnt, fügt Fischart gern eine historische
Notiz. Hier liegen die Anfange seiner späterhin so be-
wunderungswürdigen, ausgebreiteten und tiefen Eenntniss
der deutschen Heimat. Doch verwerthet er hier nicht nur
das, was er selbst erfahren und gesehen, sondern zweifellos
auch einige der zu seiner Zeit allbeliebten geographischen
und polyhistorischen Compendien, wenn er bei Erwähnung
Berlins seine Leser belehrt Bl. 138: 'welches dann leidt,
im Land Brandenburg an der Spree^ oder zu Quedlinburg
bemerkt Bl. 104^: 'welches ist beschreit vom f&rstlichen
Kloster darinnen, Sonst nichts als Qräffin wohnen kunnen\
und zu Wismar Bl. 188^:. 'Dahin man bringt viel Dänisch
Pferdt'. Lübeck nennt er Bl. 162*» 'das haupt in der H^nse
ynd in Seest^dten^, an Rostock rühmt er Bl. tl5* 'die gute
Hoheschul vund wolbestellten Predigtstul'. Von den
Schwaben behauptet er Bl. 155*, dass sie gerne reisen, viel
schwätzen und mit Kindern reich gesegnet sind; von den
Sachsen Bl. 266% dass sie den Speck lieben, u. s. w.
Bei diesen Ansätzen von Gelehrsamkeit sei auch eines
andern Wissens erwähnt. Fischart nennt öfter den 'hörnen
Seyfriedt', Dietrich von Bern und die Helden der Home-
rischen Gesänge, um mit ihnen den thatendurstigen Eulen-
spiegel zu vergleichen.
Den breitesten Raum unter allen Zusätzen nehmen
Fischarts satirische Bemerkungen über die verschiedenen
Stände ein, die in den Schwänken auftreten. Allen Miss-
bräuchen und Unsitten, all dem Jammer im heiligen deut-
schen Reiche seiner Zeit rückt er bei dieser Gelegenheit
zu Leibe, in sehr deutlichen Anspielungen, gewaltigen Ab-
kanzelungen oder hämischen Witzen. Vor allem nimmt er
die 'Schälke und Lauren' aufs Korn, sucht und findet in
jedem Stande Narren, die er ans Tageslicht zieht und un-
barmherzig verspottet.
Die Schälke sind fromm, sagt Fischart Bl. 265^, aber
'hinder sich':
Man sagt, das vor zween grossen Schäleken
Der Galgen weich vnd muss erwelcken.
Sie sind gleich Fledermäusen Bl. 93": 'Bey nacht han sie
Hauffen, Fischarts Eulenspiegel. 389
jr Narrenweis8\ Und doch sieht man überall die Narren
gern. Schalkheit bringt einen durch alle Lande. ^Mit
Lotterwerk' wird man reich, ^Qaussknechte' gelten mehr als
Helden Bl. 19t* und Possen gefallen besser als weise
Lehren. Aber Bl. 67*:
— nirgendt find meh Narheil platz
Als zu Hof in dem Narrenhatz
Vnd wo kein Narren sie verschaffen
Da suchens Meerkatzen vnd Affen
Oder suchen vieleicht ein gscheiden
Der muss sich ffir ein Narren leiden.
Fischart nennt einmal die ganze Welt einen Eselstall
Bl. 85^ oder 'eine stoltze Fassnachtbutz' Bl. 289^ und klagt
in einem langen Excurse zur 73. Historie : ^Yom Schälkc-
säen^ Bl. 216^: es gebe allüberall böse Schälke. Die
ärgsten seien jene, die durch Wucher betrügen, anderer
Leute Oeld und Gut an sich ziehen 'durch den finantz,
durch Wechsel, Handschrifft vnd quittanz', und jene, die
In den Häusern Federn spitzen
In Sammet, Seiden daher glitzen
Darumb sie die Stulräuber sein
Gleich wie die Reuter Sattelriuber ;
und jene endlich, die
Das Land ausssaugen und ausnagen
Seind selbst die Thewrung in eim Landt
Der Hunger selbst, Mord, Hagel, Brandt.
Auch Bl. 128»:
die Bawren sind offl arg Lauren
Drumb hab ich mit jn kein dauren.
Schon durch die neuen durch Wortverdrehung ent-
standenen Namen, mit denen er die verschiedenen Stände
tauft, bezeugt er ihnen seine Verachtung. Die Juristen
nennt er Luristen, die Advocaten nennt er Schadvocaten
Bl. 268», die Apotheker: Lappotheker Bl. 275 ^ die Amt-
leute: der Empter Leid Bl. 259*, den Rector: Rechttor
Bl. 79»» und Doctor leitet er Bl. 262 »> ab von 'Deck den
Thoren, Duckt euch, dass man nicht seh den Thoren\
Ahnlich geisselt er die trügerischen Kaufleute, am häufig-
sten die 'Rosstäuscher^ mit deren Gewerbe er sich sehr
390 Hauffen, Fischarte Enlenspiegel.
vertraut erweist, wenigstens schildert er im 85. Kapitel
einen Rosskauf in sehr launiger und völlig sachgemässer
Weise Bl. 255*:
Er hub jn binden vornen auff
Fragt was er trab und wie er lauflf
Er zahlt die Zahn, besah das Maul
Ja zahlet auch die ffiss dem Gaul
Vnd wie er mit dem Hindern steht
Drau SS stelt er die Nativitet,
Er strich den Rucken, Bauch und gleich
Vnd ander abergläubisch brauch
Trieb er, wie andre Rosskämm all
Fragt, wie er aussging auch vom Stall
Auf allen vieren, antwort er
Vnd wann er viel trägt, geht er schwer u. s. w.
Am nächsten aber berührt sich mit Fischarts eigenem
Berufe der Oelehrtenstand. Das Gehaben der Professoren,
das Treiben auf den Universitäten war ihm damals aus
eigener Anschauung bekannt und er verwcrthet diese Kennt-
nisse in seinem Jugendwerk in reichlichem Masse. Das
Volksbuch bietet Fischarten einige Male die Gelegenheit
biezu dar, aber während dieser die Erfurter Alma mater,
welche in der 29. Historie 'ein grosse merckliche vnd hoch-
berümpte vniversität' genannt wird, nur kurzweg als 'hohe
SchuP Bl. 82^ bezeichnet und nicht weiter darauf eingeht,
widmet er der Prager Universität im 27. Kapitel Bl. 78*— Sl'*
(28. Historie) den umfangreichsten Zusatz seiner Bearbeitung.
Er rühmt sie als 'die f&rnemst nach gemeiner sag' und ent-
wirft an Stelle des einfachen Berichtes in der Vorlage:
'Des andern tags versamleten sich alle doctores vnd ge-
lerten' eine breite ergötzliche Schilderung ihres Aufmarsches,
die augenscheinlich nach eigener Beobachtung aus frischer
Erinnerung niedergeschrieben ist:
Dess morgens kamen her getrolt
Doctores, wie ein jeder solt
Mit jrn vierecketen Paretlin
Aufif Achssien, Fatznetlin vnd Pastetlin
Francisci Bracca bey dem halss
Vnd rote Nasen, wie ein Maltz
Mit langen Rficken biss auff d' f&ss
Mit jren Liripipijs
Hauffen, Fischarte Eulenspiegel. 391
Die waren rot, blaw, oder schwartz
Die brauchen sie f&r eine Tartzsch
Dessgleichcn die Magistri noch
Die trugen zu gross Bficher hoch
Die armen Baccalaurij
Die lieffen zu gleich wie das Vieh
Den höchsten Sitz sie nit vergassen
F&r Rechtorn mit der langen Nasen
Der kam getrolt mit zween Pedellen
Die waren nit vnsauber Gsellen
Dann jeder trug ein Szepter vor
Vnd theten auff all Thor vnd Thor
Wie er nun trat hinein in Saal
Da war ein rauschen vberal
Mit f&ssen, welchs das auflstehn gab
Sie zuckten all das Hutlin ab
Biss mein Rector Magnißcus
Sich hett gesetzt mit guter muss
Dann jeder must sich räuspern hell
Auff dass man auch seh, wo er stell,*)
Hierauf folgt die Disputation, die Fischart noch mit vielen
Erweiterungen versieht, in denen er so wie später im
89. Kapitel (Eulenspiegel in der Sorbonne) die geschraubte
mit lateinischen Brocken gespickte Redeweise der Gelehrten
seiner Zeit persifflirt. Gelegentlich des grünen Tuchs in
der 68. Historie behauptet Eulenspiegel - Fischart Bl. 203^:
Die Gelehrten han ein hatz
Dass man für gwiss nichts soll bestreyten
All ding sey zweifelhaft bey Leuten
Denn in dem Bach der Pfed scheint krumm
Wird doch herauss schlecht wiederumb
Vnd Bawren schwören einen Eidt
Dass Berg vnd Himmel von der weyt
Blaw weren.*)
Am schlechtesten kommen im Eulenspiegel die Priester
weg. Schon das Volksbuch lässt nichts Gutes an ihnen,
*) Vgl. dazu die Diaputation in Fischarts *S. Dominici Leben*
V. 535 ff.
•) Vgl. dazu Piacharts Vorrede zum Todagrammisch Trostbüchlein',
Scheibles Kloster 10, 643: 'Seitainmal so der geniain Man auch inn
sichtbarn vnd vor äugen schwebenden Sachen sehr gröblich irrete, als
wenn er die Berg von ferre plaw, den Stab im Wasser krumm, die
Sonn so gros als wie ein rund Tafelplatt achtete, so würde er erst' . « ,
392 Hauffen, Fischarfcs Eulenspiegel.
Fischart aber springt noch ärger mit den Qeistlichen um.
Mit unverhüllter Freude benutzt er jeden Zug der Vorlage,
um den Pfarrern und Mönchen am Zeuge zu flicken. Narr-
heit und Geistlichkeit reimen sich Bl. 43*, das ist der lei-
tende Gedanke seiner Spottreden. Die Mönchskutte, so be-
hauptet Fischart Bl. 271», macht jedermann noch böser,
weil sie den Schalk versteckt; das Gewand und die gleiss-
nerische Heiligkeit der Geistlichen verblendet die Laien
Bl. 201 **. Fischart nennt die Priester ihrer Tonsur wegen
^gezeichnete Leute', vor denen man fliehen solle Bl. 245^,
Geld sei ihr bestes Lied, Geld ihr Heiligthum B. 89** ; wie
Geier auf ein Aas, stürzen sich die Mönche auf gestohlenes
Gut BL 286 \ Er citirt 'Bäpstische Sprichwörter': ^Dass
nicht die TeuflFel vnderstehn, Was alt Weiber vnd Munch
begehn' Bl. 265*, oder: 'Je näher Rom, je böser Christ;
Je näher Bapst, je grösser List'; 'Rom, aller schalckheit ein
Krön' Bl. 98*. Und in einem patriotischen Ausbruch, der
uns an Walther von der Vogelweide erinnert, beklagt
Fischart Bl. 176** die vielen Kriege,
Welche die BApst durch jhr betriegen
Erregt nun hatten lange Zeit
Zwischen den Tcutschen jm zur beut
Dass er durch jr vneinigkeit
Sein Reich vnd gwalt mach weit und breit.
Die eigenthümliche Fischartsche Manier der Über-
arbeitung können wir recht deutlich erkennen, wenn wir
einen vergleichenden Blick auf jene Fastnachtspiele von
Hans Sachs werfen, die Eulenspiegelsche Schwanke zum
Inhalt haben. Hans Sachsens brave spiessbürgerliche Auf-
fassung verlangt von jeder Dichtung den Freipass einer
allgemeingiltigen Moral. Die 38. und die 71. Historie, die
er bearbeitete, tragen eine beherzigenswerthe Lehre offen
zur Schau. Li der ersteren ereilt den Pfarrer gerechte
Strafe, weil er Köchin und Pferd mehr liebt, als sein geist-
liches Amt, in der letzteren gerathen Wirth und Pfaffe
ihrer Geldgier wegen in peinlich -lächerliche Situationen.
Bei den anderen zwei Historien aber, die nur tolle Possen
Eulenspiegels vorführen, hilft Meister Hans diesem Übel-
stande durch kühne Erfindungen ab. Bei der 68. Historie,
Hauffen, Fischarts Eulenspiege]. 393
Der Bauer mit dem blauen Tuch, kommt er auf die ergetz-
liche Idee, der Bauer habe das Geld für das Tuoh seinem
Weibe gestohlen und weil ^Eain glueck sey pey ynrechtem
guet', so habe er es rasch wieder verloren. Ähnlich wendet
er die 30. Historie, Eulenspiegel als Pelzwäscher, einen der
zwecklosesten Streiche des Yolksnarren. Die verschieden-
artige Weise, in welcher sich nun Hans Sachs und Fischart
bemühen diesem gemeinschädlichen Schabernack einen Sinn
beizulegen, wirft helles Licht auf die schriftstellerischen
Charaktere beider Männer. Hans Sachs stellt die Bäuerinnen
als überaus neubegierig dar, alle Heimlichkeiten Eulen-
spiegels wollen sie erfahren, glauben ihm die ungereimtesten
Dinge und müssen zur Strafe dafür durch seine Verschlagen-
heit leiden. Die Moral gibt Eulenspiegel selbst kund : '')
Die weit die wil petrogen sein
Ist an den pewerin wol schein
Die ir alt pelz lassen vernewen
Das sie ir lebtag wirt gerewen
Sos irer pelz geraten müesen
Iren f&rwicz mit schaden püesen.
So zu Nutz und Frommen aller Zuschauer! Qanz anders
Fischart Bl. 88*. Dieser sieht den Streich schon mit den
Augen des Flöhhatzdichters von der komischen Seite aus
an. Noch schalkhafter, als sein Liebling Till, behauptet
er, mit den Pelzen seien doch auch die Flöhe verbrannt:
Die Weiblin selten dir
Gar hfichlich dancken darumb schier
Dass du jn abhilffst so der flöh
Die dann sie plagen jmmer meh
Doch ist vndanckbar so die weit
Dass jr gut ding ofift nit gefeit.
Und noch einen Nutzen schuf dieses Autodaf6:
Aber dess wilschens mögen lachen
Die Kfirschner, wenn sie newe machen.
Die übrigen Änderungen, die Hans Sachs an den
Schwänken vornahm, geschahen der Dramatisirung wegen.
Er hat alle Schilderung in Handlung umgesetzt, kurze An-
'') S&mmtliche Fastnachtspiele von Hans Sachs, herauflgegeben von
Goctze, 6, 129 (Braune's Neudrucke Nr. 60. 61).
394 Distel, Jahrmarktelied von 1685.
deutungen der Vorlage zur Ausarbeitung längerer Zwie-
gespräche benutzt, die Geschehnisse, die sich im Volksbuch
über mehrere Tage erstrecken, zusammengezogen, mit Ge-
schick die Komik der Situation erhöht und hübsche neue
Züge erfunden, um eine bessere Verbindung und Motivirung
der Fabel zu erreichen. Der gutmüthige moralisirende
Dramatiker siegte in der Gunst der Leser über den spöt-
tischen, schadenfrohen Erzähler. Hans Sachsens Fastnacht-
spiele sind wiederholentlich neu gedruckt worden, Fischarts
Eulenspiegel ist nur mehr in vier Exemplaren der ersten
und einzigen Ausgabe vorhanden. Wenn Jacob Grimm be-
reits im Jahre 1816 an Freiherrn von Heusebach schrieb:
'Ich meine doch, dass seine Arbeit (seil, der Eulenspiegel)
noch einmahl seiner übrigen Bücher wegen gedruckt zu
werden verdient',**) so dürfen wir heute wohl hinzufügen:
die Arbeit verdient auch ihres eigenen Werthes wegen einen
Neudruck.
Prag. Adolf Hauffen.
Ein Jahrmarktslied aus dem Jahre 1685.
Bei amtlichen Arbeiten in den ^Dänischen Sachen' der
dritten Abtheilung des E. S. Hauptstaatsarchivs kam ich auf
ein dürftig ausgestattetes Flugblatt von 8 Octavseiten, das
in keinem zweiten Exemplare erhalten sein dürfte. Dass
es hier (Bd. 28 fol. 5 Nr. 1 Bll. 4—7) aufbewahrt ist, ist
dem Umstände zu danken, dass die darin genannten Geist-
lichen, gleich nachdem sie die pasquillanten Verse von
einem ihnen ^sonst unbekannten Pastore zu Panthenau in
Schlesien' mit der Leipziger Post erhalten hatten, am
16. October 1685 sich bei dem Kurfürsten Johann Georg III.
zu Sachsen über den Missbrauch ihres Namens beschwerten,
das Lied beifügten und um Rückgabe desselben — aller-
dings vergeblich — baten (ebenda Bl. 1. 10). Sie haben
auch öffentlich ihre ^Unschuld' dargethan in einer bei
*) Wendeler, Meusebachs Fischartstudien S. 810.
Distel, Jahrmarktslied yon 1685.
395
Christoph Baumann in Dresden gedruckten, von Martin
Gabriel Hübner daselbst verlegten Plugschrift von 4 Quart-
blättern, welche dem Acte ebenfalls beiliegt (Bl. 2, 3, 8, 9).
Der Druck des schlimmen, nicht in Verse abgetheilten
Gedichtes, welches diese Klage veranlasste, zeigt auf der
ersten Seite zwei Bilder; das eine stellt den im Liede ge-
nannten Prediger Lassenius auf der Kanzel vor versammelter
Gemeinde, auch vor König und Königin, das andere ihn
auf der Bibel (todt) liegend dar. Auf der zweiten Seite be-
ginnt der Text:
Warhafflige Relation, welche sich des lauffenden 1685*^*"*
Jahrs, den 25. Aprilis in der Königl. Residentz-Stadt Koppenhagen
in Dänemarck zugetragen, mit dem vornehmen und grund- ge-
lehrten Theologo, Generali Superintendente und Königl. Hoff-
Prediger, Nahmens D. Lassenius, welcher ob der reinen Wahrheit
Zeugnüss, so er in ofTentlicher Predigt dem Könige sambt seinen
Räthen, wegen schändlich geschlosener Alliantz mit Frankreich,
als ein ander Johannes dem Herodi unter die Augen gesagt, hat
sollen enthauptet werden, vermittelst aber Göttlicher Disposition
auss der Bibel, nehmlich dem Propheten Jeremia, seelig ge-
storben und todt gefunden worden. Auf Bewilligung derer vor-
trefflichen Theologorum, Doctoris Samuelis Benedicti Carpzovii,
M. Ghristiani Lucii, M. Bernardi Schmidt, M. Pauli Posse, M. Jo-
annis Seebist, und M. Joannis Henrici Khune.^) Gesangsweiss in
Druck gegeben. Im Thon: Herztlich thut mich verlangen etc.^)
Gedruckt im Jahr 1685.
Das Lied selbst lautet genau also:
1.
Ach kommt herbey ihr Christen,
Merckt was ich singen werd,
Welchs ihr zu keinen fristen,
Gehört auff dieser Erd,
Wie Gott die lieben Seine,
So wunderlich bewahre,
(Die Ihm dienen alleine,)
Vor Seel- und Leibsgefahr.
2.
In der Stadt Koppenhagen,
Im Dähnschen Königreich,
Hat sich in wenig Tagen,
Ihr Christen merckets euch,
Ein Grausamkeit begeben,
Mit Herrn Lassenius,
Dass er nicht mehr sol leben.
Ob der Wahrheit Zeugnüss.
^) Die Prediger an der Kreuzkirche zu Dresden waren damals
C. als Superintendent, L. als Stadtprediger und Senior, S. als Archi-
diakonus, P. (Böse), S. (Seebisch), K. (Kilhn) als Diakoni.
*) Die Melodie stammt wahrscheinlich von Michael Gasteritz, der
1580 (oder 1577 oder noch früher) Organist in Amberg war; anders
Böhme, Altdeutsches Liederbuch S. 305.
396
Distel, Jahrmarktelied yon 1685.
3.
Ein Prediger dess Königs,
Und grundgelehrter Mann,
War dieser Herr Lassenius,
ßekandt auch jederman,
Dass er bey Lebens- Zeiten,
Im Gotts- Dienst eyflfrig war,
Ja stündlich thät arbeiten,
Vor Leut und Lands -Gefahr,
4.
Daher als er erkunde,
Das Dännemarck mit Franck-
reich.
Sich liederlich verbunden.
Mein Christ was that er gleich ;
Er gieng zu seinem Jesu,
Bath Ihn umb guten Rath,
Ach! hilff deim Voick o Jesu,
Und strafl' dess Königs That.
5.
Bald draufif in einer Predig,
War er des Geistes voll,
Er achtet nicht den König,
Sagt zu Ihm du bist toll.
Du handelst wie ein Wütterich,
Dass du mit diesem Volck,
Dein Land verbindst so thörich.
Und plagt hiermit dein Volck.
6.
Und übergiebst sie denen,
Bei weichen ist kein Glaub,
Kein Lieb, wie wir vernehmen.
Zu Gott und Kaysers Haupt,
Kein Treu auch zu dem Nechslen,
Ach! Jesu hilfif uns doch
Und lass uns im geringsten,
Nicht kommen in das Joch.
7.
Ach wie viel tausend Thränen,
Der Arm bedrängten Leut,
Thust du nun auff dich nehmen.
Die dich einmal mit der Zeit,
Bei Jesu soUn anklagen,
Auch deinen falschen Rath,
Die dir sonst nichts vortragen
Als Bossbeit früh und spat.
8.
Nach bald geendter Predig,
Kam vom König ein Both,
Der sagt, dass er behändig.
Zur Mahlzeit eyle fort.
Es war dess Königs Wille;
Er unerschrocken gieng,
Biss an den Hoff gantz stille.
Da man ihm schön eimpfieng.
9.
Da die Mahlzeit geendet,
Du Doctor, bald darauff,
Der König scharff vorwendet,
Schlag mir die Bibel auff.
Und was du heut gepredigt.
Beweise mir darauss.
Und auff den Silbern Teller
Schick; oder dein Kopff soll
drauff.
10.
Bald unverzagt dem König,
Er schrifftlich darthun wolt,
Dahero auch ein wenig.
Nach Hauss er gehen solt;
Nachdem er dieses thate.
Und in sein Hauss eintratt,
Sein Liebste er drauff bathe,
Sie folge meinem Rath.
11.
Bey Kindern und Gesinde,
Ein wenig bleibt allein.
Ich muss eylen geschwinde.
In mein Studir-Stüblein,
Was wichtigs auffzuschlagen.
Im fall jemand mit mir,
Wolt reden oder fragen,
Lass sie ihn ja nicht für.
12.
Kaum war eine halbe Stunde,
Kommt hin ein Königs Both,
Distel, Jahrmarktslied von 1685.
397
Der sagt mit Hertz und Munde,
Bezeugt es auch vor Gott,
Auff diesem Silbern Teller,
Der König sehen muss,
Die Bibel bald ohnfehlbar,
Sagts ihm doch ohnverdruss.
13.
Mein Freund, sagt ihm die Fraue,
Ich darfT nicht unterstehn,
Dass ich hingieng und schaue,
Ob er möcht herbey gehn.
Er wird sich selbst darstellen,
Wenn er studiret hat.
Nach Königlichem Gefallen
AufTwarten in der That.
14.
Nachdem der Both dem König,
Anbrachte die Antwort,
Sagt Er: Die Möh ist wenig.
Geht hin sprengt auff die Pfort,
Den Vogel herauss nehmet.
Wo er nicht schon ist fort,
Ob schon sein Weib sich grämet.
Geht folget meinem Wort.
15.
Als man die Thur aufifbrache.
Lag der nun seelige Mann,
Gestorben aufT dem Buche,
Dem Prophet Jeremiam,
Mit dem Händen Creutzweisig,
Auff den sein Haupte lag,
Viel Tausend habens fleissig,
Gesehen und behaubt.
16.
Bestürtzt der König sasse,
Gar sehr Ihn diss anficht,
Die Sach er gantz vergasse,
Als er bekam Bericht,
Ob solcher schnellen Thate,
Und uhrplötzlichent Tod,
Mit seinem gantzen Rathe,
Rieff Er ernstlich zu Gott.
17.
Für kummer und für Leyde,
Die Königin ') auffgab,
Ihm Geist und Leben beyde,
Und fuhr ins traurig Grab;
Der König es ward inne.
Bereuet seine That,
Die Er in seinem Sinne,
Ihm vorgenommen hat.
18.
Nun Jesu wir dich loben,
Dass du dein treuen Knecht,
Von Grausamkeit und Toben,
Der Welt und falschem Recht,
Gnädiglich hast entnommen.
In Freuden Himmels- Saal,
Bitten, auch lass hinkommen,
Uns «Jesu altzumahl.
[Vignette.]
Die Personen dieses Liedes sind: der dänische Hof-
prediger Dr. th. Johann Lassenius, gestorben 22. August 1692;
vgl. Allg. deutsche Biographie 17, 788 flf., wo übrigens Carstens
nichts hierher Bezügliches erwähnt; einige von Carstens ab-
weichende Daten siehe in Zedlers Universallexikon 16, 872 ff. ^)
•) Die Wittwe König Friedrichs TIT., Sophie (Amnlie) von Braun-
schweig-Lüneburg starb allerdings 1685, doch nicht am oder nach dem
25. April, sondern bereits am 20. Februar.
*) Ich verweise hier noch auf die bei Mol 1er, Cimbria litt 2, 449/50
angefahrten Quellen und bemerke, dass erzählt wird, Lassenius' Wohl-
thiltigkeit wäre so weit gegangen, dass er seine letzte Hose einem
Vierteljahrschrift fQr Litteratargoschichto III 27
398 ^' Weilen, Lessing und die Hambnrgische N. Zeitung.
Der König ist Christian V. von Dänemark, seine Gemahlin
Charlotte (Amalia) Landgräfin von Hessen-Kassel, gestorben
27. März 1714. Schon diese Sterbedaten erweisen, dass das
Lied Unwahrheiten enthält, und so begreift sich, dass die
Dresdner Geistlichkeit ihre Namen, die noch dazu zum
Theil unrichtig geschrieben waren*), dabei nicht prostituirt
haben wollte; sie forderte, dass ihre 'Exculpation' dem
dänischen Könige hinterbracht und der Magistrat zu Breslau,
der Herzog zu 01s und andere Obrigkeiten Schlesiens er-
sucht werden, den Delinquenten zu verhaften, den Drucker
zu erforschen. Über das Weitere konnte ich leider nichts
ermitteln. Die Vertheidigung war für die genannten Theo-
logen um so nöthiger, als das Lied nach ihrem Berichte
'öffentlich auff den Jahrmärckten in Schlesien von Land-
streichern abgesungen und nebst dem praefigirten albernen
Holtzschnitt verkauffet' worden war. In Schlesien konnte
für dies Lied kaum ein anderes Interesse als das allgemeine
an einer tragischen Geschichte vorhanden sein. Der poli-
tische Ausgangspunkt des Liedes, das Bündniss Christians
mit Ludwig dem XIV. für den sog. zweiten Raubkrieg des-
selben, der durch den Frieden von Nym wegen 1678 beendigt
wurde ^), hatte in Schlesien keine Bedeutung.
Dresden. Theodor Distel.
Lessings Beziehungen zur Hamburgischen
Neuen Zeitung.
Redlich verzeichnet in seiner Lessing -Bibliographie
(Hempel 19, 702) die Beiträge, welche Lessing für die
1767 von dem Legationsrathe Polycarp August Leisching
gegründete und von Johann Wilhelm Dumpf redigirte
Bedürftigen geschenkt habe und im blossen Ornate zur Kirche ge-
gangen sei.
») Die Namen der Geistlichen kannte der Reimschmied ii^end
woher, die Beifügung derselben sollte der Erzählung den Stempel der
Geschichte aufdrücken.
*) Später trat Christian auf die antifranzösische Seite.
V. Weilen, Lessing und die Hamburgiache N. Zeitung. 399
Hamburgische Neue Zeitung lieferte. Die grosse Sym-
pathie, welche das Blatt dem Hamburger Dramaturgen
entgegenbrachte, spricht sich an zahlreichen Stellen der
Jahrgänge 1767 und 1768, der einzigen, die mir zugäng-
lich waren, aus, sowohl in persönlichen Notizen über Les-
sing (vgl. Redlichs Anm. zu Hempel 20, 1, 262 und 306)
als auch in Recensionen über ^Minna von Barnhelm' und
die ^Hamburgische Dramaturgie', welche zum Theile viel-
leicht Gerstenberg, dessen Beiträge ich in meiner Ein-
leitung zur Ausgabe der 'Briefe über Merkwürdigkeiten der
Litteratur' (Deutsche Litteraturdenkmale 29. 30), soweit es
meinem Thema entsprach, zu ermitteln suchte, zuzuschreiben
sind.
Als Mitarbeiter der Zeitung wurde Lessing hauptsäch-
lich durch die ^Antiquarischen Briefe' bekannt, welche zum
Theil daselbst zum ersten Abdruck kamen. Natürlich
glaubte man, besonders da seine innige Verbindung mit
der Redaction in Gelehrtenkreisen jener Zeit bekannt
wurde (s. den Brief Reiskes vom 7. Januar 1770 20, 2, 331
vgl. 333 und 349), ihn auch in andern Beiträgen, wie in
der Recension über Riedel (20, l, 315 Anm. Redlichs) zu
erkennen. Während aber dieser Artikel wohl aus Gersten-
bergs Feder hervorgegangen, finden sich im Jahrgange 1768
zwei Anzeigen, bei denen man zunächst wohl aus äusser-
lichen Gründen versucht ist, Lessings Autorschaft zu ver-
muthen.
Ausser den 'Antiquarischen Briefen' und einigen Notizen
zur 'Hamburgischen Dramaturgie' hat Lessing der Ham-
burgischen Neuen Zeitung einige Epigramme geliefert, die
er selbst in seine Schriften aufgenommen. Es sei neben-
bei bemerkt , dass in der neuen Lessing - Ausgabe von
Muncker der Titel des einen Epigramms (1, 33) falschlich
als 'Seufzer in einer Krankheit' angegeben ist; er lautet
'Seufzer in meiner Krankheit'. Die meisten dieser poeti-
schen Beiträge sind mit zwei Sternen * * unterzeichnet.
Diese Chiffre findet sich ausserdem in den zwei Jahr-
gängen 1767 und 1768 nur noch unter zwei Recensionen.
Bereits Redlich hat (20, 1 , 293) eine derselben Lessing zu-
zusprechen versucht, er hat aber die unbedeutende Notiz,
27*
400 ^' Weilen, Lessing und die Hamburgische N. Zeitung.
ein kleiner Freundschaftsdienst für Ramler, nicht mitge-
theilt. Ich gebe sie hier aus dem 148. Stücke vom 21. Sep-
tember 1 767 :
Ramlers Oden. Nur wenig Lesern wird der Nähme eines
R amiers unbekannt seyn. Die Welt kennt in ihm einen eben
so grossen Poeten als Kritiker und Deutschland kann auf seinen
Landsmann stolz seyn. Wir können ihn, ohne Schmeichdey,
unsern Pindar, unsern Horaz nennen, und alle unsere Nachbarn
auffordern uns einen Mann darzustellen, der ihm gleiche. —
Auch konnte Ramler in keinem glücklichern Zeitpuncte gebohren
werden. Grosse Helden haben allezeit grosse Dichter gefunden
und kein König ist vielleicht jemals schöner besungen worden.
Die Wiederkunft des Königs, An die Muse, An die Stadt Berlin,
und mehrere sind mit den prächtigsten Oden des Horaz Descende
coelo etc. Caelo tonantem etc. in eine Reihe zu setzen. Ptole-
mäus und Berenice ist wenigstens eben so zärtlich, eben so vor-
treflich amöbäisirt als donec gratus eram etc. Auf ein Ge-
schütz, ist eine Nachahmung von lUe et nefasto etc. Und dieser
Dichter ist, wenn er reimt, eben so gedrungen, als er in dem
Atcäischen Sylbenmasse harmonisch ist. Der öftere Gebrauch
der Götterlehre würde bey jedem andern zu tadeln seyn, für ihn
scheint die Mythologie erfunden. Möchten doch gewisse feind-
selige Züge, die im Kriege gemacht sind, der Nachwelt kein
Denkmal der Stärke unsers Flasses überliefern. Eine Ode von
einem sanften Inhalte nehme hier den Raum ein.
Es folgt das Gedicht 'An Hymen'.
Viel wichtiger wäre es, ivenn die zweite Recension,
die zu den ausführlichsten der Zeitschrift zählt, Lessing
mit Sicherheit zuzuweisen wäre. Ausser der Chiffre Hessen
sich vielleicht noch einige Umstände für Lossings Autor-
schaft geltend machen. Der Bemerkung über die Ge-
dankenstriche entspricht eine Stelle aus einer Recension
aus dem Jahre 1753: 'Wann in der bunten Reihe häu-
figer?, declamatorisches ! und geheimniss voller das
Erhabene steckt!' (12, 490) Arnolds Kirchen- und Ketzer-
historie, die Apologie des Simon Lemnius wird citirt,
Petrus Martyr Anglerius wird auch anderweitig (z. B. 19,
207; 14,74) von Lessing erwähnt. Von dem ^sowohl wegen
seiner Gelehrsamkeit, als wegen seiner Narrheit bekannten
Professor Ebertus' und seinen Beziehungen zu Spanien
spricht Lessing in einem Briefe vom November 1750 (20,
l, 90). Wendungen, wie 'Allein, wie unglücklich bin ich!'
y. Weilen, Lessing und die Hamburgiscbe N. Zeitung. 401
oder ^Doch ich nehme an diesem Schlüsse keinen TheiP
scheinen in Lessings Sprachgeist.
Diesen Vermuthungen setzt Erich Schmidt eine Reihe
von Bedenken entgegen, die als Beilage folgen.
Der nachstehende Abdruck möge die Entscheidung er-
leichtern. Die Recension geht durch Nr. 34, 35 und 36
(Montag den 29. Februar, Dienstag den I.März undDonners-
tag den 3. März 1768). Zum Verständnisse sei Folgendes
bemerkt: Sandoval ist Prudencio de Sandoval: Historia de
la vida y hechos del emperador Carlos Y. 1. Ausgabe 1604.
Die deutsche Übersetzung, die Adam Ebert, Professor zu
Frankfurt a. O. anfertigte, befindet sich, nach Jöcher 2,
264 f. in Berlin. Mit 'Mezeray' kann sowohl dessen Histoire
de France 1643 — 1651 als auch dessen Histoire des Turcs
1662 gemeint sein. Mornay ist Philipp MornUy^ Sieur du
PlessiS'Marly: Mystere d'iniquite 1611.
Carl Renatus Hausens, ordentlichen Lehrers der Philosophie
auf der Königl. Preussischen Universität zu Halle, Pragmatische
Geschichte der Protestanten in Deutschland. Erster Theil mit
Beilagen und Urkunden. Halle, gedruckt und verlegt von Joh.
Jac. Gurt. 1767.
Der Herr Professor hat schon vor einigen Jahren den Plan
dieser Geschichte bekannt gemacht und hernach auch das Publi-
kum unterrichtet, dass es eine pragmatische Geschichte der Prote-
stanten von ihm erwarten sollte. Das Publikum erwartete sie
als ein ausserordentliches Werk, und das einzige in seiner Art.
Diesen Begriff hatte man sich davon aus dem Plan gemacht, und
der Herr Prof. lässt in der Vorrede seine Leser auch etwas ganz
neues und sonderbares hoffen. 'Die grossen und mannigfaltigen
Schicksale der Protestanten in Deutschland^ sagt er, 'den Geist
der Religion von einer Periode zur andern, und die durch diesen
Geist entstandenen Veränderungen an den Höfen der Fürsten, die
neuen Sitten und den ganz umgebildeten Charakter unserer Vor-
fahren hatte zuvor noch kein Schriftsteller beschrieben. Denn
Sleidans und Seckendorffs Plan war von dem seinigen weit unter-
schieden. Man hatte ausserdem die Triebfedern der Reformation
grösstentheils, aber sehr irrig, von dem Charakter und den Ver-
diensten Martin Luthers herleiten wollen. Der Gegenstand, den
der Verfasser demnach richtig und lebhaft vorzustellen wagte,
war ganz neu. Das Nachdenken über den Plan, wie er ver-
sichert, ist bei ihm eine Beschäftigung von beynahe einem Jahre
gewesen. Dieses Nachdenken führte ihn zu der Erkenntniss
einiger grossen Wahrheiten. Er sähe in vollem Lichte eine Ur-
402 ^- Weilen, Lessing und die Hambnrgische N. Zeitnng.
Sache nach der andern von der Verbesserung der Glaubenslehre,
und zitterte, da abermals das Vorurtheil und der Geist der Un-
einigkeit Trennungen verursachte, die noch nicht aufgehört haben.
Diese Betrachtungen, da er stets auf seine Zeiten zurück sähe,
zeigten ihm endlich die letzte grosse Wahrheit, die dem Be-
schlüsse dieser Geschichte gewidmet ward/ (Wir werden sie
hernach sehen.) 'Er war nunmehr von der Wichtigkeit seines
Planes und von der Grösse der Wahrheiten unterrichtet, allein
es war doch schwer, selbst ein Gemälde zu entwerfen, dass die
Neigungen seiner Glaubensbrüder verändern, ihr Herz bessern,
und sie zu grossen und edlen Wünschen bewegen könnte. Bei
einem so erhabenem Gegenstande waren die bekannten Geschicht-
schreiber gar nicht die Wegweiser — — die Handschriften zeigen
allererst seinem Geiste eine grosse Reihe von Wahrheiten. Allein
diese Erforschung der Wahrheit war mit vielen Schwierigkeiten
verbunden — . Nachdem diese überwunden waren, konnte der
Verfasser allererst den Weg getrost und muthig antreten. — Die
Beschreibung der Schicksale der Protestanten erfordert grosse und
eigne Schönheiten, — Allein, wie der Dichter und Redner wenige
glückliche Augenblicke hat, in welchen sein Geist, von dem Feuer
der Begeisterung entflammt, die Pracht und Hoheit der Natur
nachahmen kann : ebenso sind dem Geschichtschreiber nur einige
Stunden günstig. — — Den Geist des Verfassers haben auch
andere Zerstreuungen gefesselt. — Er verlangt daher, dass man
ihm wegen der Länge der Zeit, und wegen der schwachen An-
zahl der Bogen, aus welchen dieser erste Theil bestehet, ent-
schuldigen soll'. Die letzte Entschuldigung ist sehr nöthig (be-
sonders da diese wenige Bogen, worunter doch auch ein guter
Theil dem Herrn Prof. keine Arbeit gekostet hat, so unmässig
theuer verkauft werden): 'Derselbe enthält die Triebfedern der
grossen und ausserordentlichen Veränderungen im sechszehnten
Jahrhundert. — — Diese ertheilen den Stoff zu den folgenden
Theilen, — — Bey welchen Herr H, noch eine weit grössere
Aussicht hat. Ausser den Veränderungen der Religion und den
besondem Schicksalen der Protestanten, will er zeigen, in wie
fern diese Begebenheiten in jeder Periode den Geist und die
Sitten unserer Nation entweder verschönert oder verschlimmert
haben'. Der Verfasser klagt hernach, 'dass der Plan seines
Buches ihm schon unzähliche Verleumdungen zugezogen habe,
und er hält es also für eine Pflicht, sich mit seinen Freunden
noch von den besonderen Materien zu unterreden. — — Er ver-
sichert, dass er in dem ersten Hauptstücke nur als Geschichts-
schreiber die Schicksale der Religion betrachtet, dass er nicht
den geringsten Einfall in das Gebiet der Gottesgelehrten gewagt
— — und dass er mit Liebe der Wahrheit und mit Ober-
zeugung die Religion selbst von der sklavischen und unnützen
Verehrung der Ceremonien — — zu trennen, gesucht habe\ —
y. Weilen, Leasing and die Hamburgische N. Zeitung. 403
— Er erklärt sich auch, dass alle Urtheile der Kunstrichter ihm
angenehm sein werden. — Er wünschte besonders wegen der
Theorie des Plans von einem Sulzer, Iselin und Zimmermann
unterrichtet zu sein. Äbbt ist todt, und also konnte er dessen
Urteil nicht hören. Ob er die eigenen Schönheiten der Ge-
schichte — — ganz verfehlet, oder einigermassen erreicht habe,
sollen Herr Klotz und der Verfasser der Fragmente unterscheiden*.
Hier hat der Leser kürzlich dasjenige, was der Verfasser
selbst von seinem Buche saget, und welches ich mit seinen
eignen Worten aus der Vorrede angeführet habe. Ich muss hie-
bey gestehen, dass, da ich das Buch selbst zu lesen anfing, und
an die hohe Idee, welche der Verfasser schon längst der Welt
davon gegeben , und an den besonderen Ton , womit er seine
neuen und grossen Wahrheiten in der Vorrede ankündigt, ge-
dachte, mir dabei die Fabel von dem kreissenden Berge einge-
fallen sei. Allein ich will nicht voreilig in der Anwendung sein.
Auf dem Titelkupfer erscheint die Religion in einer sehr trau-
rigen Gestalt. Ich habe jemanden daraus den Schluss machen
hören, dass sie wohl auch in dem Buche eine elende Figur
machen würde. Doch ich nehme an diesem Schlüsse keinen
Theil.
Herr H. hat dem Werke den Titel: 'Pragmatische Ge-
schichte' vorgesetzt, und dieser erste Theil besteht aus neun
Hauptstücken. Diese sind : L Allgemeine Betrachtungen über die
Religion. II. Die Geschichte oder das System Europens von 1500
— 1518. III. Die Staatsverfassung der europäischen Reiche bei
dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts. IV. Allgemeine Be-
trachtungen über die Verfassung des deutschen Reiches. V. Be-
sondere Betrachtungen über einige Fürsten Deutschlands in dem
sechzehnten Jahrhundert. VI. Der Geist der Religion in dem
sechzehnten Jahrhundert. VII. Die Sitten und der Charakter
der Deutschen bei dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts.
VIII. Charakter Martin Luthers. IX. Freye Gedanken über den
Ursprung der Reformation. — Diese neun Abhandlungen haben
keine Verbindung unter sich, und keine andere Ordnung, als die
ihr der Zufall gegeben hat. Daher ist es gleichviel, welche von
ihnen man zuerst lieset. Man kann es von Vorne, oder von
Hinten, oder in der Mitte anfangen, ohne dabei etwas zu ver-
lieren. Wenn nun alle diese Abhandlungen noch so vortreiTlich
und unverbesserlich wären, so würden sie doch den Titel einer
pragmatischen Geschichte nicht verdienen. Der Herr Professor
hätte besser gethan, wenn er sie historische und philosophische
Rhapsodie über die Reformation genannt, oder ihnen den neuen
Modetitel, den er selbst auch schon gebraucht hat, 'Fragmente
der Reformationshistorie* gegeben hätte. Denn Fragmente sind es
nur in der That und nichts mehr. In dem ersten, achten und
neunten Hauptstücke äussert Herr H. eine ganz eigne Denkungs-
404 ▼• Weilen, Lessing und die Hamburgische N. Zeitung.
art in vielem, was die Religion überhaupt und die Reformation
insbesondere betrifft. Aber in diese Philosophie werde ich mich
nicht einlassen, weil ich nicht zweifele, dass andere sie be-
leuchten werden. Ich will den Verfasser bloss in soweit als er
einen Geschichtsschreiber hat vorstellen wollen, beurtheilen.
Herr H. ist oft zusehr von Vorurtheilen eingenommen,
wenn er von gewissen Personen, die ihm in seiner pragmati-
schen Historie vorkommen, urtheilt, und beweist sich daher nicht
immer unpartheyisch genug. Er thut zuweilen Machtsprüche.
Seine Urtheile über Konstantin den Grossen und Julian den Ab-
trünnigen bezeugen dieses. S. 7 sagt er, und S. 8 wiederholt
er es fast mit eben den Worten *Man kann kaum ohn Wider-
willen diejenigen Lobsprüche lesen, welche die vorhergehenden
und auch noch unsere Zeiten gegen diesen ersten christlichen
Fürsten verschwendet haben. — Es ist einmal Zeit diese Un-
wahrheit aus der Geschichte zu vertilgen. Die Zeitgenossen und
Nachkommen nicht länger zu hintergehen, es ist endlich Zeit zu
sagen : dass Constanlin der grösste Bösewicht gewesen sey*. Herr
H. tritt hier mit einem solchen Wortgepränge auf, als wenn er
der erste wäre, der ein wahres Urteil von Constantin gefället
hätte. Und hierin betrügt er sich sehr. Denn schon vor 68
Jahren hat Arnold die Laster dieses ersten christlichen Kaysers
der Welt aufgedeckt, ob er gleich nicht sagt, dass er der grösste
Bösewicht gewesen sey. Diesen zu harten Ausspruch zu thun,
war unserm pragmatischen Geschichtschreiber vorbehalten. So
sehr aber derselbe den Constantin verdammt, so hoch und allzu-
hoch erhebt er dagegen den Julian, S. 8, 9, 10, welcher bey
ihm der beste und vernünftigste Fürst heisst, und welchem er,
unter andern, auch dies zu einem Verdienste anrechnet, dass er
aufrichtig genug gewesen sei, seinen Abfall vom Christenthume
bekannt zu machen. — Arnold hat dem Julian auch schon Ge-
rechtigkeit widerfahren lassen, und seine Tugenden nicht ver-
schwiegen, aber so uneingeschränkte Lobsprüche als unser Ver-
fasser konnte er ihm nach der Wahrheit, nicht beylegen. Herr
H. würde wohl gethan haben, wenn er vor seinem Ausspruche
andere Gelehrten zu Rathe gezogen hätte. Hätte er Mosheims,
der gewiss seinen Vorgängern nicht nachbetet, 'Kirchenhistorie'
nachgeschlagen, so würde er vielleicht darin Anleitung gefunden
haben, richtiger und der Wahrheit gemässer von Konstantin und
Julian zu urtheilen.
Das zweyte Hauptstück überschreibt der Verfasser in dem
Inhalt (Seite XIV) die Geschichte Europens von dem Jahre 1500
bis auf dem Tod Maximilian des ersten 1518. Aber in dem
Buche selbst, Seite 24, heisst es: das System Europens von dem
Jahre 1515 bis auf die Wahl Kayser Karl des Fünften, Königs
von Spanien, zum römischen Kayser. Er scheint wegen der
Überschrift, die er dieser Abhandlung geben sollte, zweifelhaft
y. Weilen, Lessing und die Hambnrg^sche N. Zeitang. 405
gewesen zu sein. Ich meyne, dass sich so wenig die erste als
die andere dazu schicke. Er hätte sie nennen sollen: Fragment
einer Beschreibung der Kriege in Italien von 1494 bis 1517.
Denn diese Beschreibung macht den Hauptinhalt aus. Allein ich
kann nicht einsehen, was sie für eine Verbindung mit der Re-
formation, oder welchen Einfluss sie in die Begebenheiten, die in
der pragmatischen Geschichte der Prolestanten erzählet werden,
habe. Dies ganze Fragment, dass über drey Bogen einnimmt,
hätte, der pragmatischen Historie unbeschadet, daraus wegbleiben
können. Besser wäre es gewesen, wenn er statt dieser Italieni-
schen Kriege den Zustand der römischen Kirche und des päbst-
lichen Stuhls, die verderbten Sitten der hohen und niedem Geist-
lichkeit geschildert hätte. Denn hier sind Begebenheiten, welche
zur Reformation das ihrige beygetragen haben. Allein so wäre
Herr H. auf dem gemeinen Wege, wie andere Geschichtsschreiber
gegangen; und das wollte er nicht. S. S8 will Herr H. zur
Ehre der Menschheit wünschen, 'dass Amerika nie wäre entdeckt
worden, und dass Europa die Unschuld der Sitten, die Schönheit
der Tugenden und die Dauer einer beständigen Glückseeligkeit
diesen geplünderten (amerikanischen) Schätzen niemals aufge-
opfert hätte'. Sind denn die Menschen in Europa vor dieser
Entdeckung unschuldiger und tugendhafter gewesen, und haben
sie eine beständige Glückseeligkeit genossen? die Historie be-
zeuget dieses nicht. S. 38 wird Carl VIII. Ludwigs XU. Vater
genannt. — Dies wird unser pragmatischer Geschichtsschreiber
doch wohl nicht in seinen Handschriften gelesen haben. — Ich
fmde ihn hier wieder sehr eigensinnig in Austheilung des Lobes.
Manche Personen, die er auf den Schauplatz fähret, werden seine
Lieblinge, ohne dass er sie genug zu kennen scheinet. S. 44. 45
sagt er von Gonsalvo de Cordova, 'dass ihn die Geschichte den
grossen Feldherrn nenne, aber dass er selbst auf den Titel des
grossen Mannes Anspruch machen könne\ Und gleich setzt er
hinzu, 'dass dieser grosse Mann das Beispiel seines Königs nach-
geahmet und durch Falschheit und Untreue die traurigen Schick-
sale eines unglücklichen Prinzen (Friederichs, Königs von Neapel)
recht sinnreich vergrössert habe'. — — Ist dies die Handlung
eines grossen Mannes? Muss der grosse Mann nicht tugendhaft
sein? — Das recht sinnreich wird hier vielleicht nur zur Aus-
füllung der Periode dienen sollen: denn in der boshaften Hand-
lung ist es nicht zu ßnden. S. 57 heisst es von eben diesem
grossen Manne: 'Er besass die wahre Grossmuth, deren Original-
Geister jederzeit föhig seyn'. Wo hat Gonsalvo eine Probe von
dieser wahren Grossmuth gegeben? Vielleicht in dem Meyneide,
wodurch er den Prinzen Ferdinand um seine Freiheit brachte.
Zeigt er sich vielleicht hier, als einen Original-Geist? Und, was
sind denn Original -Geisler? S. 51 wird des Königs Friederich
von Neapel Sohn unrecht Alphonsus genannt. — Er hiess Fer-
406 V. Weilen, Lessing und die Bamburgiscfae N. Zeitung.
dinand. S. 62 'die Seestädte von Sicilien waren durch vorge-
schossene Geldsummen in ihrer (Vonetianer) Gewalt*. Nicht in
Sicilien, sondern auf der östlichen KOste von Neapel lagen diese
Städte. S. 78. 80 lieset man, dass Ludwig XII. mit uneinge-
schränkter Gewalt in Frankreich regiert habe, und dass unter
Ludwig XI. die heutige Verfassung Frankreichs gebildet worden.
Ludwig XII. hat so wenig als seine Nachfolger bis auf Ludwig XIII.
unumschränkt regieret. — Die heutige Verfassung Frankreichs ist
weit jünger und ein Werk des Kardinals Richelieu. — S. 83
mischt der Verfasser das zusammen, was von zween Zaren Iwan
Basilowitz I. und Iwan Basilowitz II. geschehen ist, und macht
aus ihnen eine Person. Iwan Basilowitz I. befreyete sein Reich
von der Oberherrschaft der Tartaren: aber Iwan Basilowitz IL,
dei* Tyrann, eroberte Kasan und Astrachan. S. 84 hat Isabella,
Königin von Spanien, die Schicksale der Monarchie völlig dem
Kardinal Ximenes übergeben — . Das konnte und wollte sie
nicht, weil sie nur Königin von Gastilien war, und sie hat bis
an ihr Ende selbst regieret, wozu sie Verstand und Muth genug
hatte. Ximenes verwaltete die Regierung erst nach König Fer-
dinands Tode. — S. 85 sagt Herr H. wieder von dem Kardinal
Ximenes: 'Karl V. entfernte ihn von allen Staatsgeschäften. Er
verliess den Hof und starb einige Zeit darnach*. Ximenes ist gar
nicht an Karl V. Hofe gewesen. Seinen Abschied erhielt er
schrifllich, sobald Karl in Spanien angekommen war. S. 93 ent-
setzen die schwedischen Stände den Erzbischof Gustav Trollen
1518 der Regierung und seines Erzbissthums. Das letzte ist nur
wahr. Denn die Regierung führte nicht er, sondern der Reichs-
vorsteher Sten Sture. S. 99 heisst es : *Karl (König von Spanien)
besass Länder, die sehr weit von Deutschland entfernt waren;
Franz I. gränzte sehr nahe an unser Vaterland\ Aber wie?
Gränzten denn die Niederlande, die unter Karls Herrschaft stunden,
nicht in einem langen Striche unmittelbar an Deutschland? S. 135
sagt Herr H., 'dass selbst Könige wider den Petrus Waldus die
Wafifen ergriffen haben* Und in einer Anmerkung nennt er diese
Könige Ludwig den dritten von Frankreich und Heinrich II. von
England. Diese beyden Könige kamen hier sehr wunderbar zu-
sammen. Aber Ludwig der dritte gehört nicht in die Gesellschaft.
Denn dreihundert Jahre nach seinem Tode hat er den Waldus
nicht bekriegen können.
Diese Exempel von den historischen Sünden unsers prag-
matischen Geschichtsschreibers mögen genug sein, ob man gleich
die Zahl, wenn man wollte, vermehren könnte. Wer soviele
Streifereien als Herr H. in das weite Gebiet der Geschichte thut,
muss die Stellen, die er berühren will, wohl kennen, oder einen
Wegweiser zu Hülfe nehmen, sonst wird er sich verirren. Dieses
ist Herrn H. aus Mangel der nöthigen Kenntniss und Vorsicht
wiederfahren. Er hüte sich künftig vor solchen Fehlern! Aber
V. Weilen, Lessing und die Hambargische N. Zeitung. 407
nun rauss ich auch noch die grosse Reihe der Wahrheilen be-
schauen, welche (S. Xlll) *die vortrefflichen, aber meistens ver-
borgenen Schätze der Bibliotheken, die Handschriften, seinem
Geiste gezeigt haben'. Da er viele von verschied nen Orten,
aus Königl. und Forstlichen Bibliotheken (S. XXV) bekommen hat;
so erkennt er dieses auch pflichtmässig mit dem verbindlichsten
Dank — *Er preiset (S. XXXI) unsere Zeiten glucklich, in welchen
grosse Könige und weise Forsten dem menschlichen Geschlecht
die grösste Wohllhat, die Ausbreitung der Künste und Wissen-
schaften schenken; und niemals wird er aufhören, sich mit den
feurigsten Wünschen für so liebenswürdige und grosse Fürsten
dem Thron der Gottheit zu nahen.' Die Begeisterung womit
Herr H. hier redet, verspricht schon zum voraus sehr wichtige
aus seinen Handschriften gemachte Entdeckungen. Wohlan denn!
ich will sie dem Leser auch nicht vorenthalten , sondern ihm
treulich vorlegen. Allein, wie unglücklich bin ich? Da ich das
Buch noch einmal von einem Ende bis zum andern durchlaufe,
um die grosse Reihe neuer Wahrheiten zu entdecken, so finde
ich nichts, das nicht schon längst in gedruckten Büchern stünde.
Und gleichwohl sagt Herr H. in der Vorrede (S. Xlli), 'dass bei
einem so erhabenen Gegenstande, den er sich gewählt, die be-
kannten Geschichtschreiber gar nicht seine Wegweiser wären'.
Aber wie? ist denn der gute Arnold kein bekannter Geschicht-
schreiber? Alles was wir von des Ghurfürsten Alberts von Mainz
Verkaufung des Reichssiegels an den kayserlichen Minister Gran-
villa, von der Undankbarkeit der Wittenberg'schen Theologen
gegen ihren Herrn, den Kurfürsten Johann Friedrich, von der
Verrälherei seiner Minister, von den Umständen der unglücklichen
Schlacht bei Mühlberg, von der Untreue und dem geheimen Ver-
ständnis des Landgrafen Philipp von Hessen mit dem Kaiser (und
diese Begebenheiten sind nun vornämlich die grossen und neuen
Wahrheiten) bei unserm pragmatischen Geschichtschreiber in
seinem Buche (S. 104 — 108. 113 — 114) und hernach in den
Urkunden (S. 99 — 130) lesen, findet man bei dem Arnold in
einer Handschrift, die derselbe hat drucken lassen, und zwischen
welcher und der, welche Herr H. gebraucht hat, in den eben
angeführten Begebenheiten kein wesentlicher Unterschied ist. Und
dennoch sagt er S. 1 07 mit einer stolzen Miene : 'Wie viele Ver-
läumdungen (von dem Ghurfürsten Johann Friedrich) werden nicht
aufhören, wenn meine Zeitgenossen die Verrätherei eines Philipps
von Hessen, welche meine Vorgänger die Geschichtschreiber mit
eineni tiefen Stillschweigen unterdrückt haben, betrachten werden'.
Also hat Herr H. diese Anekdote zuerst entdeckt. Mit gleicher
Dreistigkeit sagt er (S. 1 08) 'Wie unrichtig ist nicht bis auf unsere
Tage die Schlacht bei Mühlberg beschrieben worden?' — Er ist
also der erste, der sie richtig beschrieben hat. — Ist es möglich,
dass einer, der schreibt, und dabey denkt, so schreiben und noch
408 V* Weilen, Lessing und die Hamburgische N. Zeitung.
dazu — (S. 113) die Wahrheit auffordern könne, dass sie selbst
hervortreten, und allein reden sollte? — Unser pragmatischer Ge-
schichtschreiber hätte die Wahrheit hier wohl in Ruhe lassen
können. Denn es ist ihre Gewohnheit nicht, etwas, das alt und
bekannt ist, für was neues und unbekanntes auszugeben. Wahr-
haftig, wer glaubt, dass er dadurch, dass er längst bekannte und
gedruckte Sachen erzählt, und Handschriften zum Beweise anführt,
ein Erfinder neuer Wahrheiten werden könne, der kann dieselben
mit leichter Mühe, bey hunderten und tausenden entdecken.
Denn es giebt noch Handschriften von allen alten Autoren. Allein
das Publikum wird neue Entdeckungen von diesem Schlage ver-
bitten. Denn wenn sie Mode werden sollten, so würden gewiss
jede Messe die pragmatischen Historien hundertweise erscheinen.
Herr H. muss eine sonderbare Begierde gehabt haben, seinem
Buche durch Handschriften ein Ansehen zu geben. Denn wes-
wegen sonst hätte er die fünftehalb Bogen starke Apologie des
Lemnius ganz abdrucken lassen, ungeachtet er selbst sagt, dass
sie zum Beweise nicht tauge. Wenn ihm darin vielleicht die
anzüglichen Stellen gegen Luthern ein Vergnügen machten, so
hätte er sie auszugsweise anführen können. Solchergestalt würden
die Urkunden, die itzo fast neun Bogen anfüllen, nur ungefähr
einen eingenommen haben. Aber alsdann würde das Büchlein
allzuklein gewesen seyn — Lächerlich ist es, wenn Herr H. S. 79
zum Beweise eines Satzes, an dessen Wahrheit niemand zweifelt,
die von weil. Adam Eberti, Spanischen Gedächtnisses, in das
Lateinische übersetzte Historie des Sandovals anführet, eine Hand-
schrift von vier Foliobänden, die in der Bibliothek liegt. Wozu
war es nöthig, diese Handschrift hervorzusuchen , da Sandovals
Leben Karls V. gedruckt ist. Das ist ja eben so, als wenn je-
mand z. B. statt den gedruckten Mezeray anzuziehen, sich auf
eine irgendwo in einer Bibliothek steckende deutsche oder latei-
nische ungedruckte Übersetzung dieses Geschichtschreibers be-
rufen wollte, um dadurch zu zeigen, dass er Handschriften ge-
braucht habe.
Herr H. ist sonst kein Freund vom allegiren ; aber in diesem
Buche thut er es oft, und zuweilen ohne Noth z. B. Seite 57
steht der kurze Satz: Philipp (König von Gastilien) stirbt. — Und
hiebey werden Petri de Angleria Epistolae angeführt. Wer ver-
langt wohl einen Beweis, dass Philipp gestorben sey? Der an-
gezogene Autor nennt sich Petrus Martyr Anglerius. Allein Herr
H. ist überhaupt sehr unrichtig in den Namen der Schriftsteller
und den Titeln der Bücher, die er anführt. Also nennt er den
Guicciardini immer Guicciardino ; und Seite 60 muss es, anstatt
Müllers Reichsstaat, wohl heissen: Reichstagsstaat. In den AUe-
gaten macht er den Leser auch bekannt, dass er Pasquillorum
Tomos II mit prüfenden Urteile und mit Eifer für die Wahrheit
übersehen, und Mornayi Mysterium Iniquitatis gelesen habe. Es
y. Weilen, Leasing und die Hatnburgische N. Zeitung. 409
ist Schade, dass die Früchte dieses Übersehens und Lesens in
seiner pragmatischen Historie unsichtbar sind.
Die Schönheit des Styls ist eine Vollkommenheit, worauf
Herr H. besonders Anspruch macht, und er hat auch schon in
der Vorrede zween Richter ernannt, die entscheiden sollen, ob er
in seinem Buche diese Scliönheit verfehlt oder erreicht liabe. Ich
habe diese Entscheidung noch nicht gesehen; ob ich es gleich
gewünscht, weil das Urtlieil dieser berühmten Männer das meinige
hätte leiten können. Wenn ich indessen nach meiner eigenen
Empfindung urtheiien soll, so muss ich aufrichtig bekennen, dass
ich zwar Fehler, aber keine Schönheiten in der pragmatischen
Geschichte gefunden habe. Der Verfasser ist darin von dem
historischen Styl der Alten, die er doch sonst zu Mustern empfiehlt,
gänzlich abgewichen. In seiner Schreibart herrscht ein unnatür-
licher und afTektirter Enthusiasmus, und ein Deklamationston, der
sich für den Geschichtschreiber nicht schickt. Überall findet man
gesuchten Witz, Gegensätze, die oft blosse Wortspiele sind, hyper-
bolische Ausdrücke und leere Töne, öftere Wiederholungen und
abgebrochene Gedanken, die durch eine Menge — — —
bezeichnet werden. Wenn die Mode, dies Letztere, wie es scheint,
zum unterscheidenden Kenntzeichen der heutigen schönen Geister
gemacht hat, so ist Herr H. der schönste unter den schönen
Geistern. Diese viel bedeutenden und vielleicht eine magische
Kraft habenden Striche erblickt man sehr häufig in
dem Buche. Aber ich muss die Vorwürfe, welche ich dem Ver-
fasser wegen seiner Schreibart gemacht habe, auch wenigstens
durch etliche Beyspiele rechtfertigen. Hier sind sie: S. 57. Das
Glück sammelete alle seine Macht, um sich mit diesem Fürsten
auszusöhnen. — S. 62. Kleine Fürsten hatten ihre Städte ver-
pfändet, um grosse Thorheiten nachzuahmen. — S. 64. Julius II.,
dessen Ehrgeiz ganz Italien mit seinem Blute nicht würde be-
sänftiget haben. — S. 71. Diese Unordnung in dem Finanzwesen
ist ein besonderer und hell hervorschimmernder Staatsfehler des
Hauses Österreich gewesen. — S. 80. Die grossen Herren, welche
kleine Tyrannen gewesen waren. — S. 90. Hier verlasse ich diese
Princessin (Margaretha, Königin von Navarra, Franzen's I. Schwester)
oder vielmehr die Tugend, und eile, um das Laster zu betrachten.
Diese Ehre in die Tugend verwandelt zu werden, hat die gute
Margarethe wohl bloss dem Gegensatze: Laster, zu danken. —
Zuweilen erlaubt der Verfasser sich auch satyrische Züge gegen
Personen, die ausser den Grenzen seiner Geschichte sind, als
S. 48: Friedrich August, den seine Sachsen in Vergleichung nur
immer den Grossen nennen können. Dergleichen AngrifTe schicken
sich nicht in die Historie, und wir haben die Alten auch darin
nicht zu Vorgängern. Einmal lässt Herr H. sich allzusehr von
der Hitze des Zornes überraschen, wenn er Seite 106 schreibt:
'Jeder sächsischer Patriot wird, wenn er sich ihren (der verräthe-
410 y.WeiIeD, Lessing nnd die Hamburgische N. Zeitung.
Tischen Minister des Churfiirsten Johann Friedrichs) Grähern
nähert, die gerechte Rache des Hinnmels auffordern'. Was soll
die Folge dieser Aufforderung der göttlichen Rache seyn? Die
Männer sind ja lange todt, und schon vor ihrem Richter. Oder
soll etwa der Donner in ihre Gräber schlagen? Wem könnte
dieses was helfen? Christen müssen nicht so rachgierig seyn.
Zuweilen braucht Herr H. undeutsche Redensarten, als S. 46:
der ihm die Krone geplündert hatte. Dies ist ein Favoritausdruck
des Verfassers, dessen er sich oft bedienet. Aber wer redet oder
schreibt so? Man sagt die Krone rauben — Es ist eine Regel
des hystorischen Styls, dass der Ausdruck den Sachen und Per-
sonen angemessen seyn muss. Und hiewieder handelt Herr H.
auch zuweilen. — S. 34 sagt er: Ludwig bestieg den Thron
Maylands. S. 63. Ehe das Haus Medicis den Thron bestieg, und
S. 75. Maximilian Sfortia bestieg den Thron. Den Aus-
druck: den Thron besteigen, braucht man allein von Kaysern und
Königen. — S. 63 heisst es: der Herzog konnte seine Ländereyen nur
solange behaupten — Ländereyen sind Landgüter, und die sollen
hier doch wohl nicht verstanden werden. — Endlich so verunzieren
den Styl unseres pragmatischen Geschichtschreibers einige allzu
oft gebrauchte Flickwörter, als Kurz und Mit einem Worte, die
man zuweilen auf einer Seite etliche mal lisl. — Andere Fehler
übergehe ich. — Diesem allem ungeachtet soll doch das Buch,
(wie zu glauben ist, auf eigne Bemühungen des Verfassers) in das
Französische übersetzt werden, oder ist schon übersetzt. — Dieses
war nöthig, damit sich auch die Franzosen daraus erbauen, und
die neuen grossen Wahrheiten lernen möchten.
Noch einen besondern Übelstand entdecke ich zuletzt in
unserm Geschichtschreiber. Er hat allzuviel, und fast beständig
mit seinem eigenen Individuo zu thun. Weder Livius in seinen
übrigen Büchern, noch der P. Daniel, noch Rapin in ihren zehn
Quartanten, sprechen so viel von sich selbst, als Herr H. in
seinem Oktavbüchlein von 140 Seiten thut. Lasst uns ihn ein
wenig auf seiner Laufbahn begleiten, und seine Bewegungen
beobachten. — S. 12. Er liebt die Wahrheit, und kann sie aus
keinen Absichten bey sich unterdrücken. S. 13. Er eilt in seinen
Betrachtungen fort. — S. 24. Er nähert sich immer mehr dem
grossen Gegenstande. — S. 51. Unter dem mächtigen Schutze
der Wahrheit, will er die Triebfedern der Begebenheiten auf-
suchen, und — nach der Natur abzeichnen. — S. 52. Er eilt
den Gesandten in das Cabinet ihres Königs nach. — S. 53.
Tausend Begebenheiten muss er sich vorstellen, um eine völlig zu
überdenken. — Er sähe schon die hellsten Strahlen des Lichts,
und auf einmal wird es Nacht. Er soll unter dem Volke sein
und königliche Palläste bewundern, nicht beschreiben. S. 54.
Mit der Geschichte in der Hand, will er noch einmal versuchen,
sich unter unzähliehen Auftritten und mannigfaltigen Gegenständen
y. Weilen, Lessing und die Hamburgische N. Zeitung. 411
durchzudrängen y und die Schicksale Europens beschreiben. Er
verliert den Muth und sein Plan bleibt unvollendet. — S. 61.
Kaum wird er das Gemähide abkopiren — können. — S. 71. Er
verlässt den Leser, dieser soll selbst die Geschichte unserer Tage
überdenken. — S. 77. Er hat seinen Weg vollendet. — Er er-
innert die Leser, dass er einzig und allein den Geist und die
Sitten der Könige und Forsten, der Helden und der Staatsmänner
vorzustellen gewagt habe. — S. 83. Er schreibt für keine Jüng-
linge. — S. 94. Er wünscht, dass er die Namen beyder Tyrannen
(Christians II , Königs von Dänemark und des Erzbischofs von
Upsal, Gustav Troll) auf ewig aus der Geschichte vertilgen könne.
Sehr oft nähern seine Gedanken sich beyden Tyrannen.
Allein die Empfindungen des Schmerzes überwältigen sein Herz
und unterdrücken das Nachdenken. Er sieht dies vergossene
Blut. Er höret die Seufzer er empfindet alle Schmerzen,
welche die unglücklichen gequält haben. — Der Leser soll selbst
denken? — S. 103. Unter dem mächtigen Schutze der Wahrheit
tritt er (noch einmal) getrost hervor. — S. 119. Mit stillen
Thränen sieht er auf seine Vorfahren zurück. — S. 122. Er eilt
in den Tempel der Geschichte um Luther ganzes Leben zu be-
trachten. Allein welches Labyrinth? Hier erblickt er Ehren-
säulen, mit diesen prächtigen Sinnschriflen geziert: Dem Erretter
des menschlichen Geschlechts! dem Apostel der neuern Zeilen;
dort stehen Altäre, und auf denselben Priester, die noch immer
seinen Namen, als einer Gottheit opfern. — Er eilet fort, und
entdeckt ebenso viele Satyren auf diesen Stifter einer neuen
Sekte, als Lobsprüche, unzählige Verläumdungen. Getrost nimmt
er die Wahrheit bey der Hand. Sie soll ihn an den Klippen
vorbeyführen , wo er leichfc scheitern könnte. — — Wir haben
bisher unsern Verfasser auf seinem Wege begleitet ohne uns mit
ihm zu unterhalten. Allein bey diesem Galimathias wird er uns
erlauben zu fragen: wie Schmeicheley (denn davon sind die
Sinnschriften der Ehrensäulen und die Priester auf den Altären
Zeichen) und Satyre und Verläumdungen in dem Tempel der
Geschichte kommen ? Er ist ja allein der Wahrheit gewidmet. —
Doch Herr H. ruft bey dem Eintritt in den Tempel aus: welches
Labyrinth! — Er muss also, man weiss nicht wie, aus dem
Tempel in ein Labyrinth gerathen seyn und dort jene seltsamen
Erscheinungen gesehen haben. Er nimmt die Wahrheit bey der
Hand. War sie denn auch in dem Labyrinth? Sie soll ihn an
den Klippen vorbeyführen. — Wie, waren denn in dem Laby-
rinthe Klippen? Dies beyläufig. — Wir folgen ihm noch einige
Schritte, und da hören wir ihn (Seite 134) die grossmüthige Er-
klärung thun, dass er von einigen wenigen, aber weisen Freunden
geliebt, die Sprache der Verläumdung nicht achten werde. —
Nun eilen wir mit ihm zu Ende, damit er uns noch die letzte
grosse Wahrheit entdecke, welche nach dem Versprechen, das er
412 £. Schmidt, Lessing und die Hamburgische N. Zeitung.
in der Vorrede gethan, dem Beschliisse dieser Geschichte gewidmet
war. Hier ist sie mit seinen eignen Worten: * Weder unsere
Tugenden, noch auch unsere Laster sind neu, sondern das Erb-
theil unserer Vorfahren'. — Führwahr ich erstaune über diese
grosse Wahrheit, um so vielmehr, als jeder aufmerksame Leser
sie aus der Geschichte eines jeden Staates, ja aus der Chronik
einer jeden Stadt ziehen kann. Warum hat sicli denn unser
pragmatischer Geschichtschreiber die beschwerliche Mühe gemacht,
da diese grosse Wahrheit so handgreiflich und längst bekannt ist,
ihrentwegen ein Büchlein von 1 40 Seiten zu schreiben, demselben
eine Vorrede von 46 Seiten vorzusetzen, und ihm sehr entbehr-
liche Beylagen und Urkunden, die 134 Seiten betragen, anzu-
hängen. Dieses begreife ich nicht. Er hätte ja, wenn er seine
grosse Wahrheit nicht bey sich behalten konnte , sich ihrer auf
eine ihm selbst leichtere und für die Leser weniger kostbare Art
entledigen können.
Wien. Alexander von Weilen.
Beilage.
Meinen Zweifel an der Berechtigung, Lessings Werke
um diese Recension gegen Hausen zu vermehren, worin
weder Redlich, noch ich, noch irgend ein anderer Leser
der Hamburgischen Zeitung die Löwenklaue wahrgenommen,
möchte ich mit einigen Worten begründen. In Lessings
Briefen deutet keine Spur auf einen solchen vorläufigen
Tanz mit den Klotzianern hin; auch wäre es wunderbar,
dass er nach so eingehender Beschäftigung nirgends in den
antiklotzischen Schriften und Entwürfen von dem 'prag-
matischen Geschichtschreibcr^ gesprochen haben sollte.
Ich sehe Lessing damals, wo die lange Kritik geschrieben
sein muss, nur mit der 'Hamburgischen Dramaturgie' be-
schäftigt und zu archäologischen Auseinandersetzungen ge-
rüstet. Warum hätte er seine geringe Müsse gerade an
jenes liederlich zusammengeklaubte Machwerk übelster
kirchenhistorischer 'Aufklärung' verschwenden sollen? Die
Collectanea bieten keine einschlägige Notiz. Doch will ich
von solchen Argumenten ex silentio absehen. Das Zeichen
** fallt kaum ins Gewicht; auch Lessings Autorschaft der
dürftigen Ramleranzeige ist mir unglaublich. Die gegen
Hausen angestrengten historischen Detailkenntnisse standen
Lessing gewiss zu Gebote; aber wer die 'Antiquarischen
£. Schmidt, Leasing und die Hamburgische N. Zeitung. 413
Briefe' oder nur die kleine Kritik des Meuselschen Apollodor
daneben hält, wird gegen den Lessingschen Ursprung dieser
weitschweifigen, mit einem Biesencitat einsetzenden und
trotz ein paar blank und scharf, meinetwegen Lessingisch
geschliffenen Sätzen doch zu oft .ermattenden Kritik unüber-
windliche Bedenken hegen. Würde Lessing sein Urtheil
so an Einzelheiten geheftet haben, ohne die ganze schale
Darstellung des sechzehnten Jahrhunderts nach Gebühr zu
züchtigen? Ob er so auf die ^Fragmente' Herders gestichelt
hätte? Die Art, wie des Lemnius gedacht ist, scheint mir
eher wider als für Lessing zu zeugen, den übrigens Hausen
S. XXVII ehrerbietig als den 'berühmten Herrn Lessing' an-
führt. Die Sprache ist schleppender als alles was Lessing,
besonders im Polemischen, damals geleistet hat. Eine
Relativconstruction wie 'die . . . und zwischen welcher und
der, welche' möchte ich einmal aus Lessings reifer Prosa
belegt sehen ! Und die scheinbaren Übereinstimmungen sind
doch gar zu äusserlich, als dass sie der ganzen Haltung,
den vielen Umständlichkeiten und Schwächen dieser Kritik
gegenüber irgendwie entscheiden könnten. Ein 'Litteratur-
briefchen', wie Lessing nach dem Schreiben an Nicolai
(2. Februar 1768) eines gegen die 'jungen Herren' versuchen
wollte, liegt hier jedenfalls nicht vor. Gäbe es in solchen
Fragen eine Abstimmung, so würde ich unbedingt mit Nein
Yotiren und mir einen kleineren Mann, der an sich recht
gescheit und brav, aber an Lessing gemessen doch nur
mittelmässig schreibt, als Verfasser denken.
•Hausen selbst, der wie alle Klotzianer über Recensir-
angelegenheiten immer genau unterrichtet war, weiss offenbar
nichts von Lessings Autorschaft, oder will mindestens nichts
davon wissen. Er antwortet in seiner Allgemeinen Biblio-
thek der Geschichte 2, 1 30 ff. (vom Sommer 1 768) denjenigen
Gegnern, die er durch das ganze Buch und durch einen
directen Angriff auf die Wittenberger Nachkömmlinge S. XXIX
herausgefordert hatte , den Orthodoxen, Wemsdorf, Güling.
Man hatte sogar lateinische Schmähdisticha auf den schamlosen
Hausenius geschmiedet. Übrigens gibt Hausen S. 138 seiner
Beplik zu, dass des Lemnius Apologie besser weggeblieben
wäre. Kein Wort von einer Hamburgisehen Recension.
VierteljahTBchrift für Litterataigeschichte III 28
414 1^- Schmidt, Lessing und die Hamburgische N. Zeitung.
Klotzens Acta litteraria und Deutsche Bibliothek igno-
riren das todtgeborene Werk, das auch keine Fortsetzung
fand. Erstere machten noch 1, 456 und 3, 164iF. (Qeschichte
des menschlichen Geschlechts I, mit einem Hinweis S. 179
auf die versprochene Protestantengeschicfate) für Hausen
Reclame, um dann nur noch 7, 229 bei Gelegenheit der
Mangelsdorfschen Tita den undankbaren Pamphletisten ver-
ächtlich abzuthun. Hausen ist 1767 ein eifriger Partei-
Journalist und stösst — wenn anders der Redacteur auch
hier der Verfasser ist — 1768, als Mensel den Caylus über-
setzt, Klotz ihn eingeleitet hatte, in die Trompete, Klotzens
verhängnissvolle Erklärung der romischen Ahnenbilder rüh-
mend, Allg. Bibliothek der Geschichte 2, 35. Aber er zerfiel
eben 1 768 vollends mit seinem werthen Freund und Gönner.
Und da ihm von Lessings Seite kein unmittelbarer Streich
widerfahren war, übte er nach Klotzens Tode die gemeine
Taktik, in einem Athem den Verstorbenen zu beschimpfen
und Lessing zu schmeicheln. Sein berüchtigtes Pasquill,
wo auch ein persönliches Gesprach mit Lessing über
historiographische Dinge wiedergegeben ist, erzählt S. 20 f. :
'Die letzte Veranlassung zu der völligen Trennung gab
endlich die von dem Herrn Hausen abgefasste Geschichte
der Protestanten. Herr Hausen hatte jeden Bogen dieser
Geschichte dem Herrn Klotz in der Handschrift vorgelesen,
sich mit ihm über das Ganze und über einzelne Ausdrücke
unterredet, und nicht selten die Heftigkeit dieses und jenen
Ausdrucks mildem wollen, wenn sein Freund die Verände-
rungen billige : allein Herr Klotz billigte die ganze äusser-
liche Einkleidung der Begebenheiten, ja er beehrte sie mit
den grösten Lobsprüchen. So bald aber dies Buch heraus-
gekommen war: so äusserte Herr Klotz in Gesellschaften
und in Briefen an seine Correspondenten die bittersten Ur-
theile über dieses Buch; ja er war es, so ein grosser Be-
wunderer derselbe auch anfangs von diesem Geschichtsbuche,
wenigstens gegen seinen Freund gewesen war, der ihm die
ersten öffentlichen nachtheiligen Urtheile über diese Arbeit
zuzog\ — Vielleicht auch jenes Hamburgische? — *Herr
Hausen, der sowol seinen Briefwechsel unterhielt, als Herr
Klotz, erhielt von diesem Betragen unleugbare Beweise.'
E. Schmidt, Lessing und die Hamburgische N.Zeitung. 415
In Hagens Sammlung der Briefe deutscher Gelehrten
an den Herrn Geheimen Rath Klotz 2, 40 zieht der Berliner
Conrad schon am 27. November 1767 über Hausens Buch
wie über das Machwerk eines preisgegebenen Scriblerfi los:
'Sagen Sie mir doch in aller Welt, was Herr H*** mit
seiner **** Geschichte will? überall höre ich von Ken-
nern sie einmüthig verdammen ; die ganze Ausführung miss-
ßlllt; der Ton, der ganze Ton, mit dem er gegen die Re-
formatores deklamirt, ist verdächtig, und seine Feder dabey
in Gift getaucht; ich kann Ihnen versichern, dass er sich
Leute zu Feinden macht, die ihm das können vergelten, und
einmal empfinden lassen. Die Formeyische Übersetzung —
Formey ist in der, gleichfalls Halle 1767 erschienenen,
Histoire des Protestans en Allemagne nicht als Dolmetsch
genannt; das soheussliche Kupfer fehlt hier — 'soll erbärm-
lich seyn — ich hoffe nicht, dass weder diese, noch das
Original irgendwo wird gelobt werden. Was für ein Unter-
schied zwischen seinem Styl und dem in der Schröckhschen
Biographie!'
So hat der 'pragmatische Geschichtschreiber' bei dem
Haupt und bei den Gliedern des Klotzianismus gründlich
Fiasco gemacht. Sein Buch wurde gleich nach dem Er-
scheinen von Freund und Feind abgelehnt, am heftigsten
von der lutherischen Orthodoxie. Die unverdrossene Be-
mängelung einer so nichtsnutzigen und so allgemein für
nichtsnutzig erkannten, im eigenen Lager todtgeschwiegenen
Scharteke sollte Lessings Feldzug gegen die Hallenser Sippe
eingeleitet haben? Nimmermehr. Oder hätte er sich etwa
die langathmige Kritik in matten Stunden abgequält, um
seinem lutherischen Freunde, dem Hauptpastor Goeze,
ein Vergnügen zu machen? Schwerlich.
Berlin. Erich Schmidt.
28*
4t 6 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Aus dem Briefwechsel zwischen Bfirger und
Goecklngk. ^)
II. Mai 1778 — Juli 1784.«)
Aus den Briefen vom Anfang des Jahres 1 778 war der
alte herzliche Ton geschwunden und es dauerte längere
Zeit, bis er sich wieder einstellte. Am 2t. Mai 1778 ver-
langt Goeckingk (Strodtmann, Bürgerbriefe Nr. 486) das
Manuscript seines ^Adlerkant' und ^was vom Yorigen Göt-
tingschen Almanach übrig geblieben ist' zurück. Ein zweiter
Brief, der diese Bitte wiederholt haben rouss (vgl. Nr. 50 t),
ist nicht erhalten.
Bürger antwortete erst sehr spät:
42. Bürger an Goeckingk.
Wöilmershausen den 19*<^° August 1778.
Ihr schriebet einmal, lieber Goeckingk, und reklamirtet einige
Gedichte, welche noch in dem Dieterichsehen Musenalmanachs
Archiv befindlich wären. Wenn ich mich auch zu Tode suchte,
so kan ich doch Euern Brief nicht wieder finden. Ich weiss
also nicht eigentlich, was für welche Ihr zurück verlanget. In-
dessen habe ich noch einige ungedruckte Stücke von Euch, auch
eins von Nantchen und, wenn ich nicht irre, von Stamford nun-
mehr aufgefunden. Ihr müst mir notwendig einen neuen Finger-
zeig geben. Aber bald! Denn sonst — so wahr der Herr lebt
und meine Seele lebt! — sonst vergreife ich mich eben so in
der Not dran, als der König David sich in seinem Hunger an den
Schaubroden vergrif. Solchen Mist, als dies Jahr zum Almanach
eingelaufen ist, könt Ihr Euch gar nicht vorstellen. Gott weis!
wie ich nur fünf erträgliche Bogen volmachen sol, zu geschweigen
^) Das Fragezeichen zu dem Namen ROtgeroth , oben S. 98, ist
unnöthig. Das Bild dieses in Einbeck wirklich geräderten Mörders
Rüttgerodt erhielt Lavater von Zimmermann und schloss daraus auf
ein 'schöpferisches Urgenie'. Zimmermann sandte ihm dann auch den
Lebensahriss, und nun erklärte Lavater in den Physiognomischen Frag-
menten Th. II Frgmt. XVIII S. 194, wo er das Abbild vorlegte, den
Mann f&r einen 'lebendigen Satan*. Auch Lichtenberg erwähnt Rüttge-
rodt Werke 4, 117.
Berlin 21. 2. 90. Richard M. Meyer.
<) s. oben S. G2 ff.
Sauer» Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 417
denn ein ganzes Duzend. Fast kein einziges Stück von den bis-
her abgedrukten habe ich reinweg, sob wie es ein gekommen ist,
brauchen können, sondern das meiste, was noch einiger massen
war, fast ganz umarbeiten müssen, ihr braucht mir nicht des
Almanachs wegen zu fluchen; mich trift ohnehin des Fluchs so
▼iel, dass ich mich vor Desperation bei dem Gewerbe aufhängen
möchte. Und mus gerade diesen Sommer über so viel andre
Geschäfte haben! Aber dafür wil ich auch mein Mütchen an
den poetisclien Mistmachern in der Vorrede recht kühlen. Da es
mir ganz gewis an Materie fehlen wird, die Bogenzahl nur er-
träglich zu füllen, so werde ich zur erlaubten GemütsErgözung
einige Bogen von dem ganz extradummen Zeuge volmachen, es
wäre denn, dass Ihr barmherzig genug wäret, mir die reklamirten
Stücke ganz oder zum Theil noch abzu treten.
Übrigens dient von mir zu wissen, dass ich mich diesen
ganzen Sommer über gar elend befunden habe. Ich habe zwar
Brunnen und Bad zu Hofgeismar gebraucht; bin aber um wenig
oder nichts gebessert worden. Meine Frau und mein Mädel be-
linden sich wohl. Ich wünsche von den Eurigen, die ich grüsse
und küsse, ein gleiches zu hören. Meine älteste Schwägerin
Annchen, wird in einigen Tagen mit einem wackern Knaben,
dem Amtsvoigt Elderhorst in Bissendorf Hochzeit machen. Woll-
mershausen steht übrigens noch auf dem alten Flecke; und
Bettelmann wird nachgerade alt und stumpf. Vale
G ABürger.
Antwortet mir bald!
Am 30. August wiederholte Goeckingk sein Verlangen
zum dritten Mal (Nr. 501), den» Bürger nun endlich nach-
kam.
43. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen den 10. September 1778.
Die beiden Fabeln, welche ich, um das Manuscript, worauf
noch andre ungedruckte Stücke standen, nicht zu zerreissen, ab-
geschrieben habe, erfolgen hiemeben. Im Manuscript habe ich
sie, so wie das bewuste Gedicht von Nantchen, ausgestrichen,
damit sie ein Nachfolger nicht noch einmal drucken last. Von
Herzen danke ich, dass Ihr mir die übrigen Stücke überlasset.
Den Adlerkant habe ich mit heutiger Post an Bolen abgesendet.
Es scheint, als glaubtet Ihr, ich hätte aus Vorsaz gezögert, so
wol jene, als dieses Stück herauszugeben. Aber um des Himmels
willen! was solte mich denn wohl dazu bewogen haben? Nichts,
als Zerstreuung, Reisen und Plackereien sind an dem Verzuge
Schuld. Das ist manchmal so weit gegangen, dass ich den Brief,
den ich heute erhalten und gelesen, morgen schon wieder ver-
gessen hatte.
418 Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Eures Bruders Ehre ^) hatte ich schon in den Zeitungen, die
ja ein Philister wie ich, wenigstens zu jeziger Zeit wol mithält,
gelesen und mich Euertwegen drüber gefreuet. Er mus wol ein
weidlicher Knabe seyn. — Aber Eure Reise nach Berlin und rer-
niutliche Beförderung an einen andern Ort, wohin ich warschein-
lich in meinem Leben nicht kommen, mithin Euch nicht wieder-
sehen werde, macht mir das Herz so dick, dass ich weinen
mögte. Standen mir nicht so viele Hindernisse im Wege, so
trabte ich zu Euch, um Euch wenigstens noch einmal auf der
Oberwelt zu sehen. Mir ist neulich eine Stelle am Rhein ange-
tragen worden; die sehr vortheilhafl schien. Ich habe mich da-
rauf vorläufig erst nach diesem und jenem erkundigt; und laure
nun, wie ein Narr, von einem Posttage zum andern, auf Ant-
wort. Ich gienge wol nach Otaheite, so fatal ist mir mein hie-
siger Aufenthalt, der, wenn er noch lange dauren solte, meine
ganze Menschheit vernichten wird. Hätte ich keinen Kloz an den
Füssen, so wär^ ich schon längst aufgebrochen. Euch kan es
nicht fehlen ; dass Ihr nicht ein erwünschtes Glük machen soitet.
Dass ich es aber nicht weiter, als höchstens in einem verhunzten
Konterfey vor der Allgemeinen deutschen Bibliothek* zu figuriren,
bringen kan, daran ist mein Gros Vater, Gott habe ihn seiig!
Schuld. Ich bin in einen so abgelegenen Winkel hin hoffirt, wo-
hin kein Schwein stänkert. Die Königin von Grosbfitannien wird
mir schwerlich, sogar den Subscriptionsthaler nur und die Aus-
lage für den schönen marmorirten und auf dem Schnitte ver-
guldeten Band bezalen. Nun! ich wil mich Eurer Gönnerschaft
empfolen haben. Denn nachgerade, denk ich, wird man das wol
können. Wenn ich noch solte Minister werden — denn wol zu
merken, die mir angetragene Stelle, ist eine Art von Minister-
stelle, an einem kleinen Hofe — so wil ich wiederum Euer
Gönner seyn.
Adiol Meine ganze Haushaltung grüst die Eurige GAB.
Ich möchte denn doch wol wissen, warum wir nicht mehr
sooft an einander schreiben. Es war denn doch sonst keine
kleine Freude, wenn ein Brief voll Schnurren Einen von einem
Posttage zum Andern in Gleichgewicht erhielt.
In Goeckingks Umgebung hatte der Streit um den Al-
manach grosses Aufsehen gemacht und man nahm für und
gegen ihn Partei. In einem solchen Streite wandte sich
ein Lieutenant Behm, damals auf Commando zu Sachs-
werfen bei Nordhausen an Bürger um Aufklärung, die
dieser in ausführlicher Weise mit Beifügung aller Beilagen
*) Der damalige Major v. Goeckingk erhielt nach dem Gefecht
bei Gabel den Orden pour le märite.
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 4 1 9
gab. Zu diesem Zwecke offenbar versah er das Prome-
moria Nr. 432 mit den Randbemerkungen, die bei Strodt-
mann mit abgedruckt sind, und schrieb auf Goeckingks
Brief Nr. 436 die seinerzeit gegebene Antwort aus dem
Oedächtnisse nieder. Auf diesen Streit bezieht sich
Goeckingks Schreiben Nr. 520 vom 14. December und
Bürgers Antwort:
44. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen den 22. December 1778.
Liebster Goeckingk
Wenn der Teufel Lust zu Unlust hat, mus es ja wol so
icommen. Glaubt mir ich bin mit Haaren dazu gezogen, diesen
Drek von neuen wieder umrühren zu helfen. — Der Lieut.
Behni schrieb mir hisce ipsissimis verbis:
^Gestern befand sich eine grosse Gesellschaft bei dem Amt-
man von WüUen zu llfeld, und da kaum einige Löffel Suppe hin-
unter geschlürft waren, so fiel auch schon die Rede auf Bürger
und Goeckingk. Einer aus der Gesellschaft nahm besonders das
Wort und sagte: Es ist doch von Bürger sehr unverantwortlich
gehandelt, dass er Goeckingk nur desfals überredet hat, die
Besorgung des Dietrichschen Almanachs abzugeben, um selbige
nebst dem damit verbundenen Vortheil an sich zu ziehen, und
dieses Betragen räumet sich mit dem Liede vom braven Manne
sehr schlecht u. s. w. Meine aufrichtige Verehrung gegen Sie,
liebster Freund, ist Ihnen völlig bekant; und deswegen wurde
ich gleich so heftig aufgebracht, dass ich öffentlich sagte: Ich
kenne den Amt. Bürger von aller eitlen Ehre und Gewinsucht
ganz frei, und deswegen glaube ich diese Beschuldigung, sie mag
kommen, aus welcher Quelle sie wolle, mit recht eine schänd-
liche Verläumdung nennen zu können\ —
Bis hieher hätte ich stille geschwiegen und keine Erläute-
rungen von mir gegeben, aber mein Korrespondent fährt weiter
fort:
'Ich versichere, mein Herr . . ., dass Sie und die ganze
Tischgeselschaft noch während meines hiesigen Aufenthalts von
der Sache unterrichtet werden sollen, und kan Bürger sich nicht
völlig verantworten, so wil ich, weil ich das Wort für ihn ge-
sprochen, bei der ganzen Geselschafft öffentlich Abbitte thun, und
Bürger als keinen braven Mann erklären. Verzeihen Sie, 1. Fr.,
dass ich Ihnen eine kleine Bemühung verursache ; es ist meinerseits
alles aus wahrer Hochachtung und Liebe geschehen. — Sie ant-
worten baldmöglichst u. s. w.'
Nie ist wol ein römischer Schuldner härter ans Ohr gepackt
und vor den Prätor geschlept worden, als ich in diesem Falle
420 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
zu meiner Erläuterung. — Diese habe ich denn dem Lieut. Behm
mit den erforderlichen Beilagen zugeschickt, und zuschicken müssen,
wlewol ich das fatale Stadt- und Landgeträtsch, dass daraus ent-
stehen mäste, voraussah. — Den Lieut. Behm kan ich wegen
seiner wahren und warmen Freundschaft nicht anders als doppelt
hoch schätzen, ob ich gleich wünschte, dass er seiner Verthei-
digung nicht diese Provocationsmässigc Wendung gegeben hätt;.
Denn ich kan mir leicht dergleichen Controversen bei der Suppen-
schüssel vorstellen; wo das Pro und Contra nicht eben imnoer
zum besten abgedrechselt wird. Indessen hat mir der Vorfal sehr
wehe gethan, weil er mich so viel unangenehmes wieder kafien
gemacht hat. Glaubt mir, lieber Goeckingk, hätte ich ihn ignorren
können, wie gern hätt^ ichs getlian! Ja, wenn mir auch noch
10 mal was ärgers nachgesagt wäre. Von Herzen bin ich Eurer
Meinung, dass man die Acten dicht und fest nun zubinde, sie
in den abgelegensten Winkel lege und handhoch bestauben lasse.
Daher bitte ich Euch, den Amtsschreiber Lüder zu bitten, dass er,
wenn ich ihn über lang oder kurz sehen und kennen lernen solte,
diesen Vorfal durchaus vergessen seyn lasse, da ich ohnehin geneigt
bin, das beste zu glauben, so würde eine weitere Rechtfertigung
überflüssig seyn und nur dazu dienen, mir diese nun nieder-
geschlukte Pille von neuem aufstossen zu machen.
Gern, lieber Freund, nahm ich Eure Einladung an, damit
die Leute sähen, dass wir gar nicht über den Fus gespant
sind. Diesen Ausdruck habe ich leider nun schon in so manchen
Fragen hören müssen, dass ich mir ihn schier in einem öffent-
lichen Avertissement verbitten mögte. Was sich doch die Menschen
Kinder in manchen Dingen um einen zu bekümmern belieben?
Ob man aber Brod im Hause hätte, oder keines, darum würde
sich kein Sterblicher, als höchstens ein Schmarozer, bekümmern. —
Um aber auf Eure Einladung wieder zu kommen — wie an-
nehmlich Ihr sie mir auch macht — so kann ich sie doch cliesmal
nicht annehmen; denn 1) saugt meine Frau ihr Kind noch 2)
Ist Weg und Wetter gar abscheulich 3) Size ich in Arbeit bis
über die Ohren 4) Muss ich, und dies ist die Hauptabhaltung,
in Kurzem auf ein 14 Tage in das Hildesheimische verreisen, bei
welcher Gelegenheit ich denn auch Hannover bestreiclien werde.
Komt aber der Frühling erst ins Land, dann last sich weiter
davon sprechen. Ich sähe Euch für mein Leben gern, das könt
Ihr mir glauben, um wieder in das alte Gleis mit Euch zu kommen.
Es hat mir nicht wenig wehe gethan, dass Ihr mir so davon ab-
gesprungen seyd, wie oft ich auch nach Euch gegriffen habe, um
Euch darin festzuhalten. Um den übermütigen . . . [Voss] ist mirs
nur wenig leid gewesen; aber destomehr um Euch. Denn ich
lies mir nicht träumen, dass Ihr das Ding so aufnehmen würdet,
als Ihr gethan habt. — Doch — ich fange schon wieder an —
Weg damit! — Aber doch noch eins, und dann ewig nichts
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 421
mehr: Ich war über Eur zurückziehen und stilschweigen einige-
mal so empfindlich, dass ich fast schwur, ich wolte kein Wort
mehr zu Euch reden. Ich seh aber, Eure Reise ist dran Schuld
gewesen. Nun Punctum !
Wie übel ich übrigens in meinem Drecknest, unter so
mancherlei fatalen Geschäften belaunt sey, davon last mich
schweigen. Schikt mir hübsch bisweilen einige Brocken von
Eurer Reise. Adio! GAB.
Damit war das Eis gebrochen. Goeckingk antwortete
augenblicklich, herzlicher denn je und erneuerte den alten
Freundschaftsbund in förmlicher Weise: 'Mein trauter Bürger!
loh hab auf den beiden langen Reisen, welche ich im ver-
gangnen Herbst gethan habe, viele Menschen, und Männer
von Ruf und • Ruhm kennen gelernt. Eure Freundschaft,
Euer Briefwechsel, Euer Umgang ist mir nach allen diesen
Bekanntschaften desto unentbehrlicher geworden. Das erste
und andre steht zwar aller Orten und Zeiten in unsrer Ge-
walt, das 3te nur so lange als wir eine Tagereise (das
weiteste was der Sekel eines Poeten bestreiten kann) von
einander wohnen. Leider! wird das nicht immer der Fall
seyn. Die Noth zwingt uns beide, einen bessern Aufent-
halt zu suchen, und ich werde nach Verlauf eines Jahrs,
dieses Wunsches gewährt werden. Dann werd ich freilich
satt zu essen und zu trinken, aber vielleicht keinen Freund
in der Nähe haben' (25. December 1778 Nr. 521). Freudig
meldete Bürger an Boie: 'Goeckingk, der lange Zeit ganz
kalt gegen mich gewesen ist, thauet wieder gegen mich
auf, und wir fli'essen wieder, wie vorher zusammen' (7. Januar
1779 Nr. 523), und ähnlich muss auch Goeckingk an Boie
geschrieben haben (Nr. 526). Der Briefwechsel nahm jetzt
wieder einen rascheren Verlauf.
45. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen d. 25. Januar 1779.
Damit wir ja nicht wieder aus der Routine kommen, so wii
ich, weil mein Postbote die Stiefeln noch bei dem Schuster hat,
während dem, dass dieser den Drat zieht, noch ein Paar Zeilen
hierher krizeln. Aller Warscheinlichkeit nach, liebster G., sehe
ich Euch noch vor Ostern ; denn ich wil, um des lieben Friedens
willen, meine Schwägerin nach Biankenburg bringen. Ich wolte
lieber mit ihr in die elisäischen Felder reisen -- Puh! Hinunter
mit dir, hysterica passio! — sagt der König Lear.
422 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger and Goeckingk.
Ich höre, dass ihr Euch mit der zweiten Auflage der Lieder
zweier Liebenden beschäftigt. Gratulor! Meine Opera sind auch
zur 2^^ Auflage reif. Wer hätte uns das auf dem Pädagogio
ansehen sollen !
Ich habe in Eurem Werklein hin und wieder was angestrichen,
das ich verändert wünschte. Ich kans Euch aber ohnmöglich alle
abschreiben. Ihr werdct^s auch wol, wo ich etwa Recht haben
mag, von selbst ünden. Dennoch mögte ich Euch wol damit be-
stechen, dass Ihr mir den nemlichen Liebesdienst erwieset.
Ich verdolmetsche al leweile cn passant den Ossian. Denn
ich kan ein hübsch Stüklein Geld damit verdienen, und dann ists
ja so leicht, eine bessere Übersezung, als die bisherigen zu
machen. Ich kam von ohngefähr drauf, dass ich verschiedene
Übersezungen mit dem Original verglich, und über die Mängel
derselben erstaunte. Denis ist ganz ausser dem Ton des Origi-
ginals und Harold*) mus vollends gar erst teutsch lernen. Schlechter
als dieser konte kein Schüler übersezen. Die, welche das Fräu-
lein Iris zu Markte bringt, lispelt gar zu sehr'); und Wittenbergs*)
seine klingt, wie sein vol gesabbeltes Reichsposthorn.
Übrigens kasteie ich meinen Leib mit dem Macbeth, den ich
Schrödern schon seit 2 Jahren alle Posltage schicken wil, und
doch immer noch nicht schicke, ob ich gleich seine Mahnbriefe
vel quasi auf meine Werkstat genagelt habe.
Sonst dient zu wissen, dass wir den Aufenthalt in diesem
Dreckloch Tagtäglich immer mehr vermaledeien. Sintemalen wir
mit der grössten Unbehaglichkeit an die 900 Rth. jährlich verzehren
müssen und mit Ach und Krach kaum 600 einzunehmen haben,
dannenhero wir spornstreichs auf den Bankrot losmarschiren. Das
rechnen habe ich ganz abgeschworen, nachdem ich gefunden, dass
ich von meinen Gedichten baar 800 Rth. eingenommen habe, die
der Teufel schon allezu sammen geholt hat. Dennoch liegt da noch
eine Menge Neu Jahrsgratulationen , auf welche ich kein Gegen
Compliment machen kan. Adio! Die Stiefeln sind fertig. GAB.
Goeckingks Antwort siehe Nr. 535, vom 12. Februar 1779,
46. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen den 22. Februar 1 779.
.... Schier mus ich zweifeln, dass aus der bewusten Reise
was wird. Vorher wurde ich mit tausend Thränen bestochen, die
Anstalt zur Reise zu beschleunigen, damit man doch endlich
einmal sein Hißrzchen in Ruhe brächte. Und nun? Nun es zum
*) Die Ossianflbersetzang von Edmund Frhm. von Harold erschien
in 8 Bänden Düsseldorf 1775.
*) Ossian fürs Frauenzimmer (Fingal) von Lenz.
') Wittenberg übersetzte den Fingal Hamburg 1764.
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 423
Klappen kommen sol, fliessen zehntausend Thränen, dass es —
doch nicht geschehen möge. Damit mirs nun nicht gehe, wie
Ihm, dass ich erst die Reisekosten dran spendire und dann so
klug wieder zurückkomme, als ich aus gereist bin, so wil ich den
Spas lieber bleiben lassen, und es gehn lassen, wie es wil. Meine
Frau, die wol einsieht, dass nach der Trennung mit mir eben-
fals nicht viel gescheites anzufangen seyn wird, bestehet nun selbst
auf dem Hierbleiben. 0 Goeckingk, solche Situationen, worin
ich schon verflochten gewesen, und noch verflochten bin, kommen
in keinem Roman vor. Man mögte drüber aus der Welt laufen.
Gott weis allein, wie es am Ende noch werden sol. Ich bin
meines Lebens von Herzen sat. Die Aflare spant mich ganz ab.
Nach so langen sauren und doch vergeblichen Streben von allen
Interessenten ist fast keine Heilung mehr in diesem Leben zu
hoffen. Jeder Theil fühlt das, und wird drüber noch desperater.
Wären weltliche Gcseze nicht entgegen, ich glaube, so wäre längst
die Geschichte des Grafen von Gleichen wiederholt. Und traun!
Alle Theile würden sich dabei am besten stehen.
Ihr schriebt mir, dass Ihr mir vielleicht behülflich seyn
köntet, den Ossian gut zu verschachern. Mit Dietrich glaube ich
wird nichts rechtes anzufangen seyn. Himburg scheinet von
2 Duc. für den Bogen nicht abgeneigt zu seyn. Noch habe ich
nicht näher mit ihm contrahirt. Plus licitans kriegt ihn. Wist
Ihr so einen, so seid Ihr mir ein willkommener Gast. Es wird
nächstens eine Probe davon ins Museum kommen, um die Ugo-
linos lüstern darnach zu machen.
Ich habe so vielerlei gelahrte Projecte, dass ich sie schier
so hoch, wie einst Gleim seinen Pult Vorrat anschlagen könte.
Habe ichs Euch wol erzält, dass dieser einmal zu mir sagte:
Herr, in diesem Pult stekt wenigstens für 30000 Rth. Waare? —
Es steht aber alles noch gar zu tief in herba. Wird auch grossen-
theils wol auf den Klauen sterben.
Was habt Ihr denn alle für das Museum gescribbelt? In
den Briefen eines Reisenden an den Drost B.'') deucht mir, habe
ich Euch gewittert. Ihr hättet von Wölmershausen auch wol
einen Brief handeln lassen können. Ists wahr, dass Ihr Verfasser
davon seyd, so ist eine Unrichtigkeit drin. Zur Verbesserung der
Baumannshöle hat der Herzog keinen Dreier hergegeben. Der
Gammersecr. Schädler hat in Blanken bürg umher milde Beisteuren
gesammelt; davon ist die Einfart ausgebessert worden. So ist
mir wenigstens für gewis erzält.
Meine poetische Ader hat wenigstens in einem halben Jahre
nicht ein Tröpfchen gegeben. Ich glaube beinahe es ist aus mit
0 Deutsches Museum Jahrgang 1778 und 1779,
424 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
mir. Adio! Baldige Besserung! Grüsst die Eurigen Tausend-
mal ! GAB.
Ich will dennoch möglich zu machen suchen, Euch und die
Eurigen bald einmal zusehen.
In seiner Antwort (Nr. 537, 2t. März 1779) geht
Goeckingk über die Familienverhältnisse schweigend hinweg
und beschäftigt sich blos mit ihren beiderseitigen littera-
rischen Versuchen. In den Sommer dieses Jahres fällt ein
misslungenes Rendezvous, von dem wir aus Goeckingks
Brief vom 1. Juli Nr. 547 Kunde haben. Darin entwickelt
dieser zugleich den Plan zu einer Sammlung seiner Gedichte.
Bürger antwortet erst im Herbst:
47. Bürger an Goeckingk.
WöUmershausen den 23. September 1779.
Wenn man so erst in dem Nichtschreiben eine Routine er-
langet, dann tröste Gott die guten Freunde, die auf Antworten
hoffen. Plackerei und die edle Faulenzerei sind Schuld dran,
mein liebwehrtester Herr Gevatter, dass Er so lange hat warten
müssen, indessen bekomt Er heute doch nocli nichts, was den
Namen eines Briefes verdient, indem mir das Haarburger Meyerchen
so eben auf der Hacke sitzt, mit dem ich die lezten Stunden
seines Hierseyns gern verplaudern mögte.
Ich höre von Signor Dietrich, dass der Herr seine Opera
omnia durch ihn in die Welt schicken wil, und daran thut er
recht wohl. Der Dietrich ist immer ein gutherziger Knabe, der
eher sich selbst, als Euch vervortheilen wird. Dass ihr sie aber
ohne Kupfer geben wollt, ist wegen des nur leider! alzugewissen
Nachdrucks nicht gut. Komt dann ein Nachdruck, so seyd Ihr
viel ärger geschlagen, indem Eure Ausgabe nur alzuwenig vor
dem Nachdruck voraus hat. Man kan Euer Werk mit Kupfern
auch nicht so genau taxiren, als ohne Kupfer. Ihr könnet ein
paar Groschen bona üde mehr nehmen. Troz meiner Kupfer
werden dennoch 2 Nachdrücke von meinen Gedichten im Reich
vertrieben; und rathet, wie hoch? — für 20 Kreuzer!!!! Hätte
ich nicht noch Chodowieckysche Kupfer zum Voraus, so sässe ich
bis über die Zähne in der Seh . . .
Ich habe mit Dietrich nur einen mündlichen Contract ver-
abredet. Ich überliess ihm die ganze Auflage so stark zu
machen, als er wolte. Kamen 1000 Subscribenten zusammen,
so muste er mir 700 Exemplare pro honorario geben. Von jedem
100 Subscribenten über 1000 bekam ich 20 Exemplare. Nun
könnt Ihr meinen gehabten Profit von selbst nachrechnen. Es
geht allemal ein guter Theü bei solcher Veranstaltung in die
Kräze. Fünf bis Sechshundert Thaler mag ich woi baar ein-
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk. 425
gestrichen haben; womit ich wol zufrieden seyn kan. Wenn Ihr
Eure Gedichte auf eigne Kosten drucken lasset und Euch selbst
mit der Versendung abgeben wollt, so ladet Ihr Euch eine un-
geheure Last auf; und überlasset Ihrs Dietrich, so werdet Ihr ihm
dochwol aparte Vergütung dafür thun müssen. Allein, ich sage
zum voraus, dass Ihr weidlich mit Mahnbriefen von allerlei feinem
und groben Inhalt bombardirt werden werdet. Denn bei mir
ging die Versendung etwas unordentlich. Wenn ich meinte, nun
hätte jeder sein bescheiden Theil empfangen, so mahnte mich
bald Hinz bald Kunz noch, der noch keine Exemplare gesehn
und gehört hatte. Das war ein übler Umstand. Doch vielleicht
hat sich die berühmte Dietrichsche Buchhandlung seit dem ge-
bessert. Meine bona officia stehen Euch in dieser Angelegenheit
ohne alle Bedingung zu Gebote ....
Euren Almanach finde ich Diesjahr vorzüglich gut; so dass
ich mich mit dem Meinigen schier neben Euch schäme. Es ist
was ganz unsägliches, was für ein Cloak hieher seinen Abfluss
hat. Mit allen scheuren, puzen, hobeln, fäden,^) abspülen u. s. w.
habe ich kaum was erträgliches herausgebracht. Aber nehmt
Euch vor dem künftigen Jahr in acht. Denn ich spanne alle
meine Seegel bis an die Wimpel auf und bin cumpabel den ganzen
Almanach ex propriis zu füllen. Gott behüte Euch mit Weib
und Kind! GAB.
Goeckingks Brief Nr. 554 vom 19. October und Bürgers
nächster vom 1. November beschäftigen sich mit den Prä-
numerationsangelegenheiten. Auf Goeckingks Einladung
muss Bürger hinhaltend antworten:
48. Bürger an Goeckingk.
... So gern ich Euch und die Eurigen einmal sehen und sprechen
mögte, so zweifle ich doch an meinem Abkommen können um
so mehr, als ich diesen Sommer schon verschiedentlich aus-
gerutscht bin, und einen ziemlichen Bei^ Expedienda vor mir
liegen habe. Herbst und Winter habe ich die meisten Scherereien.
Weitet Ihr aber zu mir herüber traben, so solte mir das ein
grosses Gaudium seyn. Thut es, liebster Goeckingk, ich verspreche
Euch dann auch künftigen Frühling mit Weib und Kind in EUrich
heimzusuchen. Ich bin erst kürzlich mit meiner Frau im Hildes-
heimischen und in der Grafschaft Spiegelberg gewesen. Es kostet
einem einen hübschen Thaler Geld, wenn man mit Weibs Volk
reiset. Daher ist denn alleweile mein Beutel noch ziemlich
schmächtig; ob ich gleich neulich 100 rth. in der Lotterie ge-
wonnen habe. Künftige Weinachten werde ichs wieder nicht
>) Verschrieben ftbr fädmen, fädnen? (DWB. 3, 1230 f. Weigand
1, 492 f.)
426 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Umgang haben können, nach Hannover und Bissendorf zu meinem
Schwager Elderhorst zu reisen, wo sich — proh dolor ! — mein
Liebliebchen, lieb Herzchen seit Johannis schon aufhält. Wenn
einem das Podagra in den Leib trit, so sagen die Ärzte, ists aus
mit dem Menschen. Noch mehr ists aus mit einem, wenn die
Liebe erst ins Herz trit. Da sey einem Gott gnädig. Ich sieche
nun schon über 5 Jahre. Adio! Macht mir die Freude, und
kommt bald. GAB.
Schon die bisherigen Bekenntnisse beweisen uns, dass
Bürger in Goeckingk einen Vertrauten seiner iNTeigung zu
MoUy gefunden hatte, vor dem er die letzten Schleier von
dem unseligen Geheimnisse abziehen zu dürfen meinte. Wer
die bei Strodtmann gedruckten Briefe Goeckingks aufmerksam
liest, dem kann es nicht entgehen, dass im Dichterhause
zu EUrich ähnliche innere Kämpfe sich abspielten, wie in
dem zu Wöllmershausen ; aber es ist aus diesen Briefen
auch zu ersehen, dass Goeckingk mehr sittlichen Ernst
und mehr Selbstbeherrschung besass als sein schwächerer
Freund. Als Goeckingk in dem fehlenden, offenbar Ton
Bürger vernichteten Briefe, der die Antwort auf den vor-
stehenden Brief bildete, um den zerrütteten Freund auf-
zurichten und zu trösten, diesen in seine eigenen häus-
lichen Wirrnisse einweihte, Hess ihn, wie auch Bürger
selbst annahm, dieses Bestreben die Farben dunkler auf-
tragen, als es der Wirklichkeit entsprach. Wir verdanken
diesem verlorenen Briefe Goeckingks die freimüthige Er-
zählung von Bürgers Herzenstragödie und das Bruchstück
eines seiner Briefe an Molly: das glühendste, offenste,
wahrste Document, das wir aus seiner Feder besitzen:
49. Bürger an Goeckingk.
Wöllmershausen den 12. November 1779.
Herr Gevatter, Euer Brief komt gerade in der Minute bei
mir an, da ich folgende Stelle an meine Einzige fertig geschrieben
habe. — ^Wie brünstig ich dich im Geist umfange, lässt sich mit
Worten nicht beschreiben. Es ist ein Aufruhr aller Lebens
Geister in mir, der, wenn er sich bisweilen legt, mich in solcher
Ermattung an Leib und Seele zuröcklässt, dass ich schier den
lezten Odem zu ziehen meine. Jede kurze Stille gebiert noch
heftigere Stürme. Oft mögte ich in der finstersten Sturm- und
Regenvollsten Mitternacht aufspringen, dir zueilen, mich in dein
Bette, in deine Arme, kurz in das ganze Meer der Wonne stürzen
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 427
und — sterben. 0 Liebe, Liebe! was für ein gewaltiges wunder-
sames Wesen bist du, dass du Leib und Seele so gefangen halten
kanst! Siehe, du Einzige, sie fesselt mich an dich so fest und
innig, dass ich nirgends hin kan, weder zur Rechten noch zur
Linken. Aller andern Neigungen, aller! wären sie auch, noch so
sehr mit meinem Charakter und Wesen verwebt, kan ich mich
entschlagen, aber unmöglich unmöglich! des Gefühls, welches
macht, dass du mir das liebste süsseste Geschöpf in Gottes un-
ermesslicher Schöpfung bist. Ich lasse meine Fantasie ausfliegen
durch alle Welten, ja durch alle Himmel, und aller Himmel
Himmel, lasse sie betrachten, was nur irgend wünsohenswQrdig
ist, und es neben dir wägen, aber bei dem ewigen Gott! sie
findet nichts, was ich so feurig wünschen könte, als ich dich,
du himmelsüsse, in meine Arme wünsche. Könte ich dich mir
damit erkaufen, dass ich nackend und baarfus durch Dornen und
Disteln, über Felsen, Schnee und Eis die Erde umwanderte, o so
würde ich mich noch heute aufmachen, und dann, wenn ich
endlich verblutet, mit dem lezten Fünkchen Lebenskraft, in deine
Arme sänke, und aus deinem liebevollen Busen Wollust und
frisches Leben wiedersöge, dennoch glauben, dass ich dich für
ein Spotgeld erkaufet hätte — '
Lieber G., das sind nicht die Aufbrausungen der höchsten
Flut, die etwa nur kurze Zeit dauert. Ach! ich weiss seit 5
Jahren nichts von Ebbe, und sie weiss es eben so wenig. Wir
sind so tief gekommen, dass in diesem Leben kein Aufkommen
mehr ist. Nunc scio quid sit amor. Ich habe nur einmal
gelieht und werde nur einmal lieben. Eine einzige ewige
Liebe war mir sonst Thorheit. Aber die rechte wahre Liebe
verwebt sich endlich so in das ganze Wesen des Menschen, dass
sie davon nicht mehr geschieden werden mag. Hätte die meinige
blos in den untern Theilen des Leibes ihren Siz, so könte ich
hoffen, davon zu genesen, und wäre längst schon genesen. Aber
wehe! wehe! wenn der Aufruhr in und um dem Herzen ist.
Euer Rath, lieber G., und Eure Procedur mögen ganz zuträglich
seyn , wenn man noch nicht so tief in den Text gekommen ist.
Schwerlich ist es zwischen Euch und Eurer Malchen zu so deut-
licher Erklärung gekommen, als zwischen uns beiden. Wir haben
mehr denn einmal beide gegen diese unglückliche Leidenschaft
mit allen unsern Kräften gekämpft. Wir haben alles versucht,
was sich erdenken last; wir haben beide uns anderwärts zu ver-
lieben gestrebet, und Liebe mit Liebe zu vertreiben gesucht.
Aber alles vergeblich ! Wie ein Pferd oft desto tiefer nur in den
Moor sinkt, je mehr es sich herausarbeiten wil, so ist es uns er-
gangen. Wir hoffen in diesem Leben keine Genesung mehr.
Wie wäre sie auch möglich? Kan ich kalt und gleichgültig gegen
sie werden, von der ich weiss, dass sie mich mit der höchsten
Liebe liebt, womit nur jemals ein Sterblicher geliebt worden ist?
428 Saaer, Ana dem Briefwechsel zwiscben Bfirger und Goeckingk.
Kalt und gleichgültig gegen sie, die mir an Seel und Leib das
liebenswürdigste Geschöpf dQnket und, obschon ohne vollkommene
regelmässige Schönheit, es wa*klich ist? — Kan sie kalt und
gleichgültig gegen mich werden, so lange sie weiss, das ich sie
mehr liebe, als je ein Sterblicher sein Mädchen geliebt hat?
Kan sie mit ihrer Engelseele das? — Ach! wir könten uns, wie
wir öfter gethan haben, wol tauschen, und einer dem andern
Kälte und Gleichgültigkeit vorlügen; aber wäre damit was gewonnen?
Erfahrung hat uns gelehrt, dass wir nur noch mehr an unsrer
Ruhe verlieren. Unsre Herzen haben sich nun ewige Liebe und
Treue zugeschworen. Sie wird nie einen andern heuratben,
ohnerachtet sie mit Anwerbungen belagert worden ist, denen
schwerlich ein andres Mädchen widerstehen würde. Ich beschwor
sie einst mit Thränen bei allem, was heilig ist, einer Anwerbung
Gehör zu geben, wenn sie nur irgend fände, dass sie der Ruhe
ihres Lebens nur etwas zuträglicher, als unsre unglückliehe
Situation wäre. Ich misbrauchte sogar den Eid zum erstenmal
in meinem Leben und schwur ihr, wider die Stimme meines
Herzens, dass ich mich fassen und zufrieden geben würde, wenn
ich nur sie einigermaassen glücklich wüste. Ich würde sie ent-
hehren lernen u. s. w. Sie aber schalt diese meine Äuserung
als Mistrauen in ihre unwandelbare Beständigkeit, und schwur
laut und feierlich, wenn mein Herz auch die schnödeste Untreue
an ihr begehen würde, sie dennoch nie einem andern Manne
sich überlassen würde. 'Mistrauischer ! rief sie, fodere von mir
ein Zeichen, das theureste heiligste Zeichen! Nim von mir alles,
was ich dir geben kan, was du mir bis hieher durch nichts hast
abdringen können, und wenn ich dir alsdenn jemals ungetreu
werde, und mich einem andern Manne ergebe, so wil ich als eine
Ehebrecherin dereinst vor Gott erscheinen*. — Gott im Himmel 1
was fiir eine Scene war das! Meint ihr nun noch das wir ge-
nesen können? Wir würden unter der Cur den Geist aufgeben. —
Hätte man gleich im Anfang ein Ding gethan ehe man sich so
weit gegeneinander heraus gelassen hatte, hätte man vermutet,
dass es so kommen würde, wäre man nicht unvermerkt, man
weiss nicht wie, dahin gekommen, von wannen keine Rückkehr
ist, so war es was anders. So viel ist wenigstens ausgemacht,
dass wenn ich von dieser Leidenschaft frei wäre, mich gewiss
und warhaftig keine zweite so weit wieder fortschleppen solte,
als diese gethan hat. Sie selbst war noch ein blutjunges Mäd-
chen von 14 Jahren, als das Ding anhub, hatte aus nichts was
arges. Auch dieser Umstand dienet dazu, mich desto fester an
sie zu fesseln; dass sie mir die so ganz und gar reinen, unbe-
fiekten und unbelekten Erstlinge der Liebe zugewendet hat. Und
in einem solchen Massel 0 Himmel! was hilft alles singen und
sagen? — Kurz um ich kan nicht, weil ich nicht wil und nicht
mag; ich wil nicht, ich mag nicht, weil ich — nicht kan. Dabei
Sauer, Ana dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 429
bin ich einer der unglücklichsten Menschen auf Gottes Erdboden.
Andre Elende, ob ihnen schon alles mangelt, haben doch noch
Hofnungen und Wünsche übrig. Ich der Elendeste aller Elenden
habe weder Hofnungen noch Wünsche. Wünsche und Hofnungen
sind bei mir Verbrechen. —
Mit Freude, Herr Gevatter, habe ichs gelesen, dass Ihr kommen
wollet. Herzlich wilkommeu seyd ihr mir allein und noch wil-
kommner mit Weibern, Kindern und Hunden. Im ersten Falle
könl Ihr kommen, wenn ihr wollet, im zweiten Falle aber bleibt
Euch unverhalten, dasss die Oberstube und Gammer noch erst
unter Kelle und Pinsel des Weisbinders schwizen werde, welches
theils unsrer Reise wegen, theils um der unermesslich vielen
Fliegen los zu werden, die sonst die Eleganz gar bald wieder
volhofüren würden, so lange ausgesezt geblieben ist. Alle weile
sieht die Stube dem Hallischen Garcer, die gelbe Stube genannt
ähnlicher, als einem Zimmer, woran P so hohe Herschaften logirt
werden können. Eure Person allein kan ich in meine Kammer,
die ich seit Kurzem zu dem Range eines Schreib-Gabinets erhoben
habe, in ein Feldbette, welches schon die Gampagne bei Herzberg
mitgemacht hat, neben mich betten. Mein Flox stehet Euch so
weit Ihr wolt zu Diensten. Wenn Ihr mit der ganzen Familie
komt, so schreibt mir, um welche Zeit Ihr ohngefähr abkommen
könnet, und ich wil Euch schreiben, ob ich Euch alsdann auf-
nehmen kan. Doch, da Ihr selbst sagt, dass Ihr noch 3 Wochen
erst abwarten wollet, so soite ich denken, dass alsdann alles wieder
im Stande wäre. —
An Eurer Städteliste habe ich mich krum und lahm gelesen.
Die besten Orter habt Ihr grösstentheils schon, indessen wil ich
die Avertissements noch so gut vertheilen, wie möglich. Vor-
läufig aber dient Euch zur betrübten Nachricht, dass Freund
Schönfeld schon seit länger als einem halben Jahre von Stras-
burg abwesend ist und in Italien, Gott weiss wo? seiner musi-
calischen Profession nachreist. Das habe ich erst seit ein Paar
Tagen von seinen Freunden und Gorrespondenten in Göttingen
erfahren. Indessen ist mein Brief an ihn abgegangen. Ob er
ihn noch früh genug, um für Euch etwas wirken zu können,
erhalten werde, das stehet dahin. Der Minister von Derschau hat
Euch in der That einen Übeln Streich gespielt. Ich würde mich
indessen , ohne Umstände, an seinen Nachfolger adressiren. Ihr
könnet ohnmassgeblich hin zu fügen: Wenn er nicht wolte, so
könte er Euch im Ars lecken. Gebt acht! dann wird er^s gleich
thun. Denn so was sollen die Herrn Minister nicht gern thun.
Lieber lassen sie sich von den schönen Geistern im Ars lecl^en,
wozu sich denn auch leider ! die schönen Geister in dieser besten
Welt gar oft bequemen müssen.
Von allen Gollecteurs wird sich ohnstreitig Boie am besten
erweisen. Das ist wahr, auf Gottes weiter Welt ist kein brauch-
Vierteljalirschrift flir Litteratoxi^eschiGhte lil 29
430 Sauer, Aus dem BrieiVechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
bareres Subject zu einer solchen Entreprise, als Er. Ich glaube
an die 300 Subscribenten habe ich ihm und seiner Vermittelung
zu danken. Aber er presst sie auch zusammen, wie man in Eng-
land die Matrosen presst. Das kan man immer geschehen lassen,
thut man's doch nicht selber. Für ejnen andern, als z, B. für
Euch, kan ich ebenfais einen Philister obtorto coUo zur Subscriplion
herbei schleppen. Schade nur, dass ich keinen Zirkel hier habe.
Doch 1 zu 1 macht 2, und 2 zu 2 schon 4. Diese verwandeln
sich zu Tropfen, und Tropfen in Regen, und Regen in Bäche und
Ströme. Glück auf! es wird schon gehen. Ich hofte anfangs
nicht auf ^liiel der Zal, die ich zusammen gebracht habe. Zulezt
wurden s mir fast zu viele. Hätte ich sie mit allen Klunkern
die um ihre Namen herum bammelton, abtrucken lassen wollen,
so hätte ich 2 Tomos machen müssen, wovon der Erste blos die
Subscribenten enthalten hätte. Ich mögte wol bald wieder eine
kleine Contribulion im wehrten Publikum ausschreiben. Die Briefe
mit Geld sind gar Angenehme Gäste. Aber, wie's komt, so geht*s
denn auch wieder. Neulich hat mich Fortuna mit günstigen
Augen angesehen, und mir 100 rth. in der Lotterie gewinnen
lassen. Aber ein Schelm hat noch einen Heller davon. Mein
Patrimöncben in Aschersleben schmilzt auch zusammen. Ich muss
hol mich der T. alle Jahre an die ^/c rth. zu sezen. Wie es am
Ende noch werden wird, das mag Gott wissen. Frisch auf, mein
Herz! Ich habe schon drauf gedacht, ob sich nicht ein Roman
aushecken Hesse. Die lassen sich am besten versilbern. — Der
Bogen ist vol. Einen neuen kan ich heut ohnmöglich dran
wenden. Das Papier ist theuer; und seht, ich schreibe auf Bogen,
worauf ich an die Minister auch schreibe. Denkt, wie ich Euch
honorire! Adio! GAB.
[Randbemerkung auf der ersten Seite.] Von nebenstehenden
Thema mag mein Mädchen nun wol schon ein Hundert Variationen
haben. Wenn sie gedruckt würden, solte sich wol ein hübsches
Stück Geld damit verdienen lassen.
Auf diesen Lebensbrief meinte Goeckingk die Antwort
nur mündlich überbringen zu können. In Nr. 562, 14. De-
eember, stellt er seinen Besuch für den Januar in Aussicht:
^Dann werd ich auch mit Euch ein langes und breites über
den Hauptpunkt Eures lezten Briefes schwatzen, weil ich
der Sache oft und viel nachgedacht habe\ Der Brief selbst
behandelt nur allotria, wie Goeckingk sagt. Aber auch
dieser Besuch unterblieb.
50. Bürger an Goeckingk.
WölJmershausen d. 24*«*» Februar 1780.
Herr Gevatter, Herr Gevatter I seht was der Teufel thun
kan! Dis wird wol der lezte Brief seyn, den ich aus dem be-
Saaer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 431
rühmten Wöllmershausen an Euch schreibe. Nun denkt Ihr
vielleicht gar, ich sey irgend wo ein Geheimer rath geworden.
Nä! Nä! so arg ists nicht. Ich bin und bleibe nach wie vor,
Amtmann — zwar nicht zu Wöllmershausen — sondern zu
Altengleichen. Der Casus ist nur der» dass ich ein adeliges Güt-
chen, innerhalb meines Gerichts Bezirks, genannt Appenrode, ge-
pachtet habe, und in 8 Tagen dorthin ziehen werde. Es liegt
eine Stunde weiter von Euch und näher nach Göttingen. Hättet
Ihrs Euch träumen lassen, dass aus dem Musensohne noch ein
aus- und eingemachter Mistfinke werden solle? Dafür wird aber
auch künftig der Musensohn, anstat armseelig auf seinem bejahrten
Plox einher zu rabnern, en Garosse mit vier Hengsten auffahren.
Bei dem allen wünschte ich nur, dass mein nun mehriges Schloss
eine etwas bessere Miene machte. Es ist kein Fenster, kein Ofen,
keine Thür, kein &c. darinnen heil. Sonst ist das Gütchen und
die Lage ganz artig und bequem. Im Ernst, Herr Gevatter, ich
konte es nicht mehr aushalten, auf dem Lande jeden Quark für
theures baares Geld zu kaufen. Wenn gleich die Pachtung nicht
gross ist, denn ich gebe 450 rth., wenn gleich keine Schäze,
sonderlich bei den jezigen erfreulichen Kornpreisen zu erobern
stehen; so hoffe ich doch künftig wenigstens den grösten Theil
meiner häuslichen Consumption draus zu ziehen. Die Musen
sind darüber seit einigen Monaten gewaltig versäumet. Denn ich
habe mich um nichts, als Oeconomica bekümmert, daher ich
denn auch troz dem besten Mistfinken, überal mein Wort mit-
sprechen kan.
Künftig, Herr Gevatter; besucht Ihr mich also in Appenrode,
dicht unter den Alten Gleichen ; und ich kan Euch meine Carosse
mit Vieren entgegen schicken. Ich bekomme auch Plaz genug
zum logiren, so bald nur der alte Sauerteig ausgefeget und die
nötige Baubesserung, die der Gutsherr vornehmen lassen muss,
geschehen seyn wird. Bis dahin muss ich mich freilich in einem
Titularsch weinstalle behelfen.
Übrigens denkt ihr wohl, ich hätte gar keine Subscribenten
für Euch. Bons dies! Ich habe wenigstens ein Duzend und
warte noch auf einige, da Ihr sie denn nächstens haben sollet.
Dass Ihr mich diesen Winter nicht besucht habt, ist mir nun
mehro ganz lieb. Denn ich habe des Teufels Schererei gehabt,
bin auch verschiedentlich nicht zu Hause gewesen. Bis an Ostern
wird die Unruhe wohl fort gehen, und so lange bleibt mir auch
nur weg. Aber hernach mögt Ihr mit Sack und Pack kommen,
wenn Ihr wollt. Am liebsten wäre mirs dann, wenn mein
Schwager Elderhorst von Bissendorf mit Familie mich auch be-
suchen wird. Das yn\ ich Euch zeitig notificiren, und dann:
wollen wir recht lente leben. Ich habe mir einen Transport
Wein und Waaren von Bremen für 200 rth. kommen lassen.
Auch habe ich eine Schmerlenfischerei bei meiner Pachtung. Wir
29*
432 Saner, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk.
wollen oben auf der Spize der Gleichen über den Wolken freie
Tafel halten. Lebt für heute herzlich wohl. Ihr und die Eurigen
werdet von uns umarmet. GA Bürger.
Damit kreuzte sich Goeckingks Brief vom 28. Februar
Nr. 568.
51. Bürger an Goeckingk.
Appenrode d. 23. März 1780.
Schon vor 14 Tagen, Herr Gevatter, hätte ich Ihm mein
armsejiges Contingenl zu Seiner Subscrlbeoten Arm^ schicken
können, wenn ich nicht durch den Spectakel meines Umziehens
und tausenderlei Zerstreuung drüber hingekommen wäre. Meinen
Brief, worin ich meldete, dass ich ein Pachter, oder wie die Ober-
hessen sagen, Pfachter, geworden, wird Er erhalten haben,
nachdem Er Seinen lezten schon abgeschickt hatte. Über leztern
muss der Teufel seine Hand halten; denn ich kann ihn nicht
ßnden. So viel ist mir troz aller meiner Zerstreuung noch er-
innerlich; dass der Herr Gevatter wohl persönlich überkommen
wollte, um die Dietrichschen Pressen von hier aus zu accouchiren.
Warum kömt Er nicht? Er ist mir in meinem verfallenen Schloss
herzlich wilkommen. Wenneher soll ich den Flox nach Duder-
stadt schicken? Oder ists nun schon zu spät? Ich Schlingel
hätte wohl eher ein Wort deshalb schreiben können. Aber, Herr
Gevatter, Er glaubt gar nicht, wie ich diese ganze Zeit über aus
einer Ecke in die Andere gezerrt worden bin. Ich habe kaum
zur Post schicken, zu geschweigen schreiben können.
Übrigens erinnere ich mich, dass Ihr in Eurem Briefe klagt,
dass so wenig Subscribenten einkommen. Ich denke, das komt
von nichts anderm, als von dem vielen Subscriptions- und Prä-
numerations Ausschreiben der jezigen Zeiten her. Bei Gott!
Jeder Lumpenhund schreibt ja auf seine Disputation oder Tractäl-
lein eine Subscription aus. Mir ist es noch so, glaube ich, zum
lezten Male geglückt. Jezt getraute ich mich schon nicht das
Vierthel meiner vorigen zusammen zu bringen. Ich rafßnire jezt
auf andre Projecte, die aber gar noch nicht reif werden wollen.
Klopstoken und Vossen gehts nicht besser; ja vielleicht wohl gar
noch viel schlechter als Euch, und ihre Opera werden vermuthlich
gar stecken bleiben.
Nach welchem Staats Calender ich meine Majestäten und
Durchlauchtigkeiten geordnet habe? fragt Ihr. Nach meinem Gut-
dünken! Nach dem Alterthum und Ansehen ihrer Haüser. Ich
habe mir übrigens kein Gewissen draus gemacht, manchen kleinen
Transpositionsfehler mit unterschleichen zu lassen. Einen Fürsten
darf man freilich nicht nach einen Grafen sezen. Und ein regie-
render Herr geht ja auch wohl einem andern apanagirten Prinzen,
obwohl von einem altern Hause vor.
Saaer, Ans d^in Briefwechsel zwischen Bilrger und Goeckingk. 433
Von meiner gegenwärtigen Lage hier viel zu erzählen, solle
mir wohl behagen. Allein ich habe, da mein Verwalter erst in
14 Tagen ankörnt, noch gar wenig Zeit. Komt selbst und sehet!
Es ist warhaftig nicht unangenehm, Freund, seine Rosse um
sich herum wiehern, seine Stiere und Kühe brüllen, Schaafe
blecken, Schweine grunzen, Gänse und Enten schnattern, Hühner
gackern, und Tauben murken zu hören. Meine jezige Haupt-
liebhaberei ist Gartenbau und Blumenzucht. Ich wühle in der
Erde, wie ein Maulwurf. Der Schreibtisch stinkt mir an. Frau
Justitia des GesamlGerichts Altengleichen klagt, dass ich so selten
in ihrer Kirche mit den mir anvertrauten Schäflein erscheine.
Ich thue alles brevi manu in meinem Garten, den Grabespaden
oder den Harken in der Hand ab, und wenn sich die Partheien
nicht ergeben wollen, so wil ich künftig dazwischen blauen. Ich
fühle, dass ich in meinem Bauernstande sehr gesund und munter
werde. Ich mache viel Verse im Kopfe, habe aber selten Lust,
sie aufzuschreiben. Adio! Tausend Grüsse. Komt! Komt! Komt!
Bürger.
Goeckingk wird durch andere Geschäfte abgehalten,
die er in seinem Briefe vom 30. März Nr. 570 auseinander-
setzt. Aus dem Jahre 1 780 ist nur noch ein Brief Goeckingks
erhalten vom 30. August Nr. 579. Aus dem Bürgerschen
Hause liegt nur ein Brief Dorettens vom 22. December
(52) vor, die auch im folgenden Jahre für ihren Mann die
Feder führt. Aus ihrem melancholischen Briefe vom
15. Januar 1781 hebe ich einige Stellen aus:
53. Dorette Bürger an Goeckingk.
. . . Mein ältester Bruder, und meine jüngste Schwester
Gustgen die Sie kennen sind jetzt bei uns auf immer, aber der
Erste leider in einem solchen Zustand von tief eingewurzelter
Schwindsucht, das die Ärzte die Hofnung eines längern Lebens
— als bis an's Früjahr aufg^eben zu haben scheinen — und
auch nur ein Wunder kan ihn uns wiedergeben, so Elend ist
er jetzt.
Was mein Herz bei dem Gedanken leidet, den Bruder zu
verlieren, an welchem unter allen meinen Geschwistern meine
Seele mit der innigsten Liebe hing, ist unbeschreiblich, mir ists
als triebe mich Ahndung zu hoffen, das ich mit ihm hingehn
würde zur Ruhe, die nie in mein Herz kam seit ich angefangen
habe das Leben zu geniessen?
.... mein ganzer Zeitvertreib ist — Einsam zwischen un-
sern beschneyeten Bergen und Thälern umherzuwandeln, und den
Gedanken meines Herzens freien Lauf auf solchen Spaziergängen
zu lassen Mein Man hat Ihren Brief gesehn und ich denke
434 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
es wird, ihm, nebst meinen ausgerichteten Grus von ihnen allen,
eine Erinnerung gewesen sein, aufs baldigste sein Andenken selbst
bei Ihnen zu erneuen.
Aus ihrem Briefe vom 22. März (erst am 28. expedirt):
54. Dorette Bürger an Goeckingk.
. . . Von Zerstreuungen und Lustbarkeiten, die Ihren Vor-
nehmern Arten gleich kämen kann ich Ihnen nichts sagen. Die Neu
auflebende Natur, der allgewaltige Hauch unsers grossen Gebers,
der so ganz durch sie hinströmt; sind unsere Schauspiele, das
Hüpfen auf blühenden Wiesen, über Berg und Thäler, der
rieselnde Bach, sind unsre Bälle, und unsre Erfrischungen dabei;
und gewis es ist einem wohl nach dem Genus einer solchen
Ergötzlichkeit! sie würkt mehr für die Seele — und hindert auch
überhaupt alle Erhitzungen. —
.... nächstens mein bester Freund , wil ich Ihnen etwas
von meinem Mann ; und von einen Besuch schreiben ; womit der
Herzog von Weimar diesen einige Stunden beehrt hat; ich denke
hier in der Gegend wird das viel Naserümpfens verursachen, be-
sonders unter der Noblesse, aber eben darum ist mirs lieb, das
solch Heil unserm Hause wiederfaren ist, weil es ihren
Stolz gegen uns Bürgerliche Creaturen etwas demütigen wird,
welche Demütigung ihnen an Leib und Seele sehr zuträglich sein
wird: (aber dies alles im Vertrauen lieber Freund.) ich möchte
nicht gern das man von uns vermutete wir wären Stolz auf einen
so hohen Besuch geworden!
Endlich aus ihrem Briefe vom 19. April:
55. Dorette Bürger an Goeckingk.
.... ich bin halb melancholisch , und weis Ihnen warlich
den rechten Grund davon nicht anzugeben, er liegt tiefer als ich
ihn auszuspähen vermag, und daher mag ich mich nicht in eine
genaue Untersuchung der Dinge die da sein, und nicht sein solten,
einlassen.
Goeckingks Antworten an die armo Dahinsiechende
sind nicht erhalten. Am 21. April 1781 Nr. 591 kündigt er
seinen Besuch für den Abend des 1 . Mai an : ^Ich habe
Euch so vielerley zu sagen, dass ich Lust haben werde,
gar nicht zu Bette zu gehen ; . . . Wir haben uns in einem
ganzen Jahre nichts von unsern ausgebrüteten Projecten,
litterarischen Entwürfen und Herzens-Geschichtcn mitgetheilt
und doch sind wir noch in einer solchen Periode des Le-
bens, worin kein Monath ohne Abentheuer vergeht, gesezt
dass sie sich auch nur in unserm Kopfe zutragen und keines
Menschen Auge davon etwas sieht.^ In Nr. 592, vom
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 435
24. April (bei Strodtmann falschlich vom 21. datirt) wird
die Ankündigung des Besuches wiederholt, der auch pro-
grammmässig stattfand. Auf seiner Reise schrieb Goeckingk
aus Strassburg am 1 0. Juni Nr. 600 , dann bald nach der
Rückkehr am 31. Juli Nr. 603, worin er zugleich den Tod
seines Sohnes Günther meldete. Auf beide Schreiben ant-
wortet der folgende Brief.
56. Bürger an Goeckingk.
Appenrode den 6. August 1781.
Kaum, mein liebster Goeckingk, habe ich Zeit, Euch ein
freundliches: Wilkommen zu Hause! zuzurufen. Eure kurze An-
wesenheit, in welcher gleich wol noch eine kurze Excursion nach
Sondershausen gemacht werden soll, dürfte einen Besuch von uns
wol unmöglich machen. Die jezige Erndte, die noch dazu durch
Regen und Schlackerwetter verzögert wird, erlaubt nicht, meine
Pferde während dieser Zeit abzumüssigen. Ich selbst für meine
Person könte zwar wohl auf einen Tag zu Euch traben; allein
Euch dann nicht zu Haus anzutreffen, wäre doch auch höchst
ägerlich; und lange zum voraus könte ich den Tag doch auch
nicht bestimmen. Wüste ich, welche Tage Ihr während Eurer
Anwesenheit gewiss zuhause wäret, so wäre es wol möglich, dass
mirs Knall und Fall einfiele, in einem Ruck zu Euch zu eilen.
Wir nehmen um so lebhaftem AntbeU an Eurem Schmerze
über den erlittenen Verlust, als wirs aus der Erfahrung wissen,
wie über alles weh es thut, ein geliebtes Kind zu verlieren.
Gegen den Schmerz der frischen Wunde hilft kein Salben, kein
Trösten, kein Seegen sprechen. Aber die Zeit mildert ihn. Dass
aber Eure arme liebe Frau so kränkelt, ist gedoppelt traurig.
Diesen Kummer müsst Ihr wegzuhoifen suchen.
0 wie sehnlich wünschte ich vom Morgen bis Abend, vom
Abend bis Morgen mir was von Eurer Reise vorschwazen zu
lassen! Künftigen Sommer, wenns des Himmels Wille ist, hoffe
ich, wollen wir zusammen herum schweifen. Denn gegen die
Zeit hoffe ich nicht nur meiner Frauen Erbschaft auszufechten,
sondern auch sonst ein Stücklein Geld zu machen. Habt Ihr
denn nicht vernommen, dass ich Tausend und eine Nacht»
neu und nach eigner Weise erzält, angekündigt habe? Ein
wahrer Teufelsstreich war's, dass Voss mir mit dem nemlichen
Einfall zu vorkam. Allein der übersezt bloss den französischen
Galland von neuem; und scheinet mir keinen Eintrag zu thun,
weil sich schon eine Menge Subscribenten angefunden hat. Könnt
Ihr auf eurer Reise etwas für mich aus richten, so lege ich hier
ein Paar Avertissements bei. Vor künftiger Ostermesse wird der
erste Band schwerlich erseheinen, weü D. ihn nicht zur nächsten
436 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Messe fertig schalTen kan und daher hat abgebrochen werden
müssen.
Obrigens will ich RoUenhagens Froschmauseler herausgeben,
wesfals ich mit Gramer in Bremen in viel versprechenden Trac-
taten stehe, der mich um die Herausgabe in aller einem Verleger
geziemenden Demut hat ansprechen lassen.
Endlich will ich diesen Winter über meine wenigstens
50 poetischen Fragmente zu vollenden suchen, um auch daraus
einen Reisepfennig zu lösen. Also Herr Gevatter, gehts künftigen
Mai in alle Welt.
Schönfelds Sachen kamen für den Musen-Almanach zu spät.
Auch bin ich nicht allerdings davon erbauet worden. Am lieb-
sten hätte ich noch die Knittelhardi Epistel an mich mit drucken
lassen mögen. Die beste Tugend an dem bisweilen erzpudel-
närrischen Schönfeld ist, dass man mit seinen Sachen nach Ge-
fallen umsprmgen kan, ohne dass ers im geringsten übel nimmt.
Meine Weibsleute und mein Schwager grüssen und küssen
Euch tausendmal. Mit leztem rückt es weder hinter sich noch
vor sich. Der Himmel weiss, was aus ihm werden soll.
Adiol Ewig Euer treuer GAB.
Mit Goeckingks Antwort vom 13. August 1781 Nr. 609
bricht der Briefwechsel für längere Zeit ab. Nr. 621 ist
die gedruckte Anzeige von Sophiens Tode , 28. December
1781, die Bürger ebensowenig beantwortet, wie die beiden
Sendungen vom 17. und 28. Mai 1782 Nr. 626 und 627.
Erst nach Jahresfrist bricht Bürger sein räthselhaftes Still-
schweigen, wie es scheint auf eine neuerliche Zuschrift
Qoeckingks.
57. Bürger an Goeckingk.
Appenrode den 3*«* März 1 783.
Liebster Goeckingk,
Dass ich Euch seit länger, als einer sächsischen Frist nicht
geschrieben habe, daran ist weiter nichts, als meine Flegelei
Schuld. Ihr könnt mich getrost einen Erzgeneralfeldflegel nennen,
und ich stecke es ganz geduldig ein, weil ich in meinem Ge-
wissen überzeugt bin, dass ich durch mein Stillschweigen mich
gar nicht anders gegen Euch aufgeführet habe. Aber das muss
ich denn doch auch sagen, dass ich fast die ganze Zeit über
nicht der vorige Bürger Mensch gewesen bin. Mithin trift das
gerechte Scheltwort nicht sowol Jonen, als den beissigen AUgram,
in welchen mich hunderterlei Hundsvöttereien umgestalteten.
Zwar ist nichts fülüg, meine alte Liebe und Freundschaft gegen
Euch zu verwandeln; wie viel weniger hätte diese einen Stoss
bekommen können, da Ihr mir ja in der Welt Gottes nichts zu
leide getlian habt: allein ich war meiner und der ganzen Weit,
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Ooeckingk. 437
samt allem, was drinnen ist, so satt und überdrussig, dass ich
alle meine Verbindungen , selbst meine liebsten vernachlässigte.
Lieber Mann, Ihr seid warlich nicht der einzige, dem ichs so ge-
macht habe. Ihr geht noch am edelsten mit mir um; manche
andre haben mich bass dafür curanzt. Erst seit ganz kurzem
suche ich mich hie und da wieder anzuvettermicheln. Bei Euch
hätte ichs zuerst gethan, wenn ich mich nicht vor Euch schier
am meisten geschämt hätte. Jezt mögte ich fast wie ein kleiner
Junge über eure Gute heulen, dass Ihr es seyd, der den ersten
Schritt wieder nach mir unartigen Bengel thut.
Der Brief, worin Ihr mir den Verlust Eurer Sophie meldetet,
traf mich in einer der widerwärtigsten Verfassungen meines
Lebens an. Ich hatte abscheulichen Verdruss in Amts- und
Familien Prozess Sachen, war äuserst hinfällig an Leib und Seele,
alle meine Geschäfte lagen und blieben liegen, ich hatte einen
Graüel und Abscheu vor allem, ich konnte nichts thun, und wenns
mir bei Lebensstrafe anbefohlen worden wäre, alle Nase lang
muste ich 10 oder 20 rth. Ungehorsamsstrafen bezahlen, und
doch waren meine Finanzen schlechter als jemals; der Verdruss
darüber musste noth wendig wachsen und je mehr er wuchs, je
weniger war ich wozu zu bringen. Kurz es war oft, als wenn
mich der Teufel besessen gehabt hätte. Ich hätte schier alle
meinen Actenwust verbrennen und fort in die weite Welt laufen
können. Leib und Seele wirkten wechselsweise auf einander.
Ich konnte meinen Leib kaum von einem Ende der Stube bis
zum andern fortschleppen und mein Geist war so gesunken, dass
ich kaum zwei richtige Zeilen zu schreiben vermogte. Es ging
also alles drunter und drüber. Unter solchen Umständen schien
mir ein Brief an Euch ein so ungeheures Stück Arbeit zu seyn,
dass es den grössten Anlauf dazu erfoderte, und dazu war ich
zu schwach. Im Frühling erholte ich mich etwas wieder und
ßng an zu arbeiten. Allein da erlag ich fast unter der ungeheuren
Last der dringendsten Geschäfte, dass ich froh war, wenn ich
mich nur eimal eine Stunde gerade dehnen konnte. Auch fing
da schon längst die Schaam an, mich von einem Posttage bis
zum andern vom Schreiben an Euch abzuhalten. Auch der ganze
Sommer war fast ein beständiges Gewebe von Verdruss und
Plackereien, ob ich gleich etwas mehr an Leib und Seele bei •
KräfTten war. Wenn wir einmal zusammen kommen, so kann
ich Euch das Wie? und Warum? von allen den Hundsvöttereien
näher delailliren. ~- Im Herbst habe ich eine Reise nach Hamburg
gemacht und bin über 7 Wochen ausgewesen. Denn erst in
diesem neuen Jahr bin ich wieder zurück gekommen. Am Geiste
hat mir die Reise ziemlich wohlgethan. Denn der ist jezt Gottlob!
ganz munter und thätig. Aber am Körper bin ich sehr schwach
und elend. Ich befürchte, dass ich an einer Phtisi hypochon-
driaca, wie mein seel. Schwager Leonhart, in die andre Welt
438 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und (roeckiDgk.
reisen muss, wenn ich nicht noch wieder ausgeflickt werde.
Meine tagliche Nahrung ist nicht viel mehr, als Medicin. Wenn
ich mich nur mehr schonen konnte, um die Wirkungen der Cur
zu befördern. Nach dem Frühlinge und seinen Zerstreuungen
verlangt mich von Herzen. Alsdann will ich Euch auch gewiss
besuchen, wenn es sich mit mir bessert und ich leben bleibe.
Jezt ist die Witterung noch gar zu rauh; und ich habe die üblen
Wirkungen davon auf der Hamburger Reise sattsam erfahren.
Auch darf ich ja meine Cur nicht unterbrechen. —
Ihr habt also nun Euer liebes Malchen! Die erste Nachricht
davon erweckte in mir unaussprechliche Empfindungen -— Gott
seegne Euch beide und lasse es Euch herzlich wol gehn!
Ich bin Euch noch Geld schuldig, Lieber, für Eure Gedichte,
und muss mich auch darüber schämen, dass Ihrs nicht schon
längst habt. Weil ich kaum vor 8 Tagen alle Näthe meines
Beutels zu Bezahlung meines Pachttermins ausgeschüttelt habe, so
kann ichs auch jezt noch nicht gleich schicken. Indessen wollte
ich doch dieser wegen mein Schreiben an Euch nicht auf die
noch längere Bank schieben. Denn es dränget mich nun mehr,
Euch je ehe jelieber wissen zu lassen, dass ich unter des Him-
mels Beistand nicht länger ein Flegel seyn will.
Ich lege meinen Macbeth mit bei, wenn Ihr etwa davon noch
nichts gehört oder gesehn haben soltet
Viel, viel wünschte ich noch zu singen und zu sagen, allein
ich kann das lange Schreiben nicht aushalten. Auch ist mirs
ernstlich verboten. Ich will indessen nun wieder öfter, wenn
auch nur ein weniges, schreiben.
Lebt wohl. Lieber, und verzeihet Eurem GAB.
Meine Frau grüsst, und will nächstens antworten.
Gocckingk antwortete überaus herzlich (7. März 1783
Nr. 654): 'Euer Brief, mein alter treuer Freund, hat mir
Thränen gekostet. Mich dünkt, meine Liebe zu Euch ist
nie feuriger gewesen, als in dem Augenblicke. Das Hemd
würde ich ausgezogen haben und nackend gegangen seyn,
wenn Ihrs bedurft hättet.' Er gibt Rathschläge wegen
Bürgers Krankheit und dringt auf einen Besuch, den Bürger
bald darauf ausgeführt haben muss, wie aus dem folgenden
Bruchstück hervorgeht:
58. Bürger an Goeckingk.
Appenrode d. 17. März 1783.
Gottlob, liebster Goeckingk, dass wir uns endlich einmal
wieder gesprochen haben ! Euer Brief ist mir ein wahres Labsal
gewesen und hat mir Tagelang ein süsses Vergessen, so manches
und manches Ungemachs eingeüösst. Dagegen erwachen in mir
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 439
die angenehmen Erinnerungen der Zeit, in welcher wir uns so
öfters schrieben und ich mich unter allen Tagen am meisten auf
die Posttage freute. 0 lassts uns wieder anfangen, wo wirs da-
mals gelassen haben. Ich hoffe wieder in den Gang zu kommen.
Noch denke ich nicht an allen Kräften Leibes und der Seele
dergestalt bankrot zu sein, dass mir nicht durch gute Wirth-
schaft noch wieder auf die Beine geholfen werden könnte. Die
verzögernden Hindernisse liegen auch wol mehr ausser mir, als
in mir. Eine zerstreuende Reise von einem halben Jahre, in
angenehmer Jahrszeit; in angenehmen Gegenden, zu angenehmen
Leuten, würde mir sehr wohlthun. Das Unglück nur ist, dass
sich dazu so leicht nicht gelangen lässt. Es könnte dies fast
nicht anders geschehen, als dass ich mein Amt auf gäbe. Allein
wo habe ich gleich wieder ein sicheres Stück Brod, wenn ich
zurück komme, ob gleich dies armseeligc Stückchen (der Butter
nicht einmal zugedenken, die ich sonst sehen muss, wo ich sie
herkriege) auch noch nicht einmal zum Sattwerden hinreicht.
Gleichwoi, wenn ich es recht bedenke, so bin ich ein Thor, dass
ich diese Plackerei nicht dennoch aufgebe, und es nicht schon
längst gethan habe. Ich habe dabei nun schon über 6/m rth.
von meinem ererbten Armfitchen und sonstigem Verdienste auf
die nichtswürdigste Art, ohne allen frölichen Genuss dafür, zuge-
schustert, und wenn ich noch 10 Jahre so fortludere, so reichen
mein Bestehen und ein Paar Tausend von meiner Frau nicht
einmal mehr zu, und wir fahren aus der Welt ab, wie Beelzebub
mit Gestank. Bei dem allen daücht mir, wenn ich wieder gesund
und vergnügt wäre, so könnte ich mich blos mit Schriftstellerei
weiter helfen, als mich dies elende Amt hilft. Und wie solte
mich nicht Unabhängigkeit und freie Wahl der aüsern Lage ge-
sund und vergnügt machen? So denke ich manchmal des Abends
und fühle mich dabei so leicht und froh, dass es nicht anders
ist, als würde ich gleich den andern Morgen in aller Frühe meme
Resignation aufsezen. Ehe ich michs aber versehe, umringen
mich wieder Schaarenweise meine hypochondrischen Harpyen und
stellen mir den Schritt so gefährlich und bedenklich vor, dass ich
allen Mut, alle KrafTt zu meiner Befreiung verliere. Und so
kasteie ich mich denn fort von einem Tage zum andern, und
werde mich vielleicht fortkasteien, bis mich Freund Hain aus dem
Karren spannt.
Dieser Brief wird nicht vollendet und nicht abgesandt.
Erst als Qoeckingk am 4 . Juni 1 783 (Nr. 660) den Plan zu
seinem ^Journal von und für Deutschland' übersehiokte,
raffte sich Bürger auf und legte seinem Briefe das obige
Fragment bei;
440 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
59. Burger an Goeckingk.
Appenrode, den 6. Juni 1783.
Da habe ich Euren Brief vor mir, liebster Goeckingk, und
getraue mir ihn nicht aufzubrechen. Denn ohnstreitig hunzet Ihr
mich darinn tüchtig aus und das ärgste dabei ist, dass ich es von
Gott und Rechts wegen verdiene. Der Teufel muss mich auch
leibhaftig in seinen Stricken haben. Denn seht, seit dem 17^*^
März habe ich schon einen Brief an Euch angefangen; aber er
ist nicht weiter gediehen, ob ich mirs gleich fast alle Abend
beim Schlafen gehen vornahm: Morgen willst du auch ganz gewiss
den Brief an G. vollends fertig schreiben. Ich will doch das
Fragment mit beilegen und sehen, ob Ihrs als ein mitigans meiner
Schuld gelten lassen wollet. — Ei welche herrliche Besserung
lasse ich nicht in diesem Fragment an mir verspüren! Aber —
Im ganzen genommen ist meine Lage noch ziemlich eben
dieselbe, wie ich sie in dem Fragment angefangen habe zu
schildern. Jedoch befinde jch mich cörperlich etwas besser, als
vorigen Winter. Wenn ich alles recht bei Licht besehe, so be-
finde ich mich nicht in der mir angemessenen Sfare. Daher
kömmt nun alle mein Unheil Leibes und der Seelen, und icli
werde nie, so lange nicht eine Revolution mit mir vorgebt, ganz
genesen. —
Ach, Briefchen, soll ich dich nun aufbrechen? — Soll ich?
Lässt sich denn nirgends erst durch eine Ritze blicken, um
wenigstens aus einem Worte auf den Moll oder Durton zu
schliessen? Nein! Er muss aufgemacht werden, solte auch das
Fell davon über die Ohren gehen. Ahhhhhhl — Was gedrucktes!
Hurtig das Gedruckte erst perlustrirt und hernach den Brief! —
Goeckingks Ankündigung eines teutschen Journals! Nun, lieber
Junge, du musst mir doch noch so gar böse nicht seyn, weil du
mich wenigstens würdigst, mir so was zu zu senden. Also den
Brief selbst her! — Gottlob und Dank es geht gnädig ab. Nun
soll denn doch aber wahrhaftig die Communication, sowohl ^hrifllich
als mündlich ohne allen Verzug wieder eröffnet werden, wenn
sich auch der Teufel selbst dazwischen stellen wollte. Hört,
liebster Mann, ich trabe nächstens zu Euch;^ oder wenn ich zu
lange ausbleiben sollte, wie ich denn wirklich mancherlei Abhal-
tungen habe, so macht euch auf, und kommt, entweder mit Weib
und Kind, oder auch allein zu mir. Am liebsten ist es mir,
wenn ihr Euer Kommen zu jeder Zeit so einrichtet, dass Ihr
Freitags Nachmittags eintreffet; alsdann kann ich Euch bis in
den Montag hinein desto besser geniessen. Ihr seyd mir zwar
an jedem Tage willkommen, nur sind die andern Tage meine
grössten Amts- und Geschäftstage. Euer Project ist herrlich;
wenn es zu Stande kommen sollte, und es wäre Schade drum,
wenn es nicht zu Stande käme. Kommt es aber zu Stande, so
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen BOrger und Goeckingk. 441
wird die Plackerei dabei so unermesslich seyn, dass Ihr dem
Dinge nicht allein gewachsen seyn werdet. Ist daher Nahrung
dabei, so wäre es gerade mein Casus mit Euch in Compagnie zu
treten und alle andern Hundsvöttereien zum Teufel zu werfen.
Wirft die Entreprise aber nicht soviel ab, als der vielen Mühe
wehrt ist, so wollte ich Euch sehr verdenken, wenn Ihr Euch um
des lieben Publici willen das Leben so sauer machen woltet. —
Ihr habt Recht, wir müssen uns darüber mündlich sprechen.
Das soll denn auch mit Gott nächstens auf eine oder die andere
Art geschehen. In dieser Hofnung verdriesst es mich auch beinah
nur noch ein Wort über dies und jenes erst mühsam zu schreiben.
Schickt mir aber doch je eher je lieber noch ein Dutzend Plane.
Denn ob ich gleich auf meiner Nachbarschaft eben keinen sonder-
lichen Gebrauch davon machen kann, so habe ich doch in ver-
schiedenen, der angezeigten Städte Bekanntschaften, wo ich sie
unverzüglich hin befördern will.
Der 6^ Artikel: Handschriften. Körnt mir gerade zur
gelegenen Zeit. Da habe ich eine Id^, die ich Euch doch mit
wenig Worten noch herschreiben will. Das Publikum denkt nun
zwar wohl schon längst, dass ich von der Übersetzung der Ilias
abstrahirt habe. Allein so ist es nicht. Sie nähert sich vielmehr
mit mächtigem Schritt ihrer Vollendung. Ihr seyd der erste und
einzige, dem ich dieses hiermit sage. Ich habe mich bisher immer
an dem Gedanken geweidet, tanquam deus ex machina, damit
hervorzubrechen. Weil mich nun das impertinente Verlangen
dränget, alles andre, was bisher daran gedollmelscht hat und fürs
erste daran dollmetschen wird, nieder zu arbeiten, ein Werk
möglichster Vollkommenheit und Celebrität zu liefern und mich
auf die Art an Freund Stollberg für den unvermuteten Stoss, den
er mir einst beibrachte, eben so unvermutet zu rächen, so habe
ich meine ganze Procedur geändert, den vorhingewählten Jambus
(in welchem ich endlich nach der unsäglichsten Bemühung den-
noch am Ende unmöglich fand, den Homer so getreu darzustellen)
fahren lassen und dafür nun auch den Hexameter ergriflen. Ich
gestehe, dass mir bisweilen der Hochmuthsteufel zuraunt, dass es
schlechterdings unmöglich sey, dem Original näher zu kommen,
[■nd wenn ich dann meine Vorgänger so weit davon abhinken
und stolpern sehe, so verursacht mir das eine so wollüstige
Seelentremulanz, als wenn ich den lieblichsten concubitum celebrirte.
Gleichwohl sind wir ja leider oft da die blindesten Maulwürfe,
wo wir am allerhcllsten zu sehen glauben. Daher wünschte ich
das Werk eher, als ich eine eigene dauernde Ausgabe davon ver-
anstaltete, der Prüfung mehrerer Augen zu unterwerfen. Wie
sollte ich das nun anfangen ? Wollte ich gleich einem oder dem
Andern das Manuscript vorher communiciren , so dürfte mir das
wohl nicht viel helfen. Einer läse es vielleicht mit Aufmerksam-
keit, der Andere aber wohl nicht. Beide schickten mirs dann
442 Sauer, Aas dem Briefvechge] zwischen Bflrger and Goeckingk.
entweder mit allgemeinem Lob oder Tadel zurück, um nur kurz
abzukommen. Eine genaue Prüfung und Beurtheilung wäre auch
kein kleines und leichtes Stack Arbeit. Mir ist daher längst ein-
gefallen die ganze Uias Gesangweise vorher in irgend ein Journal
von Monat zu Monat einrücken zu lassen und auf die Art alle
suiores citra et ultra crepidam aufzufordern, ihr Müthchen daran {
zu kühlen. Auf die Art würde ich wahrscheinlich einer viel- 1
fältigen strengen Prüfung nicht entgehen, und dies ists gerade,
was ich wünsche. Nachdem ich nun alles genüzt hätte, so wollte
ich alsdann eine correcte unveränderliche und dauernde Ausgabe
der lezten Hand veranstalten. Vor Nachdruck wäre ich vorläufig
um des willen sicher, weil die Nachdrucker befürchten müssten,
dass die eigene verbesserte Ausgabe ihnen bald übern Hals
kommen könnte. Was meint Ihr nun, Freund, liesse sich dieser
Gedanke in Euerm Journal wohl ausführen? — Aber was für
einen Namen soll denn das Journal haben? —-
Adiol Bald und von nun an beständig mehr! Wir wollen
uns nun recht aus allen Leibes und Seelenkräfiten auf das Plan-
aushecken und Gelderscharren legen. Das verfluchte Publicums
luder soll und muss geprellt werden. GAB.
Goeckingk stellt sich diesen stürmischen doppelten
Plänen vorsichtig abwehrend entgegen und schlägt eine
mündliche Besprechung vor (12. Juni 1783 Nr. 661), die
sich durch die Yerzögerung des Briefes zerschlägt.
60. Bürger an Goeckingk.
Appenrode, den 19. Junii 1783.
Erst ehegestern, lieber G , habe ich euren Brief vom 12*®" d.
erhalten und Morgen erwartet Ihr mich schon ! Ich kann aber
leider ! da noch nicht kommen und auch die Zeit nicht bestimmen,
wenneher ich zu kommen im Stande bin. Bequemer wäre mir
allerdings Eure Anherokunft gewesen; indessen muss man sehen,
wie maus macht. Mein Reitpferd habe ich auch schon vorigen
Sommer verkauft, weil ich Vierteljahre lang nicht hinauf zu
steigen pflegte und es sich steif im Stalle stand. Will ich also
nun nicht eins von meinen Ackerpferden, die ohnehin ihre volle
Arbeit haben, nehmen, so muss ich mir einen Philister Gaul von
Göttingen miethen.
Ich kann euch sagen, dass Eure Ankündigung, so weit meine
Ohren reichen, schon viel Publicität gewonnen hat, und sehr
goutirt wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach kommt also das
Journal in Schwung und die Hauptsache wird seyn, es darinn
zu erhalten. Mit heutiger Post habe ich schon Vs Dutzend
Exemplare der Ankündigung ausfliegen lassen und will Euch
demnächst die Örter und Personen melden, wohin ich sie ge*
sendet habe.
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen BQrger und Goeckingk. 443
Freilich auf gerathewohi ein gewisses Stückchen Brod weg
zu werfen, ist eine missliche Sache. Allein wer kann ohne Wagen
gewinnen. Wenn ich es heut am Tage noch thäte, so dächte
ich dennoch schon auf ^/s Dutzend Jahre meines Unterhalts
ziemlich gewiss zu seyn. Ich habe von mehr, als so viel Buch-
händlern Propositionen zu Brodarbeiten und keiner bietet mir
unter 1 Ldor. p. Bogen. Zu mehr als so viel Journalen habe
ich Einladungen, mit dem Erbieten nach ansehnlicherer Belohnung.
Kurz auf wenigstens 6 Jahre wüsste ich mir volle Arbeit vorzu-
rechnen, die mich ernähren könnte und würde. Mein Amt bringt
mir höchstens, wenns köstticli ist 400 rth. ein. Was muss ich
mich nicht daför placken I Davon muss ich nun zwischen andern
Seigneurs, auch wie ein Seigneur leben, der wenigstens 1000 rth.
zu verzehren hat. Was kann dabei am Ende heraus kommen?
Sobald ich aber tout court wieder Herr Bürger hiesse, könnte
ich mich an einem andern Orte so einrichten, dass ich an
400 rth. jährlich reichlich genug hätte. Und diese bei Müsse
und angenehmerer Lage Leibes und der Seele zu verdienen halte
ich für ein blosses Kinderspiel.
Eure Id^ wegen eines mit dem Journal zu verbindenden
Buchhandeis bin ich begierig zu hören. Ob sich aber mit
2000 rth. wird anfangen lassen, daran zweifele ich sehr. Sonst
Hessen sich ja 2000 rth. noch wohl auf treiben Was wir pro-
jectiren muss so einfach, als möglich seyn, und so viel möglich
durch uns allein, ohne weitläufige Beihülfe bestritten werden
können. Denn tröste Gott denjenigen, der zu so was viel Leute
halten muss. Man wird allemal bald durch Vorsatz, bald durch
Nachlässigkeit Derselben mehr, oder weniger betrogen. Zulezt
über wältigen einen der Verdruss und die Last, man lässt den
Mut sinken und dann stürzt die ganze Herrlichkeit mit Ach und
Krach zusammen, wie Messina.
Überhaupt müssen wir, ehe wir den endlichen Schritt zu der
grossen Revolution thun, unser Heil nicht auf einen einzigen
Pfeiler blos bauen. Hält alsdann der Eine nicht, so hält doch
der andere, oder tritt an die Stelle des ersten, wenn der, wie
es der Lauf irdischer Dinge mit sich bringt, abgängig wird. Unser
Hauptstudium muss seyn die Neigung des Publicums im ganzen
zu Studiren. Die Hauptleidenschaft, die ich Zeit meines Lebens
beobachtet zu haben glaube, ist Neugier zu wissen, was ge-
schehen ist, wäre das geschehene auch von noch so wenigem
Belang. Da sitzen z. B. ein Paar Kerle in Hannover, die post-
täglich eine geschriebene Zeitung an ihre Kunden im ganzen
Lande auslaufen lassen und worinn jeder Quark, der in und um
Hannover vorfällt, notificirt wird. Ihr glaubt aber nicht, wieviel
diese Wische, welche jährlich 1 Ldor. kosten, gehalten und ge-
lesen werden. Der ungleich grössern Menge ist es weit inter-
essanter zu wissen, ob die und die Frau Räthin in die Wochen
444 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwiscben Bürger und GoeckiDgk.
gekommen , ob der und der Hans mit der und der jGIrete sich
verheürathet hat, als: ob Wieland einen neuen Oberon gemacht
hat. Glaubt nur, Freund, dieser so schaale Artikel eures Jour-
nals wird mehr Antheil an seinem demnächstigen Wohlergehen
haben, als seine besten. Wenn nun schon Salomo oder Jesus
Sirach es gut geheissen haben: dem Narren nach seiner Narrheit
zu begegnen, warum sollen wir nicht diese Maxime zu unserm
Nutz, Heil und Frommen in Ausübung bringen? Also Neugier,
Neugier lasst uns befriedigen! Aus der Neugier lässt sichs er-
klären, dass nichts so gut, und so beständig gut geht, als eine
politische Zeitung. Eure Id^e dahin, gleichsam eine politische
Zeitung, die sonst nur immer und grösten theils die grossen
Weltneuigkeiten angezeigt hat, auch aus Privathaüsern Neuigkeiten
aufladen zulassen, ist des besten Speculateurs wQrdig. Wird nun
in der Folge der Preis so wohlfeil gemacht als möglich; so soll
dieser hinkende Staatsbole Geld genug zusammen schleppen. Der
Himmel gebe zu allem sein Gedeihen I
Wenn ich komme, so komme ich wahrscheinlich eines Freitag
Nachmittags. Soltet Ihr gleich nicht in Ellrich zu finden seyn,
so will ich Euch schon weiter auf Euerem Landhause nach spüren.
Bis dahin lebt herzlich wohl! GAB.
Apropos! Noch eins, was ich Euch lange habe sagen wollen.
Ihr bedient Euch auch in Eurer simpeln prosaischen Schreibart
der Apostrophen zu viel. Das kann ich nicht leiden und sieht
mir zu geziert aus. In einer Schreib Art, wie die Eurer An-
kündigung, kömmt es ja nicht auf Rythmus an, der durch Eli-
sionen erhalten wird. Schreibt immer das Wort vollständig mit
seinem End Vokal hin. Im Lesen verschleift doch jedermann
ohnehin die hiatus. Meine Maxime ist jezt, alles Sonderlings-
mässige zu vermeiden und ich kehre daher auch fast völlig zu
der Alltags Ortographie zurück.
Mit Goeckingks Antwort vom 3. Juli 1783 Nr. 663
nehmen dessen gedruckte Briefe vorläufig ein Ende. Bis
zum Juli 1784 liegen nur die Briefe Bürgers vor, die sich
zunächst auf seine Mitarbeiterschaft an Goeckingks Journal
beziehen.
61. Bürger an Goeckingk.
Appenrode d. 29. December 1783.
[Empf. d. 2. Januar 1784 beantwortet eodem.]
Lieber Goeckingk, ich kann Euch heute nur sagen, dass ich
künftigen Montag ganz gewiss das Manuscript der Vorrede und
des ersten Gesangs der llias absenden werde. Denn ungelogen,
es wandelt mir Angst und zittern an vor dem Schritte , den ich
nun thun soll, weil meine ganze Ehre in Sachen Homers darauf
beruhet. Seil 14 Tagen schon wollte ich jeden Postlag das
Sauer, Aus dem Briefv^echsel zwischen Bürger und Goeckingk. 445
Manuscript abschicken, und jedes mal in dem ichs einpacken
wollte, hielt mich, Gott weiss, was für geheime Ähndung zurück.
Jedesmal aber fand ich auch Ursache die Zurückhaltung nicht zu
bereuen. Binnen hier und Montag aber soll auch wahrlich das
lezte daran geschehen. Es mögle des feilens sonst allzuviel
werden. In meinem Leben hat mir das Herz noch nicht so ge-
pocht und doch bin ich ja kein Schriftsteller seil gestern mehr ....
Der nächste Brief Bürgers (aus den ersten Tagen des
Jahres 1784), mit dem er das Manuscript übersandte, ist
bei Strodtmann Nr. 669 gedruckt.
62. Bürger an Goeckingk.
Appenrode, d. 23. Februar 1784. [Empf. d. 26.]
Ich glaube es wohl, lieber G., dass Ihr mit Verlangen auf
neues Manuscript hoffen werdet. Ihr hättet indess den 2^®° Ge-
sang der llias schon längst, wenn ich nicht 3 Wochen zu meinem
Schwager verreist, eben so lange fast nachher an meinen Rheu-
matismen krank und sonst auf allerlei Weise geplackt gewesen
wäre. Ich werde Euch auch in der Folge eher noch nicht
schneller fördern können, als bis ich nun erst meines Amtes auf
k. Johannis quit bin, da ich denn mehr für euch leben und
arbeiten kann. Die ersten 4 Gesänge sind so weit, dass sie nach
vorgängigem feinen und kleinen Polituren hinter einander folgen
können; allein hernach fehlt bis übei*s erste Dutzend hinauf an
jedem bald mehr bald weniger. Im zweiten Dutzend erst sind
wieder die meisten ganz ausgearbeitet. Es wird also übel aus-
sehen, wenn Ihr ununterbrochen mit jedem Monathe fortfahren
wollt. Wäre ich erst frei von übrigen Verdriesslichkeiten und
Geschäften, so sollte es nichts zu sagen haben. Allein so dächte
ich, man machte lieber etwa von 4 zu 4 Gesängen eine kleine
Pause von einigen Monathen. Es ist ein Übel, dass die hunds-
vöttsche Arbeit so erschlafft, dass ich manchmal in 8 bis 14 Tagen
nichts vom Homer schmecken und riechen kann, da ich doch
wohl sonst mehr als 100 Verse in einem Tage absolvirt habe ....
Wenn ihr meine Amts Niederlage notificiren wollt, so könnt
ihrs öhngefähr auf folgende Art thun: Durch neuerlichen gehäuften
Verdruss von widrig gesinnten Menschen gereizt, hätte ich schon
vor einigen Monaten den seit Jahren bei mir herumgetragenen
Entscbluss vollführet, mein wenig einbringendes peinliches Amt
selbst aufeukündigen und würde künftige Johannis davon abgehen,
um mich hernach den Wissenschaften und vielleicht auch dem
akademischen Leben zu widmen.
Übrigens wünsche ich, dass Ihr künftig weniger Schererey
mit Eurem Journal haben und bald mehr Subscribenten bekommen
raöget. Ich hoffe denn doch, dass es empor kommen soll. Zwar
habe ich es noch nicht so genau durchsehen können, um meine
Vierteljahnchrift für Littenttoigesohichte HI 30
446 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Gtoeckingk.
entschiedene Meinung darüber zu sagen. Indessen deucht mir,
es wird gut. Lasst mich nur erst frei seyn» so will ich mit
Händen und Füssen dafür arbeiten, was ich kann ....
63. Bürger an Goeckingk.
Gelliehausen d. 22. März 1784.
[Empf. den 25. Beantw. den 26.]
Ich muss Euch wohl, liebster G., nachgerade den dritten Ge-
sang der Uias schicken, ehe Ihr darum mahnt, wenn nicht anders
der Mahnbrief schon auf dem Wege ist. Gern schickte ich Euch
ein reiner geschriebenes Manuscript, wenn ich nur Zeit und Ge-
dult dazu hätte, indessen denke ich, ist es deutlich genug, um
den Druckfehlem entgehen zu können.
Aber denkt Euch nur das Creüz, Jammer und Elend, was
ich schon so früh bei meinem Aushange erfahre. Gleim schreibt
mir vor ein Paar Tagen, dass ihn kleine Versificationsfehler
nicht beleidigt hätten. Um Gottes willen, liebster Goeckingk,
was sagt Ihr dazu? Gleim und Versificationsfehler!!!
Sollte man nicht gleich den ganzen Plunder ins Feuer werfen?
Versificationsfehler! So was ist mir mein Lebelang noch nicht
geboten. Auch kann ich sie nicht entdecken, wenn ich gleich
noch zehnmal den ersten Gesang Vers vor Vers durchprüfe. Ich
habe ihn daher um die nähere Anzeige ersucht, worauf ich denn
sehr begierig bin. Übrigens schreibt er mir, dass Euer Journal
in dortiger Gegend grossen Beifall finde.
Seit 14 Tagen wohne ich hier zu Gelliehausen in einem
Bauerhause und bin allso meiner ruinösen Appenröder Pachtung
los. Ich habe allhier bereits vor Jahr und Tag ein kleines Güt-
chen mit einer hübschen Wohnung, dicht bei dem Torfteiche,
wenn Ihr Euch dessen erinnert, aus dem Concurs meistbietend
erstanden und bis hieher hat der Cridarius soviel Sprünge ge-
macht, dass ichs zu keiner Ex- und Immission bringen können.
Allso muss ich mich vor der Hand noch gar jämmerlich behelfen.
Indessen bin ich doch nur froh, dass ich jenen blutaussaugenden
Vampyr, ich meine die Pachtung los bin. Wäre nun nur erst
auch Johannis vorüber. Mir deucht die erste Ausflucht meiner
Freiheit wird alsdann zum Journalisten von und für Deutschland
seyn
64. Bürger an Goeckingk.
Gelliehausen d. 5. April 1784.
[Empf. den 30. Apr. Beantw. den 4. May.]
Gottlob! liebster Freund, in Ansehung Eures Journals wird
mir das Herz immer leichter. Beim dritten und vierten Stück
huste ich vielleicht schon das wenige übrige noch vollends weg.
Ich kanns Euch nun nach gerade wohl sagen, dass mir banger
war, als ich Euch jemals merken liess, einestheils weil mir selbst
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 447
der Plan allzu riesenmässig schien, um einer erträglichen Aus-
führung fähig zu seyn, anderntheils weil alle Well, alle Weltl —
ich sage es noch einmal — alle Welt!!! daran verzweifelte.
Gottlob! Dass man sich nun schon ganz leise bekennen muss,
Ihr producirtet Euch besser, als man erwartet hätte. Sicherlich
wird sich dieses Gemurmel bald in lautes Geschrei des Beifalls
verwandeln. Nun
Freund, so verleihe dir dann die Göttin Pallas Athene
Mut und Helden Kraft, hervorzuprangen vor allen
Deutschen, und herrlichen Ruhm davonzutragen! Sie fache
Dir auf Helm und Schild ein unausloderndes Feu*r an !
Wie der herbstliche Stern, wann der in des Ozeans Fluten
Sieh gebadet hat, und am allerhellsten umherstrahlt:
Solch ein Feuer fache sie dir um Schulter um Haupt an;
Und so treibe sie dich hinauf zum Tempel der Ehre!
Doch mit diesem Gebet ist wohl noch nicht alles gethan! An
den Segen Spender Hermeias werde ich auch wohl noch eins
parodiren müssen. Dieser wird Euch indessen auch schon hold
werden. Eins folgt dem andern nach.
Wollte der Himmel nur, dass ich näher mit Euch zusammen
wäre! Ich wollte mit angreifen und helfen, dass es eine Lust
seyn sollte. Ich dächte, wir wollten es dahinbringen, dass uns
das Journal beide reichlich ernähren sollte. Zu eurem Vorschlage
nach Ellrich oder Walkenried zu ziehen, kann ich noch weder
ja noch nein sagen. Heute steht ein Termin vor der Justiz
Canzlei in Hannover, welcher entscheiden wird, ob ich das er-
standene hiesige Gut erhalten werde, oder nicht. Behalte ich es;
so wird ohnstreitig die Immission bald erfolgen ; und dann dürfte
ich wohl fürs erste, wo nicht meine Person, doch meinen Haus-
halt hier noch ein bischen fixiren. Denn der Handel ist sowohl
ratione pretii sehr vortheilhaft, als auch in manchem andern Be-
tracht angenehm. Denn die Wohnung ist sehr bequem und es
ist ein allerliebster Garten dabei. Indessen könnte ich dennoch
nach Johannis öfters persönlich bei euch seyn und so lange
bleiben, als es mir immer nöthig wäre, sollte ich auch einen
eigenen Klepper darum halten müssen. Sollte ich aber das hie>-
sige Gut nicht behalten, so lässt sich nach Johannis das Ding
weiter überlegen. Traurig ist es nur, dass ich bei diesem un-
seeiigen Amt fast mein ganzes bischen Vermögen zusetzen müssen.
Sonst wollte ich zum Besten des Journals Eure angefangene Reise
durch Deutschland fortsetzen und vollenden. Doch vielleicht
wird das Journal noch so ergiebig, um eine solche Reise ab zu
werfen; und das sollte ihm gewiss nicht wenig Vortheil schaffen.
Der Brief und die Anmerkungen des Herrn v. Halem haben
mir nicht wenig Freude gemacht. Das scheint in der That ein
tüchtiger Kerl zu seyn. Ich muss viele, wie wohl nicht alle, für
sehr gut und richtig erkennen. Am meisten freut mich die
80»
\
448 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk.
Genauigkeit, mit welcher er alles durchgegangen ist und ich
wünsche recht sehr, dass er so fori fahre. Allein sollte der
Mann nicht die Absicht und den Wunsch hegen, seinen Brief und
Anmerkungen gedruckt zu sehen? Überlegt das einmal und fragt
ihn lieber. Er hat alsdann vielleicht desto mehr Lust zur Fort-
setzung. Ich schicke Euch zu dem Ende sowohl den Brief als
die Anmerkungen zurück. Jenen begleite ich mit einem Bnefe,
den ihr mit drucken lassen könntet und zwischen diese streue
ich hin und wieder mein Egoistisches Senfkorn. Sollte es aber
mit dem Drucken nicht so gemeint, noch sonst dasselbe thunlich
seyn, so schickt mir die Anmerkungen gelegentlich zu meinem
Gebrauch zurück.
Übrigens füge ich nun auch den 14^®*^ Gesang bei, um mir
nur die Macht zum allzu vielen Feilen zu benehmen. Denn in
der That, fast glaube ich, ich verderbe manches zuletzt wieder
mit der verwünschten Feile. Das fange ich schon an beim ersten
zu merken. Der 5^® Gesang wird auch bald rein seyn. Dieser
ist sehr lang und der längste in der ganzen Ilias, daher er füglich
in zwei Theile zerlegt werden kann. Auf diese Art und durch
die dazwischen gemachten Pausen erhalte ich Zeit in meiner
Arbeit mit Euch fort zu kommen
Fortgesetzt den 26. Apr. 84.
Bis hieher, liebster G., hatte ich geschrieben, ohne weiter
kommen und vor allem etwas erfüllen zu können, was ich euch
da oben versprochen habe. Vor einer Stunde aber erhalte ich
euren Brief vom 16. dieses, worauf ich doch gleichwoll vor
eurer Reise nach Leipzig noch antworten mögte. Wahrscheinlich
verschlägts Euch auch nichts, ob Ihr das oben versprochene schon
heüt oder ein Paar Posttage später erhaltet; denn ich komme
heute da es schon späth ist, doch nicht damit zu Stande. Die
Druckfehler aber habe ich auf ein apartes Blatt geschrieben,
damit Ihr nicht nöthig habt, sie aus zu schreiben. Vorige Woche
war ich in Göttingen bei Dietrich -— aber es bleibt unter
uns, was ich Euch hier melde — da lief ein Brief von
Eurem Drucker an Dietrich ein, woraus kein Schwein klug werden
konnte. Das ganze lief auf Klagen über Eures Herzens Härtig-
keit hinaus und dass er verzweifelte mit Eurem Eigensinne noch
lange fertig zu werden, weil Ihr immer unmögliche Dinge von
ihm verlangtet. Da wollte er sich nun beim Handwerk Raths
erholen, wie er sich wohl mit Ehren gegen Euch zu benehmen
hätte, wenn Ihr nicht nachgiebiger würdet. Was ihm Dietrich
antworten wird, oder schon geantwortet hat, kann ich nicht sagen.
Vielleicht kann Euch indessen diese Nachricht zu einiger Direction
dienen.
Ich bin übrigens die Zeit her über alle Schurkenstreiche die
mir gespielt worden, an Leib und Seele aüserst angegriffen worden.
Das Gut, welches ich legali modo erstanden, und mir rechtskräftig
Saner, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 449
adjudicirt worden ist, sucht man mir durch die unverantwort-
lichsten Chicanen vorzuenthalten, ja vielleicht ganz zu entziehen.
Wenigstens werde ich noch leicht abstrahiren müssen, wenn ich
nicht noch viel Zeit und Kosten verschwenden will. 0 ich bin
alle weile so toll, dass ich fortlaufen möchte in die weite Welt,
um nur andere als diese infame Luft hier zu athmen. Hielten
mich nicht Frau und Kind, wovon die erste hochschwanger aber
dabei höchst elend — ja ich fürchte beinahe schwindsüchtig —
sich befindet, so wäre ich längst lieber zum Teufel gelaufen, als
hier noch länger geblieben. Ich muss wahrlich grosse Sünde be-
gangen haben in meinem Leben, wenn aller mein Ärger und
Verdruss, den ich hier schon verschlungen habe, Strafe dafür
seyn soll
65. Bürger an Goeckingk.
Gelliehausen, den 2. Juli 1784.
Verzeiht mirs, liebster G., ich habe die ganze Zeit her wegen
meines schwer auf mir liegenden Hauskreuzes wenig an Euch
und Euer Journal gedacht. Meine arme Frau krankt nun schon
über vier Monathe an einem hectischen Fieber und wird von
aller Welt, selbst von ihrem Arzte dem Prof. Stromeyer auf-
gegeben. Bei so traurigen Aussichten sie täglich und nächtlich
mit den Bitterkeiten einer solchen Krankheit kämpfen zu sehen,
muss ich notwendig an Leib und Seele ganz matt werden, wenn
ich auch noch zehnmal mehr Mannes wäre, als ich wirklich bin. Mir
leuchtet zwar das Licht der Vernunft ruhig fort; und mir deucht
ich bin auf alles gefasst, aber damit hindere ich dennoch meine
zunehmende Ermüdung nicht, da meine Kräfte ohnehin eben nicht
in der Verfassung sind, so vielen Kummer und so lange ertragen
zu können. Bei so wenig Hoffnung zu ihrer Wiederherstellung
würde ich beinahe Gott selbst bitten, ihren Leiden durch den
Tod lieber ein Ende zu machen, wenn die arme Kranke nicht
dennoch einen so dürstenden Trieb nach dem Leben äusserte.
Eben diess aber ist auch mit ein characteristisches Merkmal dieser
fatalen Krankheit, welches ich schon mehrmal und sonderlich
auch bei meinem seel. Schwager wahrgenommen habe. Mit
diesem ist sie fast in allem gleich; ausser dass sie noch zehnmal
ungeduldiger ist. Wie lange dieses Elend noch dauern werde,
ohne sich zu irgend einem Ende zu neigen, das mag Gott wissen.
So viel aber weiss ich, dass ich an Seele und Leib ganz dabei
zu Grunde gehe
Dieser häusliche Kummer hat mich notwendig sehr an
allen meinen Geschäften zurücksetzen müssen, welches mir nun
diese Tage her, da ich abliefere, sehr sauer und verdrüsslich
macht. Denn seit 14 Tagen her hat mich die aüserste Noth
gezwungen fast Tag und Nacht zu arbeiten, und noch bin ich
doch nicht gehörig auf das Reine. Ich wills aber binnen 8 bis
450 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qoeckingk.
14 Tagen schlechterdings seyn, sollte ich auch drüber crepiren.
Noch habe ich keinen Nachfolger. Da ich aber nicht länger, als
bis auf Johannistag yerwalten wollte, so ist eine andere Interims-
Verwaltung angeordnet.
Der mehr als einmal rechtskräftige legale Zuschlag, den ich
auf das bewusste Gut erhalten hatte, ist durch die allerheilloseste
Restitutionem in integrum praetoriam retractirt worden. Jeder-
mann, der sich auf Jurisprudenz versteht, erstaunt darüber. Seht,
so was geht nicht etwa blos in einem obscuren Baierlande, son-
dern auch bei uns vor. Ihr sollt euch über die richterliche
Chicane, wenn ich sie euch einmal mündlich erzähle, creuzen
und seegnen. Schade, dass ich sie nicht im Journal zum besten
geben kann.
Meines Bleibens kann hier nun um so weniger seyn. Denn
ich bin in meiner jetzigen Bauerhütte gar zu elend logirt und
eine bessere Gelegenheit ist hier nicht zu haben. Aber wo soll
ich hin, da die Krankheit meiner Frau mir so schwere drückende
Fesseln anlegt? Mein Plan war sonst, Frau und Kinder fürs
erste noch auf dem Lande zu lassen, für meine Person aber so-
gleich nach Göttingen zu ziehn und Collegia zu lesen, wozu mir
Erlaubniss ertheilt worden ist. Da ich dort in grosser Liebe und
Achtung bei der studirenden Jugend stehe, so weissagt mir aUes
einen sehr gesegneten Erfolg dieses Unternehmens und in Han-
nover sieht mans auch sehr gern. Ich habe dann Hoffnung viel-
leicht in Kurzem Professor zu werden; wenn ich erst, wie ich
vorhabe, mit ein Paar lateinischen so genannten speciminibus
eruditiouis auftreten kann. Ich schere mich indessen den Teufel
um ein Professorat; und bin auch im geringsten nicht willens,
um irgend ein Amt wieder zu reverenzen. Wenn ich, wie zu
hoffen ist, Beifall im lesen zu Göttingen finde, so denke ich
dennoch gut durch zu kommen. Denn die Collegia werden dort
sehr gut und nie eins unter 1 Louisd^or bezahlt. Ich habe aber
Gegenstände, die in Göttingen wenig oder gar nicht cultivirt
werden, und wornach grosses Verlangen ist. Mit der Schrift-
stellerei allein gehts doch nicht. Viel und mittelmässig schreiben,
welches fast nicht zu trennen ist, bringt zu wenig Ehre, weniges
und gutes aber zu wenig Geld ein ... .
Seid Ihr aber auch gevnss, Lieber, dass das Journal Bestand
haben kann? Die Maschine ist gar zu gross, aus allzuvielen
Theilen zusammengesetzt und ihr Unterhalt zu kostbar. Mir
dünkt, ich ahnde aus Euren eignen Äusserungen, dass wenn Ihr
Eure Kosten wieder heraus habt, so bedenkt ihr euch wohl noch
erst wegen der Fortsetzung. Schade wäre es freilich. Denn
nach meinem Geschmack ist das Journal sehr interessant. Solltet
Ihr übrigens wohl nicht fast zu viel fQrs Geld geben. Das
4^ Stück ist wieder erstaunlich stark. Was muss Euch das nicht
an Druck und Papier kosten? Soll das Journal künRig in Gange
Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger und Qocckingk. 45 1
bleiben y so gehört unter andern auch mit dazu, dass die Stöcke
geschwinder mit jedem Monat erscheinen. Ihr seit nun schon
um 2 Stucke zurück. Die müssl ihr gewiss bald nach bringen.
Aber den Druck auswärts besorgen zu müssen giebt hierin schon
fatale Hindernisse. Ich wünsche, dass Ihr in Göttingen besser,
als in Wernigerode fahren möget. Kann ich euch dort worin
dienen so commandirt nur dreüst. Mancherley so ich noch zu
sagen hätte verspare ich auf eine mündliche Unterredung . . .
Auf den zu erwartenden Aufsatz über meine Übersetzung
bin ich sehr begierig. Vielleicht ist es der nehmliche, der schon
in die Berliner Monatsschrift sollte. Wisst Ihr den Nahmen des
Verfassers, so könnt ihr ihn mir wohl sagen. Nächstens will
ich auch das Halemsche Manuscript schicken.
Übrigens sehe ich wohl, dass wenn ich auch der Engel
Gabriel selber wäre, so werde ichs doch wohl nicht allen und in
allen Stücken recht machen können. Denn der eine lobt, was
der andere tadelt. Also wird wohl doch am Ende keine andere als
meine, keviesweges aber eine Übersetzung des fast nirgends mit
sich selbst einigen Publikums heraus konmien. Das meiste muss
ich, wenn ich meiner Arbeit nicht mehr Schaden als Vortheil
stiften will, zu einem Ohr hinein, zum andern wieder heraus
gehn lassen.
Ich danke euch übrigens, liebster G., für die abermals über-
sandten 3 Ldor. Ob mir gleich dergleichen Gäste, besonders in
diesem Zeitpunct, allemal sehr willkommen sind, so lauft mirs
doch immer dabey brühheiss über die Haut, wenn ich bedenke,
dass das Loch in eurem Beutel dadurch immer tiefer wird, und
noch nicht vergewissert bin, dass es sich ganz wieder anfüllen
werde. Ja, könnte ich erst von Euch die tröstliche Versicherung
vernehmen, dass Ihr mir das vom Profit gäbet, so wollte ichs
mit leichtem Herzen hinnehmen. — Ich erstaune, dass ihr schon
bald 3000 rth. in die Entreprise gesteckt habt; und ahnde dabei
Ökonomische Fehler, die ihr vermutlich selbst schon eingesehen
habet, und entweder nicht abändern könnet, oder künftig abändern
werdet. Ein Hauptfehler scheint mir der zu seyn, dass Ihr allzu
genereüs seyd, und zu viel fürs Geld gebt. Vieleicht auch zu viel
Geld für die Waare.
Lebt wohl, Bester! Ich sehe euch gewiss bald.* Grüsst
eure Amalie. GAB.
Die nächste Nummer 66 ist die gedruckte Anzeige von
Dorettens Tod (31. Juli 1784, vgl. Strodtmann Nr. 685) mit
einigen geschriebenen Worten:
Lieber, Ihr verzeiht mirs, wenn ich Euch jezt und auch
noch in einiger Zeit nichts mehr sage. Denn ich Armer von so
langer harter Prüfung aüscrst an Leib und Seele Abgematteter
452 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
bedarf gar sehr einiger Erholung. Nach dem Begräbniss meiner
Entschlafenen werde ich fürs erste nach Götiingen gehen, und
dann zu Euch, vielleicht eher, als Ihrs erwartet.
Ein Antwortbrief ist nicht vorhanden. Ohne bestimmte
Veranlassung trat in dem brieflichen Verkehr der beiden
Freunde eine mehrjährige Pause ein.
III. Juli 178 8 —Juli 1793.
Aus dieser letzten Periode des freundschaftlichen Ver-
kehrs haben sich in Goeckingks Nachlass nur drei Briefe
Bürgers erhalten; dagegen ist eine grössere Anzahl von
Briefen Goeckingks nach Bürgers Tod an den Schreiber
zurückgelangt. Beide Freunde hatten in der Zeit ihres brief-
lichen Stillschweigens den Wohnort verändert. Bürger war
Michaelis 1784 als Privatdocent nach Göttingen überge-
siedelt; Goeckingk war 1786 nach Magdeburg an die Eriegs-
und Domänenkammer versetzt worden. Von dort aus nimmt
er den Briefwechsel wieder auf.
67. Goeckingk an Bürger.
Magdeburg, den 27. Juli 1788.
Lieber Landsmann, Freund und Gevatter!
Da Magdeburg gerade so weit von Göttingen, als Göttingen
von Magdeburg ist, und eben so viele Posten von hier dorthin
als von dort hieher gehen, so wollen wir nicht untersuchen, an
wem die Schuld eigentlich liegt, dass wir ein Paar Jahre troz
den Siebenschläfern geschlafen haben. Wir wollen uns lieber
als alte gute Freunde gerade auf darin theilen, damit Einer dem
Andern keine Vorwürfe machen kan ; denn viel Ehre macht nun
einmal unser Stillschweigen uns allen Beiden nicht. Ich mag
mich gar nicht entschuldigen, weil mein eignes Herz in diesem
Augenblicke selbßt gegen die beste Entschuldigung noch viel ein-
zuwenden haben würde. Aber das einzige, lieber Bürger, lasst
mich sagen, ohne es übrigens für eine Entschuldigung zu nehmen :
dass ich vom ersten Tage meines Hierseyns an bis heute, im
Ganzen genommen, ein gar hundsföttisches Leben geführt habe.
Magdeburg missfiel mir, je näher ich es kennen lernte. Das ist
ein Volck, das weder denkt, lieset noch empfindet, sondern spielt
und isst, nicht einmal trinkt, welches ich noch eher verzeihen
würde. In der ganzen Stadt haben nur 2 Männer meinen Kopf
und mein Herz zunächst an sich gezogen, der Consist. Rath Funk
und der Major v. Ernest, Chef eines Fuisilier- Bataillons das
hier in Garnison steht; ein redlicher Schweizer, von vieler Welt-
und Menschenkenntniss. In der Familie des Abts Resewiz zu
Saner, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 453
Kloster Berge habe ich meine angenehmsten Stunden zugebracht,
denn ich lebte mit ihr auf einen so ungezwungnen Fuss, dass
ich gewöhnlich erst Abends nach 8 Uhr zu ihr hinaus ging, weil
ich selten früher mit meinen Geschafften fertig war. Zum Glück
bin ich nicht nur in herrschaftlichen Angelegenheiten viel ab-
wesend, sondern auch im Februar d. J. in Privat-Angelegenheiten
nach Schlesien verreiset gewesen, sonst würde ich die beständige
Anstrengung bey so weniger Erholung schwerlich ohne Nachtheil
meiner Gesundheit ausgehalten haben. Ich beschloss gleich, als ich
das terrain hier kennen gelernt hatte, nicht eher zu ruhen, bis ich
meine Versetzung von hier bewflrkt haben würde. Aus diesem
Grunde liess ich meine Familie in Wülferode, meinem Landhause bey
Ellricb, wo sie noch jezt ist. Nur ein einziges mal hat Amalia
mit ihren beiden Kindern mich hier auf 3 Wochen besucht; ich
aber bin, während meines Hierseyns, zwar 3 mal in Wülferode,
aber, zusammen genommen, nicht 8 Tage da gewesen: So selir
war ich durch den Dienst beschränkt. Wäre mein alter Oncle,
der Gener. Lieut. Schwartz zu Neisse, der mich seiner Kränk-
lichkeit wegen im Februar zu sich kommen liess, um mich von
der Lage seiner Vermögens-Umstände zu unterrichten, damals
gestorben, so würde ich meinen Abschied genommen haben.
Jezt ist's besser, dass er leben geblieben ist und dass ich meinen
Zweck erreicht habe. Ich komme als Krieges- und Steuer-Rath
nach Wernigerode und trete diese neue Stelle den Isten September
an. Ich werde dort ohngefehr eben so hoch als hier, etwa
950 rth. jährlich, stehen, aber viel unabhängiger seyn und mehr
Zeit für mich übrig haben, so dass ich wieder mit Freunden
Briefe wechseln, das interessanteste der neuern Litteratur lesen,
und wohl gar noch einmal anfangen kann, Verse zu machen.
Die Hohensteinschen Städte, folglich auch Ellrich, gehören mit zu
meiner Inspection, daher ich mich öfter zu Wülferode werde auf-
halten können; auch Euer Geburtsort, Aschersleben, ist meiner
Inspection bey gelegt.
Seht, liebster B., so werde ich auf meine alten Tage noch
glücklicher als ich es je zu werden hofle, denn das Glück hatte
mich so viele Jahre lang bey der Nase herumgeführt, dass ich
natürlich wohl alles Zutrauen verlieren musste. Ich freue mich
auf meinen Abzug von hier, wie ein Galeerensclave auf den Tag
seiner Befreiung. Zwar wird mir auch in Wernigerode nichts
geschenkt werden; allein ich bin dort doch wieder der schönen
Natur und solchen Menschen nahe mit denen ich mehr als mit
den hiesigen Pasteten-Fressern sympatisiren kan. Noch vor 4
Wochen hätt ich eine ansehnliche Gehaltszulage erhalten können,
wenn ich hätte bleiben wollen; aber die Stelle in Wernigerode
war von je her das non plus ultra aller meiner Wünsche.
Mein Fritz, das einzige Kind von meiner ersten Frau, ist
seit vorige Weynachten hier in Magdeburg Frei-Corporal bey den
454 Sauer, Aus dem BriefVcchsel zwischen Borger und Goeckiogk.
Fuisiliers. Zwar hat mein Bruder jezt ein eignes Regiment; aber
der Junge ist erst 1 1 Jahre alt, und folglich zu schwach, um als
Husar schon dienen zu können. Übrigens haben mich alle
Stipendien in uusrer Familie nicht verführen können, ihn den
Studien zu widmen. Das härteste Brod in unserm Lande isst
man im Civildienste.
Amaliens Gesundheits-Umstände haben sich zu meiner grossen
Freude sehr gebessert. Es wQrde um mein eignes Leben gethan
seyn, wenn das Weib mir stürbe. In der ganzen Well hätte ich
keine Frau gefunden, die sich so ganz in meine Launen und
Eigenheiten zu schicken gewusst hätte, als diese, ich lebe zehn-
mal glücklicher mit ihr als mit ihrer Schwester; und doch war
ich auch mit der vollkommen zufrieden bis auf die Schwachheit
dass sie einen grossen Hang zur Eifersucht hatte. Meine beiden
Kleinen, 1 Junge und 1 Mädchen, sind allerliebste Geschöpfe und
sehr gut gezogen. Wie glücklich werde ich im Schoosse einor
solchen Familie zu Wernigerode seyn.
Elisa*) ist jezt in Berlin und geht über Leipzig nach Carlsbad;
auf der Rückkehr wird sie mich in Wülferode besuchen. Dann,
oder noch eher, müsst Ihr auch dahin kommen. Ich habe eine
unaussprechliche Sehnsucht mich mit Euch recht auszuplaudern.
Das geht nun durch Briefe nicht an. Zu Pferde könnet Ihr den
Weg in Einem Tage füglich machen und ich hoffe, Ihr liebt mich
noch genug, um die Strapaze nicht zu scheuen. Wollte der
Himmel, Ihr wäret Oberbürgermeister in Eurer Geburtsstadt, oder
es fügte sich so dass Ihr es werden könntet. Nichts als der Tod
soll uns trennen, nur kommt mir wieder etwas näher dass ich
Euch abreichen und festhalten kann. Goeckmgk.
68. Goeckingk an Bürger.
Wernigerode den 12*«° October 1788.
Liebster, bester, ältester Freund! Ich habe mehrere Tage
vergehen lassen und mich erst durch Reisen und Geschäfte zer-
streuen müssen, ehe ich Euch zu antworten im Stande war. Es
wäre mir unmöglich gewesen, gleich nach den ersten Eindrücken
zu schreiben. Mein ganzes Herz war über Eurem Brief in mir
zerronnen. Auch ich bin eine arme geplagte Canaille in den
lezten 2 Jahren gewesen; aber das ist doch gar nichts gegen
Eure verdammte Lage. Ich hatte doch wenigstens die Genug-
thuung, mächtig in dem Creise zu würken worin ich stand, und
mich völlig geltend zu machen. So manchem habe ich geholfen
und mir selbst eine ruhige unabhängige Stelle verschafft, die
immer beneidet worden ist von allen die bey der Cammer stehen.
Doch, lieber alter Freund! Was hilft alles winseln und pinseln;
alles Schelten und Schmälen auf die Hallunken und Schurken
'} Elisa von der Recke.
Sauer, Aas dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 455
die einem den Pass verrennen, oder, statt zu helfen, ihr Pfeifchen
im Lehnstufale rauchen, den Hamburger Correspondenten lesen
und sich freuen, wenn die Österreicher Schläge bekommen haben.
Das bringt einen um keinen Schritt weiter. Ich habe über eure
Lage hin und hergedacht. Ich weiss nur 2 Fussstiege vorzu-
schlagen, auf denen Ihr aus dem Moore entrinnen könntet, worin
Ihr sonst doch endlich ersticken müsset, wie eine Forelle in einem
muddigen Teiche. Habt Ihr Lust, das academische Leben fort-
zusetzen, so hoffe ich durch den Kanzler v. Hoffmann bewürken
zu können dass dieser Euch einen Ruf als Prof. ord. eloq. nach
Halle mit 400 rth. Gehalt vorerst verschaffe. Steht euch das
nicht an, oder sollte diess fehl schlagen, so sagt mir, ob Ihr bey
dem Magistrat in Aschersleben eine Stelle zu haben wünschtet?
In dem Falle will ich die Glieder für mich sondiren, ob sie bey
der nächsten Vacanz Euch ihre Stimme geben wollen? Wäret
Ihr nur erst im Magistrat, so würde Euch die Oberbürgermeister-
Stelle bey Wingels [?] Absterben höchst wahrscheinlich nicht ent-
gehen. In dem einen wie in dem andern Falle werde ich Euch
gewiss nicht compromittiren , sondern die Sache bloss als einen
Einfall von mir beschreiben, als einen Wunsch, mit dessen Er-
füllung mir ein grosser Gefallen geschähe. Schreibt mir hierüber
Eure Meinung. Vom 9**° bis 1 3**° November bin ich zur Cantons-
Revision in Aschersleben ; vielleicht kann ich schon die Trancheen
eröffnen. Soll ich den Herzog v. Weymar mit ins Spiel ziehen?
Soll ich auch diesen das Project für mich mittheilen, damit er
Euch den Wälllenden empfele? Auf Bollmanns Stimme könnet
Ihr im voraus rechneu.
Ich kann Euch heute nur einen flüchtigen Brief ohne Zu-
sammenhang schreiben, denn ich bin im Begrif, nach Quedlinburg
zu reisen. Die Prinzessin Friderike, Tochter des Königs, hat mir
aufgetragen, die Verfassung ihrer Probstey in Quedlinburg zu
untersuchen und einen Plan zu entwerfen, wie solche am Besten
genuzt werden könne. Das ist ein verwirrtes und weitlaüftiges
Geschafft, mit dem ich mehrere Wochen zu bringen kan. Es
kömmt mir viel zu früh über den Hals, denn ich bin noch lange
nicht mit meiner hiesigen Einrichtung und Arbeit aufs reine.
Seit dem !•*•" September bin ich hier, noch aber habe ich keine
ruhige Stunde gehabt. Fünf Geschäftsreisen habe ich in der
kurzen Zeit machen müssen, mein Hauswesen ganz von neuem
einrichten, mich in ganz neue Geschäfte einarbeiten. Ach, Bürger!
Das Leben ist zu lang! Wenn man, wie der Seidenwurm, kurz
nach der Hochzeit stürbe, so wäre das der beste Zeitpunct, da
es doch einmal gestorben seyn soll und muss.
Die doppelte Wirlhschaft die ich in den 7 Vierteljahren meines
Aufenthalts zu Magdeburg führen musste, das zwiefache Umziehen,
das Verkaufen der Möbeln in Ellrich als ich nach Magdeburg ver-
sezt wurde, das Anschaffen der neuen als ich hieher kam, und
456 Sauer, Aus dem Briefvrechsel zwischen Bürger und Qoeckingk.
die Einbusse bey der Menge von Reisen in herrschaftl. Angelegen-
heiten:, das alles hat mich so zurück gebracht, dass ich das
liebste aufgeben muss, was ich in dieser Welt habe: Mein Land*
haus! Ich hatte es so ganz ausgebauet, so niedlich möblirt, so
bequem eingerichtet, dass es das beste in einem Umkreise von
mehreren Meilen war. Und ich dachte, dort einmal das lezte
Restchen Leben in Apetits-Bischen zu verzehren. Und siehe! es
ist ein elendes jämmerliches Ding um den ganzen Civil -Dienst,
wenn man zum Stehlen zu ehrlich ist.
Seit 3 Wochen bin ich mit Weib und Kindern (bis auf
Fritz, der als Freycorporal bey den Fuisiliers in Magdeburg zurück-
geblieben ist,) wieder vereiniget. Noch habe ich sie nur bey
Tische gesehen; die übrige Zeit stecke ich in meiner Arbeits-
Stube. Indess wird es nicht immer so seyn. Das wäre auch
nicht auszuhalten. Wenn ich erst mehr Ruhe haben werde, so
hoffe ich hier ein recht stilles und ziemlich zufriedenes Leben zu
führen
Lieber B.l Durch Euer Programm, das übrigens das erste
in seiner Art in jedem Verstände ist, werdet Ihr Euch die Fa-
cuItäts-Gelehrten vollends nicht zu Freunden gemacht haben und
Menschenschreck wird sich durch seine Epigrammen keine Gönner
erwerben. Kurz, für Euch ist nichts anders zu thun, als Euch
selbst das consil. abeundi zu geben.
Aber sagt mir nur, woher nehmt Ihr auf der Folterbank
noch die Kräfte zu einer solchen Ballade ^^) her wie die lezte?
Und wie geht es zu, dass ich immer Eure lezte für die beste halte?
Amalia kränkelt noch immer, ist im Ganzen genommen aber
doch gesunder als vor 3 Jahren. Die Kinder sind wie die
Schmerlen im Bache.
Bedenkt, Bürger 1 Dass keiner von uns, und könnte er hun-
dert tausend Thaler daran wenden, sich noch einen geprüften
Jugendfreund dafür zu schaffen im Stande wäre. Lasst uns denn
zusammen halten; was haben wir von den übrigen Men-
schen, die sich den Teufel darum kümmern, ob es uns wohl
geht oder nicht, und ob unsre Kinder barfuss laufen oder Schuhe
haben die mit unserm Schweisse versohlt sind. Ermannet Euch
und haltet fest; ich lasse gewiss nicht los bis Freund Hayn (ach
ich bin ihm erst in der lezten Zeit gut geworden) mir die Hand
abhauet. Aus Quedlinburg sollet ihr einen längern Brief haben.
Ist^s möglich so holt die Küsse in natura ab die Amalia Euch
hier auf dem Papier schickt. Adieu! Goeckingk.
**) Damit kann nur 'Das Lied von Treue' gemeint sein.
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 457
69. Goeckingk an Bürger.
Wernigerode, den 2. November 1788.
[Beantw. am 6. November 1788.]
Burger I lieber, trauter B. I Ohne Euch und Euer künftiges
Schicksal im Sinne zu haben würde mir die Reise die ich am
22. October (gerade an dem Tage wo Ihr Euren Brief an mich
schriebt) nach Halle unternehmen musste, die vermaledeyteste
meines ganzen Lebens gewesen seyn. Hört nur an. Die Woche
zuvor war ich auf einen Auftrag der Prinzessin Friderike, Tochter
unsers Königs, zu Quedlinburg, wo sie Pröbstin ist. Ich war
noch nicht zum lOten Theile mit dieser Commission fertig, als
ich durch ein Rescript aus Berlin unmittelbar angewiesen wurde,
mich den 20'^^" October in Halle einzufinden, wo mir und einem
Geheimen Finanzrath aus Berlin ein Geschäft aufgetragen sey.
Ich erhielt zugleich Nachricht von Elisa, sie sey aus Leipzig ab-
gereiset und auf dem Wege nach Weymar zur Gräfm Bernstorf
(der Brief war uiiterweges in Naumburg geschrieben) und von dort
aus werde sie den 19**° höchstens 20 ■'^ zu mir kommen.
Sogleich schickte ich einen Expressen aus Quedlinburg nach
Weymar und bat Elisen über Hals über Kopf zu eilen, damit ich
sie noch vor meiner Reise fiach Halle sehen mögte. Ich liess
die Commission in Quedlinburg fahren, ging hieher zurück und
erwartete Eiisen's Ankunft. Aber der Bothe brachte mir eine
Antwort von ihr dass sie nicht reisen könne, weil Sophie ^ ^) krank
geworden sey; sobald diese das Fahren ertragen könne wolle sie
sich auf den Weg machen. Ich wartete — was in unserm
Dienste nicht leicht ein anderer wagen konnte — bis den 22'^^
und siehe! Abends um 8 kam Elise an, und noch ehe der Tag
wieder grauete musste ich mich von ihr trennen , denn ohnehin
waren alle meine Relais bis Halle bestellt. B.! Ihr habt ein
Herz, eine solche Lage fühlen zu können. Aber mein böser
Genius liess es dabey noch nicht bewenden. Er schien es recht
darauf angelegt zu haben sein Müthlein an mir zu kühlen. Als
ich nach Halle kam, war mein Concommissarius nicht da. Ein
Brief von ihm aus Berlin, der früher als ich eingetroffen war,
— wundert Euch, dass mich nicht der Schlag auf der Stelle
rührte — war an dem Tage meiner Ankunft nach Wernigerode
geschickt worden. Das Umkehren durfte ich nicht wagen. Ent-
weder konnte der Geh. FinanzRath einen späteren Termin bestimmt
oder mich ersucht haben diess und jenes allein vorzunehmen.
Da sass ich nun wie ein Narr und erwartete den Brief aus
Wernigerode zurück. Dem heiligen Lorenz kan unmöglich die Zeit
länger auf seinem Roste geworden seyn. Elise in meinem Hause
indess zu wissen! — warlich ich begreife nicht, wie ich ohne
") Elise V. d. Reckens Begleiterin Sophie Becker.
458 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Gallenfieber das alles überstanden habe. Der Brief kani endlich.
Die Commission ward bis zum Frühjahre ausgesezt. Nun plagte
mich auf dem langen scheusslichen Wege nur die Ungewissheit,
ob ich Elisa noch in Halberstadt treffen würde. Glücklicher
Weise kam ich am Abend vor ihrer Abreise' von dort an. Am
Mittwoch früh ging sie nach Braunschweig ; ich begleitete sie die
ersten 2 Meilen, fuhr dann links ab hieher, arbeitete die ganze
Nacht durch an meinen Geschäften, ritt Donnerstags früh nach
Braunschweig, überraschte dort Elisa und blieb bis gestern früh
bey ihr; Abends war ich wieder hier. Noch 2 solche glückliche
aber eben so kurze Rendezvous stehen mir bevor. Ach! sie
eilt diessmal zu sehr! In der Mitte des künftigen Monats will
und muss sie wieder zu Hause seyn. Ich fand am Mittwoch
Abend hier Euren lezten Brief. Wie lieb war es mir, liebster B.
dass ich auf meiner Reise beiden Vorschlägen, die ich Euch that,
schon näher getreten war. In Aschersleben sondirte ich auf der
Durchreise einige Glieder des Magistrats, ohne Euch selbst im
mindesten mit ins Spiel zu bringen. Alle fand ich meinen
Wünschen geneigt. Der Stadtrichter Frauendienst macht bey
seiner zu nehmenden Schwindsucht zwar Hofnung zu einer nicht
mehr entfernten Vacanz. Allein wer kan die Lebensdauer eines
solchen Kranken bestimmen da selbst geschickte Aerzte sich um
ganze Jahre verrechnen. Das ist der Grund, warum ich den 2*^
Vorschlag weit eifriger betrieben habe. Der Kanzler in Halle
liebt meine Gesellschaft; die Kanzlerin noch mehr. Ich opferte
ihm daher meine ganze Zeit auf und habe Niemand sonst diess-
mal besucht. Erst am 3*®" Tage (ob ich es gleich schon vor
dem Thore auf der Zunge hatte) gedachte ich, wie von ohngefehr,
des Vorschlags. Die Frau war schon zuvor gestimmt. Kurz, B.!
Ihr werdet wahrscheinlich, höchst w^ahrscheinlich, erhalten
was Ihr wünschet, eine Professur der Philosophie mit 400 rth.
Gehalt, aber nicht in Halle (denn bey der Universität ist jezt kein
Groschen Fond vacant) sondern in Frankfurt a. d. Oder, wohin
Gurlit kürzlich gekommen ist. Der Kanzler reiset in 14 Tagen
nach Berlin; in 4 Wochen längstens werdet Ihr wissen, woran
Ihr seyd. Ist es möglich zu machen, so macht er es gewiss
möglich. Ihr würdet das selbst begreifen, wenn Ihr hier wäret
und ich Euch mündlich den ganzen Zusammenhang sagen könnte.
Gott gebe, dass es glückt. Ihr ^ sollt in Frankfurt nicht lange
bleiben. Bey einer der ersten Vacanzen würdet Ihr sicher nach
Halle versezt.
Mit Elisa habe ich viel von Euch gesprochen. Troz Eurem
Stillschweigen liebt Euch das herrliche Weib noch eben so sehr ;
so auch Amalia. Ach B. ! kommt doch ja Weyhnachten her,
damit ich einmal mein Herz ganz ausschütten kann ; eine Er-
leichterung, die es in den 2 Jahren welche ich auf der Veste
Magdeburg verloren habe, nicht empfunden hat. Amalia umarmt
Sauer, Aus dem Briefw^echsel zwischen Bürger und Goeckingk. 459
Euch. Adieu! Ich schmiere diess im Fluge und muss ab-
brechen. Euer treuer G.
Der nächste Brief Goeckingks vom 23. November 1 788
ist bei Strodtmann Nr. 732 gedruckt, in der Anmerkung
dazu auch der hinhaltende Brief des Kanzlers von Hoffmann
an Goeckingk.
70. Goeckingk an Bürger.
Wernigerode, den 29. December 1788.
Nein, liebster B. ! ich weiss es Euch vielmehr Dank, dass
Ihr Euch nicht in Gefahr begeben habt. Ich würde mit samt
Amalia keine Stunde ruhig geworden, wenn ich vorher gewusst
hätte, um welche Zeit Ihr unterweges wäret. Aber freilich bin
ich über den hässlichen Schnee der grössten Freude quit gegangen.
Mein Weib und ich würden das Wolthätige Eures Besuchs um
so mehr empfunden haben, da drey traurige Wochen vorauf ge-
gangen waren. Fünfzehn Tage hatte ich in Geschafften im
Hohensteinschen zugebracht und Amalia hatte mich begleitet, um
bey der Gelegenheit ihre alten Bekannten zu besuchen. Als wir
am 10**" dieses zurück kamen, fanden wir beide Kinder krank.
Das Mädchen erholte sich bald, aber der Junge ward mit jedem
Tage schlimmer und fängt erst seit einigen Tagen an sich zu
erholen. Während der ganzen Zeit bin ich nicht aus dem Hause
und keinen Abend aus der Krankenstube gekommen. Hier haben
wir nur mit Einer Seele Umgang ; mit Benzler, der aber auf dem
Schlosse wohnt, und dem wir nicht anmuthen konnten, durch
den Ehlen hohen Schnee zu uns zu waten, denn jede Spur
wehte der Wind gleich wieder zu. Da lagen wir denn in unsrer
Winterhöhle und sogen wie die Bären an unsern eigenen Tatzen ;
aber leider war das eine sehr magre Kost.
Bey dem allen: Ehe ich mich entschlösse, mit dem hiesigen
Volcke, sie mögen zu Urlspergers oder Häfeli's Sekte gehören,
Umgang zu halten, lieber würde ich mich noch einmal zum Um-
ziehen entschliessen. Aber 2 Jahre will ich es wenigstens durch-
aus mit ansehen, damit die Leute nicht sagen sollen : der unruhige,
unzufriedene Mensch kann doch nirgend ausdauern. Unter den
Stillen im Lande lebe ich hier gewiss am stillsten, und lasse
mich in Wernigerode nicht öfter sehen als der Gross- Sultan in
Gonstantinopel. Denn ich komme eben so wenig in die Kirche
als der in die Moskee. Aber es wird ja doch endlich wieder
Sommer werden, und dann wird es seyn als wenn ich aus
Kamtschatka nach Nitza versezt wäre. In der That ich kenne
wenige so schöne Gegenden als die hiesige.
Der Kanzler von Hoffmann ist seit 5 Wochen schon in
Berlin, hat aber noch nicht an mich geschrieben. Indess habe
ich Eure Sache bey der Frau in Erinnerung gebracht. Entschieden
460 Saaer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
muss sie werden, das Resultat falle nun aus wie es wolle. Man
verliert sonst wenigstens die Zeit, einen neuen Plan zu verfolgen.
Habt Ihr keine Nachricht von Meyer? Wo ist er jeztV
Klettert er vielleicht auf den Gebürgen von Hoch-Schottland herum?
Das war sonst eine seiner Lieblings Ideen. Hätt ich nie geheiratet,
vielleicht wäre ich auch da. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie
ich in Deutschland habe bleiben können, ob ich gleich noch in
einem der erträglichsten Länder lebe. Ich mögte mir jezt noch
Ohrfeigen dafür geben, dass ich den Einfall nicht ausgeführt
habe, als Colporteur mit irgend einem Freunde die Welt zu durch-
wandern. Gut! ich wäre des Dinges auch überdrüssig geworden;
aber dann war 6s ja noch immer Zeit genug ein häusliches Leben
anzufangen; und was ich dann im Kopfe hatte, wäre mir lieber
gewesen, als wenn ich die ganze Göttingsche Bibliothek darin
hätte. Seit ich in Magdeburg und hier bin ist mir's ein Ver-
gnügen gewesen, solche Menschen die da wähnen aller Welt
Wissen und Können bestehe in dem was sie wissen und können,
zu überzeugen, dass ich den Dienst so gut verstehe als sie selbst,
die Schäckers die jedem der einmal ein Paar Bogen Verse hat
drucken lassen, kein Körnchen ihrer allwissenden Weisheit zu
trauen. Aber nach gerade verliert diess Vergnügen seinen Reiz
und ich betreibe das Ding mechanisch. Desto mehr Erholung
sollte ich haben, und — desto weniger finde ich hier. Kommt
also doch ja so bald Ihr könnet, aber schreibt vorher, damit Ihr
nicht vielleicht 3 oder 6 Meilen noch weiter reisen und mich
aufsuchen müsset. Adieu ! liebster B. ! Amalia und ich umarmen
Euch. G.
71. Goeckingk an Bürger.
Wernigerode den 2. April 1 789.
Immer hofte ich, liebster, theuerster B.I Ihr würdet uns
ein mal überraschen. Aber vermuthlich hat Euch der scheusalige
Winter abgehalten. Indess sah er doch, durch das Fenster be-
trachtet, oft greulicher aus, als er im Grunde war, wenn man
ihn draussen in der Nähe besah. Vor ohngef&hr 4 Wochen ritt
ich nach Gosslar und Clausthal, als es Wetter zu seyn schien,
dass man keinen Hund hätte hinaus jagen mögen. Aber in
meinem Pelze, und dreymal in einen Reutermantel gewickelt, war
es dennoch auszustehen. Vielleicht habt Ihr Euch durch das
Stubensitzen mehr verwöhnt, Gevatter, und seyd empfindlicher
gegen Wind und» Wetter. Nun gut! Diese Ausrede werdet Ihr
nun bald auch nicht mehr gebrauchen können. Aber wenn Ihr
nun kommen wollet, so müsset Ihr vorher schreiben, damit ich
zu Hause seyn möge, denn ich habe mancherley Gommissionen,
z. B. in Quedlinburg, in Halle etc. aufgeschoben, die ich nach gerade
abthun muss.
Saner, Aus dem Briefwechael zwischen Bürger and Gk>eckingk. 46t
Aus Berlin . habe ich schon längst die tröstliche Final-Reso*
lution erhalten» dass unser Project für jezt nicht ausführbar sey.
Wenn Ihr hieher kommt, sollet Ihr die Original -Correspondenz
lesen, und werdet dann gleich die Ursach von selbst einsehen,
warum ich sie nicht aus den Händen geben konnte. Hören und
Sehen soll Euch über alle die Anecdoten vergehen, die ich Euch
erzählen will. Aber freilich ist das ein schlechter Trost für unsern
nicht erfüllten Wunsch. Und die Senatoren des Edl. Raths zu
Aschersleben haben alle ein Katzenleben. Zwey davon sind
80 Jahr alt, schämen sich aber dennoch nicht, noch immer älter
zu werden. Es ist mir noch eine Idee eingefallen, wovon ich
Euch jezt nur die Skitze mittheilen will; hier könnet Ihr das
Detail am besten erfahren; also kommt! Der regierende Graf
von der Lippe-Detmold, der in 8 Tagen die Academie zu Leipzig
verlässt, will veniam act. suchen und die Regierung antreten.
So bald diess geschieht, geht Benzler in seine Dienste. Benzler
ist hier bey dem Grafen Cabinets-Secretär und Bibliothekar, doch
sind beide Stellen nur seit etwa 2 Jahren verbunden worden.
Die Bibliothekar -Stelle trägt etwas über 300 rth. Hättet Ihr
wohl Lust, diese anzunehmen, sobald sie vacant wird?
72. Goeckingk an Bürger.
Wernigerode den 13. August 1789.
Gerade an dem Tage, liebster B. ist also Elisa bey Euch
gewesen, wo sie hier eintreffen wollte, und statt ihrer eine Sta-
fette ankam, die unsre Hofnung zernichtete. Nun! es mag
darum seyn! Habt Ihr doch euch gefreuet, indess wir hier die
Köpfe sinken Hessen, wie die Gänse wenn es blizt. Desto eher
will ich Elisa von ganzem Herzen verzeihen, dass sie mich zum
Narren gehabt hat. Ich wüsste keinen, dem ich so gern eine
Freude gönnte als Euch, sollte ich auch selbst eine darüber ein-
büssen; jene ist doch immer ein beträchtlicher Ersatz für diese.
Ich würde mich weniger über Elisen^s veränderten Entschluss ge-
ärgert haben, wenn sie gleich geschrieben hätte, dass sie über
Göttingen gehe. Aber sie gedachte des Weges den sie von Erfurt
nach Pyrmont nehmen würde, mit keinem Worte. Ich hatte mit
meinen Geschafften mich so eingerichtet dass ich sie ein Paar
Tage ganz aussetzen und Elise in Ruhe geniessen konnte. Es
steht dahin, ob sie nun nicht zu einer Zeit kommen wird, wo
ich, wie im vorigen Herbst, gar nicht einmal zu Hause seyn kann.
Gern, theurer Landsmann, Gevatter und Freund ! Gern hätte
ich Euch für die neue Ausgabe Eurer Gedichte eben so grossen
Dank gesagt, als sie mir grosse Freude gemacht hat, aber wo
solir ich Euch mit meinen Briefen suchen ? Bald hörte ich, Ihr
wäret hier, bald dort. Endlich kam die Just. Räthin Bruns
hieher, nachdem ich kaum von einer Reise ins Hohensteinsche zu
ViertoljahrBchrift fOr LittoratugeMhichte III 81
462 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
Hause gekommen war, auf der ich in 1 1 Tagen nicht 1 1 Stunden
wenn ich die Nächte ausnehme, mein eigner Herr ward. Ich
freuete mich, Euch wieder in Göttingen zu wissen, und würde
Euch nun geantwortet haben, wenn ich nicht den Nachmittag
nach der Ankunft des rothen Überrocks mit schwarzen Auf-
schlägen, nach Quedlinburg auf Commission hätte gehen müssen.
Den Vormittag brachte ich mit Spazierengehen im Thiergarten
zu ; das dänische Weibchen kann laufen wie eine Markedenterin
und klettern wie eine Ziege. Den Mittag ass sie bey mir. Ich
gab ihr in ihrem Wagen das Geleit, weil wir auf der ersten
Meile einerley Weg hatten. Ihr wäret grösstentheils der Gegen-
stand unsrer Gespräche; sie sprach aus vollem Herzen von Euch.
Ach das ist so oft der Fall bey Poeten und doch habe ich nie
gehört dass das Einem von allen etwas geholfen hätte.
Ich habe den Sommer sehr unruhig zugebracht; entweder
war ich verreiset, oder hatte das Haus voll Fremde, oder in auf-
gesammleten Geschafften vom frühen Morgen bis in die späte
Nacht zu thun. So wird es wohl bis Michälis fortgehen. Unter
andern ist Nicolai mit seinem 2^*^ Sohne und Fast. Goeze aus
Quedlinburg (zu denen hernach noch der Bei^ommissarius
Bosenthal aus Nordhausen kam) 3 Tage bey mir gewesen. Wir
machten zusammen eine Reise auf den Brocken
In künftiger Woche gehe ich zu Abnahme der Cämmerey-
Rechnungen nach Aschersleben. Ich will noch einmal mein Heil
versuchen, ob ich die Stimmen zu einer Antwartschaft für Euch
vereinigen kan. Indess muss es geschehen können, ohne Euch
das mindeste zu vergeben. Mit dem windigen Kanzler mag ich
mich nicht weiter einlassen. Wenn die Frau mit ihm gut stünde
(sie kan ihn aber nicht leiden) so wollte ich durch diese bald
meinen Zweck erreichen.
Mein schönes Landhaus bey Ellrich habe ich an den Dom-
herrn von Spiegel abtreten müssen, weil ich die Kosten der hie-
sigen neuen Einrichtung sonst nicht bestreiten konnte. Indess thut
mir das nicht sehr leid, denn die Art und Menge meiner Ge-
schaffte hätten mir dennoch nicht erlaubt, mich oft und lange
dort aufzuhalten.
Den Adelsbrief habe ich unsrer Prinzessin Friderike zu danken,
deren Angelegenheiten als Pröbstin zu Quedhnburg ich bisher
besorgt habe. Sie hat sich dadurch ein Geschenk für meine
Mühe erspart. Mir selbst hilft es — gerade nichts! Denn auf
Stellen die nur Edelleuten gegeben werden, mache ich keine
Ansprüche. Meinen beiden Jungen aber, wovon der eine schon
Soldat ist und der andre es werden soll so bald er das 1 i ^ Jahr
erreicht hat, können die, allein von Narren beneidete, 3 Budi-
staben gut zu statten kommen. Um keinen Preis mögte ich
einen von meinen Söhnen dem traurigen Preussischen Givildienste
Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 463
bestimmen, dessen Hauptcharacteristik Pferde*Arbeit und Zeischen-
Futler ist
Ich werde es in Zeiten erfahren, wann Elise hieher kommen
will und Euch gleich Nachricht davon geben. (Es ist abscheulich,
dass ein Brief von Göttingen hieher 6 Tage gdit !) Ist es irgend
möglich, so macht den Ritt über das Gebürge. Ich liebe Euch
genug, das wisst Ihr Wohl, um posttäglich einen langen Brief an
Euch zu schreiben, aber hab ich denn Zeit? Wie viele tausend
Dinge haben wir uns von den Jahren zu sagen worin wir uns
nicht gesehen haben. Mit meinen Reisen ist's am Ende. Wollet
Ihr mich sprechen, so müsst Ihr zu mir kommen, denn ich gehe,
wie Mahomeds Berg, nicht aus der Stelle, weil ich nicht kan.
Amalia küsst Euch. Gehabt Euch wohl alter ehrlicher B. Mit
Haut und Haar ewig und drey Tage Euer G.
Für die folgenden Jahre versiegen unsere Quellen.
Die Rathstelle in Aschersleben behielt Goeckingk für Bürger
im Auge, aber ohne Erfolg; vgl. Goeckingk an Gleim
15. November 1790 bei Strodtmann Nr. 835. Erst aus dem
Jahre 1792 liegt wieder ein Brief Bürgers vor:
73. Bürger an Goeckingk.
Göttingen den 11. September 1792.
Dachte ich doch wahrhaftig, es wäre Euch nicht so glück-
lich ergangen, wie dem verkappten Veit Weber, Verfasser der
Sagen der Vorzeit, den die Franzosen nomine et omine auf deut-
schem Grund und Boden für den Refrain eines gesungenen uralten
französischen Gassenhauers: Vive la liberte, vielleicht brevi manu
aufgehänget haben würden, wenn ihm nicht das damals eben in
Coblenz einrückende Thaddensche Regiment, besonders aber dessen
Feldprediger Lafontaine, zu Hülfe gekommen wären, wie diess
alles nächstens des breiteren gedruckt zu lesen seyn wird. —
Nun Gottlob! dass ihr wieder auf Eurem Sopha angelangt —
aber nicht Gottlob I dass ihr nicht durch Göttingen oder Wizen-
hausen gekommen seid. Ich habe auf Euch, wenigstens auf
Nachricht von Euch, gelauert, dass ich hätte hart und schwarz
werden mögen. Hättet Ihr mir nur den Mund nicht vorher so
wässerig gemacht, so hätte ich ja diesen Genuss eben so gut
entbehren können und müssen, als ich indianische Vogelnester
entbehren muss und kann. Noch eins I Sanct Paulus oder Petrus,
der Euch den Brief dictirt hat, drückt seine Ohren an den Kopf
und schreibt nichts davon, dass ihr mir den Mund zu sonst noch
was wässerig gemacht habt. Wart Ihr es nicht, der seine milden
Scrinia für den Musenalmanach aufthun wollte? Nun wahrhaftig,
ich würde .den Markt gar artig versäumt haben, wenn ich auf
die Erfüllung dieses Versprechens hätte warten wollen. Gut,
dass uns die poetischen Finger diessmahl selbst dergestalt ge-
31*
464 Sauer» Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
juckt haben, dass wir den Ranzen haben vollstopfen können, wie
des mehreren aus der Beilage bei den Nahmen Bürger, Menschen-
schreck, Urfey, Anonymus zu ersehen ist, womit wir feurige
Kohlen auf Euer sündiges Haupt zu sammeln gemetnet sind, ob
es vielleicht für die Zukunft etwas frommen möchte, woran wir
jedoch grossen Zweifel han. Denn wir kennen die faulen Poeten
wohl, sintemahlen wir wohl selbst je zuweilen hinter dieser Thür
gestanden haben, und wohl gar bald auf immer dahinter Posto
fassen werden. Weil denn nun eine Krähe der andern die Augen
nicht auszuhacken pflegt, so will ich Euch auch die Eurigen
lassen.
Übrigens, liebwerther Herr Gevatter, würde wohl aus dem
rendezvous, oder nach der Campischen Verdollmetschung aus
dem: Stell dich ein! in Walkenried diess mahl nichts werden
können. Ich könnte mich zwar leicht entschliessen, gar zu euch
nach Wernigerode diese Ferien zu zuckeln und euch wenigstens
8 bis 14 Tage auf dem Halse zu liegen, wenn ich nicht eine
schon in den Osterferien unterbliebene Reise zu meiner Schwester
bey Weissenfeis machen müsste, um meinen einst in Christlichen
Unehren erzeugten Bengel von dort abzuhohlen, und so viel wie
möglich ein Gef&ss zu Ehren aus ihm zu bilden. — Ich könnte
Euch nun wohl vorflunkern, ich wollte in den Weihnachtsferien
zu euch traben ; allein Ihr würdets doch wohl schwerlich glauben,
dass ich bei rauher Witterung und üblen Wegen mich übern
Harz machen würde. — Sollte sich indessen mein Befinden in
dem Masse wie bisher weiter bessern, so will ich doch nicht
ganz dafür schwören, dass ich nicht einen rüstigen Studenten -
streich in meinem 45sten Jahre noch mache. Denn in der That
es kommt mir seit einigen Wochen vor, als sähe ich weit besser
aus, und fühlte mich auch an Leib und Seele weit besser, als
vor 25 Jahren. Nur was mir der Teufel in den Hals gethaa
haben mag, das kann ich nicht begreifen. Meine Stimme ist
freilich weit besser, als wie Ihr sie zuletzt vernommen habt: allein
ich kann es gar nicht zu der alten reinen metallenen Sonorität
wieder bringen — Es ist doch in der That arg, sich mit einer
lumpigen Heiserkeit bey sonstigem Wohlbefinden über 8 Monathe
placken zu müssen.
Dass Madame Hahn nicht mehr in Wolfenbüttel ist, das
weiss ich ; dass sie sich aber wieder nach Stuttgard begeben haben
sollte, daran ist wohl gar sehr zu zweifeln. Hier sind mir zwe
Sagen von ihr zu Ohren gekommen, eine, dass sie sich nach
Wien in die Dienste Sr. Kaiserl. Majestät, die andere, dass sie
sich nach Berlin, vermuthlich in die Dienste des Publicums unter
der Direction der Madame Schupiz begebai habe. Letzteres ist
mir das wahrscheinlichste; und wenn es noch nicht geschehen
seyn sollte, so dürfte es doch wohl über kurz oder lang noch
dazu kommen. In der That sind auch ihre Talente da ganz
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger nnd Goeckiogk. 465
allein an ihrer rechten Stelle. Zum ein oder zweimahligen Versuch
in dieser Qualität kann ich sie auch Jedermann mit gutem Ge-
wissen empfehlen, allein keinem, auch meinem Feinde nicht, zur
beständigen Mätresse, viel weniger zur Frau.
Dieser Brief ist einige Tage liegen geblieben und geht erst
heute den 23. September ab,*) weil ich so lange auf das Exemplar
des Musen • Almanachs habe warten müssen, zu welchem die
Musicalien immer noch nicht fertig waren, und ich wollte ihn
euch docli gern vollständig schicken. Ich wünschte, dass Ihr
Euch ein Stündchen lang daran in dem erbaulichen Wernigerode
erbauen möchtet. Bei Gelegenheit könnt Ihr mich einmslil ein
wenig darüber loben, denn es ist doch manches von mir darin,
das ich für ganz artig halte.
Lebt wohl, lieber alter Schulkumpan und grüsst von mir
Eure Frau. Auch Benzlern grüsst, wenn Ihr ihn sehet, und
bittet ihn, es gelegentlich bei Herrn D. Kramer in Halberstadt
zu vermitteln, dass mich dieser nicht für einen gar zu groben
Menschen halte, weil ich ihm auf eine sehr freundliche Zuschrift
die Antwort bisher schuldig geblieben bin. Ihr könnt sagen:
Ein grober ungezogener Mensch sey ich nicht; aber ein un-
glaublich nachlässiger und fauler Briefsteller u. s. w.
Adio! B.
*) ist nicht wahr. Wird erst expedirt den 3. October.
Abends vor meiner Abreise nach Weissenfeis.
74. Goeckingk an Bürger.
Wernigerode den 7. Januar 1793.
Was werdet Ihr gedacht haben, alter, treuer B. dass ich so
wenig von mir hören lasse, als die Belagerer des Königsteins.
Aber Ihr könnt es der Versicherung eines Freundes glauben, der
es nunmehr ein viertel Jahrhundert schon ist, dass ich weiter
keine Zeit für mich habe, als den Sonntag, und auch der fallt
nicht selten aus, da ich bald einen ungewünschten Besuch be-
komme, bald in PrivatgescbäfiFlen eine kleine Reise mache. So
entfernt auch der Schauplatz des Krieges von uns ist, soviel
macht der Krieg selbst mir dennoch zu schaffen. Bald muss
Fourage für die Durchmärsche zusammen gebracht, bald sollen
Fuhrleute für die neuen Montirungsstücke geschafft, bald Mar-
quetender engagirt, bald Subjecte zu Unterbedienten für das
Proviant- Amt ausfindig gemacht werden; kurz es vergeht kein
Tag ohne solche Schererey, und alle übrige Geschaffte haben
dabey immer ihren Fortgang. Mein Vater muss an diesem ver-
dammten Metier mehr Freude gefunden haben als ich. Hätte ich
auch zehn Jungen, so würde ich doch zu gewissenhaft seyn, nur
Einen dazu zu erziehen. Es ist eine traurige Aussicht, dass ich
466 Sauer» Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
mich bis an den lezten Tag meines Lebens so werde fort quälen
müssen, ohne jemals die Süssigkeit des Privatstandes geschmeckt
zu haben. Ehemals fühlte ich das so nicht Meiner Geschaffte
waren weniger, und die Zeit die mir übrig blieb widmete ich der
Litteratur; darüber vergass ich das übrige. Auch waren meine
Arbeiten von der Art, das höchstens dem Kopfe dafür ekelte,
jezt aber leider auch dem Herzen. Recruten, Pack -Knechte,
Artillerie-Pferde aus zu heben, dabey leide ich selbst so viel, als
der, dem der Sohn oder das Pferd genommen wird
Wie viel, liebster B., gäbe ich für Einen Abend den wir hier
an meinem Windofen bey einer Schaale Punsch verplaudern
könnten. Ich dächte Euch doch manches zu sagen, dass Euch
sehr interessiren würde, und Ihr dort schwerlich erfahrt, da
Niemand gern seinen Briefen alles anvertrauet. Meine Erfahrungen,
meine Kenntniss der Menschen, meine vierjährige Einsamkeit,
haben mich dahin gebracht, dass ich mich Niemanden mehr ver-
traue als einem alten geprüften Freunde.
Wären die Magdeburgschen Regimenter nicht nach West-
phalen gegangen, so würde ich die Ehre gehabt haben sie wieder
nach Coblenz zu führen und Euch zu sehen. Ich darf unter den
jetzigen Umständen mich nicht von der Stelle wegtrauen; ist es
Euch drum nicht möglich, in den Oster-Ferien herzukommen?
Dank, herzlichen Dank für Euren Musen -Almanach. Euer
Unmuth^^) hat treflich gewürkt. Aber nun dürfet Ihr vielleicht
es nicht einmal gut wagen, den braven Leuten Gerechtigkeit
wiederfahren zu lassen. Wenn Ihr herkommen wollet, so könnet
Ihr selbst unter meinen ganz vergessenen Papieren aussuchen,
was Euch etwa anständig seyn mögte. Oder erinnert mich
wenigstens in Zeiten, dass ich es selbst thue. Nach* meiner
Rückkunft von Coblenz war daran gar nicht zu denken.
Habt Ihr Euren Sohn nun würklich bey Euch? Wozu ist
er bestimmt? Lasst ihn alles in der Welt werden, nur lasst ihn
nicht studiwen. Gebt ihn bey ein Bergwerk, bey einen Forst-
bedienten, einen Markscheider, einen Baumeister, Kaufmann,
Salzwerk, oder wohin Ihr sonst wollet, nur, wenn Ihr den Jungen
lieb, und seine liebliche Mutter noch nicht vergessen habt, so
lasst ihn nicht studieren.
Wie steht es mit Eurer Stimme? ich will hoffen, dass sich
die Heiserkeit vermindert hat ; wo nicht, so ist wohl nichts übrig,
als dass Ihr ein halbes Jahr lang alle Collegia aussetzet , und
diese Zeit mit Übersetzen, oder mit einem Roman, zubringt;
beydes würde Euch eben so viel ein tragen ....
Ein traurigeres Leben als hier, habe ich nie geführt. Benzler
ist der einzige Mensch den ich dann und wann sehe. Doch
auch er verschafft mir wenig Trost, denn er ist in hohem Grade
") Göitinger Musenalmanach anf 1793 S. 168.
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 467
hypochondrisch. Hier ist im Orte selbst keine Seele nach der
ich, troz meinem Mönchsleben, jemals das mindeste Verlangen
gespürt hätte. Auswärtige Freunde zu besuchen, erlaubt weder
meine Zeit noch mein Beutel. Selten verirrt sich jemand hieher,
der mich besuchte, und denn kömmt er vielleicht gerade, wenn
mir dringende Geschaffte auf dem Halse liegen. Hier ist sogar
nicht einmal ein öffentlicher Ort, wo man sich eine Stunde er-
holen könnte. Was ich am mehrsten vermisse ist Umgang mit
Frauenzimmern. In den lezten Jahren hatte ich mich so daran
gewöhnt, dass er mir zum Bedurfniss geworden war. Amalia
ist immer kränklich, immer niedergeschlagen. Daher komme ich
fast gar nicht von meiner Stube. Bey dieser Lebensart werde
ich vor der Zeit alt und grau. Die einzige Freude, die ich hier
habe, sind meine Kinder, ein Mädchen von 10 Jahren, und ein
Junge von 8 Jahren ; beyde von Leib und Seele schön. Ihre Er-
ziehung kömmt mir theuer zu stehen, weil der Ort selbst gar
keine Hülfsmittel gewährt. Den Jungen werde ich im Frühjahre
zu einem Landprediger bey Marburg schicken, der Benzlers
Söhne erzieht. Für meine Bibliothek ; mein Vergnügen, kann ich
nichts mehr thun. Alles dieses würde ich aber wenig oder gar
nicht empfinden, wenn mein Herz liebte und geliebt würde. Aber
daran ist hier und in meiner jetzigen Lage gar nicht zu denken.
Ich habe also mein Gutes in aller Absicht genossen, und bin
nun nur noch da, mich für Andre zu placken. Sollte ich es für
mich selbst auf diese Art thun, so würde ich lieber nach Pen-
sylvanien gehen und irgend eine Bergspitze mit einer schönen
Aussicht, urbar machen ....
Ich umarme Euch von ganzem Herzen, und wünsche mir
weiter nichts als das Glück, Euch hier in meinen verschwiegenen
vier Wänden an meine Brust zu drücken. Das allein könnte
mich auf eine geraume Zeit mit meinem Sclaven-Leben aussöhnen,
und vergessen machen, dass ich saurer Brod esse, als der Tag-
löhner in meinem Holzstalle. Adio redlicher 6. Bis in den Tod
Euer treuer G.
Der Brief, mit dem Goeckingk endlich wieder Beitrage
zum Musenalmanach übersandte, ist bei Strodtmann ge-
druckt (Nr. 875, 16. März 1793). Auf beide antwortet
Bürger in folgendem Schreiben:
75. Bürger an Goeckingk.
Göttingen, den 9. April 1793.
Auf Euren vorletzten Brief, trauter G., der Gott weiss wo
und wie lange schon unbeantwortet da liegt, hatte Euch mein
Herz so viel und mancherlei zu sagen, dass die faule Hand sich
fast scheuete, es zu Papier zu bringen. Denn wenn diese abge-
schüttelt hat, was ihr auf die Nägel brennt, dessen doch der
468 Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger ond (jk>eckingk.
täglichen Nahrung und Nothdurfl wegen oft ziemlich viel ist, so
lässt sie das übrige so sachte angehen, dass es oft gar nicht
— angeht. Ich darf jetzt jenen Brief nicht hervorholen, weil er
mir zu viel Stoff aufrätteln würde, den ich doch nicht verarbeiten
könnte. Das würde mir dann fatal seyn ; und darüber möchte
ich leicht meinen Brief wieder auf eine gelegenere Zeit, die am
Ende gar nicht kommt, hinausschieben. Ich halte mich also
bloss an Euren letzten mit Versen begleiteten Brief. Denn was
ich auf Verse zu sagen weiss, wenn sie auch gleich von dem
Engel Gabriel, ja, was das höchste ist, von mir selbst wäreny
das ist so viel, als sich noch allenfals übersehen, und von einer
faulen Hand bestreiten lässt. Wer hätte das vor diesem gedacht,
dass es mit einem poetischen Ghristenmenschen so weit kommen
könnte? Ich kann nicht begreifen, wie andere, z. E. Gleim, das
Versmachen bis ins höchste Alter hinein noch so con amore
treiben können. Wenn es nicht Noth halber geschähe, so sähe
ich keine po§tische Zeile, nicht einmahl von mir selbst, noch an.
Wundert Euch also nur nicht, wenn mir Eure letzte Sendung
nur insofern willkommen ist, als ich dadurch mehrere Seiten
des künftigen Musen-Aimanachs auf eine honorige Art anfüllen
und der Sammlung vor dem verslustigen Publikum ein stattlicheres
Ansehn verschaffen kann. Mich selbst interessirt es unendlich
mehr, was ihr mir in ehrlicher Hausmannsprosa von Euren tag?
liehen Lebensbegegnissen aus Eures Herzensschrein mit zu
theflen habt. Lieber G., woher kömmt das? Kömmt es daher,
weil ich alt werde? Das denke ich bisweilen, und es wandelt
mich eine kleine Unruhe deswegen an. Gleichwohl fühle ich
mich in vielem Betracht oft noch so jugendlich, als vor 30 Jahren,
und wenn ich nicht durch meine Kinder eines andern belehrt
würde, so würde ich mir bisweilen einbilden, ich hätte soeben
meinen ersten Ausflug gethan, und hätte die ganze Lebensbahn
noch vor mir. Ich bin daher fast mehr geneigt, diese Umstim-
mung dem politischen Zeitlaufe zu zu schreiben, der mich un-
widerstehlich mit sich fortreisst. Walirlich kein Liebes Abenteuer
hat je mein ganzes Wesen so sehr in sich hinein verstrickt, als
das gegenwärtige grosse Weltabenteuer, von welchem ich keinen
Ausgang sehe, ja nicht einmal zu ahnden im Stande bin. Ihr
werdet es nunmehr schon aus dem Gerüche abnehmen, wo der
Hund bei mir begraben liegt. Das ganze Cadaver will ich Euch
nicht weiter aufdecken, da wir in Zeiten leben, in welchen Einen
so gern alles, was eine Nase hat, anschnüffelt, und die Ketzerei gar
oft auf eine eben so gründliche Weise herausgebracht wird, als
die Kinder es mittelst des Reimes: Allhier auf dieser Bank, ist
ein grosser Gestank etc. herausbringen, wer von ihnen etwas hat
streichen lassen.
Euch, liebster Schulkumpan, auf ein Paar Tage zu sehen
und zu sprechen, würde uns beiden eine höchst erspriesslichc
Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 469
Blut- und Magenreinigung seyn. Ach! Wie wollten wir uns
einander so schön den Kopf halten und nach Herzenslust vomiren !
Aber der Henker weiss, wie und wenneher das möglich zn machen
steht. Ich habe mich in eine politische Kannengiesser-Entreprise^')
eingelassen, die zwar ein erkleckliches ein bringet, mich aber
auch vor der Hand gar sehr an Ort und Stelle fesselt. Gleich-
wohl gebe ich die Hoffnung noch nicht auf, vielleicht in den
Pfingstfeiertagen einen Ritt zu Euch machen zu können. Ist es
thunlich, so gebe ich Euch zeilig vorher Nachricht von meiner
Überkunfi.
Eure häusliche Lage, so wenig es auch ist, was Ihr mir
davon meldet, kann ich mir so wahr und lebendig vorstellen,
als ob ich mitten drin gewesen wäre. In solchen Fällen thut
Einem nichts so wohl, als wenn Einem ein alter treuer Kumpan
von Zeit zu Zeit den Kopf hält. Gott weiss! Wie mich ver-
langet. Euch diesen Liebesdienst zu erweisen. Hort, lieber, wir
sind beide ein Paar Burschen, die eigentlich nie hätten heirathen
sollen; und gleichwohl habet Ihrs zweimahl und ich gar drei-
mahl gethan. Dass ichs zum vierten mahl nicht thue, das scheint
mir zwar eine ausgemachte Wahrheit zu seyn, indessen der Teufel
geht umher, wie ein brüllender Löwe. Wer weiss wann, wo,
wie er einen nicht doch am Ende verschlinget. Ich möchte schier
sagen, ich sehnte mich jetzt mehr nach Liebe, als je in meinen
Jüngern Jahren. Mein Glück ist, dass die Leibes- und Seelen-
gestalten , die meiner Fantasie vorschweben , mir nicht leicht in
der Wirklichkeit begegnen werden. In Jüngern Jahren nimmt
man leichter mit dem vorlicb, was Einem täglich die Sinne dar-
bieten. Ob man nun gleich bei so bewandten Umständen manchem
Lebens Ungemach enthoben bleibt, wie ich denn wirklich jetzt
ein ganz ruhiges Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit
führe: so ist es doch auch auf der andern Seite unbehaglich,
noch so oft zu hangen und zu verlangen, ohne rings um sich
her etwas zu sehen, wonach man hanget und verlanget. Denkt
man sich in einer solchen Stimmung etwa mit einem interimistischen
Abenteuer zu helfen, so ist man gar übel berathen. Denn das
wird einem gar bald zur allerdrückendsten Last, und man ist zu
gut müthig, sich das merken zu lassen. Zu lieben, ohne wieder
geliebt zu werden, ist zwar ein bitleres Kraut, aber der Genuss
desselben ist noch lange nicht so widerlich, als das fatale Süss-
holz, geliebt zu werden und nicht wieder zu lieben, ohne diess
sich merken lassen zu dürfen. So lange man jung und thätig
ist, gelinget Einem in diesem Falle leicht ein bischen Spiegel-
fechterei ; allein in unsern Jahren ist man nicht sonderlich mehr
dazu aufgelegt; sie misslinget; man wird alle Augenblick auf
dem fahlen Pferde ertappt, und o weh! wie wird man dann
•
^*) Seine Befcheiligung an Girtanners Politischen Annalen. ^
470 Sauer, Aus dem Briefwechsel iwischen Bürger und Goeckingk.
kuranzt! Man sollte nun denken dergleichen Erfahrungen und
Betrachtungen mussten Einen weise machen , sich vor jedem
Interim , wie vor dem Fleckfieber zu hüten , und gleichwohl —
o Goeckingk, man wird in seinem Leben nicht weise ....
76. Goeckingk an Bürger.
Wernigerode den 19. April 1793.
Das hat Euch ein guter Genius eingegeben, lieber B. mir
jezt zu antworten; 8 Tage später würde Euer Brief ein Viertel-
jahr hier gelegen und auf meine Rückkunft aus Pohlen gewartet
haben. Ja ja! aus Pohlen! Denn in 8 Tagen muss ich nach
Posen abgehen^ um dort die neuen Finanz - Einrichtungen auf
Preussischen Fuss machen zu helfen. Von Berlin aus begleite
ich den Minister Voss. Ich werde erst gegen Ende des Juli
wieder zurück kommen. Schade dass mein Weg nicht abermals
über Göttingen geht. Dass ich zu einer solchen Commission nicht
die entfernteste Veranlassung gegeben habe, könnet Ihr leicht
denken. Troz meiner 24jährigen Dienstzeit ist mein moralisches
Gefühl noch unverändert das nämliche mit dem ich hinein trat,
ja mir kömmt es vor, als wenn es sich noch eher verfeinert
hätte. Ungern gehe ich hin wo ich (das kan ich wohl denken)
ungern werde gesehen werden. Aber zwey Gründe haben mich
bestimmt diesen Auftrag nicht abzulehnen. Einmal halte ich es
für vernünftig, wenn ich bey dieser Gelegenheit mehr gutes zu
würken suche als ein andrer vielleicht Lust oder Kraft haben
mögte, und im Anfange lässt sich vielen Dingen vorbeugen; ist
die Sache aber einmal im Zuschnitt verdorben, so hält es sehr
schwer, sie hinterher abzuändern, wenigstens in unsrer Verfassung.
Oberdiess musste ich fürchten, dass man mich hier ewig hätte
sitzen lassen, wenn ich mich diesem eben so wichtigen als müh-
samen Geschafft nicht hätte unterziehen wollen. Und doch möchte
ich mein Leben lieber auf einer der Südsee -Inseln als hier in
Wernigerode beschliessen. Seyd übrigens nicht bange, dass ich in
Pohlen (oder Süd-Preussen wie es künftig heissen wird) bleiben
mögte. Es müsste mir ausserordentlich gut geboten werden und
Posen, seine Menschen und Gegend, wenigstens mir nicht mis-
fallen, wenn ich mich entschliessen sollte, so weit umzuziehen.
Doch hoffe ich auf alle Fälle, mir durch diesen Auftrag eine
andere und bessere Stelle zu verdienen. 0 dass ich Euch doch
noch einmal an mich heran ziehen könnte, damit wir unsre alten
Tage mit einander verplauderten bis uns der Mund mit Erde
gestopft mrd.
In Berlin werde ich mich nur Einen Tag aufhalten. Von
dort aus erwartet also keine Nachricht von mir; aber in Posen
oder Gnesen wird sich ja wohl ein halbes Stündchen für meinen
ältesten und treuesten Freund den Gcscliäfflen abzwicken lassen.
Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk. 47 1
Euer Geständniss, 1. B., in pto. der Versuacherey ist mir hundert
mal lieber als wenn Ihr meine Verslein noch so schön gereimt
gefunden hättet. Warum wir keinen Geschmack mehr an der
leidigen Poesie finden, das erklärt sich so leicht 1 Dagegen sollte
es mich sehr wundern , wenn Voss z. B. jemals aufhören sollte,
in Versen und was dem anhängig ist, zu leben, zu weben und
zu seyn. Eine einzige Depesche von Dumouriez interessirt mich
mehr, als Vossens schönste Hexameter oder Ramlers pomphaf-
teste Ode. Hebt mir ja das Lied von Christianen ^^) auf, damit
ich das Original wieder erhalte ; Ihr habt vergessen es Eurem
Briefe beyzufiigen
Für die Gesundheit meines Cörpers und die Zerstreuung
meines Gemüths wird die Reise ganz wolthätig seyn. Ach ich
habe wieder ^/4^®* Jahre auf meinem Stäbchen gesessen und
täglich gefühlt dass es nicht gut sey, wenn der Mensch allein
ist. Und doch konnte ich nicht einmal aus dem Hause gehen,
um nur auf Einen Abend nicht allein zu seyn. Aus diesem un-
seligen Zustande ist für mich keine andre Rettung, als dass ich
ganz von hier wegziehe, und mich in einer ganz neuen Situation
auf einen ganz neuen Fuss mit A. setze. Mein einziges
Labsal in dieser Wüste ist die Rück Erinnerung an glücklichere
Tage und die Briefe alter Freunde, denn neue mag ich nicht
haben, wenn auch Castor und Pollux mir zu Gefallen vom Himmel
herab steigen oder Hr. Eurialus sei. um meiner willen mit samt
Nisus wieder aufwachen wollte.
Adieu liebster B. denkt zuweilen an mich, wenn ich unter
den Polacken sitze und in ihren Gesichtern die heimliche Begierde
lese, dass sie mich mögten rein ausschmieren dürfen. 0 wie
viel Stoff zum Denken und zum Empfinden giebt unsre Zeit!
Doch Gottlob! ich bin mit einem Freiheits-Gefühl gebohren, das
mich überall frey seyn lässt. Dass ich ums Geld Acten zu-
sammen schreiben muss, ist ja nicht meine Schuld. Für die
20 höchstens 30 Jahre die ich noch meine kleine Rolle (Gott sey
Danck dass sie unter solchen Umständen nicht grösser ist!) zu
spielen habe, ists der Mühe nicht werth, weit aussehende Plane
zu machen. Ein Freund und (wenn's seyn könnte) eine Freundin
in der Nähe, ist alles was ich mir noch wünsche.
Ewig Euer treuer G.
77. Bürger an Goeckingk.
Göttingen d. 18. Juni 1793.
Manche, manche Freude, lieber G. habt Ihr mir zwar schon
in meinem Leben durch Eure Briefe gemacht ; aber kaum jemals
eine lebhaftere, als durch Euren letzten. Meine Freude war so
>«) Vgl. Göttinger Musenalmanach auf 1794 S. 127 f. und Strodimann
Nr. 875.
472 Sauer, Aus dem Briefwechsel zwischen Bürger und Goeckingk.
ausserordentlich, dass sie mir selbst auffiel, und ich mich fragte:
Aber warum freuest du dich denn gerade jetzt mehr, als beinahe
jemals? Ich kann es mir nicht anders erklären, als auf folgende
Weise. Das Andenken an jeden süssen Genuss, den mir Eure
Freundschaft in längst verflossenen Jahren gewährte, war theils
durch Eure persönliche Anwesenheit vorigen Sommer, theils durch
Eure Briefe wieder aufgefrischt worden; ich war so herzlich
dazu gestimmt, das alte traute Lied mit seinen hundert und neun
und neunzig Strophen mit Euch wieder a capite ad oalcem durch
zu leiern, und, so Gott wollte, noch hundert und neun und
neunzig Strophen dazu zu machen, als so unerwartet Euer Brief
mit der Nachricht ankam: In 8 Tagen gehe ich nach Pohlen,
und wer weiss, ob ich nicht dort bleibe. —
0 gute Nacht denn, Goeckingk ! seufzte ich aus schmerzlich
beklommenem Herzen. Wie kann man einander so weit noch
abrufen? — Lieber, es war mir zu Muthe nicht anders, als ob
ihr mir plötzlich abgestorben wäret, da ich Euch doch so gern
vorher noch einmahl hätte sprechen mögen. Ich setzte mich hin,
um Euch noch mit einem Briefe einzuhohlen; allein plötzlich Gel
mir ein : Wer weiss in wie vielen Monathen, wer weiss ob er ihn
jemals erhält, wer weiss ob er vor Jahr und Tag, wer weiss,
ob er jemals wieder darauf antworten kann. Alle diese und
noch mehr fatale wer weiss lähmten mir Geist, Herz und
Hand. Ich liess die Feder fallen und seufzte: Gute Nacht,
Goeckingk! Zu diesem Seufzer ist die ganze S^eit her mein Herz
gestimmt gewesen. Wenn Ihr diess mit mir erwäget, so wird es
Euch, wie mir, bereif lieh werden, warum ich mich so aus-
nehmend über den letzten Brief freute. Opposita juxta se posita
magis elucescunt. Denn nun krähet mein Herz wieder: Guten
Tag, lieber Goeckingk! Gott Lob, dass Ihr wieder da seyd!
Nach Berlin läuft ein Brief leicht so bald, als nach Wernigerode,
und gesetzt Ihr wäret auch in Posen, so kommt mir doch in
meiner jetzigen Freude der Weg von Göttingen bis nach Posen
ebenfals nur wie ein Katzensprung vor. Und der Berg Eurer
neuen Geschäfte, der mir vorher so wölken hoch vorkam, dass
Ihr schwerlich noch darüber hinweg und nach Eurem alten Schul*
kameraden sehen könntet, kommt mir jetzt nicht höher, als
das Geländer auf dem Rathhause zu Ellrich vor, auf welchem
ich einst während der Vorstellung der Minna von Barnhelm sass
und den Esel zu Grabe läutete, als der selige Herr — wie hiess
er doch? — ehrfurchtsvoll vor mir mit seiner Nasenspitze die
Spitze meines baumelnden Fusses berührte. —
So steht denn also nun meine Hoffnung, das alte trauliche
Verkehr wieder anzufangen und fortzusetzen bis ans Grab wieder
in ihrer schönsten Blüthe ? Ja ! Euer Brief ist mir dess ein desto
zuverlässigerer Bürge, je weniger ich in Eurer gegenwärtigen
Lage schon so bald auf einen mit Billigkeit Anspruch machen
Sauer, Aus dem Briefvrechsel zwischen Bürger und Qoeckingk. 473
konnte. Mehr, als aus allem, erkenne ich aus diesem Briefe,
dass Euch das Herz dränget, dass Ihr mich von Herzen lieh
habt. Denn sonst hättet ihr noch nicht so bald geschrieben.
Eure sehr wahrscheinlichen nähern sowohl als entferntem
Aussichten zur Beförderung freuen mich um Euret- und um
meinetwillen. Um Euret willen weil Ihr, den ich liebe, ein statt-
licher Herr dadurch werdet. Denn seyd Ihr erst Geh. Finanz
Rath so sehe ich gar nicht ein, warum Ihr nicht auch eben so
leicht noch Minister werden solltet. Um meinet willen aber freue
ich mich, weil ich — nicht etwa durch Eure Gönnerschaft und
Vielvermögenheit als dann noch auch etwas zu werden hoffe;
denn ich weiss, dass ich zum Heller geschlagen bin und in
meinem Leben kein Ducaten werde — sondern weil ich als dann
Besitzer eines moralischen KabinetsstQcks werde, das wo nicht
ganz einzig, doch höchst selten in seiner Art ist. Diese Selten-
heit ist ein alter trauter Schul Kumpan, der Minister wird, und
gleichwohl mit Leib und Seele mein alter trauter Schul Kumpan
in Schimpf und Ernst bleibt, bis an sein seliges Ende. Ihr,
lieber G., seyd der Einzige, von dem ich mirs nun mit Zuver-
lässigkeit verspreche, dass er sich in diesem Stücke koscher be-
währen werde. Mehrere Beispiele, selbst aus meiner eigenen
Erfahrung, liessen mich endlich so gar an der Möglichkeit bisher
zweifeln. Friz Stollberg war weiland auch ein Kumpan ; nun ich
kann zwar eben nicht sagen, dass die nachmaligen honores die
mores auffallend verändert hätten; allein was gleich nicht so
dick ist, um sich sagen zu lassen, das ist doch leicht dick genug,
um wenigstens leise gefühlt zu werden. Hardenbei^ in Anspach
war zwar nur mein Universitätsbekannter, indessen hat er mich
doch nachher zu manchem Land Gericht eingeladen, wo es gar
sehr auf den Fuss der Freiheit und Gleichheit so wohl am Ess-
und Schenk- als am Pharaotische herging. Auch von ihm kann
ich eben nicht sagen, dass er mich nachher, da ich mich in
einigen Angelegenheiten an ihn zu wenden hatte, als hanö ver-
scher Minister behandelt hätte. Allein dass er ein Minister
war, das sah und fühlte ich denn doch. Nun vollends Göthe —
Ach I habe ich Euch wohl einmahl erzählt, wie es mir mit Göthen
gegangen ist? — Hab' ichs noch nicht, so sagt mirs, damit ich
Euch ein Beispiel von dem honores mutant mores aufstelle,
das füglich für ein non plus ultra gelten kann.'') — ....
An meiner Lebensweise hat sich eben nichts geändert; denn
das Leben eines Professors, und vollends eines Göttingischen, ist
ein sehr einförmiges Leben Jahr aus Jahr ein. Umgang habe
ich so viel als gamicht. Denn die Menschen sind hier fast alle,
wenigstens fQr mich ungeniessbar , und eben daher mag ich es
**) Über Bürgers Besuch bei Goethe vgl. meine BQrgerausgabe
S. 333 und in Er^^nzung dazu Schütz, Müllners Leben S. 260.
474 Sauer, Ans dem Briefwechsel zwischen Bfirger und Qoeckingk.
ihnen auch wohl seyn. Im Ganzen bin ich das nun schon so
ziemlich gewohnt, oft aber Ober nimmt mich denn doch auch
ein sehr lebhafter Überdruss, besonders wenn mir Jemand er-
zählt, dass er S allerliebste Ghambres gamies im Töpferschen
Hause unter den Linden in Berlin gemiethet habe, wo alle Augen-
blicke hflbsche weibliche Figuren vorbei spazieren. Hört, Goeckingk,
ich will zwar Eure Patronschaft niemals mit meiner Glientschaft
belästigen, allein -wenn Euch irgend einmabl ein Hase aufstossen
sollte, wie doch immer wohl möglich wäre, so schiesst ihn gleich
für mich auf den Kopf, und schickt ihn mir durch dnen Courier
zu. Sollte denn dort gar nichts über kurz oder lang zuthun seyn? —
Seit Anfang dieses Jahres habe ich mich in eine Politische
Kannengiesser Bude mit verdungen, die mir jährlich ungeföhr
600 rth. einbringt. Das Profitchen schmeckt sehr gut ; allein
meinen ehrlichen Nahmen mag ich dabei nicht compromittiren,
weil ich mit der Einrichtung des Wesens, worüber ich nicht Ge-
walt genug habe, eben nicht sehr zufrieden bin. Daher bleibt
diess unter uns, und wenn Ihr gleich wohl hören solltet, Bürger
arbeitet an den mit, so seyd so gut und sagt: das glaube
ich nicht. Stiesse Euch indessen ein jagdbarer politischer Hirsch
oder Bär in Pohlen auf, so schiesst ihn, und lasst ihn mir gegen
willige Erlegung der Spesen zu kommen. Es verst^t sich, dass
es für Euch ohne alle Gefahr abgehen müsse. Ich denke, dass
Ihr mir zu manchem weit früher verhelfen könnt, als man deeh
am Ende auf andern Wegen dazu gelangt. Ihr wisst ja wohl
die politischen Gerichte lässt sich das Publicum gern brüh siedend
heiss auftischen, und als dann frisst das Biest sie mit convulsi-
vischem Entzücken, wenn es auch gleich Dreck wäre.
.... Der Henker weiss, wie es zugeht, dass wenn auch
ein Brief fertig geschrieben ist, er oft doch noch ins li^en komt.
Heut ist schon der 30. Juni und doch geht dieser erst fort. —
Ich will sie künftig lieber gleich mit der ersten Post fortschicken,
wenn sie auch noch nicht fertig sein sollten.
Ewig der Eurige B.
78. Goeckingk an Bürger.
Berlin, den 6. Juli 1793.
Herzlichen Dank, liebster B., für Eure Theilnahme. Bey
Andern nimmt die Freundschaft mit den Jahren ab, bey uns
nimmt sie mit der Zeit noch zu. Doch das ist wohl nur ein
optischer Betrug. Mich dünkt, wir haben uns wohl immer gleich
sehr geliebt, aber es uns nur nicht gleich oft gesagt. Eure und
meine Lage waren oft ja auch so beschaffen, dass Einem die
Lust wohl verging, die Klagelieder Jeremiä in Briefe zu ver-
wandeln.
Mein Schicksal, trauter B., ist nun für immer entschieden.
Sauer, Ans dem Briefwechsel swischen Bürger und Goeckingk. 475
Der König hat mich zum Geh. Finanzrath mit 2000 rth. Gehalt
ernannt, was denn fär eine solche Stelle und einen solchen Ort
warlich nicht zu viel ist. Wenn indess der Krieg zu Ende, und
alles erst wieder in seiner Ordnung seyn wird, so hoffe ich, Zu-
lage zu erhalten.. Der jetzige König denkt darin viel genereuser
als der vorige.
Vorgestern ward ich vereydet, in das Generaldirectorium
eingeführt, und erhielt mein Patent. In 14 Tagen reiset der
Minister v. Voss wieder nach Södpreussen, und ich werde ihn
abermals begleitop. Die Reise wird 6 Wochen dauern, weil sie
rund an der Grenze herum, durch Thorn, und 4 Meilen vor
Warschau vorbey, gehen soll. Wenige Tage nach unsrer Zurück-
kunfl hieher, werde ich nach Wernigerode abgehen und in den
ersten Tagen des October von da meine Familie hieher begleiten.
Ich werde Euch dann bestimmt wissen lassen, welche Tage ich
in Ellrich seyn werde. Ists Euch dann irgend möglich, so kommt
und umarmt Euren alten Landsmann, Schul -Gameraden und
Freund. Nach Wernigerode mag ich Euch nicht haben. Da
wird um die Zeit alles wüst im Hause aussehen. Meine Möbeln
lasse ich alle verkaufen, und nehme bloss das mit, was sich gut
transportiren lässt; diess schicke ich vorauf, weil wir sonst ins
leere Nest kommen, und nicht einmal einen Strohsack ßnden
würden, unser Haupt darauf zu legen. Bey diesem Umziehen
büsse ich abermals ein Paar Tausend Rthlr. ein. Schwerlich
werde ich die jemals wieder ersparen, denn das Geld hat noch
heute nicht den geringsten Werth mehr für mich, als auf der
Universität. •
Ich bin hier schon in voHer Arbeit und in den ersten 2
Jahren werde ich wohl selten oder nie einen ganzen Tag für
mich haben. Es ist ungeheuer viel in der neuen Provinz einzu-
richten, denn es war bisher das Land der Unordnung. Der
Boden ist indess sehr fruchtbar, die Menschen sind von Natur
nicht' dumm, die Lage zum Handel ist vortheilhaft, sobald nur
die Wartha und Prosna recht schifbar gemacht seyn werden.
Kurz, es ist ein grosser Schauplatz auf dem man seine Thätig-
keit üben kann, und von den 1 100/m Einwohnern die Südpreussen
haben soll, freuen sich über eine Million auf die neue Ordnung
der Dinge.
Es würde warlich ein Hochverrath der Freundschaft an
meinem Herzen seyn, liebster B., wenn Ihr es für fähig hieltet,
sich um aüssrer Zufälligkeiten willen ändern zu können. Von
Göthe wundert mich das nicht. Thut mir den Gefallen, und
erzählt mir wie er mit Euch umgegangen ist Ich habe schon
mehrere über ihn klagen gehört. Es ist übrigens nicht Verlust,
sondern Gewinn, wenn man ein Herz einbüsst, das nicht einmal
auf dem Probiersteine der Eitelkeit Strich hält.
476 Burkfaardt, Theater- Dichter und -Honorare in Weimar.
Es geftllt mir, troz den 600 rth. eben nicht, dass Ihr an
einem politischen Journal Theil nehmet, denn ich fürchte, ent-
weder es mögte Euch Händel zuziehen und Eure Gremöthsruhe
bestürmen, die nach so vielen Donnerwettern, keine Windhosen
mehr ertragen kan; oder Ihr mögtet früh oder spät bey einer
nicht gleichgültigen Parthey, Euren literarischen Ruhm, oder gar
Eure kosmopolitische Denkart compromittiren. Denn darauf
rechnet doch nur nicht, dass das Ding lange vor dem Publikum
verschwiegen bleiben sollte. Aber noch weniger rechnet auf
Bey träge dazu von mir. Ich will Euch lieber 10 Gedichte als
den kleinsten statistischen oder politischen Artikel schicken, und
meine Ruhe dabei aufs Spiel setzen. Ich habe übrigens mein
System ganz in der Stille für mich und ein Paar alte Freunde . . .
Adieu, treuer B. 0 was freue ich mich auf die Zusammen-
kunft in Ellrich, oder lieber nach Walkenriedt, wo uns Niemand
stören würde. Ich umarme Euch von ganzem Herzen, ganzer
Seele und ganzem Gemüth. Alles bleibe so, wie es ist, bis an
unsern Tod. Euer treuer G.
Ooeckingk als der Überlebende hielt das Bild des
Freundes im Gedichte fest: ^Elegie auf Bürgers Tod^ im
Oöttinger Musenalmanach für 1796 S. 18.
Prag. August Sauer.
Dichter und Dichterhonorare
am Weimarer Hoftheator während Goethes Lettang.
Goethes Bühnenleitung in Weimar war durch eine treff-
liche Finanzwirthschaft gestützt Er wusste die Verhält-
nisse zu nutzen. Die Wahl des Repertoir war gewiss auch
von pecuniären Bücksichten beeinflusst, aber nicht daran
gebunden. Es lohnt sich, einmal das Weimarische Tbeater-
wesen von diesem Gesichtspunkte aus zu betrachten.
Ich habe früher schon festzustellen versucht, wie viel
Stücke Goethe während der Leitung seines Hoftheaters aus
dem Repertoir der Bellomoschen Truppe herübemahm und
wie viel Novitäten er gab. Die Wiederaufführung der erstem
war mit finanziellen Opfern nicht verknüpft, denn es waren
meist Stücke, die gedruckt vorlagen und also damals keine
Verpflichtungen gegen die. Autoren auflegten. Hdohstena
Burkhard t, Theater-Dichter und -Honorare in Weimar. 477
konnten die Kosten für eine theilweise oder gründliche
Umarbeitung in Frage kommen, die aber, wie wir unten
sehen werden, nicht von Belang waren.
In der Erwerbung von Novitäten war Goethe äusserst
sparsam. Oft tauschte er ein für die Weimarer Bühne
bearbeitetes Stück bei einer andern Bühne, z.B. bei dem
Wiener Theater aus und erwarb etwas, was seinem Ge-
schmack besser entsprach: Theaterdichtern gegenüber zeigte
er sich äusserst zurückhaltend. Während seiner Direction
von t79l — 1816 stand er überhaupt nur mit 11 Theater-
dichtern*), welche Novitäten lieferten, in Verbindung; dazu
kommt, was er selbst an Bühnenwerken gab, die er sich in
bescheidenem Masse honoriren liess. Ich gebe eine Über-
sicht :
1791 bezog Goethe von Beil und Iffland neue Stücke,
1792 bis 1795 war Yulpius ganz ausschliesslich für das
Theater thätig; er lieferte neben einzelnen eigenen Stücken
Umarbeitungen oder Verbesserungen fremder, ferner nament-*
lieh Antritts- und Abschiedsreden, Prologe oder Epiloge.
1796 traten Vulpius, Kotzebue, Iffland und Kratter, 1797
Schall, Iffland und Dunkel, 1798 Kotzebue und Schall,
1799 und 1^00 Kotzebue, 1801 und 1802 Schiller und
Kotzebue, 1804 Goethe und Schiller, 1807 und 1810 Vulpius,
1812 Goethe und v. Einsiedel, 1814 Vulpius und Goethe,
1816 Riemer mit Novitäten auf.
Wenn auch in der Litteratur die ausserordentliche
Productivität des Goetheschen Schwagers Christ. August
Vulpius festgestellt ist, so ist dies doch nicht der Fall be-
züglich seiner Thätigkeit, die er als Bearbeiter beziehungs-
weise als Redactor bereits vorhandener Bühnenstücke ent-
faltete; davon haben wir bis jetzt eine ganz unvollkommene
Kenntniss, welche zu erweitern die folgende Zusammen-
stellung dienen mag. Sie fusst auf den nicht ganz voll-
ständigen Weimarer Theaterrechnungen. Vulpius bearbeitete
darnach:^)
*) Viel mehr können es wenigstens nicht gewesen sein, weil die
Theaterrechnungen (bis auf 2 Jahre) vollständig vorliegen.
*) Die mit * versehenen Stücke sind in dieser Bearbeitung nicht
in Weimar gegeben worden; sie wurden theils bei Seite gelegt, theils
Vierteljahrschrift fiir Littoratoigeschichte in 32
478 Burkhard t, Theater-Dichter und -Honorare in Weimar.
1791.
König Theodor in Venedig. Oper. Paisiello.
Hieronymus Knicker. Oper. Dittersdorf.
Das rothe Käppchen. Oper. Dittersdorf.
1792.
Johann v. Procida (eingerichtet). Schausp. Hagemeister.
Die Entführung. Lustsp. Jünger.
Bürgerglück. Lustsp. Babo.
*Der verschriebene Bräutigam.
Frauenstand. Lustsp. Iffland.
1793.
♦Felix der Findling. Oper. (Auch 1794.)
Der Baum der Diana. Oper. (Auch 1794.) Martini.
Das Kästchen mit der Chiffre. Oper. Salieri.
Ida oder das Vehmgericht. Schausp.
Liebe und Muth. Lustsp. Spiess.
Die Zauberflöte. Oper. Mozart.
Der Krieg. Lustsp. (Übersetzt.) Goldoni.
Güte rettet. Lustsp.
Der Hufschmied. Oper. Dittersdorf.
Nina oder Wahnsinn aus Liebe. Oper. D'Allayrac.
Hokus Fokus. Oper. Dittersdorf.
1794.
♦Felix der Findling. Oper. (Auch 1793.)
Das Sonnenfest der Braminen. Oper. Müller.
Der Baum der Diana. Oper. (Auch 1793.) Martini.
*Die Gesänge aus der Judenbraut.
Menzikof. Trauersp. Kratter.
Das Mädchen von Marienburg. Schausp. Kratter.
Le trame deluse. Oper. Cimarosa.
*Die Brautwahl.
*Siri Brahe. Schausp.
Die Dichterfamilie. Lustsp.
Dialog der Oper Glaudina v. Villa Bella aus Versen in Prosa
umgeändert.
1795.
Gosi fan tulte. Oper. Mozart.
Heimliche Heirat. Oper. Gimarosa.
Das Sonntagskind. Oper. W^enzel. Müller.
Das Vermächtniss. Schausp. Iffland.
an andere BUbnen, auch als Tauschobject, gegeben. Ich ergpänze ab-
sichtlich die Namen der Yerfa88er nicht, wenn diese von Vulpius
selbst nicht angegeben sind.
Burkhard t, Theater-Dichter- und -Honorare in Weimar. 479
Die Spanier in Peru. Trauersp. Kolzebue.
Dialog zur Oper Girce. Anfossi.
*Der Dorfprediger.
Der Strohmann. Schausp. Hagemann.
Der Sturm von Boxberg. (Völlig umgeändert und eingerichtet.)
Schausp. Maier.
1796.
Telemach. Oper. Hofmeister.
Delinquente honrado. (!) Schausp. IflFland.
Wellton und Herzensgute. Schausp. Ziegler.
Graf Benjowsky. Schausp. Kotzebue.
Der Eheprocurator. Lustsp. Brelzner.
Julius von Tarent. Trauersp. Leisewitz.
Der Verschlag. Lustsp. Bock.
Die Jesuiten. Trauersp. Hageraeister.
Oberon. Oper. Wranitzky.
Der Graf von Burgund. Schausp. Kotzebue.
Alexina. Schausp. Gowmeadow.
Der Geburtstag. Lustsp. Engel.
Der Spiegel von Arkadien, umgeändert in: Die neuen Arkadier.
Oper. Süssmeyer.
Der Schauspieldirector, einverleibt in: Die Theatralischen Aben-
theuer. Oper. Gimarosa. Mozart.
1807.
Gattin und Wittwe zugleich. Schausp. Vogel.
(Gorrecturen verschiedener nicht specialisirter Operngesänge.)
1810.
Ida Münster. Schausp. De la Motte.
Die unruhige Nachbarschaft. Oper. Müller.
1814.
Das Posthaus = Die Entdeckung im Posthause. Lustsp. Kotzebue.
Auch die selbständigen Beiträge, welche Vulpius nach
den Rechnungen des Theaters lieferte, verzeichne ich hier;
sie werden auf den gleichzeitigen Theaterzetteln kaum er-
wähnt und sind nur zum kleinen Theil in Zeitschriften
niedergelegt.
1792.
Das Freudenfest. Vorspiel zum kurfürstlichen Geburtstage 3. August.
Prolog für Lauchstädt zum 17. Juni.
Epilog für Lauchstädt zum 1 9. August.
Prolog für Erfurt zum 23. August.
Epilog für Erfurt zum l.October.
32*
480 Burkhardt, Theater-Dichter . und -Honorare in Weimar.
1793.
Epilog für Weimar zum 12. Juni.
Prolog für Lauchstädt zum 1 6. Juni.
Epilog für Lauchstädt zum 14. August.
Epilog für Erfurt zum 18. August.
1794.
Rede zum Geburtsfeste des Kurfürsten von Sachsen, gehalten am
3. August (gedruckt im Theaterkalender v. 1 796 S. 8).
Vorspiel Günther v. Schvvarzburg.^)
Epilog für Weimar zum 1 8. Juni.
Epilog für Lauchstädt zum 10. August.
Prolog für Rudolstadt zum 1 8. August.
Abschiedsrede für Rudolstadt zum 10. September.
Prolog für Erfurt zum 1 4. September.
Epilog für Erfurt zum 5. October.
1795.
Prolog für Lauchstädt zum 21. Juni.
Epilog für Lauchstädt zum 1 7. August.
1796.
Prolog für Rudolstadt zum 12. August.
Epilog für Rudolstadt zum 30. September.
1810.
Monolog zu der Zauberflöte.
Arie zu den eingebildeten Philosophen.
Beide Übersichten zeigen einen entschiedenen EiDschnitt
nach 1796; später tritt Yulpius nur selten mehr als Mit-
arbeiter der Weimarer Bühne auf. Es erklärt sich dies
daraus, dass er 1797 eine Anstellung an der Bibliothek
fand. Unterstützt wurde die theatralische Qeschäftigkeit
Vulpius' durch Kotzebue, der so indirect für das Weimarer
Repertoir sorgte, wie folgender Brief zeigt:
Da kommt eine ganze Ladung Manuscripte, theurer Freund,
die ich schon vor einigen Wochen von Herrn Schröder aus Ham-
burg erhalten, sie aber nebst einigen meiner Freunde erst selbst
gelesen habe. Das ist die Ursache warum ich sie Ihnen noch
nicht zugeschickt. Mir gefallt vorzüglich die Versöhnung, von
der auch Schröder sagt, es sey Speise für ganz Deutschland.
Die Wittwe und das Reitpferd sind bereits gedruckt in dem
5ten Tiieil von den jüngsten Kindern meiner Laune. Lesen Sie,
und sagen mir auch Ihr Urtheil, das mir nicht gleichgültig ist.
') Zusammenhang mit A. v. Kleins gleichnamigem Singspiel? Sfft.
Burkhardt, Theater- Dichter und -Honorare in Weimar. 481
Ich habe 11 gr. Porto für diese Manuscripte und eben so
viel für die Vorigen gegeben. Dass die Stücke dem Herrn
G. R. Goethe auch gefallen mögen, wünsche ich.
Von Haus Wiederum herzlich der Ihrige
den 27*«" September 1796. L. Kotzebue.
Eotzebue ist nach Yulpius am stärksten in dem Re-
pertoir vertreten. Von ihm, dessen Stücke vielfach unter
Goethes Direction wiederholt wurden, erwarb man 1796
'Falsche Scham\ 'Graf von Burgund' (beide gedruckt 1 798),
1798 'Die Corsen', *Die silberne Hochzeit (beide gedruckt
1 799), 1 799 'Das SchreibpuU' (gedruckt 1 800), 'Die beiden
Klingsberge' (gedruckt 180 t), 1800 'Die beiden Hofmeister',
Bayard (gedruckt 1801), 1801 'Octavia' (gedruckt 1801),
1802 'Der Wirrwar', 'Die deutschen Kleinstädter' (beide geT
druckt 1803).
Daneben kommen die Erwerbungen von Beil*), IflFland*),
Kratter«), Schalt), Einsiedel»), Jünger») und Riemer *<>)
numerisch und finanziell kaum in Betracht. Von Schiller
wurden 1802 'Don Carlos', 1804 'Wilhelm Teil', von Goethe
1804 'Götz V. Berlichingen', 1812 'Romeo und Julia" und
1814 das 'Vorspiel' für Halle für die Bühne käuflich er-
worben.
Man sieht aus diesem Yerzeichniss , dass das Theater
für Autorhonorare ausserordentlich wenig Mittel bean-
spruchte. Goethe behalf sich trotz der grossen Zahl der
eingeführten Novitäten mit Stücken, die seiner Bühne
finanzielle Opfer nicht auferlegten. Die Zeit war besonders
günstig, weil eigentlich eine Überproduction vorhanden war,
die eine reiche und billige Auswahl gestattete. Dazu
überboten sich die Nachdrucker, um den Erwerb der
Theaterdichter noch mehr in Frage zu stellen. Ehe Vul-
pius es sich versah, war sein Operntext zur Hochzeit des
*) Die Einöde.
*) Der Herbsttag und Elise Walberg, Dienstpflicht, Das Vermächt-
niss, Die Advocaten, Der Uausfriede, Das Gewissen.
*) Das Mädchen von Marienbnrg, Menzikoif und Natalie.
') Das Vorurtheil.
*) Das Nachspiel, die Verbannung.
•) Die Entführung.
*•) Vorspiel zur Ankunft de« Herzog« Bernhard.
482 Burkhard!, Theater-Dichter und -Honorare in Weimar.
Figaro durch den Nachdrucker Lange in EöUn mit unend-
lichen Fehlern veröffentlicht, ohne dass man sich die Wege
erklären konnte, auf denen die widerrechtliche Veröffent-
lichung ermöglicht worden war. Selbst Goethe, der 1825
die Privilegirung seiner Werke bei dem deutschen Bunde
anstrebte, um sich vor dem feindseligen Nachdruck, 'der den
deutschen Autoren alles billige Verdienst ihrer Arbeiten
verkümmert, zu schützen', war noch schutzlos, als bereits
das Privilegium für seine Werke ertheilt war. Daher ist
es begreiflich, dass August v. Goethe am 13. März 1824
Namens des Vaters der Steuerschätzungscommission in
Weimar den jährlichen litterarischen Verdienst Goethes 'in
Maximo auf 1400 Thaler^ angab.
Die Honorare, die Goethe den Theaterdichtern zahlen
Hess, waren verschieden hoch. Vulpius, der wie wir sahen
eine sehr bedeutende Thätigkeit entfaltete, war schlecht
honorirt; 1791 erhielt er für zwei eigne Lustspiele und die
Umarbeitung dreier Opern im ganzen 65 Thaler; in der
Regel erzielte er wie andere, für ein Originallustspiel
1 Carolin, und das Honorar der Umarbeitungen richtete sich
lediglich nach dem Umfang der Arbeit, welche mit ^/s Thaler
bis 1 Thaler vergütet wurde. Für die Prologe und Epiloge,
für Antritts- und Abschiedsreden erhielt Vulpius durch-
gängig drei Thaler und für die Neubearbeitung eines Opern-
textes nicht mehr als 13 Thaler. Das war bitter wenig
gegenüber den Schwierigkeiten, welche Vulpius gelegentlich
selbst betont: ^Ich sage nichts von den Schwierigkeiten,
welche sich jedem Bearbeiter einer Oper, zu welcher die
Musik schon vorhanden ist und der die Worte des Textes
hintennach angepasst werden müssen entgegendrängen, sie
sind unzählbar und nur denen bekannt, die dergleichen
Arbeit selbst unternommen haben.' ^^)
In gleichem Verhältniss wie Vulpius stand Eotzebue,
dessen Bruder und Schwester für jedes Stück nicht mehr
als 1 Carolin erhielten, sei es nun, dass sie zur Liefe-
rung aufgefordert oder freiwillig das oder jenes darboten.
*) Opern aus verschiedenen Sprachen, Leipzig 171^4, Vorrede.
Werner, Kleists Marquise von 0. 483
Etwas geringer war der Lohn v. Einsiedeis ^^), dagegen
wurden Schalls und Kratters Stücke um das Doppelte besser
honorirt. Auch sie standen aber noch bedeutend hinter
liFland zurück, der z. B. für die beiden Stücke ^Der Haus-
friede' und 'Das Gewissen' 80 rhein. Gulden erzielte. Goethe
liess sich für jede seiner Theaterarbeiten , wie für ^Romeo
und Julia', und für das 'Vorspiel' für Halle je 50 Thaler, für
den 'Götz' 100 Thaler anweisen. Ebensoviel erhielt Schiller
für 'Don Carlos'. Über allen aber stand der sonst nie er-
reichte Preis eines Theatermanuscripts von 150 Thaler, mit
dem die Überlassung von Schillers 'Wilhelm Teil' gezahlt
wurde. Sieht man von einer so aussergewöhnlichen Ein-
schätzung ab, und bringt nur die Durchschnittshonorare in
Anschlag, so erklärt sich, dass die Kasse es tragen konnte,
ein Stück, das durch einen Missgriff gewählt worden war,
doch nicht zur Aufführung zu bringen; der Verlust war
nicht so empfindlich, dass Goethes Kritik nicht noch in
letzter Instanz das erworbene Stück hätte ablehnen können.
In der That sind so manche honorirte Stücke, selbst nach
der für Weimar gebotenen Umarbeitung, nicht zur Auf-
führung gelangt.
Weimar. C. A. H. Burkhardt.
Kleists Novelle *Dle Marquise von 0 . . . /
Otto Brahm hat bekanntlich in seiner Kleistbiographie
S. 1 63 f. als muthmassliche Quelle für H. v. Kleists Erzäh-
lung eine Anekdote Montaignes zu erweisen gesucht; eine
Bäuerin fühlt sich als Witwe schwanger, ohne sich einer
Schuld bewusst zu sein, sie verspricht daher dem Übel-
thäter zu verzeihen und ihn zu heiraten ; ein junger Knecht
gesteht im Vertrauen auf die 'Proclamation' von der Kanzel,
er habe sie in tiefem Schlafe beim Herde gefunden und
voll des Weines, wie er war, misbraucht: 41s vivent encores
»*) Er erhielt für *Da8 Leben ein Traum' und für daa Nachspiel
'Die Verbannung' fünf Thaler.
484 Werner, Kleists Marquise von 0.
mariez ensemble'. Brahm hat gezeigt, wie Kleist diese
Anekdote veränderte, umbildete, ohne doch zu voller Auf-
lösung des Peinlichen zu gelangen.
Nun findet sich aber ein Bericht, welcher viele Ver-
wandtschaft mit Kleists Novelle zeigt. In einem medici-
nisch - culturhistorischen Werke 'Eros oder Wörterbuch
über die Physiologie und über die Natur- und Cultur-
G-eschichte des Menschen in Hinsicht auf seine Sexualität^
(Berlin, bei August Rücker 1823, 1, 322 f.) wird unter dem
Schlagwort ^Jungfrau. Jungfrauschaft' auch der Möglichkeit
gedacht, dass Empfängniss in leichtem Schlaf, geringerer
Betäubung, leichterm Rausche möglich sei.
Es giebt bei unserm Thema einige schauderhaft - ernste Ge-
schichteni von denen wir einige zur Unterhaltung und Belehrung
unsrer Leser hier mittheilen wollen. Pitaval erzählt in seinen
merkwürdigen causes c^l^bres folgenden Fall: Ein junger Mann
von vornehmer Geburt wird gezwungen, sich dem geistlichen
Stande zu widmen, ohne andern Beruf dazu zu haben, als den
strengen Ehrgeitz seines Vaters. Während seines Noviziates macht
er eine Reise, und kehrt bei einbrechender Nacht in einen Gasthof
ein, dessen Wirth und Wirthin in der tiefsten Betrübniss sind
über den eben erfolgten Verlust einer einzigen Tochter. Der
folgende Tag ist zu ihrer Beerdigung bestimmt. Der junge Mönch
wird gebeten den Leichnam zu bewachen.
Nach der Schilderung der Eltern hatte die Natur die ganze
Summe der zaubervollsten Reitze an das verblichene Mädchen
verschwendet. Die lebhafte Phantasie des Ordensbruders wird
in der nächUichen Stille immer reger und stellt ihm die Erblasste
in der reitzendsten Schönheit dar. Die Neugierde, sich selbst
davon zu überzeugen, besiegt die Schauer des Todes; er enthüllt
das Gesicht der Verblichenen, und erblickt staunend eine noch
weit hinreissendere Anmuth, als sie ihm seine Phantasie ge*
malt hatte.
Einsamkeit, nächtliche Stille, alles vereinigt sich, das Blut
des jungen Mannes in ein ungewöhnliches Feuer zu bringen. —
Verdrängt sind auf einmal die heiligen Gelübde des Ordens, das
Zurückschreckende des kalten Todes ; — die Sinne zerrinnen ihm,
und — er umarmt mit glühender Wollust den schönen Leichnam ! 1
Aber Reue und Schaam folgen plötzlich der That und er eilt mit
anbrechendem Tage davon. —
Man trägt die Tode zu Grabe. Auf einmal wird eine Be-
wegung im Sarge bemerkt; man eröffnet denselben und findet
das Mädchen lebend. Grabgeläute und Sterbelieder verstummen,
Werner, Kleists Marquise von 0. 485
alle Zuschauer blicken sie feierlich staunend an, Freude und
Schrecken wechseln in der Seele des Vaters und der Mutter.
Doch das Glück der Eltern ist nur von kurzer Dauer. Be-
sondere Zufalle verkünden das baldige Mutterwerden der Tochter.
Vergeblich plagt man sie mit Fragen — sie weiss nicht, wie sie
in diese Umstände versetzt worden ist. Neun Monate nach ihrer
Auferstehung vom Tode, bringt sie ein gesundes Kind zur Welt.
Die beleidigten Eltern rächen diese Schmach und verbannen die
Unglückliche in ein Kloster.
Das Schicksal des Mönchs hatte indessen eine günstige Wen-
dung genommen; er war einziger Sohn geworden, durch den
Tod seines Vaters zum Besitz eines ansehnlichen Vermögens ge-
langt, und von seinen Klostergelübden losgesprochen.
Der Zufall will, dass eine Reise ihn zum zweitenmal durch
jene Stadt führt. Er kehrt in denselben Gasthof wieder ein, und
denkt an nichts weniger, als an die Folgen jener Nacht. Indess
liest er in den Blicken der Bewohner dieses Hauses Züge eines
mit Leid und Kummer belasteten Herzens. Er fragt nach der
Ursache, und hört mit Bestürzung aus dem Munde der Eltern,
den Erfolg jenes verliebten Äbentheuers. Unverzüglich eilt er in
das Kloster, welches die unschuldig Bässende verbirgt, findet sie
weit schöner im Leben als im vermeintlichen Tode, und wählt
sie mit Entzücken und freudiger Einwilligung der Eltern zu seiner
Gattin. —
Den von den Agnaten über diese Geschichte,, nach dem
Tode aller, die daran Theil hatten, erregten Process, kann man
bei dem oben angeführten Pitaval nachlesen.
Leider war es mir nicht möglich, den Band von Pitavals
Causes cel^bres zu bestimmen^), in welchem dieser Process
steht, es würden sich vielleicht noch mehr Übereinstim-
mungen mit Kleists Novelle zeigen, als nach diesem kurzen
Auszuge. So viel steht wohl fest, dass nicht Kleist die
Quelle für den Rechtsfall ist, ja mir scheint eine Spur bei
Kleist ein directer Beweis für seine Kenntniss der Pitaval-
sehen Fassung zu sein; er lässt nämlich seine Marquise
(bei Hempel 4, 109) sagen: ^Eher dass die Qräber befruchtet
werden, und sich dem Schoosse der Leichen eine
Geburt entwickeln wird!' glaube sie, als an die Mög-
lichkeit ihres Zustandes.
Mit unserer Erzählung stimmt bei Kleist gegen Mon-
taigne die Rettung der Personen, Auftreten der Eltern,
^) In den Bänden 1—22 (zum Theile der Nouvelle edition aug-
mentäe) A la Haye 1735—1746 fand ich wenigstens nichts Einschlägige^'.
486 Werner, Kleists Marquise von 0.
^Reue und Scham^ des Übelthäters, Zorn und Rache der
Eltern, nachdem sie die Tochter vergeblich mit Fragen ge-
quält; Verbannung ins Kloster, wohin der vornehme Mann
eilt, um sie zu erlangen. Mit Montaigne und gegen unsere
Geschichte stimmt, dass die Marquise Witwe ist, vor allem
aber die ^proclamation^ 'que qui seroit coesent [?] de ce
faict, en le advouant, eile promettait de le luy pardonner, et,
s'il le trouvoit bon, de Tespouser'. Auch in dem Vorgeben
der Mutter, Leopardo der Jäger habe sich gemeldet, könnte
man noch einen Rest der Anekdote sehen. Verschieden
ist in allen drei Quellen die Geschichte von den näheren
Umständen des Verbrechens, nur entfernt sich Kleist von
Montaigne und nähert sich Pitaval, indem der Held nicht
trunken, wenigstens nicht trunken von Wein ist, und in
gewissem Sinne beide Male der Heldin eben einen Liebes-
dienst erwiesen hat.
Möglich, dass Kleist beide Quellen, Montaigne und
Pitaval gekannt hat, oder dass ihm eine Darstellung vorlag,
welche die Eigenthümlichkeiten beider vereinigte. Bülow
(Leben und Briefe S. 43 f.) spricht von unserer Novelle,
^zu der ihm eine Novelle der bekannten französischen Schrift-
stellerin, Madame de Gomez, deren cent nouvelles nouvelles
er wahrscheinlich in Paris gelesen, die Veranlassung ge-
liehen hatte\ Und Bülow setzt hinzu : ^Ich entdeckte diese
Entlehnung des Stoffs bei meiner eigenen Lektüre der
Gomez; will aber hiemit keineswegs ausgesprochen haben,
dass sie Kleists Verdienst an dieser Dichtung 8ohmälere\
Julian Schmidt wiederholt in seiner Ausgabe von Kleists
Schriften (Berlin 1859 t, LVI) Bülows Vermuthung mit den
Worten: 'Für die Marquise von O** fand Kleist den Stoff
in den Cent nouvelles der Frau von Gomez, die er wahr-
scheinlich in Paris gelesen hatte. Es ist ein echt franzö-
sischer Stoff und erinnert an die liederlichsten Producte
jener Zeit\ Schmidt erweitert also Bülows Ansicht und
nennt direct die Cent nouvelles als Quellen, ja er charak-
terisirt den Stoff, ob aus eigener Kenntniss der Goroez oder
aus einem Rückschlüsse von Kleist, das ist nicht gesagt«
Vorsichtiger beruft sich Theophil Zolling in seiner Ausgabe
bei Kürschner (4, IV) auf Bülow, sogar mit einem starken
Werner, Kleists Marquise von 0. 487
Zweifel an der Richtigkeit dieser Ansicht; jedesfalls aber
hat er die Novelle der Frau von Gomez nicht gekannt.
Strenge genommen nennt aber Bülow gar nicht die
Cent nouvelles nouvelles, sondern nur die Frau von Gomez
als Kleists Quelle. Nun findet sich in ihrer Sammlung Los
Journees amüsantes, d^diees au Boi (Neuvi^me edition,
revue et corrig^e, Amsterdam M.D.CC.LXXVI und zwar im
7. Bd. S. 181— 209) eine Nouvelle Ezpagnole 'La Force du
sang\ in welcher sich Ähnlichkeit mit unserer Novelle zeigt;
aber diese Novelle wird von Silviane, einer Person der
Rahmenerzählung ausdrücklich 'une histoire' genannt^
welche Ar61ise, eine andere Figur der Rahmenerzählung
'a tir6e du fameux Michel Cervantes de Saavedra, et qu'elle
a traduite d'une maniere qui me paroit digne d'attention\
Es ist die Geschichte, welche sich in der Übersetzung von
Adelbert Keller und Friedrich Notter (Stuttgart t841
9, 102—130) unter dem Titel 'Die Macht des Bluts' findet.
Zolling sagt (S. lY), das Motiv sei in Wirklichkeit so alt
wie die Erzählungslitteratur überhaupt und schon oft be-
handelt worden. ^So werden in Cervantes': De la fuer^a
de la sangre ähnliche Verhältnisse, freilich massvoller, dar-
ge8tellt\ Rodolfo entführt Leocadia und thut ihr Gewalt
an, während sie ohnmächtig ist; sie sieht nicht, wer sich
an ihr versündigt. Der Knabe jedoch, dem sie das Leben
schenkt, führt die Erkennung mit der Familie seines un-
bekannten Yaters herbei, Rodolfo und Leocadia werden
schliesslich ein Paar. Man könnte den Schluss Cervantes*
und Kleists vergleichen, aber der Hinweis auf eine weitere
grosse Nachkommenschaft liegt zu nahe, wird auch von
Pitaval angedeutet, so dass man keine Consequenzen aus
dieser Ähnlichkeit ziehen darf.
Nun bedarf es aber dieser meiner Yermuthung gar
nicht, denn in den Cent Nouvelles Nouvelles findet sich
unsere Geschichte wirklich; Erich Schmidt schickte mir
freundlichst einen Auszug der betreffenden Novelle aus den
^Hundert Neuen Neuigkeiten, oder auserlesener Historien
Zehnter und letzter Theil. Aus dem Frantzösischen der
FRAU von Gometz ins deutsche übersetzt von P. G. v. K.
Berlin, zu finden bey Johann Andreas Rüdiger 1740^
488 Werner, Kleists Marqnise von 0.
(8. 108—161), welchen ihm A. v. Weilen 1883 besorgt
hatte (vgl. Koberstein 5, 126),*) In der mir vorliegenden
Ausgabe ^Les Cent Nouvellos Nouvelles, De Madame de
GOMEZ. A laHaye, Chez Pierre de Houdt. M. DCC. XXXIX.
steht im 19. Bde. S. 184—278 'L^Amant Rival et Confident
de Lui Mesme' als XCVII. Jfouvelle. (In der Übersetzung
8. 108 — 161 als 97. Historie 'Der Liebhaber, sein eigener
Nebenbuhler und Vertrauter'.)
Madame de Gomez beginnt nach ihrer Art mit der
Betrachtung, wie gut es wäre, wenn schon die Jugend die
Klugheit des Alters hätte; so aber strebe sie nur nach
Vergnügungen. Wenn die folgende Geschichte gut aus-
gehe, mögen die Leichtsinnigen nicht etwa folgern, man
dürfe sich seinen Wünschen hingeben.
Der reiche, ausgezeichnete, früh verwaiste Graf d'Helemont,
Gentilhomme Breton, gerät mit einem anderen Adeligen in Streit,
sie duelliren sich, der Gegner föllt. Als Gapuziner verkleidet
flieht der Graf, um sich eine Zeit vor den Nachstellungen der
Gerechtigkeit in einem Kloster zu verbergen. Aus Sorge um
seine Sicherheit reist er zu Fuss. Nachdem er schon ziemlich
weit gewandert war, beschliesst er in der Ortschaft 'nomm^ les
Trois Maris' Rast zu machen. Bei einem Hause, das eine 'Ferme'
schien, trifft er mit einem Bauern zusammen, eigentlich dem
'Fermier', der ihn bittet, bei der Tochter des Hauses, welche vor
kurzem gestorben war und am folgenden Tage begraben werden
sollte, die Leichenwache zu halten. Der Graf geht darauf ein
und wird nun in einen Saal geführt, wo die Leiche auf einem
Bette liegt. Er bleibt ganz allein, da sich der Fermier fürchtet;
nachdem er sich an Brod, Wein und Früchten gelabt, lockt es
ihn, die Leiche zu betrachten; er deckt das Tuch auf und erblickt
mit grosser Überraschung ein sechzehn- bis siebzehnjähriges
Mädchen von höchster Schönheit. 'La nature sembloit s*etre
diverlie ä rassembler pour eile tout ce qui peut rendre une beautä
parfaite'; er wird hingerissen, ihren marmorkalten Körper mit
einem Feuer zu umarmen, dessen Glutb er nicht zurückzudrängen
vermochte. Kaum aber hat er das Verbrechen begangen, über-
kommt ihn das Grauen vor seiner Thal, ihm ist es als erhebe
sich sogar die Todte um sich zu rächen; da flieht er voll Ent-
setzen aus dem Saale, dem Hause, und eilt Tag und Nacht bis
er im Gonvent de la Beaumete zu Angers anlangt, wo er endlich
>) Sein Citat Pfeiffers Germania 3, 204 bezieht sich auf die
Journ(^e8 amüsantes.
Werner, Kleists Marquise von O. 489
nach langen inneren Qualen dem Guardian ein umfassendes Ge-
ständniss macht.
Bald nachdem er die Todte verlassen hatte, war der Fermier
mit seiner Frau gekommen, nach ihm zu sehen; sie fanden ihn
nicht, hörten aber ein Seufzen vom Bette der Todten her. Auf
ihr Geschrei eilten die anderen Leute herbei, eine Freundin wagt
es zur Todten hinzutreten und sielit Silvie erwachen. Die Freude
der rasch herbeigeholten Mutter ist unbeschreiblich. Madame
de Sernant war die Witwe eines bretonischen Edelmannes und
stammte aus Anjou; Silvie war ihr einziges Kind. Für gewöhn-
lich wohnen sie in Angers und kehren nach Silviens Errettung
dahin von ihrem Landgute zurück. Zufälliger Weise sieht der
Graf d'Helemont die Mutter und die Tochter in der Kirche und
verliebt sich in die holde Jungfrau, ohne sie wiederzuerkennen.
Der Guardian selbst interessirt sich für die Verbindung, da ihm
der Graf gefallt, und macht den Freiwerber. Silvie ist Zuhörerin
bei dieser Unterredung und 'rougit beaucoup et se sentit exlre-
mement agit^ tant qu'il dura'. Sie liatte noch nie an eine Ver-
mählung gedacht, die Schilderungen des Guardians machen sie
auf den Grafen begierig. Als er nun am nächsten Tage er-
scheint, entzückt er durch seine Schönheit, seine Liebenswürdig-
keit und Bescheidenheit Mutter und Tochter. Er selbst aber
konnte in der wie Rosen und Lilien blühenden, schönen, frischen,
wohlgerundeten Silvie nicht die todte, bleiche, kalte, abgemagerte
Gestalt wieder erkennen, an die er so ungerne zurückdachte.
Während der nächsten Zeit gewinnt er das Herz Silviens und
wirbt um sie bei der Mutter, die ihn freundlich aufnimmt; die
Verlobung wird in Gegenwart des Guardians vollzogen, trotzdem
lässt die vorsichtige Mutter die Liebenden nicht einen Augenblick
allein. Nach zwei Monaten reinen Glückes wird d'Helemont von
seinen Verwandten und Freunden nach Rennes zurückgerufen,
um die letzten Formalitäten seiner Begnadigung zur erfüllen.
In Rennes wird er aber durch fast sieben Monate aufgehalten,
da er seine Verhältnisse ordnen muss, welchen er während seiner
Junggesellenzeit nicht genügend Aufmerksamkeit schenkte. Die
Briefe seiner Braut und des Guardians sind sein einziger Trost,
aber ihm kam vor, dass sie anfmgen seltener und verändert im
Tone zu werden. Er beschleunigt also seine Rückkehr so weit
nur möglich.
'Mais tandis qu'il y travailloit avec ardeur il se passoit d'^tranges
avantures chez Mad. de Sernant; il y avolt ä peu pr^s un mois
que le Comte 6toit parti, quand la belle Silvie se sentit tout ä
coup attaqu^ de maux d'estomac et de si fr^uens vomissemens
qu'elle en tomba dans une m^lancolie qui ne lui permettoit pas
de prendre aucun plaisir. Madame de Sernant attribua d'abord
ce changement de sant^ ä Tabsence du Comte, et ne negligea
rien de ce qui pouvoit la dissiper; Silvie qui avoit la m^me pens^e,
490 Werner, Kleists Marquise von 0.
et qui ne vouloit point afHiger sa mere, faisoit de son cöt^ ce
qui lui ^toit possible pour se contraindre ; mais enfin le mal vint
ä un tel point, que Madame de Sernant r^outant les accidens
qu'elle avoit essuy^s il y avoit quatre raois, appella son Chirurgien
de eonfiance, et le conjura d'examiner ce qui pouvoit produire
la mauvaise sant^ de sa (iUe. Get homme ne mit pas beaucoup
de tems ä la.d6couvrir son exp^rience et les questions qu'il fit
ä Silvie Ten instruisirent sufiisamment. Mais extr^mement surpris
qu^ on ]e fit venir pour une chose ä laquelle Madame de Sernant
devoit se connottre presque autant que lui, et jugeant par les
r^ponses de Silvie, qu^elle ignoroit ou feignoit d'ignorer son ^tat,
il crut qu'il y avoit du mystere dans cette affaire, et qu'il ne
devoit s'expliquer qu' ä la mere, ainsi s'^tant rendu pr^s d'elle et
Tayant tir^e ä part: Je m'6tonne, Madame, lui dit-il, que vous
ayez crü avoir besoin de mes connoissances sur des accidens qui
vous ont et6 assez familiers pour vous en souvenir, mais je me
flatte que s^achant la part que je prends ä ce qui vous regarde.
vous vous gtes servie de ce d^tour pour me mieux marquer votre
eonfiance, en m'apprenant par-lä que ]a charmante Silvie est
marine. Tout ce que je vois me fait juger que cet hyrae est
encore un secret; vous ne pouviez le mettre en des mains plus
fidelles; j'aurai toute Tattention possible k sa grossesse, mais
rassurez-vous, eile n'a que les maux qu'on doit avoir dans cette
Situation, et je puis m§me vous assurer d'une heureuse delivrance.
On peut ais^raent juger de la surprise de Madame de Sernant
k ce discours, la foudre tomb^ sur sa t^te ne lui eQt pas caus^
plus de trouble; mais en doutant point de la science d'un homme
qui passoit pour le plus habile de son si^le, eile prit son parti
sur le champ et renfermant dans son coeur son mortel d^sespoir:
11 est vrai, lui r6pondit-elle, que Silvie est mari^, et que j'avois
dessein de vous en confier le secret, mais eile a et^ si peu de
tems avec son epoux qu^elle ni moi ne Tavons point cru§ dans
r^tat que vous dites. Elle Test, Madame, interrompit-il , et de
prös de quatre mois. Gela est certain et vous pouvez ni'en croire;
puisque cela est ainsi, reprit Madame de Sernant, dans une agi-
tation qu'elle avoit une peine extreme k cacher, gardez lä-dessus
un secret inviolablc, je vous en conjure, c'est la chose du monde
la plus importante pour eile et pour son mari, vous les perdriez
Tun et Tautre si vous en parliez; je compte sur votre amitie, je
vous enverrai chercher quand vos soins lui seront necessaires.
Le Chirurgien lui promit d'ßtre discret, et Tayant pri^ de
ne le point 6pargner, la laissa en libert^ de refl^chir sur le Irait
fatal qu'il venoit de lui porter. Cette mere infortun^e fut pas
plOtöt seule qu'elle s'abandonna ä toute sa douleur, agit^ de
mille pens^es diff<6rentes, eile se promena long-tems a grands pas
dans son appartement sans sgavoir ce qu*elle faisoit, ce qu'elle
vouloit, ni ä quoi eile se d^termineroit, son deshonneurs, la con-
Werner, Kleists Marquise Ton O. 491
juncture dans laquelle il lui arrivoit, son amour, et sa confiance
dans la vertu de sa fiUe qu'elle voyoit si cruellement d^truite, et
le courroux qu'une pareille indignit^ excitoit dans son coenr,
lui donnoient de moment en moment des transports de frayeur,
qu'elle auroit poignard^ Silvie, si dans ces tristes instans eile se
füt Offerte ä ses regards. Cependant son ame fatigu6e de tant
d'agitations tomba insensiblement dans cet 6tat de langueur et
d'abattement qui suit ordinairement les passions trop vehementes ;
et plus capable alors de r^fl^xion, eile en üt de plus sens^es, et
jugeant qu'elle alloit se couvrir d'une honte 6ternelle, si la pru-
dence ne regloit la conduite qu'elle devoit tenir, et qu'un 6clat
acheveroit de perde sa fille sans apporter de remede ä sa faute:
eile se calma, et tournant toute sa fureur contre le seducteur de
son innocence, eile ne songea plus qu^aux moyens de le connoTtre,
et de le contraindre ä r^parer un si sanglant affront, persuad^
que ce ne pouvoit etre le Gomte d'Helemont, puisqu'il n'avoit en
nulle particularit^ avec sa fille, et qu'il n'y avoit aucune apparence
qu^un homme qui vouloit etre ^poux, eüt cherch^ Toccasion de
mesestimer celle dont il avoit dessein de faire sa femme; eile
resolut de prendre des mesures pour rompre poliment avec lui,
d^s qu'elle auroit s<^u de Silvie le nom de son amant.'
Nun lässt sie Silvien rufen.
*La charmante Silvie venoit de recevoir une lettre du Gomte,
eile y avoit fait r^ponse, et les tenoit Tune et Tautre ä sa main
pour les montrer ä Madame de Sernant, quand eile entra dans
son cabinet ; jamais eile n'avoit paru si belle aux yeux de sa mere ;
la n^gligence de son ajustement, que ne la rendoit que plus tou-
chante, la modestie dont ses charmes 4toient accompagnes, la
pudeur qui brilloit sur son visage, et la grace avec laqu'elle eile
pr^senta ses lettres k cette Mere affligee, la jetterent dans un
embarras qui ne seroit pas echappe ä Silvie si Madame de Ser-
nant n'eöt pris promptement ces papiei*s pour cacher son trouble
sous le voile de l'attention qu'elle paroissoit donner ä leur lecture/
Beim scheinbaren Lesen fasst sich die Mutter und wendet sich
endlich zu Silvie sie scharf üxirend: 'La conßance que vous me
t^moignez, lui dit-elle, auroit de quoi me plaire, si vous Taviez
rendue ^gale ä celle que j'ai toujours prise en vous; mais, Silvie,
vous y avez bien mal r^pondu, et vous vous etes licenti^e ä ces
choses, que je crains bien qui ne vous arrachent le coeur
d'Helemont; il est vrai que le mariage peut r^parer votre im-
prudence; mais il est si rare de voir un homme constant lors-
qu'il n'a plus rien ä d^irer, que je tremble que votre faute ne
vous fasse ^prouver un cruel changement. Malheureuse Silvie,
ajoute-t-elle, en laissant couler des larmes qu'elle ne put retenir;
le soins que j'ai pris de former votre ame ä la sagesse, et celui
que je me suis donn6 d'^clarcir toutes vos d^marches ; n'ont donc
pü vous garantir de tomber dans un d^reglement si contraire ä
492 Werner, Kleists Marquise von 0.
Topinion que j'avois de vous. Yous ne devez pas doubter que je
ne souhaite ardemment pour mon honeur et pour le vdtre, que
le Comte efTectue ses promesses malgr^ la foiblesse que vous
avez eue pour lui; je veux nieme m'en ilatter, mais, Süyie, je
ne vous en trouve pas moins coupable, et n'en suis pas moius
irrit^ contre vous.
LUnnocence ne s'allarnie pas ais^ment, et quoique les paroles
de Madame de Sernant parussent terribles a Silvie; comme el)e
n'avoil rien ä se reprocher, ej. qu'elle s^iraaginoit pouvoir detruire
ses soup<2ons, eile n'en fut 6niue que foiblement, et jettaut sur
eile des yeux remplis de tendresse: J'ignore, Madame, lui r^pondit-
eile, avec douleur, laquelle de mes actions a pü vous faire juger
si mal de ma conduite, je ne sqache pas m'dtre licenti^ ä rien
avec le Comte qui puisse vous offenser, ni m'attirer le reproche
sanglant que vous me faites. Ce n'est que par votre aveu que
j'ai suivi mon penehant pour d'Helemont. Ce n'est qu'en votre
pr^sence que je lui ai d^lar^ mes sentimens; je n* en ai jamais
re<2u de lettres, et n'y ai poinl fait de reponses sans vous les
montrer, eniin je ne me suis point ^art^e des vertueux principes
que vous m'avez donnes, et j'ose vous assOrer, que le Comte ne
changera jamais de sentimens, s'il n'en change que par ia
foiblesse dont vous soupqonnez. La candeur ^toit si bien peinte
sur le visage de cette belle fille, que sans la certitude oü ^toit
Madame de Sernant de son ^tat, il lui aui*oit 6i^ impossible de
douter de son innocence; mais prenant pour audace son assOrance
et sa fermet6, eile laissa un libre cours ä sa fureur, et par les
plus outrageantes invectives, eile lui fit connoltre le motif de son
courroux, que le Comte n'^toit pas celui qu'elle accusoit de sa
honte, et la mena^a de la tuer, si eile ne lui nommoit son in-
digne rival.
L'^tonnement de la triste Silvie est plus ais^ ä s'imaginer
qu'ä d^crire, et par instant de refl^xion sur les symptömes des
ses incommodit^ ne doutant point de la v^rit^, eile en fut ^pou-
vantee, mais eile n*en fut pas moins ferme ä soütenir son inno-
cence, et Temportement de sa mere lui donnant plus de douleur
que d'effroi, eile en sentit ranimer son courage, et lui d^ouvrant
son sein, eile la pria de se satisfaire si son sang pouvoit appaiser
sa colere, mais qu'elle la conjuroit d'etre persuadee quelle n'avoit
jamais donn^ lieu ä cet accident singulier; qu'elle n'avoit de sa
vie aim6 que le Comte d'Helemont, qu'il 6toit le seul homme
qu'elle n'eüt pas 6vit^, qu'il n'y en avoit pas ün dans le monde,
qui se püt vanter d'avoir ^t^ seul avec eile, et qu'elle ignoroit
absolument le tems, la cause et l'auteur de sa disgrace.
Toute la violence de Madame de Sernant ne l'empdchoit pas
d'^tre mere, l'action de Silvie la desarma, mais sans la d^tromper,
et ne se ßgurant pas qu'elle püt n'etre point coupable, eile crut
qu'elle joignoit la dissimulation ä l'impudence, et s'^tant exhal^
Werner, Kleists Marquise von 0. 493
en injureSy sans pouvoir tirer d^elle Taveu qu'elle en exigeoit;
eile la renvoya dans son apparteinent avec defense d'en sortir,
et comme eile 6toit mont^ ä ce degr6 de coUets, demanda le
Gardien, et pleine de son malheiir lui en fit le recit dans des
termes qui prouvoient 6galement son d^espoir et sa vertu.'
Der Guardian ist freilich sehr überrascht und vermag kaum
an die Wahrheit der Thatsache zu glauben, verspricht aber, die
Mutter in ihren Bemühungen zu unterstutzen, auch will er von
dem Mädchen den Namen des Verführers zu erfahren suchen.
Tendant ce tems la malheureuse Silvie abandonn^ ä eile-
m^me versoit un torrent de larmes. Sure de son innocence, eile
voyoit avec autant de surprise que de douleur, qu'elle ne pouvoit
plus §tre qu'un objet de m^pris pour le Comte, eile avoit trop
d'esprit pour blämer Tincr^ulit^ de sa mere, et pour ne pas
concevoir que ce qu'elle affirmoit, tout vrai qu'il 6toJt devoit
parottre apocriphe, puisqu'elle-m^me le trouvoit tel; ensorte que
ce qui faisoit la tranquillit^ de sa conscience, faisoit en m§me
tems le motif de son d^sespoir. Mais ce qui le portoit k Vexc^s
^toit la perte de Testime du seul homme pour qui son coeur
avoit ^t^ sensible, qu'on eüt Tindiscr^tion de lui d^couvrir son
infortune, ou qu'on prit un autre pr^texte, pour lui manquer de
parole ; eile voyoit de tous cöt^ qu'il seroit en droit de Taccuser
de perfidie et d'infid^lit^ ; eile se faisoit m§me un point de d^li-
catesse, de contribuer ä Tobliger de ne plus penser ä cet hymen,
n' 6tant plus digne de sa tendresse, et ne se sentant pas assez
hardie pour se montrer ä ses yeux apr^ une pareille avanture;
eile eüt cependant d^sir^ qu'il eüt connu le fond de son ame, et
qu'il fut instruit de son malheur tel qu*il 6toit en effet, afin qu'il
füt persuad^ de sa sagesse et de sa constance, et qu'il la plaignit
Sans Tonträger par des pens^ qu*elle ne m^ritoit pas. Mais
comme cet qu'elle souhaitoit ne s'accordoit en nulle fa^on avec
ce qui prouvoit le peu de soin qu'elle avoit eu de sa r^putation;
eile se sentoit k la fois p^n^tr^ de honte et de douleur/
Während sie sich so quält, erscheint der Guardian, der ihr
mit Strenge zuredet; ohne ihn zu unterbrechen hört Silvie zu,
aber dann erv^idert sie ihm 'avec respect; qu'elle n'ignoroit pas
ce que m^ritoit la faut dont on Taccusoit, et dont eile paroissoit
d'autant plus coupable, qu'elle n'avoit nulle preuve ä donner de
son innocence, que son innocence m6me. Qu'elle ne pouvoit
r^voquer en ^oute sa Situation; qu'elle n'avoit pas dessein non
plus de trancher du merveilleux, ni se mettre ä Tabri du cour-
roux de sa mere, en voulant faire croire Pimpossible, mais que
malgr^ toutes ces choses eile protestoit par ce qu'il y avoit de
plus Saint, qu'elle n'avoit nulle connaissance du principe de son
malheur.'
Auch der Guardian fasst diese Rede so auf wie Madame
de Sernant und verlässt das Mädchen mit Unwillen ; er warnt die
Viertayahnofarin fOr littentoitroschichte m B3
494 Werner, Kleists Mürqnise Ton 0.
Mutter vor irgend einer 'extr§mit^\ welche das Leben des noch
ungeborenen Wesens gefährden könnte, und verabredet mit ihr
das Benehmen gegenüber dem Grafen. Die Briefe sollten immer
seltener und im Tone veränderter werden, um den Bruch ein-
zuleiten.
Eine zweite Unterredung der Frau von Semant und ihrer
Tochter verlief nicht weniger beweglich als die erste; 'Silvie
r^pondit des larmes et parla toujours de meme\ Da sich nun
aber Silviens Zustand nicht mehr länger verbergen läftt, wird
die ehemalige Gouvernante Silviens, Valentine, ins Vertrauen
gezogen. Sie verspricht für das Kind zu sorgen, Silvie aber soll
den Rest ihrer Tage im Kloster verbringen.
Dem Grafen kommen die Briefe verdächtig vor und er eilt
daher nach Angers, wo er vom Guardian im Kloster zurück-
gehalten wird, damit er Niemanden sehe, bevor er die Wahrheit
wisse. D'Helemont lässt sich keine Vorreden gefallen, sondern
dringt auf den Kern. Da gesteht ihm der Guardian, dass Silvie lebe,
'mais eile n*est plus digne de vous', er habe einen Nebenbuhler,
den Silvie nicht nennen wolle. Der Graf ist erstarrt, er hört
schweigend zu, dann aber sagt er, dass man sich irre, dass es
nicht sein könne und dass ers nie glauben werde. 'Gette incre-
dulit6 surprit le Gardien', er verschweigt nun nichts mehr und
seine Rechtschaffenheit verbietet dem Grafen jeden Zweifel. Der
Graf wird von widerstreitenden Gefühlen gepeinigt und beschliesst
das Haus der Madame de Sernant zu bewachen, um den Neben-
buhler zu entlarven. Verkleidet begibt er sich dahin.
Die unglückliche Mutter hat sich eingeschlossen, Valentine
aber trifft alle nöthigen Vorbereitungen, um die Entbindung zu
verheimlichen. Sie hat einen ihrer Neffen bestellt, dass er das
neugeborene Kind in Empfang nehme; zufällig kommt nun gerade
d'Helemont in dem Momente zu dem Hause, da Valentine das
Kind herausbringt und, da sie ihn für ihren Neffen L^n hält,
übergibt sie ihm das Kind. Sein erstes Gefühl ist, das Kind
umzubringen, aber ein kläglicher Schrei entwaffnet ihn, er trägt
das Kind, einen Knaben, heim und lässt eine Amme kommen.
Unbegreiflich erscheint es ihm, dass er für das Kind seines
Nebenbuhlers ein zärtliches Gefühl hege, und so verbringt er
unruhig, gequält die Nacht und einen Theil des folgenden Tages.
Inzwischen ist Silvie dem Tode nahe und lässt ihre Mutter
zu sich bitten. Diese vergisst in ihrer Angst 'les sujets des
plaintes qu'elle croyoit avoir', und eilt zu Silvie, tröstet sie, ver-
zeiht ihr den Fehltritt; Silvie umarmt ihre Mutter, die sich in
Thränen badet, küsst ihr die Hand ^avec ardeur: Je jure Madame,
lui dit-elle, par le jour que j*ai re^u de vous, et que je vais
bientöt perdre, que je suis devenuS mere sans le s<^voir; faites-
moi la grace de me croire, ajoüta-t-elle, en se penchant dans
ses bras, et daignez ne pas faire tomber votre courroux sur rinno-
Werner, Kleists Marquise Yon 0. 495
Cent qui rae donne la mort ; il n^est point coupable, et je le suis
aussi peu que lui/ Diese Versicherung erregt neue Zweifel im
Herzen der Madame de Sernant, aber die Zärtlichkeit siegt und
sie befiehlt Valentine, dem Neffen die grösste Sorgfalt für das
Kind aufzutragen. Nun stellt sich heraus, dass L^n einen Theil
der Nacht vergebens gewartet hatte und schliesslich fortgegangen
war. Die verzweifelte Valentine eilt zum Guardian, dass er für sie
vorbitte. Zufällig trifft sie mit dem Grafen zusammen, der sie
für eine Mitwisserin des ganzen Geheimnisses hält und von ihr
Näheres über Lton, seinen muthmasslichen Nebenbuhler, erfahren
will. Valentine beschwört Silviens Unschuld, sie habe sie stets
von der Geburt bis zum Tode bewacht; dies gibt Anlass von
jenem Schein tode zu berichten. Dringend erkundigt sich der
Graf nach den näheren Umständen und erfährt alles. 'Grand
Dieu! s'ecria le Comte avec transports, innocente Silvie! Quels
biens pourront r^parer les maux que je vous ai causez
La bonne Valentine surprise d^un si prompt changement, et de
le voir comme un homme ^perdu, ne s^avoit que faire et que
r^pondre'; aber er lässt ihr keine Zeit zu überlegen, 'venez, con-
dujsez-moi, je ne puis §tre tranquille que je n^aye vü Silvie', ohne
umzusehen läuft er zu Madame de Sernant.
Diese hatte sich eben in ihre Gemächer begeben, da Silvie
eingeschlafen war ; 'eile 6toit assise dans un fauteüil, r^vant pro-
fondement ä toute cette extraordinaire avanture, quand eile entendit
quelqu'un qui s'avanQoit pr^s d'elle, en marchant ä grand pas:
fäch^ de ce qu'on laissoit entrer le monde sans Tannoncer; eile
se levoit pour sqavoir qui c'6toit; lorsque le Comte s*offrit ä ses
r^gards, et fut plütöt ä ses pieds qu'elle n'eut quitt4 sa place.
Que vois-je, s*6cria-t-elle, malheureux d'Helemont, que venez-vous
chercher ici?
Le pardon de mon crime, lui r^pondit-il, en lui embrassant
les genoux. Oüi, Madame, ajoüta-t-il, Silvie est innocente, et je
suis le plus coupable de tous les hommes: Quoi, Comte, lui dlt
Madame de Sernant, en le regardant avec ^tonnement; seroit-il
possible que vous eussiez abus6 de mes bontez, et si cela est,
comment justifierez-vous Silvie; car enfm, continua-t-elle , ce
discours et vos transports ne m'apprennent que trop que vous
SQavez le sujet de mes pleurs.' Nun deutet er sein Verbrechen
an, da umarmt ihn Madame de Sernant mit den Worten: '0!
Mon fils, venez rendre la vie ä celle de qui vous r^tablissez
rhonneur'.
Er bittet, Silvie vor der Hochzeit nicht aufzuklären, und sie
beschliessen, der Guardian solle Silvien mittheilen 'que sa mere,
le Comte et lui, sqavoient son innocence, qu'ils lui rendoient
justice; et que pour lui prouver cette verit6, d'Helemont seroit
son ^poux d^s qu'elle auroit quitt6 le lit, et qu'il la trouvoit plus
digne que jamais d'^ive sa femme\ Das geschieht, aber Silvie
33*
496 Werner, Kleists Marqniee von 0.
m
erwidert: *Mon Pere, je reqois la joye que vous me donnez, avec
au tan t de confiance que de reconnoissance pour vos bontez. Je
ne veux point p^netrer le motif de la justice que me rendent des
personnes si cheres, mais trop heureuse que ma mere et le-
Comte me s<;achent digne de leur tendresse; je n' exige point
du dernier qu'il remplisse ses promesses. Je s^ai que je ne
suis point coupable, mais je ne puis cesser de T^tre ä sesyeux;
plus i] me rend justice, et plus je vois avoir soin de sa gloire;
toute innocente que je suis, je n'en suis pas moins deshonoree;
et je ne desire d^sormais que la plus austere retraite pour y passer
le reste de mes jours.'
Schliesslich wird Silvie vom Grafen und ihrer Mutter über-
redet und willigt in die Verbindung. Sobald sie hergestellt ist,
wird die Hochzeit mit grosser Pracht gefeiert, und bei der Gere-
monie, durch welche ihrem Sohne sein Recht wird, erfährt *la
belle Silvie, devenue Gonitesse d'Helemont, T^tonnante avanture
qui Ten avoit rendue la mere/
Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass Kleist
seiner Yorgängerin Madame de Gomez nicht bloss den Stoff
im allgemeinen, sondern eine ganze Reihe von Details dankt.
Die hervorgehobenen Stellen zeigen die grösste Ähnlichkeit
mit den betreffenden Partien der Eleistischen Erzählung.
Und doch bemerken wir Unterschiede, welche Beachtung
verdienen. Vor allem ist Kleists Marquise eine Witwe^
die zur Entdeckung des Vaters durch eine Zeitungsannonce
zu gelangen sucht; dieser Zug verräth den Einfluss Mon-
taignes, während Kleists Erzählung der näheren Umstände,
welche das Unglück herbeiführten, sowohl von der Oomez
und von Pitaval, als von Montaigne abweicht, dafür aber,
worauf Franz Muncker in der Allgemeinen Zeitung 1884
S. 153 aufmerksam gemacht hat, mit einer Novelle von
Caroline v. Ludecus (Amalia Berg) viel Ähnlichkeit hat;
in dieser ^Begebenheit aus dem französischen Revolutions-
kriege' wird 'Amalie' von Liencourt, einem Soldaten, bei
dem Überfall eines Städtchens in der Dunkelheit überwäl-
tigt und entehrt. Sie wird aber erst nachher ohnmächtig,
so dass das Wesentliche der Kleistischen Novelle 'Wi'^ ihrer
bisher erwähnten Quellen, die unbewusste Empfangniss, bei
der Ludecus fehlt.
Nun bezeichnete Kleist im Phöbus (Goedeke 3, 50)
seine Novelle als 'nach einer wahren Begebenheit' verfasst,
Werner, Kleists Marquise von 0. 497
'deren Schauplatz vom Norden nach dem Süden verlegt
w^orden'. Wir dürfen daran erinnern, weil v^rir, worauf mich
gleichfalls Erich Schmidt aufmerksam machte, in einem
Briefe Otto Ludwigs an Tieck (bei Holtei, Briefe an Ludwig
Tieck 2, 281 f.) vom 30. August 1844 eine Spur unserer
Geschichte für den 'Norden' nachweisen können. Ludwig
legt eine Novelle bei, welche er schon 'mehren Buchhänd-
lern^ vergeblich angeboten hatte, obwohl er kein Honorar
verlangte. Er bittet Tieck um ein Urtheil, da er zu ihm
mehr Vertrauen habe, als zu seiner eigenen Kunst; er sagt
von der Novelle : 'Sie ist aus der Anekdote von dem reichen
jungen Yoigtländer Leinwandhändler entstanden, den die
Wirthstochter, in dem Gemache, durch welches er in das
seine geführt wird, scheintodt aufgebahrt, zur Leidenschaft
und zu dem unnatürlichen Vergehen lockt, zufolge dessen
er, wie er nach Jahren hier wieder einkehrt, die Begraben-
geglaubte als Mutter wiederfindet, die den Vater ihres
Kindes nicht zu nennen weiss.' Ludwig meint, es werde
'jährlich so manches noch Unvollkommenere gedruckt', doch
ist seine Novelle verschollen ; jedesfalls kannte er 1844 die
Kleistische Novelle noch nicht und es ist mehr als wahr-
scheinlich, dass ihn Tieck, welcher 1846 Kleists Werke
herausgab, auf die Ähnlichkeit mit der Marquise von O'*"''
aufmerksam machte und dadurch den Druck verhinderte.
Ein späterer dramatischer Entwurf Ludwigs 'das Wirths-
haus am Rhein' hat nach Heydrichs dürftigen Andeutungen
nichts mit dem Stoffe zu schaffen.
Ferner sei eine Scene erwähnt, welche Kleist gekannt
haben muss. William Lovell schreibt an Rosa in Tiecks
Roman (Schriften 7, 154 ff.) über seinen Anschlag auf
Amalia, bei welchem ihm die Blainville hilft. Feuer kommt
aus, er rettet Amalia. 'Ich stand in Amaliens Zimmer, sie
lag ohne Besinnung auf einem Sopha. Ich drückte sie an
meine Brust, meine Arme umschlossen ihren zarten Körper
und so trug ich sie die Leiter hinab und legte sie auf eine
Rasenstelle unter den Bäumen nieder ich hielt sie
für todt und umarmte sie noch einmal . . . dann stand ich
auf und eilte fort, — sie rief mir etwas nach, ich habe es
nicht verstanden.' Ein Sohn wird geboren, aber von Mor-
498 Werner, Kleists Marquise von 0.
timer, dem Gemahl Amaliens, anerkannt, ^man kann nicht
errathen, ob eine Frucht jener Nacht', wie sich Menzel
(3, 295) ausdrückt ; vielleicht zeigt also die Originalausgabe
des Lovell noch grössere Übereinstimmung mit Kleists No-
velle, mir ist sie leider nicht zugänglich.
Auch einer Erzählung Heinrich Zschokkes, auf die mich
Alexander von Weilen freundlichst hinweist, ^Tantchen
Bosmarin oder Alles verkehrt' muss man gedenken. Sie
erschien zuerst in den Erheiterungen 1812 (vgl. Ooedeke
3, 670) und behandelt ein ähnliches Thema in komischer
Absicht.
Tantchen Rosmarin erzieht ihre Nichte Suschen in grösster
Zurückgezogenheit; da nun das 'Kind' im achtzehnten Lebens-
jahre steht und mit ihrer Tante zu einer Hochzeit geladen wird,
scheint es nothwendig, auf die Gefahren, welche in der Welt die
Unschuld bedrohen, aufmerksam zu machen. Suschen aber ahnt
gar nicht, was Unschuld sei. Während des Tanzes entzückt sie
durch ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit alle jungen Herren
von Waiblingen , sie selbst wird von der neuen ungeahnten
Wonne hingerissen, durch ein rasch geleertes Glas Punsch schwind-
licht und deshalb von ihrem Tänzer in ein einsames Neben-
zimmer geleitet; dort verführt er sie, die nichts Schlimmes darin
sieht. Nun wird sie bald nach der Hochzeit unwohl, der herbei-
rufene Arzt erkennt ihren Zustand und das unschuldige Suschen
antwortet auf die entrüstete Mittheilung der Tante ganz naiv:
'es ist mir doch beinahe selbst so vorgekommen! Doch wusste
ich*s nicht gewiss'. Aber sie sieht nichts Besonderes dahinter.
Nun wird nach den näheren Umständen gefragt, Suschen hat
keine Ahnung, wer ihr Verführer war. Bald stellt es sich heraus,
der Schuldige sei der junge Baron Pompejus von Malzen, welcher
inzwischen eine Reise nach Italien angetreten hat. Da er Sus-
chens Unschuld für einen raflinirten BublerinnenknifT hält, will
er nichts von ihr wissen, aber Tante Rosmarin beginnt einen
Process, der gegen den Baron entschieden wird. Pompejus muss
nach dem Urtheil des Gerichtes Suschen heiraten und soll sich
gleich darauf von ihr scheiden lassen. Suschen hat unterdessen
einem Knaben das Leben geschenkt. Erst vor der Vermählung
sieht Pompejus Suschen wieder und verliebt sich rasend in seine
Gemahlin, von welcher er doch sogleich wieder geschieden werden
soll. Im weiteren Verlaufe der Erzählung finden sich die Gatten,
nur Tantchen Rosmarin will nichts von der Verbindung wissen;
da entführt der Baron seine Frau und sein Kind, schliesslich ver-
söhnt er auch Tantchen Rosmarin. Der Witz, um den sich
Zschokkes Erzählung eigentlich dreht, ist schon im zweiten Titel
Werner, Kleists Marquise Ton 0. 499
angedeutet und wird von dem ordnungsliebenden Tantchen im
32. Kapite] in die Worte gefasst : ^Alles verkehrte Welt ! Erst
Kindtaufe, dann Hochzeit, dann Liebschaft . . . dann Entfuhrung . . .
und das niusste meinem Hause widerfahren!'
In Zschokkes Darstellung wirkt natürlich die gewagte
Yoraussetzung des Ganzen noch abstossender. Der para-
doxe Gedanke, welchen Zschokke eine Figur seiner No-
velle, den Pfarrer aussprechen lässt (1 1. Kapitel), es gebe
manche Sünde, welche ein sonnenheller Zeuge der wahren
Unschuld sei, kann zwar nicht bestritten werden, aber die
Unschuld des naiven Suschens grenzt doch zu stark an
Dummheit, als dass wir ruhig darüber wegkämen.
Gewisse Züge zeigen Ähnlichkeit mit Kleists Novelle,
so vor allem der schon hervorgehobene Widerspruch zwi-
schen der vorausgesetzten Unerfahrenheit Suschens in allen
sexuellen Dingen und der Eröffnung über ihren Zustand
nach dem Besuche des Arztes. Was im Munde der ver-
witweten Marquise ganz begründet ist, das wird bei Sus-
chen geradezu unmöglich. Wir sind daher versucht, hierin
einen Beweis für den Einfluss Kleists auf Zschokke zu ent-
decken. Wenn bei Zschokke der Baron seinen Edelsinn
dadurch zeigt, dass er sein ganzes Vermögen im Falle der
Scheidung seiner Frau und seinem Sohne vermacht, so er-
innert auch dies an eine Wendung bei Kleist. Die tiefe
Reue des Übelthäters wird bei Zschokke wie bei Kleist
viel starker betont als etwa bei Frau von Gomez.
Fraglich ist nur, ob Zschokke für seine Novelle die-
selbe Quelle benutzte, wie Kleist für die seine ; man könnte
wegen der breiten Yerwerthung eines Processes vermuthen,
dass Zschokke von jenem Streitfall in Pitavals Gauses
celibres Kenntniss gehabt habe, welchen die oben mit-
getheilte Notiz erwähnt. Möglich, dass schon während des
Schweizer Beisammenseins zwischen Kleist und Zschokke
die Rede wie auf den 'Zerbrochenen Krug' auch auf den
Novellenstoff kam, obwohl wir nichts darüber erfahren ; das
Zusammentreffen ist jedesfalls so auffallend, dass man einen
tieferen Grund dafür suchen möchte.
Bekommt der Stoff bei Zschokke eine heitere Wen-
dung, so läuft die 'Sonderbare Geschichte' Kleists, welche
500 Werner, Tagendprobe.
Theophil Zolling in der 'Gegenwart' 1884 Bd. 26 Nr. 44
S. 283 f. zum ersten Male drucken liess und mit unserer
Novelle verglich, gar auf einen Scherz hinaus. Sie trifft
aber nur in einzelnen kleineren Motiven mit der ^Marquise
von O . • . .' zusammen.
Mnncker erinnert auch an den Brief von Heinrich Yoss,
welcher am 31. Januar 1807 Qoethe eine seltsame Krank-
heitserscheinung aus Heidelberg mittheilt (Goethejahrbuch
5, 60 ff.) : die Braut eines Heidelberger Professors wird von
einem ähnlichen Unfall betroffen wie die Marquise von O*'^.
Man könnte noch einen Fall erwähnen, welchen Hieronymus
Cardanus in seinem Werke 'De Rerum Yarietate' lib. XYI,
cap. XCni (Dämones, et mortui) erzählt (Ausgabe Lvgdvni
M.DC.LXm. 3,323):
In Marrea regione, vti ex his qui rem hanc conspexerant,
accepimus: nuper puella nobilis, formosäque auersata coniugium,
inuenta est praegnans. Parentes cum stupratorem quaererent,
fassa est puella nocte di^ue secum formosissimum cubare ado-
lescentem, quem vnde venire! non sciret. Uli tametsi parum
fidei response adhiberent, tercio die, indice ancilla, cognoscentes
illum adesse, cum taedis ac facibus subito ingrediuntur reseratis
foribus: horrendümque monstrum et supra humanam fidem lern-
bile, in complexibus filiae conspicantur.
Es ist ein ^daemon incubus\ Die Anekdote zeigt, wie
weit verbreitet der Stoff gewesen sein muss.
Zur Quellenfrage vergleiche man noch Bartsch in den
Grenzboten 1884 S. 464.
Lemberg. Richard Maria Werner.
Tugendprobe.
Warnatsch hat im Anschluss an die Mantelsage auf
eine Reihe von Eeuschheitsproben hingewiesen, denen ich
auch die nachfolgende Männerprobe anfügen möchte, obwohl
ihr das Motiv der Yeränderlichkeit des bei der Probe ver-
wendeten Gegenstandes fehlt und ein Witz die Entscheidung
gibt. Johann Jacob Schudt erzählt in seinem ^Compendium
Historiae ludaicae' (Francofurti ad Mcenum 1700 S. 220 f.):
Tille, Enlenspiegels Grab. 501
'AHenus ab impiis et profanis ejusmodi nugis — er berich-
tete über die Unzucht beim Purim — erat Jacobus I. Magnae
Britanniae Rex, cujus Bachanalia memorabilia sunt, ea
Martin.-Zeilerus in der Epistel. Schatzkammer Cent. 3. Epist.
3. f. m. 220 describit: Ich hab, inquit, in dess Doctors,
dessen in voriger Epistel gedacht worden, geschriebener
Reiss - Verzeichnüss von Engelland gelesen, dass jetzt höchst-
gedachter König Jacob, im ersten Jahr seiner königlichen
Regierung in Engelland, als seine Vornehmste Herren, an
der Fassnacht, von allerhand Übungen, die sie sonsten zu
solcher Zeit vorzunehmen pflegten, berathschlagten , drey
Sessel und zwey Leuchter, mit brennenden Lichtern, und
beynebens auch die H. Bibel zubringen; und als man es
gebracht, die Bibel in den mittern, die Leuchter aber in
die zween äusserste Sessel zu setzen, solle befohlen haben.
Als dieses geschehen, seye er daraufF niedergekniet, habe
die Bibel auffgethan, und ein Capitel darauss gelesen; und
die umbstehende Herren also angeredt: Ich schwöre zu
OOtt, dass ich die gantze Zeit meines Lebens nie zu thun
gehabt mit einigem Weibsbild , noch selbiges angerührt,
ausser meine Gemahlin, die Königin. Wann nun einer
unter euch ist, der dieses auch von sich sagen kan, der
komme herbey, und thue das, was ich gethan habe. Aber
es sey, sagt der erwehnte Doctor, auss allen keiner, der
sich dessen hätte unterstehen dörffen, gewesen. Welches
dann der König für seine beste Fassnacht gehalten habe.'
Eine andere Fassung erzählt Stranitzky in seiner OUa-
potrida (vgl. meine Ausgabe Wiener Neudrucke 10 S. 353 f.)
nach einem mir unbekannten Gewährsmann.
Lemberg. Richard Maria Werner.
Eulenspiegels Grab.
In Martin Zeillers 'Itinerarium Germaniae', Strassburg
1674 bei Paulli 1, 369 finde ich folgende Bemerkung über
Eulenspiegels Grab:
St. Mollen, 6 m. welches Städtlein der Stadt Lübeck gehörig
ist, allda der berühmmte Eulenspiegel, so Anno 1350 gestorben.
502 Geiger, Wirkung einer Leasiogftchen Correctur.
begraben liegt, dessen monument so neulich renovirt worden,
zusehen. Die GrabschrifTt lautet also:
An diesem Ort ward dieser Stein auffgehaben,
Darunder liegt Eulenspiegel begraben,
Gedenck daran,
Der du thust füruber gähn
Dann auff dieser Erden,
Du mir auch kanst gleich werden.
Es ist ein Eyl, und ein Spiegel auff beyden Ecken des Steins
daraufT gehauen.
Wo Zeiller gelehrte Quellen benutzt, nennt er sie
stets in der Randbemerkung. Hierbei findet sich keine
solche. Es ist also zu vermuthen, dass er das Grab
selbst sah.
Leipzig. Alexander Tille.
Wirkung einer Lessingsclien Correctur.
Gelegentlich habe ich nachgewiesen (Zeitschrift f.
deutsches Alterth. u. deutsche Litt. 22,30 t), dass die Aus-
stellungen, welche Lessing an zeitgenössischen Dramen
machte, die Verfasser später zu Yerbesserungen veranlassten.
Auch Heufeld gehört zu diesen Folgsamen. Er war von
Lessing getadelt worden (Hamburger Dramaturgie St. 8),
dass er in seinem Lustspiel seinen Helden aus St. Preux
in Siegmund umgetauft habe; in der von mir benutzten
Ausgabe (o. 0. u. J. 64 SS. in 16), in welcher übrigens
auch die von Lessing erwähnte Vorrede fehlt, nennt er ihn
wieder: St. Preux. Lessing sagt (St. 9): 'Hr. Heufeld ver-
langt, dass, wenn Julie von ihrer Mutter aufgehoben wird,
sich in ihrem Gesichte Blut zeigen solF; in der von mir
benutzten Ausgabe (S. 37) ist dies Verlangen nicht gestellt.
Die vorhergehenden Worte Lessings, dass Heufeld eine
ganze Scene der Schilderung der Härte des Vaters gegen
die Tochter widme, sind nicht genau; es sind nur wenige
Worte am Schlüsse einer Scene, in welcher der Vater
(Baron Adelberg) mit seiner Gemahlin spricht. In der
darauffolgenden Scene, die Lessing für die 'hervorragendste
Suphan, Zu den Blättern von deutscher Art und Kunst. 503
des ganzen Stückes^ erklärt, ist namentlich der Umstand
sehr merkwürdig, dass der Vater die Tochter auf die ver-
schlimmerte Vermögenslage Weimars, des ihr versprochenen
Bräutigams, hinweist und in dieser Veränderung einen Ehren-
grund sieht, die alte Verbindung aufrecht zu erhalten.
Dieser, wie so mancher andere Zug, welche dem Stücke
seinen Titel: ^Wettstreit der Pflicht und Liebe' mit Recht
geben, sind in dem Inhaltsverzeichniss, das Schröter und
Thiele in ihrer fleissigen Ausgabe der Dramaturgie (t, 49
Anm. 12) gegeben haben, ausgelassen; auch Eduards sehr
bedeutsame Bolle (Act II Sc. 1. 2 und Act III Sc. 9) kommt
hier nicht zu ihrem Recht; von dem Selbstmord, den
St. Preux versucht, wird gar nicht gesprochen.
Berlin. Ludwig Geiger.
Zu den Blättern ^Y on Deutscher Art und Kunst\
Das erste Stück der ^Fliegenden Blätter', welche ^Ham-
burg, 1773 bey Bode' mit dem Maiblumenstengel auf dem
Titelblatt herauskamen, ist Herders ^Auszug aus einem
Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker'. Im
fünften Briefe schildert Herder, wie ihm auf seiner Meer-
fahrt (1769) die Welt der nordischen Dichtung, Edda,
Ossian, aufgegangen ist. Es ist eine lange, prächtig hin-
fluthende Tirade.
. . . mitten im Schauspiel einer ganz andern, lebenden und
webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend,
täglich mit denselben endlosen Elementen umgeben, und dann
und wann nur auf eine neue ferne Küste, auf eine neue Wolke,
auf eine ideale Weltgegend merkend — nun die Lieder und
Thaten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit
erfüllet, an den Orten, da sie geschahen — hier die Klippen
Olaus vorbei, von denen so viele Wundergeschichte ^) lauten —
dort dem Eilande gegenüber, das jene Zauberose, mit ihren
vier mächtigen Sternebestirnten Stieren abpflügte, 'das Meer schlug,
wie Platzregen, in die Lüfte empor, und wo sich, ihren schweren
*) Die starke Pluralform ist die gewöhnlicbe bei Qe^der in
dieser Zeit.
504 Supban, Zn den Blättern von deutscher Art und Kunst.
Pflug ziehend, die Stiere wandten, glänzten 8 Sterne vor ihrem
Haupte', über dem Sandlande hin, wo vormals Skalden und
Vikinge mit Schwerdt und Liede auf ihren Rossen des Erdegürtels
(Schiffen) das Meer durchwandellen .... glauben Sie, da lassen
sich Skalden und Barden anders lesen als neben dem Katheder
des Professors.
Der Originaldruck, nach welchem (8. 19 f.) die Stelle
hier gegeben ist, macht dem Heraasgeber keine Ehre.
Überall muss man vor Fehlern auf der Hut sein, der Ver-
fasser hat keine Correctur gelesen. Auch in dem vor-
stehenden Satze befindet sich ein bis jetzt ungeheilter
Schaden. Das unverstandliche Wort 'Zauberose' blieb
stehen im ersten Cottaschen Yulgattext von Herders Werken
^Zur schönen Litteratur und Kunst' Band 8, 16 (1807, Heraus-
geber Joh. Y. Müller), der zweite Druck (1828, Band 7,21)
veränderte es in ^Zauberrose'. Dabei haben die spätem
Herausgeber sich beruhigt, so Heinrich Kurz in Herders
Ausgewählten Werken (Hildburghausen 1871) Band 2, 16
und Wollheim da Fonseca in der Hempelschen Ausgabe
Band 5, 353. ^Zauberose' gibt keinen Sinn, ^Zauberrose'
ist unsinnig. Die Berichtigung liegt nicht fem, und sie
muss sich einem jeden ergeben, der sich die Mühe nimmt,
in der jungem Edda die citirte Stelle (Ghylfa ginning, An-
fang) nachzuschlagen. Ich kann mit der Correctur zugleich
eine Probe davon geben, wie jene kleine, aber folgenreiche
Schrift Herders aus einem emsig gesammelten Material
erwachsen ist. In seinen Edda-CoUectaneen (die ein be-
* trächtliches Stück seiner in Strassburg begonnenen ger-
manistischen Studien, bilden) lautet die Stelle aus ^Gylfis
Verblendung' so:
Gylf, König von Schweden, gibt einer Vettel, die ihn mit
Gesänge sehr ergetzt, zum Lohn in seinem Königreich so viel
Acker, als Tag und Nacht 4 Stiere umpflügen können. Sie war
aber eine Ase, Gefiona, und pflügt ihm mit 4 Stieren, die sie
aus Nordland bringt. Söhnen eines Centauren und ihr^), so tiefe
Furchen, dass sie die Insel Seeland ihm vom Reich abpflügte.
Davon ein Bragas Lied.
Geflone zog vom Gylfe, mit Golde beschenkt, vergnügt
eine Vermehrung Dännemarks ab, und das mit solcher Gewalt,
') Resenius: 'illa vero adduxit ex Borealibas Jotunbeimis tauros
quatuor, qui erant Centauri cuiusdam (d. i. eines Jotunen) et ipsius filii*.
Leitzmann, Zu Qoethes Briefen an Frau Yon Stein. 505
das um die Pfluggespannten Ochsen das Meer, wie der
stärkste Platzregen in die Lüfte emporschlug, und
wo diese Stiere, ihre grosse Last ziehend, wandelten, trug sie
ihre 8 Sterne vor der Stirn.
Seinen Übersetzungsversuch hat Herder neben den aus
dem Resenius (Edda Islandorum) abgeschriebenen Text von
Bragis Lied gestellt. Die Stellen, an denen er, lediglich
auf Resenius' Übersetzung in lateinischen Hexametern an-
gewiesen, den Sinn verfehlt hat, habe ich durch Sperrung
bezeichnet. Zu den acht ^Sternen^ hat ihn das 'frontes
litnas octo portarunt' verführt. Unbegreiflich bleibt ^der
stärkste Platzregen\ Resenius gibt: ^per fractas aequoris
undas\ Simrocks Übersetzung lautet:
Gefion nahm von Gylfi fröhlich dem goldreichen.
Die rennenden Rinder rauchten, den Zuwachs Dänmarks.
Vier Häupter, acht Augen hatten die Ochsen
Die das Erdstück schleppten zu dem schönen Eiland. —
Herder schrieb also : ^jene Zauberase' oder, seiner Ge-
wohnheit nach, die Theile des Compositums ohne Binde-
zeichen nahe zusammenrückend 'Zauber Ase'. A und a
sind in seiner Schrift oft nicht zu unterscheiden.
Weimar. Bernhard Suphan.
Zu Goethes Briefen an Frau von Stein.
Am 14. August 1780 achreibt Qoethe an Frau von
Stein: 'Diesen Mittag hab ich einen Gast, kann also nicht
kommen mit meinem besten zu essen' (^ 1, 261; Briefe 4,
269, 21 Weimarische Ausgabe). Fielitz bemerkt dazu (^ 1,
472): ^Das Tagebuch nennt als Gäste in diesen Tagen
Schröder und Gotter\ Gemeint ist aber Leisewitz, der in
seinem Tagebuch unter dem 14. August 1780 berichtet:
^Zu Goethen .... wir speisten in einem Zimmer '
(Eutschera, Leisewitz S. 42; jetzt wiederabgedruckt in
Biedermann, Goethes Gespräche 1, 64).
Halle. Albert Leitzmann.
506 Leitzmann, Zu 'Schiller und Lotte*.
Zu 'Sehiller and Lotte'.
Lotte schreibt an Schiller am 22. December 1789:
'Eben habe ich den Aufsatz über die Leckereien von
Forster geendigt' (2, 217). Pielitz bemerkt dazu (Anm. 1):
'Vielleicht das Manuscript des 1792 erschienenen Werks:
Bergius, über die Leckereyon. Aus dem Schwedischen
mit Anmerkungen von D. Joh. Reinh. Forster und D. Kurt
Sprengel, 2 Thle. Halle. Der Weltumsegler J. R. Forster
war den Schwestern in Lauchstedt und Halle bekannt ge-
worden'. Diese Erklärung trifft das Richtige nicht : Lettens
Lektüre war Georg Forsters in Lichtenbergs Göttinger
Taschenkalender für 1789 erschienener Aufsatz: 'Über
Leckereien' (Sämmtl. Schriften 5, 173 der Ausgabe von
1843). Entstanden ist dieser Aufsatz allerdings im An-
scbluss an jenes Bergiussohe Buch , denn am 7. August
1788 schreibt Förster an Sommering: ^Im Taschenkalender
habe ich etwas über Leckereien geschrieben; Lichtenberg
schickte mir nämlich das schwedische Buch des Bergius,
om Läckerheter, mit Bitte etwas daraus auszuziehen;
allein ich fand nichts, was mir für den Kalender tauglich
schien, daher schwadronirte ich etwas daher, und indul-
gebam genio meo, d. h. ich habe zum Scherz etwas Para-
doxes gesagt; nur ist es für den Kalender zu ernsthaft
philosophisch, und die meisten werden es nicht verstehen'
(Forster - Sömmerings Briefwechsel S. 522). Vgl. femer
Forsters Briefwechsel 1 , 686. 706 ; Forster - Sömmerings
Briefwechsel S. 515.
Halle. Albert Leitzmann.
Ein Brief Schillers an Cotta.
Gräfin Fernanda v. Pappenheim, die mitten im geistigen
und künstlerischen Leben ihrer süddeutschen Heimat stand,
hat durch persönlichen Yerkehr mit Dichtem, Denkern,
Elias, Ein Brief Schillers an Cotta. 507
Malern eine grosse Zahl von litterarischen Zeugnissen em-
pfangen und in einem Album vereinigt.^) Nach ihrem Tode
(1880) gingen die kostbaren Manuscripte in den Besitz des
Qrafen Albrecht v. Pappenheim über, der sie mir, auf die
Fürsprache des Studienlehrers Dr. Thomas Stangl (München),
zur Benutzung übergeben hat. Ich lege daraus nachfolgen-
des Blatt hier Yor.
Weimar I.Juni 1804.
Da das llluminiren die Zeichnungen so sehr vertheuert, so
denke ich dass wir es für disses Jahr mit sechs Bildern gut
seyn lassen, auch die Landschaften und das Titelkupfer weg
lassen.
Die Zeichnungen nähmen wir alle aus dem Teil, die andern
aus meinen übrigen Stücken heben wir fürs nächste Jahr auf,
so braucht man dann nichts neues zu erfinden. Es ist auch
nicht nöthig, dass alle Exemplare des Teil mit illuminirten Kupfern
verkauft werden, man lässt dem Käufer die Wahl und ein
Exemplar mit illuminirten Kupfern kann 12 groschen mehr kosten,
als eins ohne Kupfer. Das wäre mein unmaassgeblicher Rath,
doch will ich Ihnen keineswegs etwas vorschreiben.
Hier neues Manuscript; die erste Sendung haben Sie wie
ich hoffe erhalten.
Hier auch noch eine Kleinigkeit zum Damen Calender.
Herzlich umarme ich Sie mein Werthester Freund.
Ganz der Ihrige Seh. verte
. Dieses Schreiben, durchgängig von Schillers eigener Hand,
2 SS. kl. 8^ ist der von W.Vollmer S. 512 Anm. 3 als ver-
loren bezeichnete Brief, zu dem Nr. 428 des Briefwechsels
zwischen Schiller und Cotta als Anhang gehört ; das 'verte^
weist auf einen solchen Nachtrag hin. Dichter und Ver-
leger setzten sich damals über den Druck und die Aus-
stattung des ^Teir auseinander. Schiller will das Drama
als ^Neujahrsgeschenk auf 1805^ herausgeben, nach dem
Muster der ^Jungfrau von Orleans' und der 'Natürlichen
Tochter' (an Cotta 3. Januar und 29. März) ; zur Verzierung
des Almanachs verlangt er zunächst nur 'schweizerische
Gegenden' ; doch in einem Briefe vom 22. Mai wünscht er
neben den Landschaften M2 Costümes' aus seinen Schau-
spielen und an der Spitze des Qanzen eine Scene aus dem
*) Über das Wirken der edlen Frau vgl. Brix Förster, Das Leben
Eiumn Försters in ihren Briefen, Berlin 1889.
508 Seuffert, Nachtrag zu Pfeiffer, Klingers Faust.
'Teil' : 'dazu würde ich die wählen', schreibt er, 'wenn Teil
geschossen hat und der Knabe mit dem Apfel, darinn der
Pfeil steckt, in seine Arme gesprungen kommt'. Die
'Costümes' soll der Zeichner und Kupferstecher G. M. Kraus,
die Landschaften Schillers Freund Reinhart (seit 1789 in
Rom) und das Titelkupfer der Geschichtsmaler P. F.
von Ketsch liefern. So war beschlossen worden, ehe der
vorstehende Brief vom 1 . Juni beim Verleger eintraf. Cotta
geht (am 12. Juni) auf den neuen Yorschlag gern ein. Er
will drei Ausgaben des Taschenbuchs veranstalten: die
erste mit sechs, die zweite mit einem Kupfer und die dritte
ohne jede Zier. Schiller räth indessen die Hauptausgabe
mit drei 'illuminirten Kupfern zu schmücken und den an-
dern Editionen entweder gar keine oder nicht illuminirte
Bilder zu geben' (27. Juni). Cotta ist damit einverstanden :
am 12. October darf er nach Weimar berichten, dass der
'Teil' nunmehr in alle Welt gehen könne. Kraus* steife
Buntkupfer stellen dar: Teil mit der Armbrust und dem
'zweiten Pfeil', den Schwur und Gessler, einen rothwangigen
Tyrannen.
Die 'Kleinigkeit', die Schiller zum Taschenbuch für
Damen (1805) beisteuerte, war der 'Jüngling am Bache'
aus dem 'Parasiten'. Schon am 29. März hatte er ein
'Scherflein' versprochen und später (22. Mai) das 'Berglied'
geschickt (vgl. Briefwechsel S. 515 Anm. t).
München. Julius Elias.
Nachtrag zu Pfeiffer, Elingers Faust.
M. Bernays- Carlsruhe macht mich aufmerksam, dass
PfeiiFer die 1. Anmerkung S. 150 in seiner Untersuchung
über Klingers Faust (Würzburg 1890) 'genau nach seinen
Äusserungen' niedergeschrieben habe und gewiss auch hier
seinen Namen genannt hätte, wenn Pfeiffer diesen Bogen
selbst hätte in Druck bringen können. — Ich konnte dies
aus Pfeiffers Papieren nicht ersehen, sonst hätte ich selbst-
verständlich Bernays' Urheberschaft gewahrt. Sfft.
Witkowski, Piutor-Amor und So ist der Held. 509
Tastor-Amor' und 'So ist der Held, der mir
gefSUt'.
Gelegentlich der Erklärung des Goetheschen Liedes
'So ist der Held, der mir gefallt' führte Seuffert (Zeitschrift
f. deutsch. Alterth. u. deutsche Litt. 26,261) als Hauptzeug-
niss für Wielands feindselige Stellung zu den Anakreontikem
dessen Artikel in der Erfurter gelehrten Zeitung an, worin
Michaelis, daneben auch Gleim und Jacobi befehdet werden.
Eine Untersuchung des Anlasses dieses Angriffs wird fest-
stellen, ob er mit Recht als ein Beweis für ein dauerndes
Zerwürfniss zwischen Wieland und den Anakreontikem an-
gesehen werden kann. Die Sache verlangt es, ziemlich
weit auszuholen. —
Sein ganzes Leben lang besass Gleim die Geschick-
lichkeit, überall, wo er weilte, einen Kreis von Freunden
um sich zu sammeln, sie zu dichterischer Production anzu-
regen und seine Eigenart auf sie zu übertragen. So war
es schon in Halle, wo Götz und Uz in Gemeinschaft mit
ihm wetteifernd nach dem Kranze des deutschen Anakreons
strebten, so war es in noch höherem Masse in Berlin,
nachdem Gleim dorthin übergesiedelt war. !Neben Männern,
die schon früher als Dichter aufgetreten waren, wie Pyra
und Naumann, schlössen sich ihm die Officiere Kleist,
Menzel, Adler, der junge Sulzer, der Mathematiker Maass,
der Theologe Spalding an.
Spalding kam gegen Ende des Jahres 1745 als Secretär
des schwedischen Gesandten nach Berlin und ward fünf
Monate später mit Gleim bekannt. Wie stark er sich von
diesem angezogen fühlte, ersieht man aus dem ersten er-
haltenen Briefe (9. Mai 1 746 , Briefe von Herrn Spalding
an Herrn Gleim. Prankfurth und Leipzig 1771 S. 1), den
er an Gleim richtete, und in dem er erklärte, dass die fünf
Tage, da er Gleim nicht gesehen, ihm so lang dünkten,
als die fünf Monate, die er in Berlin zugebracht, ehe er so
glücklich geworden, jenen kennen zu lernen. Nur wenig
Viorteljahischrift fOr Littoratunfoscbichte III 34
510 Witkowski, Pastor-Amor und So ist der Held.
über ein Jahr währte das Zusammenleben beider. 1747
wurde Gleim als Secretär des Domcapitels nach Halberstadt
berufen und Spalding kehrte in das väterliche Haus nach
Triebsees zurück. Es entspann sich zwischen ihnen ein
Briefwechsel, der, wenn auch nicht sehr eifrig gepflegt,
doch bis ins Jahr 1763 fortwährte. Die Briefe Spaldings
zeigen diesen, zumal in den ersten Jahren, als völligen
Nachahmer der Gleimschen Manier. Breite Geschwätzigkeit,
süssliche Schilderung alltäglicher Situationen, leeres Ge-
tändel von Mädchen und Amors füllen sie, sogar anakreon-
tische Verse sind, damit kein typischer Zug dieser Art
fehle, eingestreut (a. a. O. S. 3 f.). Am 8. März 1749 schreibt
Spalding: 'Sie sind in Halberstadt nicht vergnügt. Gewiss
fehlet Ihnen nichts als ein Mädchen. Nehmen Sie sich
denn doch ein Mädchen!' Am 15. Juni 1749: 'Ich bin in
des Grafen von Bohlen Hause, und mein Geschäft ist, des
Tages eine Stunde eine artige Comtesse zum Abendmahl
vorzubereiten. Warum ich das Beywort dazu gesetzt, weiss
ich gar nicht. Es ist, wo ich nicht sehr irre, ein Flickwort,
das hier ganz nicht zur Sache gehört.' Noch am 5. Februar
1751 will er sein Mädchen auf seinem Schosse Gleiras
Lieder singen lassen. Wie innig das Yerhältniss blieb,
sieht man daraus, dass 1750 Gleim für Spalding eine Be-
rufung als Consistorialrath nach Halberstadt erwirkte, die
dieser aber ablehnte, angeblich weil er glaubte, den An-
forderungen der Stellung nicht gewachsen zu sein.
Allmählich werden die Briefe seltener. Nach dem vor-
letzten Spaldings vom 31. Januar 1757 tritt eine Pause von
mehr als sechs Jahren in der Correspondenz ein, bis Gleim
sie noch einmal aufnimmt und Spalding sie am 21. September
1763 beschliesst. Das Jahr darnach ward Spalding, der
bis dahin Prediger in verschiedenen pommerschen Städten
gewesen w^ar, als Oberconsistorialrath , Probst und erster
Prediger an der Nikolaikirche nach Berlin berufen. Ob
nach dieser Zeit noch irgend welche Beziehungen zwischen
Gleim und Spalding bestanden, lässt sich nicht feststellen:
wahrscheinlich hat das freundschaftliche Verhältniss Spal-
dings zu den Schweizern (1763 weilten Lavater, Heinrich
Füssli und Felix Hess eine Zeit lang bei ihm) erkältend
Witkowski, Pastor- Amor und So ist der Held. 511
auf die Freundschaft mit Qleim und das Urtheil über dessen
Dichtung eingewirkt.
Im Jahre 1771 gab Gleim die von Spalding an ihn
gerichteten Briefe mit Ausnahme des letzten heraus. Es
wäre ein zweckloses Bemühen, nach Gründen für diese
Handlung zu suchen; denn ^es war überhaupt eine so all-
gemeine Offenheit unter den Menschen, dass man mit keinem
Einzelnen sprechen, oder an ihn schreiben konnte, ohne es
zugleich als an Mehrere gerichtet zu betrachten' (Dichtung
und Wahrheit XIII); zahlreiche Veröffentlichungen von
Briefen Lebender geben den thatsächlichen Beweis dafür.
Schon 1746 hatte Gleim die 'Freundschaftlichen Briefe'
herausgegeben, und viele andere waren ihm ohne Bedenken
darin nachgefolgt. Dass durchaus keine böse Absicht
Gleims vorlag, zeigt schon der Umstand, dass er im fol-
genden Jahre auch die an ihn gerichteten Briefe des Con-
sistorialraths Boysen, mit dem er eng befreundet war,
veröffentlichte.
In einem 'Vorbericht' suchte Gleim die Herausgabe der
Spaldingbriefe zu begründen: 'Der Herausgeber gegen-
wärtiger Briefe war, vor vielen Jahren schon, mit Herrn
Klopstock und Herrn Gleim, zusammen in einer Gesellschaft,
in welcher gewünschet wurde, dass Herr Gleim seinen ge-
lehrten Briefwechsel herausgeben möchte. Herr Klopstock
trat diesem "Wunsche bey! — Meine Freunde leben aber
noch, sagte Herr Gleim, würden sie's erlauben? — Man
muss sie nicht fragen, sagte Herr Klopstock! Von
den gegenwärtigen Briefen eines grossen Mannes gerieth
eine Kopie in des Herausgebers Hände, jenes Gespräch
fiel ihm ein, und er hatte mcht das mindeste Bedenken,
nach jenen Regeln sie zum Drucke zu befördern.' *)
Aus den oben gegebenen Andeutungen über den Inhalt
und Ton der Briefe Spaldings geht hervor, dass ihm die
*) Dass Glcini hier einen fremden Herausgeber fingert, besagt gar
nichts, eben «o wenig wie der angebliche Druckort 'Frankfui-t und
Leipzig'. Wir wissen, dass ein Halberstädter Buchhändler auf der
Leipziger Messe die Briefe vertrieb, und ausserdeft hat Gleim seine
Urheberschaft nie bestritten.
34*
512 Witkowski, Pastor- Amor und So ist der Held.
Veröffentlichung derselben in seiner gegenwärtigen hohen
kirchlichen Stellung überaus unangenehm sein musste.
In der That Hess er unmittelbar nach Beginn der Oster-
messe 1771, in der die Briefe erschienen, in eine ganze
Anzahl von Zeitungen eine Erklärung giegen Gleim ein-
rücken, datirt vom 6. Mai. Er gab zuerst seinem Erstaunen
über das Erscheinen dieser 'gedruckten Bogen' Ausdruck:
er begriffe nichts von der Absicht, warum unbedeutende
Dinge dieser Art, die für das Publicum so durchaus ohne
Nutzen wären, der allgemeinen Eenntniss und Beurtheiiung
preisgegeben würden; wenigstens sei er sich keiner Belei-
digung gegen irgendjemand bewusst, die eine solche Rache
verdient hätte. Indessen möge man nur beachten, dass diese
Briefe vor zwanzig Jahren und ^unter dem unverletzlichen
Schirm derdamaligen genauesten Vertraulichkeit' geschrieben
seien. *Alsdann hoffe ich', fahrt er fort, 'wird diess Urtheil
schwerlich härter und beschämender werden können, als
dasjenige, welches ich längst schon selbst wider mich ge-
sprochen habe. Wenn die späte Hervorziehung der Un-
schicklichkeiten, die zum Theil in diesen Briefen vorkommen,
ohne Zweifel eben nur durch den auffallenden Kontrast
derselben mit meinen jetzigen Umständen, ihre stärkste und
unangenehmste Wirkung thut, so muss ich mich einer
solchen Demüthigung geduldig unterwerfen, um desto völ-
liger dafür zu büssen, dass ich ehemals so schwach gewesen,
mich, wider meinen natürlichen Character, auf einige Zeit
und gegen einige Personen, mit in einen gewissen, für leb-
haft und geistreich gehaltenen Ton der läppischen Tändeley
hinein ziehen zu lassen.' Für den Schaden, den die Ver-
öffentlichung verursache, sei er nicht verantwortlich. Gute
Menschen möchten entscheiden, was für Begriffe von Billig-
keit und Ehre dergleichen Bekanntmachungen voraussetzen
müssten. Ausser dieser scharfen Erklärung Hess Spalding
noch als Beilage zu den Briefen seinen letzten Brief an
Gleim, den dieser nicht in die Sammlung aufgenommen
hatte, in Zürich besonders drucken. Derselbe war in einem
warmen, aber überaus würdigen, ernsten Tone geschrieben,
und sollte offenbar die Wandlung, die in dem Schreiber
vorgegangen war, veranschaulichen.
Witkowski, Pastor- Amor und So ist der Held. 513
Gleim ward durch die unerwartete Erwiderung sehr
erschreckt. Er war sich in seiner Harmlosigkeit keiner
Schuld bewusst, er konnte in den Briefen nichts Anstössigcs
entdecken, ihm erschien der Angriff Spaldings als völlig
ungerechtfertigt, als ein Erzeugniss überspannten Theologen-
dünkels. Er sprach seine Ansicht in dem Gedicht 'An die
Musen^ (Werke hg. v. Körte 2, 5 ff.) aus :
.... Und meine Leier tönet dann,
Dass es die Schäfer hören.
Die Schäfer kommen auch heran, ....
Und horchen Scherz, und dann und wann
Mitunter gute Lehren.
Das aber will der Pfarrer nicht,
Von meiner Leier leiden;
Macht ihr ein ernstes Amtsgesicht,
Und schilt auf meine Freuden,
Und nennt mich einen bösen Wicht,
Und einen argen Heiden.
Und darum pocht auf euren Schutz,
Ihr Musen, meine Leier,
Und bietet ihren Feinden Trutz,
Und allem Ungeheuer;
Ich aber still bei meinem Uz
Sing' ihm das Abenteuer:
Dass eine Taube sich verkroch
Vor einem Priesterkragen ....
Diese Verse veröffentlichte Gleim erst 1772, als der
Sturm, den er, ohne es zu wollen, erregt hatte, vorüber-
gebraust war, in einem Sonderdruck; zunächst verkroch er
sich ängstlich vor dem 'Priesterkragen'.
Aber ein anderer Kämpe trat für ihn auf den Plan.
Johann Benjamin Michaelis hatte während seiner Studien-
zeit, von Noth getrieben, seine ersten Gedichte heraus-
gegeben, die ein nicht unbedeutendes, besonders satirisches
Talent verriethen und schnell Beachtung fanden. Durch
Oeser wurde er mit Gleim bekannt und dieser nahm ihn,
nachdem er sich als Journalist und Theaterdichter, letzteres
auf Lessings Empfehlung , kurze Zeit versucht hatte , un-
mittelbar bevor der Streit mit Spalding ausbrach, bei sich
auf. Michaelis bezog in Halberstadt das Zimmer, welches
bis dahin Johann Georg Jacobi bewohnt hatte. Es war
514 Witkowski, Pastor- Amor und So ist der Held.
mit Abbildungen und Statuen, die Amoretten darstellten,
ausgestattet^) und diese Verzierungen boten der Phantasie
Michaelis' eine willkommene Anregung.^) In einer aus
Prosa und Versen gemischten Epistel 'An den Herrn Ca-
nonicus Jacobi in Düsseldorf, aus Seiner Studierstube in
Halberstadt (Halberstadt, bey Johann Heinrich Gros 1771)%
datirt vom 25. Juni 1771, schildert er, wie er sammt seiner
Hypochondrie und seinem Satyr Jacobis Amors in die
Schule genommen habe, um aus ihnen Satyrn zu machen.
Der eine soll die alten Liebhaber verspotten, der andere
die Ungetreuen züchtigen, der dritte, der 'Busenjuvenar
soll das Strafamt bei den Busen haben.
Du aber, Ausbund aller Tücke,
Mit Überschlag, Muff, Mantel und Perücke,
Herr Pastor- Amor sprich, was Übertrag ich Dir?
Ein halber Erdkrays wird vor deiner Geyssel zittern!
Es sey ! — Ich schicke Dich mit ihr
Zu kargen Vätern, scheelen Müttern:
Und allenfalls, wenn wir ihn nicht erbittern,
Zu manchem Kritiker — der Herr erlaube mir —
Wie Du, voll nichts, und doch voll Füttern,
Wie Du, halb Pfau, halb Murmelthier.
Mit diesen Versen redete Michaelis einen kleinen
wächsernen Amor im Priesterhabite an, der sich ebenfalls
in Jacobis Zimmer befand, ohne vorläufig weiter die Idee
mit dem Pastor- Amor auszubeuten.
Aber einen Monat später, am 31. Juli, richtete er eine
zweite Epistel ^An den Herrn Canonicus Gleim. Inliegend
einige satyrische Yersuche von unsers Jacobi Amorn\ die
in demselben Verlage wie die vorige, ebenfalls besonders
gedruckt, erschien. Die Erfindung von den zu Satyrn um-
gebildeten Amoretten ist darin wieder aufgenommen. Zuerst
wendet sich der 'Busenjuvenal' gegen die 'buhlerische Cloe'
') Michaelis nennt: L'enfant qui joue avec Tamour nach van Dyk,
den Amor von Coypel, TAmour porte par les Graces nach Boucher,
und eine kleine Wachsstatuette, von der weiter unten die Rede
sein wird.
*) Es sei daran erinnert, dass die Anakreontiker, in Nachahmung
der griechischen Lyrik, es ausserordentlich liebten, an Werke der bil-
denden Kunst ihre Dichtungen anzulehnen.
WiikowHki, Pastor-Amor und So ist der Held. 515
in einem nach Form und Inhalt ausgezeichneten Gedicht.
Von den buhlerischen Mädchen kommt Michaelis auf eine
andere Art 'Unverschämter' männlichen Geschlechts, auf
die Journalisten, die er unablässig mit der Geissei seines
Spottes und einem unersättlichen Hasse verfolgte. Mit
Kecht hielt ihm ein Becensent (Chr. H. Schmid im Alma-
nach der deutschen Musen 1772 S. t40) vor, dass er ja
selbst eine Zeit lang diesem geschmähten Stande angehört
habe. Gegen die Journalisten schleudert Pastor -Amor
seinen Exorcismus. Gleim als ein geistlicher Herr von
zwei Stiftern soll erklären, ob er ihn für kräftig genug
halte. Er beginnt:
Fahr aus, unsaubrer Geisl!
Entfleuch diesen Fingern, welche dir dienen!
Nebst allem Kritikakel von ihnen,
Das dich Vater heisst!
Mit Entrüstung führt Michaelis ferner die Anekdote
aus den 'Briefen über das Mönchswesen' (von La Roche,
1771) an, dass ein gewisser B. auf einer lutherischen Hoch-
schule sich erfrecht habe, Gessners Idyllen zu verbrennen.
Auch über ihn ruft Pastor- Amor sein Anathema aus:
Der du meinen Heiligen verbrannt!
Sünder, aus dem Grabe wachse dir die Hand !
Kubach reite deine Seele
Nach des Orkus Schwefelhöhle!
Mit fleischendem Zahn
Grinse der blinde Ziska dich an!
Zinzcndorf und Herrnhuts ganzes Chor
Heule, deinem angepflöckten Ohr,
Ewig seinen zwölften Liederanhang vor!
Wenn aber dieser Herr niemals unter den Lutheranern
existirt hätte, dann würden es die Herren Katholiken nicht
übel nehmen, wenn er Unwahrheit mit Unwahrheit ver-
gälte und seinen toleranteren Glaubensgenossen zur Ehre
folgende Absolution seines Pastor- Amors unter dem Namen
eines Paters von ihrer Kirche verkaufte.
Die Absolution, welche so viel Entrüstung hervorrief,
lautet folgendermassen:
Gleim.
Ehrwürdger Herr! Nach Ainmtsgebrauch
Woll er mich Beichte hören!
516 Witkowski, Pastor-Amor und So ist der Held.
Pastor -Amor.
Vom Herzen gern! — Nur dass sich auch
Der Herr Poet bekehren!
Gleim.
Manch schönes Trink- und Liebsgedicht
Schrieb ich in vorgen Tagen — —
Pastor-Amor.
Das weiss ich; und Er schämt sich nicht,
Die Augen aufzuschlagen?
Gleim.
Warum? Ich sang den Menschen Muth
Und Freude. That ich übel?
Pastor -Amor.
Zähnklappen für die Höllenbrut!
So wollens Ich und Bibel!
Gleim.
Wahrhaftig? — Gleichwohl lobte mich
Ein Theil von Seinem Orden!
Pastor -Amor.
Noch warens Prediger, wie ich;
Nun sind sie Pröbste worden!
Gleim.
Drum bitt' ich ihn, ders noch nicht ist,
Mir Armen, der in Gram zerfliesst.
Mit Ablass beyzustehen!
Pastor-Amor.
Bloss, dass er einsieht, wie bereit
Ihm au£h ein künftger Probst verzeiht
Ein Ach — so solis geschehen!
Gleim.
Ach! dass von mir denn in die Welt,
Seit mich mein Ammt im Zügel hält,
So wenig Lieder kamen! —
Paslor-Amor.
Verzeihs Ihm Gott! — hier ist sein Geld! —
Er geht verlohren ! — Amen ! —
Es war für jeden, der die Ereignisse der zeitgenössischen
Litteratur mit einiger Aufmerksamkeit verfolgte, leicht zu
erkennen, gegen wen sich die, übrigens recht ungeschickte
Satire dieses Gedichts wendete. Die gesperrt gedruckten
Stellen, die allerdings im Originaldruck nicht besonders
hervorgehoben sind, wiesen zu deutlich auf den Berliner
Probst hin, das Gedicht kam ferner aus Halberstadt, aus
Witkowski, Pastor-Amor und So ist der Held. 517
Gleinis unmittelbarer Umgebung, von einem Manne, der
unter seinem Schutze stand, — was Wunder, dass man den
unedlen Angriff Gleim zuschrieb, mindestens annahm, dass
er keinen Widerspruch dagegen erhoben habe? Auch Jacobi
schien im Bunde zu sein. Einem von seinen Amors war
die Rolle des Sprechers zugetheilt; man konnte also voraus-
setzen, dass er seine Zustimmung gegeben habe. Aber in
Wahrheit hatten Gleim und Jacobi gar keinen Antheil an
der übel gerathenen Satire ; sie entstammte einzig und allein
der galligen Laune von Michaelis, welcher begierig die
Gelegenheit ergriffen hatte, seine krankhafte Hypochondrie,
der er noch vor Ablauf eines Jahres erlag, an Spalding
auszulassen, vielleicht auch Gleim damit einen Gefallen zu
erzeigen meinte.
Doch noch Ernsteres als eine Beleidigung des allgemein
verehrten Spalding lag vor: eines der Sacramente der
christlichen Religion war zum Gegenstand des Scherzes
gemacht worden. Die leichte Dichtung hatte es bisher
ängstlich vermieden, irgend einen directen Angriff auf
Gegenstände des Glaubens zu richten. Gleim hatte wohl
in seinen ersten Gedichten manches scharfe Wort gegen
heuchlerische Priester gerichtet, auch Jacobi hatte an meh-
reren Stellen den klösterlichen Zwang verspottet (Werke
1770 1,127 ff. 183; 2, 154 ff. 162), Wieland war erst vor
kurzem in seinen ^Beyträgen zur geheimen Geschichte des
menschlichen Verstandes und Herzens' mit seinem Abul-
faouaris den Heuchlern strafend entgegengetreten. Aber
keiner griff vor Michaelis die Religion oder einen ihrer
Vertreter in einem bestimmten Punkte an; alle hatten sich
darauf beschränkt, Laster und Gebrechen, die in den
Mängeln des Charakters oder in äusseren Institutionen be-
ruhten, zu brandmarken. Die Dichter erkannten viel zu
gut, was für sie auf dem Spiele stand, wenn sie zu dem
mächtigen religiösen Gefühl der deutschen Lesewelt in
Widerspruch traten, als dass sie sich dieser Gefahr aus-
gesetzt hätten. Der Grundsatz 'die Religion muss uns
immer in ihren Handlungen zu feyerlich seyn, als dass wir
sie in unsere Scherze einflechten dürften', den Klotzens
Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften (6, 533)
518 Witkowski, Pastor- Amor und So ist der Held.
bei einer Besprechung von Michaelis' Epistel aussprach,
galt allgemein.
Am meisten wurde Wieland durch die Erscheinung des
'Pastor-Amor' verletzt. Zwar beherrschte ihn nicht mehr
jener zelotische Eifer, mit dem er einst in dem ^Schreiben
von der Würde und Bestimmung eines schönen Geistes', in
den 'Sympathieen' die leichte Dichtung angefeindet und sie
in den ^Empfindungen eines Christen' sogar der geistlichen
Gerichtsbarkeit denuncirt hatte; aber er fühlte, dass er
mitgetroffen wurde, wenn ein Dichter aus dem Kreise, der
ihm am nächsten stand, von der öffentlichen Meinung als
Frevler an dem Heiligsten verurtheilt wurde. Er musste
um so empfindlicher in diesem Punkte sein, da er an der
katholischen Universität Erfurt misstrauisch als Freigeist
betrachtet wurde, und er musste offen zu solchen Aus-
schreitungen seiner bekannten Freunde Stellung nehmen,
wenn sie ihm nicht die Gönner in der Mainzer Regierung
abwendig machen sollten. Daher der Zorn, in dessen Auf-
Wallung er gegen jede Gemeinschaft mit dem Ubelthäter
kräftigen Widerspruch einlegte und seine Freunde aufs
dringendste eben dazu aufforderte.
Am 6. September 1771 schrieb er an Gleim (Aus-
gewählte Briefe 3, 71 ff.): '. . . Ums Himmels Willen, lieb-
ster Gleim, hören Sie einmal auf, durch Ihre unbegränzte
Gutherzigkeit jedes Insekt des Parnasses zu autorisiren,
sich vor den Augen der Welt Ihren Freund zu nennen,
und eine Vertraulichkeit mit Ihnen zu affectiren, welche Sic
für alle Sottisen dieser Witzlinge responsabel macht. . . .
Das Wenigste, mein bester Gleim, was Sie sich selbst und
dem Publice und denjenigen von Ihren Freunden, welche
mehr Ehre zu verlieren haben, als Herr ** [wohl Michaelis],
schuldig sind, ist, den Menschen fortzujagen, und der ganzen
Welt zu avisiren, dass Sie es gethan haben, und warum
Sie es gethan haben. Seitdem ich mir eine Ehre daraus
gemacht habe, der jetzigen Welt und der Nachwelt zu sagen,
dass ich Gleims und Jacobis Freund bin, seitdem ist die
Wuth, sich öffentlich zu Freunden meiner Freunde zu
kreiren, in alle avortons du Pamasse gefahren. . . . Dem
Herrn Michaelis rathe ich, sich in Acht zu nehmen.
Witkowski, Pastor-Amor und So ist der Held. 519
und mich nicht zu reizen, dass ich ihn nicht ecrasiren
helfe.'
Eine zweite und öffentliche Entladung des Wielandschen
Argers über 'den bübischen Muthwillen dieses Cynikers'
erfolgte in einer Recension , welche das 37. Stück der Er-
furter gelehrten Zeitung 1771 brachte. 'Wir zeigen diese
Broschüre nur an\ heisst es darin, 'um unser Missfallen und
unsern Ekel an dem Missbrauch, den Hr. Michaelis von
seinen schönen Talenten macht, öffentlich zu bezeugen.'
Gleim und Jacobi müssten über den leichtsinnigen Ton des
Scherzes, der solche Dinge treffe, über welche kein Mensch,
der nur den mindesten Anspruch an Sitten oder an die
Achtung seiner Mitbürger mache, zu spotten fähig sei, den-
selben Yerdruss und Widerwillen wie alle ehrliebenden
Leute empfinden. Er könne den Herrn Qleim und Jacobi
nur den wohlgemeinten Rath geben, gegen die After-
freunde sich künftig besser zu verwahren, durch die sie
in Händel und Tracasserien verwickelt würden, die ihrem
schätzbaren Charakter in den Augen der Welt ein zweifel-
haftes Licht gäben. Es sei kein Ruhm so gross und so
wohlbefestigt, der nicht endlich durch solche Freunde zer-
stört werden könnte. ^Ein Mensch, der so wenig Diskrezion
hat, nicht zu fühlen, dass man die Ehre, an die Freund-
schaft eines Gleim oder Jacobi Anspruch zu machen, vorher
verdient haben muss, che man sich ihrer anmasst, ist gewiss
nicht derjenige, der dieser Ehre jemals würdig seyn wird.'
Durch diese Erklärung wurden im Grunde genommen
Gleim und Jacobi nicht minder getroffen, als Michaelis selbst.
Denn es leuchtete durch alle die Lobsprüche, die Wieland
ihnen spendete, doch der Vorwurf der stillschweigenden
Duldung von Michaelis' Vorgehen hindurch, der gegen den
klugen, noch dazu weit entfernten Jacobi sicher, gegen den
harmlosen und gutmüthigen Gleim höchst wahrscheinlich
ungerechtfertigt war. Jacobi hatte sogleich, ebenso wie
Wieland, das Bedenkliche der Satire erkannt. Unmittelbar
nach Empfang derselben, am 16. August 1771, richtete er
an Michaelis ein öffentliches Schreiben, in dem er diesem
zwar für die 'ganz eigenthümliche , den Deutschen bisher
unbekannte Laune', die in seinen Versen herrsche, An-
520 Witkowski, Pastor-Amor und So ist der Held.
erkennung aussprach; aber sich unbedingt gegen den Ver-
dacht, als habe er an der ^Absolution' den geringsten An-
theil, verwahrte. Er bat, ihn 'keiner albernen Gravität'
und noch weniger irgend einer Heuchelei filhig zu halten;
allein es müsse ihm am Herzen liegen, dass die Welt
zwischen seinen Schriften und Handlungen keinen Wider-
spruch finde. Er habe sich nie vertheidigt, wenn er ver-
kannt worden sei; aber jetzt müsse er mit eben der Ehr-
lichkeit reden, mit der er früher geschwiegen habe.
Ebenso wie Jacobi, wird vermuthlich auch Gleim eine
öffentliche Rechtfertigung von Michaelis verlangt haben.
Am 30. August richtete dieser an Jacobi wiederum ein
Schreiben (gedruckt zusammen mit Jacobis Brief u. d. T. :
'Zween Briefe von Jacobi und Michaelis Pastor -Amors
Absolution betreffend'. Halberstadt 1771). Er versucht
darin den scherzhaften Ton der ersten Episteln festzuhalten :
'Da sitzen wir, lieber Pastor -Amor! — Alle deine Stief-
collegen speyen Feuer und Flamme; Gleim kennet dich
nicht: und Jacobi weiss nichts von dir!' Aber wir be-
merken nicht mehr den muthwilligen Spott, sondern das
gezwungene Lächeln der Verlegenheit in seinen Worten,
wenn er den 'Pastor -Amor' einen 'Ausbund aller Tücke*
nennt, der sich nur unter die Amors Jacobis eingeschlichen
habe. Er lässt auch bald den heitern Ton bei Seite und
nimmt eine ernste Miene an. Er beklagt sich, dass Jacobi
in den Zeitungen gegen ihn eine Art gelehrten Steckbriefs
erlassen habe, er spricht ihn und Gleim von allem Antheil
frei. Und dann behauptet er, kein ehrlicher Mann könne
eine Auslegung von dem Gedichte machen, die er (Michaelis)
nicht zugeben müsste; nur erkläre er jeden für einen
Nichtswürdigen, der ihn der geringsten Nichtswürdigkeit
zeihe, ehe er sie ihm bewiesen. Die Religion kenne ihre
wahren Verehrer besser, als die Herren Wölfe in Schafs-
pelzen sich einbildeten, die ihn angegriffen hätten. 'Kann
ich dafür, dass ich in dem Exorcismus und den Miss-
bräuchen gewisser Absolventen, nicht die ganze heilige
Kraft finden kann, derer sich diese Herren rühmen? Oder
soll ein armer Laye seinen Mitbrüdern nicht wenigstens
ins Ohr zischeln, was seine gesunden Augen offenbar sehen?'
Witkowski, Paator-Amor und So ist der Held. 521
Man habe ihm sogar den bürgerlichen Namen eines ehr-
liehen Mannes geraubt, ihn zum feilsten Miethlinge fremder
Affecte erniedrigt, weil er den unseligen Stolz gewisser
höherer Geistlichen nicht für den Geist der Salbung hielt,
weil er es unanständig fand, dass man seine Maximen nach
dem Amte zuspitzte. Sein Original heisse Ealchas, man
könne dafür Probst, Prior, Bischof, Generalsuperintendent
setzen. Und nun folgt die unmittelbare Wendung gegen
Spalding. Dieser habe andere durch sein Verfahren der
zweideutigen Auslegung des Publicums preisgegeben, habe
nicht an das Hohngelächter derjenigen gedacht, die Scherz
und Schandthat mit einerlei Stempel brandmarken und auf
immer in unserer Seele eine Heiterkeit untergraben, welche
die Grundfeste aller freiwilligen Tugend, selbst vielleicht
aller vernünftigen Wünsche eines ewigen Glücks ist.
'Wollen wir unthätig die Wahrheit bis an den Abgrund
führen lassen: und uns dann erst zu ihrer Eettung ent-
schliessen, wenn der Fanatismus auch auf uns mit dem
Strick in der Hand zukömmt?' Nichts sei für ihn weniger
bestimmend als das sogenannte Ärgerniss. Wie viel un-
schuldige Herzen habe Luther ärgern müssen, um einen
Götzen vom Throne zu reissen, den ganz Europa anbetete.
Jacobi solle sein Melanchthon bleiben. 'Massigen Sie durch
Ihre Sanftmuth- meine Hitze, durch Ihre Warnungen meinen
Eyfer; aber glauben Sie gewiss, dass weder Leichtsinn,
noch Muthwille den geringsten Antheil auch nur an Einer
Zeile gehabt, die Sie bisher von mir gelesen.'
Diese Erklärung, in der Michaelis mit festem Muthe
im Ernste das aufrecht erhielt und weiter ausführte, was
er im Scherz gesagt hatte, erzielte eine grosse Wirkung.
Denn statt dass sich nun erst recht alle auf ihn warfen
und ihn zermalmten, fand er im Gegentheil Unterstützung
und schnelle Versöhnung mit seinen Angreifern. Chr. Heinrich
Schmid schrieb in seinem Almanach der deutschen Musen
(1772 S. 141): 'Pastor- Amor hat so viel Ärgerniss in der
Welt gestiftet, dass selbst der sanftmüthige Jacobi um der
Schwachen willen etwas auf ihn zürnt. Aber weder der
freundschaftliche Verweis eines Jacobi, noch das nieder-
trächtige Verfahren eines Recensenten in der
522 Witkowski, Pastor-Amor und So ist der Held.
Erfurter Zeitung scheinen einen tiefen Eindruck auf
den Dichter gemacht zu haben. Und mit Recht! Wir
würden unseres Lebens nicht froh, wenn wir jede Scrupo-
lität [ ! ] und jede Niederträchtigkeit beherzigen wollten. Viel-
mehr hat Herr Michaelis daher Gelegenheit genommen, die
Scheinheiligkeit von neuem zu züchtigen.^
Die Schnelligkeit, mit der Wielands Zorn verrauchte,
entsprach der ursprünglichen, jäh auflodernden Hitze des-
selben.*) Bereits am 9. September (Ausgew. Briefe 3, 76)
bat er Gleim die wilde Heftigkeit seines letzten Schreibens
ab, versicherte ihn, dass er des Vorsatzes, seinen Oleim
zu beleidigen, unfähig sei, dass er ihn von Qrund der Seele
liebe und der Güte seines Herzens und der Unschuld seiner
Beweggründe alle mögliche Gerechtigkeit widerfahren lasse.
Über die Sache denke er noch ebenso, er habe nur Unrecht
gehabt, in der ersten Wuth zu schreiben, und beschwöre
Gleim seinen letzten Brief zu vernichten und durch die
Versicherung seiner unveränderlichen Freundschaft den
unangenehmen Eindruck dieses tollen Briefes auslöschen zu
lassen. Er bedaure Michaelis wegen seiner Hypochondrie.
^Diese Gattung von Leuten kann kaum für ihre Handlungen
responsabel gemacht werden. Ein Poet seyn, ist schon
so viel, als einen oder zween Sparren zu viel haben, aber
noch hypochondrisch dazu seyn, ist zu viel für die Weisheit
irgend eines Sterblichen. Wenn ein Hypochondrist einen
Anfall von Spasshaftigkeit hat, so ist Gott der Vater auf
seinem hohen Thron nicht sicher vor seinen Einfallen; er
meint es so böse nicht, und ich wollte wetten, dass Herr
M. gar nicht wird begreifen können, dass sein Pastor- Amor
ein völlig injustificables Ding ist.' Er besteht, vielleicht
mehr durch seine Lage gezwungen, als aus innerem Bedürf-
niss, auf seiner Absicht, öffentlich sein Missfallen daran
auszusprechen, und hat dieselbe, wie wir wissen, auch aus-
geführt. Zum Schluss der Rath: 'Qui vult bene vivere,
debet de Domino Abbate omnia bona loquere etc. Lasst
die Priesterschaft ungehudelt, wenn ihr ein geruhig Leben
führen wollt!' Den Satz hatte er in Biberach und Erfurt
erprobt.
*) Vgl. dazu Heinses Brief an Gleim vom 23. September 1771.
Witkowski, Pastor-Amor und So ist der Held. 523
Noch einmal wandte er sich, am 21. October, in einem
flehenden Schreiben an Qleim, um Vergebung zu erlangen.
Dieser erwiderte mit einem Briefchen, für das ihm Wielands
ganzes Herz dankte, wiewohl es bei einigen Stellen blutete
(Wieland an Gleim 3. November).*) Drei Tage darauf schrieb
Wieland an Jacobi, Gleim habe ihm das Unrecht, das er
wider seinen Willen gethan, so stark zu verstehen gegeben,
dass er unmöglich mit sich selbst zufrieden sein könne.
Schmerzlich bewegt bricht er in die Worte aus: 'Ich sehe,
dass ich das Herz des guten Gleims verloren habe.'
Gleim wird schwerlich lange den Bitten des verstossenen
Freundes widerstanden haben. Ein überschwängliches
Schreiben Wielands an Jacobi vom 2. December (a. a. O.
S. 86 if.) sagt zwar nichts von einer erfolgten Aussöhnung;
aber die erneute Selbstanklage Wielands scheint eine solche
befestigen zu sollen. Er spricht von dem ^guten Michaelis",
und begründet das Attribut folgendermassen : 'Denn es ist
genug für mich, dass Sie und Gleim Ihn Ihrer Liebe werth
finden, um mir's zur Pflicht zu machen, so lange ich lebe
alles anzuwenden, damit ich die Unbild, die ich ihm in über-
triebener Hitze angethan habe, vergüten möge. Le vilain
hommc que j'6tois!' Nachdem die, wenigstens seinen
Amtsgenossen gegenüber kaum unnöthige Besorgniss um
seine Stellung durch sein Auftreten zerstreut war, konnte
er das gefahrliche Poem sachlich und harmloser betrachten,
zumal er Anlass zu finden glaubte, Spalding preiszugeben.
Im Januar 1772 erbot er sich sogar für Michaelis'
poetische Briefe Subscribenten zu sammeln, und erklärte,
dass es ihm doppelt leid thue, dem armen Michaelis um
Spaldings Willen Unrecht gethan zu haben, seitdem er
wisse, dass dieser nur ein Tartuff'e und höchstens nur ein
Abulfaouaris sei (Pröhle, Lessing Wieland Heinse S. 233).*)
*) In demselben Briefe empfiehlt Wieland den jungen Wcrthes
an Gleim. Eb ist also nicht ganz richtig, wenn Seuffert (Zeitschrift
f. deutsches Alterth. u. deutsche Litt. 26, 263) sagt: 'Aus dem Käm-
pfer gegen einen Michelis war also binnen Jahresfrist der Patron
eines Werthes geworden.*
•) Es ist mir nicht bekannt, was Wielands Meinung Über Spalding
so verändert hat.
524 Witkowski, Paator-Amor und So ist der Held.
Der 'arme Michaelis' starb schon am 30. September
desselben Jahres, ehe er Zeit gefunden hatte, sein Talent
an würdigeren Gegenständen als den Sünden der litterarischen
Kritik und der angeblichen Unduldsamkeit eines Berliner
Predigers zu erproben. Unmittelbar vor seinem Tode
schrieb er für seinen Freund, den Verleger Dyk, seine
Selbstbiographie (Neues lausitzisches Magazin 56, 291 ff.).
Darin stellte er die Gründe, welche ihn bei der Ab-
fassung des Anathems und des 'Pastor - Amor' leiteten,
folgendermassen dar (S. 312): 'Das Ärgerniss über die
Dummheit eines gewissen R., der Gessners Schriften ver-
brannt, erzeugte das Anathem ; der Verdruss über die ver-
zweifelten Kunstrichter, die, wie man mir sagte, noch immer
scharenweise gerade im besten Wettlauf den Dichtern
-zwischen den Beinen herumliefen, brachte die kleine Be-
schwörung hervor; und endlich der Hass gegen alle Hasser
der Freude von aussen — von innen aber — kurz gegen
alle diejenigen — doch ich habe ja alles schon in meinem
dritten Briefe, diese Amorn betreffend, gesagt, und würd'
es nicht gesagt haben, wenn die Religion mir gleichgültig
wäre, wenn mir's gleichgültig wäre, wie und welche Hirten
vor uns den Weg, den wir alle betreten sollen, voraus-
gingen — dieser Hass, ohne irgend eine Verabredung, ohne
die geringste Cabale brachte mich auf Pastor-Amors Abso-
lution. Auf diese ganz unschuldige Weise entstand der
Brief an den Herrn Kanonicus Gleim Dieser Brief
machte sogleich überall ein erstaunliches Aufsehen. Mein
armer unschuldiger Gleim sowohl, als ich, empfing über
den Pastor-Amor von Freunden und Feinden eine Menge
Briefe, worunter auch anonyme, oder vielmehr förmliche
Pasquille nicht ausblieben. Selbst mein guter Jacobi liess,
aus Furcht vor den Juden, nach seinem natürlich etwas
schüchternen Charakter ein Schreiben an mich drucken;
ich sähe mich genöthigt, es zu beantworten, und so ent-
standen 'Zween Briefe' u. s. w. Erst war ich willens, noch
einen vierten Brief diesen drcyen beyzufügen; allein ich
war vor der Hand des Dings überdrüssig, und hob mir die
Materie dazu seiner Zeit und seinem Ort auf.' Bemerkens- ^
werth ist noch die Angabe Michaelis' (S. 315), dass er
Witkowski, Pastor-Amor und So ist der Held. 525
später für eine Professur in Giessen vorgeschlagen, aber
wegen einer in Jena erscKienenen Recension des Taster-
Amor' abgelehnt wurde.
Spaldings Groll gegen Gleim zeigte sich noch in seiner
Selbstbiographie, die 1804 von seinem Sohne herausgegeben
ward. Das Urtheil, welches er dort S. 29 über den ehe-
maligen Freund ausspricht, ist zwar nicht unbedingt ab-
sprechend, aber kalt und doppelsinnig.
Keinem der Betheiligten in der eben geschilderten
Episode gereicht sein Verhalten zur Ehre, am wenigsten
Wieland. Seine Heftigkeit kann höchstens durch das
schnelle und freimüthige Bekenntniss seiner Schuld ver-
zeihlicher werden; aber es ist dabei zu bedenken, dass der
Angriff öffentlich geschah, die Abbitte nicht.
So konnten ferner Stehende, wie Goethe, leicht den Ein-
druck gewinnen, als habe Wieland in der That der durch
Gleim und seine Freunde vertretenen, anakreontischen Dich-
tungsart Fehde angesagt und sich entschieden auf die Seite
der Gegner dieser altersschwachen Gattung gestellt. Uns, die
wir wissen, dass Wielands Vorgehen durchaus keine dauernde
Veränderung seiner Richtung bedeutete, berührt es freilich
wunderlich, wenn wir gerade ihn in Goethes Lied ^So ist
der Held, der mir gefallt' als Vertreter der Feinde der
Anakreontik nennen hören. Aber das Gedicht ist offenbar
unter dem frischen Eindruck des Wielandschen Artikels in
der Erfurter Zeitung geschrieben, ehe noch die Nachricht
von der bald erfolgten Aussöhnung zu Goethe gelangt war.
So gewinnen wir für die Datirung einen neuen bestimmteren
Anhalt und können als Abfassungszeit die nächsten Monate
nach den geschilderten Vorgängen , also den Herbst 1771,
ansetzen, was um so wahrscheinlicher ist, da in diese Zeit
auch die Trübung der Freundschaft zwischen Wieland und
Heinse fallt, den Goethe schon wegen seiner persönlichen
Beziehungen zu dem Halberstädter Dichterkreise diesem
beizuzählen geneigt sein mochte.
Düntzer, dem Seuffert (Zeitschrift f. deutsches Alterth.
u. deutsche Litt. 26, 262) beistimmt, vermuthet, dass unser
Gedicht zunächst gegen die 1772 erschienenen ^Hirtenlieder'
von Werthes gerichtet sei. Diese Hypothese muss, falls die
Vierteljahrschrift für Litteratarge&ohichte UI 35
526 Witkowski, Paator-Ainor und So ist der Held.
obige chronologische Feststellung als richtig anerkannt wird,
fallen gelassen werden, was meines Erachtens ohne Bedenken
geschehen kann. Denn alle die Stellen, welche als Beweis
für die Beziehung des Goetheschen Gedichts zu den ^Hirten-
liedern' angeführt werden, zeigen doch nur eine Überein-
stimmung in allgemein typischen Zügen der Änakreontik,
die bei Werthes in einer Art Musterkarte zusammengestellt
erscheinen. Sie würden sich sämmtlich mit leichter Mühe
bei andern Anakreontikern nachweisen lassen. Schon die
handschriftliche Überschrift 'An Wieland' legt dieYerrouthnng
nahe, dass das Gedicht einem Anlass seine Entstehung ver-
dankt, bei dem Wieland in persönlichen Gegensatz zu den
darin angegriifenen Dichtern trat. Das war bei den Liedern
von Werthes nicht der Fall, wohl aber bei dem durch
Tastor-Amor' heraufbeschworenen Conflict. Gerade da die
'Hirtenlieder', wie Seuffert bemerkt, unter Wielands Flagge
in die Welt hinaussegelten, ja sogar anhangsweise seinen
'Verklagten Amor' zum Geleit hatten, konnte er nicht in
einem Gedicht, das die 'Ilirtenlieder' verhöhnte, als Gegner
der von ihnen vertretenen Richtung angeführt werden. Es
ist auch nicht ersichtlich, durch welche Stelle des Gedichts
Seuiferts Ansicht hervorgerufen ist, dass Goethe darin
Wieland wegen der Yeränderlichkeit seiner Sympathien
verspottet haben soll. Man braucht in der Bezeichnung
'Wieland mit seines Gleichen' keinen ironischen oder ver-
ächtlichen Beigeschmack zu finden; will man dies aber, so
halte man daneben den 'edlen Muth' (im folgenden Yerse),
und man wird erkennen, dass die Ironie sich nicht gegen
Wieland und seines Gleichen (d. h. die übrigen Gegner der
spielerigen, gedanken- und gefühlsarmen Poesie) richtet,
sondern gegen die Änakreontik, von deren Standpunkt aus
die Gegner mit dem geringschätzigen Ausdruck 'seines
Gleichen' neben dem eigenen 'edlen Muth' herabgesetzt
werden.
Schliesslich sei noch erwähnt, dass die Behauptung
Seufferts, Goethe habe seine Verurtheilung der Anakreon-
tiker 'parodisch mit anakreontischen Mitteln vorgetragen^
durch den Inhalt und die Form des Gedichtes wohl kaum
genügend gestützt ist. Wie wenig absolute Beweiskraft
Witkowski, Pafttor-Amor und So ist der Held. 527
i die Stelle, die Seuffert hierfür anführt, besitzt, wird schon
! dadurch äusserlich gekennzeichnet, dass von anderer Seite
f (Gegenwart 1879 Nr. 31) in den von ihm als Beleg citirten
Versen
Auf den Lippen träufeln Morgendüfte,
Auf den Lippen säuseln kühle Düfte
Ossiansche Anklänge gefunden werden. Es erscheint auch
fraglich, ob ^rund, zart, weich, keusch' als specifisch ana-
kreontische Epitheta gelten können, wie Minor und Sauer
(Studien zur Goethephilologie S. 70) meinen.
Es ist nicht möglich, einen bestimmt ausgeprägten
Stilcharakter des Gedichtes festzustellen. Ebenso wie ana-
kreontische und ossiansche Einflüsse, lassen sich darin
auch Anklänge an Elopstock, z. B. an das ^Yaterlandslied^
auffinden , wie schon Minor und Sauer (a. a. 0.) bemerkt
haben. Das Ganze macht den Eindruck einer überaus
flüchtigen Improvisation, in der sich der lange angesammelte
Ingrimm gegen die undeutsche, weichliche Art bei einem
äusserlichen Anlass mit plötzlicher Heftigkeit entlud. Die
zornige Hand des Dichters zeichnete mit krausen Zügen
ein Bild, in dem sich das ihm vorschwebende Ideal kräfti-
ger Deutschheit in Mann und Weib mit den Zügen der
Conventionellen, gezierten Gestalten, die bis dahin der Dich-
tung zum Vorbild gedient hatten, vermischte. In dem so
entstandenen Gemälde ist wohl die ursprüngliche Absicht
des Dichters zu erkennen, jede Linie für sich zu deuten,
aber die gegenseitige Beziehung der einzelnen Züge und
die einheitliche Durchführung einer bestimmten Gedanken-
reihe ist nicht ersichtlich. Der Versuch, eine solche nach-
zuweisen, ist unternommen worden (Ad. Schroeter, der
Entwicklungsgang der deutschen Lyrik in der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts, Wolmirstedt 1879 S. 89flf.). Aber es
muss, um zu einem günstigen Resultat zu gelangen, eine
so grosse Anzahl von Zwischengliedern angenommen werden,
dass die Goetheschen Bestandtheile nur als vereinzelte
Steine dieses Phantasiegebäudes, nicht als selbständiger,
zusammenhängender und in sich ruhender Aufbau erscheinen.
Sowohl von den 'Schriften' wie von allen Ausgaben
seiner Werke schloss Goethe das Gedicht aus, doch erhielt
3ö*
528 Witkowski, Pastor-Amor und So ist der Held.
es Zelter, um es in Musik zu setzen; vermuthlich in einer
zu diesem Zwecke durchgesehenen, etwas veränderten Ge-
stalt und ohne die letzte, polemische Strophe, die im Text
von Zelters Gomposition fehlt. Die letztere enthält auch
sonst noch einige Abweichungen von der in Goethes Nach-
lass gefundenen Handschrift. Hirzel (Verzeichnisse S. 99 f.)
hat mit Recht angenommen, dass diese Änderungen von
Zelter herrühren, und passend auf dessen Brief vom S.Januar
1819 (Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter 3, 7) hin-
gewiesen, der klar zeigt, dass der Componist sich kein
Gewissen daraus machte, in Goethes Dichtungen herum-
zuändern, wo sie sich seiner musikalischen Einkleidung nicht
fügen wollten. Am lö.December 1816 (Briefwechsel 2,366)
meldet er dem Freunde, dass ^hübsche Liedchen fertig
geworden' seien, darunter auch unser 'Flieh, Täubchen,
flieh.' Den Vers 'Und so soll mein Deutsches Herz weich
flöten' nennt er 'einen harten Hund', der sich nicht fügen
wolle und an dem er sich schon die Zunge wund gerieben
habe. Er hat die Schwierigkeit wahrscheinlich auf eigene
Faust beseitigt, indem er die lästige Stelle V. 32 f. durch
die Worte
Und so soll mein deutsches Herz ihn kennen,
Und so soll mein treues Herz ihn nennen
ersetzte, die in ihrer nichtssagenden Plattheit die Mache
des bedrängten Componisten verrathen. Ebenso dürfte es
sich mit den übrigen Abweichungen von der Ausgabe 1. H.
verhalten: sie zeigen alle das Bestreben, Härten, die den
Fluss des Gesanges stören, zu mildern.'^) Zelter setzte eine
einfache Melodie, die mit ihrem heitern AUegretto dem
Gedichte den Stempel sanften Liebesglücks aufdrückte.
Indem er die Schwierigkeiten theils beseitigte, theils nicht
berücksichtigte (man beachte die zweite Strophe), machte
'') Suphan trägt nachf dass die im Goethe-Nationcal-Musenm be-
wahrte handschriftliche Sammlung der von Zelter componirten Goethe-
schen Lieder V. 2. 3 der 7. Str. also bietet:
Und 8o 8oU mein deutsches Herz reich flöten
Rasches Blut in meinen Adern rötfien.
Das cursiv gesetzte ist von Goethes Hand auf Rasur geschrieben.
Witkowski, Pastor-Amor und So ist der Held. 529
er das Gedicht zu dem Liede eines sehnenden Mädchens,
das sich das Bild des geliebten Jünglings mit zärtlichen
Farben ausmalt. Von Zelter wird wohl auch der Titel
^Mädchens Held\ der zu dieser Auffassung passt, herrühren,
und nicht von Goethe, wie Düntzer behauptet.
Goethen entschwand das Gedicht indessen, da Zelters
Composition erst 1827 erschien, wieder völlig aus dem
Gedächtniss. Als ihn der Kanzler Müller darum befragte,
gab er eine ganz unmögliche Verbesserung des achten
Verses ('offne Thore' in 'offne Thoren') an. Später wird
die letzte Redaction erfolgt sein, in der das Gedicht in die
nachgelassenen Werke überging. Darin fehlt auch die ur-
sprünglich vorletzte Strophe, vielleicht der dunklen, schon
von Zelter geänderten Verse 32 f. halber. In dieser Gestalt
mussten seine Beziehungen, nachdem die Veranlassung schon
durch den Wegfall der letzten Strophe unkenntlich geworden
war, den Lesern als unlösbares Räthsel erscheinen: Noch
in der ersten Auflage der Hempelschen Ausgabe (3, 94)
konnte Loeper zur Erklärung nichts anführen, und als
Zeitgrenze der Entstehung nur Wielands Tod (wegen der
Überschrift 'An Wieland' im Manuscript) bezeichnen. Den
Versuchen, dieses Dunkel zu lichten, schliesst sich der vor-
liegende bescheidentlich an.
Leipzig. Georg Witkowski.
Nachwort. Der Verfasser vorstehender Untersuchung
hat mich brieflich aufgefordert, zu seiner Ansicht über
Goethes Lied hier Stellung zu nehmen. Ich bekenne also,
dass ich mich noch nicht gezwungen erachte, meine Ver-
muthung. vom Zusammenhang der Goetheschen Verse mit
Werthes' Hirtenliedern aufzugeben. Nochmals zugestanden,
wie schon a. a. 0. S. 262, dass die von Goethe aufgegriffenen
Worte 'allen Anakreontikern geläufig' sind, so liegt doch
nahe, sie auf jene Lieder zu beziehen , in welchen sie sich
so bequem beisammen finden, da doch Goethe sich nicht
auch wie Werthes eine 'Musterkarte' angelegt hat. Ent-
scheidender dünkt mich der Goethesche Anruf 'Schäfer',
der nicht auf die Anakreontiker schlechtweg passt, wohl
aber auf Werthes (der seine 'Hirtenlieder' auch Schäfer-
530 RansohofiF, Wielands Geron.
lieder, seine Hirten auch Schäfer heisst). — Aber selbst
wenn ich diesen Zusammenhang zwischen Werthes und
Goethe preis geben müsste, gelangte ich nicht dazu, die
Anrede Wielands durch Goethe ernst zu nehmen. Ein
Gedicht, das Goethes freudige Zustimmung zu Wielands
Erklärung gegen Michaelis sofort nach deren Erscheinen
aussprechen sollte, musste warnen: Sänger, scherzt nicht
mit Heiligem; Goethe aber sagt: singt deutsche Manneskraft;
hiefür konnte er sich auf Wielands Yorgang nicht berufen.
Wenn er ihn trotzdem als Bundesgenossen hereinzieht (weil
Wieland gegen Anakreontiker auftrat, wie Goethe gegen
die Anakreontik auftreten wollte), so kann das nicht allein
und nicht ganz ehrliche Zustimmung sein, es bleibt ein
Rest, ein Zwiespalt zwischen Goethe und Wieland ; und ich
glaube nach wie vor, dass Goethe dessen bewusst auch auf
Wieland stichelte. — Endlich, auch Witkowski findet 'typi-
sche Züge der Anakreontik' in Goethes Lied : so mag meine
Aufstellung, Goethe habe mit anakreontischen Mitteln paro-
dirt, doch nicht ganz verfehlt sein, zumal ich niemals der
Meinung war, das Gedicht sei rein anakreontisch.
B. Seuffert.
Untersuchungen über Wielands 'Geron'.
Im Octoberhefte der Bibliotheque universelle des romans
vom Jahre 1776 erschien aus der Feder des Grafen Tressan
ein Auszug des altfranzösischen Bitterromanes ^Gyron le
Courtois'. Auf Wieland ^machte die Geschichte zwischen
Geron und der Dame von Maloanc, wo das gute Schwert
Hektors des Braunen auf eine so herrliche Art den Aus-
schlag gibt, eine Wirkung, die er so vielen anderen als
immer möglich mitzutheilen wünschte'. Im Januar und
Februar des folgenden Jahres veröffentlichte er, zweigetheilt,
im Tcutschen Merkur seinen 'Geron der Adelich'. Noch
ehe er erschienen war, hatte Wieland unter dem 16. Januar
1777 an Merck gemeldet*): 'Gyron le Courtois oder, wie
*) Briefe an und von Merck S. 86.
Ransohoff, Wielands Geron. 531
ich ihn umtaufe, Geron der Adelich ist in
Holzschnittmanier, im Jamben ohne Reimen, simpel und
etwas hart, auch mitunter etwas steif, aber doch, wenn
ich nicht ganz verblendet bin, kräftig gearbeitet, und wird,
denk ich, Ew. Liebden wohl im Herzen thun'.
^Oyron le Courtois' war 1494 zum ersten Male gedruckt;
^cestuy livre fut translat^ du livre du Monseigneur Edouart
le roi d'Angleterre, en celuy temps qu' il passa oultre la
mer, au Service de nostre seigneur pour conquester le saint
sepulchre^)' hatte der Nachdichter Rusticien de Pise^) dazu
bemerkt, auf die ursprüngliche, mehr als 200 Jahre ältere
Quelle hindeutend. Aus dem französischen Romane hatte
dann im 16, Jahrhundert Alamanni den Stoff seines Helden-
gedichtes ^Qirone il cortese^ genommen. Wieland kannte
das Epos; doch hat der italienische Dichter nicht auf ihn
eingewirkt. Zwischen all den Theilen bei Alamanni, welche
die Geschichte Gerons und der Dame von Maloanc um-
fassen und dem Wielandischen Poem finden sich keine
anderen Übereinstimmungen, als gleiche Anklänge der näm-
lichen Vorlage.
Wielands Gedicht ist aus dem reicheren Stoffe des
französischen Romanos herausgehoben. Dort bildet die
Geschichte Gyrons und der Dame von Maloanc nur einen
Theil der Erzählung, der allerdings breiten Raum gewonnen
hat. Er ist umflochten von einer zweiten Reihe von Bege-
benheiten, die in jenem Augenblicke anheben, da Gyron
von Braunenthal nach Maloanc zurückkehrt. Ein Edel-
fräulein namens Bloy begegnet ihm und bittet um Schutz
und Geleit. Er gewährt, was sie wünscht und beschirmt
sie während der Reise gegen den König von Estrangorre.
Dann scheidet er. Auf ihres Oheims Schlosse wird er
später aufgenommen, als, von Scham und Reue überwältigt,
er gegen sich selbst das Schwert gezückt hat. Bloy pflegt
und rettet ihn. Genesen, bietet er sich ihr zum Ritter an
und führt sie heim auf seine Burg. Aber ihre Schönheit
besticht Danayn, und eines Morgens hat er sie listig, wider
ihren Willen, aus Gyrons Burg entführt. Der Betrogene
») im Jahre 1270.
') vgl. Dunlop-Liebrecht, Prosadichtungen S. U5.
532 Ransobofff Wielands Geron.
durcheilt das Land nach seinem verlorenen Lieb und findet
es endlich sammt dem Entführer. Er besiegt diesen und
will ihn niederstechen ; doch ein Rest alter Zuneigung hemmt
ihm den Arm. — Der Roman schildert Gyrons Leben noch
weiter: er nennt seine Söhne; er erzählt, wie Danayn ^sein
altes Unrecht wieder gut macht' und den Ritter mit Waffen-
gewalt aus Kerkerhaft befreit, dieweil Bloy in einem ande-
ren Verliesse stirbt.
Wieland hat diese ganze Fülle abgestreift, um nur den
Theil des Romanos zu übernehmen, welcher den Kampf
der Tugend und Sinnlichkeit und die Schilderung von Gerons
Treue enthält. Wie eine Erinnerung an Bloy erscheint
bei ihm flüchtig jene Schöne, die heimlich Geron liebt und
gleichfalls den Todtwunden mit Wiel verborgenen Mitteln^
heilt.
Der alte Roman trägt den ausführlichen Titel: ^Histoire
qu'elle est translat^e de Branor-le-Brun, le vieil Chevalier,
qui avait plus de cent ans d'äge, lequel vint k la Cour
du Roy Artus, accompagn6 d'une Damoyselle, pour s' eprou-
ver k Tencontre des jeunes Chevaliers, lesquels etaient les
plus vaillans, ou les jeunes ou les vieux; et comment il
abattit le Roy Artus et quatorze Roys qui en sa compagnie
6taient, et tous les Chevaliers de la Table Ronde, de coups
de lance: et traite le dit Livre des plus grandes aventures
qui jadis advinrent aux Chevaliers errans.' Aus dieser
Titel- Anzeige ist das grosse Eingangsbild in Wielands Er-
zählung erwachsen. Die ganze Scene mit ihren Persönlich-
keiten ist hier angedeutet, und Wieland hat sie nur weiter
ausgemalt: er schildert den Eintritt des Fremden; die Hel-
den der Tafelrunde erscheinen einer nach dem anderen auf
dem Plane und werden geworfen ; Artus und Lanzelot treten
durch Wort oder That merklicher hervor. Wenn er Genievra
neu einführt, weist die Umgebung bereits auf sie hin und
erinnert an sie.
Tressans Auszug beginnt mit Branors Erzählung von
den beiden Greisen, die, in einer unterirdischen Höhle, ihm
zuerst den Namen Gerons des Adelichen nennen. Wieland
schliesst hier an, und in seiner Darstellung belebt sich die
Scene. Bei dem alten Autor ist jene Erzählung langer,
RansohofF, Wielands Geron. 533
trockener Bericht über Qerons königliche Herkunft und die
Geschichte seiner Vorfahren ; bei dem modernen wird die
ganze Umgebung gezeichnet, die psychologische Wirkung
jenes Augenblickes festgehalten. Wie der Ritter im Un-
wetter die Höhle findet; wie er hineintritt; wie immer
abwärts, immer dunkler ^es tiefer hinabgeht^ eine Höhle
sich ausbreitet und plötzlich ^zwei heiige Leiber' bei
schwachem Lamponschimmer stumm ihm gegenübersitzen:
das alles hat ihn so gepackt —
jetzund noch
nach sechzig Jahren, da ich euch davon
erzähle, ßlhrt mirs kalt durchs Rückenmark hinauf —
Und weiter malt die dichterische Phantasie: die beiden
Greise scheinen eben aus langem Schlummer zu erwachen;
sie blicken den Ankömmling ^unbefreradet, mild und freund-
lich' an. Froh, endlich einmal Nieder einen Menschen
zu sehen', erzählen sie ihm ihre Geschichte. Bei Tressan
pflegen sich die beiden von ihren Thaten zu unterhalten
^pour se desennuyer'. Wielands Änderung ist ebenso fein-
sinnig wie liebenswürdig — man spürt den Dichter in ihr.
Er folgt seiner Vorlage Seite um Seite. — Einige Züge
der alten Poesie sind gemildert oder psychologisch vertieft.
Die Frau von Maloanc bietet sich dem Ritter nicht mehr
zum zweiten Male an ; nur ihre Augen verrathen noch, was
sie wünscht und begehrt. Die Liebeswuth des Weibes ist
nicht verringert, aber das Unweibliche ist ihr benommen. —
In dem Augenblicke, da Geron sich seiner Untreue bewusst
wird und entsetzt zurückbebt, hält Wieland, wenn auch nur
flüchtig, die Entwicklung der Vorgänge auf und wirkt durch
diese Verzögerung künstlerisch. In dem alten Romane
nähert sich die Dame dem Ritter, forscht nach dem Grunde
seiner plötzlichen Schwermuth und erßlhrt ihn. Hier hört
er die Dame zuerst gar nicht:
Geron, ohne ihr zu achten, blickt
mit starren Augen auf sein Schwert und gibt
ihr keine Antwort . . .
und die Frau von Maloanc muss noch einmal fragen. Die
Schilderung ist wahr und wirksam; in dem gramversun-
kenen Schweigen spricht Schmerz und Verzweiflung am
534 Ransohoff, Wielands Geron.
lautesten. — Der Entschluss Gerons, die selbstgeschlagene
Wunde heilen und sich retten zu lassen, ist breiter, und
deshalb besser, begründet als in der Vorlage.
Wielands Welt ist ganz die des alten Romanes, jene
romantisch -ritterliche, in der Kampf, Turney und Minne
den Tag füllen, Schönheit der Frauen und Schimmer der
Ehre das Leben bewegen. Das Sagenreiche Logres ist auch
bei ihm der Schauplatz der Begebenheiten.
Selten blickt durch den schlichten Inhalt die Persön-
lichkeit des Bearbeiters. Sie tritt nie in die Erzählung
hinein — die epische Zurückhaltung ist strenger bewahrt als
in der französischen Dichtung — sie ist nur zu spüren.
Wieland hat ^Freude an Sinnenscenen'. Sie lässt ihn die
einsame Waldbegebenheit zwischen Oeron und seiner Dame
bis zum letzten Augenblicke ausmalen. Der Franzose sagt
von dem Höhepunkte jener Stunde: ^ä celluy point qu'ils
ötaient en cette guise et tout appareilles de sacrifier leur
honneur k leur passion^ Wieland schreibt sinnlich
und sinnenerregend: ^Und siehe da wie Geron eben sich
ihr nähern wollt' Dort ist reflectirend die Summe
des Yerschuldens gezogen , hier der Moment der grössten
Verirrung geschildert.
Oder Wielands satirische Laune bricht durch, dort wo
Genievra und Lanzelot, das verbuhlte Paar, die Geschichte
von Gerons Treue veranlassen müssen; am Schlüsse der
Erzählung, wo die Königin ausruft: '*s ist eine traurige
Geschichte!' Aber der Hohn des Dichters spielt nicht
spöttisch, übermüthig über den Stoff hin, wie etwa im
'Gandalin', er ist bitter und herb. Dort durchsetzt er alles;
hier im ^Geron' blitzt er momentan auf; dort fühlt man
die Persönlichkeit Wielands überall ; hier verschwindet sie
fast — und doch steht sie beherrschend über dem Ganzen.
^Gyron le Courtois' handelt ^des plus grandes aventures
qui jadis advinrent aux Chevaliers errans'. ' Etwas von der
Freude, welche der ungenannte Autor und sein treuherziger
Leserkreis an Abenteuern und Ungewöhnlichem vergange-
ner Zeit empfanden, liegt in diesen Worten. Man kann
die Naivetät ahnen, mit der jener erzählt, diese zuhören.
Diese Harmlosigkeit fehlt 'Geron dem Adelichen' ; Wielands
Ransohoff, Wielands Geron. 535
Branor trägt die Geschichte nicht einfach um ihrer selbst
willen vor. Als er anhebt zu erzählen, ^schiesst er einen
scharfgespitzten Blick auf Lanzelot und auf die Königin^
Als er geendet hat und der Ritter Genievras nach Gerons
weiteren Schicksalen fragt, weist er ihn ab: ^nach der
Geschichte hab* ich nichts mehr zu erzählen.' Frei schal-
tend, hat durch ihn der Bearbeiter die Kunde von Gerons
Pflichtgefühl, als strafendes Muster von Tugend und Red-
lichkeit, der berühmten Mär des Treuebruches entgegen-
gesetzt.
Wielands Sprachgebung ist durch die des alten Roma-
nes becinflusst; er lehnt sich immerfort an das Original.
Während er schreibt, liegt Tressans Auszug vor ihm. In-
dessen die Rechte die Feder führt, folgt die Linke den
Zeilen der Vorlage.
Einzelne Ausdrücke überträgt er: ^la tres grant' force
d'Amour' wird mit ^übergrosse Minnekrafk' wiedergegeben;
^aimer d'Amour' findet sich als 'von echter Minne lieben\
Steht im Romane ein 'ainsi m'ayde Dieu!' so steht bei
Wieland ein: ^So helf mir Gott!' Ein ^s'il vous plaisait'
erscheint, voll schwerer Grandezza, als 'hieltet Ihr's genehm'.
Die Schilderung, welche Branor von Geron gibt: ^j'admirai
la noblesse de sa figure, la vigueur de son bras, la gran-
deur de son courage, encore plus celle de son äme et la
delicatesse de son coeur' kehrt bei Wieland wieder: 'und
wunderte mich seiner Schönheit, der Stärke seines Arms
und seines Muths, doch mehr der Treue seines Herzens'.
Ganze Wendungen entnimmt er. 'II fuyoit les regards de la
Dame de M . . . ; il detoumoit ses yeux' ist bei ihm : 'ver-
mied streng sie anzusehen — wich ihren Blicken aus' ; 'La
Dame de M. füt morte de honte et de depit' = 'vor Schmerz
und Gram gestorben wäre sie'. Die Stellen: 'wollte lieber
seine Dame sein als Frau der ganzen Welt' , die andere :
'sollte sie ihr Leben für ihn lassen, wollt es gern zu Lieb'
ihm thun, sich's noch zur hohen Ehre schätzen' sind über-
setzt aus: 'Elle aimerait mieux etre Dame de luy tout
seul, que de toute la terre' und aus: 'Mourir voudrait-elle
bien pour l'amour de luy, heureusc et honoröe s'en tien-
drait eile'. Der Satz 'Danayn-le-Roux, son eher compag-»
536 Bansohoff, Wielands Geron.
non, qui tant Taimait, s'il eüt et6 son fr^re 5harnel il ne
Teüt pas 8U plus aimer' ist beinahe Wort um Wort beibe-
halten. ^Danayn der Rote, sein Freund, der ihn so liebte^
Zwillingsbrüder könnten sich nicht besser lieben\ Auch
die Fügung der Sätze ist hier gewahrt. Noch deutlicher
ist die Construction ein anderes Mal aufgenommen. Es
heisst im Romane: ^La vieille du jour indiqu6 . . . . les
deux . . . se rendirent .... tandis que la Dame de Maloanc^
und bei Wieland: 'Als nun die Zeit herankam, machten
sich die beiden Ritter auf die Fahrt indess die
Frau von M. . . .' Selbst Übergänge von einer Begebenheit
zur anderen entleiht er: ^Or durant le temps que Ofron
sejournait k Maloanc arriva un valet^ = 'Begab sich's nun,
dass, während Geron sich zu Maloanc enthielt'.
Doch Wieland entlehnt nicht nur ; er hat wirklich von
der Schreibart des alten Romanciers gelernt und trifft einen
besonderen Ton. Er bildet, wie dieser, kleine, kurze Sätze ;
und sein Stil erhält dadurch etwas Absetzendes, Kunstloses,
jenes Holzschnittmässige , das er selbst dem 'Geron' zu-
spricht. Auch da, wo im Auszuge statt der Originalstellen
des Romanos Berichte Tressans eingeschoben, ist seine
Diction nicht minder gut. Er setzt das nüchterne, ruhige
Referat oft sehr glücklich um. 'II se douta que Monsieur
Lac etait amourcux' berichtet der Graf von König Meliadus.
Mit einem unmittelbaren, bildlichen Ausdrucke sagt dieser
bei Wieland zu sich: 'Der ist gefangen!' — 'Gyron la vit
et l'aima' lautet es dort; mit der echten Sinnlichkeit naiver
Poesie heisst es hier: 'Geron, wie er sie zum ersten Mal'
Erblickte, dacht' Ah Der thäte wahrlich keinen
theuern Kauf, Der eine Nacht in dieses Weibes Arm Mit
seinem Leben kaufte.'*)
*) Neben diesen Übertragungen aus dem Französischen und den
Nachahmungen seiner Sprachweise finden sich zahlreiche andere
archaistische Einzeleleniente : statt moderner Ausdrücke alterihüm liehe
Worte; ältere Flexionsformen, wo jüngere gangbar sind; mittelhoch-
deutsche Adverbialbildungen und Constructionen, naive Umständlich-
keiten. Es sind Einwirkungen einer anderen als der französischen
Quelle; aber den deutschen Vorbildern nachzugehen, welche hier Wie-
lands Stil beeinflusst haben, mag lieber in allgemeinerem Zusammen-
hange versucht werden, wo überhaupt der Wieland bestimmende Ein-
RansohoiT, Wielands Geron. 637
Doch ihm, dem Modernen, eignet hinwiederum eine
Beherrschung der Sprache, die dem französischen Dichter
fehlt. Er gibt dem einzelnen Worte eine Kraft und einen
Inhalt, den es im 'Gyron' nicht hat. Um einen Gedanken
auszudrücken, braucht der alte Dichter viele Worte, ganze
Sätze, wo der deutsche Bearbeiter knapp zusammenziehen
kann. ^Elle savait', schreibt der Franzose, 'que si Danayn
maintenait la coutüme quel on tenait ä celuy temps, la
m^nerait ä cette assemblee.' Wieland nimmt die beiden
Nebensätze in der Zwischenbemerkung zusammen: 'wie es
Sitte war in solchem FalP. Er kann, was er erzählt, resu-
mirend abschliessen : 'So war der Frau von Maloanc zu
Muth'. Er wird abstract, wo der naive Darsteller schildert:
'Si haute Dame comme vous Stes^ heisst in seiner Sprache:
'Frau von Eurem Stand und Wesen'. 'II 6tait difficile,
pour ne pas dire impossible de la voir sans Taimer' ver-
kürzt er zu: 'Sie ohne Liebesregung anzuschauen war Un-
möglich\ Das Wort 'Liebesregung' fasst hier das Wesent-
liche des zweiten Satzes. Ein '6trangement penser' der
Vorlage sagt mehr, wie Geron, von dem es gebraucht
wird, in jenem Zustande erscheint; Wielands Übertragung
in 'seltsame Schwermuth' nennt die Art seines Übels, das
was er leidet.
Er componirt Ausdrücke und kann so auf einmal zwei
Begrifife bringen, zwei Vorstellungen zugleich bei dem Hörer
erwecken : nirgends in seiner Vorlage kommen so inhalts-
volle Worte vor wie 'Löwenmuth, Löwengrimm, Sommers-
schönheit'. Oft ist die Kraft, mit der er in wenigen Silben
ein ganzes Bild malt, erstaunlich. Wenn er von 'des
schwarzen Ritters stürzendem Gewicht' spricht, zeigt er
Branor im Ansturm und lässt zugleich wissen, dass der
Gegner sinkt. 'In Scham zerglühend steht die Schuld'ge
da' gibt in dem einen 'zerglühend' die Gestalt, welche wir
erröthen sehen, und die, welche sich selbst erröthen fühlt.
Ein weiteres Element, das die Diction 'Gerons des
Adelichen' von der 'Gyrons' unterscheidet und gerade Wie-
flu88 älterer deutscher Diction, specielt der Hans Sächsischen, darzu-
stellen wäre.
538 Ransohoff, Wielands Geron.
land vornehmlich gehört, ist die bewegliche Phantasie.
Zwar gleicht sie nicht der üppigen Vorstellungskraft in
anderen Werken Wielands ; doch ist auch hier, wo der künst-
liche Stil Strenge anstrebt und die Fülle vermeidet, der
ursprüngliche Reichthum der Gedanken zu gew^ahren. Die
Phantasie streut hier und da ein Bild ein, führt etwas, das
sie vorfand, breiter aus: stets wirkt sie mit kleinen, bei-
läufigen Zügen. 'Der, wie durch einen Zauberspruch ge-
bunden, sein Gesicht nicht von ihr wenden könnt'' entsteht
aus einem : 41 ne pouvait d^tourner les yeux.' Das Gleich-
niss, welches die anderen Edelfrauen neben der Dame von
Maloanc 'Wiesenblumen um den vollaufgeblühten Rosen-
busch' nennt, gehört Wieland ganz. Zu Eingang der Brun-
nenscene fügt er eine Schilderung ihrer Örtlichkeit ein und
zeichnet mit raschen Strichen den lauschigen, stillen Platz.
Ein unbedeutendes: 'Cette seule id6e est sans doute dune
grande consolation en pareil cas' gestaltet er allgemeiner
zu der Bemerkung: 'auch trügt das Menschenherz sich
selbst zu gern in solchen Fällen'. 'La Dame qui avait scu
entrevoir' wird ebenfalls verallgemeinert und phantasievoll
gestaltet zu 'Des Weibes Liebe hat ein Falkenaug'.
In der Ausgabe der gesammelten Werke heisst das
Gedicht 'Geron der Adelige'. Vieles ist verändert, wie der
Titel modischer geformt ; und das Ganze ist matter gewor-
den. — Glücklich sind die beiden bedeutendsten Um-
gestaltungen, welche Wieland vorgenommen hat.
Nun denkt Euch eine Frau in aller Glorie
Der Schönheit
eine Stelle, deren reflectirend-rhetorische Form sich an den
vorgefundenen Ausdruck des Französischen anschliesst, wird
nun:
In schönerer Gestalt versuchte nie
Die Sünde ein Geschöpf von Fleisch und Blut.
Von ihren Lippen floss der ersten Schlange
Beredsamkeit . . .
Die frühere Bearbeitung iUngt mit einer Periode an,
welche nicht zu Ende gelangt:
Als König Artus einst, vor seiner Burg
zu Kramalot, von dreissig edlen Rittern
umgeben, unter einem offenen
Ransohoff, Wielands Geron. 539
Gezelt von goldgewirktem Sammit hofete —
und neben ihm in Sommersschönheit sass
Frau Genievra seine Königin.
In der zweiten Gestaltung ist der unvollendete Satz be-
seitigt, und statt seiner sind zwei kürzere, selbständige
gesetzt. Mit poetischer Feinheit führt Wieland neben
Genievra gleich auch Lanzelot ein, beider Verbindung in
einem einzigen Worte andeutend:
Der grosse Artus hielt vor seiner Burg
Zu Kramalot, von dreissig edlen Rittern
Umgeben, unter einem offnen Zelt
Von goldgewirktem Sammet seinen Hof.
Und zwischen ihm und ihrem Lanzelot
Sass Genievi'a, seine Königin.
Gedrängt bei einander sind hier verschiedene Änderungen.
Eine grössere Glätte der Construction ist angestrebt.
So wird anderwärts
. . . der so ihn liebte, Zwillingsbröder könnten sich
nicht besser lieben
gehörig eingerichtet zu
dass sich Zwillingsbrüder
Nicht besser lieben konnten.
Ein Gefüge, dessen einzelne Glieder hart, abgebrochen
neben einander stehen, wird regelmässig, gebunden oder
abgetheilt:
und (wiewohl sie)
sich selten trennten,
noch war weder Ritter
noch Jungfrau .... (die Gerons Namen
wussten) sondern nannten ihn —
heisst zuletzt:
und (wiewohl sie) so selten
sich trennten, dennoch lebte weder
: Alles nannt* ihn bloss . . .
Glatt und eben schreibt er:
Denselben Abend noch sprach sie davon
Mit ihrem Manne; und Herr Danayn
Gab ihr gefällig lächelnd zum Bescheid.
Die frühere Fassung lautete:
Denselben Abend noch sprach sie mit ihrem Manne
Davon; der lächelt dess und gab ihr zum Bescheid.
540 Ransohoff, Wielands Geron.
Alte Formen und alte Worte werden jetzt häufig aus-
getilgt. Im Eingange macht er aus 'hofen' 'Hof halten%
aus 'Sammit' 'Sammet'. Wo 'verjäht' stand, genügt ein
'spricht', 'versetzt'; 'entstehet' weicht einem 'verlasset' ; 'der
edle Degen' erscheint zu kühn, ungewöhnlich und wird zu
'der edle Ritter'; 'magetlich' zu 'jungferlich'; 'Milane' zu
'Liebe'; 'Helmlin' zu 'Haube'. Und ebenso heisst es statt
Hhäf nunmehr 'that'; 'zwei' statt 'zween, zwoen'; 'hob' für
'hub'; 'verstand' für 'verstund'.
Ein ängstlicher Zug macht sich bei Wieland bemerkbar.
Wenn er die alten Laute z. Th. vielleicht deshalb aufgegeben
hatte, weil sie seinem Ohre zu hart klangen, lässt er ande-
res fallen, lediglich aus Besorgniss, es zu gewagt verwendet
zu haben. Ein uneigentlich gebrauchtes Wort schwindet :
von der Frau von Maloanc sagt er nicht mehr: 'solch ein
Dank war eines Kampfes . . . werth', sondern sie wird,
matter, ein 'Kleinod' genannt. König Artus und die Helden,
welche mit Branor rennen, sind nicht länger 'die Männer,
die sich nicht um solche Gabe zweimal bitten Hessen'. Der
Ausdruck 'Gabe' schein allzu kühn verwerthet und wird
ersetzt durch ein nachlässiges 'so was'. — Gut ist die
Änderung, durch welche Lanzelot nicht mehr Qenievra 'zu
Ehren' sondern 'zu Lieb' 'viel Thaten gethan' hat. Wenig
erklärlich ist es, weshalb Wieland den 'vollaufgeblühten
Rosenbusch' in einen 'vollaufblühn'den' verwandelt — für
die üppige Frauenschönheit der Dame von Maloanc war
das erste Bild geeigneter. Hingegen, es kennzeichnet den
Recken, wenn Galherich 'vor die breite Brust' den Schild
wirft, und diese Lesart ist darum besser als die gleich-
giltigere: 'vor die Brust den breiten Schild'. — Für das
schöne 'in Scham zerglühend steht die Schuld'ge da' tritt
leider ein: 'Verwirrt und sprachlos stand, von ihrer Hoff-
nung So arg getäuscht .... Die Schuld'ge da'.
Die Form der Verse ist frei geblieben : fünf- und sechs-
füssige wechseln ab. Nur die vierfüssigen, welche sich in
der ersten Ausgabe hin und wieder finden, werden vermie-
den oder doch nur zu besonderer Wirkung beibehalten.
Der Dichter achtet jetzt darauf, dass nicht allzu lange
hinter einander der nämlich Ausgang folge, und unterbricht
Wolff, Eutiner Findlinge. 54 f
die zahlreicheren männlichen Yerse verschiedentlich durch
weibliche. Immer zwischen zahlreicheren männlichen Aus-
gängen, macht er hier ein 'Volk' zu 'Volke'; 'Land' zu
'Lande' ; stellt dort das Versende : 'Wie ihren Ritter sie'
um in ein weich ausklingendes: 'Wie sie ihren Kitter'.
Andere Worte sind versetzt oder eingeschoben, um grössere
Glätte des Tonfalles zu erzeugen. Ein Vers, der mit 'Höf-
lichkeit' beginnt, ist hart ; deshalb hat die spätere Fassung
ein vorgeschlagenes 'und'.
Einer ästhetischen Hebung dienen die mannichfachsten
Abänderungen. Grösserer Reichthum der Ausdrücke macht
sich bemerkbar. Wieland vermeidet, zweimal hinter ein-
ander das nämliche Wort zu setzen ; es wechseln 'König
Artus' und 'der hohe, der grosse Artus', 'Geron' und 'der
edle Jüngling'. 'Zwanzig Knappen' wiederholt sich nicht
mehr gegensätzlich, vielmehr steht jetzt an zweiter Stelle
'zwanzig andere'. Die Sprache ist durch reichere Epitheta
voller. 'Umhalsung' wird zu 'glühender Umhalsung'; die
Königin heisst 'schön', der Gegner 'rauh', die Ungeduld
'rasch'. Er spricht von der 'grauen Zeit', wo sonst die
nähere Bezeichnung fehlte. Von den Greisen in der unter-
irdischen Höhle (seit Branor sie dort gesehen, sollen hier
70, nicht mehr 60 Jahre verflossen sein) berichtet er nun,
dass sie 'mit dumpfer Stimme redeten.' — 'Klagegetön' wird
wohllautender zu 'Klageton'. — Die rohe Form ist der
feineren gewichen: Logres 'berühmt' sich schöner Frauen,
während es früher hiess, dass es sie 'nähre'. 'Von einem
Mund zum anderen' ist steif, unbeholfen: eleganter: 'des
Fragens viel von Mund zu Munde war'.
Der Zug zum Modernen ist in der zweiten Ausgabe
stärker geworden.
Berlin. Georg Ransohoff.
Eutiner Findlinge.
Die grossherzogl. Gymnasialbibliothek in Eutin bewahrt
als Vermächtniss von Abraham Voss reiche Bruchstücke
aus dem litterarischen Nachlasse seines Vaters Johann
Vieiteljahischrift für Litteratoigeschichte III 36
542 Wolff, Eutiner Findlinge.
Heinrich und seines Bruders Heinrich. Oberregierungsrath
Hellwag vermehrte diese Handschriftensammlung durch An-
kauf und Schenkungen (vgl. Pansch: Eutiner Programm
1864 S,l).
Für Herbst, den Biographen des Sängers der 'Luise\
bot sich hier eine ervninschte Ausbeute. Aus den Papieren
von Heinrich Voss d. j. hatte Abraham Voss bereits den
^Briefv^echsel mit Jean Paul', 'Mittheilungen über Goethe
und Schiller in Briefen von Heinr. Voss', 'Briefe an Chr.
V. Truchsess' sowie Varia herausgegeben. Dazu brachte
1864 das Eutiner Gymnasialprogramm Briefe von Heinrich
Voss an den Physiker Hellwag, von Charlotte Schiller an
Emestine Voss, von berühmten Philologen an Voss Vater
und Söhne sowie von Schleiermacher an Heinrich Voss d. j.
W. von Bippen benutzt in seinen 'Eutiner Skizzen' beson-
ders die Sammlung Hellwags. Schliesslich ist manches
Einzelne hie und da verstreut gedruckt.
Der ausserordentlichen Liebenswürdigkeit des H. Geh.
Schulrath Dr. Pansch verdanke ich eine unumschränkte
Benutzung des Archivs. Ich gebe nachstehend wieder,
was mir von litterarhistorischem Interesse erscheint. Unter
möglichster Einhaltung der zeitlichen Folge ist das Zusam-
mengehörige zusammengestellt.
1. Karl Gotthelf Lessing an Boie.
Es scheinen ursprünglich zwei Briefe mit der Unter-
schrift 'Lessing' im Besitz der Familie Voss gewesen zu
sein: wenigstens spricht Emestine Voss, die Schwester Boies,
auf einem beigelegten Zettel von zwei Briefen Lessings,
welche als heiliges Vermächtniss zu bewahren seien. Natür-
lich Hess sie sich durch die Unterschrift zu einer Verwechs-
lung des Schreibers mit seinem grossen Bruder verleiten.
Indessen hat Boie auf dem Briefe angemerkt: 'Empfangen
27. September 1772', zu welcher Zeit nur der jüngere
Lessing in Berlin weilte. Ausserdem ist der darin erwähnte
Fliess nur ein Freund Karl Qotthelfs, während ihn Gotthold
Ephraim erst 1 780 kennen lernt (s. meine Schrift K. G. Les-
sing S. 18). — Als anschaulichstes Document fiir die theils
geistreiche, theils faselige, ausgelassene Geistesart des
Wolff, Eutiner Findlinge. 543
jüngeren Lessing glaube ich diesem Briefe hier eine Stelle
geben zu dürfen. — Der andere von Emestine erwähnte
Brief ist offenbar identisch mit dem von Halm (Sitzungs-
berichte der k, bayr. Acad. 1868 S. 124) als 1865 verstei-
gert angegebenen Brief von ^Earl Lossig' an Boie. Ich
hebe aus dem ersteren, obwohl der Inhalt ohne Belang ist,
Folgendes aus:
[Empfangen 27. September 1772]
Liebster Freund!
Ich freue mich, dass ich Gelegenheit habe, Ihnen sagen zu
können, dass ich oft an Sie denke. Es Ihnen eher zu sagen,
hat mir darum nicht recht geschienen, weil Sie meinem blossen
Sagen nicht genug Glauben beymessen. Aber da unser Freund,
Herr Fliess, Ihnen dieses bekräftigen kann, so werden Sie, hoffe
ich eine Versicherung nicht länger in Zweifel ziehen, die auch
vor Gericht für völligen Beweis passiren wurde.
Was Sie als Gelehrter machen, weiss ich! was Sie aber als
Mensch thun, weiss ich nicht. Ob Sie über das menschliche
Thun lachen oder weinen, oder untersuchen, über welches mensch-
liche Thun man lachen oder weinen sollte, wenn man nicht das
erste Grundgesetz der Natur, nichts ungereimtes zu thun, über-
treten will; oder ob Sie eigentlich weder lachen noch weinen,
sondern ganz geruhig und gelassen an Fette [?] und Ernsthaftig-
keit so zunehmen, dass Sie allen, die Sie kennen und nicht kennen,
Ehrfurcht einflössen, hören Sie, das möchte ich wissen. Unser
verehrter Freund Fliess, wird Ihnen sagen können, dass er mich
gesehen hat. Und wenn man einen gesehen hat, so kann man
schon von ihm erzählen; und wenn das nicht wahr ist, so weiss
ich auch nicht, was die Reisen junger Leute sagen wollen
Sie werden sich vielleicht wundern, dass ich nicht frage, ob
Sie gesund sind; aber ich glaube dass der, der Hofmeister von
einem Engländer und ebenso Sprachmeister von einem halben
Dutzend solcher Insulaner ist, wohl gesund sein muss. Im Ernste,
ich beneide Sie darum, denn ich möchte gerne einen Engländer
um mir haben, der aber weder ganz gelehrt, noch ganz em-
pfindsam, das ist weder Dichter, Musikus, noch Schönschreiber
noch ganz patriotisch wäre; der überdies gerne ausschweifte ä
Tanglaise, aber doch noch lieber unbemerkt die ganze Welt
bemerkt und recht vernünftig handelt, indem er zu rasen schien :
wissen Sie so ein Undh)g, so schicken Sie es mit Adresse an
mich nach Berlin. Und wissen Sie wohl wozu ich dieses Ding
brauchen wollte? mich von ihm die englische Aussprache lehren
zu lassen
Berlin d. [Datum fehlt.]
36*
544 Wolff, Eutiner Findlinge.
Über die Reisen des Dr. Pliess s. meinen K. G. Lessing
a. a. 0., über Boies Bekanntschaft mit K. G. Lessing, die
von Boies Berliner Aufenthalt datirt, s. Weinhold, Boie
S. 28 und 178, über Boie als Hofmeister junger Engländer
ebda. S. 35 ff.
2. Miller an Joh. Heinr. Voss.
Einer der wenigen Briefe Millers, die nicht mit den
übrigen nach München gingen. — Voranstehen zwei Ge-
dichte mit der Unterschrift 'Frl. v. A.', deren eines 'An den
Mond' ('Lieber Mond, du scheinest wieder') in Vossens
Musenalmanach für 1776 mit den obligaten 'Verbesserungen'
gedruckt ist. Besonders Strophe 2 ist hart mitgenommen;
in der Handschrift lautet sie:
Alles um mich her wird trüber,
Und die Stunde wallt vorüber,
Da, in Liebeswonn^ entzückt,
Er mich hier ans Herz gedrückt.
Voss liess mit längerem, prosaischem Satzbau drucken :
Schwermuthsvoller wallt und trüber
Mir die Stunde jetzt vorüber,
Da er hier mich einst entzückt
An sein klopfend Herz gedrückt.
Die Liebeswonne scheint ihm überhaupt anstössig gewesen
zu sein: auch in der 5. Strophe änderte er 'die wonne-
vollen Stunden' in 'die schönsten aller Stunden'! — Da-
gegen hat Voss sehr recht gethan, das andere Gedicht
'Lobgesang am Klavier' nicht abzudrucken; es ist eine
thränenreiche blosse Reimerei. Aus dem Brief theile ich
mit:
Ulm, den 17. August 1775.
Hier, liebster Voss, sind ein paar Gedichte , die ich ehmals
schon gemacht hatte, und die du noch drucken lassen musst,
weil sie sich so sehr in die Situation der Einem passen, wenn
sie auch nicht ganz gut sind. ... In Frankfurt ward Wagner
mein Freund; er ist ohne allen Zweifel Verfasser des Prome-
theus. Merk in Darmstadt ist ein braver Mann. Auch Goethe
gefällt mir. Er denkt schon wieder besser von unserm lieben
Claudius. . . Das Offenbacher Mädel lernt ich kennen, und wachte
mit ihr und Wagnern eine Nacht durch . . .
Hier ist also unmittelbar aus dem Jahre 1775 ein ein-
wandfreies Zeugniss für Wagners neuerdings unnöthig be-
Wolff, Eutiner Findlinge. 545
zweifelte Autorschaft.') — Über das 'Offenbacher MädeP
und ihre Beziehungen zum Ooetheschen Kreis s. Rieger,
Rlinger S. 73 f. Vgl. auch Klingers und Millers Brief an
Kayser (Qrenzboten 29,4, S.424, 427 und 431) sowie Erich
Schmidt, Miller in der Allg. Deutschen Biographie.
3. Bürger an Joh. Heinr. Yoss.
WöUmershausen d. 7. November 1776.
Dank, mein liebster Voss, für Ihren Almanach, der mich
sehr erbaut hat. Mit innigem Behagen seh ich auch meinen
Voss auf Popularität — die einzige ächte poetische Seligiceit —
lossteuern. Immer gewisser wird mir, dass sie kein rinnendes
Bächlein im tiefen Thai, sondern der Hauptstrom sei, der gross,
mächtig und hehr, von nun an bis in Ewigkeit mitten durch das
Land wandelt. Zerstörung hab ich allen Äbleitern und den
Pump- und Druckwerken auf die umwölkten Berg^ Kasteele ge-
schworen. Dazu helfe mir die obwaltende Natur, amen! —
Die Verbrüderung beider Almanache wäre sehr wunschens-
werth. Ich habe deshalb noch heute an Goeckingk geschrieben.
Nur furcht ich, dass er wenigstens fürs Jahr 1778 mit Dietrich
schon kontrahirt habe.
Erst vor wenigen Tagen hör ich, dass Fritz Stolberg die
llias auch übersetzen will. Was ist das? Noch hab ich weder
seine Probe noch Ankündigung gesehen, die im Novemberstück
des Museum erscheinen soll. Auf alle Fälle scheint es mir übel-
gemeinter Trotz, der mir nicht sanft thun kann. Wäre Stolberg
^) Ein zweites Zeugniss für Wagner-Prometheus theilt
Richard Maria Werner mit : 'Theodor Oülcher schreibt aus
Amsterdam d. 27. December 1775 an Nicolai: Sie haben
gantz Recht Göthens Farzen so dreist abzufertigen; ob
Sie aber wegen dem Prometheus nicht in etwas irren wer-
den, weiss ich nicht; wenigstens hat Wagner in einem
part. Briefe an einen Hiesigen sich selbst discursive und
ohne die mindeste Ursache dazu zu haben; als den Autor
angegeben — vielleicht hat Göthe also nur die Kupfer
besorgt, und den Wisch corrigiert' — etc. . . Und am
16. Januar 1776 wiederholt er: 'Sie haben Recht, Göthe
verdient darum nicht minder Verachtung, wenn Er gleich
nicht selbst den Prometheus gemacht hat, genug dass Er
davon wüste — ich schrieb Ihnen nur was Wagner hiehin
gemeldet hat, damit Sie nicht etwa zu fest behaupten
mögten, Göthe sey der Verfasser.'
546 Wolff, Eatiner Findlinge.
mit seinem Vorhaben eher hervorgetreten als ich, so wäre ich
zurückgeblieben, wenn ich auch mit ihm nicht zufrieden und mit
meiner Arbeit ganz fertig gewesen wäre. Denn die Kollision ist
mir fatal. Nun darf ich der Ehre wegen nicht ausweichen; weil
mir der Tusch im Angesicht des ganzen Publikums angethan
wird. Was wird aber aus dem Abentheuer herauskommen?
Entweder muss einer von beiden das Feld räumen, oder wir
bleiben beide drin, im ersten Fall sollt ich denken, meine Nie-
derlage wäre nicht so spottleicht gethan, weil ich doch schon
ziemlichen Fuss gefasst habe und meinen Mann nicht zum
schlechtsten stehe. Prallte nun aber gar er zurück, so war es
ja das ärgste, was ihm auf dieser Gotteswelt begegnen könnte.
Im zweiten Fall aber wenn wir beide nun theilen müssen, was
einer ungetheilt hätte besitzen können, was hat er davon? Ist
die Satisfaction hinlänglich für den selbstischen wagenden Trotz? —
Wie gesagt, war ich mit meinem Vorhaben noch nicht her-
vorgerückt, so verbrannt' ich noch heut meinen ganzen home-
rischen Plunder, und machte mich dafür an ein eignes längst
projectirtes grösseres episches Volksgedicht, wo mir niemand in
die Quere laufen kann. So aber ruft mir mein stolzer Genius
zu: Bürger, steh und kämpfe, bis Dir oder Ihm die Nerven zer-
springen. Sieg oder Tod! wäre mir das liebste. —
Über die ächte griechische Simplicität ihrer platonischen
Übersetzung, mein lieber Voss, hab ich mich neulich andächtig
gefreuet. Wie wäre es, wenn Sie uns den ganzen Plato gäben?
Gott! was sind doch alle Koncerte der Kunst gegen den maje-
stätischen Choral der einfältigen Natur! —
Lassen Sie uns niederreissen alle Tempel und Tempelchen
falscher beflitterter Götzen und allein die Ewige, die Allwaltende
überall im Freien anbeten! Bürger.
Der Brief fallt früher als alle bekannten Briefe Bürgers
an Voss. Dessen Antwort s. Strodtmann, Briefe von und
an Bürger 2, 8 f. — Über die Almanachangelegenheit vgl.
Vierteljahrschrift 3, 92 flf. — Betreffs der Homerübersetzung
vgl. ebenda 91 f. Bürgers im October 1776 an Stolberg
gerichtete Herausforderung enthält den von vorstehendem
Briefe aufgenommenen Schlachtruf: ^Auf, rüste dich! Sieg
gilt es oder Tod!'
4. Gedichte von Hölty.
Es haben sich erhalten zunächst zwei travestirende
Romanzen, die Voss weder in den Musenalmanach noch in
die Sammlung der Werke aufnahm. Da in den Sammlungen
einige Proben dieser Dichtungsart die Berührung mit Bür-
Wolff, Eutiner Findlinge. 547
ger genügend charakterisiren, sei nur dem Anfang der einen
Romanze hier ein Platz gegönnt. Die hier gänzlich über-
gangene andere behandelt die Verwandlung des Aktäon
in gleichem Stile. Nach der Unterschrift 'T' waren sie an
Voss für den Musenalmanach eingesandt.
Leander und Hcro.
Romanze.
Schon ehmals sang der Leyermann
Musäus die Geschichte,
Die ich euch jetzt, so gut ich kann,
Erzähle und berichte.
Ein Jungling, der Leander hiess,
Kam einstens in ein Städchen,
Das seinem Blick die Hero wiess,
Das lieblichste der Mädchen.
Er machte einen Reverenz,
Der ihn zur Erde drückte.
Als er die Miss, im jungen Lenz
Zum erstenmahl erblickte u. s. w.
Eine Handschrift dieses Gedichtes hat sich auch in
Höltys Nachlass erhalten (vgl. Zeitschrift f. deutsche Phi-
lologie 2, 238).
Auch von einigen gedruckten Gedichten lagen Hand-
schriften noch in Eutin. Diese bieten Unterlage für Er-
gänzungen und Berichtigungen von Halms Hölty-Ausgabe.
Trinklied im Winter' und ^Die Liebe' CDiese Erd' ist
so schön') stimmen mit den Handschriften überein, die
Halm vorlagen.
Ferner findet sich eine von Halm vermisste Hand-
schrift des Gedichts 'Der befreite Sclave'. Überschrift:
'Lied eines befreiten Türkensclaven. 1776.' Nach Str. 1
ist im Manuscript eingeschaltet, im Druck fehlend:
Frei bin ich, wie das Vogelheer,
Das durch die Lüfte schwirrt!
Gottlob, dass keine Kette mehr
An diesem Arme klirrt!
Sonstige Abweichungen: Y. 7 Hs. : 'Dich fühl ich, süsse
Freiheit'. Druck: ^Dich hab ich'. V. 13 f. Hs.: ^Schon—
Schon'. Dr.: 'Da— Da\ V. 21 Hs. und Almanach: 'meinem
Taumel Krug'. Ausgabe: 'einem irdnen Krug'. Y. 23Hs. :
548 Wolff, Eutiner Findlinge.
'Und jedem Fürsten trink ich Fluch'. Dr.: 'Und trinke
jedem Fürsten Fluch'. Letzte Strophe Hs.:
Und Segen jedem Biedermann
Aus meinem Taumel Krug,
Der wider deine Wuth, Tyrann,
Die Freiheitsfahne trugl
Dr.: Und Segen jedem braven Mann,
Dess Herz für Freiheit schlägt,
Der gerne wider dich, Tyrann,
Die Freiheitsfahne trägt!
Schliesslich findet sich eine Handschrift des 'Hexen-
liedes', deren Vergleich mit den bisher bekannten Fassungen
dieses Gedichtes ein überraschendes Ergebniss hat: Die
Eutiner Hs. stimmt völlig mit dem Druck im
Musenalmanach von 1777 überein, weicht daher von
dem Text der Yossischen Ausgaben nur an zwei Stellen
ab: a) Y. 15 'die dampfenden ('dampfende' im Alm.) Hände'
.gegen 'die krallichten Hände' in Vossens Ausgabe; b) die
in den Vossischen Ausgaben vor der Schlusstrophe ein-
geschobene Strophe fehlt noch. Daraus ergibt sich 1) Die
Hs., welche Halm vorlag, enthält eine spätere, namentlich
in der 2. Strophe durchgreifende Überarbeitung zum Zwecke
der von Hölty geplanten Gesammt- Ausgabe. Voss blieb
indess der nach dem Urtext einmal gedruckten Fassung im
wesentlichen treu. Die Eutiner Hs. war, nach der be-
sondern Namensunterschrift zu schliessen, für den Alma-
nach bestimmt. Die 2. Str. lautet in Übereinstimmung mit
den sämmtlichen Vossischen Drucken:
Ein schwarzer Bock,
Ein Besenstock,
Die Ofengabel, der Wocken,
Reisst uns geschwind,
Wie Bliz und Wind,
Durch sausende Lüfte zum Brocken!
Dem gegenüber weist die von Halm benutzte Münche-
ner Hs. eine scenisch anschaulichere, weit vollkommenere
Fassung auf:
Ein schwarzer Bock
Kriecht untern Rock,
Und trägt uns zum taumelnden Brocken!
WolflF, Eutiner Findlinge. 549
Der Himmel lacht,
Die MaieDDacht
Träuft Perlen in unsere Locken!
Was also für Halm als nachträgliche prüde Abschwächung
Vossens erscheinen musste, ergibt sich uns nun als ursprüng-
liche Fassung Höltys. 2) Die Amiahme Halms (Hölty
S. 196) die Strophe ^Und Beizebub verheisst dem Trupp'
u. s. w. sei eine spätere Verbesserung der auf einem beson-
dern Blatt vor der letzten Strophe verzeichneten Verse
'Als Peuerdrach' u. s. w. , wird noch anfechtbarer. Schon
an sich widerspricht es den Regeln philologischer Kritik,
ohne sonstige Nöthigung eine mit Bezeichnung ihrer Stel-
lung im Gedicht gesondert aufgezeichnete Strophe für älter
anzusehen als die vorliegende Gesammtfassung des Gedichtes,
welche diese Strophe nicht enthält. Als Einschaltung nach
der vorletzten Strophe bezieht sich ausserdem *Als Feuer-
drach durchfliegt ers Dach' richtig auf 'Beizebub', dagegen
in der diesen Versen von Halm zugedachten Rolle als
frühere Form der vorletzten Strophe selbst sich 'er' wider
den Sinn auf 'Geisterschwarm' bezöge. Dazu kommt nun,
dass bereits die für den Almanach eingesandte Fassung die
Strophe 'Und Beizebub verheisst dem Trupp' enthält, — es
müsste denn bereits diese Fassung das Resultat einer -;-
unwahrscheinlichen — Umarbeitung sein.
Jedenfalls sehen wir uns vor die Möglichkeit einer
theilweisen Revision des Halmschen Urtheils 'über
die Vossische Bearbeitung der Gedichte Höltys' gestellt;
denn es ist die Vermuthung naheliegend, dass auch andere
Gedichte Höltys in der ersten Fassung mit dem Vossischen
Abdruck identisch oder doch näher verwandt waren als die
von Halm theilweise allein benutzten Überarbeitungen.
5. Lavater an Hell wag.
Der Adressat, Leibarzt der Herzogin von Oldenburg
und Physiker, lebte seit i 788 in Eutin. Vorliegender Brief
trägt noch die Aufschrift 'Magister in Tübingen'.
20. März 1777.
... Es ist wie Sie sagen. Ausbreitung physiognomischer
Kenntnisse muss Furcht und Scheue vor der Allgegenwart und
Allwissenheit Gottes befördern. Erst durch sie wird uns die
550 Wolff, Eutiner Findlinge.
Aufgeschlossenheit unserer Herzen vor den Augen Christus und
der Engel aufgeschlossen. Auch das ist wahr: Nur durch Phy-
siognomik wird der Mensch dem Menschen recht gegenwärtig und
geniessbar.
Ganz unfehlbar kann die Mathematik auf die Physiognomik
angewandt werden. Ich bin nun leider gar kein Mathematiker.
Aber doch ahnd* ich, ich möchte sagen, mit der Gewissheit eines
Propheten — dass die Physiognomik mathematischer Demonstra-
tion fähig ist, und durch die Mathematik so allbestimmbar wird,
dass kein Zweifel mehr dagegen möglich sein wird.
YgL Lavaters Physiognomische Fragmente 1, 52: ^Die
Physiognomik kann eine Wissenschaft werden , so gut aU
alle unmathematische Wissenschaften.'
6. A. W. Schlegel an Heinr. Voss d. j.
Goppet d. 2. October 1807.
. . . Seit dem Empfang Ihres Briefes vom 1. Juli habe ich, andre
Reisen und Abhaltungen nicht zu erwähnen, einen grossen Theil
der Schweiz durchwandert, und bin erst vor vier Wochen hieher
zurückgekommen. [Hofrath Eichstädt sei bereit, von ihm eine
2. Anzeige von Voss' Othello und Lear aufzunehmen.] ... In
sechs Wochen gehe ich wahrscheinlich nach Deutschland, um den
Winter dort zuzubringen, und hoffe dann Müsse dazu zu finden.
Hier fehlen mir sogar einige zur Vergleichung nöthige Bücher,
z. B. die neuesten Ausgaben des Shakspeare's.
Ich glaube Sie haben Unrecht von dem Stillschweigen oder
der Oberflächlichkeit der gelehrten Zeitungen auf kalte Aufnahme
Ihrer Arbeit beim Publicum zu schliessen. Es stände übel um
unsere Literatur wenn diese Folgerung gelten sollte. Ob und
wie, mit welchem Sinn und weicher Zuneigung ein Buch gelesen
wird, darauf kommt es einzig an . . . Wiewohl ich seit so vielen
Jahren, dass ich die Arbeit an Shakspeare angefangen habe, fast
nie in öffentlichen Blättern ein bedeutendes treffendes Lob der-
selben gelesen, war ich doch von jeher mit der Aufnahme un-
gemein zufrieden, weil mir viele Leser, die sich nicht anmassen
als öffentliche Beurtheiler aufzutreten, ihren Dank für den ihnen
verschafften Genuss herzlich geäussert haben. Dies wird Ihnen
sicherlich nicht entstehen, lassen Sie sich daher durch das Un-
wesen der literarischen Blätter die gute Stimmung nicht verderben,
und fahren Sie fort Ihre schönen Talente und gründlichen Kennt-
nisse den besseren Lesern zu widmen.
.... Es ist mir immer eine grosse Freude, mit einem ächten
Deutschen ein neues Verhältniss angeknüpft zu haben: dies ist
das einzige was in unsern verworrnen Zeiten den Muth aufrecht
erhalten kann.
WolflF, Eutiner Findlinge. 551
Meine hochachtungsvollsten Empfehlungen an Ihren Herrn
Vater. . . .
Ich erfahre hier fast nichts von den literarischen Vorfällen
in Deutschland. Wenn nur viel gutes davon zu melden wäre! . . .
A. W. Schlegel.
[Nächstens sende er 1 französische Schrift: Vergleichung
zwischen der Phädra des Euripides und der des Racine.] Es ist
ein fast nur zum Scherze angestellter Versuch, ich kann wohl nur
von deutschen Lesern verstanden und gebilligt zu werden hoffen.
Aber hat doch auch der heil. Antonius den Fischen gepredigt. . . .
Heinr. Yoss trat zunächst nicht in Concurrenz zu
Schlegel, da dieser ^Lear' und ^Othello' nicht übertrug.
Über die wechselvollen Beziehungen A. W. Schlegels zu
Voss Vater und Sohn s. Herbst, Voss 112, 26, 115, 119 f.,
besonders 166 flf. — Der hier erwähnte Brief vom I.Juli
muss sich inhaltlich mit dem an Qoethe vom 14. März des-
selben Jahres berührt haben (Goethe - Jahrbuch 5, 63 f.),
worin sich Voss bereits über die allzu strenge Recension
seiner Übersetzung in Eichstädts Jenaer Littcratur-Zeitung
beklagte. Den vorliegenden Brief erwähnt Heinr. Voss am
17. October gegen Charlotte Schiller (Urlichs, Ch. Schiller
und ihre Freunde 3, 234) ; im Anschiuss an Schlegels eigene
Worte sagt er über die ^Comparaison entre la Phedre de
Racine et celle d'Euripide^ (die noch 1807 in Paris erschien) :
^Soll es zur Belehrung und Bekehrung der Franzosen sein,
so möchte er bei diesem Wasservolke wohl in den Wind
gesprochen haben. Aber freilich hat auch der heilige An-
tonius den Fischen gepredigt.'
7. Oehlenschläger an Heinr. Voss d. j.
Copenhagen den 26. Juli 1810.
... Ich kann Dir nicht genug für die Güte danken die Du
meinen Geisteskindern erzeigst als ein wahrer Pflegevater, damit
sie anständig und reinlich gekleidet aus der Kinderstube in die
Gesellschaft heraustreten. Ich werde Dir mit Freuden denselbigen
Dienst leisten, wenn Du einmal Deine Schriften ins Dänische
übersetzest.
Sollte es vielleicht gut sein in einer Anmerkung zu Palnatoke
darauf aufmerksam zu machen, wie [folgt der genau im Vorwort
gedruckte Hinweis auf die Teilsage] die Begebenheit mit dem
Apfel , . .
Ich danke Euch, weil Ihr mich liebt; ich liebe Euch wieder.
Grüsse Deinen lieben Vater und danke ihm für seine Umarmung
552 Wolff, Eutiner Findlinge.
und weil er mich nicht für einen Romantiker hält. Ich bin
weder romantisch noch antik, ich bin ein Dichter für mein Jahr-
hundert, wie Er ; und ich glaube das moralische tiefe Gefühl des
Herzens, das sich mit Phantasie, Wilz und Verstand verbindet,
und das man so weder bei den Alten noch in den Romanzen
fmdet (weil es eine Blume neuerer Zeit ist) eben das ist, was
die Sympathie unsrer Herzen ausmacht ....
Dein A. Oehlenschläger.
Heinr. Voss hat also der deutschen Selbstübersetzung
Oehlenschlägers nachgeholfen. Bekanntlich gab ihm auch
Goethe 'Hermann und Dorothea' zur metrischen Säuberung.
Über Oehlenschlägers Verhältniss zu Vossens sprechen seine
'Lebenserinnerungen' 2, 59 f. u. 228 ff.; s. ebda, über seine
Stellung zur Romantik im Hinblick auf den Anti -Roman-
tiker Voss d. ä.
8—13. Ernestine Voss an Abraham Voss.
1882, als man in Eutin den hundertjährigen Gedenktag
von Vossens Übersiedelung in das freundliche Städtchen
feierte, sandte Abrahams Sohn Hermann die Briefe seiner
Grossroutter an seinen Vater der Eutiner Gymnasialbibliothek
zum Geschenk. Da in Veröffentlichung von Briefen Erne-
stinens schon genug gethan, beschränke ich mich auch hier
auf kurze Auszüge des positiv Neuen. Abraham wirkte
1810—- 2t in Rudolstadt, darauf in Kreuznach am Gymnasium.
Heidelberg d. 26. December 1817.
. . . Herzlich verlangt uns jetzt nach einem Brief von Dir
über Jena. Der Brief von Fritsch aus Weimar nach Berlin , in
der Allgemeinen Zeitung hat doch den Schein der Ächtheit, und
nach diesem hätte Fries einen starken Verweis bekommen, den
wir ihm nicht gönnen. Sein Schwager der von dort zurück kam,
behauptet, ihm sei nichts widerfahren. Öiese Dinge beschäftigen
uns sehr. Die Beschreibung des Burschenfestes las uns Papa bei
Tisch meist vor. Der altdeutsche Ton, indem sie geschrieben,
thut beim Vorlesen gute Wirkung. Durch den Lärm der aller
Orten dagegen entsteht, bewirken sie gerade das Gegentheil von
dem was sie wollen. Die Schrift die mit einer Menge Unter-
schriften der Bundesversammlung vorgelegt werden soll, lasen wir
neulich im Rheinischen Merkur mit grossem Antheil. Papa billigt
Deine Unterschrift, hieher kommt so was nicht. Wir hofjfen doch
auf Wirkung. Die Grossen treiben es zu weit mit ihrem Wort
geben und nicht halten. Gott bewahre uns vor Krieg mit Frank-
reich, das beunruhigt mich sehr. So eben fangt erst wieder Ruhe
Wolff, Eutiner Findlinge. 553
wieder an aufzublühen , bei wenigen noch Wohlstand , und was
haben die Fürsten jetzt von ihren Völkern zu hoffen. Die Frei-
willigen stellen sich nicht wieder voran . . .
Heidelberg den 5. Julius 1818.
. . Wie wohl uns mit dem lieben Jean Paul geworden, das
kann ich Dir auch gar nicht beschreiben. Sein herzliches ein-
faches äussere zieht einen gleich an. Den ersten Mittag blieb er
bei uns, dass sagte er versteht sich von selbst, und wir waren
gleich wie längst bekannt. Eine solche Lebendigkeit sah ich noch
nie, und völlig so wie in seinen Schriften, springt er von eins
aufs andere. Ein ordentliches Gespräch mit ihm zu führen, ist
eine reine Unmöglichkeit, denn er unterbricht in eins weg, und
doch kömmt einen nie die Empfindung dies wäre Eitelkeit sich
selbst reden zu hören, oder Mangel an Theilnalmie zu wissen,
was ein anderer zu sagen hat. Er verliert den Faden den er
unterbricht nie, bittet immer wieder anzuknüpfen, begriff dann
oft nicht, dass dies für den der unterbrochen worden nicht mög-
lich ist. Es ist uns allen ein wahrer Genuss gewesen ihn mit
Papa (den er unendlich lieb gewonnen) reden zu hören, er wollte
immer so viel von ihm, über sich selbst und andere, und über
Sachen hören; Papa hat sich immer heiss gesprochen, der Jean
Paul hört fast so schwer wie Hans, aber Papa blieb immer in
der heitersten Stimmung, nur dass er klagte, er müsse hungrig
von Tische gehen, weil dass Essen unbedeutende Nebensache
ward. 5—6 mahl war er zu Mittag und zweimahl zu Abend
bey uns. Und was hat er uns da alles erzählt. Auch ich habe
das wohlthätige Gefühl, dass er mich sehr lieb gewonnen, und
dass nicht blos, weil ich seines Heinrichs Mutter bin. Eine gar
schöne Stunde hab ich mit ihm allein im Garten gehabt, weil
ich sie begehrte, von der erzähle ich Dir auch einmahl. Der
Anfang von Papa seinem Leben und dessen Briefe aus Halber-
stadt über Gleim, Wieland u. s. w. haben ihm grosse Freude ge-
macht . Selbst Heinrich wusste nicht, dass Jean
Paul Schlegel nicht leiden konnte Beym ersten
Besuch hat Schlegel Papa recht gut, beym zweiten gar nicht ge-
fallen, er ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt
Bey Paulus ist er fast jeden Abend und liest aus den Nie-
belungen vor Er [Jean Paul] hat uns alle auf die
gutmüthigste Weise geneckt, dass wir so wenig von ihm gelesen
haben. Er selbst hat ein ungeheures Gedächtniss, und liest
erstaunlich viel, altes und neues, alles mit Antheil
Heidelberg 28. März 1819.
. . . Schrecklich hat auch uns wie jeden, diese Geschichte
[Kotzebues Ermordung] aufgeregt. So mitten aus dem Kreise seiner
554 Wolff, Eutiner Findlinge.
Familie: durch einen Dolch, die Peitsche sagte einer, gewiss weisst
du wer? die hätte er verdient für so manchen Bubenstreich, der
Dolch bringt ihn zu höherer Ehre als er werth ist, und die Kraft
die sich dazu berufen fohlte, hätte verdient für einen höheren
Zweck zu fallen. Die armen Eitern dieses jungen Mannes, wie
dauern sie mich. . . .
Heidelberg 30. May 1819.
... Er [Papa] schreibt nemlich eine sehr weitläufige Abhand-
lung, die den Titel führt: Wie ward Fr. L. Stolberg ein Unfreyer?
Es wird eine einzig schöne Schrift, die gerade in dieser Zeit wo
Adel und Pfaffen sich so gewaltig zu heben suchen, von grosser
Wirkung sein wird, wie wir zu Gott fest hoffen und glauben.
Der Ton des ganzen ist äusserst milde , aber die' Sachen sind
stark ! Die Veranlassung dazu ist für einen Brief nicht geeignet,
sie ist aber so merkwürdig, dass sie uns ein Wink von Gott
scheint, alles liegen und stehen zu lassen, und dies anzugreifen.
Mit diesem Gefühl hat Papa seine Arbeit begonnen, und es hat
ihn in der ganzen Zeit nicht verlassen, da kann es ja nicht anders
als gelingen. Papa hat den Söhnen von Stolberg, die uns kind-
liche Anhänglichkeit zeigen, gesagt, dass er sich gedrungen fühle,
ehe er aus der Welt gehe, da wo ihr Vater nach seiner Über-
zeugung zum Bösen wirke, entgegen zu wirken, sie möchten ihm
dies melden, und ohne seine ausdrückliche Erlaubniss, unser Haus
nicht wieder besuchen, erhielten sie diese, so wären sie vor wie
nach unsere lieben Hausfreunde, und könnten ohne Furcht kom-
men, dass diese Dinge im Gespräch berührt würden. Die jungen
Leute, besonders der jüngere waren sehr gerührt, dies war gestern
vor drei Wochen , also kommen sie wohl nicht wieder. — Ohne
diese Vorsicht wäre Papa bestimmt der Heuchelei beschuldigt, dass
er die Söhne freundlich behandelt, während er gegen den Vater
schrieb . .
Heidelberg d. 29. December 1819.
Stolbergs Tod hat uns tief bewegt, aber Papa
seine Ruhe ist gottlob keinen Augenblick unterbrochen, weil er
sich seiner reinen Absicht bewusst, und fest auf den Nutzen
rechnet, den er der guten Sache bringen wird. Das Geschrei
kann ihn eigentlich nicht stören, obgleich es ihn unangenehm
berührt
Heidelberg d. 25. Januar 1 830.
. . . Die Briefe von Göthe und Schüler die ich in dieser
Zeit gelesen, geben mir auch die Verpflichtung, euch seinen innern
Zustand in Jena zu geben, denn wir hatten beyde das Gefühl,
dass dieses die unglücklichste Zeit unseres Lebens war, und gaben
uns doch gegenseitig das Versprechen alles Herbe zu bekämpfen,
und nur die lichten Seiten zu suchen, welches uns auch am
Ende gelang, denn es gab sehr viel lichte Seiten. Göthe hat
Wolff, Eutiner Findlinge. 555
offenbar unsern Vater sehr viel zu tief unter sich gestellt; das
steife Halten an Formen ist immer der Hauptzug wenn von Voss
die Rede ist. Göthe mied Deinen Vater, weil er in ihm nicht fand,
was seine Natur bedurfte, einen der in seinen Ideen mit ihm lebte.
Doch hatte er sehr viele Perioden, wo das, was Voss zu dem machte,
was er war, sein Herz in Anspruch nahm, und ihn erkennen liess,
was er nicht verkennen durfte. Wie oft hat er sich in solchen
Stunden herzlich ausgesprochen, und wie innig haben wir das
Liebenswürdige in ihm anerkannt und geliebt. In solchen Stunden
hat er gehandelt und des Vaters Gefühle für Jena und Weimar
wohlthätig gehoben. Des Vaters Körperzustand in Jena, und das
Gefühl des Lossreissens von Allem, was ihm bisher lieb war, hat
er nie getheilt, daher konnte er auch nicht mit empfinden, wie
der Vater allmählig dies besiegte, und sich glücklich fühlte in der
Beschäftigung bey Lesung aller deutschen Bücher seinen Adelung
zu bereichern. Diess Alles möchte ich auch entwickeln ohne
Göthe in den Schatten zu stellen. Aber ich fühle wohl, dass
dies Wünsche sind, die mir schwerlich zu erfüllen bestimmt sind. . . .
Die Auffassung der burschenschaftlichen Bewegung,
wovon im ersten Briefe Ernestinens die Rede ist, lässt den
Jünger Elopstocks bis ins Oreisenaltcr als consequenten
'Tyrannenhasser' erscheinen (vgl. Herbsts Andeutung II 2,
179). — Über Jean Pauls Beziehungen zur Familie Voss
vgl. seinen Briefwechsel mit Heinr. Voss sowie Herbst II 2,
149 f., jetzt auch Nerrlich, Jean Paul S. 577 ff. In späteren
Briefen (an Abeken 1824 u. 1827, — Polle in s. Dresdener
Programm 1882u. 1883, 1, 12 u. 2,20) wird Ernestine nicht
müde, J. Pauls Selbstüberschätzung und Eitelkeit zu rügen.—
Hans ist Ernestinens Sohn, Baumeister, von einer Krank-
heit schwerhörig geblieben (Herbst II 1, 14; 112,35). —
Über die Jenaer Zeit und die Beziehungen zu Goethe s.
Ernestinens Erläuterungen in den 'Briefen von Joh. Heinr.
Voss' III 2, 54 ff. sowie Urlichs, Charlotte Schiller u. ihre
Freunde 3, 194. — Den Bruch mit Stolberg behandelt
Herbst ausführlich II 2, 182 ff., dazu hier einige Bemer-
kungen der treuen Ernestine. All diese Briefe athmen den
starken^ männlichen Geist, welcher der Lebensgefährtin des
Homer -Verdeutschers so wohl ansteht. Sie starb 1834 im
78. Lebensjahre.
Kiel. Eugen Wolff.
556 Kettner, Der Mohr in Schillers Fiesko.
Der Mohr In Schillers ^Fiesko'.
I. Die Chronologie des Dramas.
Kaum ein zweites Drama entwickelt eine so reiche
und bewegte Handlung in so strenger zeitlicher Folge, wie
Schillers ^Fie8ko\ Nicht bloss dass die einzelnen Scenen
und Acte in geschlossenem Zusammenhang stehen, so dass
jedes neue Moment gerade da einsetzt, wo das vorhergehende
abgelaufen ist^), der Dichter hat auch dafür gesorgt, dass
wir den Verlauf der Zeit genau verfolgen können : die ein-
zelnen Tage sind scharf geschieden, jeden derselben durch-
leben wir vom Anbruch bi& zum Schluss, die Stunden, ja
mitunter selbst die Minuten werden wiederholt nachdrück-
lich hervorgehoben.^)
Es ist nothwendig, sich diese strenge Gliederung der
Handlung einmal zum Bewusstsein zu bringen.^) Yon den
Zeitangaben, welche die Scenen, in denen der Mohr auf-
tritt, enthalten, sehe ich dabei zunächst ab; ich kann es
um so eher, da sein Auftreten nirgends eine selbständige
Scenenreihe bedingt, sondern sich stets theils am Anfang
theils am Schluss an die nachher aufzuführenden Scenen-
reihen anschliesst. Im Hinblick auf die später nothwendigen
Verweisungen habe ich dieselben numerirt, jede bezeichnet
einen neuen Zeitabschnitt.
Das Stück spielt, wie das Personenverzeichniss angibt,
1547*); ActV Sc. 14 w^ird die dritte Jännernacht als
') In dieser Beziehung ist die Composition des Trinzen von
Homburg' ähnlich, vgl. 0. Brahm's Kleist S. 350.
*) Dieselbe strenge zeitliche Gliederung, doch ohne Betonung der
Stunden, zeigen noch ^Cabale und Liebe' und 'Wallenstein*, auch in
diesen Dramen dauert die Handlung — wenn man in dem letzteren
die *Piccolomini' nach der älteren £intheilnng bis zum Schluss des
II. Actes von 'Wallensteins Tod' rechnet — zwei volle Tage; nur so-
weit hat Schiller die alte Regel der 'unit^ de temps' hier ausgedehnt.
') Sehr fluchtig weist auf dieselbe hin Düntzer in seinen Erläu*
terungen, Leipzig 1877 S. 89—91 ; noch oberflächlicher verfahrt L. Beller-
mann, Schillers Dramen, Berlin 1888 1, 116—117.
*) Auch Schillers Hauptquelle, die *Conjuration du corate de
Fiesque par le Cardinal de Retz', beginnt sogleich mit der Angabe: *Au
Kettner, Der Mohr in Schillers Piesko. 557
Datum der Empörung genannt. Darnach können wir die
einzelnen Tage genau bestimmen ; sie werden, wie mehrfach
angedeutet ist (vgl. z. B. Nr. 6 a. E.), von der Nacht an
gerechnet.
1. Januar, Act I. II.
Nr. 1) Der Tag beginnt mit dem Ball bei Fiesko
(ActI Sc. 1—9) noch vor Mitternacht. ^Musik lärme die
Mittemacht aus ihrem bleiernen Schlummer^, ruft Fiesko
bald nach dem Beginn, Sc. 4. Mit den Worten ^Es wird
Mitternacht, die Zeit rückt heran', verabschiedet sich Gia-
nettino am Anfang von Sc. 6. ^Es ist 50 Minuten auf Mitter-
nacht^ erwidert Fiesko auf Bourgognino's Forderung Sc. 8.
2) Noch während der Ball zu Ende geht, ist Gianettino
bei Yerrina s Tochter eingedrungen. ^Das Mädchen ist
jetzt allein', hat Lomellino ihm bei Fiesko zugeflüstert
(Sc. 5); in demselben grünen Mantel, in den er (statt des
Purpurs) auf dem Ball maskirt war (Sc. 2), ist er bei ihr
gewesen (Sc. 10). In derselben Nacht noch treten wir
(Sc. 10) mit Verrina zu ihr. 'Ich habe heute Abrechnung
gehalten mit allen Freuden der Natur .... Bertha! meine
letzte übrige Hoffnung — Genuas Freiheit ist dahin —
Fiesko hin', sagt er mit Bezug auf die Enttäuschung, die
er Sc. 7 erfahren. Da in der nächsten Scene (11) Ealkagno
mit den Worten eintritt: 'Verrina, geschwind! Mache Dich
fertig! Heute hebt die Wahlwoche der Republik an.
Wir wollen früh in die Signoria, die neuen Senatoren er-
wählen. Die Gassen wimmeln von Volk. Der ganze Adel
strömt nach dem Rathhaus', so spielt die ganze Scenenreihe
10 — 13 am Morgen des ersten Tages.
Der zweite Act führt uns den ganzen Verlauf dieses
Tages vor Augen.
3) Das erste Drittel desselben Sc. 1 — 11 in Fiesko's
Palast knüpft unmittelbar an den Schluss des vorigen an.
Um jenen 'Zug nach dem Rathhaus zu sehen', kommt Julia
zu Leonore; der frühen Tageszeit entspricht es, dass ihr
commencement de Tannee mil cinq cent quarante sept, la republique
de Genes se trouvait' etc. (Tch citire sie nach der am bequemsten
zagTinglichen Didotschen Stereotypausjjfabe in den Chefs-d*cenvre histo-
riques ed. A. de Latour 1, 59—118).
Vierteljahischrift für Intteratnrjfeschichto III 37
558 Kettner, Der Mohr in Schillers Fiesko.
die cioccolata gemacht wird. Ohne Pause spielen sich die
folgenden Scenen in demselben Zimmer ab; Fiesko sieht
(Sc. 4) von ihm aus die Menge 'vom Rathhaus herabkom-
men'. 'Unmöglich kann die Sitzung schon aus sein . . .
unmöglich kann sie rechtmässig aus sein'. Dann empfangen
wir (Sc. 5) den Bericht über Lomellino's Wahl zum Pro-
curator.
4) Die nächste Scenenreihe (12—14) in Doria's Palast
landet gegen Mittag statt. Sogleich zu Anfang orientirt
uns der Dichter : 'Dreistundenlanger Procurator' redet Gia-
nettino den Lomellino an. Für übermorgen wird die Er-
mordung der zwölf Senatoren geplant, denn in zwei Tagen
ist Dogenwahl.
5) Es ist Spätnachmittag geworden, wenn wir wie-
der bei Fiesko eintreten (Sc. 14 — 19). Die Verschworenen
kommen Sc. 17 mit dem Gemälde der Verginia, noch bei
Tageslicht stellt es der Maler auf: 'Das Licht muss von
der Seite spielen. Ziehen Sie jenen Vorhang auf! Diesen
lassen Sie fallen!' Aber die Dämmerung des Wintertages
bricht bald herein: 'Über dem ernsten Gespräch hat uns
die Nacht überrascht', sagt Fiesko am Schlüsse der folgen-
den Scene. Mit 'Gute Nacht!' verabschiedet sich Verrina
von ihm. Der Termin der nächsten Zusammenkunft wird
noch verabredet und durch Wiederholung dem Hörer fest
eingeprägt; Fiesko: 'Morgen Mittag will ich Eure Meinun-
gen sammeln'. Verrina: 'Morgen Mittag denn'. Damit
führt letzterer den Bourgognino hinweg: 'Komm! Du wirst
etwas Seltsames hören'.
2. Januar, Act III. IV.
6) Der Tag beginnt wieder tief in der Nacht. Die
Anfangsscene schliesst sich auch hier unmittelbar an den
Schluss des vorhergehenden Actes. 'Verrina, Bourgognino
kommen durch die Nacht'. 'Der dumpfe Schmerz, womit
Du mich abriefst, keucht noch immer aus Deinem arbeiten-
dem Odem', sagt Bourgognino zu Verrina. Doch ist wäh-
rend der Wanderung aus der Stadt in die 'furchtbare WUd-
niss' die Zeit so weit vorgerückt, dass Verrina auf die
Kettner, Der Mohr in Schillers Fiesko. 559
Scene bei Fiesko (Nr. 5) mit den Worten hinweisen kann:
^Sähest Du ihn ge stern in unserer Bestürzung sich spiegeln?'
7) Wir kehren zu Fiesko zurück in der 'Morgen-
dämmerung' (Sc. 2). Auch hier orientiren uns wieder
seine ersten Worte: ^Der Morgen kommt feurig aus der
See\ Der Prospect zeigt bald darauf ^Stadt und Meer vom
Morgenroth überflammt'. Leohore fürchtet Sc. 3 Fiesko's
'Morgenruhe zu stören', die bekannten Worte Othello's
( Act V Sc. 2): 'Let me not name it to you, you chaste stars!'
sind deshalb auch in ihrem Munde verwandelt in: 'Lass es
mich nicht vor Dir aussprechen, jungfräuliches Licht!'
Es gilt, gerade hier sich die Bestimmtheit und Aus-
führlichkeit der Zeitangaben gegenwärtig zu halten.
8) Die Verschworenen erscheinen Sc. 5. — Auf den
Mittag waren sie bestellt (Nr. 5 a. E.). Dem entspricht
es, dass, als Fiesko, nachdem die Pläne der Übrigen ver-
worfen sind, vorschlägt: 'Also Aufruhr und den noch diese
Nacht!', Sacco einfällt: 'Diese Nacht noch? und es ist nichts
gethan, und die Sonne geht schon bergunter?' 'So-
bald es Abend wird, will Fiesko die vornehmsten Vergnügten
zu einer Lustbarkeit bitten'. Als dieselben V, 3 in den
Schlosshof treten, bemerkt Zibo 'Acht Uhr ist die bestellte
Stunde'; vgl. Nr. 10.
Dass die Zusammenkunft Mittags stattfand, darauf deutet
auch in der folgenden Scenenreihe Fiesko hin, als er zu
dieser Lustbarkeit Julia einlädt: 'Diesen Mittag ist eine
Gesellschaft Florentinischer Schauspieler hier angekommen
und hat sich erboten, in meinem Palaste zu spielen' (Sc. 10).
Für den Hörer ist die Ironie verständlich, hatte doch jene
Scene mit dem Gespräch zwischen Fiesko und dem Mohren
geschlossen (Sc. 6) : 'Alle , deren Namen auf diesem Blatt
stehen, ladest Du zu einer Komödie auf die Nacht. —
Mitzuspielen vermuthlich, das Entr6e wird Gurgeln kosten'.
Derselbe Vergleich kehrt nachher auch in der Ansprache
Fiesko's an die Geladenen IV, 6 wieder: 'Ich bin so frei
gewesen, Sie zu einem Schauspiel bitten zu lassen, nicht
aber, Sie zu unterhalten, sondern Ihnen Rollen darin auf-
zutragen', ebenso Sc. 10: 'Ich habe Euer aller Rollen zu
Papier gebracht'.
37*
560 Kefctner, Der Mohr in Schillers Fiasko.
9) Bei Anbruch des Abends besucht Gianettino
seine Schwester (Sc. 8); sein Eintrittsgruss orientirt uns
wieder sofort über die Zeit. Piesko kommt (Sc. 10), um
Julia einzuladen. Er bemerkt dabei gegen Gianettino:
'Diesen Abend werden die Anker (der Kreuzer) gelichtet
. . . Der Vorgang dürfte gegen Abend einigen Auflauf . . .
verursachen', indem er in ganz natürlicher Weise den eigent-
lichen Abend von dem frühen Einbruch der Winterdämme-
rung unterscheidet.
10)>Zu der in Nr. 8 angegebenen Zeit erscheinen die
Geladenen in Piesko's Schlosshof, Act IV, 1—10. Wieder
wird sogleich, sowohl scenarisch als im Dialoge die Zeit
fixirt: 'Wie viel ist die Glocke? — Acht Uhr vorüber.'
Als Sc. 5 die Verschworenen hinantreten 'geht es stark auf
9 Uhr.' An die Winterzeit erinnert den Hörer Zenturione's
'Fuh! Es ist grimmkalt', an den Zusammenhang der Tage
seine Bemerkung 'Morgen ist Dogenwahl', vgl. Nr. 4.
11) Bei dem Wechsel der Scene (11 — 15 im Concert-
saal) ist es '11 Uhr vorüber'.
Nacht zum 3. Januar, Act V.
'Nach Mitternacht' besagt das Scenarium ; 'Mitternacht
ist eine ungewöhnliche Stunde', so nimmt auch hier wieder
sogleich zu Anfang Doria im Dialog diese Angabe auf. Der
Ausbruch der Empörung bildet ein einziges Nachtbild, auch
am Schluss ist der Tag noch nicht angebrochen, Sc. 12
leuchtet man gegen den Leichnam der Leonore, Sc. 14
spricht Doria von der dritten Jännernacht.
II. Die Chronologie der Mohrenscenen.
Mit beispielloser Genauigkeit hat Schiller eine bestimmte
Zeitrechnung in seinem Drama durchgeführt, alle Momente
der Handlung sind zeitlich scharf fixirt, alle Angaben sorg-
faltig in Einklang gebracht. Nur ein Factor lässt sich
schlechterdings nicht mit dieser Rechnung vereinigen: es
sind die Zeitangaben, welche die Scenen enthalten, in denen
der Mohr auftritt.
Er tritt zuerst zweimal in der ersten Scenenreibe auf.
In Sc. 2 erhält er den Auftrag, Fiesko zu ermorden, in
Kettner, Der Mohr in Schillers Fiesko. 561
Sc. 9 versucht er, ihn auszuführen. Eben hatte Bourgog-
nino gesagt 'es ist 50 Minuten auf Mitternacht^ und
wenige Seiten darauf, am Schlüsse seines Gesprächs mit
Fiesko bemerkt der Mohr 'Jetzt ists früh 4 Uhr. Morgen
um 8 habt ihr soviel Neues erfahren, als in zweimal sieben-
zig Ohren geht'. — Das Leipziger Bühnenmanuscript hat
den schreienden Widerspruch zu mildem gesucht, indem es
Bourgognino vorher sagen liess: 'Der Morgen ist kaum
angebrochen^ der Corrector desselben setzte dafür: 'Es ist
4 Uhr nach Mitternacht', was natürlich weder zu der nach-
herigen Angabe des Mohren noch der Zeitbestimmung der
vorhergehenden Scenen passt.
'Morgen um 8' wollte der Mohr wieder bei Fiesko sein.
Man kann einen Augenblick schwanken, ob unter dem
'morgen' der unmittelbar darauf folgende oder erst der
nächste Tag zu verstehen sei. Da aber, wie wir sahen,
im Fiesko der Tag stets mit der Nacht beginnt, so werden
wir uns für die zweite Erklärung entscheiden. Dement-
sprechend lässt auch der Dichter den Mohren, als er wieder
vor Fiesko erscheint, mit den Worten empfangen: 'Und
nun sind dreissig Stunden vorbei. Hast du meinen Auf-
trag vollzogen?' Aber — und hier stossen wir wieder auf
einen Widerspruch — diese Mohrenscene fallt (Act II Sc. 4)
in Nr. 3 , findet also doch noch am Morgen desselben
Tages statt!
Am Schluss dieser Scenenreihe wird der vereitelte
Mordversuch des Mohren auf Fiesko's Befehl zum Scheine
wiederholt, der Mohr von ihm ergriffen und hinausgeschleift.
Das Weitere hören wir in der 4. Scenenreihe aus Lomelli-
no's Munde (II, 14). Auch hier noch zieht das Eingreifen
des Mohren in die Handlung eine auffallende Willkür und
Gewaltsamkeit in der Behandlung der Zeit nach sich. Lo-
mellino hat sich am Ende von Sc. 12 auf den Wink des
Andreas entfernt, um Julia auf ihrer Ausfahrt zu begleiten.
Das nun folgende Zwiegespräch zwischen Oheim und Neffen
umfasst die 6ine kurze Sc. 13, die auf der Bühne etwa
sechs Minuten dauert. Nach einer kaum zu rechnenden
Pause, in der 'Gianettino dem Herzog glühend und sprach-
los nachsieht', tritt Lomellino wieder ein. Das Motiv, dass
562 Kettner» Der Mohr in Schillers Fiesko.
er Julia begleiten sollte, wird, ohne ein Wort darüber zu
verlieren, fallen gelassen. Er ist in der Zwischenzeit auf
dem Markt gewesen, wo eben das Volk sich um den Mohren
drängte, der an Stricken dahergeschleift wurde, ist dann
mit Fiesko und den dreihundert Nobili ihm nach bis ins
Richthaus gegangen, hat dem Verhör des Verbrechers, der
darauf folgenden zweimaligen Folterung desselben und dem
Auftreten Fiesko^s mit beigewohnt, seine kurze Rede mit
angehört, seine Begnadigung des Mohren und seine Heim-
führung im Triumph mit angesehen! Das alles hat er
während jenes kurzen Zwiegesprächs erlebt! Ich bin mir
sehr wohl bewusst, dass man dem Dichter die Zeitdauer
nicht ängstlich nachrechnen darf, dass die Zeit des Dramas
eine ideale ist, und ich würde an sich auf die Unwahr-
scheinlichkeit noch kein Gewicht legen; aber einmal scheint
mir dieselbe hier, zumal im Vergleich zu der sonstigen auf-
fallenden Realistik der Zeitrechnung gerade in diesem
Drama ^) das Mass des Zulässigen zu übersteigen und zu
grell in die Augen zu fallen, zweitens aber gewinnt im
Zusammenhang mit den übrigen Inconvenienzen, zu denen
das Auftreten des Mohren führt, auch dieses Moment eine
andere Bedeutung.
Kein wesentliches Bedenken erweckt sein Wiederer-
scheinen beim Beginn der 5. Scencnreihe. Dass er, der
Mittags erst zweimal gefoltert ist, am Nachmittage bereits
wieder verschiedene Aufträge besorgt hat, wird niemanden
sonderlich stören.
Dagegen schiebt sich die nächste Mohrenscene III, 4
in auffallendster Weise zwischen die 7. und 8. Scenenreihe.
Scheinbar dient sie dazu, ein Bindeglied zwischen denselben
herzustellen, in Wahrheit aber widerspricht sie auf das
schroffste den Voraussetzungen beider.
*) Wie weit diese Realistik geht, wie genaa Schiller auch die
Zeitdauer der Scenen fQr die Zeitrechnung innerhalb des Dramas
in Anschlag bringt, zeigt V, 9. Hier sagt Zibo : *Ich sah ihn [Ciianettino]
vor acht Minuten lebendig in gelbem Busch und Scharlach herum-
gehen'. Er meint seine Begegnung mit der in Gianettino*s Tracht
verkleideten Leonore a. E. von Sc. 5; die Zwischenhandlung nimmt
in der That ungefUhr soviel Zeit in Anspruch.
Kettner, Der Mohr in Schillers Fiesko. 563
Noch während des kurzen Gesprächs zwischen Fiesko
und Leonore — es fand, wie wir sahen, gleich nach Sonnen-
aufgang statt — 'hört man den Mohren'. Der frühen Tages-
zeit entspricht es, dass er die Papiere Lomellino's 'warm
aus den Händen seiner Bononi' bringt, denn 'früh sechs
sollte er wieder bei ihr anfragen'. Hierzu steht es schon
in einem gewissen, wenn auch unerheblichen Widerspruch,
wenn wir am Schluss der Scene hören, dass er doch nicht
direct zu Fiesko geeilt ist, sondern, nachdem er den ver-
hängniss vollen Inhalt der Papiere gelesen, erst noch die
vier Verschworenen zu Fiesko berufen hat. Dagegen macht
es schon an sich durchaus den Eindruck einer nachträg-
lichen, willkürlichen Änderung einer früheren Con-
ception, dass er Fiesko's Befehl, 'die ganze Verschwörung
zusammenzurufen', 'vorausgewittert und darum jeden auf
seine Faust Punkt 10 Uhr hierher bestellt hat'. Und in
demselben Augenblick hört Fiesko die Tritte der Kommen-
den, und alsbald sehen wir sie eintreten! — Dieser Ein-
druck einer späteren Correctur wird zur Gewissheit durch
die Widersprüche, welche die Zeitangabe hervorruft. Sie
passt nicht zu der vorhergehenden Scene, denn in dieser
war eben der Tag angebrochen; sie passt nicht zu der
folgenden, denn die Zusammenkunft der Verschworenen
sollte erst am Mittag erfolgen und findet auch wirklich,
wie wir in Nr. 8 sahen, erst am Mittag statt. Schiller hat
durch die Mohrenscene die grössere erste Hälfte des UI. Actes
zu einer einzigen Scenenreihe zusammengeknüpft, ohne
irgend eine Pause läuft nun die Handlung von Sc. 1 — 7;
aber zu welchen Gewaltsamkeiten führt diese Verknüpfung !
In Sc. 1 dämmert der Morgen, sehen wir die Sonne auf-
gehen, in Sc. 7 klagt Sacco, dass sie 'schon bergunter gehe\
und das, nachdem die letzte Scene kaum um 10 Uhr früh
begonnen hatte!
Mit dieser Scene 'hat der Mohr seine Arbeit gethan';
sein weiteres Auftreten ist ohne Belang. In den ersten
drei Acten dagegen sprengt dasselbe den ganzen in diesem
Drama sonst so festgefügten zeitlichen Zusammenhang.
Betrachten wir nun
564 Kettner, Der Mohr in Schillers Fiesko.
III. Die Bedeutung des Mohren für die Handlung
des Dramas.
Er greift in dieselbe zuerst ein, am Schlüsse des
I. Actes, durch den auf Gianettino's Befehl unternommenen
Versuch, Fieske zu ermorden. Schiller hat dies Motiv
zwar theatralisch wirksam entwickelt, zu der Handlung
selbst aber nirgends in irgendwelche Beziehung gesetzt
Weder wird es zu einer Entschuldigung oder Rechtfertigung
von Fiesko's Verhalten in den Augen des Zuschauers ver-
wendet, noch hat es die mindeste Wirkung auf den Helden
selbst. Nicht bloss, dass der Entschluss der Empörung in
demselben längst vorher feststeht, auch auf die Ausführung
gewinnt der neue Umstand nicht den geringsten Einfluss,
ja man bemerkt überhaupt nicht, dass dies Erlebniss Fiesko's
Stimmung auch nur einen Augenblick änderte, nur zu einem
behaglichen Spiel mit dem Gauner regt es ihn an, dem
wir eine zwar sehr lebendig durchgeführte, aber für das
Drama doch völlig entbehrliche Scene verdanken; die —
im Stile der Spiegelbergscene, 'Räuber' II, 3 gehaltene —
Schilderung der verschiedenen Gaunerzünfte greift weit
über den Rahmen der Scene hinaus und retardirt nicht
unempfindlich, so drollig sie ist.
Ziemlich müssig ist des Mohren Auftreten II, 4. Die
Urtheile, welche er über Fiesko's Haltung eingesammelt
hat, wollen nicht viel besagen. Am Schluss der Scene
fungirt er als Kammerdiener, um bei dieser Gelegenheit
einem älteren Witz eine neue Pointe zu geben; 'Fiesko:
Wo ist mein Orden? — Mohr: Herr, ich hab' ihn gestohlen
und versetzt Nun, wie? Wird mein Präsent bald
herausrücken? — Fiesko: Weil Du nicht auch den Man-
tel nahmst?' Vgl. Hagedorns 'Reue über eine nicht
begangene Bosheit' (Sämmtl. poet. Werke 1771 2*, 88):
Doch darum kann ich mich nicht fassen,
Dass ich ihm, als er Abschied nahm,
Da er durch mich um alles kam.
Den schönen Mantel noch gelassen.^)
•) Die alte Anekdote ist noch 1831 neu bearbeitet — wohl nach
französischer Quelle — von Chamisso in dem Gedicht *Der vortreffliche
Manier.
Eettner, Der Mohr in Schillers Fiesko. 565
II, 9 wiederholt der Mohr den Mordanfall noch einmal
zum Scheine auf Fiesko's Befehl, der dadurch das Volk
gegen die Dorias aufstacheln will. Seltsamer Weise ge-
schieht dies aber erst, nachdem die Handwerker von ihm
völlig gewonnen, sogar für seine Pläne auf den Thron ge-
wonnen sind. Die Anknüpfung ist dem gegenüber auch
eine recht lockere : ^Ich muss diesen Hass verstärken, dieses
Interesse anfrischen!' Was aber das Auffallendste ist, dieser
vereitelte Mordanschlag bleibt nicht nur ohne Folgen für
den Gang des Stückes, er wird auch nachher, wo Fiesko
die Verschworenen wiedersieht, gänzlich ignorirt. Auf
die Wirkung der Entdeckung desselben auf das Volk hatte
Fiesko es abgesehen — aber von dem dadurch geschürten
Hasse desselben gegen die Borias hören wir in der näch-
sten Scenenreihe nur durch den Bericht Lomellino*s, der,
wie wir sahen, so gewaltsam die zeitlichen Voraussetzungen
durchbricht. Der Gedanke der Auflehnung dagegen bleibt
nach wie vor nur auf den Kreis der vier Verschworenen
beschränkt. Doch könnte man dies allenfalls auch damit
erklären, dass Schiller zwar die Idee eines Volksaufstandes
vorschwebte, dass er aber damals noch nicht wagte, grosse
Massenscenen zu schaffen. Wie aber will man es erklären,
dass in der nächsten Scene, wo wir Fiesko wiedersehen
(II, 15 — 17), am Nachmittag desselben Tages, an dessen
Mittag das Verhör des Mohren stattgefunden hatte, nicht
bloss mit keiner Silbe darauf Bezug genommen, sondern
einfach an die Voraussetzungen der vorhergehen-
den Handlung angeknüpft wird? Ist es nicht ein
Widerspruch, dass jetzt, nachdem der Anschlag Gianettino's
auf Fiesko stadtbekannt geworden ist, Verrina mit dem
früher geplanten Appell an Fiesko's Empfinden durch das
Tableau Romano's sich begnügt, anstatt das ihm von den
Umständen fast mit Gewalt aufgedrungene neue und stär-
kere Motiv heranzuziehen? Und vollends — wie ist es
denkbar, dass nach dem, was er am Mittag erlebt hat,
Fiesko den Maler empfangen kann mit den Worten: ^Ihre
Arbeit könnte nicht erwünschter gekommen sein. Ich bin
heute ganz ungewöhnlich heiter, mein ganzesWesen
feiert eine gewisse heroische Ruhe, ganz offen für die
566 Kettner, Der Mohr in Schillers Fiesko.
schöne Natur.^ Wie kann er ferner sagen: 'Meine
Buhlerei hat den arglistigsten Despoten betrogen^ nach-
dem ihm eben dieser Despot handgreiflich gezeigt hat, wie
er ihm traut!
Also für diese entscheidungsvolle Sccne, in der Fiesko
die Führung der Verschwörung übernimmt, existirt jenes
Motiv der durch den Mohren versuchten Ermordung Fiesko's
überhaupt nicht.
Auch auf Oianettinos Gegenmassregeln (II, 14) wirkt
die Entdeckung seines Anschlags nicht zurück. Auch seine
Pläne sind längst vorher gefasst, die Ausführung bestimmt.
Als Lomellino ihm bestürzt die Ergreifung des Mohren
gemeldet hat, ^zieht er einen Brief mit grossem Siegel her-
vor^, in welchem Kaiser Karls Ankunft bereits gemeldet
ist. 'Der Schluss ist gefasst. Übermorgen fallen zwölf
Senatoren. Doria wird Monarch, und Kaiser Karl wird ihn
schützen\ Nun folgt die Feststellung der Namen der
Proscribirten, darunter der Fiesko's.
Wir haben also eine zweimalige dramatische Ver-
wendung desselben Motivs! Nur sehr locker ist diese
zweite Benutzung desselben mit der früheren am Schluss
der Scene in Verbindung gesetzt durch Gianettino's Worte :
^Doch noch einen Meuter wird Genua haben?' Und nun,
von dieser zweiten Einfügung an, beginnt dies
Motiv wirklich zu spielen! Indessen wirkt es auch
jetzt nur als Nebenmotiv, indem es nach anderen wesent-
licheren von Fiesko noch herangezogen wird, um den Aus-
schlag zu geben.
Fiesko benutzt diesen Anschlag, nachdem er ihm —
wieder durch den Mohren — verrathen ist, zweimal, III, 5
dem engeren und IV, 6 dem weiteren Kreis der Verschwo-
renen gegenüber. In der ersteren Scene ist zunächst die
Anknüpfung zu beachten. Obwohl der Mohr, im Wider-
spruch zu Fiesko's gestriger Einladung auf den Mittag, die
Verschworenen plötzlich am Morgen zu ihm entboten hat,
so äussert niemand von ihnen eine Verwunderung
über diese Änderung, niemand eine Unruhe über diese
merkwürdige Hast, Verrina knüpft einfach an den
Schluss der gestrigen Besprechung an: 'Du hast
Kettner, Der Mohr in Schillers Fiasko. 567
uns aufgefordert, einem Plane zum Tyrannenmord nachzu-
denken. Frage uns, wir sind da, Dir Rede zu geben\ An
den Mohren denkt man so wenig, dass Fiesko, obwohl er
ihn eben in das Vorzimmer entlassen hat, zu Yerrina sagt:
^Tretet leise auf! Lasst beide Schlösser vorfallen!' und
dieser erwidert: ^Ächt Zimmer hinter uns hab' ich zuge-
riegelt'. In der nun folgenden Berathung dient dann die
Mittheilung von Gianettino's Mordplänen dazu, die Ver-
schworenen, welche zwar auf Verrina s Rath zum offenen
Aufruhr sich entschlossen haben, aber vor der von Fiesko
vorgeschlagenen Empörung in der folgenden Nacht noch
zurückschrecken, für diesen schnellen Entschluss zu ge-
winnen.
Noch unwesentlicher ist die Bedeutung dieses Motivs
in IV, 6. Fiesko hat bereits durch die Gewalt seiner Rede
die Nobili zur Empörung entflammt, ^Gemurmel' — ^wildes
Gemurre' — ^ungestüme Bewegungen' — zuletzt 'stürmische
Aufwallung' und entschlossener Zuruf haben seinen Worten
geantwortet. Und jetzt erst, wo er bereits erreicht hat,
was er wollte, gibt er ihnen die Proscriptionsliste zu lesen
mit den Worten: 'Nun erst verdienen Sie die Gefahr zu
wissen, die über Ihnen und Genua schwebte'.
Von dem weiteren Antheil des Mohren an der Hand-
lung sehe ich, da er rein episodisch ist, ab.
IV. Die Entstehung der Mohrenscenen.
Auf alle wesentlichen Motive seines Dramas ist Schiller
bekanntlich unmittelbar durch seine historischen Quellen
geführt, das Verginiamotiv der Berthasccnen entwickelte
sich unter dem Einfluss der 'Emilia Galotti' aus dem Stoffe
von selbst. Nur die Figur des Mohren und seine Benutzung
als Hebel der Handlung ist Schillers eigenste Erfindung.
Er wurde zur Einführung eines Mordanschlags auf Fiesko
und damit zur Schöpfung eines Trägers dieser Handlung
wohl* angeregt durch den Werth, welchen Retz auf diesen
Umstand für die Beurtheilung von Fiesko 's Handlungsweise
legt. 'S'il est vrai', sagt derselbe S. 100, 'ce que dit le
comte Jean — Louis de Fiesque le jour memo qu'il ex^cuta
Bon entrcprise, qu'il etait averti depuis longtemps que sa
568 Ketfcner, Der Mohr in Schillere Fiesko.
perte ctait rösolue dans Tesprit de Jannctin, et que cet
homme injuste et violent, qui n'etait retenu que par la
prudence d' Andre, yoyant que son oncle ätait sujet ä de
grandes maladies, avait commande au capitaine Lercaro de
se defaire de tous les Fiesque dans le moment qu* Andre
Doria mourrait; qu'il avait des lettres convaincantes par
lesquelles il lui 6tait aisS de prouver que le meme Jannctin
avait essayö de Tempoiso'nner par trois diverses fois ....
je ne pense pas que Ton puisse blämer avec justice la dis-
simulation du comte, parce que, dans les affaires oü il s'agit
de notre vie et de Tinteret genöral de TEtat, la franchise
n'est pas une vertu de saison; la nature nous faisant voir
dans rinstinct des moindres animaux qu'en ces extremites
Tusage des finesses est permis pour se däfendre de la vio-
lence qui nous veut opprimer.'
Es lag nahe, den Mordanschlag nicht bloss zur Recht-
fertigung von Fiesko's Entschluss heranzuziehen, sondern
auch ihn unmittelbar dramatisch vorzuführen. Die Physio-
gnomie des Mörders in derb humoristischer Zeichnung zu
entwerfen, konnte ihn das Vorbild der Mörder Clarences in
'Richard IIL' anregen, auch die Erinnerung an Angelo in
'Emilia Galotti' mochte, wie 0. Brahm (Schiller 1, 238)
vermuthet, einige Züge liefern — wenn es hier für den
Dichter der ^Räuber' überhaupt noch eines Musters bedurfte!
Der von mir unternommene Versuch, die Durchführung
der Rolle des Mohren in ihrem Verhältniss zu den Voraus-
setzungen der übrigen dramatischen Handlung scharf zu
bestimmen, drängt uns nun zu dem Schlüsse, dass dieselbe
ursprünglich nicht die jetzige Ausdehnung gehabt
haben kann, dass Schiller sie vielmehr ursprünglich erst
da eingreifen Hess, wo das Motiv des Mordversuches wirk-
lichen Einfluss auf die Handlung gewinnt, also da, wo es
jetzt zum zweiten Male eintritt, entvfeder II, It, wo der
Plan der Ermordung gefasst wird, oder III, 4 wo ihn Fiesko
durch den Mohren selbst erfahrt. Da jenes Motiv in den
ersten Acten nicht bloss ohne Bedeutung für die Handlung
bleibt, sondern auch vielfach den Zusammenhang derselben
durchbricht, namentlich die Zeitordnung stark verwirrt, so
werden wir ferner mit grosser Wahrscheinlichkeit schliessen
Kettner, Der Mohr in Schillers Fiesko. 569
können, dass Schiller erst verhältnissmässig spät, als die
Conception des ganzen Dramas im Wesentlichen
abgeschlossen vorlag, sich noch dazu entschloss,
dies Motiv weiter rückwärts zu verfolgen, ohne dass
er die Zeit fand, eine entsprechende Umarbeitung der ersten
Acte durchzuführen.'')
Ursprünglich wird diese Rolle nicht viel weiter ent-
wickelt gewesen sein, als Shakespeare derartige Bollen aus-
zuführen pflegt und Schiller sie später selbst in seinem
Deveroux und Macdonald gebildet hat. Was kann ihn
veranlasst haben, hier den Charakter noch abzurunden und
breiter durch das Drama hin zu entwickeln?
Ein wesentlicher Anreiz dazu lag ohne Zweifel in der
Figur selbst; seine Phantasie mochte um so leichter dem-
selben folgen, als sie damit in Bahnen gelenkt wurde, in
denen sie sich vor kurzem erst in den ^Räubern' bewegt
hatte, erinnerte uns doch die Aufzählung der verschiedenen
Gaunerzünfte lebhaft an ähnliche Schilderungen Spiegel-
bexgs. Aber wir suchen auch noch nach einem äusseren
Anlass, welcher den Dichter trieb, einem solchen an sich
nebensächlichen Motiv weiter nachzugehn und eine episo-
dische Figur so selbständig auszugestalten.
Der Mohr ist in eminentem Sinne eine Spielrolle. Von
jeher hat er eine Lieblingsaufgabe hervorragender Charakter-
spieler gebildet^), noch zuletzt war er im Berliner Schau-
spielhause eine Glanzleistung Dörings. Als die dankbarste
Rolle des Stückes wurde sie sogleich im Kreise der Mann-
^) Ich möchte die Yermuthung äussern, ohne ihr indessen Gewicht
beizulegen, dass vielleicht am Schlüsse der ersten Scene in den Worten
der Leonore: 'Fiesko kommt. Flieht! Flieht! Mein Anblick könnte
ihm einen trüben Augenblick machen*, eine Verzahnung stehen geblie-
ben ist, welche die ursprungliche Reihenfolge der Scenen ahnen lässt.
Jetzt hat es entschieden etwas Störendes, wenn nach diesen Worten
Gianettino mit dem Mohren eintntt; auch dass Leonore vorher, als sie
Fiesko's Lachen aus dem Lärmen heraushörte, sich einreden wollte,
sie habe Gianettino gehört, hebt das Auftallende jener verfehlten An-
kündigung nicht.
•) Vgl. Kuno Fischer, Schiller als Komiker, Leipzig 1868 S. 53
(über Dessoir). — Rötscher, Cyclus dramatischer Charaktere, Berlin
1846 2, 130 (über Seydelmann).
570 Kefctner, Der Mohr in Schillers Fiesko.
heimer Schauspieler begrüsst : liFlande Referat in der Sitzung
des Theaterausschusses am 27. November 1 782 hob sie vor
allen hervor.®) Ihre erste Verkörperung fand sie durch
Beil. Er spielte sie mit solcher Virtuosität, dass Dalbergs
am 1 4. Januar 1 784 in Gegenwart Schillers im Ausschuss
vorgetragene, sonst sehr strenge Eritik^^) von ihm sagen
konnte: ^Vorzüglich wirkte Herrn Beils natürliches, wahres
Spiel und Haltung der Bolle des Mohren bis zum Ende'.
Beils Stärke lag offenbar in der Darstellung derber und
treuherziger, aber zugleich rascher und hitziger Charaktere;
so gab er in der 'Minna von Barnhelm' den Just, im ^Götz
von Berlichingen' den Lerse^^); in den 'Räubern' hatte er,
wie Streicher (Schillers Flucht S. 40) berichtet, als Schweizer
'nichts zu wünschen übrig gelassen'. Derselbe erzählt auch
(S. 120), dass der Gedanke an seine naiv -drollige Dar-
stellung solcher Rollen wesentlichen Einfluss auf die Aus-
arbeitung des Charakters des Musikus Miller gehabt habe.
Liegt es da nicht nahe, anzunehmen, dass der Anblick
seines Spieles Schiller auch zu der weiteren Ausführung
der Rolle des Mohren verlockte, dass er sie ihm gewisser-
massen auf den Leib schrieb? Diese Annahme würde mit
dem, was wir über die Umarbeitung des Fiesko wissen,
durchaus in Einklang stehen.
Bald nach der ersten Aufführung der 'Räuber' (Januar
1782) hatte sich Schiller für diesen StoiF entschieden. 'Als
er endlich den Plan im Gedächtniss gänzlich entworfen
hatte, schrieb er den Inhalt der Acte und Auftritte in der-
selben Ordnung, wie sie folgen sollten, aber so kurz und
trocken nieder, als ob es eine Anleitung für den Coulissen-
Director werden sollte'. ^^) Wir verdanken diesem genauen
Schema wohl die auffallend sorgfältige Disposition der
Handlung, die ich im I. Abschnitt hervorhob. Unter Sorgen
und Verdriesslichkeiten aller Art rückte die Arbeit anfangs
so langsam vor, dass Ende Juli, wo Schiller den Entschluss
I
•) Zuerst im Dresdener Schillerbuch, 1860 S. 124 von Schloenbaeb
init^etheilt, genauer bei Koffka, Iffland und Dalberg S. 334.
>•) Schillerbuch S. 125. Koffka S. 360.
»») Schillerbuch S. 162-165.
»») Streicher, Schillers Flucht S.42f.
Kettner, Der Mohr in Schillers Fiesko. 571
der Flucht fasste, ausser jenem Plane kaum die Hälfte des
Stückes niedergeschrieben war.^*) Um in Mannheim nicht
mit leeren Händen zu erscheinen, förderte er dasselbe jetzt
so rasch, dass er am 22. September es ^beinahe fertig' mit-
nehmen und am 26. vor IfFland, Beil, Beck und anderen
Schauspielern vorlesen konnte. 'Der erste Act war kaum
zu Ende, als Herr Beil sich entfernte'.**) Darf man daraus
schliessen, dass der spätere geniale Darsteller des Mohren
in dieser ersten Gestalt des Actes die für ihn wie geschaf-
fene Rolle noch nicht fand?
Schiller selbst hielt den ITiesko damals noch nicht für
^theaterfertig'^^), namentlich über den Schluss konnte er
zu keiner Entscheidung kommen. Dalbergs harter Bescheid
^dass Fiesko in dieser Gestalt für das Theater nicht brauch-
bar sei und dass die Umarbeitung erst geschehen sein müsse,
bevor er sich weiter erklären könne', nöthigte ihn, dieselbe
in umfassenderer Weise vorzunehmen. Sie beschäftigte ihn
den ganzen October hindurch, während er in Oggersheim
in stetem Verkehr mit den Freunden in Mannheim und in
lebendiger Anschauung des dortigen Theaters blieb.**) An-
fangs war er durch den Gedanken an sein neues Trauer-
spiel ^Luise Millerin', dessen Plan er sogleich am ersten
Abend in Oggersheim aufzuzeichnen begonnen hatte, stark
von dieser Arbeit abgezogen. Gerade damals war es, wo
er, wie ich schon erwähnte, 'im Voraus schon sich oft daran
ergötzte, wie Herr Beil den Musikus Miller so recht naiv-
drollig darstellen werde, und welche Wirkung solche komische
Auftritte gegen die darauf folgenden tragischen auf die
Zuschauer machen müssten'.
Endlich in den ersten Tagen des November konnte er
das Drama aufs neue an Dalberg absenden. Gegen Ende
des Monats erfolgte dessen Entscheidung , dass 'dieses
Trauerspiel auch in der vorliegenden Umarbeitung nicht
««) Streicher Ö. GO.
^*) Streicher S. 88. 91. Seine Daten habe ich geändert entsprechend
seinem bekannten Irrthum in der Ansetzung der Flucht auf den 17. Sep-
tpuiber.
**) Brief an Dalberg aus Frankfurt (Anfang October).
»•) Streicher S. 113. 121-5. 143.
572 Kettner, Der Mohr in Schillers Fiesko.
brauchbar sei'. In dem Theaterausschuss, dem dieselbe zar
Prüfung vorgelegt war, hatte Iffland ein ausführliches Yotum
abgegeben, in dem er, wie ich bereits oben andeutete, mit
besonderem Nachdruck auf die Rolle des Mohren hinwies.
^Die Scenen mit dem Mohren sind durchaus zu lang. In
einer dieser Scenen [I, 9] geht Fiesko so mit dem Gelde
um, wie ein armer Mann, der unvermuthet das beste Loos
gewinnt Aber aller Fehler ungeachtet, wie viel
Stücke haben wir, welche Scenen enthalten, als diese
sind, wo Verrina seine Tochter entehrt findet, wo das Volk
zu Fiesko eindringt und dann Fiesko's Monolog darauf
folgt? wo Doria mit seinem Neffen spricht, wo der Mohr
den Fiesko erstechen will? der ganze Mohr über-
haupt?'
So ist der Schluss wohl nicht mehr zu gewagt, dass
diese Rolle erst während jener Umarbeitung des Dramas
im October 1 782 aus einer rein episodischen Figur zu einer
die ganze Handlung begleitenden Nebenperson erwuchs,
welche — ähnlich wie dies Schiller nach Streichers Äusse-
rung in einzelnen Millerscenen beabsichtigte — die Span-
nung des Intrigenspiels, die leidenschaftliche Bewegung der
Hauptactionen und den finsteren Ernst der Yerrinascenen
in burlesker Weise unterbrach und zugleich einem hervor-
ragenden Schauspieler der Mannheimer Bühne, dessen
virtuosenhaftes Spiel die Aufmerksamkeit des Dichters
erregt hatte, bequem sich anpasste.
Mit grossem Geschick hat Schiller die veränderte Rolle
mit dem im wesentlichen feststehenden Qang der drama-
tischen Handlung nachträglich zu verflechten gewusst, den
Hurensohn der Hölle' wie einen stets hilfsbereiten und
doch geföhrlichcn Spiritus familiaris zu allen Plänen Fiesko's
und seiner Gegner in Beziehung gesetzt und zugleich in
seinem skrupellosen Egoismus mit scharfer dramatischer
Ironie eine Art rohen Gegenbildes zu Fiesko's stolzem
Ehrgeiz geschaflFen — ähnlich wie er später Buttler neben
Wallenstein stellte.
Trotzdem ist es ihm nicht gelungen, den Zwiespalt
zwischen dem alten Plan und dem neuen Einschiebsel
völlig zu beseitigen: Zeit und Stimmung waren einer bb
steig, Wilhelm Grimm nnd Herder. 573
ins Einzehte gehenden Verarbeitung leider nicht günstig,
die ungewöhnliche Genauigkeit, mit welcher in der ersten
Bearbeitung auch die kleinsten Momente der Handlung
fixirt waren, bot besondere Schwierigkeiten, leicht mochte
in dem Drange der Schlussredaction der jetzt wesentlich
auf die theatralische Wirkung gerichtete Blick des Dichters
sie als unwesentlich übersehen. In der Constatirung dieser
bisher noch nicht beachteten Widersprüche der Composition
habe ich das Hauptziel meiner Untersuchung gesehen, die
von mir zuletzt. versuchte Erklärung derselben kann selbst-
verständlich nur als eine Vermuthung sich geben.
Schulpforta, September 1889. Gustav Kettner.
Wilhelm Grimm nml Herder.
Wilhelm Grimm schrieb 1812 über Herder^): 'Beklagen
wir, dass er leiblich aus unserer Mitte verschwunden, so
lebt doch sein Geist noch unter uns, thätig und wirkend'.
Herzliche Worte, wie sie wohl der Freund dem Freunde
nachruft. Und doch hatte keine persönliche Bekanntschaft
zwischen beiden Männern bestanden. In dem Jahre, wo
Grimm siebzehn Jahre alt die Universität bezog, schied
Herder aus dem Leben.
Wilhelm Grimms Beschäftigung mit Herder datirt aus
der ersten Jugendzeit. Er las früh, nach Jacobs Zeugniss^),
unsre Klassiker. Er lernte 1805 aus Garve's Briefen an
Christian Felix Weisse, worin auch 'Goethe und Herder
bisweilen genannt werden', die litterarische Welt der sieben-
ziger Jahre 'recht genau* kennen.') Er schlug damals
seinem Bruder vor, den 'belletristischen' Theil der eben an-
gezeigten Herderausgabe, welcher 15 Thaler kosten sollte,
^) In der Recension von Franz Horns schöner Litteratur Deutach-
lands während des achtzehnten Jahrhunderts; Heidelb. .Jahrb. d. Litt.
1812 = Wilhelm Grimms Kleinere Schriften 1, 278.
*) Jacob Grimms Kleinere Schriften 1, 166.
*) An Jacob den 10. Februar 1805 ; Briefwechsel zwischen Jacob
und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit S. 8.
Vierte^jahrschrift für Litteratoigeeohichte III 38
574 Steig, Wilhelm Grimm und Herder.
anzuschaffen.*) Es unterblieb, weil die Mittel nicht reich-
ten. Erst 1809 erstand Jacob auf einer Göttinger Auction
'Herders Werke zur Philosophie und Poesie, neue Cottaer
Ausg. 16 Bände gebunden 10 Thlr.'^)
Diese Spuren sind nur äusserlich. Das innere Band
bildete die Richtung auf das Volksthümliche, die den Brü-
dern Grimm von Haus aus eigen war.
Eine mächtige Wirkung war von Herders Volksliedern
ausgegangen. Achim von Arnim und Clemens Brentano
sammelten in seinem Sinne 'alte deutsche Lieder'. Die
drei Bände des 'Wunderhorns' erschienen 1806 — 1808 zu
Heidelberg. Als ein vierter Band war ursprünglich Wil-
heim Grimms Ilbersetzung der altdänischen Heldenlieder,
Balladen und Märchen geplant. Sie ist wenigstens den
Herausgebern des 'Wunderhorns' zugeeignet.
Die Geschichte der altdänischen Heldenlieder lässt sich
genau verfolgen. Auf jeder Stufe tritt uns directe Beziehung
auf Herder entgegen. Einige Übersetzungsproben waren
von Wilhelm schon 1808 in Arnims Zeitung für Einsiedler
'Trost Einsamkeit' geliefert worden. Vom selben Jahre ist
sein Aufsatz 'Über die Entstehung der altdeutschen Poesie
und ihr Verhältniss zur nordischen"; wo er auf die altdäni-
schen Lieder zu sprechen kommt, bedauert er, dass erst
Weniges durch Herders Übersetzung bekannt ist, und
spricht die Hoffnung aus, in kurzem dem Publicum eine
vollständige übergeben zu können.^) In der öffentlichen
Ankündigung, die im nächsten Jahre von den Heidelbergi-
schen Jahrbüchern'') gebracht wurde, wies er wie zur Em-
pfehlung auf Herder und Goethe hin : 'Die von Herder, der
so vieles Herrliche angeregt liat, bearbeiteten Romanzen
vom König Oluf und die zauberische Elvershöh, der Wasser-
mann, der in Goethes Pischerin steht, die hier in gemeiner
Übersetzung sich auch wiederfinden, können jedermann einen
Vorschmack dieser Dichtungen geben'. Die Vorrede des
*) Den 24. März 1805; Jngendbriefe S. 27.
») An Wilhelm den 10. Juli 1809 ; .Tugrendbriefe S. 122.
«) Kleinere Schriften 1, 142.
') Ebenda 1, 173.
steig, Wilhelm Grimm und Herder. 575
1811 erschienenen Werkes hebt ebenfalls an zwei Stellen
Herders Verdienste hervor.®)
Ein ergötzliches Nachspiel folgte. Wilhelm hatte sich
möglichste Treue gegen das Original zur Pflicht gemacht.
Steffens hatte 1809 in Halle die Übersetzung mit ihm
durchgegangen.") 80 berufene Beurthoiler, wie Nyerup***)
und Niebuhr^^), erkannten auch den poetischen Werth der
Übersetzung an. Von Hebel meldete Jacob seinem Bruder
am 9. Januar 1814, er habe die dänischen Lieder dreimal
ausgelesen.^*) Nur der mit T unterzeichnete Recensent
der Heidelbergischen Jahrbücher ^•'^) setzte die Arbeit herab.
Die Grimms wussten sofort, mit wem sie es zu thun hatten.
Wilhelm erliess dagegen sein famoses ^Sendschreiben an
Herrn Friedrich David Gräter, der W. W. Doctor, Rector
und Professor'**), worin er den für jedermann kenntlich
gemachten Anonymus (der eben kein anderer als Gräter
selbst war^^) mit vollendetem Spott überschüttete.
Gräter hatte unter anderm tadelnd vermerkt, der Sinn
sei hie und da sonderbar verfehlt, und der Übersetzung von
der Elfenhöh drei frühere, von Gerstenberg, Herder und
Hang, als besser entgegengestellt. So sah sich Wilhelm
Grimm in die ihm widrige Lage gedrängt, den Werth seiner
Übersetzung gegen die ihm vorgerückten Muster abzu-
wägen. Mit Gerstenbergs *^) 'ganz unbedeutender' und
Haugs ^') unwürdiger Verdeutschung hatte er leichtes Spiel.
*) Wieder abgedruckt in den Kleineren Schriften 1, 176, vgl.
178. 194.
•) Jugendbriefe 194.
*®) Briefwechsel der Gebrüder Grimm mit nordischen Gelehrten
S. 42, Wilhelms Kleinere Schriften 2, 119.
") Jacobs Kleinere Schriften 1, 169.
") Jugendbriefe S.217; vgl. Jacobs Kleinere Schriften 1, 169. 170.
") 1813 S. 161.
") Kleinere Schriften 2,104.
'•) Vgl. darüber Wilhelms Briefe an Görres (Görres Gesammelte
Schriften 8,388), an Nyernp (Brfw. mit nordischen Gel. 8.75), an
Benecke (Briefe der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm an Georg
Friedrich Benecke, Göttingen 1889, S. 178).
>•) Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1767) 1,110.
"} Epigrammen und vermischte Gedichte (1805) 2,393.
38*
576 Steig, Wilhelm Grimm und Herder.
M
Schwerer ward es ihm mit Herder; denn seine Übersetzung
^ist so gut als sie es sein kann, und es fehlt ihr nicht das
Eigenthümlich- angenehme, was alles bekam, das er an-
rührte'.
Die Idee des Liedes ist nach Wilhelm Grimm folgende.
Die Elfen - Jungfrauen finden den halbschlafenden Knaben;
wunderbar ist Träumen und Wachen bei ihm vereinigt.
Von seiner Schönheit entzückt wollen sie ihn verfuhren.
Aber er gehört ihnen erst in dem Augenblick, wo er
das erste Wort mit ihnen spricht. Sie versuchen
alles, ihn zu berücken: Schmeicheleien, Gesang, der die
ganze Natur bewegt; sie versprechen Weisheit und Gold;
sie tanzen vor ihm; sie drohen mit blinkendem Hesser.
Der Knabe hält sich noch, er stützt sich in seiner Angst
auf das fest umklammerte Schwert. Doch kann er die
Augen nicht von dieser überirdischen Schönheit abwenden;
schon wankt sein Geist, halb verwirrt; schon will er sich
zu ihnen neigen — da kräht der Hahn, er erwacht, und
für diesmal ist er gerettet.
Gleich in der ersten Strophe
Da kamen gegangen zwo Jungfraun schön,
Die thäten mir lieblich winken
beging Herder einen schlimmen Fehler. Seine Freiheit
^lieblich winken', zu der er sich offenbar des Reimes wegen
(zu 'sinken') verleiten Hess, entstellt den Sinn und nimmt
dem Lied seine Bedeutung. Wilhelm Grimm sah den
Nachdruck, der auf dem 'reden' liegt, und aus diesem Ge-
fühl übersetzte er — freilich sich selbst nicht zur Genüge
— 'Die wollten Rede so gern mit mir haben'. Sinnstörend
ist es ferner, dass Herder zweimal (Str. 9. 10) 'der muntre
Jüngling' sagt, wo der dänische Text 'der schöne, junge
Knab' verlangt. Denn ein Träumender, Herzbeklemmter
sitzt da, kein 'muntrer' Jüngling.
Auch eine Reihe von Einzelfehlern war Wilhelm Grimm
in der Lage aufzudecken. Herder Str. 2 von den Jung-
frauen: 'Die Eine, sie strich mein weisses Kinn'. Statt
'Kinn' muss es 'Wange' heissen. — Die Jungfrauen locken
den Knaben vergeblich mit ihrem Gesänge, der ist so schön
(Herder Str. 4. 5) :
steig, Wilhelm Grimm und Herder. 577
Der brausende Strom, er floss nicht mehr,
Und horcht den süssen Tönen.
Von der zweiton Zeile steht keine Silbe im Original; Herder
hat es hier offenbar nicht verstanden. Kach Wilhelm
Grimm:
Der reissende Strom stand still dabei,
Der gewohnt war sonst zu rinnen.
Wie der Strom, so werden auch die Fischlein in ihm
bezaubert; Herder Str. 5:
Die Fischlein schwammen in heller Fluth,
Mit ihren Feinden spielend.
Feinden?! Hier sind zwei im Dänischen ähnlich klingende
Wörter verwechselt, was Grimm natürlich vermied:
Mit ihren Flossen spielten die Fischlein klein,
Die in den Fluthen schwimmen.
Lockende Versprechungen folgen , gaukelnder Tanz ;
Herder Str. 9 :
Sie tanzten hin, sie tanzten her;
Zu buhlen ihr Herz begehrt.
Der zweite Yers ist wieder willkürliche Erfindung. Der
Urtext bietet vielmehr, in Grimms Übertragung:
Sie tanzten auf, und sie tanzten ab,
Da in dem Elfen Zug
und gemeint ist die Fährte der Elfen, wie man am Morgen
noch ihre Spuren in dem bethauten Grase zu sehen glaubt.
Schon will der Jüngling erliegen —
Und da mein gutes, gutes Glück!
Der Hahn fing an zu krähen.
So Herder Str. 11, trefflich dem Sinne nach. Aber im alt-
dänischen Lied schlägt der Hahn seinen Fittich; drum
gibt Wilhelm Grimm:
Hätte Gott nicht gemacht mein Glück so gut,
Dass der Hahn schwang die Fittich sofort ....
und setzt erläuternd hinzu : 'Dass das Krähen zuletzt durch
das Schlagen der Fittiche soll angedeutet werden, glaub'
ich selber; allein wie viel lebendiger und poetischer daher
ist es, wenn die Bewegung dabei ausgedrückt wird'. —
Herder hatte bekanntlich noch kein Yerständniss für den
Refrain, diesen charakteristischen Theil des Volksliedes.
Er lässt ihn auch in der Elvershöh : 'Seitdem ich sie zuerst
578 Steig, Wilhelm Grimm und Herder.
gesehn^ beide Mal, am Schlüsse der ersten und letzten
Strophe, einfach fort. 'Sehr zum NachtheiP, sagt Wilhelm
Grimm. Welch erschütternde Wirkung übt er am Schlüsse:
'seitdem er sie zuerst gesehn — wie nah war ihm der Tod!'
Diese und noch einige andere 'ganz fehlerhafte sinn-
entstellende Übersetzungen^ hatte Wilhelm Grimm zur eig-
nen Rechtfertigung bei Herder bloss legen müssen. Das
that ihm weh, weil es vielleicht pietätlos scheinen mochte,
und er suchte den ihm theuren Mann zu entschuldigen :
'Ich hatte bei meiner Übersetzung wohl Herders Fehler
gesehen, aber dieser Mann, vor dem ich gern mit Ehrfurcht
zurücktrete, gesteht selbst seine geringe Bekanntschaft mit
nordischen Sprachen ^^), und es wäre mir* nie eingefallen,
ihrer zu gedenken'.
Es war nur ein Schritt weiter auf der betretenen Bahn,
wenn Wilhelm Grimm im Verein mit Jacob die 'Lieder der
alten Edda' übersetzte. Auch hier hatte Herder den Weg
bereitet. 'Was für Handlung in Odins Höllenfahrt f rühmte
er in den Blättern von deutscher Art und Kunst und theilte
das Stück schon damals seinen Lesern mit. Nebst zwei
anderen wurde es dann in die Volkslieder aufgenommen.
Freilich konnte und wollte Herder 'keine kritische Über-
setzung' geben**); sondern nur eine Probe, 'wie er sich
(und zwar eine Reihe von Jahren zurück, da von der Nor-
dischen Bardenpoesie noch nichts erschallet war), diese
berühmte Stücke dachte und zu eignem Verständniss
übersetzte'. Die nordischen Volkslieder werden von ihm
auch im zweiten Bande der Ideen gestreift.^^) Er suchte
in dem Horenaufsatz 'Iduna, oder der Apfel derVerjüngung'^^)
den ganzen Inhalt der nordischen Mythologie zu umspannen.
Und dennoch durften die Brüder Grimm behaupten, dass
das deutsche Publicum 'diese alten Lieder, wie überhaupt
*■) Wilhelm Grimm dachte dabei vielleicht an Herders Bemer-
kungen zur Voluspa (Sämmtl. Werke 25, 96. 541).
1») Sämmtl. Werke 25, 541.
") Ebenda 13, 330.
") Vom Jahre 1796. Sämmtl. Werke 18, 483.
=«) Wilhelms Kleinere Schriften 1, 215.
steig, Wilhelm Grimm und Herder. 579
die nordische Mythologie entweder gering schätzte oder aus
Herders Lob nur entfernt kannte.'^*)
'Wers besser kann, mache es besser!' hatte Herder in
den Volksliedern^') von seinen Eddaproben gesagt. Die's
besser konnten und besser machten, waren die Brüder
Grimm.
Sie hatten früh das Studium des Altnordischen aufge-
nommen. Von wie geringen Vorarbeiten aus! Noch im
Jahre 1809 war für Jacob von der Hagen s Bemerkung *neu
und interessant', dass in der altnordischen und ebenso
in der altsächsischen Poesie statt des Reimsystems das der
Allitteration gefunden wird.**) Wilhelm legte dem wenig
Bedeutung bei: die Bemerkung sei schon längst gemacht
und ihm bekannt. Worauf Jacob zurückschrieb: 'Die Be-
merkung über die Allitteration hatte ich auch schon früher
bei Herder gefunden, und auf wen sich dieser berief, ge-
sehen, ich glaube auf Wormius und Hickes, allein das
genauere System und die Allgemeinheit für die nordische
Poesie hat Hagen zuerst behauptet'.**) Die Brüder dachten
hierbei wohl an folgende Stelle aus dem 'Briefwechsel über
Ossian und die Lieder alter Völker' : 'Sehen Sie einmal im
Worm, im Bartholin, im Peringskjöld und Verel ihre Ge-
dichte an — wie viel Sylbenmaasse ! . . ähnliche Anfangs-
sylben mitten in den Versen symmetrisch aufgezählt . .
ähnliche Anfangsbuchstaben zum Anstoss, zum Schallen des
Bardengesanges in die Schilde'. Bereits aber in der Vor-
rede, bestimmter noch in der Nachschrift**) der altdänischen
Heldenlieder versprach Wilhelm: 'Gemeinsam mit meinem
Bruder werde ich diese [damals zum Theil noch ungedruckte]
Edda mit einer deutschen Übersetzung herausgegeben'.
Einige Zeit bestand dann die Absicht, dies zusammen mit
dem skandinavischen Alterthumsforscher Rasmus Christian
Rask zu thun. Um darauf die öffentliche Aufmerksamkeit
zu lenken, schrieben die Brüder 1812 die Abhandlung über
") Sämmtl. Werke 25, 471.
'*) In von der Hagens Eecension der Docenschen Miscellaneen
Jena. Allg. Lit. Zeitung 1809 S. 161.
») Jugendbriefe S. 139. 147. 151.
«•) Kleinere Schriften 1, 186. 203.
580 Steig, Wilhelm Grimm und Herder.
'die Lieder der alten Edda'.^'') In dem geschichtlichen
AbrisB werden auch Herders Verdienste auf diesem Felde
gewürdigt.
Der Plan zerschlug sich aber. Die Brüder gaben des-
halb 1815 ihr Buch allein heraus: links den Urtext, rechts
die Obersetzung, am Schlüsse eine Wiedergabe in Prosa.
Es blieb jedoch unvollendet, der erschienene erste Band
enthält nur etwa ein Drittel der ganzen Sammlung. Herders
Stücke sind nicht darunter. Ein Abwägen der Leistungen
ist daher nicht möglich. Wer sich aber Herders unzuläng-
liches, der Grimms ernstes Wissen auf diesem Gebiete gegen-
wärtig hält, wird wissen, wohin das Zünglein der Wage
schwanken würde. Julius HofFory hat die Grimmsche Prosa-
übersetzung 'zum 4. Januar 1885' — Jacobs hundertjährigem
Geburtstage — neu herausgegeben. Nach ihm ist diese
Übertragung nicht bloss die schönste, sondern auch dem
Geiste nach die treueste, die es gibt.
Wilhelm hatte von jeher eine besondere Neigung, der
Verwandtschaft zwischen den nordischen und deutschen
Liedern nachzuspüren. Aus diesem Gesichtspunkte betrach-
tete er auch die englischen Volkslieder. Er fand, dass
ihnen die altdänischen ^sowohl an Tiefe und Weltansicht,
als in der äusserlichen Darstellung' ähnlich seien.^^) Das
war schon im J. 1777 von Herder, als er 'von Ähnlichkeit
der mittlem englischen und deutschen Dichtkunst'^®) schrieb,
ausgesprochen und fast genau so begründet worden, wie
von Wilhelm Grimm in der Vorrede zu den altdänischen
Heldenliedern. Ohne Zweifel hat Grimm den Aufsatz ge-
kannt und auf sich wirken lassen. Juten und Angelsachsen,
Normannen, Dänen hätten nach einander die Insel einge-
nommen und beherrscht. Er verglich das dänische Lied
vom 'Helden Vonved''®) mit dem von Herder übersetzten
englischen Strassenlied 'die drei Fragen'.'^) In beiden
") Morgenblatt für gebildete Stände, Wilhelms Kleinere Schriften
1, 213.
*") Vorrede zu den altdänischen Heldenliedern, Kleinere Schrillen
1, 193.
*') Deatsches Museum 2, 421.
") Altdänische Heldenlieder S. 227.
") Sämmtl. Werke 25, 178.
steig, Wilhelm Grimm und Herder. 581
werden Räthsel vorgelegt: der seltsame Held Yonved gibt
den Hirten über das Edelste und Abscheuungswürdigste,
über den Qang der Sonne und die Ruhe des Todten zu
rathen auf; die Beantwortung ^dcr drei Fragen' erwirbt der
jüngsten Tochter einer Wittwe den Ritter zum Gemahl.
Eine Frucht dieser Beschäftigung waren die ^drei alt-
schottischen Lieder' in Original und Übersetzung, 1813
bekannt gemacht.'^) Namentlich das erste, Lord Randal,
bewegt durch das Einfache und Grossartige der Darstellung.
Sein Seitenstück ist nach Form und Inhalt ^Grossmutter
Schlangenköchin' in 'des Knaben Wunderhorn'.'*) Zu einer
^Auswahl der Originale mit Glossar und Erläuterung' und
zu einer 'Übersetzung nach den Grundsätzen, die bei der
Übersetzung der Kämpe -Viser befolgt sind', wie zugleich
angekündigt wurde, ist es indessen nicht gekommen.
Yielleicht weil Wilhelm Grimm trotz aller Ähnlichkeit
ihren 'bestimmten Unterschied' fühlte. Es schien ihm,
dass die englischen und schottischen Lieder 'als später
gesammelt, ausgebildeter, aber auch breiter' wären; dass
sie einen weniger festen Umriss, dafür aber 'etwas Zartes
und eine eigenthümlicho Mischung von Trauer und Weh-
muth' hätten, wodurch sie offenbar mit dem Ossian zusam-
menhingen.^^) Dieselbe Empfindung hatte ehedem Herder
gehabt. 'Ohne Zweifel (heisst es in 'deutscher Art und
Kunst') waren die Skandinavier, wie sie auch in Ossian
überall erscheinen, ein wilderes, rauheres Volk, als die weich
idealisirten Schotten: mir ist von jenen kein Gedicht be-
kannt, wo sanfte Empfindung ströme'. Für Wilhelm Grimm
war diese Poesie, da er sich immer tiefer in die kraftvolle
deutsche Vorzeit versenkte, zu modern, sein Interesse daran
verlor sich.
Nicht bloss die Sammlung der vernachlässigten deut-
schen Volkslieder war von Herder empfohlen worden.
'Auch die gemeinen Volkssagen, Mährchen und Mythologien
'*) Sie waren mit dem oben erwähnten Sendschreiben verbunden;
abgedinickt in den Kleineren . Schriften 1,228.
") 1, 19.
»*) Kleinere Schriften 1, 193. 233.
582 Steig, Wilhelm Grimm und Herder.
gehören hierher' (schrieb er schon 1777).'*) Er beklagte,
dass niemand da sei, der sie sammele. Denn ^die alte
wendische, schwäbische, sächsische, holsteinsche Mythologie,
sofern sie noch in Yolkssagen und Yolksliedern lebt, mit
Treue aufgenommen, mit Helle angeschaut, mit Fruchtbar*
keit bearbeitet, wäre wahrlich eine Fundgrube für den
Dichter und Redner seines Volks, für den Sittenbilder und
Philosophen'. Am Abend seines Lebens kam Herder auf
die Märchen zurück. Er wies ihnen 1799 einen Platz in
der Ankündigung seiner ^Aurora' an.'^) Der zweite Band
der 'Adrastea' 1801 brachte die Abhandlung über 'Mährchen
und Romane'. Wie sinnig redet Herder darin von den
Kindermärchen! Eine reine Sammlung wäre ein Weih-
nachtsgeschenk für die junge Welt künftiger Generationen.
Er selbst gedachte es dem deutschen Volke zu bescheren.
Wir sehen Caroline schon seit i 796 an der Arbeit. Sie bat
damals Georg Müllers Frau, ihr Märchen aufschreiben zu
lassen ^gerade wie sie erzählt werden, ja nicht daran geputzt
oder geschminkt'.''^'') Herder selbst konnte nicht mehr
Hand ans Werk legen.
Jacob und Wilhelm Grimm traten hier in Herders
Fusstapfen. Die Sammlung ihrer Märchen begann schon
1806^^), zur selben Zeit wie Wilhelms Übersetzung der
altdänischen Heldenlieder, die ja ^vieles Hierhergehörige
enthalten'. ^^) Sie bemühten sich gleichfalls, die Märchen
^so rein als möglich aufzufassen'. Achim von Arnim trieb
1812 in Cassel zur Herausgabe an. Grimms ^Kinder- und
Hausmärchen' erschienen 1812, 1815. Die Vorrede enthält
zwar kein ausdrückliches Anerkenntniss, dass Herder ^wie
so vieles Herrliche auch dies angeregt habe'. Aber eine
Reihe von Gedanken, auch einige geschichtliche Hinwei-
sungen, decken sich mit den von Herder vorgetragenen. Wie
'*) Von Ähnlichkeit der mittlem englischen und deutschen Dicht-
kunst.
»•) Sämmtl. Werke 23, 4.
") Ebenda S. 286 ff. und Suphans Einleitung S. XIL
*•) Wilhelms Kleinere Schriften 1,321, wo die Vorreden zu den
Märchen abgedruckt sind.
") Ebenda S. 325.
¥
*
steig, Wilhelm Grimm und Herder. 583
er Volkslieder und Märchen stets in enger Zusammenge-
hörigkeit dachte und nannte (neben einer Märchenausgabe
schwebte ihm noch zuletzt die ''palingenisirte' Sammlung
der Volkslieder vor), so heisst es auch bei Grimms in des
ersten Märchenbandes Vorrede, dass von all dem Keich-
thum alter deutscher Dichtung ^nur die Volkslieder und
diese unschuldigen Hausmärchen übrig geblieben sind\
Kinder sollten das Lesopublicum sein. Wie zart weiss
Herder von der Heiligkeit der Eindcrseele, von dem poe-
tischen Glauben der Kinder an die Märchen zu sprechen !
Dieselbe Zartheit bei den Brüdern Grimm: 'Innerlich geht
durch diese Dichtungen dieselbe Reinheit, um derentwillen
uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen'. Aus den
Märchen leuchteten ihnen gleichsam wie aus einem Kinder-
antlitz die 'bläulich-weissen, makellosen, glänzenden Augen'
entgegen. Freundliche Gedanken über 'Kinderwesen und
Kindersitten' und 'Kinderglauben' leiteten die zweite Mär-
ohenausgabe vom Jahre 1819 ein.*®) — Auf diesem Boden
konnten der Brüder 'Irische Elfenmärchen' entstehen, die
aus dem Original übersetzt im Jahre 1826 erschienen.
Wilhelm hat, wie wir jetzt auch aus den Briefen an Georg
Benecke**) bestimmt erfahren, die Vorrede verfasst.
Die 'Deutschen Sagen', die 1816, 1818 veröflfentlicht
wurden, sind mit den Märchen verschwistert. Von Herder,
der auch auf sie wiederholt hingewiesen hatte, war noch
keine Grenze zwischen Märchen und Sage gefunden wor-
den; und erst die Brüder Grimm lehrten: 'Das Märchen
ist poetischer, die Sage historischer'.**)
Wilhelms Name wird auch in Verbindung mit den ser-
bischen Volksliedern genannt, welche bereits in Herders
Gesichtsweite getreten waren.**) 'Neunzehn serbische Lie-
der, übersetzt von den Brüdern Grimm' erschienen 1818 in
Försters Sängerfahrt.**) Wilhelms Antheil ist aber sicher-
*«) Ebenda S. 359. 399.
**) Briefe S. 186; vgl. Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen
1,244.
**) Deutsche Sagen Vorrede S. V.
♦») Säramtl. Werke 25, 6rj3, vgl. Jacobs Kleinere Schriften 4, 455.
**) Abgedruckt in Jacobs Kleineren Schriften 4, 455.
584 t Steig, Wilhelm Grimm und Herder.
lieh nur gering gewesen, die treibende Kraft war Jacob.
Noch ein andrer Plan verdient Erwähnung. Jacob sowohl
wie Wilhelm hatten sich mit Eifer und Erfolg nach alten
Yolksbüchern umgcthan. Eine Ausgabe kam allerdings
nicht zu Stande. Jacob schrieb 1820 an Hoffmann von
Fallersleben: ^Was Ihnen aus meiner Sammlung der Volks-
bücher ansteht, fordern Sie, denn ich selbst werde sie
schwerlich ordentlich benutzen, wie ich mir wohl früher
einmal dachte'.*^)
Was also von Herder in seinen Volksliedern begonnen
worden war, das hatte Wilhelm Grimm an seinem Theile
fortgeführt und vollendet. ' Insofern ein Sohn seiner Zeit
und ein echter Vertreter der Romantik. Er traf mit Her-
der noch in einem andern Punkte zusammen, in seiner
Vorliebe für den Cid.
Herders Bemühungen um die spanische Litteratur wer-
den von Wilhelm Grimm in der Recension des Homschen
Buches ausdrücklich anerkannt. Von Herder sind die
Brüder vielleicht auf dies Gebiet geführt worden. Jacob
gab ja 1815 seine ^silva de romances viejos' zu Wien her-
aus. Wilhelm lernte 1809 durch Clemens Brentano in
Halle die spanischen Lieder vom Cid kennen.*^) Er ^ach-
tete sie sehr hoch'^''), wenn er gleich meinte, dass sie von
den dänischen Liedern an Tiefe und Bedeutsamkeit über-
troffen würden. Herders Cid galt ihm als 'eins seiner voll-
endetsten Bücher'. Um so mehr verargte er es Hörn, dass
er dies Werk gar nicht erwähnt hatte: statt mancher über-
flüssiger Sachen hätte er lieber bei ihm eine Auseinander-
setzung des Verhältnisses zu den spanischen Originalen
gelesen.^®) An den altrussischen Heldenliedern, die in
deutscher Nachbildung 1819 erschienen und von ihm in
den Göttingischen gelehrten Anzeigen besprochen wurden^*),
lobte er ^das gewählte Mass, die vom Assonanzenzwang
befreiten spanischen Redondillas, wie sie Herder in seinem
") Germania (1866) 11, 379.
") Jugendbriefe S. 146. 150. 158.
♦^) Kleinere Schriften 2, 3 (vom Jahre 1811).
") Ebenda 1, 279.
«•) Ebenda 2, 274.
steig, Wilhelm Grimm und Herder. 585
Cid gebraucht'; es nöthige wenigstens nicht zu Verände-
rungen und Verdrehungen, Diese gelegentlichen Aussprüche
lassen eine gründliche Kenntniss des spanischen wie ^ des
Herderischen Cid hervorblicken. Grund und Anlass des
Studiums liegt klar zu Tage.
Wilhelm übersetzte und sammelte für Leser, welche
die ^freie Lust' zu der Poesie führte. Doch blieb er dabei
nicht stehen, sondern schritt zur Forschung weiter ; für ihn
bildete die Geschichte seiner Stoffe ein eigenes Studium.^®)
Im letzten Grunde lauter Vorarbeiten für die ^deutsche
Heldensage'. Das Wesen der Sage war für ihn Poesie,
weder Geschichte noch Mythe. Diese aus inneren Gründen
mm
geschöpfte Überzeugung fand er an andern Sagen bestätigt,
deren Bildung sich im Lichte der Geschichte vollzogen
hatte. In der Vorrede zum Rolandslied 1838 ist ausgeführt,
dass die Eerlingische Sage bei allem geschichtlichen Schein
wenig, fast gar nichts von der beglaubigten Geschichte
Karls des Grossen aufgenommen hat; dass sie zwar die
Verhältnisse seiner Zeit, nicht aber die Ereignisse derselben
darstellt. 'Aus spätem Jahrhunderten (führt er in der
Einleitung zur Vorlesung über die Gudrun aus^^)) will ich
die Geschichte des Cid nennen, die in den Romanzen kaum
eine Ähnlichkeit mit dem hat, was wir aus sicheren Quel-
len von ihm wissen'. Also das Wesen der Sage zu ergrün-
den — dazu hatte ihm auch der Cid gedient.
Diese Gedanken über den Cid sind zwar erst im Jahre
1843 ausgesprochen worden, aber viele Jahre früher ent-
standen. Um 1820 führte Grimm mit Lachmann einen
Briefwechsel über die Nibelungen. Lachmann will seine
Ansicht, dass ursprüngliche Einzellieder erst später von
einem unbekannten Ordner zusammengefasst seien, stützen
und fragt ^^): ^Meinen Sie, dass ein Herder des 15. oder
16« Jahrhunderts die Romanzen vom Cid, ohne das poema
del Cid zur Hand zu nehmen, nicht hätte ordnen können,
und, was Herder nicht einmal gethan hat, zusammenkütten?'
") Vgl. besonders Kleinere Schriften 1, 200.
•') Kleinere Schriften 4, 533.
»*) Brief vom 17, Juni 1820; Zeitschrift für deutsche Philologie
2, 208.
586 Steig, Wilhelm Grimm und Herder.
Eine gewisse Einseitigkeit des Ganzen spreche nicht gegen
diese Annahme. Denn auch Herders Cid 'hält man leicht
für das Werk von Einem, da doch Herder nichts dran ge-
than hat, als übersetzen, und (wenigstens weiss ichs nicht
anders) hin und wieder weglassen'. Wilhelm Grimm ant-
wortet^'): 'Ich übersehe Ihren Brief und finde, dass ich
noch etwas über Herders Cid bemerken muss, den Sie
einigemal zur Stütze genommen haben. Erstens hat Her-
der, soviel ich weiss, ziemlich frei übersetzt, dabei den
critisch gebildeten Verstand gehabt, vorsichtig zu verfahren
und an sich zu halten, auch für einen gleichen Ton zu sorgen.
Gleichwohl sind die Stücke doch sehr verschieden, einige
bloss historisch, andere betrachtend und dramatisch. Zwei-
tens, diese Gedichte gehören einer Eomanzenzeit an, und
beruhen auf dem historischen Princip, von dem schönen
poetischen Gefühl jener Zeit gefärbt, und haben keinen
mythischen Anfang und Mittelpunkt'.
Was würde Herder zu dem Lobe gesagt haben, das
ihm hier von den beiden Meistern der deutschen Sage un-
bewusst gespendet wird! Keiner von ihnen ahnte, dass
seine Lieder zum allergrössten Theile einer abgeleiteten
französischen Quelle entstammten. Sie wussten nicht anders,
als dass der Cid 'nach spanischen Romanzen' gedichtet sei.
Lachmann, nach dessen Meinung gar Herder 'nichts dran
gethan, als übersetzen und . . hin und wieder weglassen',
konnte daher seine Thätigkeit fast noch geringer anschlagen,
als diejenige des von ihm angenommenen 'Ordners' der
Nibelungen. Grimms Urtheil ist besser. Weil er durcji
sein Studium der spanischen Romanzen auf mancherlei auf-
merksam geworden war, worin die deutsche Bearbeitung
abstach, konnte er schon 1812 die Frage nach ihrem Yer-
hältniss zu den spanischen Originalen aufwerfen. Er
suchte auch eine Antwort zu geben: Herders Übersetzung
sei 'ziemlich frei', er habe mit kritisch gebildetem Verstände
eingewirkt.**) Auf den richtigen Weg ist Wilhelm Grimm
»») Ebenda 2,211.
•*) Jacob vertrat dieselbe Ansicht wie Wilhelm. Er schrieb 1812
an Tydeman (Briefe von Jacob Grimm an Hendrik Wilhelm Tyderoan,
hg. von Alexander Reifterscheid , Heilbronn 1883 S. 28) : 'Sie kennen
steig, Wilhelm Grimm und Herder. 587
nicht gekommen. Dass Herder den Geist der spanischen
Komanzenpoesie erfasst und unverfälscht in seine Dichtungen
gegossen hatte, das führte ihn irre.
Hiermit enden die directen Beziehungen zwischen
Herder und Wilhelm Grimm. Es ist nicht schwer, selbst
für Hauptwerke der Brüder, wie ^Heldensage' und ^Mytho-
logie', eine Anknüpfung bei Herder zu finden. Beispiels-
weise wenn er in der 'Iduna'**) bemerkt: 'Es fehlte der
(deutschen) Sprache an einer eignen Mythologie, an einer
fortgebildeten Heldensage'. Yon dieser allerdings wunder-
baren Sicherheit des Gefühls bis zur wissenschaftlichen
Behandlung der Stoffe dehnt sich ein Weg, dessen Weite
sich kaum messen lässt. In den späteren Büchern der
Brüder ist nichts von der bis zu einem gewissen Grade
bestehenden Gleichartigkeit Herderischer und Grimmscher
Leistungen, wie sie in den Jugend werken sich zeigt, zu
finden. Herder wird für sie eine historische Persönlichkeit.
Wilhelm schreibt noch 1827 an Fr. Ad. Ebert in Wolfen-
bütteP^): 'Seit einiger Zeit bin ich mit einer kritischen
Ausgabe der Sprüche des Freidanks beschäftigt, und denke,
da schon Lessing und Herder*') dieses Werk unter ihre
Flügel genommen haben, nicht bloss denen, welche man
Freunde der altdeutschen Litteratur nennt, damit einen
kleinen Gefallen zu erweisen'. Fast die nämlichen Worte
kehren dann in der Ankündigung des Freidank wieder.
Und 1847 in dem Bericht über das deutsche Wörterbuch*®)
wird Herder, ganz historisch eingeordnet, neben Wieland
und Schiller zu den 'hervorragenden' Männern gezählt, die
in und für die deutsche Sprache Bedeutendes geleistet
haben.
In den Jugend werken also offenbart sich Wilhelm
Grimm als Herders Schüler, freilich als ein Schüler, der
wohl Herders treffliche Bearbeitung (der romanceros del Cid), der sich
freilich gar nicht strenge ans Original gehalten hat\
»») Sämmtl. Werke 18, 487.
*•) Briefwechsel des Freiherm von Meusebach mit Jacob und
Wilhelm Grimm S. 313.
") Vgl. Zerstreute Blätter 5, 231 (Sämmtl. Werke 16, 223).
>«) Wilhelms Kleinere Schriften 1, 510.
588 Steig, Wilhelm Grimm und Herder.
in manchem Betracht über den Meister hinausgekommen ist.
Im vorletzten Goethe -Jahrbuch wird eine jüngst erst auf-
getauchte Denkschrift von Ejiebel über die deutsche Litte-
ratur mitgetheilt. Herder (heisst es dort^*)) lieh sich allen
gerne, zur Verbesserung und Yollkommenheit. Suphan
hat im Anschluss daran zur Einführung in den 30. Band
seiner Ausgabe, der Herders Schul -Reden und -Bücher
enthält, das schrankenlose Lehrbedürfniss als den Grund-
zug seines Wesens hingestellt. Wilhelm Grimm hatte das
ebenfalls erkannt. ^Herder (sagt er 1812) hat . . die Kraft
seines Lebend an die Bildung seines Volkes gesetzt'. Auch
Grimm hatte den befruchtenden Hauch seines Geistes ver-
spürt.
Eine — man möchte sagen — persönliche Freundschaft
für Herder tritt uns bei Wilhelm Grimm da entgegen, wo
er für ihn als Menschen einsteht. Hörn hatte in dem
mehrfach erwähnten Buche*®) die Verstimmungen in Her-
ders Alter breit getreten. Wilhelm Grimm antwortet dar-
auf*^): 'Was Herr Hom hinzufügt, betrifft grösstentheils
einige Schwächen des Alters, Menschlichkeiten, wie sie
auch bei Klops tock getadelt werden: es ist nicht die
Frage, ob sie wahr oder falsch, sondern es ist
unwürdig, hier davon zu reden. Haben doch selbst
^i^9 g^g^^ welche Herder so gesprochen, es vergessen,
weil sie fühlten, dass sie selbst einige Schuld daran trugen
und dass es den Verdiensten dieses reichen und milden
Geistes nichts abziehe. Vollends übertrieben lautet es,
wenn Herder wegen eines solchen etwas heftig ausgedrück-
ten Unwillens ein reintragischer Charakter in seiner letzten
Zeit genannt wird und endlich hochtragisch mit der Medea
verglichen, die im Mord ihrer eigenen Kinder sich rächend
strafte. Herder hat sein Volk geliebt und geachtet und
die Kraft seines Lebens an die Bildung desselben gesetzt;
wenn er nun im Alter Minuten erlebte, in denen er sich
verkannt glauben musste und seine Bemühung vergebens,
so kann es uns nur rührend sein, wenn er in solchem
*•) 1889 S. 132.
••) §§ 63—65.
") Kleinere Schriften 1, 278.
Seuffert, Heines Heimkehr. 5g9
Schmerz, wie Odysseus, der von den Göttern geliebte, von '
den Göttern verfolgte und von seinem Yaterlande entfernte,
ausruft: ich bin müd im Leben zu sein und das Licht der
Sonne zu schauen!^
^Reicher und milder Geist' — wer erkennte in diesem
Herderbilde nicht Wilhelm Grimms eigene Züge wieder!
Berlin. Reinhold Steig.
Heines ^Heimkehr".
Dem Leser der Abtheilung ^Heimkehr* im Buch der
Lieder gibt Heine wiederholt einen empfindlichen Stoss durch
Rollengedichte, welche in den übrigen Zusammenhang der
Ich 'Lieder nicht passen. Wenn man auch einige Rollen-
gedichte als Stimmungsbilder zur inneren oder äusseren
Situation der umgebenden Lieder gelten lässt, so bleiben
doch mehrere übrig, welche eine solche Deutung nicht zu-
lassen, ja sogar an sich selbst nicht voll verständlich sind.
Die Erklärung, Heine habe durch sie wie durch manche
Schlussverse anderer Lieder mit Selbstironie seine eigene
Stimmung aufheben oder seinen Lesern die Stimmung ver-
derben wollen, schien mir immer ungenügend. Sind sie
durch chronologische Genauigkeit an ihre Stellen gekommen?
dies widerlegt sich dadurch, dass der Dichter die nach-
weislich ältesten Stücke 51 und 66 nicht an die Spitze
gestellt, also die zeitliche Folge nicht streng eingehalten
hat. Gedankenloser Zufall kann auch nicht walten, sonst
wären die Lieder der Abtheilung wohl so vorgetragen, wie
sie in den ältesten Drucken standen. Also bleibt nur die
Möglichkeit, dass jene inhaltlich und formell fremdartigen
Stücke eine Bedeutung für den Verlauf des Liederbüchleins
haben, d. h. denselben auffällig unterbrechen und so in
Gruppen trennen sollen.^)
>) Ich merke übrigens an, dass ich nicht von dieser Postulatio
aus zu den folgenden Beobachtungen kam, sondern dass mir diese erst
den Werth der Rollengedichte klar machten. Ich habe sie bald nach
Vierte\jahrschrift für LittoratuigoBchichte III 39
590 Seuffert, Heines Heimkehr.
Im allgemeinen zwar will Heine das Büchlein 'Heim-
kehr' als ein in sich geschlossenes hinstellen. Nr. 1 dient
als Einleitungslied, hat freilich auch Eigenleben^); das Thema
wird angegeben: ich habe geliebt, habe die Liebe verloren
und singe meinen Schmerz. Das letzte Lied Nr. 88 könnte
nicht für sich stehen, es ist nur vor oder nach einem
'Büchlein' möglich und ist als Schlussgedicht verwendet;
es ergänzt das Thema : in diesem Büchlein sind die Lieder
auf meine verlorne Liebe enthalten.
Nr. 2, die Lorelei -Ballade, spricht nicht von Heines
Liebe, sondern von der Gewalt des Weibes über den Mann :
das Thema wird also erst objectiv erörtert. (Das erste
Lied wird dadurch isolirt und bekommt das Gepräge einer
Einleitung.) Eingang und Schluss der Ballade stellen den
Bezug zum Dichter her. Auch von Nr. 3 ist nur Anfang
und Ende persönlich, die Mitte füllt ein Situationsbild, an
sich stimmungslos, nur durch eine jähe Wendung dem Aus-
drucke der Todessehnsucht dienstbar gemacht. Nr. 4 schlägt
wieder das Thema der eigenen Liebe an, bereitet auf das
'Liebchen' vor. Auch im nächsten Gedicht (5) wandelt der
Dichter noch im Walde, aber die drei letzten Strophen
zeichnen eine 'verdriessliche' Situation im Försterhaus mit
fremden Figuren ; weder das Yerhältniss dieser zu einander
ist durchsichtig motivirt, noch ihr Bezug auf Heine klar.
Dass hiermit ein starker Einschnitt gemacht wird, erhellt
sofort aus dem engen Zusammenhang, den die folgenden
Lieder nun unter sich haben.
Der Dichter findet die Familie des vermählten Lieb-
chens im Bade (6), plaudert mit der Badegesellschaft (7)
'am Fischerhause' sitzend. Das Fischerhaus fesselt ihn : er
wirbt um das 'schöne Fischermädchen' (8), hält es umfan-
gen (9). Zwei Seebilder (10. 11) verstärken die Strand-
scene. Nr. 12 setzt die Liebe zur Fischerin phantastisch
dem Erscheinen von Elsters lange nicht genug gewürdigter Ausgabe
des Buchs der Lieder (Deutsche Litteraturdenkmale 27) und durchaus
mit Benutzung der von ihm so vortrefflich vorgelegten Daten ange-
stellt. Auch briefliche Mittheilungen Elsters konnte ich nutzen.
*) *Ge8chrieben im Herbste 1823' also bevor die Sammlung vor-
handen war.
Seuffert, Heines Heimkehr. 591
fort; sie ist schon in Nr. 9 als Schwester der Seejungfrauen
bezeichnet, jetzt erscheint sie im Balladenkostüm der Meer-
frau. Nr. 13 wird wieder realer, kehrt zu dem Pischer-
bause zurück, vor dem auch Nr. 14 spielt; dies Lied besingt
den Abschied und schliesst die Fischerinepisode. Es folgt
ein Gedicht mit anderen Figuren (15), aus dem Seebad
sind wir auf ein Bergschloss entrückt, die weiche Stimmung
ist verflogen, die neue frivole Situation ist aufs knappste
und ungenügend gezeichnet; äusserlich knüpft der Dichter
an das Zusammensein mit den Muhmen und Basen an, die
er schon (6 Y. 9) erwähnt hat.
Nr. 16 bringt völlig Neues. Heine nähert sich der
Stadt, 'wo er das Liebste verlor'. Er begrüsst(17), durch-
wandert sie (18), betritt die ^Hallen', wo ihm die Liebste
Treue versprochen (19), steht vor deren einstiger Wohnung
(20). Er ist für sie todt (21), aber die Todten haben Macht
über Lebende, wie eine Ballade (22) erzählt. Nach den
drei Nachtbildern eine Tagesscene (23): der Dichter steht
vor der Qeliebten Bild, beklagt seinen Schmerz (24), wünscht
ein Wiedersehen (25), erträumt es (26), und gibt dann
seinem Schmerz den Abschied (27).
Das Gedicht 28 gibt einen jähen Wechsel wie Nr. 5
und 15; noch schroffer springt es aus der Umgebung her-
aus, weil der Dichter sich in gar kein Yerhältniss zum
Inhalte setzt; so verdriesslich wie das Försterhaus (5) ist
dies Pfarrhaus ; wie dort die Grossmutter so hier die Mutter,
dort ein fluchender Enkel, hier ein wüster Sohn, dort seine
wohl aus Liebe weinende Schwester, hier seine verliebte;
verständlicher, weniger skizzenhaft als Nr. 5, aber doch
nicht ganz deutlich.
Nr. 29 setzt, so wie Nr. 6 nach 5 und 16 nach 15, mit
der äusseren Situation des Dichters ein: vom Fenster aus
beobachtet er das Strassenleben einer Stadt. Mit Lied 30
kehrt er zu seiner Liebe zurück; es knüpft an Nr. 27 an:
da hat er den Schmerz verabschiedet, aber die Leute mei-
nen, er gräme sich noch; ja wohl, aber nur weil er das
Geständniss einer neuen Liebe nicht über die Lippen bringt.
Er huldigt der Geliebten (31), ein Freund drängt zur Er-
klärung (32), aber es folgt eine Trennung ohne Aussprache
39*
592 Seufferi, Heines Heimkehr.
(33). Die nächsten drei Stücke erzählen des Dichters
Seelenzustand nach dieser Episode. Er klagt über man-
gelnde Theilnahme der Freunde an seinem Schmerz (34),
sie loben nur seine Verse; er vergräbt sich ins Studium
(35); Nr. 36, durch die Teufelsfigur mit dem vorigen ver-
knüpft, spottet über seine Geldnoth.
Die Ballade von den h. drei Königen (37) taugt in
keiner Weise hieher, sie steht völlig isolirt, fast noch fremd-
artiger als die Scenen aus dem Bergschloss, dem Forst-
und Pfarrhause; soll man sie symbolisch fassen? soll ihr
Stern mit dem 'goldnen Stern\ der den Dichter einst nach
Nordland zog (Litt.-Denkmale 27, 233) identificirt werden?
hier ist kein Anhaltspunkt dafür gegeben. Das nächste
fremdartige Einschiebsel ist die Ballade vom König Wis-
wamitra (45), die doch wenigstens durch das Liebesthema
der Umgebung verwandt, also eine schwächere Unter-
brechung ist. Sie spricht von Kampf und Busse (Y. 7),
und die vorausgehenden Lieder (38 — 44) zeigen des Dich-
ters Selbstbesinnung, wenn man so will: Kampf und Busse;
er sieht auf seine Vergangenheit zurück, gedenkt der Kin-
derspiele (38) und setzt der frohen Zeit die schlimme
Gegenwart entgegen (39); noch einmal contrastirt er einst
und jetzt heiter und trüb (40. 41), gedenkt der Begegnung
mit einer Dame auf dem Rheine (die vielleicht mit der
^schönen Maid am blühenden Rhein' in dem Gedicht an
F. V. Zuccalmaglio und vielleicht mit der Lorelei zusammen-
gebracht werden darf) und triift dann eine verarmte Geliebte.
Durch das Lied 42 weckt ihn ein Freund aus dem Nach-
sinnen über Vergangnes, er verspricht Besserung (43) und
verkündet den festen Entschluss der Umkehr (44).
Der neue Frühling, auf den er (43) hoffte, bricht an
(46). Die folgenden Lieder erzählen seinen Inhalt. Mit
dem Preis des schönen und reinen Mädchens setzt Heine
(47) ein; er wünscht und fürchtet Gegenliebe (48), träumt
von der Geliebten (49), möchte bei ihr sitzen (50) am Win-
terabend; er hat den Frühling im Herzen, obwohl es Winter
ist (51), sie ist seine Sonne (52); aber er kann seine Liebe
nicht aussprechen, und sie liest sie nicht aus seinem Gesichte
(53), obgleich die Freunde seine Verliebtheit schon bemer-
Seuffert, Heines Heimkehr. 593
ken (54). Da gesteht er denn seine Liebe und wird neckisch
abgewiesen (55). Eifersucht erwacht (56), er denkt auf
Selbstmord (57) oder doch Entfernung (58), aber ihre Augen
lassen ihn nicht los (59). Nur bleibt er ausgeschlossen
aus ihrer Nähe (60); • so müssen die Winde ihr seine
Schmerzen zutragen (61); ihre Augen haben ihn bethört
(62), zum zweiten Male liebt er ohne Gegenliebe (63). Er
soll warten, räth man ihm (64), aber was frommt der Rath,
er ist ja auf sich selbst gestellt.
Es ist fraglich, ob dieses Lied noch Zusammenhang
mit der Liebesepisode hat, zumal es in der 1. und 3. Auf-
lage des Büchleins durch je ein fremdes Stück abgetrennt
war; jedenfalls leitet es zu den persönlichen Verhältnissen
des Dichters über, wie die drei Nummern 34 — 36, in deren
satirische Stimmung die drei Stücke 64 — 66 zurückfallen.
Sie reden wie Nr. 34 spöttisch von dem Beifall, den Heines
Gedichte finden (während der Dichter nach den niederen
Minnen selbstbewusst von seinem Berufe spricht: 13. 72),
und mit Selbstironie schildert der auf sich selbst Angewie-
sene in einem komischen Märchen seine göttliche Macht.
Nr. 67 ist wieder ernst gefühlt, Abschied von Befreun-
deten; es folgt die Abreise mit der Trennung aus schönen
Armen (68), zwei Situationsbilder, denen sich als drit-
tes die Erzählung der Reise und Anknüpfung eines Lie-
besverhältnisses anschliesst (69). Der Dichter findet die
Reisegefährtin (?) in prächtigem Hotel wieder (70), besucht
sie um Mitternacht (71), phrasirt von (leicht zu scheiden-
der) Ehe (72) und bringt gleich darnach den Gegensatz,
die Untreue der Geliebten (73) ; Husaren sind seine Neben-
buhler; als sie wieder abreiten (74), nähert er sich aufs
neue und sucht die um die verlornen Liebhaber klagende
Schöne durch seine Rückkehr zu trösten (75); sie weist
ihn erst ab (76), erhört ihn aber dann (77), doch da fühlt
er selbst sich entfremdet; Nr. 78 gibt die epigrammatische
Aufklärung, um welche Art von Liebe es sich gehandelt
hat, was übrigens alle Lieder dieser Episode mit Ausnahme
von Nr. 76. 77 deutlich genug verrathen. In Nr. 79 schliesst
Heine mit einer persönlichen Äusserung über seine Poesie
ab (wie 13. 34. 64—66).
594 Seuffert, Heines Heimkehr.
Nr. 80. 81 in fremdem spaniscbem Kostüm sprechen
von des Dichters Yerhältniss zu einer Schönen und einem
Schönen, beide schliessen mit Spott; sie scheiden die näch-
sten Lieder von der vorigen Episode. Diese sind Wander-
lieder, Nr. 82. 83 geben eine kleine Liebesepisode, 85 — 87
sind Landschafts- und Stimmungsbilder, 84 fugt sich etwas
uneben ein (s. u. S. 596).
Diese Übersicht über das Büchlein ^Heimkehr^ ergibt
das Vorhandensein bestimmter in sich einheitlicher Gruppen.
L Nr. 1 — 4 Einleitungsgedicht nebst Erweiterungen.
5 Einschnitt.
IL 6-14 Seebadepisode. (Diese Gruppe war in
der 2. Auflage der Reisebilder um zwei
Seestücke reicher.)
15 Einschnitt.
IIL 16-27 Verlorene Liebe.
28 Einschnitt.
— IV. 29 — 33 Neue Liebe ohne Werbung, nebst einem
Anhang über die persönliche Lage des
Dichters 34 — 36.
37 Einschnitt.
V. 38 — 44 Einkehr, Jugenderinnerungen, Ent-
sohluss zur Umkehr.
45 Einschnitt.
^ VI. 46—63 Neue Werbung und Zurückweisung,
nebst einem Anhang über die persön-
liche Lage des Dichters 64 — 66. (Nr.
64 war von 63 in der 1. und 2. Auflage
der Beisebilder durch je ein frivoles
Lied getrennt.)
66 dient zugleich als Einschnitt.
VII. 69 — 78 Eeisebekanntschaft, nach 2 Liedern des
Abschieds 67. 68, nebst einem Anhang
über die persönliche Lage des Dichters
79. (War in der 1. Auflage der Reise-
bilder um vier, in der 2. um ein ent-
sprechendes Gedicht stärker.)
Seuffert, Heines Heimkehr. 595
Nr. 80. 81 Einschnitt.
VIII. 82 — 87 Wanderlieder, nebst dem Schlussgedicht
88. (War in den Reisebildern t.Aufl.
um ein niederes Liebesgedicht erweitert.)
Bis zu Gedicht 64 ist die Ordnung strenger als dar-
nach. Gruppe I entspricht Gruppe VIII , Gruppe II und
VII erzählen von fluchtigen Licbesgenüssen , Gruppe III
und VI von zweifacher vergeblicher ernster Liebe. So ist
eine kunstvolle Rcsponsion, die, mich wenigstens, bei Heine
überrascht, zumal ich noch auf einzelne Entsprechungen
hinweisen konnte. Man möchte darnach geneigt sein, die
ganze Ordnung des Büchleins als eine kunstmässige anzu-
sprechen. Und doch legt Heine selbst nahe, an chrono-
logische Ordnung daneben zu denken.
Er gibt nemlich Andeutungen über den Verlauf. Nr. 3
ists Mai, 28 Herbst, 29 Winteranfang, 50. 51 Winter, 67 Ja-
nuar (71 Winter? wegen des Mantels), 80 Frühling, 83 Som-
mer (Lämmerweide), 85 Sommer. Dieser Jahreszeitenlauf
wird nur zweimal gestört: der Nachtigallensang Nr. 87 weist
auf den Frühsommer und darf als poetische Licenz gelten ;
der Ausdruck 'neuer Frühling' in Nr. 46 verliert an Sinn-
lichkeit, wenn man ihn mit den Worten ^neuer Liederfrüh-
ling' 43 und Trühlingslust' im Winter 51 zusammenhält;
überdies mag Nr. 46 als Einleitung zu Gruppe VI im Früh-
ling erzählen, was im vorhergehenden Winter erlebt ist.
Ferner hat Heine selbst der 'Heimkehr' das Datum
1823 — 1824 beigesetzt. Nur für zwei Lieder können wir
diese Angabe widerlegen: Nr. 51 und 66 sind in Taschen-
büchern aufs Jahr 1823, also schon 1822 erschienen. Alle
übrigen gingen zwischen dem März 1824 und dem Jahre
1827 in Druck: das spätere Erscheinen einzelner Stücke
muss nicht späteres Entstehen voraussetzen. Auch lassen
sich Heines Angaben in folgender Weise äusserlich stützen.
Die I. Gruppe versetzt wahrscheinlich in den Mai 1823:
die Beschreibung in Nr. 3 ^passt genau auf die damalige
Localität des Lüneburger Walles'. — Die II. Gruppe weist
auf Heines Aufenthalt in Cuxhaven, Juli und August 1823;
ein Lied daraus ist (Elster, Heines Sämmtl. Werke 3, 30)
596 Seuffert, Heines Heimkehr.
nach Briefe 1, 106 auf den Tag datirbar: 22./23. August 1823.')
— Die lU. Gruppe greift etwas zurück, erzählt die Ankunft
in Hamburg vor der Badereise, also 1. Julihälfte 1823;
Nr. 20 möchte man nach einem Briefe (1, 101) auf den
9. Juli 1823 setzen; dass die Lieder, welche der geliebten,
nun mit einem andern vermählten Amalia Heine gelten,
nicht erst bei der Rückkehr von Cuxhaven nach Hamburg
gesungen sind, sondern beim ersten Betreten der Stadt, ist
innerlich wahrscheinlich und wird äusserlich durch den
Brief vom 11. Juli 1823 belegt. — V. 15 der Nr. 35 zeigt
Heine beim juristischen Studium, fällt wohl in die Lüne-
burger Zeit von Ende September 1823 an (vgl. z.B. Briefe
1, 115). — Nr. 37 ist des Stoffes wegen vielleicht 6. Januar
1824 anzusetzen. — Nr. 66 weist nach Berlin, aber, weil
sie schon 1822 gedruckt ist, in den damaligen Berliner
Aufenthalt. Eben dahin führt (wegen des prächtigen Hotels
und bestimmter wegen der in der 1. Auflage der Reisebilder
hier eingefügten Strophe ^grüsse mich nicht unter den
Linden') Gruppe VH, die wohl in die Berliner Osterreise
1824 zu verlegen ist mit Ausnahme der Ende März 1824
gedruckten Nummern 71. 72. 78. — Gruppe VIH gehört
trotz der sommerlichen Jahreszeit sicher der Harzreise von
Mitte September bis ll.October 1824 an; Nr. 82 kann auf
'Harzreise' (Elster, Sämmtl. Werke Bd. 3) S. 37 gehen
(Lockenköpfchen am Fenster), Nr. 83 auf S. 23 (Glöckchen
der Herde läuten, aufgehende Sonne), wonach der Ort für
Nr. 83 Osterode wäre*) ; Nr. 84 ist vielleicht durch *Harz-
reise' S. 58. 68 angeregt oder durch den Besuch Halle's*);
Nr. 85 erinnert an S. 34 (Wiesen, silberne Wasser, grüne
Bäume, Märchen). An den kurzen Harzbesuch, den der
Brief vom 4. April 1824 erwähnt, darf man der Jahreszeit
') Das Erlebniss yon Nr. 6 weiss ich allerdings nicht biographisch
nachzuweisen; die Notizen über des Onkels Becreationsreise und den
Aufenthalt auf des Oheims Gut (Briefe Yom 11. Juli und 27. September
1823) reichen nicht aus.
*) Nr. 82. 83 scheinen allerdings zusammengehörig, so doss man
filr 82 lieber auch eine Osteroder Begegnung annehmen möchte.
') Elster macht mich aufmerksam, dass die Hallischen Studenten
von den Behörden besonders gedrückt worden zu sein scheinen.
SeuffSert, Heines Heimkehr. 597
der Lieder wegen noch weniger denken. — So wäre das
Buch 'Heimkehr' (mit zwei Ausnahmen) zwischen dem Mai I
1823 und dem October 1824 begrenzt, womit Heines Dati- \
rung übereinstimmt.
Diese Beobachtungen legen es nahe, auch die übrigen
Lieder zeitlich zu bestimmen und biographisch zu erklären,
wobei die Möglichkeit von Yerschiebungen wie zwischen
Oruppe II und III zu beachten bleibt.
Dass nicht 6in Liebesroman, wie das erste und letzte
Lied erwarten lassen, vorliegt sondern mehrere, ist ersicht-
lich geworden ; alle Liebesverhältnisse aber sind nicht dau-
ernd (vgl. Nr. 14. 27. 33. 41. 63. 68. 77. 80. 83), und das
eint sie. Die gemeinsame Überschrift 'Heimkehr' ist frei-
lich ungenau*), da zweifellos mehrfacher Ortswechsel ein-
tritt; am liebsten möchte man ihn auf Q-ruppelll anwenden,
die Rückkehr nach Hamburg in die einstige Wohnstätte (
der verlorenen Geliebten. Übrigens sollte das Büchlein
zuerst den Titel 'Neues Intermezzo' führen (Briefe 1,243);
auch dieser würde durch die Anknüpfung an das Amalia
gewidmete Lyrische Intermezzo die III. Gruppe als Haupt-
episode herausgehoben haben. In einem Briefe (1, 243)
bezeichnet Heine den Inhalt des ganzen Büchleins zutref-
fend mit den Worten 'meist Reisebilder' ; die Lieder knüpfen
an Reiseerlebnisse an; in Lüneburg und Göttingen, wo da-
mals sein Zuhause war, ist wenig Poetisches entstanden
(Briefe 1, 121. 128. 159. 169. 175). Etwa achtzig kleine
Gedichte sollten das Büchlein füllen (Briefe 1, 243), acht-
undachtzig sind es thatsächlich, es mögen also nachträglich
noch ein paar zur Ausrundung dazugekommen sein, wie
zwei aus früherer Zeit hereingezogen wurden; die Nr. 56*
57. 67. 76. 77. 81 unterliegen diesem Yerdachte zuvörderst,
weil sie erst in der 2. Auflage des Büchleins dazu traten''):
*) Elster fasst (S&mmtl. Werke 1, 4) den Aasdmck strenge: Heim-
kehr ans Berlin ins Elternhaus zu Lüneburg. Gewiss ist ein Theil der
Lieder der 'Heimkehr' in Lüneburg entstanden, aber die massgeben-
den Erlebnisse des Büchleins liegen ausserhalb Lüneburgs. Auch ver-
brachte Heine hier kaum die Hälfte der Zeit, welche die Lieder um-
schliessen. Ich versuche darum den Titel innerlich zu erklären.
^) An der Summe 88 hielt Heine beharrlich fest, obwohl der
598 Seuffert, Heines Heimkehr.
56 enthält die hier allein erwähnte EiferBUchtsregong, auch
ist Ausdrucksweise und Aufbau des Liedes überlegter und
künstlicher als in den Liedern unmittelbarer Empfindungs-
äusserung (z.B. 62), 57 steht in allerdings erklärbarem Wider-
spruch zu 55®), 67 ist dunkel und bezuglos^), 76. 77 em-
pfanden wir als zu ernste Stücke der Gruppe YII, 81 aber
gehört wohl nach Göttingen 1824, wie das vorbeigehende
Lied gleichen Kostüms, wegen des Relegirens, obwohl die
Wälle (wie in 3) nach Lüneburg weisen können ; alle diese
Lieder sind keine unentbehrlichen Glieder der Gruppen.
Die Gruppen blieben seit der ersten Yeröifentlichung
der 'Heimkehr' die gleichen*®), es sind keine Verschiebun-
gen von Liedern aus der einen in die andere vorgenommen
worden. Dieser Umstand zusammen mit der Thatsache,
dass Gruppe II, III und VIII zweifellos, Gruppe VII an-
nähernd**) biographische Einheiten geben, verbietet nahezu,
Lieder auf die gleichen Personen in verschiedene Gruppen
zerstreut zu suchen. Jede einheitliche Gruppe (nicht I. V)
hat ihre Heldin. Die der II. und VII. zu suchen, lohnt
sicli nicht; die Dame vom Rhein, die Donna auf Salamancas
Wällen*^), das Kind das den Dichter mit schönen Armen
Inhalt der drei ersten Auflagen unter »ich verschieden ist. Was ans*
geschieden wurde, ist in der nächsten Ausgabe durch andere Nummern
— wenn auch an anderer Stelle — ersetzt.
®) Nr. 57 lässt sich vielleicht mit der Stimmung des Briefes vom
14. December 1825 in Verbindung setzen.
•) Abschied von Befreundeten im Juli, Wiedersehen derselben im
Januar weiss ich aus den Jahren 1823 — 1827 nicht nachzuweisen. Die
Nummer kam in der 2. Auflage der Beisebilder an andere Stelle.
") Die ersten zerstreuten VeröfFentlichungen geben nur dürftige
Ansätze zu solchen Gruppenbildungen: in der am 26. März 1824 gedruck-
ten Reihe herrscht Amalia, in der am 27. veröffentlichten die Fischerin
und in der vom 31. Januar 1826 Therese vor, in den Reisebildem 1826
tritt die Reisebekanntschaft dazu.
") Nr. 71. 72 fallen wie gesagt zeitlich, Nr. 76. 77 der Stimmung
nach heraus; es sind also hier verschiedene Verhältnisse combinirt und
um eine Berliner niedere Minne (wenn der Ausdruck erlaubt ist) ver-
einigt, die den Grundton gibt. Bei dieser Genussliebe kam es nicht
darauf an, die Individualität der Uauptheldin unvermischt zu erhalten.
**) Ich erinnere an Heines Brief vom 25. Februar 1824: es quäle
ihn ^nicht mehr die frühere, die einseitige Liebe zu einer einzigen'.
Seuffert, Heines Heimkehr. 599
fest umschlossen, die flüchtige Harzbekanntschaft lasse
ich ebenso bei Seite. Das Interesse haftet an Oruppe lY (
und VI um so lebhafter, als Elster für die meisten dieser
Lieder Theresc Heine* als Adressatin entdeckt hat und weil
der Gruppe VI die hervorragendsten Lieder des Büchleins
angehören.
Kann die in diesen Episoden Gepriesene eine der in
andern Gruppen vorkommenden Geliebten sein? Das Pischer-
mädchen der IL Gruppe redet Heine als 'Kleine' an (13),
erwähnt seine schwarzbraunen Augen (13), zweimal seine
weisse Hand (9. 14). Gruppe III entbehrt jeder auszeich-
nenden Beschreibung Amalias: sie ist ja nicht vor den
Augen des Dichters gegenwärtig, lebt nur als Entfernte in
seiner Erinnerung.'') Gruppe IV theilt mit II die Anrede
Kleine (30), spricht aber von grossen, süssen, klaren Veil-
chenaugen der Liebsten (30. 31) und ihren weichen Lilien-
fingem (31). Auch Gruppe VI gilt einem kleinen Mädchen
(50) mit rothem Mund (50 vgl. 56) und kleiner weisser
Hand (50); das Hervorstechendste aber sind die süssen,
klaren, prächtigen (Saphir-)Augen, auf welche der Dichter
ein ganzes Heer von Liedern gesungen haben will (62) und
deren wenigstens fünf Lieder Erwähnung thun (50. 56. 59.
61. 62). Gruppe VII spricht nur von den schönen, weissen
Armen (73. 77) und dem weissen Busen (73).^*) Aus die-
ser Zusammenstellung ergibt sich die Erlaubniss, Gruppe lY
und VI auf 6ine Person zu beziehen.
Nehmen wir nun noch Lied 6 zu Hilfe: da spricht
Heine vom Schwesterchen der geliebten Amalia, Therese
Heine; es ist als Kleine bezeichnet und seine Augen wer-
den gerühmt, weil sie denen Amalias gleichen; auch diese
hat blaue Veilchenaugen (Lyrisches Intermezzo 30). So
wird man geneigt sein lY und VI auf Therese zu beziehen.
Sie verträgt den Namen kleines Mädchen, da sie 1823 erst
^') Ist diese Erklärung richtigf so wird man die Gegenständlich-
keit der Heineschen Lieder strenger und ernster nehmen müssen, als
gewöhnlich geschieht, und seine poetische Wahrheit höher einschätzen.
^*) Die Bezeichnung 'weiss' ist bei Heine am wenigstens sif^^ni-
ficant. Selbst die Fischcrin hat weisse Hände (9).
600 Seuffertf Heines Heimkehr.
15 Jahre zählte ^^); auf sie stimmt der in Nr. 62 angedeu-
tete Reichthum der Geliebten. Es fragt sich nur, wie der
Inhalt von Gruppe IV und VI sich vereinigen lässt: beide-
male fallt das Geständniss der Liebe schv^er, aber das erste-
mal unterbleibt es, das zweitemal wird die Werbung doch
vorgebracht. Nun hat Elster eine Briefstelle vom 23. August
1823: ein neues Princip sei aufgetaucht, die neue Thorheit
sei auf die alte gepropft, in überzeugender Weise auf
Therese gedeutet ; die Ähnlichkeit dieser mit der verlorenen
Amalia leitet Heine von der alten zur neuen Liebe; das
war schon vor dem Cuxhavener Aufenthalt; damals aber
hat Heine sich nicht ausgesprochen. Gruppe IV also
möchte ich an den Schluss von Gruppe III, in die Mitte
Juli 1823 schieben. ^^) Anfang September kehrt Heine
nach Hamburg zurück und in diese Zeit möchte man
Gruppe VI verlegen. Doch steht die Erwähnung des Win-
ters in Nr. 50 entgegen (5t ist Einschiebsel aus älterer
Zeit, fällt also nicht ins Gewicht); da das Lied schon im
März 1824 gedruckt ist, kann es nicht etwa in das neue
Zusammentreffen mit Therese im December 1825 versetzt
werden. Muss man darum für Gruppe VI ein neues Ver-
hältniss annehmen ? In Lüneburg oder Göttingen wäre es,
nach dem was wir über Heines Leben wissen, schwer an-
zusiedeln; an die Darstellung einer älteren Episode der
Amalialiebe zu denken, weil die Ähnlichkeit der Schwestern
die Heldin der Gruppe der des Lyrischen Intermezzo glei-
chen lässt, verbietet Nr. 63 : glücklose Liebe ^zum zweiten-
1*) So bekoromt auch die Wendung in Nr. 64, Heine solle war-
ten, einen besonderen Sinn.
^•) Allerdings sind Nr. 32. 33 mit andern Liedern (1. €2. 60. 32.
33. 42. 43) zusammen unter dem Titel 'Kleine Gedichte von H. H.
(geschrieben im Herbste 1823)' erschienen; ist diese Datimng richtig,
so fallen die Lieder 32. 33 zeitlich zusammen mit 53. 54, mit welchen
sich auch ihr Inhalt deckt; auch die Praeterita in 32. 33 zeigen, dass
die Lieder nicht in Gegenwart der Geliebten (im Juli), sondern dar-
nach yeriasst sind. Da die Stimmung der Gruppe IV mit der anfftng-
liehen von Gruppe VI gleich ist, wie Nr. 30 beweist, so ist durch die
Verschiebung von Nr. 32. 33 eine Entlastung der grösseren Gruppe VI
und eine ebenso künstlerische Verstärkung der kleinen Gruppe FV ein-
getreten, ohne dass die biographische Wahrheit dabei einbtISHte«
Seuffert, Heines Heimkehr. 601
male^ auch sind Gruppe IV und VI doch nicht nur durch
äussere Ähnlichkeit der Figuren, sondern überdies durch
die Äusserung verbunden, das Liebesgeständniss falle schwer,
endlich durch die verschlungene erste Veröffentlichung von
vier Liedern dieser Gruppe mit zwei der IV. So bleibt
nur der allerdings üble Ausweg, Nr. 50 als etwas späteren
Einschub zu betrachten (wie ja auch Nr. 58 besser zur
Übersiedelung von Lüneburg nach Göttingen im Januar
1824, als zu der Reise von Hamburg nach Lüneburg Sep-
tember 1823 passt). Das Lied erweckt zudem den Eindruck,
als ob es nicht in der Nähe der Geliebten entstanden sei:
V. 4 ^deiner denk ich immerdar\ entschiedener V. 6 Mch
möchte bei dir sein' weisen auf eine gewisse Entfernung.
Dass Heine trotz der schnippischen Abweisung an der Liebe
zu Therese noch festhielt und halten durfte (vgl. Nr. 64 :
er solle warten), bezeugt die von Elster für den Winter
1825/6 angenommene stärkere Fortsetzung der Leidenschaft
für Therese.
Fasse ich die Schlüsse, welche ich aus diesen allerdings
auf die ^Heimkehr' eingeschränkten und an andern gleich-
zeitigen Äusserungen Heines zu prüfenden Beobachtungen
ziehen möchte, zusammen, so ergeben sich folgende Thesen:
Das Büchlein ^Heimkehr' hat eine künstlerische Ordnung,
welche gelegentlich die chronologische Folge stört; Balladen
fremden Inhalts bilden die Merkzeichen für das Anheben
einer neuen Gruppe. Die Lieder gelten Erlebnissen zwi-
schen dem Mai 1823 und Herbst 1824 (Lüneburg, Hamburg,
Cuxhaven, Hamburg, Lüneburg, Göttingen, Berlin, Göttingen,
Harzreise); nur zwei Lieder sind nachweislich älter, vier
vielleicht jünger; die zeitliche^'') Reihe ist: Gruppe I. III.
IV. II. V. VI (vielleicht VI. V). VIL VIII. Das Büchlein
erzählt nicht 6inen Liebesroman, sondern zwei hohe, zwei
niedere und mehrere flüchtige Verhältnisse; die Geliebte
innerhalb der einzelnen grösseren Gruppen ist 6ine Person ;
Amalia Heine gilt eine, Therese gelten zwei Gruppen.
Graz. Bernhard Seuffert.
") Nemlich die Zeitfolge der Erlebnisse , auf die es mir durch-
wegs mehr ankam, als auf die Entstehungszeit der einzelnen Lieder.
602 Herrmann, Oswald von Wolkenstein.
Die letzte Fahrt Oswalds von Wolkenst«ln.
Längst ist bekannt, dass Sigismunds ruhmloser Römerzag
aus den Jahren 1431 bis 1433, die letzte Heerfahrt, die ein
deutscher König zur Erlangung der Kaiserkrone unternahm,
zugleich die letzte Fahrt des ^letzten' deutschen Minne-
singers gewesen ist. Oswald von Wolkenstein hat uns
selbst in einem zu Placentia entstandenen Gedicht anschau-
lich genug das traurige Leben geschildert, das er als Ritter
des Königs in der 'Lumpardie' führen musste, wo der tiefe
Koth und das theure Brot sich zu einem traurigen Reim-
paare zusammenfügten. Dagegen ist es bis jetzt. nicht nach-
gewiesen, wie lange Oswald im Gefolge des Königs blieb,
der die Gastfreundschaft der italienischen Städte in der
lästigsten Weise in Anspruch nehmen musste. Zwei An-
sichten stehen sich gegenüber, ohne dass für die eine oder
die andere eine Begründung beigebracht wäre. Beda Weber^)
nimmt an, dass Oswald erst zugleich mit dem Kaiser im
August 1433 die Heimat wiedergesehen habe, Zingerle^)
dagegen lässt ihn bereits 1432 in die Tiroler Einsamkeit
zurückkehren. Weber hat sich vermuthlich dadurch bestim*
men lassen, dass in einem Oswaldschen Gedicht (S. 63 der
Ausgabe Webers) ein bedenkliches Abenteuer geschildert
ist, das die Deutschen 1433 in der Gegend von Rom zu
bestehen hatten; Zingerle berücksichtigt wohl mehr den
Umstand, dass der grösste Theil der Wolkensteiner Hand-
schrift, in der Oswald eigenhändig seine Gedichte aufzeich-
nete, schon im August 1432 geschrieben worden ist.
Im folgenden wird nun zunächst der urkundliche Nach-
weis dafür geliefert, dass Oswald wirklich schon im Früh-
jahr 1432 von Italien wieder nach Deutschland gezogen ist.
^) Die Gedichte Oswalds von Wolkeostein (Innsbruck 1847) 8. 16.
Derselbe: Oswald von Wolkenstein und Friedrich mit der leeren Tasche
(Innsbruck 1850) S. 428. Auf Weber fusst Schraid in den Mittheilun-
gen d. Vereins f. Gesch. u. Alterthumskunde in Hohenzollern 13,36.
') Zur älteren tirolischen Literaturl. (Sitzungsberichte d. Wiener
Akad. phil. bist. Cl. 64, 3. S. 623 f.)
Hemnann, Oswald von Wolkenstein. 603
In einer Sammlung von 78 bisher unbekannten Briefen an
das Basler Concil vom Jahre 1432 (im Cod. 294 der EgI.
Bibliothek zu Eichstätt), die ich demnächst yeröfFentliche,
findet sich (fol. 141) ein aus Parma vom 18. Mai datirtes
Schreiben König Sigismunds an die Basler Väter, in dem
es heisst: ^Mittimus ad presenciam yestrarum patemitatum
honorabilem magistrum Stok, decretorum doctorem,
adiuncto sibi nobili viro Oswalde de Wolken stein
fideli nostro, qui ?08 de singulis rerum circumstanciis cla-
rius informabunt: quorum relatibus vestre paternitates adhi-
bere velint tamquam nobis per omnia credencie plenam
fidem'. Dieser königliche Brief gibt uns ein nicht ganz
leichtes Räthsel auf: denn wir kennen längst ein andres
Schreiben des Königs, das ebenfalls aus Parma, ebenfalls
vom 18. Mai 1432 datirt ist (gedruckt bei Mansi, Acta
conciliorum generalium 30, 144 — 145) und in dem aus-
schliesslich Dr. Stock als Gesandter genannt ist. Die Ver-
wicklung geht aber noch weiter. Alle die Boten, die König
Sigismund von Italien aus nach Basel schickte, waren auch
mit besonderen Briefen und Aufträgen an den Protector
des Ooncils, den Herzog Wilhelm von Baiern, versehen.
Über diese Beziehungen hat Kluckhohn in den Forschun-
gen zur deutschen Qeschichte 2, 524 ff. gehandelt, er kennt
auch drei Briefe des Königs an Herzog Wilhelm aus den
fraglichen Tagen, macht aber als Gesandten daraus nur
Nicolaus Stock namhaft. Eine nochmalige Vergleichung
der Originale') im allgemeinen Reichsarchiv zu München
(Fürstensachen, tom. V) ergab indessen, dass in dem ersten
der betreifenden Briefe (fol. 225) der am ^Suntag nach sand
Sophie tag^ geschrieben ist, über die Gesandtschaft folgende
Worte sich finden : ^wir senden zu deiner lieb den ersamen
meister Niclasen Stock, lerer in geistlichen rechten
mit sampt dem edeln Oswolten von Wolkenstein, vnsern
lieben getruen, die dein lieb aller vnserer sach gelegenheit
eygenlich werden vnderweisen. Begem wir von deiner
lieb, was dir die selben zu disem mal von vnseren wegen
•) Ich verdanke eine Abschrift der Güte des Herrn Dr. Paul
Joachimsohn.
604 Herrmann, Oswald von Wolkensiein.
sagen werden, daz du in genczlich glaubest als vns Belber\
— In dem sachlich interessantesten, vertraulichen Briefe,
den Kluckhohn a. a. O. S. 551 f. fast vollständig druckt, ist
von den Gesandten überhaupt nicht die Rede; dagegen spricht
der dritte Brief (Münchener Reichsarchiv a. a. O. fol. 32),
der 'nach sand Sophie tag' datirt ist, wieder nur von 'meister
Niclasen Stok, der iczund eylend zu euch reitet,
euch klein vnd gros eigentlich zu vnder weisen'. — Wie
kommen wir über diesen Widerspruch hinweg ? Man sollte
zunächst meinen, in letzter Stunde sei noch eine Änderung
in Bezug auf die Personen der Gesandtschaft erfolgt, Oswald
von Wolkenstein sei in Parma geblieben, und man habe
für Stock neue Briefe geschrieben, während die andern sich
nur zufällig erhalten hätten. Das Gegentheil lässt sich
aber leicht erweisen: jener lateinische Brief an das Concil
ist wirklich an seine Adresse gelangt, denn die Briefsamm-
lung, der wir ihn entnehmen, ist ohne Frage in der Kanzlei
des Concils zusammengestellt worden. Wir müssen uns
mit der Yermuthung begnügen, dass für Stock, der durch-
aus die Hauptperson der Gesandtschaft war, der von den
Verhandlungen mit dem Papste aus eigner Anschauung
Dinge berichten konnte, von denen Oswald nichts wusste,
nochmals besondere Einzelbeglaubigungsschreiben ausgestellt
worden sind ; und es ist jedenfalls als erwiesen zu betrach-
ten, dass sich auch Oswald am 30. Mai 1432, dem Tage,
an dem nach Mansi (a. a. O. S. 144) Stocks Beglaubigungs-
schreiben in Basel verlesen wurde, wieder in Deutschland
befand.
Damit ist nun allerdings durchaus noch nicht bewiesen,
dass er nun auch in Deutschland geblieben und nicht zu
seinem Herrn nach Italien zurückgekehrt ist. Dass sein
Name nach dem Mai 1432 in den Zeugenlisten, die uns
eine Anzahl von Sigismunds Begleitern namhaft machen,
nicht erscheint, beweist sehr wenig: denn er ist auch vor
dem genannten Zeitpunkt nicht zu finden. Ja, es gibt, wie
schon oben bemerkt, ein Gedicht, welches ausdrücklich
dafür zu sprechen scheint, dass Oswald auch 1433 in Ita-
lien gewesen ist: die Beschreibung des Überfalls von Ron-
ciglione, der im Mai des genannten Jahres stattfand. Dies
Herrmann, Oswald von Wolkensiein. 605
Oedicht (bei Wöber 8. 63 flF.) beruht indessen schwerlich
auf eigener Anschauung, vielmehr offenbar auf einem aus-
führlichen Bericht, der über den Vorfall nach Deutschland
gelangte: nur so erklärt sich die erste Zeile: ^Es komen
newe mer gerant'. ^!Neu' kann diese Geschichte auch nur
für Deutschland, nicht für die Kaiserlichen in Italien ge-
wesen sein: denn wie lange nach dem wirklichen Yorfall
das Gedicht. erst entstanden ist, zeigt der Umstand, dass
darin von einem der Überfallenen erzählt wird, er habe
seine sonderbar entstellte Nase noch vierzehn Tage nach
dem Kampfe in Rom zur Schau tragen müssen.
Für die Annahpae, dass Oswald 1432 für immer in die
Heimat zurückgekehrt sei, spricht die Wolkensteiner Iland-
schrift seiner Gedichte. Freilich: die von dem Verfasser
eigenhändig eingetragene Notiz, dass er ^an dem nechsten
Samstag nach sant Augustins tag' 1432 ^diss buch geticht
vnd volbracht habe', beweist an sich eigentlich noch nicht,
dass Oswald von Wolkenstein schon im August 1432 ein-
sam auf Hauenstein gesessen und seine Gedichte sauber
zusammengeschrieben habe: denn der Aufenthaltsort des
Schreibers wird nicht genannt, und Zingerle, der die Stelle
gewiss mit Recht in unserm Sinne auslegt, hätte wenigstens
besonders hervorheben sollen, dass an eine Anfertigung der
Handschrift in Italien schwerlich zu denken ist. Für die
Möglichkeit dieser Annahme könnte man sich allenfalls
entscheiden, wenn man der Ansicht sein dürfte, dass Oswald
das Ganze aus dem Gedächtniss aufgezeichnet habe, — aber
diese Ansicht hätte wenig Aussicht auf erfolgreiche Ver-
theidigung. Man hat bisher die eigenthümliche Reihenfolge,
in der Oswald seine Gedichte aufgezeichnet hat, nicht be-
achtet; gewiss wird hier die von Zingerle versprochene
Ausgabe die genauere Untersuchung liefern. Soviel dürfen
wir indessen wohl schon bemerken, dass die Zusammen-
stellung wenigstens theilweise auf Grund kleinerer Gedicht-
sammlungen entstanden sein muss, die gleichzeitig Verfasstes
auf einem Papiere vereinigten. Wie wäre es sonst zu er-
klären, dass z. B. die Nummern 1. 2. 3. 4. 7. 9 — die
dazwischen liegenden scheinen undatirbar — in die Zeit
141 8 ff., die Nummern 18. 19. 20 in das Jahr 1415, die
Vierte^ahrscbriit für Litterattugeachichto III 40
606 Herrmann, Oswald von Wojkenstein.
Nummern 23. 24. 25. 26. 27. 28. 30 in die Jahre 1427—28
gehören u. s. w.^) Schwerlich aber hat Oswald alle diese
Manuscripte auf der italienischen Wanderschaft im Reise-
sack gehabt, wir werden vielmehr im Hinblick auf die oben
gegebenen Ermittelungen über Oswalds Heimkehr nach
Deutschland die Entstehung der Wolkensteiner Handschrift
endgültig nach Hauenstein verlegen müssen.
Der Wolkensteiner Codex enthält aber, wie Zingerle
a. a. O. ausgeführt hat, noch eine Anzahl von Gedichten,
die erst nach 1432 verfasst und der Sammlung einverleibt
worden sind. Zweifellos sind das die Nummern 105 ff. : 105
ist das Gedicht auf den Ronciglioner Überfall vom Mai
1433; 103 dagegen ist die Klage über den traurigen Auf-
enthalt in der Lombardei aus dem Anfang des Jahres 1432.
Dazwischen liegt also derSchluss der bis zum August 1432
*) Die Einzelbeweise f&r die Richtigkeit dieser Datirungen mass
ich hier freilich bei Seite lassen; anch in dieser Beziehung wird
Zingerle das letzte Wort zu sprechen haben. Ich hebe nur ein Gedicht,
das Hussitengedicht Nr. 27 (jetzt bei Zingerle a. a. 0. 8. 678 gedruckt)
hervor, weil hier meine Datimng von den früheren gar zu weit ab-
weicht. Weber (Oswald v. Wolkenstein u, Friedrich m. d. leeren
Tasche 8.367) räth auf 1419: aber das ist jedenfalls zu irflh: in die-
sem Jahre hat die Behauptung 'das vederspil hat ser verzagt* durch-
aus noch keinen Sinn, die Hussitenfurcht beginnt vielmehr erst im
Jahre 1420. Ganz verkehrt ist die Erklärung Schratts (Gedichte
Oswalds V. Wolkenstein 1886. Auswahl, neuhochdeutsch, S. 207): da
Strophe 5 Huss den Rath gebe, seinen ^vorlauff" d. i. Wykliffe zu ver-
lassen, so müsse das Gedicht vor der Verbrennung Hussens entstanden
sein. *Hus8' steht hier natürlich für Hussiten, sonst hat das ganze
Gedicht gar keinen Sinn; Schratt hätte übrigens auch nicht aus Webers
Text das verderbte *vorlauff* übernehmen sollen, das Zingerle längst in
Wjkliffe verbessert hat. Das Gedicht kann nur in die Jahre 1420^
1431 gehören, und wenn wir uns für 1427 entscheiden, so sprechen
dafür zwei gewichtige Umstände. 1427 hatte Oswald besondere Ver-
anlassung, gegen die Hussiten einen poetischen Aufruf zu erlassen,
denn in diesem Jahre gelobte er selbst, einen Zug gegen die Böhmen
zu unternehmen (vgl. Weber, Gedichte Oswalds v. Wolkenstein S. 15).
Ferner aber spricht Oswald in der letzten Strophe von mancherlei
Zeichen des göttlichen Zornes, darunter auch von einer Krankheit
4nfluess\ die in Frankreich und andern Ländern viele Opfer fordere.
Grade im Jahre 1427 aber wüthete — nach Hecker, Die grossen Volks-
krankheiten des Mittelalters (Berlin 1865) 8. 241 f. — eine solche
Krankheit, die Hecker als eine Art 4nfluenza* bezeichnet.
Herrmann, Oswald von Wolkenstein. 607
eingetragenen, und es fragt sich nun, wie wir Nr. 104 datiren.
Es ist das schöne Gedicht 'von trauren möcht ich werden
taub', das den Wiedereintritt der furchtbaren Winterkälte
und des Dichters Einsamkeit auf Hauenstein beklagt. Um
den Anfang welchen Winters kann es sich handeln? Der
Streit mit dem Bischof von Brixen, der den Dichter ver-
hinderte, sich ins Thal hinunterzuwagen, brach Ende Octo-
ber 1429 aus (vgl. Sinnacher, Beyträge z. Geschichte d.
bischöfl, Kirche Sähen und Brixen 6,111. 113); der Winter
1429/30 kann nicht mehr in Betracht kommen, da Bischof
Ulrich bis in den Februar hinein ängstlich in Innsbruck
sich einschloss und jedenfalls damals kein Gegner war, um
dessentwillen Oswald das Etschthal nicht betreten hätte.
1430 war dieser in Ungarn (Weber, Gedichte Oswalds
V. Wolkenstein S. 13), 1431 in Italien. Es bleibt also nur
unser Jahr 1432, und für dieses spricht auch noch ein
anderer Umstand. Oswald hebt in dem in Rede stehenden
Gedicht den harten Frost des damaligen Winters hervor,
^kelt, reif vnd grossen snee', und berichtet, dass er beson-
ders seiner Familie wegen zu Hause sich aufhalte:
dorumb das ich bedenken muess,
wie ich sie müg beschütten,
das in die wolf verzucken nicht
das brötlin vnd den win.
Damit vergleiche man, was Bischof Ulrich von Brixen,
Oswalds Feind, in seiner Lebensbeschreibung für das Jahr
1432 berichtet (deutsche Übersetzung, mitgetheilt bei Sin-
nacher a. a. 0. S. 1 34) : 'Der Winter dieses Jahres war
sehr heftig, und eine so eindringende Kälte, dass unzähl-
bare Menschen erfroren und die Wölfe sehr viele Leute
aufgefressen haben'. Wenn Oswald endlich hervorhebt,
dass er 'von ebner wis dick hausen muess auf hohem borg',
so ist diese Gegeneinandersetzung 1432 besonders verständ-
lich, wo dem Dichter gewiss die weite lombardische Ebene
vorschwebte, auf der er im vergangenen Jahre den Winter
zugebracht hatte.
Es scheint danach also, dass Nr. 104 das erste Gedicht
aus der 'dreizehnjährigen Einsamkeit' ist und die erste
Nachtragsnummer bildet; endgültigen Bescheid wird vielleicht
40*
608 Werner, Abraham a Sta. Clara.
Zingerle aus der Beschaifenheifc der HandBchrift geben
können.
Berlin. Max Herrmann.
Abraham a Sta. Clara als Eanzelredner.
Im Jahre 1729 schrieb D. Fassmann auf Befehl Frie-
drich Wilhelms I. von Preussen eine Spottschrift auf Gund-
ling (vgl. Heyse Nr. 1776. Menzel 2, 474); sie führt folgen-
den Titel:
Der Gelehrte Narr, Oder Gantz nalürliche Abbildung Solcher
Gelehrten, Die da vermeynen alle Gelehrsamkeit und Wissenschaflflen
verschlucket zu haben , auch ' in dem Wahn stehen , dass ihres
gleichen nicht auf Erden zu finden, wannenhero sie alle andere
Menschen gegen sich verachten, einen unerträglichen Stoltz und
Hochmuth von sich spuren lassen; in der That aber doch selber
so, wie sie in ihrer Haut stecken Ignoranten, Pedanten, ja Erlz-
Fantasten und tumme Gympel sind, die von der wahren Gelehr-
samkeit, womit die Weisheit verknöpffet seyn muss, weit entfernet.
Nebst einer lustigen DEDICATION und sonderbaren Vorrede.
Dergleichen verkehrten Gelehrten zur guten Lehre, und verhofTenl-
lieh daraus fliessenden Besserung; andern aber, so sich denen
Studiis widmen, und noch AnßLnger sind, zur getreuen War-
nung, auch sonst jederman zum Vergnügen geschrieben. — Ge-
druckt zu FBEYBURG Anno 1729. auf dess Autoris eigene
Kosten.
Der Quartband umfasst 19 Bll. und 222 Seiten; das
von mir benutzte Exemplar befindet sich in der Bibliothek
Sr. Exe. des H. Feldmarschallieutenants Albin Beichsfrei-
herrn von TeuiFenbach zu Tiefenbach und Maassweg in
Salzburg.
Die Dedication des Werkes ist an 'Peter Baron von
Squentz' gerichtet; in der Vorrede wird der unlängst ver-
storbene Thomasius (f 1728) aufs nachdrücklichste gelobt,
weil er gegen jegliche Pedanterie zu Felde gezogen sei
und die deutsche Sprache für die Gelehrsamkeit gewonnen
habe. Thomasius erscheint dem Autor als das Ideal dea
Gelehrten und zwar wegen seiner freien Forschung^ die
sich nicht vor Autoritäten beugt; durch eine Stelle aus
Werner, Abraham a Sta. Clara. 609
einer Trauerrede und aus Thomasius' kleinen deutschen
Schriften (Nr. 7 S. 366) sucht der Verfasser zu erweisen,
dass Thomasius ^der Freyheit-liebende' gewesen.
S. 7 ff. steht ein Gedicht in parodistischem Sinn über
das Magisterwerden. S. 15 wird ^ein altes Teutsches Sprüch-
wort' citirt: *Wann man unter die Hunde wirfft, welchen
man trifft der schreyet\ Die erste Abhandlung bringt meist
Anekdoten über falsche Gelehrte; die zweite ist eine Über-
arbeitung von Trajanus Bocalinus ^Relationes aus dem Par-
nasso'; die dritte wendet sich den römisch-katholischen
Landen zu; die nächste betrachtet den Einfluss von Natu-
rell und Erziehung auf die Gelehrsamkeit, die fünfte schliess-
lich gibt einige Beispiele solcher gelehrter Narren, welche
man nennen dürfe, da sie alle todt seien und während ihres
Lebens selbst keine Schonung für andere gehabt hätten.
Fassmann führt in der dritten Abhandlung einige Pro-
ben von römisch-katholischer Eanzelberedsamkeit an, er
hebt übrigens die Schwächen der protestantischen Pastoren
geradeso hervor. S. 154 ff. erzählt er, indem er die Gitate
fett abdrucken lässt:
Als ich mich Anno 1711. das erstemal zu Wien befände,
gienge ich, nebst verschiedenen andern Lutheranern , des Sonn-
tags fleissig, den ordinairen Prediger in dem Francisscaner-Gloster,
welches nicht ferne vom Johannis - Gässgen , bey einem kleinem
Platz gelegen I zu hören, weil wir gemeiniglich so viel zu Ohren
fasseten, dass wir hernach die gantze Woche durch darüber
lachen kunten. Einstmals stellete er die Eitelkeit der Welt vor,
und sagte Katterl! (Catharina) Was macht der Kayser? Eitelkeit,
Eitelkeit, Vanitas Vanitas Vanitatum Vanitas, alles ist in der Welt
eitel, eitel, eitel; wobey er gantz entsetzlich mit denen Händen
auf die Cantzel schlug. Dergleichen Fragen thate er auch von
andern Potentaten, und beantwortete sie auf eben diese Weise.
Ein andermal träte er auf die Cantzel und verglieche die
Welt einem [155] Meer, auf welchem ein jedweder nach etwas
fischete; die wenigsten aber etwas fingen. Unter andern muste
Simsen, der bey denen Österreichern und andern mehr Sam-
son genannt wird, weydlich herhalten, und er redete von ihm
also:
Es folgt S. 155—158 dieser Theil der Predigt, ihr fehlt
aber der Humor und die Komik Abrahams, wenn sie sich
auch in entschiedener Nachahmung seiner Art bewegt. Dann
föhrt Fassmann fort:
610 Werner» Abraham a Sta. Clara.
Dem berübmlen Mönch des Barfüsser- Augustiner -Ordens,
Pat. Abraham von St. Clara, wäre vielleicht nach einiger Meynung
ebenfalls ein Platz allhier in dem Gelehrten Narren anzuweisen,
zumalen er, in Wien selber, nur insgemein der Pater Fabel-
Hanns genannt worden. Allein ich vor meine Person bekenne^),
dass obgleich seine Predigten und Schrillten, fast durch die Banck,
mit lächerlichen Expressionen und lustigen Histörgen angefüUet;
ich meines Orts dennoch allenthalben eine herrliche Moral daraus
hervorleuchten sehe. Mehr zur Lust, als den Pater Abraham von
St. Clara zu blamiren will ich indessen einige Dinge kürtzlich er-
zehlen, wie sie in seinen Predigten und Schrifflen eingeflossen
sind.
Einstmals sagte er, unter andern, in einer Predigt: Weiberl!
Encks (euch) recommandire ich einen Fisch zum Exempel und
zur Richtschnur eures Lebens. Denn ein Fisch spricht nie ein
Wörtlein. Fasset ihn an beym Kopff, oder beym SchweifF, thut
mit demselben was ihr wollet, und schlachtet ihn, er wird nit
schreyen. Also sollt auch ihr gegen eure Männer seyn, geduldig
wie ein Fisch, wenn gleich die Männer bissweilen wunderlich
sind. Wollet ihr aber ja etwas machen, so recommandire ich
euch wieder einen Fisch zum Beyspiel, und zwar jenen, aus des-
sen Maul Silber hervor kommen. Als nemlich unser Heyland
einstmals in Judea herum wandelte, so schnautzten ihn die Römi-
schen Mauthner halter sehr hart an, und sprachen: Wie hälts?
den gebührenden Zoll -Groschen her. Da wandte sich der HErr
zu Petro und sprach: Mein Peter! Die Mauthner seynd schlimme
Leute mit denen man sich nichts zu schafTen machen muss.
Mein, gehe geschwind hin an das Meer. Da wirst du einen Fisch
sehen, den fange, mache ihm das Maul [159] auf, und nimm
einen silbernen Groschen heraus, welcher darinnen liegt. Solchen
silbernen Groschen bringe her, und bezahle damit den Mauth
vor mich und vor dich; welches alles so geschehen und erfolget
ist. Wann ihr demnach lieben Weiberl! ja etwas reden wollet,
so müsset ihr, eben wie dieser Fisch einen silbernen Groschen,
lauter güldene und silberne Worte aus eurem Munde gehen lassen,
und zu euren Männern sprechen: Mein guldener Hanns -Michel!
Mein silberner Stoffel! Mein güldenes Närrl! Wie bist dann heut
so wunderlich. Ey mein! Sey doch gscheut! Ich will ja alles
gerne thun, was du nur von mir verlangest. Ich wette, Weiberl!
mit encks, dass wann eine jedwede meiner Lehre folgte, sie manche
Maultaschen, und manche Fauntzens auf die Goschen nit bekom-
men würde.
Ein andermahl ist der Pater Abraham von St. Clara auf die
*) Wie Fassmann über Abraham dachte, das erfahren wir aus
seinen berühmten 'Gesprächen im Reiche der Todten'. Vgl. Kartyao,
Abraham a Sancta Clara, Wien 1867 S. 233 ff. u. ö.
Suphan, Aus Carl Augusts Frühzeit. 611
Cantzel getreten, und hat, bald im Anfang seiner Predigt, sich
also heraus gelassen: Heute niuss ich euch, meine lieben Zuhörer !
ein Rätzel aufzurathen geben, darum mercket alle wohl drauf.
Das Rätzel ist: Wer den Teuffei lieb hat! der kommet
nit zum Teuffei. Wer ihn aber nit lieb hat, der kommt
zum Teuf fei. Nun ratbe wer da rathen kan. Allein ich sehe
schon, dass es Niemand erraüien wird, sondern ich muss euch
selber den Schlüssel darzu geben. Höret zu! wann man einen
armen Mann siebet, welcher hungerig und durstig ist, auch zer-
lumpt, ja wohl gar nackend und bloss herum gehet, so pfleget
man gemeiniglich zu sagen : 0 der arme Teufiel ! Wer nun einen
solchen armen Teuffel lieb bat, ihn speiset, tränket und kleidet
der kommt nit zum Teufifel. Wer ihn aber nit lieb hat, und nit
barmhertzig gegen ihn ist, der kommt zum Teuffel, und fahret
zu ihm in die Hölle.
Ingleichen hat man den Pater Abraham von St. Clara einsl-
mahls auf der Cantzel sagen hören: Wer nit will in den
Himmel, den holt der Teuf- [160] fei auf seinem
Schimmel. Item: Mancher denckt, wann er nur ein Weib an
dem Halse hat, so wäre schon alles gut und er seye bereits in
dem Himmel. Ja, im Himmel, du Limmell Du bist noch weit
entfernt davon, und hast die Hölle bey lebendigem Leibe auf dem
Hals.
Von einer ledigen Weibs -Person, welche, ihrer Mutter un-
wissend, ein unkeusches Leben gefähret, und schwanger worden
war, spricht er an einem gewissen Ort in seinen SchrifVten: Das
Mütter! meynte, das Töchterl wäre noch eine Jungferl ; allein das
Töchterl hatte bereits gemutterlt.
Im übrigen führen fast alle seine Schrifften einen lächerlichen
Titel, als z. E. Judas der Ertz- Schelm; Vogel friss oder stirb;
und dann: Gick, gack, gack ein A. Welchen Titel er einem
Buch gegeben, indem er ein in Bayern gelegenes Closter beschrie-
ben, welches an einem Ort erbauet worden, woselbst eine Henne
ein Ey geleget, auf dem sich das Bildniss der Heil. Jungfrau
Maria dermassen natürlich präsentiret haben solle, dass man es
auch mit Menschen -Händen nicht schöner hätte mahlen können.
Lemberg. Richard Maria Werner.
Aus Carl Augusts Frühzeit
Zwei Briefe an Wieland.
1.
Sehr werthgeschätzler Herr Regierungs-Rath,
Es erfreuet mich sehr wenn der Antrag meiner Frau Mutter
bey uns als Philosoph und leib Canischmende zu kommen.
612 Suphan, Ans Carl Augusts Frühzeit.
Ihnen ^) gefällig gewesen ist. (Diese letztere Stelle wünschte ich ganz
besonders dass Sie diese bey mir in eterna tempora bekleiden
möchten) Mein Eifrigtes^) Verlangen ist, Ihnen die Last unserer
Instruction so viel als nur möglich zu erleichteren. Ich will mich
bestreben mit Hülfe meines guten, und hieben Mentors alle die
guten Hoffnungen welche Sie von') mir haben in das Werck zu
richten; Nemlich meine Lande und Leute glücklich zu machen,
wie es von einen Rechtschaffenen Herren verlangt werden kan.
Ich hoffe dass Sie sich den Bösen Gedanken, vieleicht gar, ohn-
geachtet unseres bestrebens, einen Pfuitiggan^) zu machen, auss
den Sinne geschlagen haben. Sie kennen mich zu gut lieber
Herr Regierungs Rath, als dass Sie sollten die mindeste Niedriege,
und unedle Handlung von mir glauben, oder nur vermuthen
können. Dieses ist die Antwort welche ich Ihnen geben kan auf
die Frage: ob ich könte, (bey einem falle welcher mit Gottes
Hülfe nicht so bald geschehen soll,) undankbar seyn? ich für
meine Person kenne kein grösseres Laster als dieses. Beantworten
Sie sich diese Frage selbst. J'espere qu'en peu le*) conseiller de
la Regence de Mayence cessera. Leben Sie wohl, behalten Sie
mich lieb, und seyn Sie versichert dass Sie keinen treueren Freund
haben als Ihren Freund
Weimar d. SS*«»^ Jul. 1772. Carl August E. P. z. S. W. u. E.
2.
Carlsruh ce 29"»« Dec. 1774..
G^est un peu tard que je Vous r^ponds, eher ami, mais la
raison en est parce que je n^ai pas pu Vous ecrire plutot. Leute
wie wir, brauchen sich nicht gegen einander zu entschuldigen,
wir sind Freunde auf immer und ewig,
J'ai trouv^ ma Louise comme je Tavois pu d^sirer, eile n*est
pas belle, mais en Taimant, et en lui faisant sentir qu'on Tairae
eile est infiniment agr^able. Elle est d^une taüle mediocre, a
peu pres comme Mlle. de Stein. ^) Ses yeux sont grands, et a
fleurs de täte, pleins d'un caractere pensant. Le nez, la bouche,
sont petits, et ie tour du visage en tout, bien fait. Son coeur
est noble, franc et valereux, eile est tr^s simple, en lui parlant,
eile aime avec chaleur et v^rit^, la vertu est sa d^sse, eile loue
peu, mais ceux, qu^elle croit etre digne de son estime, peuvent
etre sur, qu^elle cherchera toutes les occasions pour aggrandir
') Die Anrede durchgehends erst klein geschrieben.
>) Erst: 'Eifrischtes'
') Qeändert in *zu\ dann wiederhergestellt
*) Pfuidichan DWB. 7, 1809 unter pfuien.
*) Über gestrichenem *de\ Es sollte erst *peu de temps le* lauten.
') Schwester des Oberstallmeisters, Hofdame der Herzogin Anna
Amalia.
Suphan, Aus Carl Aagasts Frühzeit. 6t 3
leur röputaiion. Elle est tr^s reconnoissante, son plus sensible
plaisir est, a faire du bien, et eile possede toute ces bonnes qua-
litös Sans la moindre ostantation. Sie besitz diejenige grosse
Eigenschaft, welche Lessing im Delheim so sehr veredelt, nehm-
lich, nie von einer tugend zureden die sie besitz, es sey
denn die höchste Not h: voila au court le caractere que j'ai
cru trouver dans la personne de M£ la P[rinces]se Louise, digne fille
de feu Caroline, de Darmstadt ; Vous Taimerez en la connoissant.
Je commence a connoitre Mgs. le Marg[rave]: Vous connoissez
son caractere, il a le doux plaisir d'etre ador^ de ses sujets. La
Margr[ave]: a beaucoup de connoissance, et peint admirablement
bien, le Pr[ince] hered: est honndte, je souhaite qu*il ressemble
un jour a son Pere, le Pr[ince] Fred[6ric] semble avoir de Tesprit,
le petit Pr[ince] Louis a de la vivacit^, et a ce qu'on dit un hon
caractere. Le Pr[ince] Guillaume, frere du Margr[ave] est d'un
caractere hon§te. Les Princes Christophe, Guillaume Eugene,
Charles, sont — — les Oncles du Margrave: Md: la Generale
de Pretlach Grandemaitresse de feu Dame Caroline, est une femme
de grand merite; Mr. le Baron d'Edelsheim, est un homme plein
d'esprit, et de connoissance, et d'un caractere bien respectable.
La Cour est mediocre. J'ai fait la connoissance de Goethe, qui
Vous eslime fort, et je connois Elopstock, qui me plait quelque
fois beaucoup; car, si j*ose le dire, il me semble qu*il sent un
peu trop quMl est Klopstock, et que ce sentiment a ^ras^ un
peu, la sensibilit^ de la grandeur des autres.
Voila les connoissances les plus interressantes que j'ai faites,
exept6 ceux de Mayence. Faites bien mes compl[iments] chez
Vous. Promettez moi, cherissime ami, qu'aucun long silence, et
qu'aucune chose ne trouble en aucune fa^on Votre amiti6 pour
moi, dont je me glorifie, en toute occasion: mais en echange, je
Vous promets, que rien au monde ne fera changer mes sentiments.
Les peu de moments que possede pour moi, je les remplis
a ecrire maintes, et maintes lettres ennuyantes, et interressantes,
et le peu de reste que ces lettres me laissent, je Temploi a lire
Tristram Schaüdy. On connoit peu ici la bonne literature All-
raande. Nous partirons la semaine qui vient pour Strasbourg, je
quite ma Louise veritablement avec grands regrets: aber wie alles
Ding unter dem Mond seine Zeit hat, so hat mein Aufenthalt,
und mein Brief die seinige; diese letze Wahrheit befiehlt mir zu
schliessen ; leben Sie wohl, und behalte Sie denjenigen im Freund-
schaftlichsten Angedencken, welcher mit Leib, und Seel gantz,
und gar. Der Ihrige ist.
Carl August. H. z. S. W.
Beide Briefe sind mit dem Nachlass von Carl Leonhard
Reinhold, Wielands Schwiegersohn, unlängst durch Schen-
kung in das Goethe- und Schiller- Archiv gelangt; ich ver-
614 Suphan, Aus Carl Augusts Frübzeit.
Öffentliche sie mit höchster Genehmigung. Mehr ist kaum
vonnöthen den Lesern der Yierteljahrschrift zu sagen : sie
werden den ersten in die von Seuffert veröffentlichten Acten
zur Qeschichte von Wielands Berufung (Yierteljahrschrift
1 , 388. 389) einordnen , und zum zweiten , auch ohne Citat
die Erklärung aus ^Dichtung und Wahrheit' nebst v. Loepers
Anmerkungen, oder aus Düntzers ^Goethe und Carl August"
entnehmen. Ich fuge somit nur ein paar Sätze, auf Be-
schreibung und Charakteristik abzweckend, hinzu.
Die Buchstaben des ersten sind noch schul- ja fast
kanzleigerecht hingemalt, im zweiten offenbart sich schon
der individuelle Charakter der Schrift. Aber der Schreiber
auch des ersten steckt nicht mehr in den Enabenschuhen.
Hat der ^Mentor\ Graf Görtz, etwa auf Haltung und Aus-
druck dieser ersten Ansprache des fürstlichen Schülers an
den ^Leib-Danischmende' (vgl. Seuffert a. a. O. 1 , 365) einen
Einfiuss geübt? Ich glaube es nicht. Die selbstbewusste
Sicherheit, die fürstliche Gabe, die Menschen zu nehmen,
wie sie genommen sein wollen, und die Geister zu unter-
scheiden, sie kündigt sich in Keim und Anbruch schon hier
an; merkbarer allerdings, und auf dem Grunde einer natür-
lichen Bonhommie im zweiten Schreiben, dem des glück-
lichen Verlobten. Da hören wir den Jüngling reden, der
eben erst auf Goethe den gewinnendsten Eindruck gemacht
hat. Wie er mit ein paar Zeilen den Dichter des Messias
charakterisirt, den Mann der Prätensionen, wie er diesem,
den ein starkes Gefühl für die eigene Grösse manchmal
unleidlich macht, Goethe gegenüberstellt, 'Goethe, qui vous
estimc fort' — es mag das mit oder ohne Berechnung so
hingeschrieben sein; im zweiten Falle wäre es erst recht
ein Beweis jener natürlichen Begabung. Den Yerfasser
von 'Götter, Helden und Wieland' hätte er zur Zeit gar
nicht vortheilhafter bei dem Freunde und weiland 'Leib-
Danischmende^'') einführen können.
^) Als solcher d. h. als Erzieher und Lehrer war Wieland abge-
dankt, Ende 1774. Vgl. Yierteljahrschrift 2, 582 Senfferts Nachtrag
zu der oben angeführten Abhandlung. Man darf yermnthen, dass Carl
August von Goethes Angriff auf Wieland etwas gewusst habe; bewei-
sen lässt es sich nicht.
Nachträge. 615
Carl August ist, mit einem (einem Goethischen) Worte
gesagt, ^eine Natur\ So gibt er sich schon in diesen
Jugendbriefen, den frühesten, die wir von ihm kennen.
Dies lässt sich mehr fühlen als darstellen. Ich merke nur
noch Eines an. Wieland gebraucht in seinen Yerhandlun-
gen mit Weimar vorzugsweise die Sprache der Höfe. Auch
Anna Amalia schreibt französisch an ihn.^) Der junge
Prinz schreibt deutsch, nur einen französischen Satz lässt
er im ersten Briefe mit unterlaufen. Wenn im zweiten das
Französische überwiegt, so darf man zunächst daran denken,
dass eben jetzt die Reise nach Frankreich ging. Unwill-
kürlich drängt sich doch auch hier die Muttersprache her-
vor, wo aufrichtige Freundschaft zum Worte kommt. Und
der Zögling Wielands leiht aus Lessings deutschestem Stücke
den Ausdruck, welcher die sittliche Grösse der Erkorenen
bezeichnen soll.
Weimar. Bernhard Suphan.
Nachträge.
Zu 3, 42flF. 'Die 27Spir.
Der in dieser Yierteljahrschrift 3, 43 f. mitgetheilte
Meistergesang, der in der Handschrift einfach 'Die 27 Spil'
überschrieben ist, trägt — worauf mich E. Goetze neuer-
dings freundlichst aufmerksam macht — im Zwickauer Ge-
neralregister die genauere Bezeichnung 'Die 27 spil des
Schmidlein'. Es sind also nicht die Rollen des Dichters,
die wir kennen lernen, sondern die eines andern. Für die-
sen war das Gedicht gemacht , er trug es auf der Sing-
schule vor. Dass dergleichen häufig vorkam, ist bekannt.
*) In ihrem ersten Brief an Wieland, den Seuffert mittheilt
(a. a. 0. 1, 375) ist gegen Ende zu lesen, wie Heinzel 2, 580 ver-
muthet hat: a gtre enjolivee par les graces. Nach cette hat sie
(am Zeilenende) ausgelassen science (die Philosophie) oder sie hat
schreiben wollen eile. Wenig Zeilen weiter lässt sie in dem Satze:
il depend a present de me faire tout a fait respirer nach a present am
Seitenschluss aus: de vous. Vgl. den Schluss ihres zweiten Briefs
S. 385: cela dependra de vous.
616 Nachträge.
Man vergleiche nur die (übrigens erstaunlich unzuverlässige)
Einleitung der Hans -Sachs- Ausgabe von B. Arnold S. XXI ff.,
Kollers Fastnachtspiele 3, 1271, den Meistergesang ^Dichter
und Singer' bei Goedcke, Dichtungen des H. Sachs i'^,
24 ff.; die Belege Hessen sich vermehren. — Das Gedicht
behält seinen Werth, sofern es uns von den in Nürnberg
1534 — 1551 aufgeführten Stücken des Hans Sachs Kunde
gibt.
Meine frühere Deutung des Schlusses zerfällt in sich.
Dagegen erblicke ich im Schlussvers jetzt eine Andeutung
über die Persönlichkeit des schauspielerisch so thätigen
^Schmidlcin'. Ein näheres Eingehn darauf würde Ausfüh-
rungen über die Familie des Dichters erfordern, die ich
auf eine andre Gelegenheit verschieben muss.
Berlin. Yictor Michels.
Zu 3, 187 — 189. E. Goetze -Dresden ersucht zu er-
innern, dass das ^fehlt bei Goedeke' auf diesen Seiten sich
auf die I . Auflage des Grundrisses bezieht ; die 2. bringt
sämmtliche Daten über Rost und Kretschmann.
Berichtigungen.
S. 527 Z. 7 aai Schlüsse des 2. Verses lies: Lüfte statt Dafte. —
S. 528 Z. 3 y. u.: weich statt reich.
REGISTER
BEARBEITET VON JÜSTÜS LÜNZER.
f
Abbt Th. 403.
Abrabam a Sta. Clara 608-611.
Adam H. 36.
Adami J. S. 365—367.
Addison 51. 56.
Adelung J.'Ch. 555.
Adler 509.
v.Affry L. 209.
Alamanni L. 531.
d^Aliayrac 478.
Anakreon 292.
Anakreontik 510-512. 517. 525—
527. 529. 530.
Aeneas Sylvias 6. 13. 14. 17.
Anfossi P. 479.
Appius Claudius 315.
Aretinus L. 13. 17.
Aristopbanes 302.
Aristoteles 203. 309. 311.
V. Arnheim 259.
V. Arnim 269.
y. Arnim 369.
y. Arnim L. A. 192. 574. 582.
B. Arnold 616.
Arnold G. 400. 404. 407.
Asdorf 369.
Austrianus A. s. Österreicher A.
F. Baader 30.
y. Babo F. M. 478.
Bach K. Ph. E. 269.
J. Baecbtold 16. 201—235. 291. 292.
Baden-Dnrlach 613.
August Wilhelm Georg 1 14.
Baiem. Wilhelm 603.
B&mler 19.
Barth D. 98.
Bartholin Th. 579.
Batteux 273.
Baumann Ch. 395.
Bebel H. 201. 202.
Beck H. 571.
Becker 364.
Becker Sophie 457.
0. Behaghel 186-191.
Behm 418—420.
Behrens 130. 131. 153. 154.
Behrisch E. W. 184.
Beil J. D. 477. 481. 570. 571.
L. Bellermann 556.
Bellfort 8. V. Stamford H. W.
Bellomo 476.
y. Bentink, Gräfin 369.
Benzler J. L. 65. 77. 459. 461. 465
—467.
Bergius 267.
Beivius 506.
Berliner Abendblätter 191—195.
Berliner Monatsschrift 451.
M. Bernajs 290. 508.
y. Bemstorif Charitas Emilie 457.
y. Beulwitz F. W. L. 121.
Beytr&ge in das Archiv des deut-
schen Parnasses 91. 94.
Bidermann N. 209.
Bion 274.
Birck S. 34.
Bimstiel F. W. 269.
L. Bob^ 295—297.
Bocalinus T. 609.
Boccaccio 13. 14. 17. 23. 24. 317.
Bock J. Ch. 479.
y. Bodensteyn A. 229.
Bodmer J. J. 122. 263. 283. 284.
291.
F. M. Böhme 395.
Bohn 111.
Boie H. Ch. 67. 71. 76. 77. 80. 81.
89. 91. 92. 94. 96—99. 102.
106—113. 429. 542. 543.
BoUmann J. F. 455.
Bolzius 370. 371.
y. Bondeli Julie 115.
Bonnet Ch. 317.
Börne L. 315.
Böttiger K. A. 377.
Boucher 514.
R. Boxberger 172.
Boysen F. E. 511.
0. Brahm 483. 484.
620
Register.
A. Brandl 47—62.
V. Brandt 276.
Breitinger J. J. 283.
Breitkopf J. G. J. 73. 269. 281.
Brentano C. 192. 574. 584.
Bretzner Ch. F. 479.
Brüggler S. 229.
Bnins, Frau 461. 462.
Brutus 314.
Der Buchdrucker (Hamburgische
Wochenschrift) 76.
E. V. Bülow 486. 487.
Bunyan J. 169.
K. Burdach 199. 200. 289.
Bürger G. A. 62—113. 169. 290.
416-476.
Familie 63. 66. 69. 71. 72. 77—
81. 83-86. 89-92. 94. 97. 99.
103. 107. 110. 112. 417. 418.
420. 421. 423—431. 433-438.
445. 449—452. 465. 466. 468.
545. 546.
C. A. H. Burkhardt 476-483.
Byron 56.
Calderon 306.
Campe J. H. 464.
Cardanus H. 500.
Caro 305.
Carpzow S. B. 395.
Cato 228. 249. 250. 314.
Catull 236. 249.
Caylus 414.
Cervantes 385. 487.
y. Chamisso A. 564.
Chartres, Heraog 126.
Chateaubrun 310.
de Chaulieu G. A. 179.
Chevilly 58.
Chirander 236.
Chodowiecky D. N. 424.
Ohrist J. F. 301.
Cibber C. 48. 51.
Cibber d. j. 53.
Cicero 142. 288.
Cimarosa J). 478. 479.
Claudius M. 65. 107.
Clodius 285.
Clodius Ch. A. 284-289.
ColUer J. 51.
Conrad K. L. 415.
Corneille 311.
V. Cotta J. F. 506-508.
Cowmeadow 479.
Coypel 514.
Cramer 436.
Cramer J. A. 182.
V. Cronegk J. F. 317.
Crusius S. L. 129—132. 161—163.
Cuno 369. 371.
Curius 250.
V. Dalberg H. 143. 570. 571.
Dänemark. Charlotte Amalia 395.
Christian V. 395—398.
Christian VI. 295 -297.
Friedrich III. 397.
Sophie Amalie 397.
Daniel 410.
Th. W. Danzel 301. 304. 305.
Davies 47. 48. 53. 57. 59.
de la Motte 479.
Denis J. M. C. 422.
Denso 369. 371.
y. Derschau 429.
Dessoir L. 569.
Deutschland. Kari V. 365. 367.
Maximilian 1. 41.367.
Sigismund 602—604.
y. Diessbach - y. Tayel , Frau 122.
Dieterich J. C. 67. 90. 92-95. 103
-108. 110. 416. 419. 423—425.
432. 448.
Th. Distel 394-898.
Ditters yon Dittersdorf K. 478.
Dohm Ch. K. W. 85—87. 108.
Döring Th. 569.
Drama
Alexiusdramen 299.
Arden of Feyersham 55.
Fastnachtspiel 28—46. 175. 207
— 227. 615. 616.
Josephsdramen 34.
Schem bartspiel 28.
Virginia 311.
Vom klugen Knecht 208.
Von Astrologie und Wahrsagen
207-227.
Weihnachtsdrama 29.
Dumouriez 471.
Dumpf J. W. 398.
Dunkel 477.
Dunker B. A. 122.
H. Düntzer 1. 22—26. 114. 117.
118. 525. 526. 529. 556.
yan Dyck 514.
Dyk J. G. 524.
Ebert A. 401. 408.
Ebert J. A. 311.
Edda 503—505. 578—580.
y. Edelsheim G. L. 613.
F. Eichler 199.
Eichstädt H. K.A. 379. 550. 551.
y. Einsiedel F. H. 477. 481. 483.
.T. Elias 506-508.
Register.
621
G. Ellinger 177. 178.
E. Elster 590. 5%. 597. 599-601.
Engel K. Ch. 479.
England. Anna 51.
Carolina 49.
Charlotte Sophie 51.
Georg III. 50. 51.
James II. 51.
Mary 51.
Wilhelm 50. 51.
Erfurter gelehrte Zeitung 509. 519.
525.
V. Erlach A. F. d. ä. 118. 120. 125
—127.
V. Erlach A. F. d. j. 116-118. 120.
123 127.
V. Ellach H. L. 116-118. 120.
V. Emest 452.
V. Escher 282. 284.
Euler L. 371. 372.
Euripides 151. 161. 551.
Ewald J. J. 282. 290. 292. 295.
v.Eyb A. 1. 2. 13. 15. 16. 19-21.
Fabricius 2.50. 314.
Farquhar G. 54.
Fassmann D. 608. 611.
Faust 199. 200. 365-367. 385.
Faust J. 177. 178.
Fesselmann V. 30—32. 39—41.
W.Fielitz 114. 118. 505. 506.
Fischart 201—235. 381—394.
F. V. Fischer 115.
Fliess 542. 543.
Fogel M. 40.
V. Pölckersam F. W. 295—297.
Folz H. 32.
Formey .1. H. S. 415.
Förster 583.
Forster G. 506.
Forster J. R. 506.
Frankfurter gelehrte Anzeigen 199.
Frankreich. Ludwig XIII. 120.
Ludwig XIV. 120. 398.
Freidank 360. 587.
Der Freimüthige 154. 170.
Fries 552.
Fritsch 552.
Frölich J. 30. 32. 36—42.
Funk 452.
FüssU H. 510.
Galland 435.
Garrick D. 54.
Garth 291.
Garve Ch. 573.
Gasterits M. 395.
Gause 267.
Vimrteljahraohrift für litteratoigeschichto
Gay J. 52. 53. 55.
L. Geiger 184. 367-^373. 502. 503.
Geliert C. F. 159. 187. 274. 275.
284. 304. 309. 317.
Geneste 48. 50. 52—54. 56.
Germershausen 292.
V. Gerstenberg 182.
V. Gerstenberg H. W. 76. 178-183.
187. 399. 423. 575.
Gessner S. 51. 274. 282-284. 515.
524.
Girtanner Ch. 469.
Gleim J. W. L. 77. 93. 96. 178-181.
183. 187. 200. 254—260. 262
—272. 274. 276. 278—281. 284.
291—295. 423. 446. 468. 509—
520. 522—525. 553.
V. Goeckingk 62.
V. Goeckingk G. 62-113. 416—476.
545.
Familie 68-71. 74. 78. 79. 82-
85. 90-95. 97. 98. 105. 106.
109. 110. 416—418. 424-427.
429. 432. 435—438. 440. 451.
453—456. 458-460. 462-467.
K. Goedeke 21. 22. 129. 131-133.
144. 148. 154. 164. 173. 187—189.
201. 227. 616.
Goldsmith 0. 61.
Goldoni C. 478.
de Gomez, Mde. 486-496. 499.
Gonzales M. (Pseudon.) 48. 49.
V. Gonzenbach A. 118.
V. Görtz E. 612. 614.
Goethe 76. 78. 113. 116—123. 129—
132. 146. 163. 166. 169. 251.
311. 322. 373-380. 473. 475.
476-483. 505. 509—530. 544.
545. 554. 555. 573. 574. 613—
615.
Briefe an H. Meyer 374. 375.
K.F.v.Sinnerll7.121.
von Rückert 378.
Dramen.
Amine 184—186.
Die Aufgeregten 303.
Claudine von Villabella 478.
Clavigo 305.
Egmont 119.
Farcen 545.
Faust 299. 318. 322— a59.
Götter, Helden und Wieland
341. 614.
Götz von Berlichingen 119. 305.
481. 483. 570.
Jahrmarktsfest von Plunders-
weilem 82.
m
41
622
Eegisier.
Goethe
Iphigenie 299.
Laune des Verliebten 124—126.
Mahomet 146.
Natürliche Tochter 507.
Romeo und Julia 481. 483.
Schäferspiel 185. 186.
Stella 305.
Torquato Tasso 322.
Vorspiel för Halle 481. 483.
Epen und Lyrik.
Alexis und Dora 135.
Der Besuch 251.
Gedichte 131—133. 167. 184.
Hermann und Dorothea 552.
Höllenfahrt 184.
Idylle ia5-157.
König in Thule 337. 338. 350. 353.
So ist der Held, der mir gefällt
509—530.
Venetianische Epigramme 151.
Xenien 180. 146. 150. 173.
Prosa.
Abendmahl yon Leonardo da
Vinci 375.
Kunst 373—377.
Unterhaltungen deutscher Aus-
gewanderter 1. 13. 16. 21—27.
Werthers Leiden 122. 336. 337.
y. Goethe A. 482.
Goethe Gomelie 184. 185.
Gotter 505.
Gottsched J. Ch. 114. 290. 302.
Götz J. N. 200. 509.
E. Goetze 33. 36. 284. 615. 616.
Goeze J. A. E. 462.
Goeze J. M. 303. 317. 318. 321.
415. 462.
Graff A. 130. 131.
Gräter F. D. 575.
Gran H. 21.
Graun K. H. 269. 294.
de Gresset J. B. L. 178.
Grimm J. 394. 573—575. 578-580.
582—584. 587.
Grimm W. 573—589.
E. Grisebach 191.
Gniner J. R. 115. 116.
Gryphius A. 322.
G. E. Guhrauer 1. 22.
Guicdardini F. 408.
Guichard 295.
Gülcher Th. 545.
Galing 413.
V. Gundling J. P. 608.
Gurlitt J. G. 458.
Häfeli J. K. 4.59.
V. Hagedorn F. 187. 269. 286. 289.
Hagemann G. 479.
Hagemeister J. F. 478. 479.
Hager G. 32.
Hahn Elise 464. 465.
Hain, Göttinger 198.
V. Halem G. A. 290. 447. 448. 451.
y. Haller A. 115. 122. 302. 319.
367-373.
Hallische gelehrte Zeitung 180.
K. Halm 547—549.
Hamburger neue Zeitung 179. 181.
398—412.
R. Hamel 291.
y. Hardenberg 368.
y. Hardenberg K. A. 473.
0. Harnack 373—377.
y. Harold E. 422.
Hartmann J. s. y. Schmidt J.
Harward 57.
Haselmann, Heselmann V. s. Fessel-
mann V.
Hätzlerin Clara 359.
Hang J. Ch. F. 575.
A. Hauffen 381—394.
Hausen C. R. 401—415.
Hebel J. P. 575.
Hecker 606.
Heidelbergische .Jahrbücher 574.
575.
Heine 589—601.
Heine Amalia 596—601.
Heine Therese 598—601.
Heinse W. 186—191. 525.
R. Heinzel 615.
Hellwag 542. 549. 550.
Hempel 263.
Hennchman J. 201. 202.
W. Herbst 542.
Herder 573-589.
Epos und Lyrik.
Cid 584-587.
Volkslieder 574—579.
Prosa.
Adrastea 582.
Aurora 582.
Auszug aus einem Briefwechsel
Über Ossian und die Lieder
alter Völker 503—505. 579.
Fragmente 413.
Ideen zur Philosophie der
Geschichte der Menschheit
578.
Iduna oder der Apfel der Ver-
jüngung 578. 587.
Register.
623
Herder
Über Märchen und Romane
582.
Von Ähnlichkeit der mittlem
englischen u. deutschen Dicht-
kunst 580—582.
Von deutscher Art nnd Kunst
578. 581.
Herder Karoline 582.
Hering L. 177.
M. Herrmann 1—27. 602—608.
Hess F. 510.
Hessen-Darmstadt. Karoline 613.
V. Hetsch P. F. 508.
Heufeld 502. 503.
M. Heydrich 497.
Heydt P. 208.
Heyne 101.
Hickes G. 579.
Hieronymus (von Venedig) 29.
Himburg C. F. 131. 423.
Hindenburg C. F. 89.
Hirzel J. K. 282. 291.
L. Hirzel 113—128. 367. 368. 528.
V. Hoffmann 455. 458. 459. 462.
L. Hoffmann 47. 48. 56. 59.
0. Hoffmann 199.
J. Hoffory 580.
Hofmeister F. A. 479.
Holberg L. 302.
Hölty 1. H. Ch. 68. 69. 76. 94.
546-549.
Homer 77. 79. 80. 85. 91. 92. 94.
96. 111. 149. 388. 441. 442.
444-447. 545. 546.
Horaz 200. 236. 250. 265. 271. 289.
292. 400.
F. Hom 584. 588.
Hübner M. G. 395.
Hughes 59. 60.
Hugo V. 313.
y. Humboldt Karoline 375.
V. Humboldt W. 133. 373. 375.
Hümer 114.
Jacobi F. H. 183.
Jacobi J. G. 96. 178—183. 187. 513.
514. 517-521. 523.
D. Jacoby 290.
Jean Paul 553. 555.
Iffland A.W. 477—479. 481. 483.
570-572.
Immermann K. 306.
P. Joachimsohn 603.
Johnsohn S. 51.
K. H. Jördens 367.
Iselin J. 282. 403.
Jünger J. F. 478. 481.
V. Kalb Charlotte 147.
Kant 183.
Karsch Anna Luise 179. 187.
Kästner A. G. 107. 187. 302.
G. Kettner 128—173. 556-573.
Khune J. H. 395.
Kies 369.
V. Klein A. 480.
V. Kleist 276.
V. Kleist E. 251 --297. 306. 310.
314. 321. 509.
V. Kleist F. C. 289.
V.Kleist H. 191 — 195. 312-314.
320. 483—500. 556.
Klinger 508.
Klopsteck 76. 91. 93. 108. 112. 181.
182. 267. 432. 511. 527. 555.
588. 613. 614.
Auf meine Freunde 200.
Gelehrtenrepublik 72. 74. 76. 108.
Klotz Ch. A. 180. 183. 316. 403.
412-415. 517. 518.
V. Knebel K. L. 588.
Knowles R. 58.
Kobell F. 117.
Kobeixer 13.
A. Koberstein 186. 187.
M. Koch 180.
R. Kögel 337.
R. Köhler 130. 131.
V. König J. ü. 200.
König S. 371. 372.
£. Köpke 191. 192.
Körner Ch. G. 128. 129. 152. 172.
V. Kotzebue A. 477. 479—482. 553.
554.
Kramer 465.
Kratter F. 477. 478. 481. 483.
Kraus G. M. 508.
Krause Ch. G. 264. 267. 269. 292.
Kretschmann K. F. 189. 190.
Krummenstoll W. 209.
Krünitz J. G. 289.
Kudrun 311.
H. Kurz 504.
G. Kutschera v. Aichbergen 196. 198.
L. J. C. J. 89.
K. Lachmann 585. 586.
Lafontaine 187.
Lafontaine A. 463.
M. Landau 24.
Lange S. G. 199. 200, 251—254.
289
Langemack 258. 266. 267.
V. La Roche G. M. F. 515.
Lassenius J. 394—398.
H. Laube 186-188. 190. 191,
624
Register.
Lavadin 58.
Lavater J. K. 317. 318. 416. 510.
549. 550.
Le Blanc 257.
Leibniz 319. 372.
Leisching P. A. 398.
Leisewitz J. A. 195—199. 479. 505.
A. Leitzmann 195—199. 336. 337.
505. 506.
Lemnius S. 400. 408. 413.
T. Lengefeld Charlotte 506.
V. Lengefeld, Frau u. Töchter 121.
Lenz J.M.R. 422.
Less G. 303.
Lessing 180. 187. 199. 254. 269.
273. 275. 276. 278—280. 284.
294. 298—323. 398-415. 542—
587.
Drama.
Dämon 303.
EmiHa Galotti 300. 302. 304.
310-318. 321. 567. 568.
Fatime 315.
Der Freigeist 301.
Giangir 302.
Der junge Gelehrte 301. 302. 321.
Henzi 304.
Die Juden 303. 316. 318. 321.
Die alte Jungfer 303. 308. 321.
Matrone von Ephesus 315.
Minna von Bamhelm 300. 306 —
312. 314. 316. 318. 321. 323.
472. 570. 613. 615.
Der Misogyn 321.
Miss Sara Sanipson 304. 305.
310. 316. 318.
Philotas 306. 307. 316. 318. 321.
Prosa.
Antiquarische Briefe 399. 412.
413.
Beiträge aus der Wolfenbütteler
Bibliothek 199.
Hamburgische Dramaturgie 311.
314. 317. 412. 502. 503.
Erziehung des Menschenge-
schlechtes 321.
Gedanken über die Herrenhuter
303. 304. 317.
Laokoon 310. 315. 319.
Leben des Sophokles 307. 310.
Litteraturbriefe 310.
Recensionen 399—415.
Rettung des Gardanus 317.
Theatralische Bibliothek 304. 311.
Lessing K. G. 542. 543.
Lichtenberg G. Ch. 416. 506.
Lichtwer M. G. 187.
Liegnitz, Fürst von 233.
H. A. Lier 290.
Lillo G. 47—62. 305.
Limburg, Georg Schenk von 177.
178.
Lippe-Detmold. Friedrich Wilhelm
Leopold 461.
Lippert Ph. D. 179. 181.
Lips J. H. 119.
Livius 410.
Lobkowitz, Fürst 269.
G. V. Loeper 529. 614.
Lossig K. 543.
Lotter J. 37.
Löuw P. 209.
Löuwenstey R. 209.
Löwen J. F. 187. 199.
Lucius Ch. 395.
Lucretia 313.
Lucrez 265.
V. Ludecus Caroline 496.
Ludel S. 42.
Lüder 95. 420.
Ludwig 0. 322. 497.
Luther 28. 401. 408. 521.
Lyrik 579—581. 584.
altdänische .574—578.
S.Herder, Volkslieder.
Des Knaben Wunderhom 574.
581.
Maass 509.
Maier J. 479.
Maior J. 21.
Mangelsdorf K. E. 4U.
V. Manteuffel 274.
V. Manteuffel 276.
Malespini C. 16. 22—25.
Malbourough 51.
Marschall von Biberstein 308.
Martial 249. 250.
E. Martin 178. 180.
Martini J. P. Ä. 478.
Matthisson F. 200.
de Maupertuis P. L. M. 372.
J. Mayerhofer 177. 178.
J. Meier 363—365.
Meister L. 291.
Meistersinger 29—38. 37. 42. 43
615. 616.
Melanchthon Ph. 521.
Mendelssohn M. 300. 306. 310. 316.
318.
Menzel 509.
W. Menzel 498.
Merck J. H. 544.
V. Meusebach K. H. G. 202.
Register.
625
Meusel J. 6. 414.
Meyer F. L. W. 424, 460.
Meyer H. 373-377.
J. Meyer 170.
R. M. Meyer 5?98-323. 416.
A. Meyer Cobn 282. 294.
deMezeray, F. Eudes 401. 408.
Michaelis J. B. 509-530.
V. Michels 28-46. 615. 616.
Miller J. M. 544.
Milton 302.
J. Minor 184. 527.
Misander s. Adami J. S.
Moli^re 308. 821. 380.
Montaigne 483- 486. 496.
V. Montenache D. 209.
Montesquieu 284.
Moore £. 54.
Mornav Ph. 401. 408.
V. Mosheim J. L. 404.
Mozart 478—482.
Müller 408.
V. Müller F. 529.
Müller G. 582.
V. Müller J. 504.
Müller W. 478. 479.
F. Muncker 45. 191. 399. 496.
Murcky 291.
Musaeus 547.
Mylius Ch. 367-373.
Nas J. 201. 228.
Naumann Oh. N. 509.
Nibelungen 553. 585. 586.
Nicolai F. 91. 94. 256. 418. 462.
545.
Niebuhr B. 575.
H. Nohl 2. 16.
Novellen.
Cent nouvelles nouvelles 14—16.
22—25. 27 8. Gomez.
Marina 1—27.
Speculnm exemplomm 16. 21.22.
Nyerup E. 575.
Oehlenschläger A. 551. 552.
Opitz M. 252.
Oranien. Wilhelm 49. 50.
Oeser A. F. 513.
Ossian 422. 423. 503. 527. 581.
Österreicher A. 32. 40.
Otway Th. 60.
Ovid 236. 249.
Paisiello 0. 478.
V. Pappenheira, Graf A. 507.
y. Pappenheim, Gräfin Fernanda
506. 507.
Passow F. 379.
Paulus E. G. 553.
Peringskiöld 579.
Petrarca 13.
Petretus A. 21.
Petrus Martyr Anglerius 400. 408.
Pfeffel G. K. 71. 93. 95. 187.
J. Pfeiffer 508.
Pfitzer J. N. 200. 366. 367.
R. Philippsthal 380.
Pindar 400.
Pitaval 484-487. 496. 499.
Piaton 546.
Plautus 46. 306.
V. Plötz 276.
y. Podewils 369.
Poggio G. F. 14. 27.
Pope A. 319.
Posse P. 395.
Praktiken 201-235. 361.
V. Praroman W. 208.
y. Pretlach 613.
Preussen. Friedrich II. 281. 285.
294. 297. 311. 400.
Friedrich Wilhelm I.
281. 608.
Friedrich Wilhelm II,
455. 457. 475.
Prinzessin Friederike
455. 457. 462.
Prinz Heinrich 284.
Probst P. 32.
Properz 236-241. 249—251.
A. Puls 236-251.
Puschmann A. 32.
Pütter J. S. 74.
Pyra J. J. 200. 292. 509.
Quicklperger 34.
Quicklperger, Frau 34.
Quin 62.
Quintus Icilius s. Guichard.
Babelais 201.
Racine L. 286. 287. 551.
Ä. Raiz 323—359.
Ramler K. W. 104. 108. 199. 200.
254-282. 291-295. 400. 471.
G. Ransohoff 530—541.
Rapin 410.
Rappolt L. 28. 35. 36.
Rask R. Ch. 579.
y. d. Recke Elisa 454. 457. 458.
461. 463.
C. Redlich 89. 412.
Regnier 289.
Regulus 306. 314.
Reich Ph. E. 72. 74.
626
Register.
Reichard t J. F. 154.
Reinhart J. Ch. 508.
Reinhold C. L. 613.
Resenius P. J. 504. 505.
Resewitz F. G. 452.
de Retz H. 556. 557. 567. 568.
Reuchlin J. 46.
Reuss, Graf 284. 285.
Rheinischer Merkur 552.
Richardson S. 48. 305.
Riemer F.W. 379. 477. 481.
Rollenhagen G. 436.
V. Ros^e H. 294.
Rost J. Ch. 186—188.
H. Roetteken 184-186.
Rousseau 115. 180. 284. 286. 287.
Ruckert 148. 378—380.
Rudolf (Schülers Diener) 164. 166.
Rusticien de Pise 531.
Rüttgerodt 98. 416.
Sacchetti F. 290.
Sachs H. 16. 19—21. 28. 30—47.
392—394. 537. 616.
Sachsen. Johann Georg III. 394.
Sachsen -Weimar.
Anna Amalia 611.
612. 615.
Bernhard 116-126.
Carl August 113—
128. 423. 434. 455.
611-615.
Louise 612. 613.
Salieri A. 478.
Sältengelt H. 235.
Sand K. L. 554.
de Sandoval P. 401. 408.
A. Sauer 62—118. 254—295. 416—
476. 527.
Scanderbeg 57 -59.
Schädler 423.
Schäffer Ch. L. 84. 86.
Schall K. 477. 481. 483.
Schedel H. 1.
Scheidt C. 381.
W. Scherer 129. 133. 134. 301. 304.
Schestedt 295.
Schiller 13. 28. 128—173. 299. 302.
303. 306. 311. 322. 477. 554.
587.
Brief an J. F. Cotta 506—508.
Dramen.
Don Carlos 299. 318. 322. 481.
483.
Fiesko 556-573.
Iphigenie in Aulis 150. 151.
Die Jungfrau von Orleans 507.
Schiller
Kabale und Liebe 306. 312. 313.
556. 570-572.
Maria Stuart 306.
Der Parasit 162. 508.
Scenen aus den Phönicierinnen
161.
Die Rauber 564. 569. 570.
Turandot 161.
Wallenstein 556. 569. 572.
Wilhelm Teil 322. 481. 483. 507.
508.
Episches und Lyrik.
Berglied 508.
Gedichte 128—173.
Der Jüngling am Bache 506.
Der Ring des Polykrates 319.
Übersetzung des zweiten Buches
der Aeneis 135. 145. 164. 168.
Xenien 130. 146. 150. 173.
Zeitschriften.
Hören 131. 136. 139. 141. 143.
145. 149. 150. 152. 158. 160.
161.
Musenalmanach 130. 131. 135 —
152. 155. 157. 158. 160. 161.
Thalia 145-147. 151. 152. 158.
161.
Schink J. F. 70. 71.
V. Schlegel A. W. 550. 551. 553.
Schleiffer M. 41.
Schmid Ch. H. 98. 251. 515. 521.
522.
Schmid S. v. Rossens 114.
Schmidlein 615. 616.
Schmidt B. 395.
E. Schmidt 191—195. 304. 308. 311.
867. 412-415. 487.
J. Schmidt 299. 309. 486.
V. Schmidt J. 117. 123.
Schmidt J. Ch. 267.
Schmidt Klamer E. 77.
Schnewlyn J. 209.
F. Schnorr von Carolsfeld 31. 33.
J. Schober 187. 188.
Schobsser H. 19.
A. Scholl 113. 117. 118.
A. E. Schönbach 173—177. 359—
363.
Schönfeld 429. 436.
Schönkopf Käthchen 184.
Schottland. Maria Stuart 50.
Schratt 606.
Schröder F. L. 97. 422. 480. 505
K. J. Schröer 32. 33.
F. Schröter 508.