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Full text of "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie"

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Viertelj  ahr  sschrift 


für 


wissenschaftliche  Philosophie 


unter  Mitwirkung  von 


C.  Göring  •  M.  Heinze  •  W.  Wundt 


herausgegeben 


von 


R.  Avenarius. 


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Dritter  Jahrgang. 


-«^H»^ 


Leipzig. 

Fues's  Verlag  (R.  Reisland). 

1879. 


^ '  ^'  "^  '^  Inhaltsverzeichniss. 


Die  römischen  Ziffern  (I— lY)  bezeichnen  die  Hefte  die  arabinchen  die  Seiten. 


Nachruf  an  C.  Göring:  III,  257. 

Artikel. 

Avenarius,  R.,  In  Sachen  der  wissenschaftlichen  Philosophie.    Dritter 

Artikel:  I,  53. 
Erdmann,   B.,   Zur  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutschland,   mit 

besonderer  Rücksicht  auf  Ribot,  Th.:  La  Psychologie  allemande  con- 

temporaine.    IV,  377. 
Göring,  C,  Zur  philosophischen  Methode.     I,   1. 
— ,   Ueber   den  Missbrauch    der   Mathematik   in  der   Philosophie.     Ein 

nachgelassener  Vortrag.     III,  261. 
Horwicz,  A.,  Das  Verhältniss  der  Gefühle  zu  den  Vorstellungen  und 

die  Frage  nach  dem  psychischen  Grund processe.     III,  308. 
Lasswitz,  K.,  Ueber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfüllung.     Erster 

Artikel:  II,  206.     Zweiter  Artikel  (Schluss):  III,  275. 
— ,  Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland  durch  Daniel  Sennert 

und  sein  Zusammenhang  mit  Asklepiades  von  Bithynien.     IV,  408. 
Planck,  K.  Gh.,  Sinnesanschauung  und  logisches  Causalgesetz.     Eine 

Entgegnung  auf   die   neuesten  Ausführungen   von  E.   Zeller.     Erster 

Artikel:  I,  17.     Zweiter  Artikel  (Schluss):  II,  15l 
Schneider,    G.    H.,    Zur   Entwickelung   der    Willeilsäusserungen    im 

Thierreich.     Erster  Artikel:   II,  176.     Zweiter  Artikel  (Schluss.     Mit 

einer  Tafel  in  Holzschn.):  III,  294. 
Schuppe,   W. ,  Bergmann's  „Reine  Logik^^  und  die  „Erkenutnisstheo- 

retische  Logik*'  mit  ihrem  angeblichen  Idealismus.     IV,  467. 
Spir,   A.,   Drei   Grundfragen   des  Idealismus.    I.     Beweis   des  Idealis- 
mus.   IV,  435. 
Stendel,  A.,  Zum  ethischen  Problem.     II,  216. 
Tobler,  L.,  Ueber  die  Anwendung  des  Begriffes  von  Gesetzen  auf  die 

Sprache.    I,  30. 
Tönnies,  F.,  Anmerkungen  über  die  Philosophie  des  Hobbes.     Erster 

Artikel:  IV,  453. 
W  u  n  d  t ,  W.,  Ueb.  das  Verhältniss  d.  Gefühle  zu  den  Vorstellungen.  II,  1 29. 
— ,    Psychologische  Thatsachen  und  Hypothesen.     Reflexionen  aus  An- 

lass   der  Abhandlung   von  A.  Horwicz   über  das  Verhältniss  der  Ge- 
fühle zu  den  Vorstellungen.     III,  342. 

Becensionen. 

Brdmann^  S.f  Kant*s  Kriticismus  in  der  ersten  uud  in  der  zweiten  Auf- 
lage der  Kritik  der  reinen  Vernunft;  von  Fr.  Pauls en.    I,  79. 

Hortviczy  A,f  Psychologische  Analysen  auf  physiologischer  Grundlage. 
Ein  Versuch  zur  Neubegründung  der  Seelenlehre.  Zweiter  Theil.  Zweite 
Hälfte,   Die  Analyse  der  qualitativen  Gefühle;  von  C.  Göri  ng.  II,  235. 

Zoos,  Kj  Kantus  Analogien  der  Erfahrung.  Eine  kritische  Studie  über 
die  Grundlagen  der  theoretischen  Philosophie;  von  M.  Heinze.    I,  82. 

ZexiSf  W,,  Zur  Theorie  der  Massenerscheinungen  in  der  menschlichen 
Gesellschaft;  von  A.  Schäffle.     III,  358. 

Positivismo,  O.  Revista  de  philosophia  dirigida  por  Th.  Braga  e  J.  de 
Mottos.    Primeiro  Anno  Nr.  1;  von  H.  Wernekke.     IV,  492. 

Sehröder,  K,  Der  Operationskreis  des  Logikcalculs ;  von  S.Günther.  1, 111. 

Spencer,  ZT.,  Die  Principien  der  Sociologie.  Autorisirte  deutsche  Aus- 
gabe von  B.  Vetter.  1.  Bd.  (System  der  synthetischen  Philosophie, 
6.  Bd.) ;  von  A.  Schäffle.    III,  359. 

Sipir,   A.,   Denken  und   Wirklichkeit.    Versuch    einer  Erneuerung  der 


lY  Inhaltsverzeichniss. 

kritischen  Philosophie.     1.  Bd.:   Das  Unbedingte.     2.  Bd.:   Die  Welt 
der  Erfahrung;  von  C.  Görin g.     I,  98. 
TTeberhorst,   JT. ,   Kantus  Lehre   von   dem  Yerhältniss  der  Kategorien  zur 
Erfahrung;  von  F.  Staudinger.    IV,  486. 

Eiitgregrniingren  und  Berichti^ngen. 

Jacobson,  J.,  Erwiderung  auf  eine  „Recension"  des  Prof.  Ulrici.  IV,  496. 
Steudel,  A.,  Entgegnung.    III,  375. 

Selbstanzeigren. 

Baerenbach,  Fr.  von,  Herder  als  Vorgänger  Darwin's  und  der 
modernen  Naturphilosophie.     IV,  501. 

— ,  Gedanken  über  die  Teleologie  in  der  Natur.  Ein  Beitrag  zur  Philo- 
sophie der  Naturwissenschaften.     IV,  501. 

Berg,  H.,  Die  Lust  an  der  Musik.  Nebst  einem  Anhang:  Die  Lust 
an  den  Farben  etc.     III,  361. 

Bilharz,  Alf.,  Der  heliocentrische  Standpunkt  der  Weltbetrachtung. 
Grundlegungen  zu  einer  wirklichen  Naturphilosophie.     IV,  502. 

Brocher  de  la  Flechere,  H.,  Les  Revolutions  du  droit,  etudes 
historiques  destin^es  a  faciliter  Tintelligence  des  institutions  sociales. 
Tome   ler;  Introduction  philosophique.     III,  361. 

Byk,  S.  A.,  Die  Physiologie  des  Schönen.     I,  121. 

C  a  p  e  s  i  u  s ,  J. ,  Die*  Metaphysik  Herbart's  in  ihrer  Entwickelungs- 
geschichte  und  nach  ihrer  historischen  Stellung.     II,  245. 

Gas  pari,  O.,  Die  Grundprobleme  der  Erkenntnissthätigkeit  beleuchtet 
vom  psychologischen  und  kritischen  Gesichtspunkte.     2  Bde.  III,  362. 

Erdmann,  B.,  Kant's  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Herausgegeben.  I,  121. 

— ,  Kantus  Kriticismus  in  der  ersten  und  zweiten  Auflage  der  Kr.  d.  r.  V. 
Eine  historische  Untersuchung.    I,  122. 

Frohschammer,  J.,    1.   Die   Phantasie  als   Grundprincip    des  Welt- 

'     processes.     2.  Monaden  und  Weltphantasie  III,  363. 

Ho^lfeld,  P. ,  Die  Krause'sche  Philosophie  in  ihrem  geschichtlichen 
Zusammenhange  und  in  ihrer  Bedeutung  für  das  Geistesleben  der 
Gegenwart  dargestellt.     III,  365. 

Hoppe,  J.  I.,  Die  Schein-Bewegungen.     II,  246. 

Janitschy  J.,  Kant's  Urteile  über  Berkeley.  Ein  Beitrag  zur  Kant- 
philologie.    III,  366. 

Kehrbach,  K.,  Kritik  der  praktischen  Vernunft  von  Im.  Kant. 
Herausgegeben.     III,  366. 

— ,  Kritik  der  reinen  Vernunft  von  Im.  Kant.  Herausgegeben.  Zweite 
verbesserte  Auflage.     III,  366. 

Laas,  E. ,  Idealismus  und  Positivismus.  Eine  kritische  Auseinander- 
setzung.    Erster,  allgemeiner  und  grundlegender  Theil.     IV,  503. 

I^eclair,  A.  von,  Der  Realismus  der  modernen  Naturwissenschaft  im 
Lichte  der  von  Berkeley  u.  Kant  angebahnten  Erkenntnisskritik.  III,  367. 

Mühry,  A.,  Ueber  die  exacte  Natur-Philosophie.     [I,  247. 

Q  u  i  ii  o  n  e  8 ,  U.  R.,  La  Religion  de  la  Ciencia.     II,  248. 

Radestock,  P.,  Schlaf  und  Traum.  Eine  physiologisch-psychologische 
Untersuchung.     III,  368. 

Read,  C.,  On  the  Theory  of  Logic:  an  Essay.     I,  123. 


Philosophische  Zeitschriften:    I,  123.  II,  248.  III,  368.  IV,  504. 
Bibliographische  Mittheilnngen :  I,  126.  11,252.  III,  372.  IV,  507. 
Notizen:  II,  256.  III,  376. 
Erklärung  betr.  die  Bestimmung  der  Selbstanzeigen:  I,  119. 


Zur  philosophischen  Methode. 


Neuerdings  ist  oft  hervorgehoben  worden,  dass  die  Special- 
wissenschaften in  einen  sichern  Gang  gebracht  worden  und 
stetig  gewachsen  sind,  sobald  sie  sich  der  richtigen  Methode 
versichert  hatten.  Wenn  demnach  die  Methode  als  dasjenige 
erscheint,  was  wissenschaftliche  Erkenntniss  bewirkt,  so  liegt 
die  Nutzanwendung  auf  die  Philosophie  nahe,  dass  auch  diese 
sich  vor  Allem  der  richtigen  Methode  zu  versichern  habe,  um 
die  Sicherheit  der  wissenschaftlichen  Erkenntniss  zu  erreichen. 
In  der  Tliat  ist  diese  Einsicht  gegenwärtig  bei  den  meisten 
Philosophen  fast  aller  Richtungen  vorhanden  und  führt  zu  leb- 
haften Controversen  über  die  richtige  Methode  zu  philosophiren. 
Die  Empiriker  glauben  mit  der  wissenschaftlichen  Behandlung 
der  Philosophie  dadurch  Ernst  zu  machen,  dass  sie  die  all- 
gemein anerkannte  Erkenntnissweise  der  Wissenschaften  auch 
auf  die  Bearbeitung  der  philosophischen  Probleme  anwenden 
oder  sich  der  allgemein  wissenschaftliehen  Methode  bedienen; 
ihre  Gegner  pflegen  die  Wissenschaftlichkeit  ihrer  eigenen  Phi- 
losophie eifrig  zu  veruchern,  nehmen  aber  für  diese  eine  be- 
sondere Methode  in  Anspruch ,  da  sie  ihre  besonderen  Objecte 
habe.  In  dieser  Begründung  des  Anspruchs  auf  eine  eigenar- 
tige Methode  zeigt  sidi  ein  relativer  Fortschritt  des  Denkens, 
insofern  der  unzertrennliche  Zusammenhang  von  Erkenntniss- 
objekten und  Methode  erkannt  und  damit  die  Einsicht  gewonnen 
ist,  dass  nur  durch  die  Verbindung  von  wirklichen,  nicht 
blossen  Scheinobjekten  und  richtiger  Methode  wissenschaftliche 
Erkenntniss  erreicht  werden  kann.    Hiermit  ist  zugleich  impU- 

Vierte\jahrs8clurift  t  wisseiucluiftL  Philosophie,  m.  1.  1 


2  C.  Göring: 

cite  ausgesprochen,  dass  ein  methodisches  Verfahren  an  und 
für  sich  nur  die  sogenannte  formale  Wahrheit  verbürgt,  d.  h. 
die  Uebereinstimmung  der  methodisch  gewonnenen  Resultate  mit 
den  Voraussetzungen,  aus  welchen  sie  abgeleitet  werden.  Sind  nun 
diese  Voraussetzungen  falsch,  so  sind  es  begreiflicherweise  auch 
die  aus  ihnen  gezogenen  Schlussfolgerungen.  Weiter  ergiebt  sich 
aus  der  obigen  Forderung  der  Satz,  dass  die  Beschaffenheit  der 
Methode  durch  die  Beschaffenheit  der  Objecte  bedingt  ist.  Auf 
Grund  dieser  Zugestandnisse  dürfte  es  gelingen,  den  Streit  über 
die  philosophische  Methode  zum  Austrag  zu  bringen. 

Ein  neuerer  Nichtempiriker^  Harms,  sagt^  „Die  Philosophie 
in  ihrer  Geschichte^^  I.  S.  31:  „Jede  Methode  des  Erkennens 
ist  ein  Verfahren  nach  Grundsätzen,  aus  deren  Anwendung  Er- 
kenntnisse entstehen  sollen.''  Gegen  diese  Bestimmung  wird 
kaum  von  irgend  einer  Seite  her  ein  Einwand  erhoben  werden, 
weil  mit  dieser  Definition  der  Kernpunkt  des  Streites  noch  gar 
nicht  berührt  ist.  Denn  dieselbe  principielle  Verschiedenheit 
der  Meinungen,  welche  hinsichtlich  der  Methode  besteht,  kehrt 
wieder,  sobald  es  sich  um  die  richtige  und  massgebende  Auf- 
fassung der  Grundsätze  handelt.  Zwar  werden  alle  Parteien 
darin  übereinstimmen,  dass  ein  Grundsatz  etwas  allgemein 
Gültiges  sein  soll,  oder,  worauf  es  hier  allein  ankommt,  etwas 
Allgemeines  ist,  aber  über  die  Beschaffenheit  des  Allgemeinen, 
näher  über  das  Verhältniss  des  Allgemeinen  zum  Einzelnen 
gehen  die  Ansichten  nach  entgegengesetzten  Richtungen  aus 
einander.  Es  sind  nun  hier  drei  verschiedene  Standpunkte 
möglich:  man  kann  nach  der  unverfälschten  metaphysischen 
Auffassung  das  Einzelne  vom  Allgemeinen,  oder  vom  konse- 
quenten Empirismus  aus  das  Allgemeine  vom  Einzelnen  ab- 
hängig machen,  drittens  endlich  das  Allgemeine  und  das  Einzelne 
koordiniren,  das  letztere  wenigstens  in  abstracto ;  denn  faktisch 
wird  von  diesem  Standpunkte  aus,  sobald  es  überhaupt  zu 
einem  irgendwie  methodischen  Verfahren  kommt,  doch  das  Eine 
vom  Andern  abhängig  gemacht  werden  müssen,  da  ohne  eine 
solche  Subordinirung  kein  Grundsatz  und  keine  Methode  fest- 
gestellt werden  kann.    Es  handelt  sich  also  bei  unserer  Unter- 


Zar  philosophischen  Methode.|  3 

suchung  nur  um  den  Gegensatz  zwischen  Metaphysik  und 
Empirismus^  auf  welche  beiden  Theorieen  jeder  philosophische 
Standpunkt,  insofern  hierunter  eine  logisch  verbundene  und 
systematisch  geordnete  Gedankenreihe  verstanden  wird^  un- 
schwer zurückgeführt  werden  kann. 

Harm^  welcher  hier  wohl  als  im  Namen  aller  consequen- 
ten  Metaphysiker  redend  angeführt  werden  darf,  kennt  ein 
Denken,  welches  ein  „schlechthin  Allgemeines''  denkt  (S.  24); 
dieses  Denken  ist  nach  ihm  speculativ  oder  metaphysisch,  da- 
her auch  die  Grundsätze,  nach  welchen  beim  Erkennen  ver- 
fahren werden  soll,  „metaphysischer  Art''  sind  (S.  30).  Inso- 
fern also  die  Metaphysik  oder  speculative  Philosophie  methodisch 
verfahrt,  legt  sie  ein  „schlechthin  Allgemeines"  zu  Grunde, 
d.  h.  nach  Harms'  Erklärung,  nicht  ein  formales,  sondern  ein 
„reales'^  Allgemeines.  Leider  hat  Harms,  wie  freilich  bisher 
alle  Metaphysiker,  unterlassen  anzugeben,  was  er  sich  unter 
diesem  schlechthin  oder  realen  Allgemeinen  denkt:  und  der 
Empiriker  kann  darin  keine  andere ,  als  die  rein  negative  Be- 
stimmung entdecken,  dass  es  nichts  blos  Gedachtes,  nicht  die 
Zusammenfassung  des  Einzelnen  im  Denken  sein  soll. 

Dass  nun  ein  derartiges  Allgemeines  existirt,  wird  von 
den  Metaphysikern  ebensowenig  bewiesen,  als  sein  Inhalt  von 
ihnen  präcisirt  wird.  Die  Annahme  desselben  ist  freihch  sehr 
ah  und  sehr  oft  in  der  Geschichte  der  Philosophie  wiederholt, 
aber  auch  als  gänzlich  unbegründet  und  unhaltbar  erwiesen 
worden ;  so  lange  daher  für  die  Existenz  jenes  Allgemeinen 
keine  Begründung  beigebracht  wird,  ausser  der,  dass  man  be- 
stimmte Allgemeinheiten,  wie  Absolutes,  Ewiges,  Unveränder- 
liches u.  s.  w.  dogmatisch  annimmt  und  im  Anschluss  daran 
weiter  behauptet,  es  gebe  ohne  das  schlechthin  oder  reale  All- 
gemeine keine  Philosophie,  d.  h.  keine  speculative  Philosophie 
oder  Metaphysik,  keine  Erkenntniss  des  „Ewigen,  Absoluten, 
Unveränderlichen"  u.  s,  w.,  so  lange  ist  man  berechtigt^  es  für 
ein  Phantasiegebilde  zu  halten^  mag  es  nun  mit  irgendwelchem 
empirisch  aufgenommenen,  aber  aus  seinem  objectiven  Zu- 
sammenhang gerissenen  Inhalt  erfüllt,   oder,  weil  alles  Inhalts 


4  C  Göring: 

entbehrend,  blosses  Wort  sein.  Weil  nun  aber  gerade  dieses 
AUgemeine  das  Object  der  specubtiven  Philosophie,  oder  diese, 
wie  Harms  sagt,  die  „ Wissenschaft^'  dieses  Allgemeinen  ist, 
deshalb  zieht  dieses  ganz  besondere  Object  auch  eine  besondere 
Methode  nach  sich;  denn  begreiflicherweise  kann  es  durch 
4it  Blethode  der  Wissenschaften  nicht  gewonnen,  und  ebenso- 
wenig nachtragfich  begründet  werden.  Da  man  dennoch  an 
ihm  festhält  und  auch  den  Anspruch  erhebt,  es  beweisen  zu 
können ,  so  muss  man  zu  diesem  Zweck  dne  Methode  an- 
nehmen, deren  Anwendung  zu  jenem  Object  fuhren  oder  doch 
4ie  Nothwendigkeit  seiner  Annahme  irgendwie  begründen  solL 
Die  hierzu  dienende  Methode  heisst  nun  zwar  per  abusam, 
aber  der  Ueberüefemng  gemäss  gewöhnlich  die  deductive  oder 
Deduction;  wozu  sie  angewandt  wird,  hat  ebenfalls  Harms  mit 
schatzenswerther  Deutlichkeit  angegeben:  „Die  Deduction  strebt 
aus  dem  Bleibenden  das  Veränderliche,  aus  dem  Ewigen  das 
Eidliche,  aus  Gott  die  Welt  zu  begreifen."  (Philosophische 
Einleitung  in  die  Encyklopädie  der  Physäi  I.  190.)  Dass 
Harms  weiterhin  Deduction  und  Speculation  ausdrücklich  gleich- 
setzt, kann  hiernach  nicht  mehr  befremden;  es  ist  vielmehr 
die  einag  richtige  Auffassung. 

Wozu  diese  „Methode^  dient,  ist  klar;  nämlich  ganz  un- 
begründete Voraussetzungen,  PbanCasiegebilde ,  deren  Inhalt 
nicht  in  der  Erfahrung  angetroffen  wird,  nachträglich  wenigstens 
scheinbar  dadurch  zu  stützen,  dass  man  sie  zum  „Begreifen** 
verwendet  Ihre  anscheinende  Berechtigung  gewinnen  diese 
Voraussetzungen  also  dadurch,  dass  man  ohne  sie  nicht  begreifen 
würde,  oder  dass  sie  Mittel  zum  Zwecke  des  Begrrifens  smd. 
Hierauf  bmiht  ihre  relative  „Nothwendigkeit",  durch  welche 
sie  aber  natürlich  keineswegs  irgendwie  sachlich  begründet 
werden;  denn  dazu  müsste  vor  Allem  nachgewiesen  werden, 
dass  der  Zweck,  dem  jene  Voraussetzungen  als  Mittel  dienen, 
ein  wissenschaftlich  berechtigter  ist  Hiervon  findet  aber  das 
directe  Gegentheil  statt ;  denn  die  Art  des  „Begreifens^',  welche 
jene  Phantasiegebilde  zuerst  naiv  producirt  hat  und  in  ihrer 
Verfeinerung  bewusster  Weise  festzuhalten  bemüht  ist,  erweist 


Zur  philosophiaehen  Methode.  5 

sich  vor  der  wissenfichafllicheii  Kriük  als  gänztich  nnberect^igt 
und  irreleitend.  Wenn  sonach  jene  Objecte  nicht  eher  ab 
wiasenschafUich  berechtigt  anerkannt  werden  können,  als  bis 
man  sie  irgendwie  obJectiT  begründet  hat,  so  fallt  mit  ihnen 
auch  die  ,Jiethode  der  Deduction  oder  Speculation^^  denn  man 
kann  nicht  vernünfliger  Weise  zwei  unbegründete  Voraus- 
setzungen sich  gegenseitig  begründen  lassen. 

Die  wissenschaftliche  Methode  dient  nicht  irgend  welchen 
beliebigen  Zwecken  und  Absichten,  sondern  schhesst  eben  das 
individuelle  Belieben  aus;  dies  igt  ihr  charakteristisches  Merk- 
mal. Jener  Art  der  Deduction  fehlt  aber  dieses  Merkmal  der 
wissenschaftlichen  Methode,  logische  Nothwendigkeit  und  da- 
durch Ausschluss  der  Willkür  zu  bewirken;  vielmehr  ist  sie 
selbst  ganz  und  gar  willkürhch  und  wird  daher  richtiger  als 
,,Speculation^*  bezeichnet.  Wenn  nicht  die  Gewohnheit  so  stark 
wirkte,  so  würde,  seitdem  die  wissenschafUiche  Methode  existirt, 
jene  speculative  Methode  überhaupt  nicht  mehr  angewandt 
werden,  um  Wissen  zu  erzeugen,  am  allerwenigsten  aber,  um 
„aus  dem  Bleibenden  das  Yeränderhche  u.  s.  w.  zu  begreifen.^' 
Denn  hierbei  handelt  es  sich  um  nichts  Geringeres,  als  einen 
Gegensatz  aus  dem  andern  zu  „begreifen'%  woraus  zunächst 
sich  die  sehr  nöthige  Einsicht  ergiebt,  dass  dieses  Begreifen 
etwas  ganz  Anderes  ist  als  Wissen.  Denn  Gegensätze  führen 
zur  Aufhebung  des  Wissens,  wie  auch  die  speculative  Phi- 
losophie frühei'  sehr  wohl  wusste.  FreiUch  kann  dies  durch 
die  gewohnte  Ideenassociation  verdeckt,  und  die  Gegensäfze 
können  scheinbar  vermittelt  werden,  indem  man  sie  in  das  ge- 
wohnte Schema  von  Ursache  und  Wirkung  bringt.  Dass  nun  aber 
die  Wirkung  aus  der  Ursache  nicht  rein  logisch  abgeleitet,  also 
nicht  speculativ  oder  a  priori  deducirt  werden  kann,  hat  schon 
Kant  in  seiner  vorkritischen  Periode,  speciell  auch  an  „Gott  und 
Welt",  sehr  deutlich  gezeigt.  Wie  man  aber  einen  Gegensatz  aus 
dem  andern  begreifen  will,  wenn  nicht  durch  die  blosse  Gewohn- 
heit häufiger  Ideenassociation,  dies  mag  angeben  wer  es  kann; 
wer  es  aber  nicht  kann,  der  mag  auch  nicht  behaupten,  dass  eine 
Methode   dazu   führe.     Denn   die  blosse  psychologische  Noth- 


g  C.  Gröring: 

wendigkeit,  in  der  gewohnten  Ideenassociation  zu  verharren,  oder 
die  Unfähigkeit,  durch  bewusstes  Denken  die  letztere  zu  über- 
winden, ist  von  jedem  wirklich  methodischen  Verfahren  soweit 
als  möglich  entfernt.  So  lange  man  nun  in  der  angegebenen 
Weise  speculirt,  d.  h.  unbegründete  Voraussetzungen  zu- 
philosophischen Objecten  erhebt,  so  lange  wird  man  freilich 
auch  den  Anspruch  auf  eine  eigenartige  philosophische  Methode 
nicht  aufgeben;  es  dürfte  aber  angemessen  sein,  von  diesem 
Verfahren  abzugehen  und  der  Philosophie  nicht  beliebige,  son- 
dern nur  solche  Objecte  zuzutheilen,  deren  Existenz  hinlänglich 
bewiesen  werden  kann.  Wenn  so  die  Philosophie  die  all- 
gemein wissenschaftliche  Grundlage  gewonnen  hat,  dann  wird 
sie  auch  die  wissenschaftliche  Methode  nicht  nur  als  aus- 
reichend, sondern  auch  als  einzig  berechtigt  für  das  Philo- 
sophiren anerkennen. 

Die  Wissenschaft  und  die  wissenschaftliche  Philosophie 
kennt  kein  schlechthin  oder  reales  Allgemeines  mit  irgend- 
welchem selbständigem,  d.  h.  nicht  aus  Einzelobjecten  entnom- 
menen Inhalt;  denn  jeder  Inhalt,  er  sei,  welcher  er  wolle, 
stammt  vom  Einzelnen.  Wer  diesen  Satz  nicht  anerkennt,  hat 
irgend  eine  Gegeninstanz  beizubringen,  durch  welchen  seine 
Gültigkeit  aufgehoben  wird,  also  ein  Allgemeines  aufzuzeigen, 
dessen  Inhalt  nicht  vom  Einzelnen  hergenommen  ist. 

Auf  der  Thatsache,  dass  das  Allgemeine  denselben  Inhalt 
hat  wie  das  Einzelne,  beruht  die  logische  Nothwendigkeit  und 
mit  ihr  jedes  wirklich  methodische  Verfahren.  Denn  Methode 
ist  Zugestandenermassen  ein  Verfahren  nach  Grundsätzen^  und 
diese  sind  etwas  Allgemeines;  die  logische  Nothwendigkeit,  der 
Ausschluss  alles  individuellen  Beliebens,  als  das  specifische 
Merkmal  der  wissenschaftlichen  Methode  liegt  in  dem  Verhält- 
niss  des  AUgemeinen  zum  Einzelnen.  Nur  da,  wo  beide  gleichen 
Inhalt  haben^  findet  ein  innerer  Zusammenhang  zwischen  ihnen 
statt,  der  überhaupt  erst  dazu  berechtigt,  den  Begriff  des  All- 
gemeinen aufzustellen  und  die  logische  Nothwendigkeit  anzu- 
nehmen, mit  der  nunmehr  vom  einen  auf  das  andere  ge- 
schlossen   werden   kann;    denn  die  den  Objecten  rein  ausser- 


Zur  philosophischen  Methode.  ^ 

liehe  oder  zufallige  Verbindung  in  der  Ideenassociation  wird 
wohl  Niemand  bei  einiger  Ueberlegung  mit  logischer  Ver- 
knüpfung verwechseln.  Die  letztere  oder  der  innere  Zusam- 
menhang zwischen  Allgemeinem  und  Einzelnem  beruht  nun  eben 
darauf  und  zwar  allein  darauf,  dass  beide  denselben  Inhalt 
haben,  dass  das  vom  einzelnen  Subjecte  Prädicirte  zum  Prä- 
dicat  aller  Subjecte  derselben  Gattung  =  des  Allgemeinen,  er- 
hoben wird;  wo  diese  Bedingung  nicht  erfüUt  ist,  findet  keine 
Subsumtion  des  Einzelnen  unter  das  Allgemeine  statt ,  das  All- 
gemeine ist  entweder  ohne  Inhalt,  ein  blosses  Wort  ohne  Sinn 
und  Bedeutung,  oder  es  hat  einen  andern  Inhalt  und  gilt 
dann  von  anderen  einzelnen  Objecten. 

Diesen  nothwendigen  innern  Zusammenhang,  die  Gleichheit 
des  Inhaltes  des  Allgemeinen  und  Einzelnen  kann  man  nun 
auf  doppelte  Weise  herstellen ;  erstens,  indem  man  das  Einzelne 
dem  AUgemeinen,  und  zweitens,  indem  man  das  Allgemeine 
dem  Einzelnen  gleich  macht.  Das  erstere  ist  das  ,,deductiv- 
speculative^'  oder  „apriorische'^  das  zweite  das  „inductive'^  oder 
„aposteriorische'*  Verfahren;  im  ersteren  Falle  sollen  sich  die 
Thatsaehen,  im  zweiten  die  Gedanken  fügen.  Wer  es 
nun  noch  für  zulässig  hält,  dass  man  über  Thatsaehen  will- 
kürlich verfügt,  der  wird  natürlich  kein  Bedenken  tragen,  das 
Einzelne  dem  Allgemeinen  gleich  zu  machen,  indem  er  dem 
Einzelnen  den  Inhalt  giebt,  welchen  nach  seiner  unbegründeten 
Voraussetzung  das  Allgemeine  hat;  mit  ihm  ist  nicht  weiter  zu 
streiten,  da  die  für  einen  Erfolg  der  Discussion^noth wendige 
gemeinsame  Grundlage  zur  Verständigung  fehlt.  Indessen  wird 
sich  gegenwärtig  ein  Philosoph  wohl  nur  noch  aus  Opposition 
und  ohne  sorgfaltige  Ueberlegung  zu  der  Behauptung  fortreissen 
lassen,  dass  apriorischen  Gedanken  im  Collisionsfalle  mit  empi- 
rischen Thatsaehen  die  grössere  Sicherheit  zukomme;  für  wen 
aber  das  Gegentheil  feststeht,  nämlich,  dass  eine  Thatsache 
unter  allen  Umständen  ,,das  Höchste  ist,  was  wir  erreichen 
können''  (Baumann),  der  wird  consequenterweise  sich  nun  auch 
dazu  bekehren  müssen,  das  Allgemeine,  als  blossen  Gedanken, 
dem  Einzelnen  gleich  zu  machen.    Denn  ein  neben  und  ausser 


8  C.  Göring: 

dem  Einzelnen  angenommenes  Allgemeines  wird  man  so  lang« 
für  ein  blosses  Wort  halten  müssen^  auch  wenn  es  als  „reaP 
oder  „schlechthin^^  AUgemeines  auftritt,  als  der  Inhalt  des-* 
selben  nicht  klar  und  deutlich  angegeben  ist.  Ein  derartiges 
Allgemeines  mag  2ur  Speculation  nöthig  und  dienlich  sein,  für 
ein  methodisches  Verfahren  oder  eine  wissenschaftliche  De- 
duction  ist  es  gänzlich  unbrauchbar.  Denn  diese  ist  nur  da- 
durch möglich,  dass  eine  logische  Nothwendigkeit  AUgemeines 
und  Einzelnes  verknüpft  Da  nun  erfehrungsmässig  das  Ein- 
zelne^ die  Thatsache,  sieh  nicht  nach  unserm  Belieben,  dem 
willkürlich  angenommenen  Allgemeinen  richtet,  so  bleibt  dem- 
nach nichts  Anderes  übrig,  als  unser  Denken  mit  den  That- 
sachen,  also  das  Allgemeine  mit  dem  Einzelnen  in  Einklang  zu 
setzen.  Wenn  man  auf  diese  Weise  zu  allgemeinen  Sätzen 
und  Grundsätzen  gelangt  ist,  hat  man  der  wissenschafttichen 
Methode  die  matenelle  Grundlage  gegeben;  das  Weitere,  For- 
male, ist  Sache  der  logischen  Consequenz. 

Bei  diesem  Verfahren  bilden  die  Thatsachen  der  Erfahrung 
den  festen  Punkt  und  das  Kriterium,  an  welchem  die  Richtig- 
keit der  Denkoperationen,  wie  die  der  Voraussetzungen  ge- 
messen wird,  von  denen  sie  ausgehen.  Denn  nur  diese  beiden 
Factoren  in  Gemeinschaft  bewirken  wissenschaftliche  Erkenntniss ; 
vergl.  WheweU,  Geschichte  der  inductiven  Wissenschaften  I. 
S.  20:  „Die  sti*engste  schulgerechte  Methode  konnte  ohne  Er*- 
fahrung  keine  Wissenschaft  erzeugen*^  Streng  methodisch  ge- 
langt man  von  richtigen  Grundsätzen  aus  zu  richtigen,  von 
falschen  Grundsätzen  aus  zu  falschen  Resultaten.  Dass  man 
durch  unlogisches  od^  unmethodisches  Verfahren  auch  von 
falschen  Grundsätzen  aus  zu  richtigen  Resultaten  gelangen  und 
so  durch  Gedankenspränge  Wahrheit  erreichen  kann,  kommt 
natürlich  hier  nicht  in  Betracht,  da  es  sich  eben  darum  handdlt, 
derartige  Zufäle  auszuschliessen  und  den  sicheren  Gang  der 
Wissenschaft  zu  begründen. 

Die  nachkantischen  Dogmatiker  legten  mit  Ausnahme 
HegePs  und  seiner  Schule  wenig  Gewicht  auf  die  Methode  des 
Philosophirens;  erst  seitdem  die  Sicherheit  der  specialwissen«» 


Zur  philoiophiBehen  Methode.  9 

schaftlicbeii  Resultate  die  Bedeutung  der  Methode  in  das  redite 
Licht  -gesetzt  faat^  wird  ihre  Nothwendigkeit  auch  Ton  den  Phi- 
losophen aHgemein  anerkannt  Namentlich  die  neukantisehe 
Schule  pflegt  gegenwärtig  die  Methode  stark  zu  betonen  und 
bemüht  sich,  auch  ihrem  Heister  nicht  nur  eine  besondere, 
sondern  sogar  die  philosophisdie  Methode  y^m  I^o^^f  zu 
yindiciren.  Dies  ist  zunächst  nur  ein  deutlidier  Beweis  dafür, 
wie  sehr  in  neuerer  Zeit  die  Methode  zum  allgemeinen  ¥rissen* 
schafUichen  Vorurthril  geworden  ist;  denn  im  Kantischen 
Sjritidsmus  selbst  tritt  sie  so  wenig  hervor,  dass  man  Arüher 
kaum  etwas  von  Kant's  Methode  wusste. 

Schopenhauer  dürfte  der  Erste  gewesen  s^,  welcher  von 
„Kant's  Methode*^  geredet  hat|;  er  lässt  sie  darin  bestehen,  dass 
Kant  „von  der  mittelbaren,  reflectirten  Erkenntniss  ausging^^ 
Fr^ch  soll  dieser  „Grundsatz  seiner  Methode  Kant  nur  sehr 
undeutlich  voi^eschwebt  haben,  daher  man  denselben  doch 
erst  noch  zu  errathen  hat^^;  aber  dennoch  „ist  diese  Methode 
an  glänzender  Gedankens  Die  übrigen  Philosophen  waren  ge- 
wöhnlich im  besten  Falle  der  Ansicht,  dass  „die  Methode  Kant 
nur  sehr  undeutlich  vorgeschwebt'^  habe,  daher  sie  nicht  weiter 
.davon  redeten.  Dies  gilt  auch  von  denen,  welche  im  Uebrigen 
auf  die  Methode  besondere  Rucksicht  nehmen,  wie  z.  B.,  um 
zwei  neuere  Philosophen  zu  nennen,  von  Harms  und  Lowes. 
Erst  seitdem  Cohen  in  seinem  Buche  „Kantus  Theorie  der  Er- 
fahrung^' ausführlicher  über  den  Unterschied  des  kriticistischen 
vom  dogmatistischen  Verfahren  gehandelt  hat,  finden  sich  in 
den  Büchern  über  Kant's  Philosophie  besondere  AbschniUe 
über  deren  Methode,  zu  deren  allgemeiner  Charakteristik  wir 
das  Urtheil  dnes  modernen  Kantianers  hier  wiedergeben, 
Jacobson^s  (Uebm*  die  Beziehungen  zwischen  Kategorien  und 
Urthdlsformen  S.  4):  „Vielleieht  ist  kein  Problem  der  KantV 
sehen  Philosophie  dar  Tummelplatz  so  widersprediender  An*> 
siebten,  vor  Allem  so  verkehrter  Auffassungen  Kant's  geworden, 
als  das  Grundproblem  der  Methode;  um  so  nothwendiger  ist 
hier  der  Versuch,  einen  ebenen,  ruhigen  Weg  durch  das  Ge^ 
tünmel  des  Widerstreits  und  der  MissvM>ständnisse  zu  bahnen'\ 


10  C.  Gering: 

Am  nothwendigsten  erscheint  jedoch  die  Vorfrage,  ob  überhaupt 
von  einer  Methode  Kant's  geredet  werden  kann,  d.  h.,  ob  Kant, 
um  zu  seinen  Resultaten  zu  gelangen,  ein  Verfahren  angewandt 
hat,  an  welchem  die  wesentlichen  Merkmale  der  wissenschaft- 
lichen Methode  nachgewiesen  werden  können. 

Cohen  hat  in  seinem  oben  citirten  Buche  sehr  klar  aus- 
einandergesetzt, was  er  unter  „Kants  Methode*'  versteht:  Trans- 
scendental  nennt  Kant  die  Erkenntniss,  welche  sich  mit  unsern 
Begriffen  a  priori  von  Gegenstanden  beschäftigt;  die  transscen- 
dentale  Erkenntniss  hat  keine  anderen  Objecto,  als  die  meta- 
physische, aber  der  Methode,  derArt  nach  ist  sie  von  dieser 
unterschieden:  sie  erweisst  das  a  priori  erst  in  seiner  Möglich- 
keit (S.  35,  36).  Späterhin  spricht  er  von  dem  metho- 
dischen, formalen  Werth  des  Begriffes  transscendental 
(S.  61)  und  von  der  »methodischen  Richtung''  der  Lehre:  ,;Sie 
fragt  nach  der  Möglichkeit  eines  a  priori  überhaupt;  durch 
diesen  einzigen  Gedanken  wird  die  Metaphysik  zur  Kritik'* 
(S.  79).  Man  wird  wohl  den  wesentlichen  Inhalt  dieser  Sätze 
Cohen's  wiedergeben,  wenn  man  sagt:  für  ihn  besteht  die  Me- 
thode der  Kant'schen  Philosophie  darin,  dass  diese Transscen- 
dentalphilosophie  ist.  Diese  AufTassung  wird  bestätigt 
durch  die  Terminologie  Cohen^s  in  seinem  neuesten  Werke: 
„Kantus  Begründung  der  Ethik",  wo  er  einfach  von  der  ,^trans- 
scendentalenMethode''  Kants  spricht  Demnach  identificirt 
er  Inhalt  und  Methode:  weil  Kant  im  Gegensatz  zum  Dogma- 
tismus ein  formales  a  priori  lehrte  von  transscendentaler,  nicht 
transcendenter  Art,  deshalb  hat  der  Begriff  transscendental 
einen  „methodischen,  formalen"  Werth,  und  deshalb  ist  die 
transscendentale  Erkenntniss  der  „Methode,  der  Art"  nach 
von  der  dogmatistischen  unterschieden;  es  scheint  somit  die 
Annahme  gerechtfertigt,  dass  „methodisch  und  formal'*,  ebenso 
wie  ,3Icthode  und  Art"  hier  etwa  dasselbe  ausdrücken  sollen. 
Es  ist  „ein  einziger  Gedanke,  durch  welchen  die  Metaphysik 
zur  Kritik  wird",  und  in  diesem  einzigen  Gedanken,  die  Mög- 
lichkeit des  a  priori  zu  erweisen,  besteht  zugleich  die  Methode 
des  Kriticismus    im   Unterschied    von   der   des   Dogmatismus: 


Zar  philosophischen  Methode.  H 

weil  Kant  zu  andern  Resultaten,  dem  „Transscendentalen'S 
gelangt,  deshalb  soll  er  eine  andere  Methode,  nämlich  die  „trans- 
scendentale  Methode^*  haben. 

Diese  Terminologie  entpricht  dem  Sprachgebrauche  Kant's, 
welcher  in  der  „transscendentalen  Methodenlehre''  ebenfalls 
Inhalt  oder  Resultat  und  Methode  identificirt,  indem  er  von 
„dogmatischer^'  und  „skeptischer''  Methode  spricht.  Zugleich 
hat  Kant  dort  noch  ein  unterscheidendes  Merkmal  seines  Knti- 
cismus  angegeben,  insofern  er  jede  „dogmatische  Methode  für 
unschicklich  erklärt  und  seine  Yernunftkritik  als  „warnende 
Negativlehre"  bezeichnet,  da  sie  für  das  Wissen  nur 
„negative''  Ergebnisse  habe:  demgemäss  würde  man  wohl 
am  Passendsten  nach  Kaufs  Vorgang  von  seiner  „negativen" 
Methode  reden,  oder  auch  mit  Rucksicht  auf  den  „einzigen 
Gedanken,  durch  welchen  Metaphysik  zur  Kritik  wird",  von 
seiner  „möglichen"  Methode.  Wer  diese  Bezeichnungen 
für  unzulässig  hält,  mag  seine  Gründe  dagegen  mittheilen. 

Wenn  man  weiss,  in  welchem  Sinne  Kant  das  Woit 
Methode  braucht,  so  wundert  man  sich  nicht  mehr  darüber, 
dass  er  die  „Kritik  der  reinen  speculativen  Vernunft  einen 
Tractat  von  der  Methode"  nennt;  denn  diese  Kritik  ist  als 
„warnende  Negativlehre"  die  Methode,  das  Wissen  aufzuheben, 
um  für  den  Glauben  Platz  zu  bekommen,  lieber  diese  Me- 
thode, das  Glauben  gegen  alle  Angriffe  zu  schützen,  hat  Kant 
sich  in  der  transscendentalen  Methodenlehre  ziemlich  ausführlich 
verbreitet;  vergl.  den  I.  Artikel  des  Verf.:  Ueber  den  Begriff 
der  Erfahrung  (I.  Jahrgang  HI.  Heft  dieser  Zeitschrift).  Mit 
dieser  Erörterung  stimmt  eine  gelegentliche  Aeusserung  Kant's 
vollkommen  überein ,  in  welcher  er  die  Methode  als  ein  „Ver- 
fahren nach  Principien  der  Vernunft"  bezeichnet  (IV,  275 
ed.  Hartenskin):  bei  der  Vertheidigung  des  Glaubens  muss  man 
„von  den  Principien  der  Vernunft,  nicht  von  den  zufalligen 
Factis  der  Erfahrung"  ausgehen,  oder  wie  Kant  an  einigen 
andern  Stellen  noch  deutlicher  sagt:  Ueber  das  Dasein  Gottes 
und  die  künftige  Welt  muss  die  Vernunft  zuerst  sprechen, 
sonst  geräth  man  in  „Atheisterei";  ferner:  die  Theologie  ist  der 


12  C.  Göring: 

gemeinen  Menschenvernunft  ebenso   begreiflich  als  den  Philo- 
sophen, ja  diese  müssen  sich  an  jener  orientiren. 

Hieraus  erhellt  nun  die  nähere  Beschaffenheit  des  Ver* 
fahrens,  welches  Kant  in  seinen  erkenntniss-theoretischen  Unter- 
suchungen anwandte;  bevor  er  diese  beginnt,  kennt  er  bereits 
das  Ziel,  bei  welchem  sie  unter  aUen  Umständen  anzulangen 
haben.  Dieses  Ziel  sind  die  „Vernunftideen'^  die  „eigentlidien 
Objecte  aller  Metaphysik'- ,  für  deren  Annahme  das  „zufallige 
Factum'^  genügt,  dass  sie  als  Ideen  bei  einem  Theile  der 
Menschen  vorhanden  sind.  Um  sie  gegen  den  „Skepticismus^^ 
zu  sichern,  nimmt  Kant  zu  den  beiden  Stämmen  der  Erkennt- 
niss,  Sinn  und  Verstand ,  mit  denen  er  in  seiner  vorkritischen 
Periode  ausgereicht  hatte,  später  noch  die  Vernunft  als  das 
„Vermögen  der  Ideen'^  an,  und  theilt  diese  nun  wieder  ein  in 
die  theoretische  und  praktische  Vernunft;  denn^  wie  er  selbst 
nachdrücklich  einschärft,  es  giebt  zwar  keinen  theoretischen 
wohl  aber  einen  praktischen  Glauben  an  das  Uebersinnliche.  Sinn 
und  Verstand  müssen  demgemäss  so  eingeschränkt  werden, 
dass  sie  über  die  „höchsten  Angelegenheiten  des  Menschen- 
geschlechts^^, die  Vernunftwahrheiten,  nicht  mitreden  können; 
deshalb  beziehen  sich  ihre  Erkenntnisse  nur  auf  Phäuomena, 
weisen  jedoch  über  diese  auf  die  Neumena  hinaus.  Hierin 
liegt  der  eigentliche  „meUiodische  Werth**  des  formalen  oder 
transscendentalen  a  priori,  und  die  eigentliche  „methodische 
Richtung'^  dieser  Lehre.  Hiernach  kann  es  nicht  befremden, 
dass,  wie  Cohen  in  der  Vorrede  zu  „Kant's  Begründung  der 
Ethik'^  sagt,  ,4^1  den  Männern  der  Wissenschaft  transscendental 
noch  immer  im  Gerüche  des  Transscendenten  steht'S  oder, 
um  weiter  in  seiner  Sprache  zu  reden,  dass  sie  zwischen  der 
transscendenten  Methode  des  Dogmatismus  und  der  „transscen- 
dentalen Methode^^  des  Kriticismus  keinen  wesentlichen  Unter^^ 
schied  finden.  Denn  beide  überschreiten  die  Erfahrung  in 
gleicher  Weise;  Kant  hebt  zwar  das  „nothwendige*'  Wissen  des 
Dogmatismus  auf  und  behalt  nur  den  Inhalt  dessdben  als 
„möglich^^  beiy  aber  auch  bei  ihm  ist  die  Erfahrung  dieser  Mög- 
lichkeit uDtei^eordnet,  wie  im  Dogmatismus  der  Nothwendigkeit. 


Zur  philoeophischen  Methode.  13 

Dies  ergiebt  sich  schon  aos  der  ,,iniintf  wiederkehrenden  Ver-^ 
ttcberung  der  absdUiten  Sicherheit  und  in  Sonderheit  der  apo- 
dictischen  Gewistbeit^*  des  a  priori  (Jacobson  a.  a.  0.  S.  S). 
Das«  der  Dogmatismus  ein  materiales,  der  Kritidsmus  ein 
formales  a  priori  hat,  kann  in  Besiehung  auf  die  Metbode 
nur  für  denjenigen  einen  Unterschied  begründen ^  dem,  wie 
Cohen  a.  a  O.  S.  lY.  ,,der  Satz  der  transscendentalen  Methode 
als  wissenschalUiche  Wahrheit  von  der  gleichen  Bedeutnng  wie 
einer  der  logischen  Grundsätze  gilt^',  weil  er  nämlich  in  der 
apriorischen  Erfahrung*^  des  Kriticismus  die  ganze  philo- 
sopUsche  Wahrheit  zu  haben  glaubt,  welche  als  Ganzes  für  ihn 
nieht  weiter  discutirbar  au  sein  schont  Wer  dagegen  für 
Gründe  überhaupt  noch  zugänglich  ist,  wird  zwar  die  Auf- 
hebung der  dogmatischen  Metaphysik  durch  Kant  als  epoche- 
machend für  die  deutsche  Phik)sopkie  anerkenne»  und  dem 
Gedanken  einer  Kritik  oder  kritischen  Theorie  der  £rkenntms8 
(freilich  nicht  des  ErkeMUnissvermögens)  grossen  Werth 
für  die  philosophische  Entwickelung  beilegen,  aber  er  wird  zu- 
gleich zugestehen  müssen,  dass  die  Kantische  Ausfährung  dieses 
Gedankens  deshalb  auch  ihrer  Methode  nach  dogmatistisch  ist, 
weil  sie  den  Hauptzweck  des  Dogmatismus,  wenn  auch  auf  be- 
sondere Weise,  ebenfalls  erreichen  wollte.  Daher  wird  man 
die  Behauptung  Gohen's,  dass  durch  den  einzigen  Gedankt 
nach  der  Möglichkeit  des  a  priori  ^  fragen,  Metaphysik  zur 
Kritik  werde,  dalun  modificiren  müssen,  dass  eine  richtige  Ant- 
wort auf  diese  Frage  die  Unmöglichkeit  des  a  priori  ergeben 
hatte,  und  dass  durch  ein  wahrhaft  methodisches  Verfahren  an 
die  Stelle  der  Metaphysik  eine  kritische  „Theorie  der  Erfahrung^, 
aber  nicht  einer  „apriorischen  Erfahrung^^  g^reten  wäre.  Statt 
dessen  mnaste  Kant  für  seinen  Zweck  die  apodictische  Gewiss- 
heit des  a  priori  ron  vornherein  annehmen,  und  seine  Ver- 
nunftkritik wurde  daher  lediglich  von  dem  Bestreben  geleitet^ 
dieses  a  priori  zu  beweisen,  nicht  aber  eine  yoraussetzungslose 
Untersuchung  über  die  „Möglichkeit''  desselben  anzustellen.  Die 
berühmte  Frage:  Wie  sind  synthetische  Urtlieile  a  priori  mög- 
lich ?  nebst  der  dem  Inhalt  nach  gleichwerthigen :  wie  ist  „Er- 


14  .  C.  Göring: 

fahrung*^  möglich,  d.  h.  eine  Erfahrung,  weiche  synthetische 
Urtheile  a  priori  enthält?  erhält  nur  dann  einen  kritischen 
Anstrich,  wenn  man  vergisst,  dass  der  Schwerpunkt  ausschliess- 
lich in  dem  ^^Wie'^  liegt,  weil  das  dass  von  vornherein  fest- 
steht; orientirt  man  sich  dagegen  aus  der  Beantwortung  über 
die  dogmatistischen  Voraussetzungen,  aus  welchen  die  Frage 
hervorgegangen  ist;  so  findet  man,  dass  die  „transscendentale 
Fragestellung^^  ganz  ebenso  dogmatistisch  ist  wie  die  „trans- 
scendentale Methode^S 

Das  charakteristische  Merkmal  alles  dogmatischen  Philo- 
sophirens  ist  das  ^^Yerfahren  nach  Principien  der  Vernunft'', 
oder  weniger  euphemistisch,  dafür  aber  sachlicher  ausgedrückt, 
das  Verfahren  der  Untersuchung,  unbegründete  Voraussetzungen 
unwissenschaftlicher  Art  zu  Grunde  zu  legen,  welche  als  das 
absolut  oder  apodiktisch  Gewisse  das  A.  und  0.,  den  Ausgangs- 
und Zielpunkt  aller  Erörterungen  und  Beweise  bilden.  Es 
handelt  sich  dabei  gar  nicht  darum,  die  Wahrheit  zu  finden 
oder  Gewissheit  zu  erreichen,  sondern  etwas  vor  aller  metho- 
dischen Untersuchung  Feststehendes,  irgendwie  zu  „beweisen^'; 
den  nervus  probandi  bildet  eine  beliebige  Annahme,  welche 
aber  das  einzig  Feste  und  Respectirte  der  ganzen  Theorie  ist, 
während  man  über  alles  Uebrige  willkürlich  verfügt,  wobei  die 
entgegenstehenden  Thatsachen  ignorirt  oder  umgangen  werden. 
Ob  nun  dieses  Verfahren  transscendent  oder  transscendental 
heisst,  auf  die  Objecte  oder  auf  die  Erkenntniss  der  Objecte 
sich  richtet,  macht  keinen  hier  in  Betracht  kommenden  Unter- 
schied ;  die  transscendente  Methode  verwendet  das  vorausgesetzte 
materiale  a  priori,  noth wendige  Existenzen,  als  „Principien'S 
die  transscendentale  Methode  die  vorausgesetzten  nothwendigen 
Formen  der  Anschauung  und  des  Denkens,  das  formale  a  priori^ 
das  „apodictisch  Gewisse",  dessen  „Möglichkeit'^  sie  exst  nach- 
träglich aus  faktischen  Erkenntnissen  zu  erweisen  sucht: 
„Glücklicherweise  trifft  es  sich,  dass  Mathematik  und 
reine  Naturwissenschaft  synthetische  Urtheile  a  priori  enthalten/^ 
(Proleg).  Den  Nachweis  der  Nothwendigkeit,  bei  Kant  Mög- 
lichkeit seiner  Annahmen  führt  der  Dogmatismus  dadurch,  dass 


\ 


Zar  philosophischen  Methode.  15 

er  ihnen  entsprechende  ^^Vermögen^^  des  Intellecls  erfinde^ 
welche,  obzwar  selbst  unbewiesen,  doch  die  Richtigkeit  jener 
verbürgen  sollen,  wie  dies  bei  Kantus  »yVermögen  der  Ideen'', 
der  „Vernunft^'  ganz  besonders  deutlich  hervortritt.  Die  psy- 
chologische Untersuchung  entdeckt  in  ihrem  methodischen  Gange 
nichts  von  einem  solchen  Vermögen;  deshalb  muss  „Vernunft 
zuerst  sprechen*'  und  nun  rückwärts  wieder  durch  den  prac- 
tischen  Glauben  an  ihren  Ideen  sich  selbst  sicher  stellen  — 
der  bekannte  circulus  vitiosus,  nur  noch  gefährlicher  durch  das 
Hineinziehen  practischer  Momente.  Zugleich  zeigt  sich  hierbei 
recht  deutlich,  dass  es  von  den  Thatsachen  so  wenig  einen 
Zugang  zu  den  „Vernunftprincipien^'  Kant's  giebt,  wie  um- 
gekehrt von  den  letztern  zu  den  erstem;  denn  sowie  Kant 
selbst  die  „zufalligen  Facta"  zurückdrängte,  weil  sie  auf  das 
Gegentheil  seiner  feststehenden  Absicht  führen,  ebenso  blieben 
die  Resultate  seiner  von  den  ,,Vernunflprincipien''  beherrschten 
Erkenntnisstheorie  ausser  allem  Zusammenhang  mit  den  psy- 
chologischen und  erkenntniss- theoretischen  Thatsachen.  Für 
Kant  selbst  handelte  es  sich  auch  gar  nicht  darum,  Thatsachen 
und  Wirklichkeit  zu  erreichen;  er  wollte  in  erster  Linie  die 
Möglichkeit  der  drei  Vernunftideen  sicher  stellen,  und  seine 
auf  die  diesseitigen  Objecte  gerichtete  Erkenntnisstheorie  gipfelte 
in  seiner  „möglichen  Erfahrung*'.  Dass  zu  diesem  Zweck  seine 
apriorischen  Formen  nothwendig  waren,  dass  sie  auch  möglich, 
d.  h.  denkbar  sind,  kann  man  unbedenklich  zugestehen;  da- 
durch werden  sie  aber  noch  nicht  wirklich.  Wer  nun  die 
Möglichkeit  über  die  Wirklichkeit  stellt,  der  kann  sich  ja  hier- 
mit begnügen;  thut  er  es  nicht,  so  zeigt  er  eben  damit,  dass 
ihm  Wirklichkeit  doch  für  gewisser  gilt  als  Möglichkeit,  und 
hat  den  Roden  des  Kantischen  Kriticismus  verlassen.  Denn 
dieser  geht  von  der  Möglichkeit  aus  und  gelangt  auch  ganz  con- 
sequent  wieder  zur  Möglichkeit,  wie  man  ja  überhaupt  a  priori 
rein  logisch  oder  analytisch,  um  mit  den  vorkantischen  Dogma- 
tismus zu  reden,  nur  von  Gleichem  zu  Gleichem  gelangen 
kann.  Diese  Einsicht  war  der  alten  Metaphysik  geläufig  und 
wurde   von  ihr    mit  guten  Gründen  vertheidigt;    erst  Kant  hat 


16  C.  G5ring:  Zar  pMloMphischen  Kethode. 

durch  die  ^dem  Kritidsmus  unentbehrlichen^'  synthetischeii 
Urtheile  a  priori  diese  Grundbedingung  alles  wirklich  metho- 
dischen Verfahrens  aufgehoben  und  dadurch  in  logischer  und 
methodischer  Beziehung  einen  entschiedenen  Rückschritt  ein- 
gelmtet,  der  freilich  bei  ihm  selbst  weniger  deutlich  als  bd 
seinen  Nachfolgern  sichtbar  wurde. 

Leipzig.  C.  Görlng. 


Sumesansohauung  und  logisches  Gausalgesetz- 

Eine  Entgregnungr  auf  die  neuesten  Ausfühnuigrett 

Ton  E.  Zeller« 


Erster    Artikel. 

Nachdem  man  in  unsern  Tagen  vielfach  das  logische  Causal- 
geselz  und  dessen  Durchführung  geradezu  mit  einer  bestimmten 
Welt-  und  Naturansicht,  nämlich  derjenigen,  welche  nur  me- 
chanische Formen  des  Wirkens  kennt,  identificirt  hat,  war  es 
zur  dringenden  Aufgabe  geworden,  gegenüber  von  einem  solchen 
Dogmatismus  das  Causalgesetz  (und  mit  ihm  alle  übrigen  reinen 
Denkformen)  in  erneuter  und  schärferer  Weise,  als  es  durch 
Kant  geschehen  konnte,  darauf  anzusehen,  was  an  ihm  rein 
logisch,  und  was  dagegen  bloss  empirischen  Ursprunges  sei. 
Demgemäss  hatte  Verf.  dieses  in  seiner  neuesten  Schrift  ^)  den 
eingehenden  Nachweis  unternommen,  dass  das  logische  Causal- 
gesetz bis  jetzt  noch  gar  nicht  in  seiner  Reinheit  erkannt,  son- 
dern noch  durchweg  mit  dem  Verhältnisse  des  empirisch  realen 
Wirkens  vermengt  worden  sei,  und  dass  es  jetzt  erst  gelte, 
dasselbe  (ebenso  wie  alle  übrigen  Denkformen)  aus  dieser  em- 
piristischen Veräusserlichung ,  in  der  es  vor  allem  bei  Kant 
noch  erscheint,  zu  befreien  und  es  als  eine  blosse  Form  des 
Identitätsgesetzes   zu   erkennen.     Neuestens   hat  nun  aucli 


')  Logisches  Causalgesetz  und  natürliche  Zweckthätigkeit.  Zur 
Kritik  aller  Kantischen  und  nachkantischen  Begriffsverkehrung. 
Nördüngen  1877. 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.   III.  1.  2 


18  K.  Ch.  Planck: 

£.  Zeller  sowohl  über  das  logische  Causalgesetz,  als  auch  über 
dessen  angebliches  Yerhältniss  zur  Sinnesanschauung,  in  einer 
Weise  sich  ausgesprochen^),  die  es  nothwendig  macht,  auch  nach 
dieser  Seite  hin  unsern  Nachweis  zu  vervollständigen  und  ihn 
nicht  bloss  durch  eine  noch  genauere  Fassung  gegen  Missver- 
standnisse zu  sichern,  sondern  auch  über  das  Wesen  der 
Empfindung  und  Sinnesanschauung  die  wünschenswerthen  Er- 
gänzungen hinzuzufügen.  ^Handelt  es  sich  doch  dabei  um  Fragen, 
die  mit  den  Grundlagen  der  gesammten  Wissenschaft  im  tief- 
greifendsten Zusammenhange  stehen. 

Wir  stellen  zuerst  die  Zeller'sche  Auffassung  des  logischen 
Causalgesetzes  unserer  eigenen  gegenüber.  Nach  letzterer  ist 
der  Gegensatz  von  Folge  und  Grund  seinem  rein  logischen 
Sinne  und  Ursprünge  nach  noch  gar  kein  sachlicher  und 
realer^  sondern  entspringt  einfach  daraus,  dass  alles,  was 
das  denkende  Subject  als  wirklich  und  thatsächlich  betrachten 
niuss,  auch  ebendamit  (und  ganz  abgesehen  von  seinem  In- 
halte) als  ein  dem  Gesetze  der  Identität  gemäss  in  der 
objectiven  Wirklichkeit  enthaltenes  gedacht  werden  muss. 
Der  Gegensatz  der  Folge  und  ihres  zureichenden  Grundes  führt 
also  einfach  auf  den  von  Subject  und  Object  zurück,  darauf 
dass  für  alle  subjective  Setzung  eines  Wirklichen  als  gesetz- 
massige  Ergänzung  jenes  Identitätsverhältniss  zur  objectiven 
Wirklichkeit  gefordert  werden  muss.  AUer  sachliche  und  reale 
Unterschied  von  Ursache  und  Wirkung  dagegen  gehört  erst  den 
realen  Verhältnissen  an^  auf  welche  jenes  formale  Denkgesetz 
angewendet  wird.  Mit  diesem  Obigen  wollen  wir  nun  aber 
durchaus  nicht  sagen,  dass  auch  schon  das  gewöhnliche 
Denken  in  dem  bestimmten  empirischen  Falle,  in  welchem  es 
aus  einer  Thatsache  auf  den  ihr  entsprechenden  besonderen 
Grund  schliesst,  in  bewusster  Weise  jene  allgemeine 
Grundbedeutung  des  Gesetzes  im  Sinne  habe,  und  also  in  aus- 


')  In  den  „Vorträgen  und  Abbandlungen  philos.  Inhalts^', 
2.  Samml.  1877,  und  zwar  in  den  „Zusätzen"  zu  der  früher  schon 
erschienenen  Abhandlung  „Ueber  Bedeutung  und  Aufgabe  der  Er- 
kenntnisstheorie^^ 


SinnesanschaauDg  und  logisches  Causalgesetz.  19 

dräcklicher  Weise  an  das  Verhältniss  zur  Wirklichkeit  als 
solcher  denke.  Diess  ist  vielmehr  für  gewöhnlich  nicht  der 
Fall,  sondern  das  Denken  bleibt  ganz  innerhalb  des  bestimmten 
empirischen  Inhaltes  und  des  für  diesen  geforderten  besonderen 
Grundes.  Für  die  Nässe  des  Bodens  z.  B.,  diese  erst  von 
aussen  gekommene  Wirkung,  fordert  es  auch  eine  demgemässe 
äussere  und  zeitlich  vorausgegangene  Ursache,  den  Regen  oder 
ein  Schmelzen  von  Schnee  u.  s.  w.  Allein  was  ist  denn  nun 
die  rein  logische  Function  und  Gesetzmässigkeit,  die  sich 
hierin  vollzieht?  Doch  gewiss  nichts  Weiteres,  als  dass  für  jene 
Thatsache  ein  mit  ihrem  bestimmten  Wesen  in  Identität 
stehendes  Verhältniss  der  objectiven  Wirklichkeit 
gefordert  wird.  Alles  Uebrige,  dass  es  also  im  obigen  Falle 
jene  äussere  und  zeitlich  vorausgegangene  Ursache  ist,  gehört 
schon  dem  empirischen  Inhalte  an,  nicht  mehr  dem 
reinen  Denkgesetze  des  zureichenden  Grundes  selbst  Allein 
weil  das  Denken  für  gewöhnlich  schon  in  dem  bestimmten 
Inhalte  sich  bewegt,  welcher  einen  realen  Unterschied  von  Seiten 
innerhalb  des  Wirkungsverhältnisses  in  sich  schliesst,  so  hat 
man  übersehen / dass  das  reine  Denkgesetz,  das  auf  diese  be- 
stimmten Verhältnisse  angewendet  wird,  doch  nur  eben  jenes 
oben  bezeichnete  formale  Identitätsgesetz  ist.  Nach  dieser  rein 
logischen  Seite  kommt  also  der  bestimmte  Inhalt  der  be- 
treffenden Thatsache  gar  nicht  in  Betracht,  sondern  einfach  für 
die  Thatsache  als  solche  wird  gefordert,  dass  sie  dem  Gesetze 
der  Identität  gemäss  in  der  Wirklichkeit  enthalten  sei.  Jene 
Nässe  des  Bodens  wäre  ein  Widerspruch,  wenn  nicht  1)  die 
Wirklichkeit  einen  dieser  Thatsache  entsprechenden  Inhalt  in 
sich  schlösse,  und  wenn  nicht  derselbe  2)  in  der  Natur  der 
Wirklichkeil  als  solcher  läge.  Diese  letztere  Seite  ist  dann 
diejenige,  zufolge  welcher  auch  wieder  für  den  Regen,  für  diese 
empirische  Ursache,  ein  zureichender  Grund  gefordert  werden 
muss  u.  s.  f. 

Diese  Natur  des   logischen  Causalgesetzes^  tritt  daher  auch 
sogleich  ganz  klar  hervor^  sobald  es  für  sich,  als  allgemeiner 

Grundsatz,  gedacht   wird:  alles  Wirkliche   muss  als  solches 

2* 


20  K.  Ch.  Planck: 

seinen  zureichenden  Realgrund  haben.  Hier  bleibt  dann  für 
den  Sinn  des  zureichenden  Realgrundes  durchaus  nichts  mehr 
übrig,  als  eben  jenes  dem  Gesetze  der  Identität  gemässe  Ent- 
haltensein in  der  Wirklichkeit  als  solcher.  Und  indem  also 
dieses  Denkgesetz  in  bewusster  philosophischer  Weise 
angewendet  wird,  so  wird  es  zu  der  Forderung,  dass  alles 
Wirkliche  seinen  wesentlichen  Formen  nach  aus  dem  erst  zu 
erkennenden  und  richtig  zu  voUziehenden  Begriffe  der  Wirk- 
lichkeit als  solcher  sich  ergebe  (eine  Forderung,  deren  einfache 
und  aus  der  Kritik  der  reinen  Denkformen  von  selbst  sich  er- 
gebende Durchfuhrung  S.  17  ff.  der  oben  genannten  Schrift 
bezeichnet  ist).  Erhebt  sich  nun  auch  das  gewöhnliche  Be- 
wusstsein  zu  dieser  bewussten  und  universellen  Consequenz  des 
logischen  Causalgesetzes  nicht,  so  verehrt  es  doch  auch  dann, 
wenn  es  nur  von  einer  bestimmten  und  empirischen  Folge  auf 
den  entsprechenden  besonderen  Grund  schhesst,  sachlich  und 
unbewusst  nach  jenem  reinen  Denkgesetze,  und  die  oben  ge- 
gebene Formulirung  desselben  spricht  nur  in  bewusster  Weise 
sein  rein  logisches  Wesen  aus. 

Zell  er  nun  (S.  516  a.  a.  0.)  stimmt  mit  dem  Obigen 
scheinbar  darin  zusammen,  dass  auch  er  ein  allgemein  giltiges 
Denkgesetz  des  Grundes  unterscheidet,  durch  dessen  An- 
wendung auf  die  Erfahrung  erst  sich  uns  das  „Causalitäts- 
gesetz",  d.  h.  das  des  realen  Geschehens  ergebe,  üeber  die 
nähere  Beschaffenheit  dieses  Causalzusammenhanges  bestimme 
ebendarum  das  Causalgesetz  in  seiner  Allgemeinheit  nichts,  son- 
dern nur  an  der  Hand  der  Erfahrung  seien  die  verschiedenen 
Arten  des  Causalzusammenhanges  festzustellen.  Diese  Unter- 
scheidung eines  allgemein  giltigen  Denk  gesetzes  und  wiederum 
der  bestimmten  empirischen  (realen)  Form  4es  Causalzusammen- 
hanges, die  über  jenes  blosse  Denkgesetz  ganz  hinausliege, 
scheint  nun  ganz  dem  zu  entsprechen,  was  auch  Verf.  dieses 
will.  Insbesondere  würde  sich  so  auch  für  die  Willens- 
freiheit dieselbe  Consequenz  ergeben,  dass  sie  nämlich  zur 
bloss  logischen  Noth wendigkeit,  zu  jenem  allgemein  giltigen 
Denkgesetze  (als  einem  noch  bloss  formalen),  keinen  Gegen- 


i 


Sinnesanschauung  und  logisches  Causalgesetz.  21 

satz  bilde,  sondern  dass  erst  die  bestimmte  reale  Form,  welche 
das  Causalverhällniss  in  der  Willensfreiheit  hat  (der  unsinnliche 
Act  der  Selbstbestimmung)^  das  unterscheidende  Wesen  der- 
selben ausmache.  Wir  halten  daher  auch  jedenfaUs  dieses 
Zugestandniss  eines  universell  giltigen  und  von  aller 
empirischen  Causalitätsf orm  zu  unterscheidenden  D e n k - 
gesetzes  (oder  einer  allgemein  logischen  und  hierin  für 
alles  und  jedes  Wirkliche  giltigen  Nothwendigkeit)  als 
ein  sehr  werthvoUes  fest,  da  es  über  die  empiristische  Kantische 
Fassung  des  Gausalitätsgesetzes  als  eines  nur  für  die  Erscheinungs- 
welt giltigen  ganz  hinausgeht  und  so  viel  bereits  in  sich  schliesst, 
dass  logische  Nothwendigkeit  nicht  mehr  mit  mechani- 
schem Causalzusammenhang  (auch  nicht  mit  dem  Kantischen 
„Naturmechanismus'')  identificirt  werden  darf. 

Allein  ganz  anders  gestaltet  sich  nun  freilich  diess  alles, 
sobald  wir  genauer  sehen,  wie  Zeller  jenes  sogenannte  Denk- 
gesetz des  Grundes  seinerseits  auffasst.  Es  besteht  ihm  darin, 
dass  „die  Verknüpfung  des  Mannigfaltigen,  in  welcher  das 
Denken  besteht,  eine  nothwendige  ist,  dass  sie  durch  den  In- 
halt der  zu  verknüpfenden  Vorstellungen  gefordert  ist;  und 
diess  wird  dann  der  Fall  sein,  wenn  die  eine  von  diesen  Vor- 
stellungen ohne  die  andere  sich  nicht  vollziehen  lässt,  wenn 
aus  der  einen  die  andere  mit  Nothwendigkeit  hervorgebt,  wenn 
jene  der  Grund  ist,  diese  die  Folge''.  Es  kann  kein  Zweifel 
sein,  dass  mit  diesem  Verhältnisse  eine  sachlichelnhalts- 
verschi^denheit  der  betreffenden  Vorstellungen  gemeint  ist, 
bei  welcher  aus  dem  Inhalt  der  einen  die  andere  mit  logischer 
Nothwendigkeit  folgt.  Wober  aber  haben  wir  solche  Vor- 
stellungen, woher  jenes  „Mannigfaltige'S  das  in  solcher 
Weise  logisch  verknüpft  wird?  Doch  gewiss  nur  aus  dem 
Empirischen;  nur  der  empirische  Vorstellungsinhalt 
begründet  für  das  Denken  diesen  nothwendigen  Fortgang  von 
der  einen  Vorstellung  zu  einer  sachlich  andern.  Hiernach 
haben  wir  in  dieser  Zeller'schen  Auffassung  jenes  sogenannten 
Denkgesetzes  nicht  nur  eine  ganz  andere  als  unsere  eigene, 
sondern   wir  haben  auch  eben  diejenige  wieder,   welche  Verf. 


22  K.  Ch.  Planck: 

dieses  in  seiner  ganzen  Schrift  bekämpft  hat,  jene,  welche 
den  Gegensatz  von  Folge  und  Grund  als  eine  sachliche 
Inhalts  Verschiedenheit  fasst  und  vom  Inhalt  einer  Vor- 
stellung aus  auf  eine  andere  kommt,  während  nach  unserer 
Auffassung  das  Denkgesetz  des  zureichenden  Realgrundes  ganz 
abgesehen  vom  Inhalte  des  betreffenden  Objects  einfach 
daran  sich  knüpft,  dass  es  als  wirklich  gesetzt  wird.  Und 
dass  wir  auch  in  jener  Zellep'schen  Fassung  wieder  eine  Ver- 
mengung mit  dem  Empirischen  haben,  nicht  aber  ein 
reines  Denkgesetz,  zeigt  ja  schon  das  Obige,  und  ergibt  sich 
noch  bestimmter  aus  den  weiteren  Consequenzen. 

Dass  nämlich  jenes  angebliche  reine  Denkgesetz  des  Grundes, 
von  dem  Zeller  spricht,  sich  nur  erst  auf  Vorstellungen, 
auf  ihre  noth wendige  Verknüpfung  bezieht,  während  dann 
hie  von  die  Anwendung  dieses  Denkgesetzes  auf  die  Dinge 
und  Vorgänge  der  Erfahrung  unterschieden  wird,  welche  den 
Gegenstand  des  Denkens  bilden,  —  diess  ändert  an  dem  oben 
Gesagten  durchaus  nichts.  Denn  auch  ein  blosser  Vorstellungs- 
inhalt jener  obigen 'Art  muss  doch  eben  aus  dem  Empirischen 
entnommen  sein.  Durchaus  nur  diesem  gehört  ein  solches 
„Mannigfaltiges*'  an,  das  einen  nothwendigen  Fortgang  zu  einem 
sachlich  Andern  enthält.  Es  ist  also  mit  jener  Zeller'schen 
Unterscheidung  durchaus  nichts  gewonnen;  das  angebliche  all- 
gemeine Denkgesetz  ist  doch  von  vorn  herein  schon  kein  reines 
Denkgesetz  mehr,  sondern  ein  an  empirischem  Inhalt  wirksames 
und  auf  diesen  bezogenes,  also  selbst  ein  bereits  angewendetes. 
Und  die  Forderung,  dass  dieses  Gesetz  auch  für  die  wirklichen 
Dinge  und  Vorgänge  der  Erfahrung  gelten  müsse,  diese  so- 
genannte „Anwendung'',  macht  für  das  Wesen  und  den  Inhalt 
dieses  Gesetzes  nichts  mehr  aus.  Wenn  also  Zeller  dennoch 
mit  Recht  die  bestimmte  Form  des  Causalzusammenhanges  von 
dem  allgemeinen  Causalgesetze  selbst  unterscheidet,  so  hat  er 
hiebei  unbewusst  Widersprechendes  neben  einander  gestellt,  da 
auch  schon  der  Vorstellungsinhalt  seines  angeblichen  allgemeinen 
Denkgesetzes,  dieses  „Mannigfaltige",  sachlich  bqjreits  empirische 


Sinnesanschauung  und  logisches  Causalgesetz.  23 

und  bestimmte  Formen  des  Causalzusammenhanges  in  sich 
schliessen  muss. 

Aber  auch  -gerade  darin,  dass  jenes  Zeller'sche  Denkgesetz 
schon  für  das  Verhäitniss  blosser  Vorstellungen  gilt, 
liegt  noch  ein  weiterer  Beweis  von  der  Unrichtigkeit  dieser 
Auffassung  des  logischen  Causalgesetzes.  Denn  ein  zureichender 
Realgrund  wird  ja  doch  nur  für  dasjenige  gefordert,  was  als 
wirklich;  als  thatsächlich  giltig  zu  betrachten  ist.  In- jenem 
Zeller'schen  Denfcgesetze  dagegen  handelt  es  sich  bloss  um  den 
nuthwendigen  Fortgang  von  einer  Vorstellung  zu  einer  andern, 
darum,  dass  die  eine  nicht  ohne  die  andere  zu  denken  ist. 
Und  dabei  kommt  noch  das  ViTeitere  hinzu,  dass  dieser  Fort- 
gang ebenso  gut  von  einem  Grund  zu  einer  Folge 
fortführen  kann,,  als  von  einer  Folge  7U  deren  Grunde. 
Was  hat  denn  aber  jenes  erstere  Verhäitniss  mit  dem  Denk- 
gesetz des  zureichenden  Realgrundes  zu  schaffen?  Dieses 
Gesetz  hat  ja  eben  darin  sein  Wesen,  dass  es  immer  und 
überall  nur  den  zureichenden  Grund  fordert,  alles  Wirkhche 
als  Folge  eines  zureichenden  Realgrundes  fasst.  Dagegen  der 
logische  Fortgang  von  einem  Grunde  zu  einer  daraus  sich  er- 
gebenden Folge  gehört  nicht  melu*  hieher,  sondern  dieser  ist 
nur  eine  bestimmte  und  schon  durch  ein  empirisches  Inhalts- 
verhältniss  bedingte  Anwendung  von  dem  Gesetze  des  logi- 
schen Grundes,  indem  der  vorausgesetzte  Grund  das  Denken 
so  bestimmt,  dass  es  auch  dessen  Folge  damit  verbinden  muss, 
mag  nun  darin  ein  blosses  Verhäitniss  von  Vorstellungen  oder 
ein  thatsächhch  bestehendes  ausgesagt  sein.  Immer  ist  es  schon 
ein  bestimmtes  Consequenzurtheil  (dergleichen  z.  B.  auch  die 
mathematischen  sind),  das  schon  irgend  welches  empirische 
Inhalts  verhäitniss  zum  Gegenstande  hat.  Es  handelt  sich 
dabei  zwar  auch  um  eine  Gesetzmässigkeit  und  Nothwendig- 
keit,  aber  nicht  mehr  nur  um  jenes  reine  und  allgemeine  Denk- 
gesetz, sondern  schon  um  irgend  ein  bestimmtes  empirisches 
Verhäitniss  eines  Vorstellungsinhaltes. 

Und  so  ist  denn  auch  von  hieraus  wieder  klar,  dass  der 
rein   logische  Ursprung   des  Gegensatzes   von   Grund   und 


24  K.  Ch.  Planck: 

Folge  nicht,  wie  Zeller  will,  in  jener  nothwendigen  Verknüpfung 
eines  „Mannigfaltigen''  und  in  dessen  Inhalt  liegen  kann,  da 
diess  vielmehr  nur  in  die  alte  Kantische  Vermengung  mit 
dem  empirisch  realen  Gegensatze  von  Ursache  und  Wirkung 
zurückführt.  Sondern  der  wahre  rein  logische  Ursprung  jenes 
Gegensatzes  knüpft  sich  durchaus  nur  daran,  dass  alles,  was  das 
Subjectals  wirklich  setzt,  auch  als  ein  dem  Gesetze  der 
Identität  gemäss  in  der  objectiven  Wirklichkeit  ent- 
haltenes gedacht  werden  muss.  Nur  so  bleibt  das  logische 
Causalgesetz(w.ornach  jedes  Wirkliche  seinen  zureichenden  Grund 
haben  muss),  ganz  in  derselben  Weise  ein  rein  formales  Denk- 
gesetz, wie  der  Satz  A  =  A,  und  nur  so  ers<iheint  es  als  die 
volle  und  natürliche  Parallele  zu  dem  subjectiveren  Gesetze  des 
logischen  Grundes,  wornach  das  Denken  nichts  als  wirklich 
denken  und  aussagen  darf,  was  ihm  nicht  als  objective  That- 
sache  irgendwie  gegeben  ist.  (Vgl.  hierüber  das  Genauere  a.  a.  0. 
S.  6  ff.,  26  ff.)  Dass  wir  diess  alles  auch  gegenüber  von  Zeller 
nochmals  nachweisen  mussten,  mag  allerdings  damit  zusammen- 
hängen, dass  unsere  Auffassung  des  logischen  Causalgesetzes^ 
ohne  jene  oben  gegebene  (wiewohl  selbstverständliche)  Erläute- 
rung, gegenüber  von  der  gewöhnUchen  Anwendung  jenes  Ge- 
setzes, die  ganz  innerhalb  des  empirisch  Besonderen  sich  be- 
wegt, als  eine  fremdartig  abweichende  und  schon  zu  philosophisch 
gefärbte  erscheinen  kann.  Allein  wie  diess  also  nur  ein  falscher 
Schein  ist,  so  zeigt  sich  auch  in  dem  Obigen  nur,  wie  tief 
gewurzelt  in  der  bisherigen  Auffassungsweise  jener  Grundfehler 
ist,  und  wie  selbst  bei  einem  solchen  Streben,  das  zwischen 
dem  allgemeinen  Denkgesetze  und  den  empirischen  Formen  des 
Causalzusammenhanges  scheiden  will,  doch  noch  die  Gefahr 
des  Zurückfallens  in  jenen  Grundfehler  vorhanden  ist. 

Von  dem  allen  haben  wir  nun  auch  die  Anwendung  zu 
machen  auf  Zeller's  Vertheidigung  der  Helmholtzischen  und 
Schopenhauer'schen  Ansicht,  dass  die  gegenständliche  Sinnes- 
anschauung auf  einem  durch  das  logische  Gausalgesetz  be- 
stimmten „unmittelbaren  Schlüsse^'  (aus  einer  Einwirkung  auf 
deren  Ursache^  beruhen  soll. 


Sinnesanschauang  und  logisches  Causalgesetz.  25 

Ist  nämlich  das  rein  logische  Causalgesetz  bis  jetzt  noch 
durchweg  verwechselt  mit  seiner  Anwendung  auf  das  empirisch 
reale  Wirkungsverhältniss,  und  wird  hiebe!  der  logisch  formale 
Gegensatz  von  Folge  und  Grund  vermengt  mit  der  empirisch 
sachlichen  Inhalts  Verschiedenheit  von  Ursache  und  Wirkung, 
so  ist  auch  ebendamit  die  Gefahr  da,  dass  das  un sinnlich 
formale  Gesetz,  welches  das  Denken  auf  den  empirischen 
Gausalzusaramenhang  anwendet,  nicht  mehr  nach  diesem  seinem 
specifischen  Unterschiede  festgehalten  und  erkannt  wird.  Es 
kann  dann  um  so  eher  das  blosse  sinnlich  psychische 
Innewerden  einer  gegenstandlichen  Einwirkung  (und  darin  ihrer 
Ursache)  verwechselt  werden  mit  einem  Yerstandesacte,  der 
aus  einer  gegebenen  Einwirkung  auf  deren  Ursache  schliesst 
Dass  eine  solche  Verwechslung  bei  jener  obigen  Erklärung  der 
Sinnesanschauung,  vor  allem  der  des  Gesichtssinnes,  stattfinde, 
diess  ist  schon  in  den  betreffenden  Abschnitten  unserer  Schrift 
nachgewiesen  (S.  98  If.,  153  ff.)«  und  diess  hat  auch  Zelier 
durch  die  Art  seiner  Vertheidigung  bestätigt. 

S.  513  nämlich  a.  a.  0.  wird  gesagt:  „Wenn  wir  unsere 
Wahrnehmungen  auf  Dinge  ausser  uns  beziehen,  so  kann  diess 
nur  dadurch  geschehen,  dass  wir  sie  als  eine  Wirkung  dieser 
Dinge  betrachten/'  Wir  stimmen  hiemit  ganz  überein,  falls 
jener  Ausdruck,  dass  wir  sie  „auf  Dinge  ausser  uns  beziehen'^ 
richtig  verstanden  und.  angewendet  wird.  Allein  eben  hier  liegt, 
wie  wir  sehen  werden,  eine  Ungenauigkeit  und  Verwechslung 
zu  Grunde.  „Denn",  heisst  es  nun  weiter,  „da  die  Dinge  selbst 
ausser  uns  bleiben,  da  uns  in  den  Vorstellungen,  deren  Stoff 
die  Empfindungen  uns  liefern,  nicht  die  Dinge  gegeben  werden, 
sondern  nur  ihr  Bild,  so  lässt  sich  schlechterdings  kein  anderer 
Weg  denken,  auf  dem  wir  zur  Anschauung  der  Dinge  kommen 
könnten:  diese  Anschauung  entsteht  uns,  wie  diess  schon  Hume 
und  Kant  nachgewiesen  haben,  und  unter  den  gegenwärtigen 
Forschern  namentlich  Helmholtz  mit  Recht  annimmt,  durch 
einen  Schluss  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache."  Wir  sehen 
hier  von  der  Behauptung,  dass  uns  durchaus  nicht  die  Dinge, 
sondej'n  nur  deren  Bild  gegeben  werde,  vorerst  noch  ab,   weil 


26  K.  Ch.  Planck:  / 

wir  ihr  gleich  weiter  unten;  vor  allem  hinsichtlich  des  Gesichts- 
sinnes, werden  entgegentreten  müssen.  Zunächst  haben  wir 
den  Zusammenhang  zwischen  dem  letzten  und  dem  voraus- 
gehenden Satze  Zeller's  in  das  Auge  zu  fassen.  In  der  Art 
nämlich,  wie  der  zweite  jenen  ersteren  begründen  soll,  liegt 
offenbar  enthalten,  dass  die  „Anschauung  der  Dinge''  ein 
„Beziehen  unserer  Wahrnehmungen  auf  Dinge  ausser 
uns"  in  sich  schliesse.  Eben  diess  aber  müssen  wir  von  der 
blossen  Sinnesanschauung  durchaus  leugnen.  Die  Anschauung, 
welche  in  unserer  unmittelbaren  Sehempfindung  stattfindet,  ent- 
hält trotz  ihrer  eigenthümlichen  Objectivität,  durch  welche  sie 
sich  von  andern  SinnesaufTassungen  unterscheidet^  dennoch  noch 
durchaus  nichts  von  einer  Vorstellung  von'  Dingen 
ausser  uns.  Diese  oder,  wenn  wir  es  anders  ausdrücken 
sollen,  jenes  „Bezieben  auf  Dinge  ausser  uns",  ist  durchaus  erst 
durch  eine  Setzung  möglich,  dass  etwas  ausser  uns  sei; 
diese  aber  gehört  erst  dem  Denken  an,  und  nur  eine  solche 
Setzung  kann  sich  als  ein  Schluss,  krall  des  logischen  Causal- 
gesetzes,  vollziehen.  In  jener  unmittelbaren  Sinnesanschauung 
dagegen  ist  von  einer  solchen  Setzung  noch  gar  nichts  ent- 
halten. Sie  ist  noch  blosses  Innewerden  dieser  sub- 
jectiven  Erscheinungsform  eines  gegenstandlich  Herein- 
scheinenden und  insofern  Hereinwirkenden  (ein  Verhältniss, 
über  dessen  natürliche  Begründung  unten  die  Rede  sein  wird). 
Dazu  aber  ist  weder  ein  Schluss  nöthig,  noch  kann  überhaupt 
diess  auf  einem  Schlüsse  beruhen,  da  es  ja  noch  keinerlei 
Setzung  eines  Dings  ausser  uns  in  sich  enthält,  sondern  nur 
eine  in  eigenthümlich  objectiver  Form  erscheinende  sub- 
jective  Bestimmtheit.  Ein  causalgesetzlicher  Schluss  jener 
obigen  Art  dagegen  würde  durchaus  die  Setzung  eines  gegen- 
ständlichen Grundes  ausser  uns  in  sich  schliessen,  was  in 
jener  blossen  Sinnesauffassung  gar  nicht  enthalten  ist.  Diese 
enthält  im  Gegensatze  zu  jener  Setzung  eines  Dings  ausser  uns 
psychisch  noch  nichts  Weiteres,  als  jene  subjective  Empfindungs- 
beslimmtheit,  obgleich  dieselbe  im  Unterschied  von  andern  Sinnen 
diesen    eigenthümlich    objectiven    Erscheinungscharakter    trägt 


Sinnesanschauung  und  logisches  Causalgesetz.  27 

Und  so  wird  also  in  jener  Theorie  die  blosse  subjective  Er- 
scheinungsform eines  einwirkenden  Gegenstandes,  diess  blosse 
innewerden  der  eigenthürolichen  Nervenbestimmtheit,  mit  der 
logisch  causalgesetzlichen  Setzung  eines  Grundes  ausser  uns 
verwechselt. 

Sollte  es  freilich  ein  wirklicher,  von  der  SinnesaufTassung 
selbst  zu  unterscheidender  Denkact  sein,  der  damit  gemeint 
wäre,  dann  würde  allerdings  der  obige  Einwurf  gegen  ihn  nicht 
gelten.  Allein  es  wäre  dann  auch  nicht  einzusehen,  wie  dieser 
Denkact  oder  Schluss  der  von  ihm  ganz  verschiedenen  Sinnes- 
auffassung jenen  specifisch  gegenständlichen  Charakter  sollte 
geben  können.  Auch  hat  die  Bezeichnung  jener  Schlüsse  als 
unmittelbarer  und  unbewusster  ihren  vollen  und  specifischen 
Sinn  doch  nur,  wenn  sie  gar  nicht  als  eigentlicher  (sei  es  auch 
nur  mit  der  Macht  unmittelbarer  Gewohnheit  wirksamer)  Denkact 
aufgefasst  werden,  sondern  überhaupt  in  ein  gar  nicht  so  be- 
wusstes,  niedereres  Gebiet  der  psychischen  Thätigkeit  verlegt 
werden.  Soll  nun  aber,  damit  jene  gegenständliche  Gestaltung 
der  Sinnesanschauung  erklärlich  werde,  jener  unmittelbare 
Schluss  in  die  SinnesaufTassung  als  solche  verlegt  werden,  so 
erhalten  wir  eine  ganz  widersprechende  Durcheinanderwirrung 
vöUig  verschiedener  psychischer  Thätigkeiten.  Denn  die  Sinnes- 
auffassung ist  noch  ein  unmittelbares  Unterscheiden  eigenthüm- 
lich  besonderer  Theilbestimmtheiten  des  eigenen  Nervenlebens; 
sie  ist  also  noch  unmittelbare  empfangliche  Beziehung  auf  eine 
von  ihr  selbst  unabhängige,  aus  dem  Nervenzustand  an  sie 
kommende  Einwirkung.  Der  Schluss  auf  einen  objectiven  Real- 
grund dagegen  ist  eine  Thätigkeit,  die,  wie  wir  gesehen  haben, 
von  einer  Setzung  aus,  d.  h.  von  der  Unterscheidung  eines 
Objects  als  wirklichen  und  thatsächlichen,  dem  Gesetz  der 
Identität  gemäss  selbstthätig  auf  ein  nicht  Gegebenes 
zurückgeht,  nämlich  eben  darauf,  dass  jenes  Object  dem  Gesetz 
der  Identität  gemäss  in  der  Wirklichkeit  als  solcher  enthalten 
sein  müsse.  Und  diese  logisch  formale  und  unsinnliche  Natur 
des  Schlusses  wird,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  durch  seinen 
empirisch  besonderen  Inhalt,  wornach  für  eine  gegenständliche 


^ 


28  K.  Ch.  Planck: 

Einwirkung  auf  das  Subject  (jenen  ,,Reiz")  eine  entsprechende 
einwirkende  Ursache  gefordert  würde,  durchaus  nicht  verändert 
Wie  nun  jene  obige  vom  unsinnlich  formalen  Identitatsgesetz 
ausgehende  Thätigkeit  innerhalb  der  unmittelbaren  Sinnesauf* 
fassung  und  ihres  Verhaltens  sollte  stattfinden  können,  ist 
durchaus  unverstandlich.  Denn  selbst  die  sinnliche  Einbildungs- 
kraft, diese  schon  ungleich  selbständigere  und  innerlichere  Thätig- 
keity  welche  nicht  mehr  der  unmittelbaren  Sinnlichkeit,  sondern 
schon  der  Stufe  des  sinnlichen  Bewussts eins  angehört^  ent- 
hält noch  durchaus  keine  solche  reine  Unterscheidungsform, 
welche  ein  nicht  empirisch  gegebenes  Identitatsverhältniss  der 
betreffenden  Einwirkung  mit  der  objectiven  Wirklichkeit  fordern 
könnte.  Auch  noch  die  sinnhche  Einbildungskraft  enthält  vor- 
erst keinerlei  Setzung  eines  Wirklichen,  sondern  sie  bleibt 
noch  unmittelbar  in  ihre  besonderen  sinnlichen  Bilder  (in  diese 
verinnerlichten  Sinnesempfindungen)  versenkt.  Sie  unterscheidet 
ferner  an  ihren  Bildern  zwar  auch  Uebereinstimmung,  Aehn- 
lichkeit  und  Gegensatz,  aber  sie  wird  das  Verhältniss  der  neuen 
BesÜQimtheit  zur  früheren  doch  nur  in  der  unmittelbar  sach- 
lichen Form  inne,  dass  sie  es  eben  an  dem  besonderen  sinn- 
lichen Bilde  selbst  empfindet;  nicht  aber  kann  sie  gleich  dem 
Denken  Identität  oder  Widerspruch  als  solche,  als  dieses 
formaleVerhältniss,  unterscheiden.  Gilt  diess  aber  noch 
von  der  sinnlichen  Einbildungskraft,  so  muss  es  noch  mehr 
von  der  unmittelbaren  Sinnesauffassung  und  Sinnesanschauung 
gelten.  Statt  der  wirklichen,  noch  unmittelbar  leidentllch  auf 
die  Nervenbestimmtheiten  bezogenen  Sinnesauffassung  muss  da- 
her erst  etwas  ganz  Anderes^  eine  idealistisch  selbstthätige  Unter- 
scheidungsform,  unterschoben  werden,  damit  von  einem  der- 
artigen causalgesetzlicheu  (wenn  auch  „unbewussten^^  oder  „un- 
mittelbaren") Schlüsse  überhaupt  die  Rede  sein  kann.  Denn 
der  causalgesetzUche  Schluss  aus  einer  Einwirkung  auf  deren 
objective  Ursache  schliesst  durchaus  schon  eine  solche  Unter- 
scheidungsform in  sich;  welche  von  aller  unmittelbaren  Rück- 
beziehung auf  jene  Theilbestimmtheiten  des  Nervenlebens  (auch 
von  einer  solchen,  wie  in  der  sinnUchen  Einbildungskraft)  ge- 


Sinnesanschauung  und  logisches  Causalgesetz.  29 

schieden  und  frei  ist,  also  an  sich  selbst  inhaltslos,  unsinnlich 
und  formal  ist.  Nur  eine  solche  Unterscheidungsform,  die  schon 
die  reinen  inhaltslosen  Formen  des  Objects  überhaupt  und 
seiner  Verhältnisse  in  sich  schliesst  (wie  diess  das  Wesen  der 
Denkformen  ist),  ist  sowohl  jener  Setzung  eines  Objects  als 
wirklichen,  wie  jener  daran  geknüpften  causalgesetzlichen  Forde- 
rung fähig,  mag  auch  gleich  diese  letztere  in  eine  ganz  be- 
stimmte empirische  Jnhaltsform  eingehüllt  sein. 

Dass  nun  aber  dennoch  der  unmittelbaren  Sinnesanschauung 
selbst  eine  mit  ihr  so  unvereinbare  logisch  formale  Selbstthätig- 
keit  unterschoben  werden  konnte,  dazu  hat  freilich  ausser  jener 
Vermengung  des  logischen  Causalgesetzes  mit  dem  empirischen 
€ausalzusammenhang  auch  noch  die  jetzige  Theorie  der  Sinnes- 
auffassung selbst  mitgewirkt.  Denn  diese  bringt  durch  ihre 
bloss  mechanische  Auffassung  der  Nervenwirkungen  nothwendig 
bis  zu  einem  gewissen  Punkte  eine  noch  einseitig  active  und 
idealistisch  subjective  Auffassung  der  psychischen  Sinnesthätig- 
keit  mit  sich ;  und  diese  Seite  kommt  denn  auch  bei  der  Zeller'- 
sehen  Auffassung  nothwendig  mit  in  Betracht. 

(Zweiter  Artikel  im  nächsten  Heft.) 

Blaubeuren.  R.  Ch.  Planck. 


1 


üeber  die  Anwendung  des  Begriffes  von  Gesetzen 

auf  die  Sprache. 


Wenn  eine  Hauptaufgabe  wissenschaftlicher  Philosophie 
darin  besteht,  das  Yerhältniss  der  einzelnen  Wissenschaften  zu 
einander  und  zur  Philosophie  als  ihrem  Mittelpunkte  zu  über- 
wachen, die  Wechselwirkung  zwischen  dem  Ganzen  und  den 
Theilen  der  Wissenschaft  zu  regeln  und  zu  fördern,  besonders 
durch  bestandige  Kritik  der  gemeinsamen  Grundbegriffe  aller 
oder  mehrerer  Disciplinen,  so  ist  es  wol  zeitgemäss,  unter 
andern  den  Begriff  des  Gesetzes  zum  Gegenstand  einer  Unter- 
suchung in  der  angegebenen  Richtung  zu  machen.  Es  ist  dies 
auch  schon  geschehen^  zuerst  von  RümeUn  in  seiner  Abhand- 
lung „lieber  den  Begriff  eines  socialen  Gesetzes^*  (Zeitschr.  f.  d. 
ges.  Staatswissensch.  1868^  pag.  129 — 150),  dann  von  Eucken 
in  seiner  „Geschichte  und  Kritik  der  (?bundbegriffe  der  Gegen- 
wart", 1878,  pag.  115  ff.  Beide  fanden  sich  veranlasst^  vor 
voreiliger  Anwendung  des  Wortes  „Gesetz"  auf  Wissensgebiete 
zu  warnen,  welche,  wenigstens  gegenwärtig  noch,  die  Aufstellung 
von  Gesetzen  nicht  mit  Sicherheit  zulassen.  Alle  Wissenschaften 
streben  wol  nach  Auffindung  und  Darstellung  von  Gesetzen, 
aber  nicht  alle  sind  darin  gleich  weit  vorgeruckt,  und  die  Be- 
deutung des  Wortes  ist  in  den  einzelnen  Wissenschaften,  in 
welchen  es  bereits  üblich  geworden  ist^  jedenfalls  in  höherem 
Maasse   verschieden,  als   man   gemeinhin  zu  bedenken  scheint. 


L.  T  0  b  1  e  r :  lieber  d.  Anwend.  d.  Begr.  v.  Gesetzen  a.  d.  Sprache. ;-)  1 

Das  die  moderne  Wissenschaft  unverkennbar  beseelende  Be- 
streben, die  Scheidewand  zwischen  Natur  und  Menschen  weit 
auf  möglichst  vielen  Punkten  zu  durchbrechen  und  das  ge- 
sammte  Menschenwesen,  also  auch  die  Geschichte,  als  natür- 
liche Entwicklung  zu  begreifen,  hat  dazu  geführt,  dass  miui 
Naturgesetze  oder  ein  Analogon  derselben  auch  da  suchen  will 
oder  bereits  gefunden  zu  haben  glaubt,  wo  man  bisher  nur 
sitthche  oder  staatliche  Gesetze  gekannt  hatte.  Von  dieser  Sphäre 
ist  ja  auch  das  Wort  „Gesetz*'  und  die  entsprechenden  Wörter 
der  übrigen  Cultursprachen  ursprüngüch  ausgegangen;  und  wenn 
ein  so  einsichtiger  und  eifriger  Vertreter  der  Naturwissenschatten 
wie  Huxley  (Beden  und  Aufsätze,  pag.  16  der  Uebersetzung)  die 
Bildung  des  Wortes  ,;Naturgesetz'^  ;,eine  unglückliche  Metapher'' 
genannt  hat,  so  lohnt  es  sich  wohl  der  Mühe,  zunächst  einmal 
zu  untersuchen,  wie  man  überhaupt  zu  jener  Uebertragung  des 
Wortes  gelangen  konnte. 

In  der  That  besteht  ja  zwischen  Naturgesetzen  und  Sitten- 
oder Staatsgesetzen  nicht  bloss  der  Unterschied,  der  eben  in 
den  das  Geltungsgebiet  bezeichnenden  Attributen  ausgedrückt 
ist,  sondern  durch  diese  ist  auch  der  Begriff  von  Gesetz  selbst 
sehr  verschieden  bestimmt  Zwar  sind  auch  die  sogenannten 
Naturgesetze,  wenn  man  sie  noch  so  sehr  als  objective  Mächte 
hypostasirt;  Producte  menschlicher  Thätigkeit,  aber  diese  ist 
hier  die  rein  theoretische  Erkenntniss,  im  Gebiete  der  Sittlich- 
keit und  Gesellschaft  aber  ist  es  eine  praktische  Thätigkeit  des 
Willens,  von  welcher  und  für  welche  Gesetze  geschaffen  sind. 
Diese  Gesetze  sind  Geglinstände  besonderer  Wissenschaften, 
der  Ethik,  Jurisprudenz  u.  s.  w.,  aber  nicht  Producte  wissen- 
schaftlicher Thätigkeit,  und  erst  wenn  es  jenen  Special  Wissen- 
schaften gelänge,  die  Thätigkeit  der  sittlichen  und  staatlichen 
Gesetzgebung  selbst  wieder  auf  Gesetze  zurückzuführen^ 
wären  diese  etwas  Naturgesetzen  Entsprechendes.  (Vgl.  Jahrg.  1, 
pag.  552^  dieser  Zeitschrift.)  Wenn  Proudhon  sagt,  Gesetze 
werden  weder  von  Fürsten  noch  von  Völkern  gegeben,  son- 
dern von  der  Wissenschaft  gefunden  und  ausgesprochen,  so 
ist  damit   freilich   der   {^ewöhnUclie  Begriff  von  Gesetzen   ganz 


32  L-  Tobler: 

aufgehoben  und  der  von  wissenschaftlichen  Naturgesetzen,  auch 
für  das  menschliche  Leben,  als  allein  gültig  aufgestellt;  es  liegt 
also  darin  jenes  Streben  der  modernen  Wissenschaft  nach 
monistischer  Welterklärung  ausgesprochen ,  welches  heute  noch 
nicht  erfüllt  werden  kann ;  aber  der  für  einmal  noch  bestehende 
Unterschied  zwischen  zwei  Arten  von  Gesetzen  ist  durch  den 
zwischen  geben  und  finden  ganz  richtig  ausgedrückt  und 
damit  hängt  ja  auch  die  verschiedene  Art  der  Geltung  zusammen. 
Die  Naturgesetze  sprechen  ein  reales  Sein  oder  Geschehen, 
eigentlich  nicht  einmal  ein  Müssen  aus,  die  ethischen  und 
politischen  ein  nur  ideales  Sein,  aber  umsomehr  ein  Sein- 
So  11  en,  und  dieser  Unterschied,  so  tief  greifend  er  ist,  be- 
darf keiner  weiteren  Erörterung.  Aber  es  muss  doch  auch 
etwas  Gemeinsames  geben,  sonst  wäre  die  Uebertragung  des 
Wortes  „Gesetz'*  vom  einen  Gebiet  auf  das  andere  unbegreif- 
lich, sie  müsste  denn  auf  der  blossen  Vorstellung  einer  gewissen 
Aehnlichkeit  beruhen,  welche  zwischen  beiden  Gebieten  besteht, 
insofern  wir  sie  uns  überhaupt  von  irgend  einer  Ordnung  be- 
herrscht denken,  die  im  Menschen  ein  Gefühl  von  Sicherheit 
und  auch  etwas  von  ästhetischem  Wohlgefallen  erweckt.  Aber 
in  der  That  liegt  eine  tiefere  Uebereinstimmung  gerade  dort, 
wo  der  Unterschied  am  tiefsten  zu  gehen  scheint.  Die  Natur- 
gesetze erfahren  keinerlei  Widerstand  oder  Verletzung,  sie 
werden  immer  erfüllt,  während  die  menschlichen  Gesetze  durch 
den  Willen  oft  genug  durchbrochen  oder  umgangen  werden: 
aber  es  ist  doch,  so  wesentlich  es  sonst  sein  mag,  für  den 
Begriff  eines  menschlichen  Gesetzes  selbst  etwas  Zufälliges,  ob 
es  im  einzelnen  Falle  erfüllt  werde  oder  nicht:  seine  Gültigkeit 
oder  sein  Anspruch  auf  Geltung  bleibt  ebenso  ungebrochen, 
ausnahmslos,  absolut  wie  die  eines  Naturgesetzes.  Hier  also,  in 
dieser  Ausnahm slosigkeit  der  Forderung^  liegt  der  springende 
Punkt  der  Uebereinstimmung  und  dieses  eine  Merkmal  genügte, 
um  die  Sprache  zur  Uebertragung  des  Wortes  von  dem  ur- 
sprünglichen Gebiete  seiner  Bedeutung  auf  das  der  Natur  zu 
veranlassen.  Wenn  die  deutsche  Sprache,  bei  ihrer  nur  allzu 
grossen  Leichtigkeit  in  Bildung  von  zusammengesetzten  Wörtern, 


Ueber  die  Anwendung  d.  BegrifiFes  v.  Gesetzen  a.  d.  Sprache.  33 

das  Compositum  „Naturgesetz'',  zu  bilden  erlaubte,  so  ist  der 
mit  der  Worteinheit  ^eugte  Schein  einer  neuen  Begriffseinheit 
hier  nicht  trügerischer  als  bei  manchen  ähnlichen  Wortbildungen, 
dergleichen  auch  im  wissenschaftlichen  Sprachgebrauch  vor- 
kommen. Eine  grosse  Glasse  der  deutschen  Nominalcomposita 
ist  so  beschaffen ,  dass  das  ganze  Wort  eine  Species  des  im 
zweiten  Theil  enthaltenen  Begriffes  bezeichnet.  Wo  nun  das 
zweite  Wort  einen  hinlänglich  bekannten,  meistens  einfachen 
und  sinnlichen  Gegenstand  bezeichnet,  dem  durch  das  erste  ein 
specielles  Merkmal  zugeschrieben  wird,  ist  der  Begriff  des 
Ganzen  meistens  in  der  angegebenen  Weise  richtig  gebildet. 
Wo  dagegen  das  zweite  Wort  einen  abstracten  oder  complicirten 
Gegenstand  bezeichnet,  dessen  Begriff  vielleicht  selbst  noch  etwas 
streitig  ist,  nimmt  der  durch  die  Composition  entstehende  Begriff 
des  Ganzen  an  der  Unsicherheit  des  Grundbegriffes  Theil  und 
es  entstehen  auf  diesem  Wege  neue  Begriffe,  welche  oft  etwas 
noch  Problematisches,  gleichsam  nur  Heuristisches  an  sich  tragen. 
Das  hindert  solche  Begiiffe  nicht,  als  wirksame  Hebel  gerade 
bei  fortschreitender  wissenschaftlicher  Forschung  zu  dienen,  zu 
welchem  Zwecke  Wörter  jener  Art  oft  wirklich  erst  geschaffen 
werden;  aber  man  darf  nie  vergessen,  dass  der  so  erzeugte 
neue  Begriff  nur  eine  vorläufige,  versuchsweise  Geltung  hat, 
indem  er  als  Exponent  für  einen  Inhalt  dienen  soll,  der  noch 
nicht  empirisch  vollständig  gesammelt  oder  kritisch  bereinigt 
ist.  Es  kann  sogar  der  Fall  sein,  dass  die  beiden  TheUbegriffe 
des  Compositums  einander  fast  widerstreiten  und  ausschliessen, 
ohne  dass  man  darum  Anstand  nimmt,  den  scheinbar  sich  selbst 
widersprechenden  oder  den  Grundbegriff  aufhebenden  Total- 
begriff zu  bilden  und  zu  gebrauchen.  Die  Apperception ,  auf 
der  solche  Wortbildungen  beruhen,  geschieht,  wie  alles  Sprach- 
hche,  mehr  durch  die  Phantasie  als  durch  den  logischen  Ver- 
stand ;  sie  haben  daher  etwas  Poetisches,  ohne  darum  zu  wissen- 
schaftlichem Gebrauche  untauglich  zu  sein,  so  lange  denselben 
das  Bewusstsein  der  ursprünglichen  Tragweite  und  Bestimmung 
des  Wortes  begleitet.     Einige  Beispiele,  aus  der  gemeinen  und 

Vierteljahrssclirift  f.  wisBenschAftL  Philosophie,    in.  1.  3 


34  ^  Tobler: 

aas  der  wissenschafUichen  Sprache,  mögen  hier  folgen,  um  die 
Möghchkeit  und  Leistungsfähigkeit  solcher  Begriffe  ins  Licht  zu 
setzen,  zu  denen  eben  auch  der  von  Natur-  und  Sprachgesetzen 
zu  gehören  scheint  Wir  wählen  daher  auch  die  Beispiele  zum 
Theil  aus  dem  Begriffskreise  von  Staat  und  Sprache. 

Bei  T  a  u  f  e  scheint  uns  wesentUch  das  Element  des  Wassers ; 
aber  trotzdem  bilden  wir  das  Compositum  Feuertaufe,  welches 
seine  prägnante  Bedeutung  gerade  aus  dem  Contrast  mit  der 
gewöhnhchen  Vorstellung  empfangt.  —  Bei  Geld  ist  die  Vor- 
stellung von  geprägtem  Metall  zwar  nicht  ursprünglich  gegeben, 
da  das  Wort  eigentUch  nur  „Leistung''  und  dann  „Gegenwerth'S 
„Vergeltung''  bedeutet ;  aber  wir  haben  uns  doch  längst  gewöhnt, 
zunächst  an  klingende  Münze  zu  denken  und  das  hält  uns 
nicht  ab,  den  Gegensatz  dazu  ausdrücklich  als  Papiergeld 
zu  bezeichnen.  —  Als  eine  der  ersten  und  zugleich  höchsten 
Culturschöpfungen,  die  den  Menschen  vom  Thier  unterscheide, 
betrachten  wir  den  Staat;  aber  wir  können  nicht  umhin,  den 
Bienenstaat  als  eine  in  seiner  Art  ebenso  vollkommene  Ein- 
richtung zu  bewundern.  —  Ganz  unverfangHch  erscheinen  uns 
die  Bezeichnungen  Wort-  und  Sprachstamm,  Sprach- 
bau, Satzglied  und  ähnliche,  weil  wir  uns  der  blossen  Bild- 
hchkeit  in  der  Vergleichung  der  Sprache  mit  einer  Pflanze 
oder  einem  thierischen  Körper  deutlich  bewusst  bleiben;  aber 
bei  Geberdensprache  und  Bilderschrift  ist  wieder 
ein  förmlicher  Gegensatz  im  Spiele,  da  wir  sonst  bei  Sprache 
und  Schrift  ohne  Weiteres  an  Laute  als  Elemente  beider 
denken.  —  Offenbar  verfänglich  und  doch  beliebt  und,  geläufig 
sind  Ausdrücke,  wie  Pflanzenseele,  Natur-  und  Völker- 
recht, Völkerpsychologie.  „Pflanzenseele"  klingt  aller- 
dings mehr  mythologisch  und  poetisch  als  wissenschaftlich,  aber 
neuestens  spricht  man  ja  schon  von  Zellenseelen,  welche  viel- 
leicht jene  entbehrlich  machen!  —  Vom  Rechte  wird  wohl  heute 
ziemhch  allgemein  zugegeben,  dass  es  nur  als  positives  existirt; 
aber  der  alte  Name  Naturrecht  lässt  sich  doch  nicht  verdrängen. 
Dass  ein  Völkerrecht  nur  als  Ideal  der  Gelehrten  und  Menschen- 
freunde  existirt,  erfahren   wir  jeden  Tag;  aber  eben   darum 


Ueber^die  Anwendung  d.  Begriffes  v.  Gesetzen  a.  d.  Sprache.  35 

kann  der  Ruf  nach  Herstellung  einer  internationalen  Autorität 
nicht  verstummen,  lieber  den  Namen  Völkerpsychologie 
hat  man  anfängUch  die  Achsel  gezuckt,  er  bezeichnet  ja  auch 
noch  lange  keine  zu  Recht  bestehende  Wissenschaft  und  würde 
wohl  besser  mit  Sociologie  vertauscht;  aber  thatsächlich  wird 
er  immer  häufiger  gebraucht  und  thut  seine  Dienste,  um  eine 
Wissenschaft  vorzubereiten,  ohne  welche  kißine  Philosophie  der 
Geschichte  möghch  werden  wird. 

Aehnlich  nun  wie  die  letztgenannten  Wörter  scheint  auch 
„Naturgesetz"  gebildet,  und  da  dieses  Wort  nun  einmal  ge- 
bräuchlich geworden  ist,  so  wäre  es  unfruchtbar^  dasselbe  be- 
kämpfen oder  verdrängen  zu  wollen.  Auch  ist  ja  unsere  ganze 
Abhandlung  nicht  direct  auf  diesen  Begriff  gerichtet,  sondern 
wir  mussten  ihn  nur  in  Betracht  ziehen,  weil  die  Sprachgesetze^ 
um  die  es  sich  für  uns  hauptsächlich  handelt,  als  Naturgesetze 
oder  als  Analoga  von  solchen  gedacht  werden.  Bevor  wir  also 
jene  untersuchen,  müssen  wir  genauer  zusehen^  wie  der  Begriff 
von  Gesetzen,  auf  die  Natur  angewandt,  sich  gestaltet  hat;  erst 
dann  können  wir  die  weitere  Uebertragung  desselben  auf  die 
Sprache  prüfen.  Zum  Voraus  muss  nur  noch  gesagt  werden, 
dass  mit  einer  allgemeinen  Versicherung,  Naturgesetze  und 
Sprachgesetze  seien  natürlich  „etwas  ganz  anderes"  als  Gesetze 
im  gewöhnlichen  Sinne,  d.  h.  sittliche  oder  staathche,  und  auch 
in  „Sprachgesetz"  habe  das  Wort  Gesetz  wieder  einen  anderen 
Sinn  als  in  „Naturgesetz",  die  Sache  nicht  erledigt  ist.  Wer 
diese  Ansicht  hegt,  der  mag  alles  Folgende  ungelesen  lassen: 
wir  schreiben  unter  der  Voraussetzung^  dass  ein  leeres  Spiel 
mit  Worten  in  der  Wissenschaft  nicht  vorkomme,  dass  also 
eine  gewisse  Continuität  des  Begriffes  in  den  drei  Gebieten 
aUerdings  zu  Grunde  liege;  nur  müssen  eben  Stufen  desselben 
unterschieden  werden.  Endhch  wollen  wir  noch  das  mögliche 
Missverständniss  abwehren,  als  handle  es  sich  um  die  Frage, 
ob  die  ganze  Natur  und  die  ganze  Sprache  irgend  welchen 
Gesetzen  gleichmässig  unterworfen  sei.  Biese  Frage  kann  aller- 
dings nicht  ganz  unberührt  bleiben,  aber  zunächst  fragt  es 
sich  weniger,  in   welchem  Umfang  der  Begriff  von  Gesetzen 


36  L-  Tobler: 

auf  Natur  und  Sprache   Anwendung   finde ,   als   in   welchem 
Sinne. 

Man  spricht  von  Gesetzen,  die  in  der  Natur  walten,  zu- 
weilen in  jenem  etwas  unbestimmten,  allgemeinen  Sinne,  wobei 
man  nur  an  eine  im  grossen  Ganzen  herrschende  Ordnung 
denkt,  welche  sich  allerdings  der  sittlichen  und  staatlichen 
vergleichen  lässt  und  etwa  in  den  Goethe'schen  Versen  aus- 
gesprochen ist: 

Das  Sein  ist  ewig,  denn  Gesetze 
Bewahren  die  lebendigen  Schätze, 
Aus  denen  sich  das  All  geschmückt. 

Man  mag  in  diesen  Versen  eine  Ahnung  des  Gesetzes  von 
der  Erhaltung  der  Kraft  finden  ^  aber  eine  Definition  des  Be- 
griffes „Gesetz*'  lasst  sich  aus  denselben  gewiss  nicht  ableiten. 
Der  wissenschaftliche  Gebrauch  des  Wortes  ist  denn  doch  etwas 
bestimmter,  wenn  auch  immer  noch  schwankend.  Nicht  selten 
versteht  man  unter  Naturgesetzen  gewisse  mit  Sicherheit  er- 
kannte und  für  den  Bestand  des  Naturlebens  sehr  wichtige 
Thatsachen  von  allgemeiner  Bedeutung,  welche  eine  Menge 
specieller,  sich  wiederholender  Erscheinungen  unter  einen  Ge- 
sichtspunkt zusammengefasst  darstellen,  aber  nicht  erklären. 
Von  dieser  Art  ist  etwa  die  gegenseitige  Ernährung  der  vege- 
tabilischen und  animalischen  Natur  durch  den  Umsatz  von 
Kohlensäure,  aber  auch  die  Bewegung  der  Planeten  um  die 
Sonne,  wenn  nur  die  Thatsache,  nicht  die  Art  und  Ursache 
derselben  ins  Auge  gefasst  wird;  ferner  der  Kreislauf  des 
Wassers  in  seinen  Verwandlungen  u.  dgl.  Sätze,  wie  die  in 
der  älteren  Naturwissenschaft  beliebten,  z.  B.  dass  die  Natur 
sparsam  sei,  dass  sie  keine  Sprünge  mache  u.  dgl.  würden, 
auch  wenn  sie  als  durchaus  richtig  erwiesen  wären,  keine  Gesetze 
ausmachen,  sondern  eben  höchstens  nützliche  und  interessante 
Wahrheiten  bleiben.  Der  strengere  und  engere  Sinn  des  Wortes 
„Gesetzes  auf  den  die  Wissenschaft  ihren  Gebrauch  desselben 
einschränken  sollte,  bezieht  sich  nicht  auf  fertige  allgemeine 
Thatsachen,  die  einfach  als  solche  hingestellt  werden,  sondern 
auf  Erklärung  des  lebendigen  Geschehens  aus   der  bestimmten 


Ueber  die  Anwendang  d.  Begriffes  v.  Gesetzen  a.  d.  Sprache.  37 

Wirkungsweise  von  Kräften.  Rumelin  erklärt  daher  Gesetz 
geradezu  als  die  Definition  von  Kräften,  und  scheinbar  um- 
gekehrt, sachlich  übereinstimmend,  erklärt  Helmholtz  (Vorträge, 
Heft  2,  pag.  190)  Kräfte  als  objectivirte  Gesetze,  wobei  der 
letztere  Begriff  naturlich  auf  seine  ursprünglich  subjective  (er- 
kenntnisstheoretische) Bedeutung  reducirt  ist.  (Vgl.  Jahrg.  I, 
pag.  565  dieser  Zeitschrift.)  Für  die  mehr  subjective  Fassung 
oder  Färbung  des  Begriffs  besteht  sonst  eben  ein  anderer  Aus- 
druck, nämlich  „Regel'',  und  die  beiden  Wörter  dürfen  jedenfalls 
einander  nicht  leichthin  gleichgesetzt  oder  promiscue  gebraucht 
werden;  aber  ihr  Unterschied  ist  auch  nicht  leicht  festzustellen 
und  die  Naturforscher  selbst  scheinen  über  denselben  nicht 
ganz  einig  zu  sein.  Von  dem  Begriff  „Regel''  gilt  wie  von 
„Gesetz'S  dass  er  auf  dem  Gebiete  menschlichen  Thuns  er- 
wachsen ist;  neben  dem  Sittengesetz  gibt  es  ja  Sittenregeln, 
Regeln  des  Anstandes,  auch  der  blossen  Klugheit  u.  s.  w.^ 
während  von  Regeln  der  Natur  selbst  Niemand  spricht^  sondern 
nur  von  Regeln  der  Beobachtung  und  Behandlung  der  Natur. 
Von  Gesetz  unterscheidet  sich  Regel  auf  dem  Gebiete  mensch- 
lichen Handelns  dadurch,  dass  das  Gesetz  «mehr  allgemeine 
Grundsätze  ausspricht,  die  Regel  mehr  die  Durchführung  und 
Ausführung  derselben  im  Einzelnen  betrifft. .  Damit  hängt  dann 
die  im  gemeinen  Sprachgebrauch  ziemlich  herrschende  Vor- 
stellung zusammen,  dass  ein  Gesetz  keine  Ausnahmen  erleide 
und  ertrage,  während  der  Satz  „keine  Regel  ohne  Ausnahme" 
wenigstens  sprichwörtliche  Geltung  hat  Auf  dem  Gebiete  der 
Naturwissenschaft  ist  der  Unterschied  zwischen  Gesetz  und  Regel 
ziemlich  entsprechend  dem  eben  angegebenen,  nur  mit  dem 
Unterschiede,  dass  R.egel  einen  etwas  weniger  vorgerückten, 
noch  nicht  bis  zu  allgemein  gültigen  Sätzen  durchgedrungenen 
Stand  der  Erkenntniss  andeutet.  Doch  wird  diese  Unterscheidung 
nicht  immer  gemacht  und  Lotze  (Logik,  pag.  382->83)  findet, 
die  sogenannten  Gesetze  seien  zuweilen  nur  die  einfachsten 
Regeln,  welche  die  Vermuthung  für  sich  haben,  dem  ob- 
jectiven  Verhalten  am  nächsten  zu  kommen.  Noch  weiter  geht 
in  dieser  Richtung  Preyer  (Ueber  die  Aufgabe  der  Naturwissen- 


38  L.  Tobler: 

Schaft,  pag.  25  fif.),  indem  er  für  Gesetze  die  Erkenntniss  der 
wirkenden  Ursache  verlangt.  Wenn  der  Begriff  des  Gesetzes 
so  erhöht  wird,  rückt  die  Regel  an  die  Stelle  desselben  und 
so  wird  denn  auch,  entgegen  dem  gemeinen  Sprachgebrauch, 
geradezu  gesagt ,  eine  Regel  mit  Ausnahmen  sei  keine  mehr. 
Regel  und  Gesetz  sollen  sich  unterscheiden  wie  Bedingtsein 
und  Bewirktsein,  bloss  functionelle  Abhängigkeit  und  wirkliche 
CausaUtat.  Daraus  folgt 'denn  freihch,  dass  Gesetze,  welche 
man  sonst  gerade  als  classische  Muster  des  Begriffs  anzuführen 
geneigt  war,  wie  das  Newton'sche,  demselben  nicht  Genüge 
leisten  und  dass  den  (bisher  bekannten  und  so  genannten) 
Gesetzen  zwar  nicht  Ausnahmen,  aber  Grenzen  ihrer  Gültigkeit 
nach  oben  und  unten  beigelegt  werden.  Wir  müssen  die  Er- 
ledigung dieser  Differenzen  den  Naturforschern  überlassen,  und 
können  es  um  so  eher,  da  wir  auf  den  Unterschied  zwischen 
Gesetz  und  Regel  bei  der  Sprache  zurückkommen  werden.  Hier 
ist  bloss  noch  die  Frage  zu  erheben,  ob  der  Begriff  von  Ge- 
setzen, in  seiner  bei  den  Naturforschern  vorherrschenden  be- 
scheideneren Bedeutung,  auf  dem  ganzen  Gebiet  ihrer  Wissen- 
schaft gleichmässige  Anwendung  finde.  Das  kann  allerdings 
nicht  verlangt  werden  und  ist  auch  keineswegs  der  Fall.  Die 
meisten  der  hochgepriesenen  Naturgesetze  betreffen  das  Gebiet 
der  unorganischen  Natur,  also  hauptsächlich  der  Physik  und 
Astronomie,  zum  Theil  auch  noch  der  Chemie  und  Mineralogie ; 
ihre  Sicherheit  verdanken  sie  der  Mitwirkung  der  Mathematik, 
in  deren  Form  sie  auch  meistens  gefasst  sind  oder  leicht  ge- 
bracht werden  können;  je  höher  man  im  Reich  des  Daseins 
aufwärts  steigt,  um  so  mehr  nimmt  die  Zahl  oder  die  Sicher- 
heit der  Gesetze  und  darum  auch  schon  der  Gebrauch  dieses 
Wortes  ab  und  um  so  weniger  kann  der  aus  der  anorganischen 
Natur  und  dem  Makrokosmus  gewonnene  Begriff  von  Gesetzen 
auf  die  Gestalten  und  Lebenserscheinungen  der  organischen 
Wesen  ohne  Abbruch  an  Gehalt  oder  Genauigkeit  angewandt 
werden.  Diese  Ansicht  kann  hier  allerdings  nicht  bewiesen 
werden  und  der  Nachweis  ihrer  Richtigkeit  durch  eine  Ueber- 
sicht  des   Besitzstandes   der   einzelnen   Wissenschaften   würde 


Ueber  die  Anwendung  d.  Begriffes  v.  Gesetzen  a.  d.  Sprache.  39 

Specialkenntnisse  voraussetzen,  die  wohl  Niemand  umfasst 
TeichmüUer  („Darwinismus  und  Philosophie*^)  scheint  eine  Ab- 
stufung ähnlicher  Art  anzunehmen,  wenn  er  in  der  Natur 
Daseinsformen  unterscheidet,  welche  von  unabänderlichen,  aus- 
nahmslosen Gesetzen  beherrscht  werden,  und  solche,  wo  dies 
nur  theilweise  der  Fall  sei.  Allerdings  sucht  die  heutige  Natur- 
forschung den  Unterschied  zwischen  unorganisch  und  organisch^ 
wie  den  zwischen  Natur  und  Geist,  fortschreitend  aufzuheben, 
also  auch  den  Organismus  auf  Mechanismus  zurückzuführen, 
aber  eben  dabei  stösst  sie  ja  noch  auf  Sdhranken,  welche  jenen 
Unterschied  empfinden  lassen.  Dies  ist  natürlich  noch  mehr  der 
Fall,  wo  sich  zu  dem  Physischen  das  Psychische  gesellt,  welches 
wohl  für  einmal  noch,  und  vielleicht  für  immer,  als  etwas 
spedfisch  Verschiedenes  stehen  bleiben  wird.  Damit  ist  nicht 
ausgeschlossen,  dass  die  Berührungen  zwischen  beiden  Gebieten, 
welche  zunächst  nur  an  der  untersten  Grenze  des  Psychischen, 
bei  den  psychischen  Elementarprocessen,  zu  suchen  sind,  auf 
Gesetze  und  mathematische  Formeln  gebracht  werden  können, 
und  es  haben  ja  auch  Versuche  auf  dem  Gebiet  der  Psycho- 
physik  bereits  zu  einigen  Ergebnissen  jener  Art  geführt.  So- 
gar wenn  wir  den  Boden  des  rein  Psychischen  betreten  (immer 
unter  der  Voraussetzung,  dass  d«n  psychischen  Functionen 
irgend  welche,  heute  noch  unbekannte,  physische  zu  Grunde 
liegen  oder  entsprechen),  brauchen  wir  nicht  auf  die  Entdeckung 
von  Gesetzen  zu  verzichten.  Denn  wenn  auch  Herbart^s  Ver- 
such;  solche  mathematisch  zu  formuliren,  als  verfrüht  oder  ganz 
verfehlt  zu  betrachten  ist,  so  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  das, 
was  Herbart  und  seine  Schule  für  die  Lehre  von  der  Ver- 
schmelzung und  Complexion,  Association  und  Reproduction  der 
Vorstellungen,  von  der  Entstehung  herrschender  Vorstellungs- 
massen und  von  der  Schwelle  des  Bewusstseins  gelehrt  haben, 
an  eine  psychische  Statik  und  Mechanik,  die  sich  mit  der 
physischen  vergleichen  lässt,  nahe  heran  reicht,  und  die  Auf- 
fassung der  Vorstellungen  als  Kräfte,  so  gut  wie  Nervenreize 
und  ihnen  entsprechende  Elementarempfindungen,  lässt  für 
Gesetze   noch   in   dieser  Sphäre  Raum.    Auch    die   mit  Vor- 


40  L-  Tobler: 

Stellungen  verbundenen  Gefühle  werden  nicht  ganz  unberechen- 
bar bleiben  und  die  Anfange  einer  inducliven  Begründung  der 
elementaren  Aesthetik  dürfen  nicht  gering  geschätzt  werden; 
denn  wenn  sie  auch  noch  nicht  zur  Entdeckung  eigentlicher 
Gesetze  geführt  haben  ^  so  ist  es  doch  schon  ein  bedeutender 
Fortschritt,  Gesetze  der  ästhetischen  Gefühle  auch  nur  zu 
suchen,  statt  der  hergebrachten  Phrasen  von  Gesetzen  des 
Schönen  und  der  Kunst,  wobei  das  Wort  „Gesetz*'  nur  jenen 
ganz  allgemeinen,  unbestimmten  Sinn  hat,  der  sich  aus  der 
Parallele  mit  den  moralischen  Gesetzen  entnehmen  lässt. 

Hiemit  aber  haben  wür  das  Gebiet  eigentlicher  Naturgesetze 
bereits  ziemlich  weit  überschritten  und  dasjenige  beti*eten^  dem 
jedenfalls  auch  die  Sprache  angehört,  jenes  Uebergangsgebiet 
zwischen  Natur  und  Geist,  wo  das  Wort  „Natur*'  eine  doppelte 
Bedeutung  hat,  indem  es  einerseits  noch  die  leibliche  Natur 
als  einen  Bestandtheil  des  Beiches  der  Organismen  bezeichnet, 
andererseits  den  Naturzustand  des  specifisch  menschlichen  Wesens 
als  eine  Vorstufe  der  Geschichte.  Bevor  wir  nun  die  Frage  der 
Sprachgesetze  in  Behandlung  ziehen,  müssen  wir  nur  noch  in 
Kürze  rückwärts  blickend  uns  klar  machen,  was  wir  aus  der 
Betrachtung  des  Gebietes  der  reinen  Naturgesetze  für  Fest- 
stellung des  Begriffes  „Gesetz"  überhaupt  und  eventuelle  lieber* 
tragung  desselben  auf  die  Sprache  gewonnen  haben.  Das  erste 
Merkmal  war  die  ausnahmslose  Geltung^  welche  einem  Ge- 
setze zukommt  und  durch  welche  es  sich  von  einer  Regel  unter- 
scheideL  Das  zweite  war  die  Voraussetzung  von  Kräften, 
deren  Wirkungsweise  das  Gesetz  angibt.  Wir  können  hier  noch 
hinzufügen,  dass  die  Kräfte,  wenn  sie  nicht  selbst  als  Wesen 
gedacht  werden,  Wesen  von  mehr  oder  weniger  Selbständig- 
keit voraussetzen,  in  welchen  sie  ihren  Bestand,  ihren  An- 
griffs- oder  Ausgangspunkt  haben.  Ein  drittes  Merkmal  war 
oben  noch  nicht  ausdrücklich  als  solches  genannt,  es  hängt  aber 
mit  dem  zweiten  zusammen  und  besteht  darin,  dass  Gesetze 
die  Form  hypothetischer  Urtheile  haben.  Daraus  folgt,  dass  all- 
gemeine  Sätze,  seien  sie  positiv  oder  negativ,  nicht  den  Namen 
von  Gesetzen  verdienen,  wenn  sie  nicht  bloss  sprachliche  Ver- 


üeber  die  Anwendui^  d.  Begriffes  v.  Gesetzen  a.  d.  Sprache.  41 

kürzuDgen  hypothetischer  Urtheilsform  sind,  deren  Conditional« 
satz  eben  das  nothwendige  Moment  der  Causalitat  zur  blossen 
Thatsächlichkeit  des  Hauptsatzes  hinzubringt.  (Vgl.  Lotze,  a.  a.  0. 
pag.  381.) 

Indem  wir  uns  endlich  der  Hauptfrage  zuwenden,  ob  der 
von  Naturgesetzen  abstrahirte  BegriflF  von  „Gesetz''  auf  die 
Sprache  anwendbar  sei,  bedarf  es  kaum  noch  einer  ausdrück-* 
liehen  Hinweisung  darauf,  dass  diese  Fragestellung  wesentlich 
verschieden  ist  von  der  Frage,  ob  überhaupt  auch  in  der  Sprache 
von  Gesetzen  in  irgend  einem  Sinne  die  Rede  sei.  Es  ist  be- 
kannt genug,  dass  gegenwärtig  jener  Ausdruck  beliebt  ist,  aber 
es  ist  auch  leicht  zu  erkenaen,  dass  das  Wort  „Gesetz''  dabei 
oft  nur  wieder  jene  allgemeine  Bedeutuhg  hat,  die  von  sitt- 
lichen und  staatlichen  Gesetzen  abstrahirt  ist  und  gerade  der 
Sprachwissenschaft  nicht  genügen  kann.  Es  werden  damit  oft 
nur  gewisse  im  Sprachgebrauch  feststehende  Thatsachen  von 
allgemeiner  Bedeutung  bezeichnet,  ohne  Rücksicht  auf  theo- 
retische und  insbesondere  historische  Ergründung  jenes  that- 
sächlichen  Bestandes.  In  diesem  Sinne  sagt  man  etwa,  eine 
Wortbildung  oder  Satzwendung,  die  ein  Einzelner  sich  erlaubt, 
Verstösse  gegen  die  Gesetze  der  Sprache  u.  dgl.,  gerade  wie 
man  im  Gebiete  der  Kunst  von  Verstössen  gegen  die  Gesetze 
der  Schönheit  im  Allgemeinen  oder  der  Symmetrie  etwa  im 
Besondern  spricht,  und  wie  man  im  Gebiete  der  Wissenschaft 
oder  des  praktischen  Lebens  Beobachtung  der  allgemeinen  Ge- 
setze der  Logik  verlangt,  welche  zuletzt  auf  unbeweisbaren 
Axiomen  beruhen.  Es  handelt  sich  also  dort  um  den  prak- 
tischen Gebrauch  der  Sprache,  um  die  Correctheit  des  Stils. 
Von  diesem  Sinne  des  Wortes  müssen  wir  den  unsrigen  um 
so  sorgfältiger  unterscheiden,  da  der  erstere  auch  in  wissen- 
schafüichen  Sprachgebrauch  übergehen  kann.  So  sagt  Helm- 
holtz  (Vortr.  1,  pag.  17):  Die  historischen  und  philologischen 
Wissenschaften  bringen  es  der  Regel  nach  nicht  bis  zur  Formu- 
lirung  streng  gültiger  allgemeiner  Gesetze,  mit  Ausnahme  der 
Grammatik,  deren  Gesetze,  durch  menschlichen  Willen  (wenn 
auch  nicht  gerade  in  bewusster  Absicht  und  nach  überdachtem 


42  L.  Tobler:      \ 

Plane)  festgestellt,  Demjenigen,  welcher  die  Sprache  erlernt,  als 
Gebote  gegenübertreten^  d.  h.  als  durch  fremde  Autorität  fest- 
gestellte allgemeine  Gesetze,  me  die  in  der  Theologie  und  Juris- 
prudenz behandelten.  —  Diese  Darstellung  mag  im  dortigen 
Zusammenhang  ihren  Sinn  haben,  aber  die  dort  so  genannten 
„Gesetze  der  Grammatik^'  sind  jedenfalls  von  dem,  was  die 
Fachmänner  heutzutage  unter  Gesetzen  der  Sprache  verstehen, 
sehr  verschieden.  Es  ist  nämlich  gerade  ein  Hauptunterschied 
der  modernen  Linguistik  von  der  älteren  Philologie,  dass  die 
Sprache  nicht  nach  Analogie  menschlicher  Satzungen  ^  sondern 
nach  Analogie  von  Naturwesen  betrachtet  wird,  nicht  mit  Rück- 
sieht  auf  ihren  litterarischen  Gebrauch,  sondern  auf  ihren  Ur- 
sprung und  Bestand  als  solchen.  Darum  hat  auch  die  Grammatik 
statt  ihres  früheren  präceptorischen  Charakters,  wie  er  noch  in 
der  Auffassung  von  Helmholtz  hervortritt,  den  descriptiven  an- 
genommen, wie  ihn  besonders  J.  Grimm  in  der  Vorrede  zum 
ersten  Band  seines  Hauptwerkes  ausspricht;  es  gilt,  die  Gesetze 
zu  finden,  denen  die  Sprache  selbst  bei  ihrer  Bildung  folgte, 
nicht  die,  welche  sie  dem  Gebrauche  vorschreibt  oder  welche 
von  eingebildeten  Lehrmeistern  ihr  zeitweise  aufgezwungen 
wurden.  Dass  man  bei  der  neuen  Methode  historisch  verfahrt, 
steht  mit  der  Betrachtung  der  Sprache  als  eines  Naturwesens 
nicht  in  Widerspruch,  seit  die  Naturwissenschaft  auch  eine  all- 
mähliche Entstehung  und  Umbildung  des  Planetensystems,  der 
Erdrinde  und  zuletzt  der  Organismen  erkannt  hat.  Dagegen 
steht  die  neue  Ansicht  im  Gegensatz  zu  der  älteren,  welche  in 
der  Sprache  nur  ein  Product  menschlicher  Erfindung  und 
WiUkür  sah,  und  freilich  aus  diesem  Gesichtspunkt  gerade  die 
der  Natur  am  meisten  zugekehrte  Seite  der  Sprache,  d.  h.  die 
rein  lautliche,  am  wenigsten  zu  begreifen  vermochte.  Diese 
bisher  vernachlässigte  Aufgabe  wurde  nun  in  den  Vordergrund 
gerückt,  und  da  ein  Extrem  immer  das  andere  hervorruft,  so 
konnte  es  nicht  ausbleiben,  dass  die  Naturseite  der  Sprache 
etwas  einseitig  herausgekehrt  und  am  Ende  die  Sprachwissen- 
schaft selbst  zu  den  Naturwissenschaften  gerechnet  wurde.  Sie 
ist   so   wenig   eine  Naturwissenschaft  als  die  Psychologie,   mit 


Ueber  die  Anwendung  d.  Begriffes  v.  Gesetzen  a.  d.  Sprache.  43 

der  sie  an  bestimmtea  Stellen  zusammenlrifit,  aber  schon  darum 
nicht  vereinigt  bleiben  kann^  weil  der  Vielheit  und  der  Geschichte 
der  einzelnen  Sprachen  wenigstens  im  Gebiete  der  Individual- 
Psychologie  nichts  entspricht.    Wie  aber  die  Psychologie  ihren 
Zusammenhang   mit  der  Physiologie  nicht  aufgeben  kann,  am 
wenigsten  im  unteren  Theil  ihres  Gebietes ,   so  muss  auch  die 
Sprachwissenschaft,  wo  es  sich  um  die  Laute  als  solche  handelt, 
an  die  Physiologie  anknüpfen,  und  da  diese  ihrerseits  die  Physik 
voraussetzt  und   zum  Theil  nur  auf  höherem  Boden  fortsetzt, 
so  ist  die  Möghchkeit  eröffnet,  in  der  Sprache  wirkliche  Natur- 
gesetze zu  suchen.    Doch  muss  die  Erwartung,  solche  zu  finden, 
zum  Voraus   dadurch   etwas   herabgestimmt  werden ,  dass  wir 
uns  hier  im  Gebiete  des  Organischen   und  zwar  der  höchsten 
Stufe  desselben  befinden,  wo  zufolge  den  obigen  Bemerkungen 
die  Zahl  und  Sicherheit  der  Gesetze  am   geringsten  sein  wird. 
Der  Sprachlauty  rein  als  Laut  betrachtet,  ist  in  seiner  Erzeugung 
etwas  Physiologisches  und  als  Gegenstand  der  Gehörwahrnehmung 
etwas  PhysikahscheS;  wie  ein  beliebiger  Naturlaut  oder  der  kunst- 
hch  hervorgebrachte  Ton  eines  Instrumentes;  nur  die  mit  arti- 
kulierten Sprachlauten  verbundene  Bedeutung  ist  etwas  specifisch 
Menschliches  und  Geistige»  und   die  Veränderungen  der  Laute 
stehen  mit  denen  der  Bedeutung  nicht  in  functionellem  Ver- 
hältniss.    So    bestände   freilich   innerhalb  der  Sprache,    welche 
doch    ein  in  sich  einstimmiges  Ganzes  zu  sein  scheint ,    ein 
Dualismus  des  Wesens  ihrer  Bestandtheile^  indem  die  Laute  als 
solche  reinen  Naturgesetzen   unterworfen   wären,    die  Formen 
und  Bedeutungen  aber   den  Gesetzen,   welche   das   gesammte 
geistige  Leben  beherrschen.    Wir  dürfen  uns  jedoch  von  solchen 
Bedenken  nicht  präoccupiren  lassen:  es  fragt  sich  einfach,   ob 
irgend   welche  Naturgesetze  in   der  Sprache    entdeckt  worden- 
seien.    Darauf  ist  zu   antworten,  dass  allerdings  meistens  nur 
im   Gebiet  der  reinen  Laute  von  Gesetzen   die   Rede  ist,   dass 
aber  die  sogenannten  Lautgesetze  von  vielen  Sprachforschern 
wirkhchen  Naturgesetzen  gleichgestellt  werden.  Es  ist  also  nur  zu 
prüfen,  ob  jene  Lautgesetze  dem  strengeren  Begriff  von  Natur- 
gesetzen genügen,  den  wir  oben  zu  diesem  Zweck  aufgestellt  haben. 


44  L.  Tobler: 

Einer  der  grössten  Fortschritte,  welche  durch  die  historische 
und  vergleichende  Sprachforschung  erreicht  worden  sind,  besteht 
unstreitig  in  der  Erkenntniss,  dass  die  Laute,  innerhalb  einer 
Sprache  und  zwischen  mehreren  verwandten,  im  Laufe  der  Zeit 
nicht  nach  Willkür  oder  Zufall  wechseln,  sondern  dass  gewisse 
durchgehende  und  beharrliche  Richtungen  und  Neigungen  den 
Lautwandel  beherrschen.  Jede  Sprache  zeigt  im  Ganzen  ihres 
Lautbestandes  schon  in  ihrer  ältesten  Gestalt  bestimmte  An- 
lagen, charakteristische  Bevorzugung  einzelner  Laute  und  Laut- 
verbindungen^  und  wenn  die  Geschichte  jenen  Bestand  allmählich 
verändert,  so  sind  die  Uebergänge  zwischen  den  einzelnen  Lauten 
durch  organische  Verwandtschaften  und  Nachbarschaften  der- 
selben bedingt  und  vermittelt.  Einige  von  jenen  Uebergängen, 
welche  besonders  nahe  liegen,  sind  auch  sehr  häufig;  andere 
sind  selten  und  weniger  leicht  zu  begreifen,  doch  nicht  uner- 
klärlich; es  gibt  aber  auch  Laute,  zwischen  denen  ein  Ueber- 
gang,  wenigstens  ein  unmittelbarer,  aus  physiologischen  Gründen 
unbegreiflich  wäre  und  factisch  nie  vorkommt.  Der  im  letzten 
Fall  vorliegenden  Unmöglichkeit  entspricht  nun  aber  selbst  im 
ersten  Fall  keine  positive  Nothwendigkeit  des  Ueberganges, 
und  noch  weniger  gilt  dies  vom  zweiten  Fall ;  beidemal  handelt 
es  sich  nur  um  Grade  von  Möglichkeit  und  Wahrscheinlich- 
keit, um  grössere  oder  geringere  Häufigkeit;  man  hat  daher 
auch  ganz  richtig  angefangen,  die  thatsächlichen  Lautverhält- 
nisse nach  statistischer  Methode,  d.  h.  mit  Zahlen,  anzugeben  und 
zu  vergleichen:  niemals  aber  hat  ein  Sprachforscher  einen  be- 
stimmten Lautübergang,  auch  unter  bestimmten  Bedingungen, 
im  einzelnen  Fall  als  absolut  nothwendig  nachgewiesen  oder 
gar  vorhergesagt  Das  heisst  mit  anderen  Worten:  es  gibt  im 
Reiche  der  Laute  keine  Gesetze  im  strengeren  naturwissen- 
schaftlichen Sinne  dieses  Wortes  und  es  gibt  auch  keine  Regeln, 
denen  nicht  Ausnahmen  bereits  zur  Seite  standen  oder  bei 
weiterer  Forschung  an  die  Seite  treten  könnten,  wobei  wir  unter 
Ausnahmen  natürlich  nur  solche  Einzelfälle  verstehen,  welche 
nicht  selbst  wieder  als  Ausflüsse  eines  untergeordneten  Special- 
gesetzes zu  erkennen  sind. 


Ueber  die  Anwendung  d.  Begriffes  t.  Gesetzen  a.  d.  Sprache.  45 

Gegenüber  diesem  Thatbestand,  den  wohl  kein  Sprach- 
forscher unrichtig  gezeichnet  finden  wird,  verhalten  sich  die 
einzelnen  Vertreter  des  Faches  in  ihrem  persönlichen  Sprach- 
gebrauch verschieden.  Strenge  Rechenschaft  davon  geben  sich 
wohl  wenige,  die  meisten  kommen  über  dem  nächsten  Interesse, 
die  Thatsachen  festzustellen  und  zu  erklären,  nicht  dazu,  ihre 
Terminologie  zu  reguhren;  manchen  fehlt  auch  wirklich  das 
allgemeinere  wissenschaftliche  Interesse  für  das  Verhältniss  ihres 
Faches  zur  Philosophie  und  Naturwissenschaft.  Einige  begnügen 
sich  mit  dem  Ausdruck  ,4legePS  andere  brauchen  abwechselnd 
und  promiscue  damit  auch  „Gesetz'',  am  weitesten  gehen  die- 
jenigen, welche  nur  von  „Gesetzen'*  sprechen  und  ausnahms- 
lose Geltung  derselben,  innerhalb  zeitlich  und  räumhch  gleicher 
Grenzen,  behaupten  zu  dürfen  glauben  (so  z.  B.  Osthoff,  Jen. 
Lit.  Zeit.  1878  No.  33,  pag.  485).  Am  vorsichtigsten  ist  die 
von  so  namhaften  Vertretern  des  Faches  wie  Ascoli,  Benfey 
und  Curtius  mehr  oder  weniger  ausdrückhch  aufgestellte  und 
angewandte  Unterscheidung  zwischen  regelmässigem  und  spo- 
radischem Lautwandel,  wobei  unter  „regelmässig"  doch  auch 
nur  Vorgänge  zu  verstehen  sind,  welche  eben  „in  der  Regel", 
also  nicht  durchgängig ,  stattfinden.  In  der  That  hindert  gar 
nichts,  mit  Ascoh  in  manchen  Fällen  mehrere  Möglichkeiten  als 
gleich  berechtigt  anzunehmen,  sei  es  nun,  dass  dann  von  den- 
selben nur  eine  verwirklicht  wurde,  oder  dass  durch  gleich- 
zeitiges Eintreten  derselben  aus  einer  Grundform  mehrere  sog. 
Scheideformen  entstanden,  um  deren  Verwendung  die  Sprache 
nie  verlegen  war.  Jene  Annahme  verlässt  ja  den  Boden  der 
Gesetzmässigkeit  nicht  und  die  Sprachforschung  dürfte  wohl 
froh  sein^  wenn  sie  nur  in  recht  vielen  Fällen  es  dahin  brächte, 
die  unbestimmte  MögUchkeit  auf  ein  „entweder  —  oder,  theUs 
—  theils,  bald  —  bald"  zu  reduciren.  Dass  alle  Lauterschei- 
nungen irgend  einer  Sprache  bereits  auf  Gesetze  zurückgeführt 
seien,  behauptet  natürlich  Niemand,  da  die  Unvollständigkeit 
aller  empirischen  Forschung  auch  auf  diesem  Gebiet  sich  kund- 
geben muss ;  es  wird  also  höchstens  fortschreitende  Annäherung 
an  jenes   Ziel  gefordert  und  erwartet;  aber  es  ist   eben  die 


46  L.  Tobler: 

Frage,  ob  jene  Forderung  und  Erwartung  berechtigt  oder  gar 
nothwendig  sei.  Die  sog.  Lautgesetze  bilden  eine  heilsame 
Schranke  gegen  subjective  Willkur,  wie  sich  solche  besonders 
früher  in  zügellosem  Etymologisiren  äusserte,  aber  es  ist  ebenso 
wohlthätig,  dass  auch  sie  selbst  in  der  Natur  der  Sache  Schranken 
finden  und  dass  dadurch  dem  übermächtigen  Trieb  nach  geist- 
loser Mechanisirung  auf  diesem  Gebiet  eine  Schranke  gesetzt 
sei.  Die  Sprache  behält  auch  so  noch  naturmässige  Gebunden- 
heit genug,  durch  die  Unbewusstheit,  mit  der  ihre  Triebe  in 
den  Individuen  walten,  und  durch  die  Macht  der  Ueberlieferung, 
mit  der  die  Gesellschaft  die  Individuen  beeinflusst. 

Wir  wollen  uns  aber  nicht  zu  früh  allgemeinen  Betrach- 
tungen überlassen,  sondern  die  Frage  nach  der  Beschaffenheit 
und  Tragweite  der  sog.  Lautgesetze  bestimmter  und  vollständiger 
zu  beantworten  suchen.  Bisher  war  eigentlich  nur  davon  die 
Rede,  ob  denselben  ausnahmslose  Geltung  zukomme,  was  wir 
verneinen  mussten.  Es  hängt  aber  dieses  Merkmal  des  strengeren 
Begriffes  von  Naturgesetzen  mit  den  zwei  anderen  oben  auf- 
gestellten mehr  oder  weniger  zusammen..  Unter  den  sogenannten 
Lautgesetzen  sprechen  gerade  diejenigen,  denen  am  ehesten 
ausnahmslose  Richtigkeit  zuerkannt  werden  mag,  einfache  That- 
sachen  als  solche  aus,  deren  Kenntniss  für  den  Sprachforscher 
höchst  wichtig,  ja  absolut  nothwendig,  aber  mit  keiner  Ein- 
sicht in  den  Grund  oder  auch  nur  in  die  genauere  Art  und 
Weise  des  betreffenden  Vorgangs  verbunden  ist  Es  sind  Sätze 
von  der  oben  besprochenen  allgemeinen  Bedeutung,  denen  zur 
Erfüllung  des  strengeren  Begriffes  von  Naturgesetzen  das  Moment 
der  Causalität,  das  zweite  der  wesentlichen  Merkmale,  ganz  oder 
theilweise  fehlt.  Zwar  tragen  nicht  wenige  Lautgesetze  die 
hypothetische  Form,  indem  sie  einen  Wandel  der  Laute  als  an 
bestimmte  Bedingungen  ihrer  Stellung  und  Umgebung  geknüpft 
darstellen,  aber  an  „Definition  von  Kräften",  deren  Wirkungs- 
weise in  dem  gesetzmässigen  Sachverhalt  zu  Tage  träte,  ist  dabei 
nicht  zu  denken.  Die  Laute  selbst  sind  offenbar  keine  Kräfte, 
sondern  das  Product  von  solchen ;  sie  haben  ja  überhaupt  kein 
selbständiges  Dasein,  sondern   existiren,  wie  physikalische  Er- 


Ueber  die  Anwendung  d.  Begriffes  v.  Gesetzen  a.  d.  Sprache.  47 

scheinungen,  z.  B.  des  Liehtes,  nur  im  Moment  ihrer  jedes- 
maligen Erzeugung,  sie  sind  auch  nicht  etwa  mit  Atomen  oder 
Molecülen  zu  vergleichen,  deren  Annahme  den  Naturforschern 
für  die  Aufstellung  von  Gesetzen  so  wichtige  Dienste  leistet 
Die  Kräfte,  durch  deren  Wirksamkeit  Sprachlaute  hervorgebracht 
werden,  haben  ihren  Sitz  theils  in  den  eigentlichen  localen 
Sprachorganen,  in  deren  einzelnen  Theilen  und  ihrer  Stellung 
zu  einander,  theils  im  Centralorgan ,  von  welchem  die  Impulse 
zu  den  einzelnen  Bewegungen  der  Sprachorgane  ausgehen,  zu- 
letzt freilich  in  der  Seele,  deren  Empfindungen  einen  Reiz  zu 
sprachlicher  Aeusserung  erwecken.  Nun  hat  freilich  die  neuere 
Sprachforschung  angefangen,  diesen  Mechanismus  an  der  Hand 
der  Physiologie  zu  studiren,  sie  weiss  bereits  ziemhch  genau 
anzugeben,  durch  welche  Stellungen  und  Bewegungen  einzelner 
Theile  des  Sprachorgans  bestimmte  Laute  erzeugt  werden  und 
die  Physik  vermag  ja  auch  Apparate  herzustellen,  durch  welche 
menschliche  Laute  einigermassen  nachgeahmt  und  ^producirt 
werden,  aber  die  bei  der  originalen  und  spontanen  Erzeugung 
menschlicher  Sprachlaute  wirksamen  lebendigen  und  seelenhaften 
Anüiebe  bleiben  in  Dunkel  gehüllt,  auch  abgesehen  von  einer 
irgendwie  symbolischen  Bedeutsamkeit  der  einzelnen  Laute  beim 
Ursprung,  d.  h.  in  der  Bildungsperiode  der  Sprache.  Wenn 
auf  diesem  Gebiete  irgend  etwas  durch  Vermuthung  zu  er- 
reichen ist,  so  dürfen  wir  vielleicht  sagen:  die  bei  der  Laut- 
erzeugung resp.  Lautveränderung  in  letzter  Instanz  wirksamen 
Ki*äfte  beruhen  in  unbewussten  Vorstellungen  und  Gefühlen, 
welche  sich  auf  Bequemlichkeit  (resp.  Erleichterung)  der  Laut- 
gebung  durch  fortschreitende  Ausgleichung  und  Verkürzung  der 
Formen  beziehen.  Nun  haben  wir  oben  auch  für  Vorstellungen 
und  Gefühle  die  Auffassung  als  Kräfte  zulässig  gefunden,  aber 
die  Kräfte,  um  die  es  sich  hier  handeln  kann,  scheinen  mehr 
von  passiver  als  activer,  mehr  von  negativer  als  positiver  Art 
zu  sein,  es  handelt  sich  mehr  um  Zulassung  oder  Ablehnung 
gewisser  Laute  und  Lautverbindungen ,  als  um  schöpferische 
Hervorbringung  derselben;  die  Lautgebung  beruht  theils ,  von 
Seite  der  Gesellschaft,  auf  vererbten  Anlagen  und  mit  der  Zeit 


48  L.  Tobler: 

zunehmenden  Gewohnheiten,  theils  auf  unberechenbaren  persön- 
lichen Neigungen  und  Stimmungen,  mit  welchen  der  Einzelne 
gelegentUch  seiner  Umgebung  und  sogar  sich  selbst,  in  Folge 
von  Trägheit,  Laune  oder  besonderen  Antrieben  widerspricht, 
aber  auch  Andere  anstecken  kann.  Eine  constante  Resultante 
aus  diesen  verwickelten  Dispositionen  und  Motiven  zu  ziehen 
erscheint  als  unmöglich,  als  erreichbar  nur  ein  mittleres  Maass 
von  Wahrscheinlichkeit  mit  labOem  Gleichgewicht,  und  damit« 
sehen  wir  uns  auf  das  Ergebniss  der  ersten  Betrachtung  zu- 
rückgeführt. 

Was  endlich  das  dritte  Merkmal  betrifiPt,  so  muss  erinnert 
werden,  dass  ein  beträchtUcher  Theil  der  sog.  Lautgesetze  wirk- 
lich nur  aus  negativen  Sätzen  besteht,  welche  für  die  nächsten 
Zwecke  der  Wissenschaft  vortreffliche  Dienste  thun  und  sogar 
noch  fester  stehen  können  als  die  einfach  positiven^  aber  eben 
auch  wie  diese,  oder  noch  mehr,  der  höheren  Würde  von  Ge- 
setzen ei#ehren  müssen.  Dahin  gehören  z.  B.  die  so  wich- 
tigen und  verschiedenen  Auslautgesetze  der  einzelnen  Sprachen, 
welche  uns  Handhaben  zur  Reconstruction  älterer  Formen  dar- 
bieten, aber  an  sich  selbst  eben  über  den  Charakter  unbegreif- 
licher „Verbote"  nicht  hinausreichen. 

Wir  wollen  zum  Schlüsse  an  zwei  Beispielen  den  wirk- 
lichen Stand  und  Werth  der  angeblichen  „Lautgesetze"  zu  be- 
leuchten suchen.  Eine  der  grossartigsten  und  merkwürdigsten 
Erscheinungen  in  der  Geschichte  der  Sprachen  ist  die  sogenannte 
Lautverschiebung,  durch  welche  die  germanischen  Sprachen  von 
ihren  Verwandten  und  ein  kleinerer  Theil  des  germanischen 
Gebietes  wieder  von  dem  übrigen  sich  unterscheidet  Das  That- 
sächliche  muss  hier  als  bekannt  vorausgesetzt  werden.  Wenn 
irgendwo,  so  scheint  hier  der  Name  „Gesetz"  berechtigt  zu  sein. 
Doch  hat  schon  J.  Grimm,  indem  er  dasselbe  entdeckte  und 
aussprach,  nicht  umhin  können,  neben  der  wunderbaren  Conse- 
quenz,  mit  welcher  es  im  Grossen  und  Ganzen  waltet,  Ab- 
weichungen im  Einzelnen  zu  bemerken,  indem  die  Laute  am 
einen  Orte  hinter  der  geforderten  Verschiebung  zurückbleiben^ 
an  einem   andern   eine  Stufe   derselben   überspringen  u.  s.  w. 


Ueber  die  Anwendung  d.  Begriffes  y.  Gesetzen  a.  d.  Sprache.  49 

Dass  es  sich  nicht  um  eine  streng  kreisförmige  Bewegung, 
eine  Wiederkehr  genau  derselben  Laute  an  anderer  Stelle  handle^ 
konnte  nur  übersehen  werden,  so  lange  man  todte  Buchstaben 
mit  lebendigen  Lauten  verwechselte.  Sobald  man  anfing  nach 
Gründen  der  Erscheinung  zu  fragen ,  mussten  für  die  Ueber- 
gänge  der  Laute  Mittelstufen  angenommen  werden,  wekhe  in 
der  Schrift  keine  Bezeichnung  finden  und  doch  allein  die  ganze 
Erscheinung  einigermassen  erklären.  Diese  verliert  dadurch 
nicht  den  Charakter  einer  grossen  Regelmässigkeit,  da  auch  ^die 
Ausnahmen  zum  Theil  durch  neuere  Entdeckungen  beseitigt, 
d.  h.  als  Ausflüsse  besonderer  Bedingungen  erkannt  worden 
sind,  aber  die  Einfachheit,  welche  zur  Form  eines  „Gesetzes'' 
gehört,  ist  in  demselben  Maasse  geschwunden,  und  es  ist  frag- 
lich, ob  der  Sachverhalt,  so  wie  er  nunmehr  angesehen  wird^ 
eine  einfache  Fassung  überhaupt  noch  zulässt. 

Man  dürfte  vermuthen,  dass  sprachhche  Erscheinungen  um 
so  eher  sich  auf  wirkliche  Gesetze  bringen  lassen,  ja  enger  ihr 
Gebiet  sei.  Wenn  also  die  Lautverschiebung,  weil  sie  das  ganze 
Gebiet  der  germanischen  Sprachen  betrifft,  jene  Bedingung  nicht 
erfüllen  kann,  so  bietet  vielleicht  ein  einzelner  Dialect^  ein 
Complex  von  Volksmundarten,  die  sich  so  recht  naturgemäss 
entwickelt  und  erhalten  haben,  reichere  und  reinere  Proben 
von  Sprachgesetzen.  Zwar  muss  man  sich  in  Acht  nehmen, 
jene  Erwartung  zu  einem  Princip  zu  erheben,  denn  je  enger 
die  Kreise  werden,  um  so  mehr  nähern  sie  sich  dem  Indi- 
viduellen, welches  niemals  von  Gesetzen  erschöpft  werden  kann, 
und  eine  gewisse  Weite  der  Geltung  scheint  zum  Begriff  eines 
Gesetzes  zu  gehören ;  aber  da  die  Sprache  überhaupt,  also  aucli 
die  einzelnen  Sprachen,  nur  im  Schoöss  einer  engeren  Gemein- 
schaft entstanden  sein  und  ihre  erste  Ausbildung  empfangen 
haben  können  und  auch  heutzutage  nur  in  solchem  Kreis  ein 
natürliches,  von  den  Conventionen  der  Schriftsprache  mehr  oder 
weniger  ungetrübtes  Leben  führen,  so  darf  man  wohl  den  Blick 
auch  nach  dieser  Seite  richten.  Die  „Zeitschrift  für  deutsche 
Mundarten"  von  Frommann  hat  in  ihrem  siebenten  Bande  eine 
Abhandlung,  betitelt   „Ein   schweizerisch  -  alemannisches    Laut- 

Vierteljahrssclirift  f.  Wissenschaft!.  Philosopliie.   III.  1.  4 


50  L.  Tobler: 

gesetz",  gebracht,  welche  in  Absicht  auf  VoUständigkeit  und 
Gründlichkeit  in  der  Sammlung  und  Bearbeitung  des  Materials 
wohl  musterhaft  genannt  werden  darf.  Die  Richtigkeit  der 
Thatsachen  steht  ausser  Zweifel,  es  kommt  uns  aber  hier  nicht 
darauf  an,  sondern  einzig  auf  die  Terminologie,  in  welche  der 
Verfasser  die  Ergebnisse  seiner  trefflichen  Forschungen  gefasst, 
auf  welche  er  aber  offenbar  keinen  Werth  gesetzt  hat.  Es  ist 
nun  bemerkenswerth ,  mit  welcher  Abwechslung  er  sich  über 
eine  und  dieselbe  Sache  ausdrückt.  Neben  dem  Ausdruck 
„Gesetz",  der  im  Titel  und  noch  mehrfach  erscheint  (pag.  20. 
32.  34.  195.  197.  377.  388),  gebraucht  er  den  bescheideneren 
„Regel"  (31.  193.  375),  beides  combinirt  „Regel-  und  Gesetz- 
mässigkeit" (38),  „regelrechtes  Eintreten  der  Laute"  neben 
„Concinnitat  und  stramme  Gesetzmässigkeit  bis  in  alle  Spitzen 
hinaus"  (388).  Trotzdem  ist  nicht  bloss  von  scheinbaren 
Ausnahmen  (pag.  349)  die  Rede,  sondern  pag.  362  wird  unter 
dem  Titel  ^Schranken  des  Gesetzes"  eine  lange  Liste  von  Woltern 
mitgetheilt,  welche  sich  dem  betreffenden  Lautprocess  (pag.  377) 
entzogen  haben  (so  dass  die  „Gesetzmässigkeit"  sich  nur  auf 
den  Verlauf  der  Erscheinung  beziehen  kann,  da,  wo  sie  über- 
haupt eintritt),  und  pag.  354  werden  als  „Schranken  des 
Gesetzes"  angeführt  „theils  Geschmack  und  freie  Wahl  des 
Individuums,  theils  mundartliche  Sitte",  und  „innerhalb  des  all- 
gemeinen Brauches  besteht  Latitüde  für  die  Bildungsstufe,  die 
Willkür  und  Laune  des  Sprechenden'^  Endlich  wird  die  ganze 
Erscheinung  gelegentlich  (pag.  372.  388.  389)  als  ein  blosses 
„Spiel"  betrachtet.  —  Der  Verfasser  hat  mit  den  verschiedenen 
Wendungen,  die  er  gebraucht,  unwillkürlich  richtig  die  Factoren 
und  Motive  bezeichnet,  welche  in  der  Geschichte  der  Laute  zu- 
sammenwirken, und  es  bleibe  nur  die  Frage,  ob  alles  dies  unter 
dem  Begriff  eines  „Gesetzes"  zusammengefasst  werden  oder  ob 
dieser  Begriff  neben  jenen  überhaupt  noch  bestehen  könne. 
Nach  unserer  Ansicht  ist  dies  nur  möglich,  wenn  derselbe  in 
seiner  Anwendung  auf  sprachliche  Dinge  so  abgeschwächt  wird, 
wie  es  unstreitig  oft  geschieht,  aber  zum  Schaden  für  die 
Sprachwissenschaft  und  für  den  allgemeinen  wissenschaftlichen 


Ueber  die  Anwendung  d.  Begriffes  ▼.  Gesetzen  a.  d.  Sprache.  51 

Sprachgebrauch;  denn  während  man  sich  am  einen  Ort  jene 
Abschwächung-ohne  Weiteres  erlaubt,  wird  anderswo  mit  dem 
Begriff  doch  wieder  so  operirt,  als  ob  er  streng  genommen 
wäre,  und  aus  solchem  Verfahren  entstehen  bekanntlich  falsche 
Schlüsse. 

Zwischen  dem  Gebiete  der  Laute  als  solcher  und  dem  der 
Formen  besteht  keine  Kluft,  und  es  ist  abermals  eine  Errungen- 
schaft der  neueren  Sprachforschung,  dass  manche  Erscheinungen 
der  Flexion  und  Wortbildung  als  Consequenzen  der  Lautlehre, 
mit  Inbegriff  des  Accentes,  erkannt  werden,  ohne  Annahme 
eines  specilischen  Bildungsprincipes.  Was  aus  jener  Quelle 
nicht  abzuleiten  ist,  bedarf  allerdings  besonderer  Erklärung, 
aber  die  Manigfalügkeit,  die  sich  auf  diesem  höheren  Gebiete 
aufthut,  hat  noch  Niemand  unter  Gesetze  zu  bringen  gesucht, 
so  wenig  wie  die  Formen  des  Pflanzen-  und  Tliierreiches;  es 
walten  hier  ideale  Grundtypen,  welche  sich  aufsteigend  aus- 
gestalten und  umformen,  geleitet  von  Trieben  der  Analogie  und 
Symmetrie,  welche  fortwirken,  so  lange  ihnen  empfanglicher 
Bildungstoff  entgegenkommt.  Die  Paradigmen  der  Flexions- 
formen, deren  idealem  Typus  die  wirklichen  Wörter  auch  nie 
ganz  entsprechen,  hat  noch  Niemand  „Gesetze'^  genannt,  sie 
sind  Gegenstände  der  Anschauung  und  können  weder  analytisch 
noch  synthetisch  ganz  begriffen  werden.  Von  Gesetzen  der 
Syntax  vollends  kann  nur  in  praktisch  schulmässigem  Sinne 
gesprochen  werden  und  die  Forschung  hat  kaum  erst  angefangen, 
auch  dieses  Gebiet  nach  historisch  -  vergleichender  Methode  zu 
bearbeiten.  —  Ueber  dem  Wortlaute  der  Formen  und  auch 
des  Satzes  schwebt,  manigfach  einwirkend  auf  die  Formen  und 
ihre  Bedeutung,  der  Accent,  etwas  durchaus  Immaterielles, 
Seelenhaftes ;  wie  die  Bedeutungskraft,  und  doch  vom  Laute 
noch  weniger  trennbar  als  diese.  Die  Einwirkung  des  Accentes 
auf  Laute  und  Formen  erfolgt  nach  Gesetzen^  deren  Kenntniss 
so  nothwendig  ist  wie  die  der  reinen  Lautgesetze,  denen  aber 
auch  nur  dasselbe  Maass  von  Gültigkeit  beiwohnt.  Zwar  ist 
das  in  einer  Sprache  einmal  herrschend  gewordene  Accentprincip 
innerhalb  kürzerer  Perioden  constanter  und  stabiler,  als  irgend 

4* 


52  L. Tob  1er:  Ueber  d.  Anw.  d.  Begr.  v.  Gesetzen  a.  d.  Sprache. 

welche  Lautgesetze,  weil  es  ja  seiner  Natur  nach  etwas  yiel 
Allgemeineres  und  weit  geringerer  Variation  iahig  ist;  aber  in 
grösseren  Zeiträumen  kann  es  geschehen,  dass  eine  Sprache 
sogar  ihr  Accentprincip  verändert,  was  aus  tief  liegenden  Ur- 
sachen erfolgen  und  von  weitgreifenden  Folgen  begleitet  sein  muss. 
Hiemit  nun^  mit  dem  Gedanken  an  die  Aenderung  von 
Gesetzen  selbst  im  Laufe  der  Zeit,  sind  wir  an  der  äussersten 
Grenze  unserer  Betrachtungen  angelangt  und  können  vrir  das 
Gebiet  der  Sprache  verlassen.  Zum  Begriffe  von  Naturgesetzen 
scheint  allerdings  noch  ein  Merkmal  zu  gehören,  welches  wir 
bisher  unberührt  liessen^  eben  das  der  Unveränderlichkeit,  welche 
menschlichen  Gesetzen  bekanntlich  nicht  zukommt.  Aber  in  der 
That  hindert  uns  nichts,  auch  Naturgesetze,  nur  nicht  die  all- 
gemeinsten Eigenschaften  der  Naturkörper,  uns  als  zeitlich  ent- 
standen zu  denken,  also  auch  ihre  Aenderung  resp.  Aufhebung, 
natürlich  mit  gleichzeitiger  Aenderung  des  Bestandes  und  der 
Bedingungen^  auf  welche  sie  sich  bezogen,  als  Möglichkeit  ein- 
zuräumen. Lotze  (Mikrok.  IIP,  lö)  nimmt  dies  von  Natur- 
gesetzen ausdrücklich  an,  während  Lazarus  (Leben  der  Seele, 
II  ^  110)  es  nur  vom  geistigen  Leben  zuzugeben  scheint.  Wie 
viel  uns  an  der  Erkenntniss  von  Gesetzen  der  Geschichte  noch 
fehlt,  zeigt  das  kürzlich  erschienene  Buch  von  Rocholl  „Die 
Philosoplüe  der  Geschichte"  (in  welchem  noch  die  Schrift  von 
Doergens  „Aristoteles  oder  über  das  Gesetz  der  Geschichte", 
Leipzig  1872,  nachzutragen  wäre).  Die  Sprache,  zwischen  Natur 
und  Geschichte  gestellt^  doch  mehr  der  letztern  zugewandt^  vrird 
an  dem  Loose  der  beiden  Gebiete  Theil  nehmen;  die  Sprach- 
wissenschaft kann  sich  also  jedenfalls  trösten,  wenn  sie  nicht 
lauter  unverbrüchliche  Gesetze  findet,  und  wird  auch  die  ge- 
fundenen nicht  überschätzen. 

Zürich.  L.  Tobler. 


In  Sachen  der  wissenschaftlichen  Philosophie« 

Dritter  Artikel. 

Es  ist  also  nicht  meine  Meinung,  dass  die  Gesammtheit 
jener  im  Einfährungsartikel  angedeuteten  Untersuchungsreihe, 
welche  die  Principien  alles  Begreifens  und  Wissens^  alles  Ge- 
gebenseins und  Erfahrens  zu  behandeln  hätte,  mit  der  „Logik'' 
und  „Erkenntnisstheorie^*  erschöpft  sein  könne.  Es  sind  viel- 
mehr zwei  Untersuchungscombinationen,  welche,  wie  mir  scheint, 
die  Untersuchungen,  die  wir  heute  unter  dem  Namen  der 
„Logik^  und  „Erkenntnisstheorie^^  befassen,  zu  ergänzen  an- 
gethan  sind  —  vielleicht  sogar  für  die  philosophische  Aufgabe, 
vne  sie  der  Einführungsartikel  stellte,  von  noch  wesentlicherer 
Bedeutung  sich  erweisen  möchten. 

Die  erste  dieser  zwei  Untersuchungscombinationen,  als 
Ganzes  vorgestellt,  würde  kurz  zu  bezeichnen  sein  als  ,,PhUo- 
sophisehe  Entwlekelungrstheorie/^  Man  darf  diesen  kurzen 
Ausdruck  ja  nicht  dahin  missverstehen,  als  bedeute  er  irgend 
eine  naturwissenschaftliche  Entwickelungstheorie  in  philo- 
sophischer Deutung,  „Vertiefung^  u.  dgl. ;  der  kurze  Ausdruck 
soll  besagen :  eine  entwickelungstheoretische  Betrachtung  der  Philo- 
sophie, insofern  ihre  Entwicklung  als  ein  (historisch)  Gegebenes 
vorliegt.  Der  Begriff  einer  solchen  ,,Entwickelungstheorie 
der  Philosophie^'  deckt  sich  nicht  so  völlig  mit  demjenigen 
einer  „Entwickelungsge  schichte"  in  dem  Sinne,  wie  solche  z.B. 
ich  selbst  in  Bezug  auf  Spinoza's  Pantheismus  1869  versuchte, 
Paulsen  in  Bezug  auf  Kant's  Erkenntnisstheorie  1875,  Windelband 
in  Bezug  auf  Kant's  Lehre  vom  Ding-an-sich  1877  ausgeführt 
haben.    Die    Entwickelungsgeschichte    ist    eine    werthvolle 


54  K-  Avenarius: 

Vorarbeit  für  die  Enlwickelungstheorie  —  sie  ist  aber  nicht 
diese  selbst:  erstere  giebt  jede  einzelne  Entwickelung  in  ihrer 
Besonderheit,  letztere  das  Allgemeine  der  Entwickelungsprocesse. 
Hierdurch  ist  das  Nähere  dieser  Disciplin  bestimmt:  das  Allge- 
meine ist,  was  in  den  geschichthch  vorliegenden,  charak- 
teristischen philosophischen  Entwickelungsänderungen  stetig 
wiederkehrt  Das  stetig  Wiederkehrende  sind  aber  in  den 
charakteristischen  Systembildungen  nicht  die  bestimmten 
philosophischen  Lehrinhalte  (welche  sich  wohl  durch  eine 
„Schule^  hinziehen  und  auch  wohl  hin  und  wieder  neu  auf- 
tauchen, aber  ein  genügendes  Continuum  deshalb  nicht  leiden, 
weil  sie  sich  in  den  verschiedenen  Systemen  widersprechen), 
sondern  das  stetig  Wiederkehrende  sind  bestimmte  philosophische 
Probleme .^ (gleichgültig,  ob  sie  ausgesprochener-  oder  unaus- 
gesprochenermaassen  auftreten^  formuhrt  oder  nicht  formuUrt, 
bewusst  oder  mehr  unbewusst  behandelt  werden).  Es  werden 
also  von  der  „Entwickelungstheorie"  die  bestimmten  charak- 
teristischen philosophischen  Probleme  als  das  Constante  zu 
betrachten  sein;  und  die  Problemlösungen,  sofern  sie  eine  be- 
stimmte Lehrmeinung  zum  Inhalt  haben,  als  das  Variable. 

So  viel  ich  bis  jetzt  sehe,  wird  demnach  eine  „Entwicke- 
lungstheorie  der  Philosophie^^  als  Entwickelungstheorie 
der  philosophischen  Probleme  erscheinen  müssen. 
Hieraus  ergiebt  sich  dann  der  weitere  Charakter  der  angeführten 
Untersuchungscombination.  An  jedem  Probleme  sind  jiämlich 
eine  formale  und  eine  materiale  Seite  unterscheidbar.  Eine 
formale  Seite  zunächst  insofern  als  im  Problem  irgend  ein  Vor- 
stellungsinhalt  sich,  wie  es  zu  bezeichnen  mir  erlaubt  sei,  im 
Zustand  des  „dubitativen"  Denkens  (im  Gegensatz  zum  „certi- 
tudinalen")  befindet,  welches  in  der  speciellen  Form  des 
„Problems"  eine  Tendenz  auf  die  „Lösung"  aufweist,  d.  h.  auf  die 
Herstellung  eines  „certitudinalen'^  Denkens.  Diese  „Herstellung 
eines  certitudinalen  Denkens*'  ist  aber^  genauer  zugesehen, 
eine  Wiederherstellung  des  certitudinalen  Denkens,  welches 
am  Anfang  des  ganzen  psychischen  Processes,  den  wir 
kurz  „Problem"  nennen^  stand ;  sodass  eben  dieser  Process  sich 


In  Sachen  der  wissenBchaftlichen  Philosophie.  55 

darstellt  als  eine  Umwandlung  eines  primären  certitudinalen 
Denkens  (in  Folge  bestimmter  Störungen)  in  ein  dubitatives 
Denken  —  mit  der  Tendenz  der  Rückwandlung  in  ein  erneutes 
certitudinales  Denken  (durch  die  Lösung).  Da  nun  die  Philo- 
sophie, wie  sie  als  ein  (historisch)  Gegebenes  vorliegt,  aus  nichts 
Anderem  besteht,  als  aus  einer  Entwickelung  von  Problemen 
und  deren  Lösungen,  so  müssen  die  Gesetze  des  certitudinalen 
Denkens,  die  Störungsgesetze,  die  Gesetze  der  Umwandlung 
eines  certitudinalen  in  ein  dubitatives  Denken,  die  Gesetze  der 
Entstehung  jener  Lösungstendenz  und  endUch  die  Lösungsgesetze 
selbst  die  Gesetze  sein,  welche  das  Allgemeine  der  philo- 
sophischen Entwickelung  überhaupt  und  somit  den  Inhalt  jener 
Entwickelungstheorie  nach  der  einen  Seite  ausmachen. — 
Grundlage  nach  dieser  Seite  ist  die  psychologische  Erfahrung  — 
also  die  Erfahrung. 

Das  wäre  also  die  Eine  Aufgabe  der  Entwickelungstheorie ; 
welche  Aufgabe  sich  kurz  als  „das  Problem  desProblemes" 
bezeichnen  hesse:  die  andere  Aufgabe  würde  sich  dagegen  auf 
die  materiale  Seite  der  Probleme  zu  beziehen  haben,  insofern 
den  Problemen  ein  bestimmter  Yorstellungsinhalt  innewohnt 
Dieser  Yorstellungsinhalt,  den  die  Probleme  aufweisen,  würde 
jedoch,  nach  meinem  Dafürhalten,  erst  von  dem  Punkte  an- 
fangen, Gegenstand  einer  Entwickelungstheorie  zu  werden, 
wo  er  aufhört,  Gegenstand  der  Entwickelungsge schichte  der 
Systeme,  bez.  der  „Geschichte  der  Philosophie'*  überhaupt  ^ 
also  der  „Geschichte*' zu  sein,  sei  es,  dass  der  Stoff  der  Ge- 
schichte, sei  es,  dass  ihre  Methode  ihr  Ende  erreicht  hat. 
In  erster  Hinsicht  glaube  ich  darauf  hinweisen  zu  dürfen, 
dass  —  soviel  ich  bemerke  —  die  „Geschichte**  die  Entwicke- 
lung der  Vorstellungsinhalte,  welche  in  die  Probleme,  bez.  deren 
Lösungen,  eingehen,  nur  zurück  verfolgt  bis  zu  ihrem  Auf- 
treten in  derjenigen  Behandlungs weise ,  die  wir  „Philosophie** 
nennen.  Nun  bestehen  aber  diese  Inhalte  gerade  bei  den 
Problemen,  deren  Yorstellungsinhalte  „nicht  aus  der  Erfahrung** 
stammen  sollen,  nachweisbar  vor  demjenigen  Zeitpunkt,  von 
welchem   an  wir  heut   die  Entwickelung  der  „Philosophie**  zu 


5(5  B.  Avenariua: 

datiren  pflegen:  das  Auftreten  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie ist  ein  Eintreten  in  die  „Philosophie. '^  Es  würde  sich 
also  hier  um  eine  Untersuchungscombination  handeln,  welche 
nicht  eigentlich  der  geschichtlichen  Entwickelung,  sondern 
der  vor-,  bez.  urgeschichtlichen  Entstehung  der  philosophischen 
Probleminhalte  nachzugehen  hätte  —  nicht  den  philosophischen 
Auszweigungen  der  Probleminhalte,  sondern  den  —  um  auch 
einmal  diesen  Ausdruck  anzuwenden  —  den  Wurzeln  der  vor- 
philosophischen Vorstellungen,  welche  philosophische  Problem- 
inhalte zu  werden  bestimmt  waren.  Namentlich  würde  inner- 
halb dieses  Untersuchungsgebietes  die  Frage  nach  einer 
gemeinsamen  Wurzel  der  betreffenden  Inhalte  zu  behandeln 
sein  —  also  einer  Muttervorstellung,  aus  welcher  alle 
Probleminhalte  hervorgegangen  sind. 

Wenn  nach  der  einen  Seile  die  entwickelungstheoretische 
Behandlung  der  Probleminhalte  da  begann,  wo  die  „Geschichte 
der  Philosophie^  ihrent  Stoff  die  Grenzen  gezogen  hat;  so 
beginnt,  wie  angedeutet,  andrerseits  die  entwickelungstheoretische 
Behandlung  an  der  Stelle,  wo  zwar  die  Probleminhalte  bereits 
in  die  geschichthche  „philosophische^  Entwickelung  eingetreten 
sind,  bez.  in  ihr  stehen,  aber  die  M  e  t  h  o  d  e  der  rein  geschicht- 
hchen,  bez.  entwickelungsgeschichtlichen  Bearbeitung  für  ihre 
Behandlung  aufgehört  hat:  das  ist  da  der  Fall,  wo  die  Unter- 
suchung sich  richtet  auf  das  Yerhältniss  der  durch  das  philo- 
sophische Denken  hindurchbeweglen  Inhalte  zu  dem  Formalen 
der  Denkbewegung  selbst  wie  sie  in  den  Umwandlungen  des 
certitudinalen  und  dubitativen  Denkens  ausgedrückt  ist.  Das 
heisst:  die  entwickelungstheoretische  Betrachtung  der  in  der 
„Geschichte"  sich  vollziehenden  Weiterentwickelung  der 
Probleminhalte  (sich  vollziehend  durch  die  Art,  wie  sie  angefasst, 
bez.  aufgefasst  und  aufgelöst  werden)  würde  die  Aufgabe  haben, 
an  den  Inhalten  dieser  Weiterentwickelung  wieder  die  allge- 
meinen Gesetze  nachzuweisen,  die  wir  im  formalen  Theil 
kennen  gelernt  haben  würden. 

Dies  würde  aber  auch  —  wenigstens  wie  ich  die  gestellte 
Gesammtaufgabe  verstehe  —  das  Charakteristische  der  Behand- 


In  Sachen  der  wissenschaftlichen  Philosophie.  57 

lung  der  vorhergehenden  Frage  nach  der  Vorgeschichte  der 
philosophischen  Probleminhalte  auszumachen  haben;  welches 
Charakteristische  also  in  dem  gleichen  Nachweis  bestehen  würde : 
dass  dieselben  Gesetze,  welche  die  Problem-Bildung  und  Lösung 
beherrschen,  auch  die  Erzeugung  der  Inhalte  bestimmen, 
welche  in  die  Probleme  eingehen. 

Und  hierin  liegt  ausgesprochen,  worin  die  Einheit  der  drei 
angegebenen  Untersuchungen  (des  Problemprocesses ,  der  vor- 
philosoptiischen  Entstehung  und  der  philosophischen  Weiterent- 
wickelung der  Inhalte)  beruht,  durch  welche  Einheit  sie  überhaupt 
zu  einer  eigenen,  relativ  selbstständigen  Disciphn,  eben  der  ver- 
langten Entwickelungstheorie,  verbunden  und  erhoben  werden  — 
ohne  welche  Einheit  dagegen  kaum  eine  dieser  drei  Untersuchungen 
allein  schon  eine  in  sich  geschlossene  Entvnickelungstheorie  be- 
deuten würde :  diese  Einheit  liegt  in  der  einheitlichen  Subsumtion 
der  drei  Untersuchungsobjecte  unter  die  gleichen  allgemeinen 
Gesetze.  Diese  drei  Untersuchungsobjecte  sind  aber  nichts  als 
die  drei  Momente  des  Einen  Hauptgegenstandes:  der  philo- 
sophischen Probleme,  —  welche  drei  Momente  ich  erhalte,  je 
nachdem  ich  auf  die  formale  oder  materiale  Entwickelung  der 
Probleme  und  hinsichtUch  der  letzteren  auf  die  vorphilosophische 
oder  die  philosophische  Entwickelung  reflectire.  Aber  immer 
unter  dem  Gesichtspunkt  allgemeiner  Gesetze,  welche  für  alle 
drei  Entwickelungen  die  gleichen  sind.  Das  ungefähr  wäre, 
was  ich  unter  einer  „philosophischen  Entwickelungstheorie^ 
verstehen  und  als  nicht  unwesentlich  für  die  weitere  Grund- 
legung einer  wissenschaftlichen  Philosophie  bezeichnen  würde. 
Dass  mit  dieser  Grundlegung  wieder  nur  die  Erfahrung  als 
Grundlage  verwendet  worden  sein  würde,  braucht  kaum  beson- 
ders angemerkt  zu  werden :  denn  die  erwähnten  Untersuchungen 
würden  in  der  Eruirung  und  Verschmelzung  von  psycho- 
logischen, völkerpsychologischen,  bez.  ethnologischen  und 
sprachwissenschaftUchen,  bez.  sprachphilosophischen  Erfahrungen 
bestehen  —  also  wieder  von  Erfahrungen. 

Es  erübrigt  nur  noch,  über  die  wissenschaftliche  Leistung 
einer    solchen    Entwickelungstheorie    zwei   Worte    anzufügen; 


58  ^  Avenarius: 

gemäss  der  engeren  Aufgabe  dieser  Bemerkungen  überhaupt  sehe 
ich  hierbei  davon  ab,  welcher  wissenschaftliche  Werth  an  und 
für  sich  der  philosophischen  Entwickelungstheorie  nicht  abge- 
sprochen werden  könne ^  und  möchte  nur  darauf  hinweisen, 
welche  Bedeutung  für  die  Philosophie  man  dieser  Dis- 
ciplin  zusprechen  dürfe. 

Die  Function,  welche  eine  Entwickelungstheorie  in  Bezug 
auf  die  Philosophie  zu  übernehmen  haben  würde,  resulürt  aus 
dem  Umstand,  dass  in  dieser  Disciplin,  wie  sie  in  'der  oben 
gegebenen  Charakteristik  gedacht  ist,  die  philosophischen 
Probleme,  formal  und  material,  im  Mittelpunkt  der  Betrach- 
tung stehen  würden.  Nun  besteht  aber  die  Philosophie  selbst 
dermalen  weniger  aus  einer  Kette  von  wissenschaftlich  con- 
statirten  und  controlirten  „Thalsachenbestanden^,  als  vielmehr 
aus  einer  Summe  von  Problemen.  Und  wer  das  vermöge 
eines  gewissen  Optimismus  bestreiten  möchte,  wird  wohl  kaum 
seine  Zustimmung  verweigern,  wenn  ich  wenigstens  hervorhebe, 
dass  bei  einer  strengeren  Auffassung  die  Philosophie  jedenfalls 
nur  mit  Problemen  beginnt:  und  sogar  Herrn  Ulrici^s  Ar- 
tikel hat  das  Gute,  hierfür  als  Beleg  angeführt  werden  zu  können. 
Wenn  es  aber  das  philosophische  Problem  ist,  welches  (aus- 
gesprochener- oder  unausgesprochenermaassen)  den  Ausgangs- 
punkt des  philosophischen  Systems  bestimmt,  so  bestimmt  auch 
das  Problem  durch  seinen  eigenen  Inhalt  den  Fortgang  der 
Systementvrickelung  und  damit  wesentlich  den  Inhalt  des 
Systems  selbst.  Und  ist  nun  gar  der  Probleminhalt  (wie  es 
der  Fall  bei  denjenigen  Problemen  sein  soll,  die  man  noch 
heute  für  die  x.  i§ox.  „philosophischen"  zu  halten  geneigt 
scheint)  der  Erfahrung  weder  entnommen  noch  durch  sie  er- 
fassbar: so  wird  die  Bildung  des  Systeminhaltes  um  so  aus- 
schliesslicher den  subjectiven  Triebkräften,  welche  dem  Problem- 
inhalt, seinem  Yerhältniss  zum  gesammten  Bewusstseinsstand 
innewohnen»  preisgegeben  bleiben  müssen,  da  andere  Factoren, 
als  sie  dem  sich  selbst  überlassenen  psychischen  Mechanismus 
bereits    subjectiv     zu    Gebote    stehen,     nicht    in    Function 


In  Sachen  der  wissenschaftlichen  Philosophie.  59 

treten  ^).  Hier  ist  die  Gestaltung  des  Yorstellungsinhaltes,  der 
aus  einem  dubitativen  in  ein  certitudinales  Denken  übergeleitet 
werden  soll,  vermöge  seiner  Gebundenheit  an  die  Formen  jenes 
Ueberleitungsprocesses  durch  die  allgemeinen  Gesetze  dieses 
Processes  bestimmt.  Nehmen  wir  nun  an  (was  bei  Problem- 
inhalten von  bestimmten  psychophysiologischen  Eigenschaften 
wirklich  der  Fall,  hier  aber  auseinanderzusetzen  und  nach- 
zuweisen nicht  der  Moment  ist)  —  nehmen  wir  also  an,  dass 
aus  jenen  Gesetzen  erfolgte,  dass  der  bewegte  Yorstellungs- 
inhalt  sich  im  Wechsel  seiner  Zustande  (im  Uebergang  aus 
einem  eventuell  primären  certitudinalen  durch  ein  dubitatives 
in  ein  erneutes  certitudinales  Denken)  in  möglich  grösster 
Uebereinstimmung  mit  sich  selbst  erhielte,  also  unter  möglich 
kleinster  Abänderung  in  das  philosophische  System  einträte,  so 
wurde  durch  den  blossen  Umstand,  dass  z.  B.  ein  —  wie 
wir  ihn  schonend  nennen  wollen:  erfahrungsfreier  Yorsteliungs- 
inhalt  zum  Problem  erhoben  worden  ist,  der  Inhalt 
eines  Systems  in  seinem  Charakter  gesetzmässig  bestimmt  werden. 

Es  ist  hier  irrelevant,  den  Umfang  des  Einflusses,  der 
auf  den  Inhalt  eines  Systemes  durch  die  Aufnahme  eines 
Probleminhaltes  zum  Ausgangspunkt  seiner  (des  Systems)  Ent- 
wiekelung  ausgeübt  wird,  in  genaueren  Maassen  zu  bestimmen ; 
es  genügt  hervorzuheben,  dass  die  Systembildung  inhalt- 
lich unter  einem  massgebenden  Einflüsse  über- 
haupt jener  Aufnahme  steht. 

Bezeichnet  man  den  Act  der  Aufnahme  oder  Erbebung 
eines  Yorstellungsinhaltes  zum  Ausgangsproblem  einer  philo- 
sophischen Systembildung   als  „Problematisation^:  so  er« 


^)  Bei  Seite  gelassen  ist  hierbei  der  Fall,  wo  das  weiter- 
blickende Forscherauge  des  Philosophie  Treibenden  nach  Neben- 
erfolgen schielt,  die  meist  nichts  weniger  als  theoretischer 
Art  sind.  Gleichgültig  wie  selten  etwa  dieser  Fall  eingetreten  sein 
mag,  die  ausgeführte  psychologische  Betrachtung,  welche  die 
Entwickelung  der  Philosophie  auf  ihre  Gesammtmotive  bin  unter- 
sucht, wird  die  Mitfunction  solcher  ausserhalb  der  rein  theoretischen 
Factoren  belegenen  „Nebenzweckursachen^'  nicht  völlig  ausser  Rech- 
nung lassen  können. 


60  ^*  AvenariuB: 

giebt  sich  aus  der  Abhängigkeit,  in  welcher  sich  der  System- 
inhalt  von  der  Problematisation  befindet,  auch  die  Abhängigkeit, 
in  welcher  die  wissenschaftliche  Berechtigung  des 
Systeminhaltes  von  der  wissenschaftlichen  Be- 
rechtigung des  problematisirten  Yorsteliungs- 
inhaltes  steht. 

Hieraus  folgt,  dass  bei  der  Forderung:  es  soUe  der  Inhalt 
einer  philosophischen  Systembildung  wissenschaftlich  be- 
rechtigt sein,  die  Voraussetzung  erfüllt  sein  muss,  dass  der 
zur  Problematisation  verwendete  und  somit  die  Systembildung  be- 
stimmende YorsteUungsinhalt  wissenschaftlich  berechtigt  sei  Und 
hieraus  ergiebt  sich  die  methodologische  Forderung  selbst :  b  e  h  u  f  s 
einer  philosophischen  Systembildung,  welche  für 
ihren  Inhalt  wissenschaftliche  Berechtigung  ver- 
langen soll,  nur  solche  Yorstellungsinhalte  zur 
Problematisation  zuzulassen,  welche  wissenschaft- 
lich berechtigt  sind.  — 

Erinnern  wir  uns  jetzt,  welche  Aufgabe  diese  Erwägungen 
hatten:  es  galt  nachzuweisen,  welche  Bedeutung  einer  Ent- 
wickelungstheorie  (im  angegebenen  Sinne)  für  die  Philo- 
sophie zugesprochen  werden  dürfe.  Wir  sehen:  die  aller- 
geringste für  eine  —  wie  wir  sie  nun  nennen  wollen: 
naive  Philosophie,  deren  eines  Kennzeichen  eben  ist,  dass  sie 
die  historisch  überlieferten  Probleminhalte  in  naivem  Glauben 
an  deren  wissenschaftliche  Problemberechtigung  zur  Proble- 
matisation zulässt.  Die  Entwickelungstheorie  dürfte  dagegen 
die  allergrösste  Bedeutung  für  jede  wissenschaftliche 
philosophische  Entwickelung  haben:  ist  doch  wenn  nicht  das 
einzige,  so  gewiss  eines  der  wichtigsten  Kriterien  für  die 
wissenschaftliche  Problemberechtigung  eben  die  Entstehung  — 
die  Abkunft  der  Probleminhalte. 

Nun,  über  diese  Abkunft  der  Probleminhalte  wird,  wenig- 
stens wie  heute  die  Sache  liegt,  in  letzter  Instanz  eine  Ent- 
wickelungstheorie zu  entscheiden  haben,  da  die  Entwickelungs- 
geschichte  so  tief  nicht  hinabsteigt.  Diese  Entscheidung  über 
die  Abkunft   führt   aber   alsbald   zu  einer  Unterscheidung  hin- 


In  Sachen  der  wissenschaftlichen  Philosophie.  gl 

sichtlich  der  Legitimität  der  Abkunft  und  somit  der  Legitimität 
der  Anspräche  der  Probleme.  Diese  letztere  Unterscheidung 
ist  aber  um  deswillen  wichtig  und  nöthig,  weil  zunächst 
sämmtliche  Problem]  nhalte  in  völliger  Naivität  Anspruch  auf  die 
Problematisation  erheben.  Dass  es  in  der  That  aber  Probleme 
giebt,  deren  Ursprung  in  dem  Sinne,  welchen  der  Zusammen- 
hang dieser  Erwägungen  ergiebt,  als  in  wissenschaftlicher  Hin- 
sicht „illegitim"  bezeichnet  werden  kann,  dürfte  nicht  zu  be- 
zweifeln sein ;  wenigstens  glaube  ich,  selbst  von  den  enragirtesten 
Verfechtern  erfahrungsfreier  Systembildung  nicht  ernstlichen 
Widerspruch  befürchten  zu  müssen,  wenn  ich  als  „illegitim" 
z.  B.  ein  Problem  bezeichne,  dessen  Inhalt  nachweisbar  einer 
normalen  oder  anormalen  Bewusstseinstäuschung  oder 
auch  bewussten  und  unbewussten  Fälschungen  zu  be- 
stimmten Zwecken  entstammt.  £in  solches  Problem  wird 
also  in  der  wissenschaftlichen  Entwickelung  nicht  die  Fähigkeit 
haben  können,  berechtigte  Ansprüche  auf  Problematisation  zu 
erheben.  Durch  diese  Unterscheidung  der  naiven  und  der 
wissenschaftlichen  Probleminhalte  und  mitliin  der  naiven  und 
wissenschaftlichen  Problematisation  und  der  dadurch  eingeleiteten 
Beschränkung  der  Problematisation  auf  die  legitimen  Problem- 
inhalte geht  die  philosophische  Entwickelungstheorie  in  eine 
„Kritik  der  philosophischen  Probleme"  über,  um  in 
einer  „Theorie  der  Grenzen  der  wissensehaffcliehen 
Problematisation"  zu  enden.  Und  so  ist  die  Entwicke- 
lungstheorie die  Grundlage  einer  —  wie  mr  die  Gesammtheit 
der  hierhergehörigen  Untersuchungen  nennen  wollen:  — 
„Problematisatlonstheorie" . 

Nach  dem,  was  in  der  voraufgehenden  kurzen  Erörterung 
gegeben  worden  ist,  verhält  es  sich  also  mit  der  Problematisa- 
tion nicht  anders  als  es  sich  mit  der  j Erkenn tniss"  verhält: 
im  Stand  der  Naivität  tritt  die  Problematisation  so  unbe- 
grenzt auf  als  das  Phänomen  der  „Erkenntniss"  —  in  der 
wissenschaftlichen  Entwickelung  werden  beiden  Be- 
wusstseinssituationen  Grenzen  gezogen.  Und  so  ergänzt,  wie 
angekündigt,  die  Problematisationstheorie  die  Erkenntnisstheorie, 


62  A*  Avenarius: 

welche  letztere  in  ihrer  modernen  Ausbildung  hier  für  berech- 
tigt angenommen  werden  möge,  obwohl  das  „Erkenntnissproblem" 
bis  heute  noch  nicht  das  „Rigorosum*'  vor  der  Problematisations- 
theorie  bestanden,  ja  nur  es  verlangt  zu  haben  scheint«  Ich  habe 
an  dieser  Stelle  noch  auf  eine  weitere  verwandte  Entwickelung 
hinzuweisen  und  wende  mich  nun  mit  diesem  Hinweis  zu  der  — 
übrigens  mit  wenig  Worten  zu  erledigenden  —  Charakterisirung 
der  zweiten  Untersuchungscombination,  welche  nach  meiner 
oben  (S.  53)  geäusserten  Ansicht  die  Leistungen  der  sog.  Erkennt- 
nisstheorie und  auch  der  Logik  zu  ergänzen  berufen  sein  dürfte. 

Ebenso  nämlich,  wie  Problematisation  und  „Erkenntniss** 
im  Stand  der  Naivität  gleich  unbegrenzt  sind;  kann  auch  im 
selben  Stand  das  „Begreifen"  unbegrenzt  sein.  Wie  die 
philosophische  Systembildung  das  philosophische  Problem  ^  so 
setzt  das  philosophische  Begreifen  das  philosophisch  Unbegriffene 
voraus.  Abgesehen  nun  von  aller  —  wenn  ich  den  Ausdruck 
wagen  darf:  Philosophicität  des  Inhaltes,  so  besteht  in  unserem 
jetzt  vorhegenden  Falle  einerseits  ein  Yorstellungsinhalt,  welcher 
sich  in  einem  Zustand  des  Denkens  befindet,  der  seine  speci- 
fische  Färbung  durch  die  Nuance  des  Unbegriflfenseins ,  ünbe- 
kanntseins,  einer  Befremdung,  einer  Unklarheit  u.  s.  f.  erhält  — 
und  andererseits  besteht  eine  Tendenz,  diesen  Zustand  aufzuheben 
und  angesichts  des  betreffenden  Yorstellungsinhaltes  ein  Denken 
mit  der  Eigenschaft  der  Klarheit,  des  Begriffenen,  Bekannten, 
Vertrauten  u.  s.  f.  vnederherzustellen.  Soweit  es  nun  zu  unter- 
suchen gilt,  wie  ein  Vorstellungsinhalt  aus  einem  vorhergehenden, 
entgegengesetzt  charakterisirten  in  ein  Bewusstsein  des  Unbe- 
griffenen, der  Befremdung  u.  s.  f.  tritt  und  durch  diesen  Zustand 
hindurchgehend  sich  in  ein  Bewusstsein  des  Begriffenen  (des 
Begriffenhabens)  zurückleitet  —  soweit  würde  die  Untersuchung 
des  Begreifens  einen  Theil  der  Lehre  von  der  Bildung  und 
Lösung  der  Probleme  ausmachen^  bez.  eine  Entvrickelung  dar- 
stellen, die  sich  von  jener  Lehre  abzweigt. 

Zu  einer  Ergänzung  der  „Logik  und  Erkenntnisstheorie" 
wird  die  Lehre  vom  Begreifen  durch  die  aus  ihr  resultirende, 
heute   übrigens    wohl  als    allgemein  bekannt  vorauszusetzende 


In  Sachen  der  wissenschafitlichen  Philosophie.  63 

Einsicht,  dass  die  Comprehensionalfunction  —  d.  b. 
diejenige  Function  einer  Vorstellung:  durch  ihr  Eingreifen  den 
Zustand  des  Unbegriffenseins  in  einen  solchen  des  Begriffenseins 
zurückzuwandeln  —  gar  nicht  auf  objectiv-realen,  sondern  nur 
auf  subjectiv -psychologischen  Werthen  der  betreffenden  Vor- 
stellung beruht;  wie  denn  auch  erfahrungsgemäss  die  allersub- 
jectivsten  und  willkürlichsten  Vorstellungen  unter  Umstanden 
sich  als  vortrefflich  verwendbar  erzeigt  haben,  ein  Begreifen 
herbeizuführen.  Da  nun  hierin  ausgedrückt  liegt,  dass  die 
Thatsache  der  Begreiflichmachung  an  sich  und  als 
solche  weder  zu  Gunsten  der  objectiven  Existenz  des  Unbe- 
griffenen noch  auch  all  dessen,  durch  dessen  Vorstellung  die 
Erklärung  geleistet  wird,  etwas  beweist:  so  folgt,  dass  ein  Vor- 
slellungsinhalt  nicht  um  desswegen  blos  in  die  wissenschaftliche 
Erfassung  des  Seienden  aufzunehmen  sein  kann,  weil  er  die 
Gesammtheit  oder  einen  Theil  des  wirklich  oder  vermeintlich 
Seienden  begreiflich  macht;  dass  es  vielmehr  wissenschaftlicher 
sein  muss,  ein  Begreifen  abzulehnen,  solange  die  begreiflich- 
machende Vorstellung  nichts  Anderes  für  ihre  objectiv-wissen- 
schaftliche  Gültigkeit  beizubringen  vermag,  als  die  Ueberredun(j, 
welche  leicht  in  ihrer  subjectiven  Leistung  —  eben  der  Be- 
greiflichmachung —  liegt  Das  wissenschaftliche  Be- 
greifen hat  demnach  Grenzen  und  zwar  werden  ihm  diese 
durch  dieselben  Kriterien  gezogen  sein,  welche  die  Berechtigung 
der  Ansprüche  eines  VorsteUungsinhaltes ,  wissenschaftlich  als 
gültig  betrachtet  zu  werden ^  begrenzen  —  abgesehen  von 
der  Function  dieser  Vorstellungen,  einen  anderen  Vorstellungs- 
inhalt eventuell  begreiflich  zu  machen.  Hierin  ist  der  Unter- 
schied zwischen  einem  wissenschaftlichen  und  dem  naiven  Be- 
greifen begründet :  das  naive  Begreifen  verlangt  von  einer  Vor- 
stellung behufs  Zulassung  zur  Begreiflichmachung  theoretisch 
nichts  Anderes,  als  dass  diese  Vorstellung  eben  hierzu  die  sub- 
jectiv-psychologische  Tauglichkeit  besitze;  darum  ward  ja  vom 
naiven  Begreifen  gesagt;  es  könne  unbegrenzt  sein,  weil  die 
menschliche  Naivität  eine  unbegrenzte  sein  kann  und  innerhalb 
dieser  Naivität  die  unbegrenzten  Mannichfaltigkeiten  der  Subjec- 


34  R*  Avenarius: 

tivitatsentwickelung  eine  unbegrenzte  Fülle  subjectiver  Erklärungen 
(=  Begreiflichmachungen)  ermöglicht. 

Mit  dem  Gesagten  glaube  ich  den  Charakter,  vielleicht  auch 
die  Nothwendigkeit  einer  solchen  Comprehensionaltheorie,  welche 
eine  „Kritik  des  Begreifens"  und  die  „Theorie  der 
Grenzen  des  wissensehaftlichen  Begreifens"^)  enthalten 
würde,  genügend  dargelegt  zu  haben  —  aber  zugleich  auch 
die  Breite  der  Grundlage,  welche  hier  der  wissenschaft- 
lichen Philosophie  zugedacht  ist.  Dass  diese  Grundlage 
immer  nur  diejenige  der  Erfahrung  —  der  äusseren  wie 
inneren  —  ist,  geht  wieder  aus  den  Elementen  hervor,  aus  denen 
sich  ebenso  wie  die  philosophische  Entwickelungstheorie  die 
Problematisations-  und  Comprehensionaltheorie  auferbauen  — 
welche  Elemente  überall  Erfahrungen  sind,  vorwiegend,  aber 
nicht  ausschliessUch  psychologischer  Natur  ^). 

Herr  Ulrici  meinte  (Schluss  von  Citat  12)  es  Hesse  sich 
nicht  ohne  Weiteres  behaupten,  dass  die  Erfahrung  die  „Grund- 
lage" aller  Wissenschaft  und  Philosophie  sei;  ich  antworte  also : 
nicht  aller  Philosophie,  wohl  aber  aller  Wissenschaft  —  und 
der  Philosophie  nur,  insofern  diese  zugleich  „Wissenschaft"  ist; 
und  ich  sage  dies  auch  nicht  „ohne  Weiteres",  sondern  nach 
Erwägungen,  die  vielleicht  weiter  gehen,  als  Herr  Ulrici  ver- 
langte, und  vielleicht  über  mehr  Bichtungen  sich  verbreiten,  als 
er  erwartete 


*)  Man  sollte  auch  in  dei:  Erkenntnisstheorie  nirgend  von  den 
Grenzen  des  „Erkennens'*  schlechthin,  sondern  nur  von  den  Grenzen 
des  wissenschaftlichen  „Erkennens"  sprechen.  Die  hiermit  ein- 
geführte Präcision  würde  sich  wissensehafitlich  wohl  lohnen! 

*)  Genaueres  Material  aus  den  charakterisirten  Theorieen 
kann  an  dieser  Stelle  nicht  mitgetbeilt  werden;  ich  habe  dasselbe 
zunächst  in  Vorlesungen  niedergelegt,  und  hoffe,  es  in  dem  grösseren 
Werke  publiciren  zu  können,  dessen  Prolegomena  ich  bereits 
veröffentlicht  habe  (Philosophie  als  Denken  der  Welt  gemäss  dem 
Princip  des  kleinsten  Kraftmasses.  Prolegomena  zu  einer  Kritik 
der  reinen  Erfahrung.  Leipzig,  1876).  Auf  diese  Schrift,  welche 
jene  Theorieen  wenigstens  in  Andeutungen  enthalt,  muss  ich  auch 
den  Leser  des  Näheren  willen  einstweilen  verweisen. 


In  Sachen  der  wissenschaftlichen  Philosophie.  65 

Ob  nun  endlich  die  JErgebnüse  —  nicht  nur,  wie  Herr 
Ulrid  beansprucht  (S.  235),  der  logischen  und  erkenntnüs- 
theoretüehen  —  sondern  wie  wir  hinzufügen,  all  der  an- 
gedeuteten Foraehmgen  zu  Gunsten  des  menschlichen  Wissens^ 
triebe  sprechen  werden?  Das  wird  davon  abhängen,  was  zu 
wissen  es  Einen  treibt!  Und  da  k^nn  es  wohl  geschehen,  dass 
die  Naivität  ein  Mehreres  oder  Anderes  zu  wissen  verlangt,  als 
wenigstens  die  Wissenschaft  zu  gewähren  vermag!  Aber  was 
soll  diese  ungünstige  Chance  für  den  reinen  Wissenstrieb  be- 
fürchten lassen?  Dieser  wird  durch  Wissen  befriedigt  — 
und  falls  die  Ergebnisse  (nach  Herrn  Ulrici^s  eigener  Voraus- 
setzung) wenigstens  der  „Logik  und  Erkenntnisstheorie^  wirk- 
lich festgestellt  und  dadurch  zu  einem  Wissen  geworden  sind: 
so  müssen  sie  zu  Gunsten  des  Wissenstriebes  als  solchen 
sprechen,  denn  wer  in  intellectueller  Freiheit  überhaupt  nur  zu 
wissen  verlangt,  würde  zum  Mindesten  jene  Ergebnisse  über- 
liefert und  durch  sie  seinen  Wissenstrieb  befriedigt  erhalten. 
Oder  sind  für  Herrn  Uhrid  „Logik  und  Erkenntnisstheorie," 
von    denen    er    so   bedeutungsvoll    spricht,    überhaupt    nicht 

Wissenschaft? 'Die  Frage,   ob  „Logik  und  Erkennt- 

nisstheorie^*  in  ihren  Ergebnissen  überhaupt  zu  Gunsten  des 
Wissenstriebes  sprechen,  ist  also  —  mild  gesagt  —  ohne  rechten 
Sinn,  da  sie  hiesse:  kann  ein  Wissen  zu  Gunsten  des  Wissens- 
iriebes  sprechen?  Sind  aber  die  Ergebnisse  der  „Logik  und 
Erkenntnisstfaeorie'^  nicht  festgestellt,  so  können  sie,  wie  mir 
scheint,  auch  nicht  zu  Ungunsten  des  menschlichen  Wissens*- 
triebes  zeugen  —  und  damit  auch  nichts  gegen  die  Möglichkeit 
einer  wissenschaftlichen  Philosophie  ausmachen,  zu  deren  Ver- 
wirklichung beizutragen  Aufgabe  dieser  Zeitschrift  wurde«  — 

Die  nächste  Bemerkung  des  Herrn  Ulrici  gilt  dem  Passus 
des  Einführungsartikels  (S.  13  f.):  „Eine  solche  einheitliche 
Wdtauffassung  bezeichnet  man  gewöhnlich  als  Aufgabe  speciell 
der  Philosophie  —  und  nicht  mit  Unrecht:  denn  Philosophie  ist 
in  letzter  Instanz  nichts  Anderes,  wie  wir  sehen,  als  das  Resultat 
der  Zusammenwirkung  der  Spedalwissenschaften  in  einem  all- 
gemeinsten Begriff."   Hierzu  also  bemerkt  Herr  Ulrici  (S.  235  f.) : 

Viexte^ahrssclirift  f.  wissenBchaftl.  PhiloBophie.  m.  1.  5 


gg  B.  ATenarius: 

13,  yyAbgesehen  davon y  dass  nickt  wohl  einzusehen  ist^ 
tme  neben  den  Spedcdvnasensehaften  noch  von  Philosophie 
die  "Rede  seyn  kann,  wenn  sie  nur  das  ^yüesultat^^  des  (postu* 
lirten)  Zusammenwirkens  jener  isi^  müssen  wir  diese  DefiMr 
tion  der  Philosophie  nicht  nur  nach  Avenarius'  eignen  Prä- 
missen für  unbegründet  erklären^  sondern  sie  auch  des  Wider^ 
Spruchs  mit  den  Ergebnissen  seiner  eignen  Erörterung 
zeihen,^^ 

Die  Begründung  dieses  Einwandes  seitens  des  Herrn  Ulrici 
folge  nun  zugleich  mit  der  Beantwortung  unsererseits: 

,yDenn  nach  ihm  selbst  (sc.  dem  Verfasser  des  Einführungs- 
artikels) ßndet  ja  jenes  Zusammenwirken  der  Specicdtvissen- 
Schäften  nicht  statt^^  —  der  Einführungsartikel  hatte  im  Gegen- 
theil  gerade  (S,  7  f.)  die  Thatsache  angeführt  und  zu  Grunde 
gelegt^  dass  die  Specialwissenschaften  einem  Punkte  zustreben, 
wo  sie  ihre  specialwissenschaftliche  Betrachtungsweise  aufgeben 
und  ihre  letzten  Begriffe  untereinander  auszugleichen  suchen  — 
y^und  kann^  weil  sie  eben  Specialwissenschaften  sind,  nicht 
stattfinden^^  —  der  Einführungsartikel  sagte  gerade  (S.  7  f.), 
weil  sie  Specialwissenschaften  sind,  müssen  sie,  um  sich  als 
Wissenschaft  zu  vollenden^  in  jene  Zusammenwirkung  ein- 
treten; das  kann  freilich  nicht  stattfinden^  solange  sie  nur 
Specialwissenschaften  im  modernen  Sinne  des  Wortes  sind  — 
yysondem  wird  durch  die  Philosophie  vermittelte^  —  der  Ein«^ 
führungsartikel  machte  geltend :  dieses  Zusammenwirken  istPhilo^ 
Sophie  und  zwar  Philosophie  im  weiteren  Begriff^  wie  S.  12 
des  Einführungsartikels  deutlich  zu  lesen  steht.  In  diesem 
weiteren  Begriff  heissen  die  Untersuchungen,  welche  die  Pnncipien 
alles  Wissens,  Begreifens^  Erfahrens,  bez.  die  Wissenschaftlichkeit 
der  Specialwissenschaften  selbst  betreffen,  —  „Philosophie". 
Es  ist  nicht  die  Schuld  des  Einführungsartikels,  wenn  H^rr 
inrici  die  daselbst  gemachte  Unterscheidung  einer  Philosophie 
im  weiteren  und  engeren  Sinne  in  seinem  Eifer  übersieht  oder 
ignorirt;  und  so  möge  es  denn  auch  nicht  demEinführungs* 
artikel  zur  Last  gelegt  werden,  wenn  Herr  Ulrici  zu  dem 
Schluss  kommt,  dass  nach  dem  Inhalt  des  EinführungsartikeU 


In  Sachen  der  wissenschaftlichen  Philosophie.  Q^ 

selbst  ^yFhüosophie  nickt  als  blosses  jRestdtat  des  Zusammen- 
wirkens*^ der  Specialwissenschaften  bezeichnet  werden  könne: 
zu  diesem  Schluss  gelangt  Herr  Ulrici  nur  dadurch,  dass  er  an 
letzter  Stelle  eine  Bestimmung  verschweigt^  die  er  kurz  vorher, 
wo  er  den  Einführungsartikel  wörtlich  zu  citiren  hatte,  mitab- 
drucken musste  —  die  determinirende  Bestimmung:  „in 
letzter  Instanz^M  Und  zu  dem,  was  die  Philosophie  in 
letzter  Instanz  ist,  ist  sie  in  ihrem  weiteren  Begriff  allerdings 
yyBedingung  und  Basis**:  aber  es  ist  ja  eben  jenes  im  Ein- 
führungsartikel skizzirte  Zusammenwirken  von  Specialwissen- 
schaften, welches  die  Philosophie  im  weiteren  Sinne  aus- 
macht. — 

14,  yyleh  beende  meinerseits  diese  Bemerkungen  mä  dem 
Hinweis^  dass  die  neue  wissensehafüiche  Philosophie  conse- 
quenter  Weise  nicht  nur  alle  Metaphysik,  sondern  auch  alle 
Ethik  aus  dem  Bereich  der  Philosophie  verbannen  muss.^ 
(S.  236). 

Zunächst  zwei  Worte  über  die  Zulässigkeit  der  Metaphysik. — 
Die  Metaphysik  stellt  in  ihrem  Resultat  eine  Yorstellungsmasse  m 
dar,  welche  eine  andere  Yorstellungsmasse  /u,  deren  Inhalt  ver- 
gleichsweise unbestimmt  ist,  durch  Apperception  inhaltlich  be- 
stimmt. Diese  inhaltliche  Bestimmung  wird  wissenschaftlich 
zulässig  sein,  wenn  —  abgesehen  von  den  Eigenschaften,  welche, 
eventuell  die  Yorstellungsmasse  ju  besitzen  muss  —  der  Inhalt 
der  Yorstellungsmasse  m  wissenschaftlich  zulässig  ist:  hierüber 
entscheidet  aber  nicht,  ob  sich  der  Metaphysiker  bei  Yollziehung 
seiner  Apperceptionen  wissenschaftlich  gestimmt  fühlt  oder  ob 
ihm  sonst  so  zuMuthe  ist;  sondern  hierüber  entscheidet  die  Ent- 
wickelungs-,  bez.  Problematisationstheorie.  Die  dort  gewonnenen 
Ergebnisse  könnten  aber  die  Metaphysik  nie  und  nimmermehr  aus 
dem  ^^Bereich  der  Philosophie'*  überhaupt,  sondern  nur  aus  dem 
der  wissenschaftlichen  Philosophie  bannen  —  dann  nämlich,  wenn 
sich  erweist,  dass  ein  wesentlicher  Inhalt  der  metaphysischen 
Yorstellungsmasse  m  aus  normalen  oder  anormalen  Bewusstseins- 
tauschungen,  aus  Scheinerfahrungen  u.  dgl.  entstanden  sei. 

Aber   muss   nun  nothwendig  der  Inhalt   m   aus   solchen 

6* 


QIQ  B.  Avenarius: 

wissenschaftlich  unzulässigen   Quellen  herstammen?    Es   wird 
das,  wie  mir   scheint,  Ischliesslich  davon  abhängen ,  was  man 
unter  »^Metaphysik''  versteht    Versteht   man  zum  Beispiel 
unter  ^Jtfetaphysik''  ihrem  Resultat   nach  die  Apperception  der 
Weltvorstellung  ^   durch  eine   Vorstellung  m,   welche  —  im 
Gegensatz  zu  der  sog.  sinnhchen  Anschauung,  wie  sie  aus  dem 
heutigen  Entwickelungsstand  der  Wahrnehmung  des  Erwachsenen 
unmittelbar  entnommen   erscheint  —  alles  das,  was  durch  be- 
zügUche  eingreifende  und  übergreifende  Mehrerfahrungen  sich 
als  Hypostasen  von  höchstens  Hülfsbegriffswerthen  erwies,   aus 
sich  ausgeschieden  hat:  so  wii*d  eine  solche,  von  der  heutigen, 
dem  Anscheine  nach  unmittelbar  „sinnlich"  erfassten  Weltvor- 
Stellung    wesentlich   abweichende    und   in    dieser  Abweichung 
„Metaphysik '^    zu   nennende,    nach    der   Voraussetzung    auch 
„Metaphysik^  wirklich  leistende  Vorstellungsmasse  m  wissen- 
schaftlich berechtigt   sein.    Denn  ihr  Inhalt   wäre  das 
Resultat    combinirter  Apperceptionen ,    deren    einzelne  Inhalte 
sämmtlich    der   Erfahrung    entstammten.     Es    würde    hieraus 
hervorgehen,  dass  der  Gegensatz,  welcher  auf  dem  Grunde  einer 
Psychologie,  welche  noch  mangelhafter  war,  als  die  heutige  ist, 
entwickelt  wurde,  —  dass,  sage  ich,  der  Gegensatz  zwischen 
Metaphysik  und  Erfahrung  kein  absoluter,  sondern  ein  in  einer 
Weiterentwickelung  eventuell  auszugleichender  sei. 

Doch  —  wie  dem  auch  sei,  ich  wiederhole:  in  keinem 
Falle  hat  Herr  Uliici  Ursache,  für  die  Zukunft  der  Metaphysik 
besorgt  zu  sein  —  auch  wenn  sich  die  Inhalte  der  Vor- 
stellungsmasse m  nicht  in  der  wissenschaftlichen  Philosophie 
erhalten  könnten!  Unsere  Gesammtcultur  ist  noch  lange  nicht 
so  beschaffen,  dass  den  metaphysischen,  wissenschafLlich  im 
Denken  der  Welt  nicht  zu  erhaltenden  Vorstellungsinhalten  von 
unten  der  nährende  Boden  und  von  oben  der  pflegende  Sonnen- 
schein fehlen  sollte!   So  viel  zur  Metaphysik ^)  —  das  Bemerkte 

')  Nachträglich  werde  zur  Ergänzung  verwiesen  auf  den  Ar- 
tikel H.  Sieb  eck 's  im  II.  Jahrg.  dieser  Zeitschrift  (Heffc  1  u.  2): 
„Die  metaphysischen  Systeme  in  ihrem  gemeinsamen  Verhältnisie 
zur  Erfahrung.'* 


In  Sachen  der  wissenscliaftlichen  Philosophie.  69 

wird  genügen  können,  da  Herrn  Ubici's  speciellere  Begründung 
(als  Material  die  Beschrankung  der  Causalitätsgeltung  auf  die 
Erfahrung  gebrauchend)  uns  eine  Lehrmeinung  unterschiebt,  die 
sich  im  Einführungsartikel  weder  als  Problemstellung  noch  als 
Voraussetzung  verwendet  findet  — 

Besonders  charakteristisch  für  das  Verfahren  des  Herrn 
Ulrici  ist  nun  auch  der  Passus,  mit  welchem  er  seine  Ansicht 
Yon  der  in  den  Consequenzen  der  wissenschaftlichen  Philosophie 
liegenden  „Verbannung^  der  Ethik  begründet  (S.  236): 

15a,  yyUnd  handelt  es  sich  in  der  Ethik  um  das  Seyn^ 
sollende^  —  wer  das  leugnety  hat  erst  nachzuweisen,  dass  das 
allgemein  menschliche  Streben  nach  einer  über  das  Gegebene 
hinausgehenden  VoUkommenkeit  wie  alles  Pflicktge/ühl ,  alle 
moralische  Verbindlichkeit  y  auf  blosser  Selbsttäuschung  und 
Illusion  beruhe,  —  so  ist  die  Ethik  keine  ^^wissenschaftliche** 
Disciplin.** 

Mir  scheint,  man  könne  recht  wohl  der  Ansicht  sein  (und 
ich  selbst  und  mit  mir,  soviel  ich  weiss,  alle  Mitarbeiter  an 
dieser  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie  sind  dieser 
Ansicht),  dass  das  von  Herrn  Ulrici  sofort  als  „allgemein 
menschlich"  bezeichnete  Streben  nach  Vollkommenheit,  sowie 
alles  Pflichtgefülil  und  aUe  moralische  Verbindlichkeit  nicht 
„auf  blosser  Selbsttäuschung  und  Illusion"  beruht  —  und 
dennoch  bliebe  bestreitbar,  dass  es  sich  in  der  Ethik  durchaus 
um  das  Seinsollende  handle;  und  umgekehrt,  warum  sollte  nicht 
Jemand  meinen  können,  es  beruhe  all  das  Angegebene  auf 
Selbsttäuschung  und  Illusion,  und  doch  zugleich  zugeben,  dass 
eine  Ethik  als  Wissenschaft  vom  Seinsollenden  bestehen  könne: 
denn  dass  gewisse  Dinge,  Handlungen  und  Verhältnisse  sein 
sollen,  das  ist  ja  Thatsache  —  und  warum  sollte  diese  einer 
Ethik  als  Wissenschaft  nicht  erfassbar  sein? 

Herrn  Ulrici's  im  Citat  reproducirte  Nachweisforderung 
beruht  vermuthlich  (und  fast  möchte  ich  sagen:  hoffentlich) 
weniger  auf  seiner  Logik ,  auf  die  er  uns  bereits  einmal  aus- 
drücklich verwies,  sondern  wohl  mehr  auf  seiner  speciellen 
Ethik,  auf  die  jene  Forderung  stillschweigend  hindeutet.    Denn 


70  K«  Avenarius: 

die  dichte  Verbindung,  in  welcher  hier  das  „Seinsollende''  mit 
dem  nicht  auf  Selbsttäuschung  und  lUusion  beruhenden  Streben 
nach  Vollkommenheit  etc.  gedacht  wird,  enthält  schon  nicht  mehr 
die  blosse  Aufgabe  einer  Wissenschaft,  sondern  schon  eine 
bestimmte  Lösung. 

Doch  gleichviel!  Was  hat  der  Umstand,  dass  als 
das  Object  der  Ethik  das  Seinsollende  zu  gelten 
habe,  mit  der  behaupteten  Nothwendigkeit  ihrer 
Verbannung  aus  dem  Bereich  der  Philosophie  und 
selbst  der  wissenschaftlichen  Philosophie  zu 
schaffen?  Das  ist  eine  sehr  ernste  Frage,  denn  das  Interesse 
an  der  Ethik  ist  ein  sehr  ernstes,  sehr  allgemeines  und  dabei  nicht 
bloss  ein  theoretisches;  und  wer  öffentlich  von  einer  Wissenschaft 
behauptet,  sie  müsse  consequenterweise  die  Ethik  aus  ihrem  Be- 
reiche bannen,  ein  Solcher  hat  mehr  als  Ein  Mal  zu  überlegen, 
aus  was  für  Gründen  und  mit  was  für  Mitteln  intellectueller 
Befahi^ng  er  an  seine  vielleicht  weittragende  Behauptung  gehen 
will!  Wir  verlangen  also  eine  ernste  Antwort  fähiger 
Ueberlegung  —  und  wer,  nachdem  er  die  Frage  aufgeworfen 
hat,  keine  solche  Antwort  zu  geben  vermag^  der  wird  sich 
gegen  den  Verdacht  zu  vertheidigen  haben  ^  dass  es  ihm  an 
Ernst  oder  an  Fähigkeit  gebreche.  Herr  Ulrici  hat  die  Frage 
aufgeworfen  —  was  wird  er  antworten?  Hören  wir!  Herr 
Ukici  schliesst  (S.  236): 

15  h,  ^yDenn  das  Seynsoüende  kann  kein  ErfahrungS" 
object j  kein  ^yGegebenes^^  aeyn,  da  es  ja  nicht  isty  sondern 
eben  seyn  soW^. 

So  geschrieben  im  Jahre  1877  und  glaube  ich  kaum,  dass 
in  diesem  Jahre  etwas  —  —  Unqualificirbareres  von  einem 
„Philosophen''  geschrieben  worden  ist! 

Richtig !  das  Seinsollende  ist  kein  „Gegebenes"^  da  es  nicht 
ist,  sondern  sein  soll!  Aber  Erfahrungsobject  und  ge- 
geben ist  die  thatsächliche  Existenz  sittlicher  Verhältnisse, 
Erfahrungsobject  und  gegeben  ist  eine  Entwickelung 
zur  Verallgemeinerung  und  Vervollkommnung  dieser  sittlichen 
Verhältnisse    —   ebenso    wie    es  Erfahrungsobject   und 


In  Sachen  der  wissenschaftlichen  Philosophie.  71 

gegeben  ist,  dass  diese  Entwickelung,  weil  sie  erfahr ungs- 
massig  nothwendig  ist,  auf  der  einen  Seite  die  Form  des 
Gewollt-  und  Angestrebtwerdens^  auf  der  andern  —  eben  durch 
ihre  Nothwendigkeit  —  die  Form  des  Seinsollens  erfahrungs- 
gemäss  annimmt 

Also:  in  der  Erfahrung  gegeben  ist  allerdings  nicht  das, 
was  nicht  ist,  weil  es  eben  sein  soä;  wohl  aber  ist  in  der  Er- 
fahrung gegeben^  dass  Etwas  sein  soll,  weil  es  erfahrungs- 
gemäss  nothwendig  ist  zu  bestimmten  Zwecken.  — 

Herr  Ulrici  schliesst  (S.  236): 

16.  ^f  Diese  Bemerkungen  indess  werden  y  hoffe  ich^  ge- 
nügen, um  den  Unbefangenen  zu  überzeugen  j  dass  die  neue 
vdssenschaftliche  Philosophie  in  Wahrheit  der  alte  dogmatische 
Empirismus  ist^  nur  modern  aufgestutzt,  auf  das  Dogma  von 
der  AUeingüUigkeit  und  unantastbaren  Autorität  der  naJhir" 
wissenschaftlichen  Forschung  und  ihrer  Ergebnisse  basirt,  — ** 

Meine  Gegenbemerkungen  werden  vielleicht  genügt  haben, 
den  Denkenden  befürchten  zu  lassen,  dass  Herr  Ulrici  die 
wissenschaftliche  Philosophie  mit  so  Etwas  wie  einem  alten 
Sensualismus,  die  Werthschätzung  der  naturwissenschaftUchen 
Methoden  mit  der  Basirung  auf  ein  Dogma  Ton  der  Alleingültig- 
keit  und  unantastbaren  Autorität  der  naturwissenschaftlichen 
Forschung  und  Ergebnisse,  und  schliesslich  die  (vorwiegend  auf 
Grund  der  neueren  Apperceptionslehre  und  Sprachphilosophie 
erfolgte)  Weiterentwickelung  der  Auffassung  der  Erfahrung  mit 
einer  „Aufstutzung**  eines  vor  oder  abseits  von  den  neueren 
psychologischen  Errungenschaften  Steinthal^s,  Geiger's,  Wundes 
u.  A.  liegenden  Empirismus  verwechselt  habe.  Wie  das 
Phänomen  einer  solchen  hochgradigen  Verwechslung  psycho- 
logisch möglich  war  —  nun,  das  geht  auf  das  Allergenügendste 
hervor  aus  den  einzelnen  Punkten  eben  dieser  hiermit  beendeten 
kritischen  Gegenbemerkungen ! 

Nachdem  ich  in  dem  Yoraufgehenden  Herrn  Ulrici's  Artikel : 
,iUeber  eine  neue  Species  von  Philosoptüe**  in,  wie  ich  glaube, 
allen  Punkten  besprochen,  habe  ich  einige  Bemerkungen  zur 


72  fi-  Ayenarius: 

Replik,  wekhe  inzwischen  auf  meinen  ersten  Artikel  erschienen 
ist  (Zeitschrift  für  Philosophie  etc.,  N.  F.  Bd.  72,  Heft  1, 
S.  103—110);  hinzuzufügen. 

1.  S.  104  meint  und  sagt  Herr  Ulrici  wörtlich,  dass  die 
„Yierteljahrsschrift  für  wiss.  Philos.^  sich  ihren  Titel  erst  geben 
durfte,  nachdem  sie  nachgewiesen,  dass  die  von  ihr  ver- 
tretene Philosophie  die  allein  wissenschaftliche  sei.  Eine  etwas 
originelle  Zumuthung,  dass  eine  Zeitschrift  sich  ihren  Titel  erst 
so  und  so  lange  nach  ihrem  Erscheinen  geben  solle!  Mir 
scheint,  man  könne  doch  nur  verlangen,  dass  die  Philosophie, 
welche  die  Zeitschrift  von  ihrem  Erscheinen  an  vertritt,  auch 
wirklich,  der  Titelaussage  gemäss,  wissenschaftlich  sei.  Dieser 
Titel  sagt  übrigens  aber  nicht  aus,  dass  nur  in  dieser  Zeit- 
schrift wissenschaftliche  Philosophie,  sondern  dass  in  dieser 
Zeitschrift  nur  wissenschaftliche  Philosophie  getrieben 
werde;  ich  wiederhole  also,  dass  unser  Titel  nicht  mehr  oder 
weniger  zu  leisten  hat,  als  die  Artikel  unserer  Zeitschrift  an- 
zukündigen (vergl.  Jahrg.  I,  Heft  4,  S.  559). 

2.  Auf  derselben  Seite  erneuert  Herr  Ulrici  seine  Be- 
hauptung: dass  die  „erkenntnisstheoretische  Grund-  und  Ur- 
frage^  sich  nicht  „auf  Grundlage  der  Erfahrung**  lösen  lasse, 
weil  ihre  Lösung  über  die  Erfahrung  hinausgehe.  Ich  meiner- 
seits will  gern  meine  Antwort  wiederholen :  dass  das  scheinbare 
Hinausgehen  über  die  Erfahrung  (wenn  anders  es  sich  nicht 
um  Phantasmen  einer  „schwärmenden  Vernunft**  handelt)  ledig- 
lich in  Gontrolirungen  der  Erfahrung  durch  Erfahrung,  als  In- 
halt, bestehe  und  in  Verallgemeinerungen,  wie  sie  in  der  Er- 
fahrung, als  Act,  liegen. 

3.  Auf  S.  105  ist  zunächst  eine  Stylbiume  des  Herrn 
Ulrici  anzumerken :  meine  Ausführung  (Jahrg.  I,  S.  556  f.),  die 
an  dieser  Stelle  sogar  Herrn  Ulrici^s  Ausdruck  „Schrulle**  ab- 
lehnte und  wo  sie  schärfer  gefasst  erscheinen  konnte,  doch  nur 
Kant  sprechen  Hess,  wird  als  —  y^geifemde  Gegenrede**  bezeichnet 
—  Sachlich  ist  zur  angezogenen  Stelle  zu  bemerken ,  dass  Herr 
Ulrici  allerdings  einige  Worte  von  mir  wiederholte,  aber  mit 
diesen  dem  Zusammenhang  entnommenen  Worten  doch  noch 


In  Sachen  der  wisflenschafüichen  Philosophie.  78 

nicht  den  Sinn  der  ganzen  Ausfuhrung  wiedergab:  Herrn  inriGi 
gilt  die  Philosophie  überhaupt  (vgl.  seinen  1.  Artikel,  S.  224 — 5) 
als  Wissenschaft,  und  als  Grund,  dass  sie  Wissenschaft  sei,  wird 
angeführt,  dass  sie  selbst  sich  dafür  gehalten  und  Anderen 
dafür  gegolten  habe ,  und  daher  wird  ihm  der  Satz :  die 
Philosophie  „will**  Wissenschaft  sein,  zur  Frage  —  nicht:  wie 
ist  wissenschaftliche  Philosophie,  sondern:  wie  ist  Philosophie 
überhaupt  möglich;  während  meinerseits  die  Unterscheidung 
zwischen  Philosophie  überhaupt  und  wissenschaftlicher  Philo- 
sophie festgehalten  blieb,  da  die  Zeit  für  ein  Aufgeben  dieser 
Unterscheidung  noch  nicht  gekommen  erschien. 

4.  S.  106  findet  Herr  Ulrici,  dass  ich  die  von  mir  ver- 
tretene Philosophie  durch  den  Titel  meiner  Zeitschrift  „ohne 
Weiteres^  für  Wissenschaft  erkläre.  Man  mag  die  Kriterien 
der  Wissenschaftlichkeit,  die  der  Einführungsartikel  aufstellte, 
anfechten,  bestreiten,  widerlegen;  aber  es  gehört  viel  Affect 
dazu,  angesichts  dieser  Kriterien  zu  behaupten,  man  habe 
„ohneWeiteres**  eine  Philosophie  für  wissenschaftlich  erklärt 

5.  Auf  der  gleichen  Seite  erklärt  Herr  Ulrici,  meine 
„weitläufige^  Darlegung  der  Entstehung  der  Erfahrungsbegriffe 
enthalte  „im  Wesentlichen  nichts  Neues  und  erscheint  d<Jier 
in  jeder  Hinsicht  überflüssig^''  In  seinem  ersten  Artikel  hatte 
Herr  Ulrici  8.  227,  wie  er  auch  selbst  im  zweiten  Artikel  S.  106 
reproducirt,  die  Frage  gestellt,  ob  und  wie  allgemeingültige  Be- 
griffe überhaupt  und  insbesondere,  ob  sie  auf  dem  Wege  der 
Erfahrung  zu  gewinnen  seien.  Will  Herr  Ulrici  jetzt  zu  ver- 
stehen geben,  dass  es  überhaupt  überflüssig  sei,  ihm  auf  seine 
Fragen  —  und  gar  eingehend!  —  zu  antworten?  Fast  scheint 
es  so;  denn  meine  Darlegung  war  eben  die  Antwort  auf 
seine  Frage,  und  der  Umstand,  ilass  die  Antwort,  wenn  sie 
nur  sonst  richtig  und  zutreffend  war,  nicht  neu  genug  sei  •-« 
ein  solcher  Umstand  kann  doch  selbst  von  Herrn  Ulrici 
nicht  ernstlich  zur  Ueberflüssigkeitserklärung  verwendet  werden 
sollen!  So  bedenklich  dies  Verfahren  wäre  —  leider  erregt 
der  Verlauf  der  neuen  Entgegnung  des  Herrn  Ulrici  die  Ver- 
muthung,  dass   die   Sache  in  Wahrheit  noch   um   ein   nicht 


74  B«  ATenarius: 

Unbedeutendes  bedenklicher  liege.  Nämlich:  dass  Herr  Ulrid, 
obwohl  er  in  meiner  Darlegung  der  Entstehung  der  Allgemein- 
begriffe nur  „im  Wesentlichen  nichts  Neues^'  zu  finden  aussagt, 
dieselbe  im  Wesentlichen  gar  nicht  verstanden  habe.  Herr  Ulrici 
bestreitet,  dass  die  Erfahrungsbegriffe  „Allgemein  begriffe^*  sind, 
und  dies  bestreiten  scheint  ihm  so  viel  zu  heissen  als  bestreiten, 
dass  aus  Erfahrungsbegriffen  rein  als  solchen  gefolgert  werden 
dürfe,  dass  die  Einzelobjecte  überhaupt,  alle  Einzelobjecte 
„begrifilich  gegliedert^'  seien:  das  aber  müsse  die  wissenschaft- 
liche Philosophie  annehmen,  das  nähme  ich  auch  unwillkürlich 
an  (wie  ,jeder  von  uns*')  und  diese  von  der  Erfahrung  nicht 
hervorgerufene,  sondern,  soweit  sie  reiche,  nur  bestätigte  Vor- 
aussetzung sei  „sonach  im  Grunde  die  „Grundlage''  der  Wissen- 
schaft, weil  der  Anlass  und  Ausgangspunkt  der  wissenschaft- 
lichen Forschung/'  aber  „doch  nur  eine  Voraussetzung",  von 
der  die  Wissenschaft  „vor  Allem"  darzuthun  hat,  dass  wir  zu 
derselben  berechtigt  seien  —  ein  Nachweis,  der  sich  von  der 
„Grundlage  der  Erfahrung^^  aus  nicht  führen  lasse  und  den 
die  wissenschaftliche  Philosophie  nicht  erbracht  habe  (S.  106 
und  107  des  zweiten  Artikels). 

Ich  will  mich  nicht  damit  aufhalten,  darzulegen,  dass  hier- 
mit Herr  Ulrici  eine  vierte  erste  Aufgabe  gestellt  hat  (vgl. 
meinen  1.  Artikel,  Jahrg.  I,  S.  578)  —  ein  Zeichen,  wie  un- 
sicher Herr  Ulrici  noch  trotzalledem  mit  seinem  Bewusstsein 
von  den  „Grundlagen"  der  Wissenschaft  sein  müsse!  —  ich 
will  auch  sonst  nicht  urgiren,  welche  Bedingungen  die  Wissen- 
schaft nach  Herrn  Ulrici  zu  erfüllen  hat,  ehe  sie  ist;  ich  will 
auch  nicht  discutiren,  was  in  jener  „unwillkürlichen  Voraus- 
setzung", von  welcher  Herr  Ulrici  spricht,  etwa  empirisch  sein 
möchte  etc.;  —  ich  willjiur  darauf  hinweisen,  dass  ich  die 
„Allgemeinheit"  der  Erfahrungs  begriffe  in  meiner  Darlegung 
gar  nirgend  von  der  Voraussetzung  einer  begrifflichen  Gliederung 
aller  Einzelobjecte  abhängig  gemacht  habe.  Nach  meiner  Dar- 
legung gilt  eOB  ursprünglich  von  allen  0,  aber  nur  von  allen 
bekannten  0;  und  das,  was  man  philosophisch  die  „Allge- 
meinheit" der  Begriffsgeltung  nennt,  wurde  nicht  durch  irgend 


In  Sachen  der  wissenschaftlicheil  Philosophie.  75 

eine  Voraussetzung  gewonnen,  sondern  durch  die  Umwandlung 
des  Satzes:  „Jedes  bekannte  0^  welches  durch  wN  repräsentirt 
wird,  hat  die  Merkmale  von  (ist)  eOB"  in  den  Satz:  ,^Jedes 
unbekannte  0,  welches  durch  wN  repräsentirt  wird,  ist  eOB."  — 
War  es  Herrn  Ulrici  darum  zu  thun,  mich  in  seiner  „Replik'* 
zu  widerlegen  y  so  musste  er  die  Berechtigung  dieser  Umwand- 
lung aufheben;  aber  mit  nichten  durfte  er  mich  wieder  für 
einen  Gedankengang  in  Verantwortung  ziehen,  den  ich  (wenn 
nicht  alle  Selbstcontrole  tauscht)  gar  nicht  vertreten  habe.  Wie 
gesagt,  ich  vermuthe^  dass  nicht  deswegen,  weil  meine  Dar- 
legung nichts  Neues  enthalten  hat,  sie  überflüssig  —  d.  h.  zu 
Herrn  Ulrichs  Einsichts-Vermehrung  nichts  yermögend  war! 

6.  Der  nächste  Punkt,  auf  welchen  Herr  Ulrici  replicirt 
(S.  107—108),  betrifft  den  von  mir  angegebenen  Begriff  des 
Gesetzes.  In  seinem  ersten  Artikel  behauptete  Herr  Ulrici,  von 
Gesetz  könne  erat  die  Rede  aetn^  nachdem  die  Kraft  oder 
Thätigkeit  gefunden  ist,  von  welcher  die  begrifflich  verbun- 
denen Vorgänge  ausgehen,  und  nachdem  dargethan  isty 
dass  diese  Kraft  in  einer  bestimmten  sich  gleich  bleibenden 
(weil  in  ihrer  Natur  liegenden)  Weise  wirke.  In  seinem 
zweiten  Artikel  spricht  Herr  Uhrici  es  S.  108  aus,  dass  von 
Gesetzen  nur  die  Rede  sein  könne,  „wenn  wir  annehmen 
(was  wir  allerdings  gemeinhin  thun),  dass  allgemeine  Kräfte 
in  der  Natur  walten  und  in  bestimmter  gleichbleibender  Weise 
wirken."  —  Ich  denke,  der  geehrte  Leser  wird  ohne  weiteren 
Commentar  den  Unterschied  von  Herrn  Ulrici's  Forderung  in 
seinem  ersten  und  in  seinem  zweiten  Artikel  übersehen  und 
durchschauen!  Meinerseits  soll  nur  wieder  einmal  gelegentlich 
gefragt  werden:  auf  welcher  Seite  liegt  das  ^^DogmcOische^^  das 
Herr  Ulrici  von  uns  so  prononcirt  behauptet? 

Nicht  minder  interessant  ist  nun  auch  zu  beobachten, 
wie  Herr  Ulrici  unmittelbar  fortlahrt:  „Aber  eben  so  klar 
ist,  dass'  diese  Annahme  nicht  aus  der  Erfahrung  stammt 
(wie  schon  Hume  dargethan),  sondern  nur  aus  dem  Satze  der 
Causalität  sich  rechtfertigen  lässt"  (also  der  „Gausalitätssatz" 
rechtfertigt  die  „Annahme"  anthropomorphistischer  „Kräfte"  — ■ 


76  R«  Ayenarias: 

rechtfertigt  auch  die  „Annahme^S  dass  diese  anthropomorphisti* 
sehen  „Kräfte'^  „in  bestimmter  gleichbleibender  Weise^^  wirken !) 
^,Und  dass  dieser  Satz  kein  Erfahrungssatz,  sondern  ein  aprio- 
rischer Factor  unsers  Denkens  ist,  wird  vielleicht  selbst  Hr.  A* 
nicht  bestreiten/^  Gewissl  warum  sollte  ich  sofort  bestreiten, 
wo  ich  zunächst  nur  Gelegenheit  habe,  dankbar  zu  sein?! 
Dankbar  dafür,  endlich  einmal  zu  erfahren,  worin  —  wie  es 
scheint,  nach  der  Ansicht  eines  Apriorikers  selbst  —  wenigstens 
der  eine  „apriorische  Factor  unsers  Denkens^*  besteht:  in  einem 
naiven  Anthropomorphismus  und  in  einer  naiven  Verallge* 
meinerung  (bez.  Constanziirung) ! 

Dass  Herr  Ulrici  in  diesem  Zusammenhang  Hume  für 
sich  anführte,  erscheint  mir  etwas  bedenklich;  doch  übergehe 
ich  diesen  Punkt,  da  er  für  mich  nur  ein  secundäres  Inter- 
esse bietet. 

7.  Auch  auf  den  beiden  letzten  Seiten  (109  und  110) 
scheint  Herr  Ulrici  wieder  im  Verstehen  meiner  Ausführungen 
nicht  eben  glücklich  gewesen  zu  sein.  Wie  war  es  sonst  mög- 
lich, dass  Herr  Uhrici  die  von  ihm  S.  109  reproducirte  Be- 
merkung auf  einen  Punkt  bezieht,  auf  den  ich  gar  nicht  ant- 
wortete, und  dagegen  trotz  aller  ihm  durch  genaues  Citiren 
und  typographische  Anordnung  gebotenen  Erleichterungen  nicht 
den  Punkt  bemerkt,  auf  den  meine  Bemerkung  Antwort  giebt?  1 
Ich  antworte  auf  Citat  6,  welches  der  Erfahrung  die  Möglichkeit 
begrifflicher  Erfassung  und  Gliederung  bestritt,  mit  einer  Be- 
sprechung des  begrifflichen  Charakters  der  Erfahrung  —  ohne 
damit  einen  andern  früher  entwickelten  Punkt  oder  einen  Punkt, 
den  ich  noch  gar  nicht  entwickelt  habe,  „stützen^*  zu  wollen; 
und  Herr  Ulrici  meint,  ich  woUe  seinem  „Vorwurf'  der  unter- 
lassenen Begründung  der  Unterscheidung  von  wirklicher  und 
Schein-Erfahrung  begegnen  mit  einer  Darlegung,  wie  „die 
(wirkliche?)  Erfahrung  zu  Stande  komme/'  Warum  ich  aber 
gerade  auf  die  Frage  nach  der  Unterscheidung  der  wirklichen 
und  Schein-Erfahrung  in  meinem  Artikel  nicht  antwortete  — 
das  mag  der  Leser  aus  diesem  selbst  ersehen  (S.  576  f.);  hier 
genügt  mir,  Herrn  Ulrici's  kritisches  Verhalten   zu  constatiren. 


In  Sachen  der  wksenBchafUichen  Philosophie.  77 

Trotzdem  Herr  Ulrici  meine  Bemerkung  auf  einen  andern 
Punkt  bezog,  konnte  ihm  wenigstens  nicht  entgehen,  dass  in 
derselben  von  dem  begrifflichen  Charakter  der  Erfah- 
rung die  Rede  sei;  um  nun  aber  diesen  nicht  zuzugeben,  be- 
streitet Herr  Ulrici  die  Gültigkeit  des  Princips  der  häufigsten 
Rdzung;  Herr  Ulrici  hat  nun  zwar  nicht  (was  ich  ihm  gern 
glaube)  die  „Absicht**,  sich  mit  mir  „auf  die  Discussion  wissen- 
schaftlicher Probleme  einzulassen^  (S.  110),  *  gewärtigt  aber 
dennoch  von  mir  den  ,3eweis**  des  genannten  Principes,  und 
fügt  hinzu,  dass  wenn  der  Satz,  der  als  aus  demselben  Princip 
erfolgend  von  mir  (S.  567)  angegeben  war,  auch  „unbestreitbar 
richtig**  wäre,  er  doch  nur  von  den  Gesichtswahrnehmungen, 
nicht  von  denjenigen  der  übrigen  Sinne  gelten  könne  •—  und 
dass,  wenn  er  überall  gelte,  doch  daraus  noch  nicht  folge,  dass 
„unsere  Erfahruügsbegrifie**  für  die  wissenschaftliche  Philosophie 
selbst  verwendbar  —  ^^wirkliche  Allgemeinbegrüfe'^  wären. 

Da  Herr  Ulrici  auf  eine  Discussion  sich  nicht  „einlassen'^ 
will,  begnüge  ich  mich:  ihn  hinsichtlich  der  Steigerung  der 
Erregbarkeit  der  Nerven  durch  Wiederholung  der  Reizung,  bez. 
durch  „Uebung"  auf  W.  Wundt's  „Grundzüge  der  physio- 
logischen Psychologie**  zu  verweisen,  in  deren  Entwickelungen 
zu  verschiedenen  Malen  das  angezogene  Princip  fungirt,  wenn 
selbst  auch  nicht  unter  der  Benennung,  die  ich  angewendet  habe; 
betreffs  des  zweiten  Punktes  aber  daran  zu  erinnern,  dass  die 
peripherischen  Sinnesnervengebiete  für  keine  Empfindungs- 
gattung aus  absolut  nur  Einer  Endfaser  bestehen,  und  dass, 
wenn  es  sich  selbst  so  verhalten  sollte,  die  Empfindungs- 
qualität noch  immer  durch  die  Qualität  desjenigen  Reizes  be- 
stimmt werden  würde,  die  am  häufigsten  zur  Reizung  zugelassen 
wurde.  Und  hinsichtlich  des  dritten  Punktes  endlich  begnüge  ich 
mich,  zu  constatiren,  dass  ein  eitel  Wort,  wie  Erfahrungsbegriffe 
seien  keine  „ti^triZ^cAen**  Allgemeinbegriffe  die  Widerlegung  meiner 
Darstellung  der  Allgemeinheit  ebensowenig  zu  leisten  vermag, 
wie  vorher  die  Unterschiebung  eines  fremden  Gedankens  es 
konnte;  vielmehr  lässt  diese  letzte  Wendung  wieder  —  wie  so  oft 


'^Q   B.  Avenariua;  In  Sachen  der  wissenschaftl,  Philosophie. 

schon!  —  vermutheii,  dass  Herr  Ulrici  bekämpft,  ohne  recht 
verstanden  zu  haben,  um  was  es  sich  handelt. 

Der  Schlusspassus  yon  Herrn  Ulrici's  Replik,  welcher  Passus 
sich  auf  denjenigen  Tbeil  meines  Artikels  bezieht,  der  — 
nachdem  das  eine  Heft  der  Yierteljahrsschrift  Herrn  Professor 
Dr.  H,  Ulrici  bereits  27  Seiten  gewidmet  hatte  — ,  allerdings 
„aus  Mangel  an  Raum'*  zurückgestellt  blieb,  dieser  Passus  darf 
also  nach  der  nunmehr  erfolgten  Veröffentlichung  der  zweiten 
Hälfte  meiner  Gegenbemerkungen  als  vorläufig  erledigt  gelten.^) 


^)  Im  zweiten  Artikel  bitte  ich  einen  lästigen  Druckfehler  berich- 
tigen zu  wollen:  es  ist  S.  475,  Z.  12 v.o.  „nur*'  statt  „und**  zu  lesen« 

Zürich.  R,  Avenarius. 


Becensionen. 


Erdmaxm,  Benno.  Kants  Kriticismas  in  der  ersten 
und  in  der  zweitenAuflage  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft   Leipzig,  L.  Voss,  1878.    (XI u.  247  S. gr,  8.) 

Die  vorliegende  Arbeit  ist  eigentlich  eine  Einleitung  für 
die  von  dem  Verfasser  gleichzeitig  und  für  den  gleichen  Ver- 
lag besorgte  neue  Ausgabe  der  Kritik  der  reinen  Vernunft. 
Wegen  ihres  ümfangs  ist  sie  äusserlich  davon  getrennt  worden. 
In  der  Herausgabe  ist  der  Verfasser,  um  das  hier  zu  erwähnen, 
denselben  Prineipien  gefolgt,  wie  in  seiner  Ausgabe  der  Prole- 
gomena.  Die  Sauberkeit  der  Ausführang  verdient  alles  Lob. 
Auch  diese  Einleitung  steht  auf  dem  Boden  derselben  Auf- 
fassung, wie  die  im  vorigen  Heft  von  mir  besprochene  Ein- 
leitung zu  den  Frolegomenen.  —  um  die  Langmuth  des  ver- 
ehrten Herausgebers  gegen  die  Kantphilologie  nicht  auf  eine 
zu  harte  Probe  zu  stellen,  beschränke  ich  mich  auf  eine  ganz 
kurze  Anzeige  des  wesentlichen  Inhalts. 

Das  erste  Gapitel  giebt  eine  Darstellung  des  Inhalts  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  vom  Jahre  178t.  Erdmann  geht 
alle  Teile  der  Beihe  nach  durch  und  findet  in  allen  gleicher- 
maassen  als  „Hauptzweck^'  des  Werks  die  „Ghrenzbestimmung^ 
gegen  den  transcendenten  Gebrauch  der  Vernunft;  der  Stand- 
punkt des  Werkes  sei  demnach  der  empiristische  und  Kaufs 
Vorgänger  und  nächster  Verwandter  Hume. 

'  Gapp.  H — IV  behandeln  die  Zeit,  welche  zwischen  den 
beiden  Auflagen  liegt.  11  resumirt  die  Entstehung  der  Prole- 
gomena;  HI  giebt  eine  sehr  dankenswerthe ,  aus  dem  Staub 
der  alten  Journale  gezogene  actenmässige  Darstellung  der 
literarischen  Bewegung,  welche  bis  1787  durch  das  Werk 
hervorgerufen  wurde ;  IV  bezeichnet  die  Bückwirkungen  dieser 
Bewegung    auf    den    Kantischen    Gedankenkreis,    wie    sie   in 


80  Becensionen. 

Schriften  nnd  Pl&nen  desselben  sich  ausdrückten.  Das  letzte 
Gapitel  endlich  handelt  von  der  Fortbildung  der  Lehre  in  der 
zweiten  Auflage.  Die  Veränderungen  treffen,  nach  Erdmann, 
nicht  den  kritischen  Hauptzweck,  die  eigentliche  Aufgabe  des 
Werkes  bleibt  nach  wie  vor,  zu  beweisen,  dass  es  keine  trans- 
cendente  Erkenntniss  der  Dinge  aus  Vernunft  geben  könne. 
Aber  das  Verhältniss  der  untergeordneten  Seiten  zu  dem  Haupt- 
zweck ist  durch  die  Eücksicht  auf  die  Wirkung  des  Werks 
verschoben:  auf  Kosten  des  Hauptzwecks  wird  die  positive 
und  die  realistische  Seite  hervorgekehrt.  Die  positive  Bedeu- 
tung «der  Kritik  ist,  ausser  der  Platzmachung  für  den  Glauben, 
die  Grundlegung  fiir  eine  Metaphysik  als  Wissenschaft.  Früher 
war  diese  „selbstverständliche  Gonsequenz^^  jetzt  wird  sie  zu 
einem  „speciflschen  Merkmal''  des  Systems.  Hieraus  ist  dann 
jenes  Missverständniss  der  Kritik;  welches  in  ihr  eine  rationa- 
listische Erkenntnisstheorie  findet,  entstanden.  Aehnlich  ist  es 
der  realistischen  Seite  ergangen.  Das  Dasein  von  af&cirenden 
Dingen  war  in  der  I.Auflage  selbstverständliche  Voraussetzung 
des  Systems;  jetzt  ist  es  ebenfalls  zum  speciflschen  Merkmal 
erhoben  und  wird  sogar  zum  Gegenstand  besonderer  Beweise 
gemacht.  — 

Dies  der  Inhalt  der  neuen  Arbeit  Erdmann's.  Die  Ver- 
schiedenheit meiner  Auffassung  des  Inhalts  jenes  vielerklärten 
Buchs  habe  ich  in  dem  erwähnten  Artikel  des  vorigen  Hefts 
hinlänglich  gekennzeichnet.  Auch  diesen  neuen  Ausführungen 
Erdmann's  gegenüber  bin  ich  hartnäckig  geni^,  an  dem  „Miss- 
verständniss^ festzuhalten :  Kant's  Erkenntnisstheorie  sei  ratio^ 
nalistisch;  freilich  mit  einer  besonderen  Modiflcation  durch  den 
hinzutretenden  Phänomenalismus.  —  Hat  denn  Kant  überhaupt 
eine  positive  Theorie  des  Erkennens? — Nun,  darüber  sind  wir 
doch  einig.  —  Diese  positive  Theorie,  kann  sie  bestehen  in 
einer  „Grenzbestimmung^^,  also  in  einem  negativen  Satz:  eine 
gewisse  Art  von  Erkenntniss  (z.  B.  die  Leibnizische  Meta* 
physik)  ist  nicht  möglich.  —  Das  ist  nicht  möglich;  sondern 
eine  Theorie  kann  nur  ausgedrückt  werden  in  einem  affirma- 
tiven Satz:  das  Erkennen  ist  dies  oder  jenes,  kommt  so  oder 
so  zu  Stande.  Und  diese  Affirmation  Kant's  lautet:  Erkennen 
jLommt  dadurch  zu  Stande ,  dass  der  Intellect  den  formlosen 
Stoff  der  Affectionen  durch  die  Sinne  (Empfindungen)  zu  An- 
schauungen und  Urteilen  macht;  oder,  Eaum,  Zeit  und  Gesetz- 
mässigkeit wird  durch  den  Geist  in  die  Natur  hineingetragen 
und  eben  dadurch  wird  die  Natur  apriori  erkennbar.  —  So 
steht  es  in  der  Aesthetik  und  in  der  Analytik  (ohne  die  beiden 


Recenaionen.  81 

Anhänge:  n^®'^  ^^^  Grunde  der  Unterscheidung  ete.*^  und 
,,Ton  der  Amphibolie*')»  ^Q^  Erdmann  sagt  dasselbe:  Aufgabe 
der  Dedttction  ist  der  Nachweis  der  objektiven  Giltigkeit  der 
Kategorien  (S.  29).  —  Nun,  eine  solche  Theorie  nenne  ich 
eine  rationalistische.  —  Ob  nun  diese  Theorie  für  Kant  das 
wichtigste  Stück  an  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  gewesen 
sei  oder  nicht^  ist  eine  weitere^  aber  ftlr  die  Classificirung  der 
Theorie  nebensächliche  Frage.  —  Dagegen  ist  es  für  die  philo- 
logische Erklärung  des  systematischen  Gedankenganges  aller- 
dings wesentlich»  diesen  Kern  einer  positiven  Theorie,  wie  viel 
oder  wie  wenig  er  seinem  Urheber  werth  sein  mochte^  formell 
im  Mittelpunkt  stehen  zu  lassen.  Ich  meine,  es  ist  wohl 
möglich;  die  Dialektik  als  Anhang  zur  Aesthetik  und  Analytik 
in  ihren  positiven  Teilen  aufzufassen,  auch  wenn  der  Anhang 
wichtiger  ist,  als  der  Stützpunkt;  dagegen  ist  es  formell  nicht 
möglich,  die  positive  Erkenntnisstheorie  als  Anhang,  oder,  wie 
Erdmann  sagt,  als  selbstverständliche  Consequenz  des  ^,kritischen 
Hauptzwecks''  zu  verstehen.  An  die  „Grenzbestimmung^'  kann 
sich  nicht  die  Gewinnung  eines  Feldes  als  Consequenz  knüpfen, 
wohl  aber  umgekehrt. 

Doch  der  Leser  mag  selbst  zusehen ,  ^  auf  welcher  Seite 
das  Eichtige  liegt.  Beide  Standpunkte  sind,  wie  mir  scheint, 
mit  hinlänglicher  Klarheit  dargelegt.  —  Bloss  eine  persönliche 
Bemerkung  sei  mir  noch  gestattet.  Erdmann  meint,  das  „weit- 
verbreitete Missverständniss^'  knüpfe  sich  besonders  an  den 
„scheinbaren  Rationalismus''  der  Vorrede  zur  2.  Aufl.  Mir  ist 
es  umgekehrt  ergangen.  Die  zweite  Auflage,  in  welcher  ich 
Kaut's  Kritik  zuerst  und  wiederholt  gelesen  habe,  blieb  mir 
ein  ganz  unverständliches,  schlechterdings  nicht  unter  die 
Einheit  eines  Gedankens  zu  bringendes  Buch,  eben  deshalb» 
weil  darin  der  Bationalismus  durch  die  Einmengung  der  Grenz- 
bestimmung in  die  transcendentale  Deduktion  verdeckt  wird. 
Licht  brachte  mir  erst  das  Studium  der  Kantischen  Schriften 
nach  der  zeitlichen  Beihenfolge,  besonders  die  zusammen- 
hängende Leetüre  der  Dissertation  von  1770  und  der  Kritik 
von  1781.  Von  hier  aus  stellte  sich  mir  dann  auch  die  ver- 
änderte Bearbeitung  als  verständlich  dar. 

Hoffentlich  bringen  Erdmann's  Arbeiten  durch  die  klare 
Formulirung  und  Ausfuhrung  einer  möglichen  Ansicht  die 
seeschlangenbafte  Frage  nach  dem  eigentlichen  Wesen  der 
Kantischen  Erkenntnisstheorie  ihrer  Entscheidung  ein  gut 
Stück  näher.  Wenn  mit  der  Entscheidung  zugleich  der  Trieb 
zur  Auslegung  der  erkenntnisstheoretischen  Bücher  Kant's  sich 

ViarteUahratchrift  t  wiasenscbafU.  Philosophie.  IIL    1.  6 


82  Recensionen. 

yerminderte  y  so  wäre  dies  wohl  nicht  als  ein  ungünstiger 
Erfolg  anzusehen.  Nach  meiner  Ansicht  besteht  Eant's  werth- 
vollste  Leistung  durchaus  nicht  in  der  Hervorbringung  jenes 
Ansatzes  zu  einer  rationalistischen  £rkenntnisstheorie.  Und 
andererseits  bedarf  unsere  Zeit  kaum  der  Empfehlung  der 
metaphysischen  Enthaltsamkeit  durch  Eant's  grossen  Namen. 
Wir  sind  wohl  viel  weniger  in  Gefahr,  die  Grenze  unseres 
Wissens  durch  transcendente  Speculation  zu  überschreiten,  als 
in  verzetteltem  Kleinbetrieb  der  Wisseuschaft  Metaphysik  und 
Philosophie  und  Wissenschaft  mit  einander  zu  verlieren. 

Berlin.  Fr.  Faulsen. 

La.a43,  Ernst.  Kant's  Analogien  der  Erfahrung. 
Eine  kritische  Studie  über  die  Grundlagen  der  theoretischen 
Phüosophie.    Berhn  1876.  Vm,  363  S.    8. 

Wenn  es  die  Hauptaufgabe  in  Kantus  Kritik  der  reinen 
Vernunft  ist,  darzulegen,  wie  Erfahrung  möglich  sei,  so  werden 
die  Analogien  der  Erfahrung,  d.  h.  die  Gesetze,  unter  denen 
jede  Erfahrung 9  die  überhaupt  gemacht  werden  kann,  wir 
können  auch  sagen,  die  ganze  Natur,  steht,  grosse  Bedeutung 
haben,  jedenfalls  wichtiger  sein  als  die  Sätze,  welche  für  die 
Anschauung,  als  die  welche  für  die  Wahrnehmung  als  reine 
Grundsätze  von  Kant  hingestellt  werden,  ganz  abgesehen  von 
den  Postulaten,  die  nur  der  Vollständigkeit  der  Vierzahl  wegen 
von  Kant  hinzugefügt  zu  sein  scheinen.  Es  ist  deshalb  ein 
glücklicher  Griff  von  Laas,  gerade  diese  Gesetze,  die  noch 
nirgends  eingehend  behandelt  sind,  einer  genaueren  Prüfung 
zu  unterwerfen,  ohne  dass  ich  damit  zugleich  sagen  wollte, 
die  Analogien  bildeten  geradezu  das  Centrum  für  die  ganze 
Kant'sche  Erkenntnisslehre. 

Ich  will  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  der  Abschnitt  von 
diesen  Gesetzen  die  reinen  Verstandesbegriffe,  ihre  Beduction 
und  ihren  Schematismus  voraussetzt,  dass  dieser  Schematismus 
weiter  zurückführt  in  die  Erörterungen  über  die  Zeit  in  der 
transcendentalen  Aesthetik,  dass  wiederum  die  Zeit  nicht 
bebandelt  werden  kann,  ohne  den  parallel  stehenden  Eaum 
mit  herbeizuziehen.  Es  lässt  sich  nicht  bestreiten,  dass  die 
erste  Analogie,  die  sich  auf  die  Substanz  als  das  Beharrliche 
in  dem  Wechsel  der  Erscheinungen  bezieht,  schon  hindeutet 
auf  die  Faralogismen  der  Psychologie,  und  dass  die  zweite  und 
dritte  Analogie,  welche  alle  Veränderungen  nach  dem  Gesetze 
von  Ursache  und  Wirkung  vor  sich  gehen  und  alle  Substanzen, 
die  im  Eaum  wahrgenommen  werden  können,  in  durchgängiger 


Beceiwionen«  83 

Wechselwirkung  Btehen  lassen,  in  die  metaphysischen  Anfangs- 
gründe der  Naturwissenschaften  hineinführen,  und  ihnen  so 
die  Teleologie,  die  Freiheitslehre,  überhaupt  die  ganze  Meta- 
physik —  man  denke  nur  an  die  kosmologischen  Antinomien  — 
nahe  liegen.  Aber  alles  dies  ist  auch  der  Fall,  wenn  wir  als 
den  Mittelpunkt  betrachten  wollten  die  Kategorienlehre  mit 
den  Deductionen^  welche  ja  in  neuester  Zeit  wieder  mehrfach 
die  Aufmerksamkeit  und  den  Scharfsinn  der  Kantforscher  in 
Anspruch  nimmt.  Wir  würden  von  hier  aus  gerade  so  gut 
nach  der  transcendentalen  Aesthetik  wie  nach  der  Metaphysik 
gelangen.  Schliesslich  kommt  es  wohl  darauf  hinaus,  dass 
weder  die  Lehre  von  den  Formen  der  Sinnlichkeit,  noch  die 
von  den  reinen  Yerdtandesbegriffen ,  noch  die  der  davon  ab- 
geleiteten Grundsätze  den  eigentlichen  Mittelpunkt  der  Kant'- 
schen  Lehre  bilden  —  es  ist  der  eine  Theil  ohne  die  anderen 
nicht  zu  denken  — ,  sondern  die  Hauptsache  und  hiermit  das 
Centrum  der  Transcendentalphilosophie  ist  das  Apriori  über- 
haupt, mit  dem  zugleich  die  Allgemein giltigkeit  und  die  Wissen- 
schaft gesetzt  ist.  Das  ist  die  eigentlich  copemikanische  That 
Kant'sy  nach  der  sich  alles  Andere  richten  muss. 

Kann  ich  auch  somit  die  Gentralstellung  der  Analogien 
dem  Verfasser  nicht  zugeben,  so  ist  doch  damit  der  Werth 
des  Buches  in  keiner  Weise  geschmälert.  Es  kommt  auf  diese 
Stellungs-  oder  Bangfrage  gar  nichts  an;  genug,  dass  die 
Analogien  yon  grosser  Bedeutung  sind  und  einer  genaueren 
Beachtung  und  Beurtheilung  jedenfalls  bedurften,  und  Laas  hat 
vollständige  Berechtigung,  von  diesem  selbstgewählten  Haupt- 
quartier aus  nach  rechts  und  links,  nach  rückwärts  und  vor- 
wärts nicht  blos  Ausblicke  zu  thun,  sondern  genauer  recog- 
noscirende  Ausflüge  zu  unternehmen. 

Das  Werk  nennt  sich  eine  „kritische  Studie  über  die 
Grundlagen  der  theoretischen  Philosophie",  und  demnach  soll, 
so  ausführlich  auch  die  Analogien  der  Erfahrung  darin  behan- 
delt werden,  doch  deren  Erörterung  und  Besprechung,  sowie 
die  ganze  Kritik  der  Kant'schen  Philosophie  am  letzten  Ende 
nur  dazu  dienen,  eigene  erkenntnisstheorelische  und  metaphy- 
sische Ansichten  vorzubereiten.  Der  eigene  Standpunkt  des 
Verfassers  ist  demnach  in  dem  Buche  die  Hauptsache.  Freilich 
tritt  dieser,  wie  ich  hier  sogleich  bemerken  will,  häuflg  nur 
unbestimmt  und  verschleiert  hervor.  Es  sind  die  Ansichten, 
auf  die  es  hinausläuft,  von  dem  Verfasser  gleichsam  nur  ob- 
jectiv  in  ihrer  einseitigen  Berechtigung  entwickelt.  Dafür 
und  dawider  wird  viel  gesprochen,  in  den  Anmerkungen  wird 

6* 


84  Recenaionen. 

eine  grosse  Gelehrsamkeit  angehäuft,  aber  man  hat  den  Ein* 
druck,  als  ob  sich  Laas  die  letzten  Möglichkeiten,  die  übrig 
zu  bleiben  scheinen,  doch  fem  von  seinem  eigenen  Ich  halten 
wollte,  als  ob  ihm  selbst  der  Glaube  fehlte,  wiewohl  eine 
gewisse  Wärme  in  der  Behandlung  der  einzelnen  Fragen  oft 
genug  zu  spüren  ist.  Das  Pectus  bricht  häufig  durch.  Es 
erfolgt  selten  entschiedene  Anerkennung,  eine  Vorsicht,  die 
freilich  eine  befriedigende  Wirkung  auf  den  Suchenden  nicht 
hervorbringt,  aber  von  der  philosophischen  Besonnenheit  des 
Verfassers  und  der  Erwägung  aller  zu  beachtenden  Punkte  das 
deutlichste  Zeugniss  ablegt.  Er  will  nicht  in  die  Luft  bauen, 
was  durch  Andere  leicht  wieder  eingerissen  werden  kann, 
sondern  in  der  sorgfältigsten  Weise  den  Grund  erforschen,  auf 
dem  gebaut  werden  soll,  und  vielleicht  einige  Steine  zum  Bau 
selbst  herzutragen,  selbst  dann  noch  zweifelnd,  ob  sie  zu 
einem  Gebäude  dienen  könnten,  in  dem  sich  Alle  heimisch 
fühlen  möchten.  —  Doch  geben  wir  auf  den  Inhalt  des  Buches 
selbst  über! 

Nachdem  Laas  in  der  Einleitung  die  Kantstudien,  die  in 
der  Gegenwart  immer  mehr  an  Umfang  zu  gewinnen  scheinen, 
die  Bedeutung  der  Erkenntnisstheorie  für  die  Philosophie  und 
die  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  für  die  Erkenn tnisstheorie 
kurz  berührt,  geht  er  im  ersten  Theil  seines  Werkes  auf 
die  Bedeutung,  die  Quellen  und  den  Werth  der  Analogien  ein 
und  äussert  allgemeine  Bedenken  gegen  dieselben.  Im  zweiten 
Theil  behandelt  er  dann  die  erste  Analogie,  im  dritten  die 
zweite  und  dritte.  Der  Schluss,  aus  zwei  längeren  Paragraphen 
bestehend,  rechnet  zwischen  Empirismus  und  Apriorismus  ab, 
bespricht  die  Frage,  ob  Metaphysik  überhaupt  möglich  sei, 
giebt  eine  Ableitung  der  hauptsächlichsten  Typen  des  Eealis- 
mus  und  Ideal-Realismus  und  zieht  ein  Endergebniss. 

Fragen  wir  nun  hier  schon,  bevor  wir  näher  auf  diesen 
kurz  angegebenen  Inhalt  eingehen:  Wie  stellt  sich  Laas  zu 
Kant?  Wie  fasst  er  seine  Aufgabe  Kant  gegenüber?  Huldigt 
er  der  Transcendentalphilosophie  in  strenger  Observanz,  wie 
es  solche  treue  Anhänger  ja  neuerdings  auch  giebt,  oder  steht 
er  wenigstens  im  Ganzen  auf  dem  Boden  des  Kant'schen 
Kriticismus,  ohne  doch  dess(m  einzelne  Sätze  und  ihre  Beweis- 
führungen anzunehmen?  Es  ist  keins  von  beiden  der  Fall. 
Lässt  sich  auch  nicht  läugnen,  dass  der  Kant'sche  Einfluss  auf 
Laas  sehr  bemerklich  ist,  wie  ja  bestimmt  behauptet  werden 
kann,  dass  heutigen  Tages  Niemand  im  Stande  ist;  mit  irgend 
welchem  Erfolg  zu  philosophiren ,   ohne  durch    das  läuternde 


Becensionen.  8& 

Feuer  des  Kriticismas  gegangen  zu  sein,  so  ist  der  Standpunkt 
Ton  Laas  Kant  gegenüber  doch  als  ein  entschieden  oppositio- 
neller zu  bezeichnen,  bei  aller  Pietät,  bei  aller  Anerkennung, 
bei  aller  Schonung^  die  dem  grossen  Manne  zu  Theil  wird. 
Was  die  Anerkennung  betrifft,  so  will  ich  nur  das  Eine  erwähnen, 
dass  sich  nach  Laas  Kant  mit  Erfolg  Mühe  giebt,  „in  Beziehung 
auf  die  zweite  und  dritte  Analogie  Kant's  Principien  mit  fast 
allen  subtilsten  und  geklärtesten  Vorstellungen  der  Gegenwart 
in  Einklang,  mindestens  in  engsten  Zusammenhang  zu  setzen '^^ 
Kur  bisweilen  tritt  Laas  zu  scharf  gegen  Kant  hervor  und 
urtheilt  zu  hart  über  ihn,  z.  B.  wenn  er  ihm  S.  270  Leicht- 
sinn oder  Uebertreibung  oder  böse  Absicht  vorwirft,  oder  wenn 
er  S.  204  von  widernatürlichen  Gonvulsionen  redet ,  die  wir 
in  den  Beweisen  für  die  Analogien  der  Erfahrung  kennen 
lernten  (vgl.  auch  S.   175). 

Im  Ganzen  können  sogar  die  Kantianer  über  das  vor- 
liegende Werk  Freude  haben,  da  die  betreffenden  Partien 
Kants  mit  einer  Sorgfalt  dargelegt  und  einer  Genauigkeit 
interpretirt  worden,  die  von  dem  hingehendsten  und  getreuesten 
Anhänger  des  Meisters  kaum  übertroffen  werden  dürften.  Das 
genauere  Kantstudium  und  Kantverständniss  hat  durch  das- 
selbe eine  sichtliche  Förderung  erfahren,  obgleich  es  nach  dem 
vorher  schon  über  die  ganze  Tendenz  des  Buches  Bemerkten 
falsch  wäre,  dasselbe  in  das  Gebiet  der  neuerdings  beliebten 
9,Kantphilologie''  zu  verweisen.  Es  will  mehr  und  thut  auch 
mehr^  als  Philologie  treiben. 

Um  hier  nur  einen  allgemeinen  Punkt,  der  für  das  ganze 
Ycrständniss  Kantus  von  Werth  ist,  zu  erwähnen,  so  weist 
Laas  sogleich  S.  20  ff.  irrthümliche  Ansichten  in  Betreff  des 
Kant'schen  Apriori  zurück,  irrthümliche  Ansichten,  die  er  in 
falschen  Auffassungen  des  Causalitätsaxioms  aufzeigt.  Da  die 
Analogien  als  Grundsätze  von  den  Gegenständen  nicht  con- 
stitutivy  sondern  nur  regulativ  gelten  sollen,  so  fasst  man  das 
öfter,  auf  die  zweite  Analogie  angewandt,  in  der  Art,  dass  es 
ein  ^^unabweisbares  Bedürfniss  des  Verstandes  sei,  ja 
ein  nothwendiger  Trieb  jeder  animalischen  Existenz,  für  jede 
Teränderung  eine  gesetzmässige  Ursache  anzunehmen  und  nach 
dieser  Maxime  eine  solche  zu  suchen",  so  dass  man  damit 
nicht  der  Katur  geradezu  ein  Gesetz  vorschreibt.  „Es  betrifft 
vielmehr  nur  unsere  Reflexion  über  die  Natur,  es  ist  eine 
Forschungsmaxime y  ein  Leitfaden'',  vermöge  deren  man  nur 
den  empirischen  Gesetzen  nachspürt.  Laas  stellt  solchen 
Modificationen  der  Kant'schen  Analogie,  die  sich  bei  manchem 


86  ReceDsionen. 

findeDy  der  die  Eant'sche  Erkenntnisslehre  zu  bekennen  glaubt^ 
das  Gesetz  der  Specificatdon  an  die  Seite,  das  sich  als  Hypo- 
these von  der  Begreiflichkeit  der  Natur  bezeichnen  lasse,  und 
hebt  dagegen  mit  Recht  hervor,  dass  die  Analogien  sowie  alle 
synthetischen  Sätze  a  priori  bei  Kant  objectiv  gültige,  allge- 
meine Naturgesetze  sind^  Gesetze,  welche  der  Verstand  der 
Natur  vorschreibt,  die  also  tiberall  zu  finden  sein  müssen; 
weil  sie  die  Natur  oder  die  Erfahrung  überhaupt  erst  möglieb 
machen^  ohne  dass  dadurch  ihr*  Charakter  als  der  subjectiver 
Formen  aufgehoben  würde.  Freilich ,  muss  man  zur  Erklärung 
solcher  erwähnten  verschobenen  Auffassungen  bemerken,  sind 
dieselben  durch  Kant  selbst  nahe  gelegt,  wenn  er  die  Analogie 
eine  Eegel  nennt,  das  vierte  Glied  einer  Proportion  in  der 
Erfahrung  zu  suchen,  und  ein  Merkmal,  es  in  derselben  auf- 
zufinden. 

Die  ADgriffsweise  des  Verfassers  gegen  Kant  ist  nun  so 
eiDgerichtet,  dass  in  diesem  genau  durchforschten  Centrum, 
welches  nach  ihm  die  Analogien  bilden,  der  Gegner  getroffen 
werden  soll,  und  hier  vernichtet  die  Waffen  überhaupt  strecken 
müsste.  —  Die  allgemeinen  Bedenken  zunächst  richten  sich 
gegen  die  metaphysische  Deduction  der  Analogien,  sowie  gegen 
di^  Annahme  Kant's,  dass  er  diese  reinen  Sätze  der  Zahl  nach 
vollständig  aufgefunden  habe. 

Was  die  metaphysische  Deduction  anlangt,  so  weist  Laas 
bei  der  ersten  Analogie  von  der  Beharrlichkeit  der  Substanz 
bei  allem  Wechsel  der  Erscheinung  zuerst  mit  Recht  darauf 
hin,  dass  dieser  Satz  nach  Kant  selbst  eine  reale  Relation  gar 
nicht  enthalte,  da  Kant  zugiebt,  dass  in  ihm  eine  reale  Son- 
derung nicht  vorliege,  sondern  nur  eine  logische  Abstraction. 
Das  kategorische  ürtheil,  aus  dem  die  Analogie  abgeleitet  wird, 
enthält  aber  ein  Verhältniss,  und  so  müsse  man  gegen  die 
Deduction  sehr  misstrauisch  sein.  Sodann  mache  gegen  diese 
Deduction  unter  Anderem  noch  bedenklich  der  zweideutige 
Charakter  der  Copula  im  kategorischen  ürtheil,  da  durch  die- 
selbe ja  ebenso  häufig  Subsumtion  als  Inhärenz  ausgedrückt 
werde,  ein  zweifacher  Gebrauch,  wodurch  ganz  verschiedene 
Verhältnisse  zu  Tage  kommen. 

Die  Unmöglichkeit,  die  Kategorie  der  Wechselwirkung  aus 
dem  disjunctiven  Ürtheil  abzuleiten,  hat  bekanntlich  Schopen- 
hauer treffend  nachgewiesen,  und  so  kann  Laas  über  die  dritte 
Analogie  in  .dieser  Beziehung  kurz  weggehen.  Er  meint  nun, 
nachdem  die  Ableitung  der  ersten  und  dritten  Analogie  von 
den    betreffenden   Urtheilen  als    unglücklich    bewiesen    wäre. 


Rocenrionen.  87 

müsse  man  sich  fragen,  ob  denn  das  hypothetische  XTrtheil  das 
natürliche  logische  Analogen  zu  dem  Gausalitätsgesetze ,  also 
za  der  zweiten  Analogie  sei,  und  es  lässt  sich  nicht  läugneo, 
dassy  wenn  wir  nach  einem  solchen  suchen,  sich  viel  natür- 
licher dazu  hergiebt  das  Princip,  dass  jeder  Satz  seinen  Grund 
haben  müsse,  die  ^^ontologische  Seite''  des  Leibniz'schen 
principium  rationis  sufficientis,  dessen  ontologische  Seite 
nichts  Anderes  ist  als  das  Axiom,  dass  jedes  Ding  seinen  Grund 
habe.  Laas  beruft  sich  hierfür  auf  Kant  selbst,  der  diese 
beiden  Seiten  des  principium  rationis  sufficientis  in  Analogie 
stelle  (in  der  Schrift:  Ueber  eine  Entdeckung,  nach  der  alle 
neue  Kritik  der  reinen  Vernunft  durch  eine  ältere  entbehrlich 
gemacht  werden  soll). 

Auf  diese  Art  sind  die  Analogien,  diese  Naturgesetze, 
schon  aus  dem  Zusammenhang  des  ganzen  Systems  gerissen, 
und  wenn  sie  auch  noch  Geltung  haben  sollen,  yielieicht  sogar 
als  transcen dentale  Principien,  so  würde  doch  der  Bau,  auf 
dessen  Festigkeit  Kant  so  grosses  Vertrauen  setzte,  in  einem 
Theile  auseinandergerissen,  und  auch  die  übrigen  Theile  würden 
dadurch  in  ihrer  Fügung  erschüttert  sein. 

Eine  besonders  nahe  Beziehung  haben  die  Analogien  zu 
der  Zeit,  indem  sie  nichts  weiter  sein  sollen,  als  die  Grund- 
sätze, das  Dasein  der  Erscheinungen  in  der  Zeit  nach  allen 
drei  Modis,  Beharrlichkeit,  Folge  und  Zugleiohsein  za  be- 
stimmen ,  oder  ein  jedes  in  eine  bestimmte  Zeitstelle  einzu- 
ordnen. Hiergegen  erhebt  Laas  zwei  gewichtige  Bedenken,  die 
mir  als  solche  durchaus  gerechtfertigt  erscheinen.  Er  macht 
erstens  aufmerksam  auf  die  parallele  Stellung,  welche  der 
Baum  bei  Kant  zur  Zeit  einnimmt.  Soll  denn,  fragt  er  nun, 
auf  parallele  Weise  unsere  Vorstellung  von  den  objectiven 
Stellungen  und  Bewegungen  der  Dinge  im  Baume  entstehen? 
Hier  giebt  er  die  bestimmte  Antwort,  dass  nicht  etwa  der 
reine  Verstand,  sondern  dass  der  Verstand  auf  Grund  von 
unmittelbaren  Leibesgefühlen  und  nach  den  vielfachsten  Ee- 
productions- ,  Distinotions-  und  Associationsthätigkeiten  zu 
Raumvorstellungen  und  Localisationen  gelangt.  Es  ist  natür- 
lich, dass  nach  einer  derartigen  Beantwortung  in  Bezug  auf 
den  Raum  auch  nun  die  Frage  gestellt  wird,  ob  nicht  der 
Process,  der  es  uns  ermöglicht,  aus  dem  wechselnden  Rhythmus 
und  der  Discontinuität  singulärer  Wahrnehmungs-  und  Vor- 
stellungsreihen eine  objeotive,  allgemeiDgiltige,  gleichmässig 
fliessende  Zeit,  in  der  jedes  seine  feste  Stelle  bekommt,  heraus 
zu  construiren,   ein   ganz    ähnlicher   ist.     Und    die    Parallele, 


-88  RecensioBen. 

welche  stets   zwischen  Baum  und  Zeit  gezQi^en  wird,   müsste 
für  die  Bejahung  dieser  Frage  sprechen. 

Das  zweite  Bedenken  wird  aus  der  Erwägung  hergeholt, 
dass  die  Materie  nicht  absolut  indijfferent  gegen  die  Form  sein 
kann,  und  dass  wir  in  dem  Geschäft,  die  Stelle  eines  be- 
stimmten Ereignisses  in  der  absoluten  Zeit  zu  bestimmen,  von 
einer  Nothwendigkeit  uns  mit  abhängig  fühlen,  die  ausserhalb 
der  Verfügungen  unseres  Verstandes  liegt,  die  mit  psychischem 
vielmehr  als  mit  logischem  Zwange  wirkt. 

Eant  will  die  vollständige  Tafel  der  reinen  Grundsätze 
des  Verstandes  ebenso  wie  die  der  Begriffe  geben.  Auch 
nach  dieser  Seite  der  Vollständigkeit  hin  unternimmt  Laas 
einen  Angriff,  indem  nach  ihm  ein  oder  sogar  mehrere  Grund- 
sätze hinzukommen  müssten.  Das  principium  identitatis  et  con- 
tradictionis  ist  zunächst  ein  solches ,  das  nicht  nur  logische, 
sondern  auch  ontologische  Bedeutung  haben  soll,  wie  Kant 
selbst  sagt,  dass  es  gilt  von  Allem  überhaupt,  „was  wir  uns 
denken  mögen,  es  mag  ein  sinnlicher  Gegenstand  sein,  und 
ihm  eine  mögliche  Anschauung  zukommen,  oder  nicht,  weil  es 
vom  Denken  überhaupt  ohne  Bücksicht  auf  ein  Object  gilt^. 
Diese  Lehre  soll  nach  Laas  für  die  Eant'sche  Philosophie  von 
vitaler  Bedeutung  sein^  und  Kant  hätte ^  wie  Laas  will;  auch 
dieses  Princip  unter  die  Analogien  der  Erfahrung  setzen  und 
für  dasselbe  als  einen  Grundsatz  einen  transcen dentalen  Beweis 
suchen  müssen.  Steht  aber  dies  principium  in  einer  Beihe 
mit  den  Analogien,  so  ist  das  ganze  System  der  Grundsätze 
als  ein  unvollständiges  gekennzeichnet,  und  auch  die  Ableitung 
der  übrigen  Analogien  von  den  logischen  Formen  ist  eine 
höchst  verdächtige.  Hier  ist  es  mir  nun  sehr  zweifelhaft,  ob 
dieses  principium  identitatis  et  contradictionis  nach  Kant 
wirklich  als  Existentialsatz  unter  die  Analogien  zu  stellen  sei. 
Der  Satz  wird  von  Kant  als  transcendentales  Princip  nicht 
erwähnt,  das  über  die  Objecto  und  ihre  Möglichkeit  etwas  a 
priori  bestimmte,  wobei  doch  entschieden  Bücksicht  auf  ein 
Object  genommen  wird,  sondern  gilt  eben  ohne  alle  Bücksicht 
auf  ein  Object.  Weil  es  sich  erstreckt  auf  Alles,  was  wir 
unR  überhaupt  denken  mögen,  weil  bei  Verletzung  desselben 
nicht  einmal  ein  Gedanke  bestehen  kann,  bezieht  es  sich  auch  ' 
auf  unsinnliche  Dinge,  die  nicht  in  der  Anschauung  gegeben 
sind,  soweit  man  diese  denkt ^  und  unterscheidet  sich  dadurch 
wesentlich  von  dem  principium  rationis  sufficientis  in  dessen 
transcendentaler  Seite,  mit  dem  es  also  auch  nicht  auf  gleiche 
Stufe    gestellt  werden  kann.     Laas   sieht  diesen    Unterschied 


Kecensionen.  89 

natärHoh  recht  wohl,  indem  er  sagt:  Anstatt  durch  einen 
transcendentalen  Beweis  habe  Kant  durchgängige  empirische 
Oiltigkeit  dieses  Princips  durch  das  dictum  de  omni  begründet : 
Da  der  Satz  des  Widerspruchs  von  Allem  gelte^  müsse  er  auch 
Tom  empirischen  Sein  gelten.  Aber  er  übersieht  dabei  nach 
meiner  Ansicht,  dass  das  Princip  eben  auch  nur  das  Benken 
betrifft  und  sich  weder  auf  die  Erscheinungswelt  noch  auf  die 
Yerstandeswelt  anders  bezieht,  als  insofern  in  einem  Urtheil 
über  sie  dasselbe  nicht  zugleich  bejaht  und  verneint  werden 
darf  (vgl.  darüber  Liebmann  in  seiner  Besprechung  des  Laas*- 
sehen  Werkes,  Ztschr.  für  Philos.  und  philos.  Krit.,  Bd.  70, 
1877).  In  ähnlicher  Weise  macht  Laas  Kant  Vorwürfe  über 
seine  Behandlung  eines  anderen  Satzes  der  Wolfi'schen  Meta- 
physik, nämlich  des  Satzes:  Essentiae  rerum  sunt  immutabiles, 
der  sich  sehr  wohl  zu  einer  Analogie  der  Erfahrung  eigene, 
aber  von  Kant  als  „armer  identischer  Satz"  in  die  Logik  ver- 
wiesen werde.  Gerade  an  ihn  lassen  sich  eine  Menge  tief- 
greifender Fragen  knüpfen,  die  von  Kant  nicht  beantwortet 
eind.  Z.  B.  stellt  Laas  die  Fragen :  Qiebt  es  in  den  Dingen 
nichts  Wesentliches,  etwa  in  den  Organismen?  Keine  forma 
substantialis^  keine  Schopenhauer'sche  Idee?  Was  ist  es, 
das  sie  nicht  zu  eigentlichen  Begriffen,  sondern  zu  einheit- 
lichen Dingen  macht?  Etwa  die  Form,  und  was  ist  denn 
diese  Form?  Er  beklagt  sich  darüber,  dass  auf  solcherlei 
Fragen  die  Antwort  fehle.  Freilich  wäre  man  berechtigt^  Laas 
gegenüber  dieselben  Klagen  zu  erheben. 

I^ach  diesen  allgemeinen  Bedenken,  welche  die  ganze 
Lehre  der  Analogien  treffen,  geht  der  Verfasser  nun  auf  die 
einzelnen  Analogien  ein,  indem  er  deren  Formulirung  und  Be- 
weise einer  genaueren  Besprechung  und  Beurtheilung  unter- 
zieht. Was  die  Fassung  der  ersten  Analogie  anlangt,  so 
schwankt  Kant  in  derselben,  und  Laas  stellt  mit  philologischer 
Genauigkeit  die  verschiedenen  Formeln  nebeneinander  und 
kommt  zu  dem  Resultat,  dass  die  genaueste,  Kaufs  Ansicht 
am  besten  wiedergebende  sein  würde :  „In  allen  Erscheinungen 
im  Felde  der  Erfahrung  ist  etwas  Beharrliches.  Wir  nennen 
es  Substanz."  Der  Beweis  für  diese  Thesis  tun,  da  diese 
ein  synthetischer  Satz  ist,  kann  nicht  aus  Begriffen  geführt 
werden,  sondern  nur  dadurch,  dass  dargethan  wird,  wie  die 
Beharrlichkeit  eine  nothwendige  Bedingung  ist,  unter  welcher 
allein  Erscheinungen  als  Dinge  und  Gegenstände  in  einer 
möglichen  Erfahrung  bestimmbar  sind.  Freilich  giebt  Kant 
nicht  nur  einen  Beweis,  sondern  eigentlich  drei,  die  vielfach 


90  Recensionen. 

unter  einander  verflochten  sind,  ao  daes  Laas  Becht  hat/voui 
^eweisgestrüpp''  zu  reden,  das  er  in  sehr  Terdienstlicher 
Weise  auseinander  gewirrt  hat. 

Der  erste  Beweis,  auf  den  ich  hier  etwas  näher  eingehen- 
will;  lautet  nach  Laas  etwafolgendermaassen :  Alle  Erscheinungen* 
sind  in  der  Zeit.  Sie  ist  die  heharrliche  Form  der  inneren 
Anschauung.  Das  Zugleichsein  und  die  Folge  kann  in  ihr 
allein  als  dem  Substrat  vorgestellt  werden.  Sie  bleibt  und 
wechselt  nicht,  kann  aber  doch  für  sich  nicht  wahrgenommen 
werden.  Deshalb  muss  etwas  Beharrliches  in  den  Erscheinungen 
anzutreffen  sein^  an  dem  aller  Wechsel  und  alles  Zugleichsein 
durch  das  Verhältniss  der  Erscheinungen  zu  demselben  wahr- 
genommen werden  kann.  Es  ist  dies  die  Substanz.  —  Laa& 
fragt  nun  zunächst  mit  Becht,  was  eigentlich  das  oonstitutive 
Merkmal  der  Substanz  sei,  da  die  Beharrlichkeit  derselben  als 
consecutives  angesehen  werden  müsse.  Nimmt  man  aber  ein 
solches  Starres,  etwa  als  Materie  an^  was  würde  da- 
durch für  unsere  Zeitbestimmungen  gewonnen?  Gar  nichts; 
denn  um  die  Zeit  Verhältnisse  anzugeben,  z.  B.  wie  lange 
etwas  dauert,  bedarf  man  nicht  eines  beharrlichen  Seins,  son* 
dern  einer  Veränderung,  die  für  alle  controlierbar  und 
für  alle  zugänglich  ist,  einer  Bewegung,  welche  gleich- 
massig  zu  sein  scheint  und  markierte  Absätze  zeigt.  Die 
Bewegung  ist  auch  das  Symbol  der  Zeit,  wechselt^  fliesst 
und  bleibt  nicht,  wie  Kant  meint,  und  das,  was  Kant  von  der 
Zeit  als  beharrliche  Form  verlangte,  könnte  sie  nicht  einmal 
gewähren.  Müsste  übrigens  für  die  Zeit  ein  Beharrliches  als 
Symbol  gesucht  werden,  so  würde  sich  .viel  eher  als  die  Materie 
das  sinnlich  lebendige  Ich  darbieten.  Wenn  ich  mich  mit 
den  ersten  Einwänden  ganz  einverstanden  erkläre,  so  muss 
ich  doch  mein  Bedenken  aussprechen  in  Betreff  der  Annahme 
des  Ich  als  des  Constanten.  Schon  deshalb,  weil  wir  uns  einen 
Anfang  und  ein  Ende  des  Ich  recht  gut  vorstellen  können^ 
während  dies  bei  der  Materie  viel  schwieriger  ist,  würde  sich 
die  letztere  viel  besser  dazu  eignen. 

Der  zweite  Beweis  geht  davon  aus^  dass  unsere  Appre- 
hension  des  Mannigfaltigen  der  Erscheinung  jederzeit  successiv 
sei,  und  dass  wir  demnach  nie  bestimmen  könnten,  ob  dieses 
Mannigfaltige  als  Gegenstand  der  Erfahrung  zugleich  sei  oder 
nach  einander  folge,  wenn  nicht  etwas  zu  Grande  liege,  was 
jederzeit  sei,  also  etwas  Beharrliches.  Diesem  Beweise  gegen- 
über wird  es  Laas  zunächst  leicht  geltend  zu  machen,  dass 
unsere  Wahrnehmung  nicht  in   allen    ihren  Theilen  successiv 


Recensionen.  91 

sei.  Sodann  führt  er  in  gelungener  Weise  aus,  dass,  wenn 
sogar  unsere  Wahrnehmung  durchaus  wechselnd  wäre,  einer- 
seits man  doch  auch  ohne  den  ^transcendentalen  Ansatz  eines 
Beharrlichen  durch  blos  psychischen  Zwang  und  an  der  Hand 
von  verständigen  Cooperationen  und  Distinctionen  zu  einer 
Klarheit  darüber  gelangen  würde ^,  ob  das  Mannigfaltige  zu- 
gleich sei  oder  nachfolge,  und  andererseits  das  Beharrliche, 
das  zu  Gbrunde  liegen  sollte,  doch  nicht  ausreichen  würde,  das 
Zugleichsein  und  die  Aufeinanderfolge  von  einander  zu  unter- 
scheiden, sondern  dass  dazu  sogar  von  Kant  realistische  und 
empiristische  Elemente  herangezogen  werden.  Bei  der  Folge 
der  Saccession  ist  nämlich  die  Folge  der  Wahrnehmungen  in 
der  Apprehension  bestimmt,  und  die  Apprehension  ist  an  diese 
Folge  gebunden,  während  objective  Gleichgiltigkeit  angesetzt 
wird ,  wenn  die  Ordnung  in  der  Synthesis  der  Apprehension 
des  Mannigfaltigen  gleichgiltig  ist,  d.  h.  also  A  auf  B  oder 
auch  B  auf  A  folgen  kann.  Ich  stimme  Laas  durchaus  bei, 
wenn  er  sagt,  dass  hier  bei  Kant  eine  Ordnung  ausser  dem 
Subject  dazusein  scheine,  und  dass  es  das  Ansehen  habe,  als 
ob  nur  gezeigt  werden  solle,  wie  das  Subject,  das  diese  Ord- 
nung an  sich  natürlich  nicht  zu  schauen  vermag,  sondern  nur 
die  Wirkung  erfahrt,  doch  hinter  dieselben  kommen  könne.  — 
Der  dritte  Beweis  trifft,  wie  Laas  bemerkt,  weniger  die  eigent- 
liche Thesis,  als  einen  Satz,  der  sich  unmittelbar  aus  ihr 
ergiebt,  nämlich  den,  dass  es  kein  Entstehen  und  keinen 
Untergang  von  Substanzen  geben  könne.  Obgleich  der  Grund- 
satz durch  denselben  seine  Beleuchtung  erhält,  will  ich  doch 
über  ihn  hinweggehen,  nachdem  das  Verfahren  des  Verfassers 
im  Allgemeinen  durch  das  Vorhergehende  klar  gemacht  und 
seine  Gründlichkeit  und  Schärfe  in  der  Behandlung  der  Be- 
weise gezeigt  ist. 

Ebenso  will  ich  nur  kurz  berühren  die  Beweise  für  die 
zweite  und  dritte  Analogie,  indem  ich  im  Voraus  hier  be- 
merke, dass  Laas  mit  Recht  den  Satz  von  der  Wechsel- 
wirkung mit  unter  die  Causalität  stellt  und  als  eine  besondere 
Manifestation  des  Satzes  vom  Grunde  betrachtet.  Es  ist  ja 
schliesslich  dasselbe  Verhältniss,  wenn  ich  mir  zeitlich  auf 
einander  Folgendes  in  der  Belation  von  Ursache  und  Wirkung 
denke  oder  räumlich  Coexistentes ,  also  gleichzeitig  Existiren- 
des  als  auf  einander  wirkend  vorstelle.  Wenn  nun  auch  von 
Laas  nach  Schopenhauer  anerkannt  wird,  wie  man  dies  wohl 
allgemein  zugiebt,  dass  die  Ableitung  der  Wechselwirkung  aus 
dem  disjunctiven  Urtheil  eine  durchaus  verfehlte,  weil  gewalt- 


02  Reicensioneii. 

same  ist,  so  wird  dem  Grandsatz  als  einer  Modalität  des 
Satses  vom  Grande  doch  sein  Becht  eingeräumt. 

In  dem  Beweis  für  die  zweite  Analogie  geht  Kant  Ton 
dem  Satze,  dass  die  Apprehension  eines  Mannigfaltigen  stets 
sucoessiv  sei»  wieder  aus,  und  zwar  muss  man  nach  ihm,  damit 
die  Erscheinungen  als  bestimmt  erkannt  werden,  das  Yerhält- 
niss  der  beiden  Zustände  so  denken,  dass  dadurch  als  noth- 
wendig  angegeben  wird,  welcher  derselben  vorher,  welcher 
nachher  zu  setzen  sei.  Dieser  Begriff,  der  Nothwendigkeit  mit 
sich  führt,  wird  aber  nur  ein  reiner  Yerstandesbegriff  sein^ 
und  das  ist  hier  eben  das  Yerfaältniss  zwischen  Ursache  und 
Wirkung,  ohne  welches  Erfahrung  nicht  möglich  ist.  Die 
Instanzen,  welche  Laas  gegen  diesen  Beweis  vorträgt ^  sind 
schon  vorher  erwähnt:  Einmal  wird  bestritten^  dass  die 
Apprehension  des  Mannigfaltigen  stets  sucoessiv  sein  müsse, 
sodann  dass  das  Material,  welchem  die  objective  Zeitordnung 
gleichsam  übergezogen  würde,  ein  gegen  dieselbe  durchaus 
indifferentes  sei.  Für  die  dritte  Analogie  werden  von  Laas 
sogar  vier  Eant'sohe  Beweise  angeführt,  von  denen  der  erste 
wieder  von  der  successiven  Apprehension  alles  Mannigfaltigen 
ausgeht.  Doch  lassen  wir  diese  vier,  da  sie  selbst  und  ihre 
Widerlegungen  nichts  besonders  I^eues  bieten! 

Von  grossem  Werthe  in  dem  Laas'schen  Buche  sind  die 
mancherlei  ausführlichen  Excurse  —  so  kann  ich  wohl  sagen  — , 
welche  Laas  mitten  in  seinen  Auseinandersetzungen  über  die 
Analogien  einfügt,  ohne  dass  die  behandelten  Themata  etwa 
ausser  Zusammenhang  mit  dem  Hauptthema  ständen.  Es  ist 
oben  schon  gesagt,  dass  die  Analogien  allerdings  als  Aus- 
gangspunkt für  die  verschiedensten  Fragen  der  Kant'schen 
Erkenntnisstbeorie  genommen  werden  können.  So  handelt  bei 
Laas  ein  lesenswerther  Abschnitt  (§  22)  über  die  Kant'sche 
-„objective"  Welt  der  Erscheinung  und  zugleich  über  den 
Existenzort  und  die  Existenzart  dieser  objectiven  Welt,  und 
Laas  hat  hier  Manches  zur  Klärung  und  schärferen  Fräcisirung 
der  Kant'schen  Lehre  beigetragen.  Obgleich  diese  objective 
Welt  auch  eine  vorgestellte  ist,  so^  macht  sie  doch  den  An- 
spruch auf  allgemeine  Giltigkeit,  und  eben  weil  sie  für  alle 
gelten  muss,  dadurch  wird  sie  zu  der  objectiven.  Und  zwar 
beruht  diese  Allgemeingiltigkeit  nicht  auf  der  Wahrnehmung, 
sondern  auf  den  reinen  Yerstandesbegriffen.  Sie  findet  sich 
als  an  ihrem  Orte  nicht  in  einem  beliebigen  nur  individuellen 
Bewusstsein,  sondern  in  einem  „Bewusstsein  überhaupt^.  Mit 
diesem  etwas  räthselhaften  Ausdruck  (Prolegg.   §    20)   schiebt 


RecensioneDi  9S 

Kant  die  Welt  auf  einmal  aoB  den  subjectiven  Yorstellungs* 
gebiiden  nnd  auB  dem  nur  subjectiven  Giltigkeit  in  das  allge- 
mein Angenommene  hinüber.  Es  entbehrt  dieses  ^Bewusstsein 
überhaupt^  freilich  der  genauen  Bestimmung  bei  Kant^  und 
auch  Laas  gelingt  es  nach  meiner  Ansicht  nicht,  es  zur  Tollen 
Deutlichkeit  zu  erheben ;  denn  was  ist  damit  gesagt,  wenn  es 
jenes  vorgestellte,  reine  Ich  sein  soll,  das  der  vorgestellten 
Zeit  als  nothwendiges  Correlat  gegenüber  gestellt  wird,  oder 
wenn  es  bezeichnet  wird  als  das  abstracte  allgemein  mensch- 
liche Bewusstsein,  wenn  es  als  hypothetisches  und  ideales 
BewuBstsein  mit  der  absoluten  Zeit  und  dem  absoluten  Baum 
die  nothwendige  Unterlage  bilden  soll,  auf  der  die  mathe- 
matisch-mechanische Naturerklärung  stattfindet,  so  dassvorihmin 
einem  absoluten  Baume  die  Materien  oscilliercn?  Es  soll  nach 
Laas  möglich  sein,  das  eigene  individuelle  Selbst  in  der  Vor* 
Stellung  zum  Selbst  der  Menschheit  zu  erweitem  und  jenes 
objective  Selbstbewusstsein  zu  entfalten,  durch  das  die  allge- 
meingiltigen  Urtheile  gebildet  werden ;  dies  Weltbewusstsein  soll 
dann  in  der  Vorstellung  über  Geburt  und  Tod  hinaus  per- 
petuiert  werden.  Ich  bezweifle  einerseits,  dass  Laas  mit  dieser 
Betonung  und  Bestimmung  des  Bewusstseins  überhaupt  die 
Absicht  Eant's  genau  getroffen  hat,  und  gestehe  andererseits 
bereitwillig»  dass  ich  nicht  dazu  komme,  mir  unter  diesem 
allgemeinen  Bewusstsein  etwas  Klares  zu  denken.  Unter  dem 
,,allgemein^  oder  dem  ^überhaupt^  schwindet  das  Bewusstsein. 

Soll  die  Welt  zu  einer  objectiven,  d.  h.  zu  einer,  die 
von  allen  gesunden  Menschen  in  gleicher  Weise  vorgestellt 
wird,  dadurch  werden,  dass  die  Yergtandesformen ,  die  allen 
Menschen  als  Menschen  nach  ihrer  einheitlichen  Organisation 
eingepflanzt  sind,  der  Materie  der  Anschauung  übergezogen 
werden,  so  habe  ich  damit  etwas  Fassbares,  Yerständliches. 
Es  ist  dann  etwas  gauz  Analoges  der  Lehre  Ennt's  auf  prak- 
tischem Gebiet,  dass  alle  vernünftigen  Wesen  sich  durch  das 
Gesetz  gebunden  fühlen,  weil  dieses  eben  das  der  Vernunft 
überhaupt  ist.  Es  erklärt  sich  auf  diese  Weise  einfach,  wie 
das  Bild  der  Welt  als  gegenständlicher  bei  den  räumlich  von 
einander  getrennten  und  in  vieler  Hinsicht  sonst  verschieden 
organisirten  Menschen  in  den  verschiedensten  Zeiten  ungeföhr 
dasselbe  geblieben  ist. 

Laas  setzt  den  Vortheil  dieser  objectiven  Welt,  wenn  sie 
auch  mit  Bealitäten  ausserhalb  unseres  Bewusstseins  gar  nicht 
correspondiren  sollte ,  auseinander  lind  findet  ihn  mit  vollem 
Becht  besonders    1)  darin,  dass   sie  uns  statt  der  zum  Theil 


94  Becensionen. 

widerspruchsvollen,  discontinuirlicheni  ja  an  sich  yöUig  räthsel- 
haften  und  unablässig  wechselnden  ^If^ahmehmungsgruppen, 
<die  jeder  Einzelne  für  sich  habe,  uns  ein  Gebilde  darbiete, 
in  dem  die  Vorstellungen,  d.  b.  die  materiellen  Dinge  mit  ihren 
Eigenschaften  und  Eelationen  lückenlos  und  mit  einander  har- 
monirend  nebeneinander  stehen,  und  in  dem  jede  Veränderung 
nach  dem  ontologischen  Satze  vom  Grunde  verstandesgemäss 
zurecht  gelegt  wird;  2)  darin,  dass  diese  objectiye  Welt  nur 
nach  festen  Gesetzen  sich  ändernder  materieller  Dinge  das 
gemeinschaftliche  Beziehungsobject  aller  Forschungen  und  Ge- 
danken derer  sei,  die  unter  einander  durch  die  Jahrhunderte 
fort  im  Denkverkehr  ständen. 

Sehr  eng  hängt  mit  dieser  Frage  nach  der  objeetiven 
Welt  bei  Kant  die  Unterscheidung  zwischen  Wahrnehmungs- 
und Erfabrungsurtheil  zusammen,  die  von  Lsas  an  der  erwähn- 
ten Stelle  und  auch  später  (§35)  noch  ausführlicher  besprochen 
wird.  Eant  legt  auf  diesen  Unterschied  in  den  Prolegomenen 
grossen  Werth.  Da  diese  Schrift  eine  erläuternde  und  popu- 
lärere als  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  sein  sollte,  müsste 
man  denken,  durob  diesen  Unterschied  würde  ein  helleres  Licht 
über  die  Umwandlung  des  Subjectiven  zu  einem  Objeetiven 
verbreitet.  Mir  ist  nun  stets  diese  ganze  Trennung  von  Wahr- 
nehmungs-  und  Erfahrungsurtheilen  als  nicht  ganz  verständ- 
lich und,  soweit  dem  Verständniss  zugänglich,  in  das  System 
des  transcendentslen  Idealismus  nicht  passend,  erschienen, 
wie  besonders  auch  trotz  aller  Bemäntelungen  derer,  die  einen 
tiefen  Sinn  in  ihr  erblicken,  aus  den  verfehlten  Beispielen 
Kant's,  durch  welche  eben  die  Lehre  nicht  illustrirt  wird, 
hervorgeht  Auch  scheint  Kant  ausser  in  den  Prolegomenen 
ihr  eine  besondere  Bedeutung  nicht  zuzulegen  und  so 
selbst  zweifelhaft  über  ihren  Werth  geworden  zu  sein.  Es 
freut  mich  nun,  ganz  neuerdings  in  der  Schrift  eines  sonst 
Kant  sehr  ergebenen  Forschers  und  Denkers,  Julius  Jacobson, 
j(Ueber  die  Beziehungen  zwischen  Kategorien  und  Urtheilsformen, 
Königsberg  1877)  zu  lesen  oder  ausführlicher  dargelegt  zu 
£nden,  dass  die  Lehre  von  den  Wahrnehmungsurtheilen  in  der 
Kant'schen  Philosophie  nicht  aufrecht  erhalten  werden  könne, 
dass  sie  für  das  System  Kant's  unwesentlich,  und  dass  sie  um 
des  inneren  Widerspruchs  willen  sogar  aus  demselben  entfernt 
werden  müsse. 

Unmittelbar  an  die  Darstellung  dieser  für  die  Erkennt- 
'nisstheorie  bei  Kant  grundlegenden  Bestimmungen  über  die 
4>bjective   Welt  schliesst   sich  in   dem   Laas*schen   Buche  ein 


RecensioiMm.  95 

Absohnitt  an  über  die  metaphysischen  YorauBsetzaiigen  für  die 
Kanfsche  Transoendentalphilosophie.  Eant's  Metaphysik  ist 
Bach  Laas  etwa  folgende:  Das  Ich,  yon  dem  wir  nicht  aus* 
zusagen  yermögen,  ob  es  vergänglich  oder  unvergänglich,  ein- 
fach oder  zusammengesetzt  sei,  hat  jedenfalls  die  nöthigen 
Formen,  d.  h.  Raum  und  Zeit,  um  Anschauungen  zu  empfangen, 
«0  dass  ihm  auch  nur  eine  Welt  bekannt  sein  kann,  soweit 
sie  in  diesen  Formen  erscheint.  Andererseits  ist  es  ein  selbst- 
thätiges  Wesen,  und  gerade  durch  diese  Spontaneität  des  Denkens 
wird  seine  eigenthümliche  Natur  constituirt.  Jedoch  ist  diese 
Spontaneität  für  sich  nur  unfruchtbar,  sie  muss  von  Aussen  den 
Stoff  erhalten.  Die  Natur  und  ihre  Einheit  ist  nur  möglich 
vermittelst  der  Beschaffenheit  unseres  Verstandes,  nach  welcher 
alle  Vorstellungen  der  Sinnlichkeit  auf  ein  Bewusstsein  noth- 
wendig  bezogen  werden. 

Laas  meint  nun,  es  seien  diese  Voraussetzungen  Kant's 
allerdings  sehr  geeignet,  „die  blöde  Naivität  über  den  Charak- 
ter des  empirischen  Seins  nachdenklich  zu  machen^S  aber  es 
trete  doch  auch  dabei  „die  individuelle  Willkür  der  von  Kant 
beliebten  Metaphysik  heraus'^  Das  Letztere  ist  ein  Moment, 
das  mit  Nachdruck  in  der  Kritik  der  Kant'schen  Philosophie 
betont  zu  werden  verdient.  Laas  fragt,  warum,  wenn  wir 
einmal  über  das  positiv  Gegebene  hinausschritten,  wir  in  uns 
nur  Formen  hätten  und  diese  den  Materialien  aufprägten ,  die 
letzteren  aber  nur  empfangen  und  nicht  aus  uns  produciren 
könnten?  Und  andererseits  fragt  er:  Warum  die  Materialien, 
•die  uns  gegeben  werden,  nicht  selbst  so  beschaffen  sein  könn- 
ten, dass  wir,  um  Natur  fertig  zu  bringen,  nur  aufmerksam 
und  verständig  beobachten  müssten,  und  unsere  Verknüpfungs- 
formen  und  Relationen  der  Erscheinungselemente  Nachbilder 
und  Gegenbilder  einer  transcendenten  Ordnung  wären?  Ich 
«timme  dem  vollständig  bei,  dass  von  Kant  diese  beiden  Mög- 
lichkeiten nicht  ausgeschlossen  sind,  so  dass  der  Zugang 
einerseits  zu  dem  absoluten  Idealismus,  andererseits  zu  dem 
empirischen  Realismus  im  Gegensatz  zu  der  Transoendental- 
philosophie gegeben  wäre. 

Mit  diesen  Bedenken  gegen  die  Metaphysik  Kant's  hat 
Laas  schon  seinen  Standpunkt  dahin  ausgesprochen,  dass  er 
principieller  Gegner  der  Transoendentalphilosophie  ist,  und  ich 
kann  nicht  einsehen,  wie  für  Laas  von  dem  Gebäude  Kant's 
überhaupt  noch  etwas  stehen  bleiben  kann.  Er  will  den  syn- 
thetischen Charakter  der  mathematischen  Urtheile  nicht  aner- 
kennen, er  nimmt  es  nicht  als  durch  Kant  feststehend  an,  dass 


96  Reoenskmen. 

der  Baum  nur  subjecÜTe  Anschauungsform  und  nicht  auoh 
transcendente  Existenzform  sei.  Kant  hat  noch  viel  weniger 
nach  Laas  erweisen  können^  dass  die  Zeit  nur  subjeetiv  sei^ 
für  deren  Transcendenx  der  Verfasser  mit  ziemlicher  Ent- 
schiedenheit eintritt;  obwohl  er  sich  auch  hierbei  bisweilen 
wieder  sehr  reservirt  äussert.  Er  glaubt  die  metaphysische 
Zeit  annehmen  zu  müssen^  weil  sonst  völliges  Dunkel  über  die 
Welt  käme,  zu  deren  Erklärung  wir  doch  tou  Anfang  an 
getrieben  würden^  weil  sonst  alles  transcendent  reale  Geschehen 
und  weiter  damit  alle  metaphysische  Causalrerknüpfung  in  den 
bodenlosen  Abgrund  stürzte.  Hiermit  sind  schon  Haupt- 
abweichungen .  des  Kritikers  von  Kant  angegeben ,  und  er 
präcisirt  selbst  seine  Ansicht  am  genauesten  dahin, '  dass,  wenn 
wir  das  Gegebene  aus  wirklich  ^^efficienten  Ursachen"  erklären 
wollen,  wir  stehen  lassen  müssen:  ,,Eine  Vielheit  von  dyna- 
misch gegenseitig  abhängigen  ^  zu  einem  einheitlichen  selbst- 
genugsamen  Weltsystem  (Universum)  zusammengeschlossenen 
Substanzen,  ihre  Kräfte  verschiedener  Intensität  und  Qualität, 
ihre  gegenseitigen  Einwirkungen  (Actives  und  Passives),  ihre 
gesetzmässigen  Veränderungen,  ein  wirkliches  Geschehen  in 
einer  transcendenten  Zeit/^  Es  würde  bei  diesen  Annahmen 
von  der  Transcendentaiphilosophie  Kaut's  nichts  übrig  bleiben. 
Wie  weit  sich  Laas  von  Kant  entfernt,  sieht  man  am 
deutlichsten  in  seiner  Stellung  zu  den  Analogien  selbst.  Er 
lässt  sie  gelten,  aber  nicht  auf  Grund  der  Transcendentai- 
philosophie. Die  zweite  besteht  nach  ihm  zu  Rechte,  weil  sie 
für  jede  wissenschaftliche  Forschung  überhaupt  unentbehrlich 
ist.  Um  nicht  alles  Forschen  von  vornherein  zu  vernichten, 
müssen  dieselben  Wirkungen  erwartet  werden,  wenn  dieselben 
Bedingungen  sich  vorfinden.  Sodann  hat  dieser  Satz  Geltung,, 
weil  er  noch  keine  ernstliche  Ausnahme  je  erlitten  hat.  Frei- 
lich hält  sich  Laas  hier  sogar  von  der  Skepsis  nicht  ganz, 
fem^  und  es  ist  eine  Annäherung  an  Stuart  Mill,  der  von 
Laas  überhaupt  viel  berücksichtigt  wird^  zu  spüren.  Im 
letzten  Grunde,  sagt  Laas,  ist  der  Satz  als  nicht  weiter  dedu- 
cirbar  dem  Hume'schen  Zweifel  preisgegeben,  aber  dieser 
Zweifel  wird  zugleich  als  „widrig^^  bezeichnet.  Laas  glaubt 
nicht;  dass  durch  einen  hypothetischen  spontanen  Verstand  die 
Allgemeinheit  und  Noth wendigkeit  des  Causalgesetzes  besser 
begründet  sei  als  durch  die  Erfahrung,  und  das  Gravitations- 
gesetz steht  nach  ihm  eben  so  fest,  obwohl  dies  ohne  transcen- 
dentalen  Grund  sein  soll,  wie  das  Gausalitätsgesetz.  Sowohl 
die  allgemeinen  Naturgesetze  als  auch  die  besonderen   ruhen 


Beeennonen.  97 

für  Laas  in  gleicher  Weise  auf  empiriBchem  Erkenntnitsgrund. 
Selbst  in  Bezug  auf  die  Identität  ist  es  Laas  fraglich,  ob  man 
nicht  in  gewissem  Sinne  sagen  dürfe,  dass  sie  in  der  Wahr- 
nehmung, dem  Gegebenen,  liege,  so  dass  die  Wahrnehmung  ihr 
nicht  nur  die  Anwendbarkeit,  sondern  auch  die  Veranlassung 
bietet.  —  Dass  das  Causalitätsgesetz  für  die  transcendente 
Welt  giltig  ist,  brauche  ich  nach  Angabe  seiner  Hauptansicht 
über  die  transcendente  Welt  kaum  hinzuzufügen. 

Vom  Dogmatismus  sucht  sich  Lcias,  wie  ich  eben  schon 
in  Betreff  der  Gausalität  andeutete  und  früher  auch  sobon 
bemerkte,  möglichst  fem  zu  halten.  Es  wird  die  Berechtigung 
für  die  eine  und  für  die  andere  Ansicht  ausgesprochen  und 
erwogen,  aber  eine  bestimmte  Entscheidung  fällt  selten.  Dies 
geht  so  weit,  dass,  nachdem  Laas  zur  Erklärung  der  Welt  als 
nöthig  hingestellt  hat  ein  wirkliches  Geschehen  in  einer  trans- 
scendenten  Zeit,  er  doch  wieder  darauf  nur  vorsichtig  davon 
spricht,  dass  eine  transcendente  Zeit  nicht  unmöglich  scheine, 
und  gegen  eine  absolute  Zeit  die  antithetischen  Erörterungen 
der  Kant'schen  Antinomien  in's  Feld  führt.  So  *  sehr  es  ihn 
nach  der  Metaphysik  hinzieht,  er  hält  die  Augen  sich  offen 
und  den  Verstand  klar  und  lässt  sich  von  dem  Zauberlied, 
das  hinüberlockt  in  jene  unsichtbaren  Gefilde,  nicht  vollständig 
hinreissen.  Er  erkennt  den  metaphysischen  Trieb  als  einen 
gesunden  und  berechtigten  an,  will  «aber,  dass  er  sich  beschränke 
auf  die  von  dem  thatsächlich  Wirklichen  aufgegebenen  echten 
BäthseL  Welche  aber  diese  sind,  und  woran  man  sie  erkennen 
soll,  das  ist  mir  durch  Laas  nicht  völlig  klar  geworden.  Es 
würde  sich  über  die  Auslegung  dieser  Forderung  sogleich  der 
Streit  der  Meinungen  geltend  machen.  Laas  fragt,  ob  man 
sich  nicht  „ein  gesetzmässig  geregeltes  dynamisches  Wechsel- 
spiel vieler  ewigen  unter  sich  zu  einer  innerlich  artikulirten, 
so  zu  sagen  künstlerischen,  systematischen,  organischen  Einheit 
verknüpfter  Agentien''  denken  solle.  Er  giebt  zu,  dass  er  es 
gerne  möchte,  fragt  aber  zweifelnd  weiter:  „Ob  es  sich 
durchführen  lässt,  was  wir  gerne  hätten?  Ob  sie  sich  aus- 
denken lässt  diese  an  der  Zeit  hinlaufende  Wechselwirkung 
vieler  Agentien?''  und  zum  Schluss  denkt  er  wieder  «in  die 
Möglichkeit  der  Besignation  in  dieser  Beziehung  und  daran, 
dass  wir  vielleicht  darauf  nur  angewiesen  wären,  die  Erschei- 
nungen nach  synthetischer  Einheit  zu  buchstabiren,  um  sie  als 
Erfahrui^  lesen  zu  können. 

Trotz    der    Unsicherheit    in    den    eigenen   Aufstellungen 
wirkt    das    Laas'sche    Buch     in    hohem    Grade    philosophisch 

^erteljalizssolurift  f.  wiasenscliafa.  Pliflosopliie.    m.  1.  7 


Og  ReeensioneD. 

klärend  und  anregend,  oder  es  wirkt  in  diesen  beiden  Be- 
dsiehungen  gerade  desbalb  bedeutender,  weil  das  Dogmatische 
so  sehr  zurücktritt.  Und  abgesehen  von  diesen  Vorzügen: 
Wenn  es  für  die  Gegenwart,  um  in  der  Philosophie  Fort- 
schritte zu  machen,  vor  allen  Dingen  darauf  ankommt,  die 
Philosophie  Kant's  genau  zu  ergründen  und  zu  kritisiren,  so 
dass  sie  entweder  als  giltige  Basis  anerkannt  oder  verworfen 
wird,  so  hat  Laas  nach  diesen  beiden  Richtungen  sich  durch 
sein  Buch  wesentliche  Verdienste  erworben. 

Leipzig.  M.  Heinze. 

Spir,  A.  Denken  und  Wirklichkeit.  Versuch  einer  Erneuerung 
der  kritischen  Philosophie.  Erster  Band.  Das  Unbedingte. 
Zweite  umgearbeitete  Auflage,  (Vn  u.  386  S.  gr.  S^.)  Zweiter 
Band.  Die  Welt  der  Erfahrung.  Zweite  umgearbeitete  Auf- 
lage. (292  S.  gr.  SO.)  Leipzig  J.  G.  Findel.  1877. 

In  der  Vorrede  giebt  der  Verfasser  die  Erklärung  ab, 
dass  ihm  an  der  Richtigkeit  der  in  diesem  Werke  vorge- 
tragenen Gedanken  zu  zweifeln  nicht  erlaubt  sei,  da  dieselben 
nicht  allein  für  ihn  selbst  vollkommen  evident  seien^  sondern 
auch  trotz  ihrer  Vorlegung  zur  öffentlichen  Prüfung  eine 
nennenswerthe  Einwendung  nicht  erfahren  Mtten.  Wenn  trotz- 
dem das  Werk  ziemlich  unbeachtet  geblieben  sei,  so  schreibt 
er  dies  zum  Theil  seiner  unzureichenden  Darstellung  zu,  zum 
Theil  aber  auch  den  Lesern  selbst,  der  bedauerlichen  ün- 
empfänglichkeit  der  meisten  Menschen  für  Vernunft  und  Ein- 
sicht; doch  hegt  er  die  ruhige  Zuversicht^  dass  die  Evidenz 
der  darin  vorgetragenen  Lehren,  nicht  mehr,  wie  früher,  ver- 
deckt durch  eine  zu  mangelhafte  Darstellung,  jeden  Widerstand 
besiegen  und  den  festen  Grund  zu  einer  wahrhaft  wissenschaft- 
lichen Philosophie  legen  wird.  Auch  am  Schluss  des  Werkes 
beklagt  er  noch  einmal  den  Mangel  an  logischem  Denken  bei 
den  meisten  Menschen,  will  aber  dennoch  an  der  Menschheit 
nicht  verzweifeln.  ,,(Jnter  der  dumpfen  Menge  giebt  es  ge- 
wiss auch  hellere  Geister,  welche  sich  gegen  die  Evidenz  nicht 
ganz  verschliessen  .  . .  Durch  solche  verwandte  Geister  wird 
die  hiergebotene  Anschauungsweise  einst  zum  Gemeingut  Aller 
gemacht.^' 

Dieser  von  antikem  Selbstbewusstsein  getragene  avis  au 
lecteur  zeichnet  sich  im  Ganzen  mehr  durch  Wahrheit  als 
durch  Höflichkeit  aus,  und  wird  daher  Manchem  einen  neuen 
Vor  wand  bieten,   das  Buch  ungelesen  hhi  Seite  zu   legen  -^ 


RecemioneD.  99 

eine  BehandltiBg,  welche  dasselbe  keineswegs  verdient,  da  es 
auf  Grund  umfassender  Studien  und  meistentheils  eingehendier 
kritischer  Untersuchungen  die  Erforschung  der  Wahrheit  ohne 
alle  Nebenabsichten  sich  zur  Aufgabe  gestellt  hat.  Deshalb 
]«t  es  nicht  zu  ignoriren,  sondern  in  denjenigen  Punkten^ 
welche  vor  der  Kritik  unhaltbar  erscheinen^  mit  sachlichen 
Gründen  zu  widerlegen. 

• 

Der  philosophische  Standpunkt  des  Verfassers  ergiebt  sich 
theils  aus  seinen  ürtheilen  über  andere  Bichtungen^  theils  hat 
er  ihn  direct  dargelegt.  Alle  Metaphysik  verurÜieilt  er  in 
starken  Ausdrücken;  sie  ist  ihm  bloss  eine  imaginäre  Erweite- 
rung der  Erfahrung,  ihr  verschiedengestaltetes  Unbedingtes  oder 
Absolutes  nichts  als  ein  empirischer  Gegenstand,  eine  phan- 
tastische Zusammenstellung  eines  in  der  Erfahrung  angelesenen 
Inhaltes.  Ja  er  erklärt  sogar  die  metaphysische  Eichtung  für 
eine  Art  geistiger  Krankheiti  welche  nicht  durch  Argumente 
zu  beseitigen  sei.  ,;Denn  was  können  Argumente  bei  Menschen 
ausrichten ;  welche  sehr  gut  sehen,  wie  in  allen  Zweigen  der 
Wissenschaften  wirkliche  Erkenntnisse  erworben  werden  und 
trotzdem  im  Ernste  glauben,  dass  auf  dem  von  den  Meta- 
physikem  eingeschlagenen  Wege  auch  nur  ein  Atom  wirklichen 
Wissens  gewonnen  werden  könne?" 

Ebenso  schlecht  werden  diejenigen  Philosophen  behandelt, 
welche  der  Verfasser  „Empiristen^  nennt;  diese  unterscdieiden 
sich  nach  ihm  kaum  von  den  Metaphysikern  und  haben  dazu 
noch  andere  übele  Eigenschaften.  Er  kennt,  in  Deutschland 
wenigstens,  unter  den  Philosophen  keinen  einzigen  klaren  und 
„mit  sich  consistenten*'  Empiristen.  „Wer  hier  die  Erfahrung 
als  die  einzige  Quelle  der  Erkenntniss  proclamirt,  der  stürzt 
sich  sofort  in  eine  —  Metaphysik,  gewöhnlich  in  die  materia- 
listische Metaphysik/'  Bei  einigen  neueren  Schriftstellern, 
„welche  dem  Empirismus  zu  huldigen  vorgeben,  herrscht  leider 
aine  solche  Unklarheit  des  Denkens,  dass  man  kaum  glauben 
kann,  dass  sie  selber  wissen,  was  sie  eigentlich  denken  und 
wollen.''  ;,Die  in  der  Philosophie  leider  so  oft  angewandte 
traurige  Kunst,  aus  Nichts  Etwas  zu  machen,  wird  von  den 
Empiristen  am  wackersten  ausgeübt.'' 

Auch  der  neuerdings  wieder  beliebt  gewordene  „Mittel- 
weg" zwischen  Metaphysik  und  Empirismus,  welchen  Kant 
einschlug,  gefallt  dem  Verfasser  nicht.  Eant's  Lehre  „zeigt 
nicht  viel  kritischen  Sinn'^  seine  transscendentale  Aesthetik 
,^beruht   auf  einer  vollkommen    unhaltbaren,    den  Thatsachen 


100  Becensionen. 

offenbar  widersprechenden  Ansicht'^;  ebenso  unhaltbar  ist  die 
Kategorieenlehre.  — 

Alle  Diejenigen,  welche  ans  erkenntnisstheoretischen  Grün« 
den  bisher  annahmen,  dass  nur  die  zwei  Standpunkte  des 
Empirismus  und  der  Metaphysik  überhaupt  möglich  seien,  und 
daher  den  £antischen  Kriticismus  entweder  in  den  einen  oder 
den  andern  Standpunkt  auflösten,  werden  sehr  gespannt  sein, 
welche  dritte  Richtung  hier  auftritt.  Zunächst  unterscheidet 
der  Verfasser  seine  Philosophie  von  der  Metaphysik:  ,J)iese 
will  die  Lehre  von  dem  Unbedingten  selbst  sein.  Dagegen 
kann  die  kritische  Philosophie,  soweit  sich  dieselbe  auch  über 
die  Erfahrung  erhebt,  nichts  Anderes  sein,  als  die  Lehre  von 
dem  Begriffe  des  Unbedingten,  von  dem  Ursprung,  der 
Bedeutung  und  der  objectiven  Giltigkeit  dieses  BegrifPs/' 

Im  Gegensatz  zu  den  „Empiristen''  nimmt  der  Verfasser 
an,  dass  es  Einsichten  gebe,  welche  sich  durch  einen  ihnen 
eigenthümlichen  Charakter  unterscheiden,  der  keiner  aus  der 
Erfahrung  entstandenen  Erkenntniss  eigen  sein  kann,  also  ein 
Apriori.  „Vor  allen  Dingen  ist  es  nöthig  zu  begreifen,  dass 
zwischen  den  apriorischen  und  empirischen  Elementen  unseres 
Erkennens  überhaupt  keine  vollkommene  Uebereinstimmung 
besteht,  weil  man  sie  sonst  von  einander  gar  nicht  würde 
unterscheiden  können.  Darin  liegt  eben  das  Kriterium  einer 
Einsicht  a  priori,  dass  dieselbe  nicht  allein  nothwendig  sei, 
sondern  dass  die  Erfahrung  auch  mit  ihr  nicht  überein- 
stimme und  daher  keine  Elemente  enthalte,  aus  welchen 
jene  auf  empirischem  Wege  gebildet  werden  könnte."  Ein  ur- 
sprünglicher Begriff  a  priori  muss  nicht  nur  unmittelbar  ge- 
wiss, selbstverständlich  sein,  auch  nicht  aus  der  Erfahrung 
stammen,  aber  die  Erfahrung  muss  doch  seine  objective  Giltig- 
keit bezeugen.  Seine  Nichtübereinstimmung  muss  von  der  Art 
sein,  dass  „die  Thatsachen  gerade  auf  Grund  derselben  für  seine 
objective  Giltigkeit  Zeugniss  ablegen,  weil  der  Begriff  sonst 
wohl  noch  als  ein  Gesetz  des  Denkens,  aber  nur  von  sub- 
jectiver  Bedeutung  sich  erweisen  würde.  Wenn  es  aber  mög- 
lich ist,  diese  beiden  Bedingungen  zu  erfüllen,  so  wird  da- 
durch die  Lehre  von  der  apriorischen  Natur  des  Erkennens 
und  mit  dieser  auch  die  Philosophie  überhaupt  auf  eine  wissen- 
schaftliche Grundlage  gestellt/^ 

Dieses  apriorische  Denkgesetz  von  objectiver  Bedeutung 
„muss  nun  in  einem  obersten  unmittelbar  gewissen  Grundsatze 
seinen  Ausdruck  finden,  aus  welchem  mit  logischer  Noth- 
wendigkeit .  . .  gewisse  allgemeine  Thatsachen  des  erfahrungs- 


RecensioDen.  101 

massigen  Wissens  sich  ergeben,  welche  ihren  Ursprung  nach- 
weisbar weder  in  dem  Stoffe  der  Erfahrung  selbst,  noch  in 
den  Gombinationen  dieses  Stoffes  haben  können/' 

Hiermit  ist  dem  Yerfasser  die  Unterscheidung  seines 
Standpunktes  vom  empiristischen  sehr  wohl  gelungen,  ja  sogar 
so  gut,  dass  selbst  ein  Metaphysiker  kaum  etwas  daran  aus- 
zusetzen haben  dürfte.  Um  so  mehr  Grund  hat  der  Empiriker, 
die  folgenden  Beweise  des  apriorischen  Denkgesetzes  yon  ob- 
jectiver  Bedeutung  einer  genauen  Kritik  zu  unterziehen. 

Der  Verfasser  beginnt  in  dem  „Vorbereitung'^  betitelten 
Abschnitt  mit  der  Feststellung  des  ,,unmittelbar  Gewissen'^ 
„Man  weiss  von  vorneherein,  dass  etwas  bloss  auf  zweifache 
Weise  gewiss  sein  kann^  nämlich  entweder  unmittelbar  oder 
mittelbar/'  Dies  kann  durchaus  nicht  zugegeben  werden ;  mag 
Jemand  immerhin  von  vornherein  ,, wissen",  dass  etwas  un- 
mittelbar gewiss  sei,  so  lehrt  doch  die  Erfahrung  gerade  das 
Gegentheil,  nämlich  dass  alle  Gewissheit  ohne  Ausnahme  ver- 
mittelt ist,  wie  sich  denn  dies  auch  bei  allen  Erfahrungs- 
objecten  aufzeigen  lässt.  Weil  das  Letztere  aber  bei  dem  so- 
genannten Apriori  nicht  möglich  ist,  deshalb  macht  man,  um 
populär  zu  reden,  aus  der  Noth  eine  Tugend,  und  behauptet^ 
dass  es  ,,unmittelbar  gewiss"  sei.  Der  Verfasser  war  auf  Grund 
der  Thatsachen  berechtigt  zu  sagen,  es  sei  gewiss,  dass  etwas 
Unmittelbares  gegeben  ist;  dies  darf  aber  mit  Gewissheit 
im  Sinne  der  Richtigkeit  nicht  identificirt  werden,  wenig- 
stens wenn  man  sich  an  den  Sprachgebrauch  halten  will. 
Daher  fehlt  die  Beweiskraft  auch  den  folgenden  Sätzen: 
^Mittelbar  gewiss  ist  Dasjenige,  dessen  Gewissheit  eben  durch 
etwas  Anderes  vermittelt,  d.  h.  von  Anderem  entlehnt  ist. 
Mittelbar  gewiss  ist  etwas,  wenn  ich  dessen  Bichtigkeit  aus 
seinem  Zusammenhange  mit  etwas  Anderem,  vorher  Festge- 
stelltem einsehe.  Ohne  etwas  unmittelbar  Gewisses  könnte  es 
also  auch  nichts  mittelbar  Gewisses,  mithin  tiberhaupt  gar 
keine  Gewissheit  geben'^,  sondern  nur  einen  regressus  in  in- 
finitum.  Hiervon  ist  nur  das  zuzugestehen,  dass  ein  Letztes 
unmittelbar  Gegebenes  nöthig  ist,  um  dem  regressus  in  inf. 
ein  Ziel  zu  setzen,  alles  Uebrige  entbehrt  der  thatsächlichen 
Grundlage  und  dient  nur  als  Vorbereitung  zur  folgenden 
Deduetion :  ,,In  jeder  Vorstellung  ist  zweierlei  zu  unterscheiden, 
das,  was  die  Vorstellung  selbst  ist,  und  das,  was  sie  vorstellt, 
mit  anderen  Worten  das,  was  in  ihr  (von  Gegenständen)  be- 
hauptet wird.  Das  letztere  kann  unwahr  oder  zweifelhaft 
sein,  das  erstere  nie  ...  In  dem  Inhalte  unseres  Bewusstseins 


102  Recensionen. 

haben  wir  alle  und  jede  unmittelbare  Gewissbeit  factischer 
Natur."  Danach  drängen  sich  nun  yor  Allem  die  folgenden 
Fragen  auf:  ^^Das  unmittelbar  Gewisse  faetiseher  Natur  ist  der 
Inhalt  unseres  eigenen  Bewusstseins;  wie  kann  uns  etwas 
ausserhalb  unseres  Bewusstseins  Liegendes  ge- 
wiss werden?  Ferner^  das  unmittelbar  Gewisse  factischer 
Natur  ist  stets  ein  Einzelnes; . .  .  wie  können  wir,  yon  diesen 
Einzelnheiten  ausgehend^  zu  allgemeinen  Einsichten  tou 
vollkommener  Gewissheit  gelangen  ?'' 

Diese  Unterscheidungen  sind  etwas  gewaltsamer  Natur; 
zunächst  ist  ganz  und  gar  nicht  abzusehen,  mit  welchem  Rechte 
die  Vorstellung  als  etwas  Selbständiges  dem  Vorgestellten  ent- 
gegengestellt wird.  Was  ist  die  Vorstellung  ohne  Vorgestelltes 
und  umgekehrt?  Das  Vorgestellte  ist  aber  der  ^Gegenstand''; 
die  .^Behauptungen"  über  diesen  mögen  auf  Grund  der  Vor- 
stellung erfolgen,  ,4^*'  der  letztern  selbst,  wenn  sie,  wie  hier 
wohl  geschieht,  als  directe  Wahrnehmung  au^efaast  wird,  ist 
jederzeit  ein  Gegenstand  unmittelbar  gegeben »  und  zwar, 
worauf  es  den  nächsten  Folgerungen  des  Verfassers  gegenüber 
ankommt,  ist  unmittelbar  nichts  als  der  Gegen- 
stand gegeben.  Dass  dieser  nur  in  der  Wahrnehmung 
gegeben  ist,  ist  eine  vielfach  vermittelte  Einsicht,  zu  welcher 
nur  wenige  Subjecte  gelangen.  Deshalb  kann,  wenigstens  auf 
Grund  der  Erfahrung,  niemals  behauptet  werden,  dass  „das 
unmittelbar  Gewisse  der  Inhalt  unseres  eigenen  Bewusst- 
seins'' sei« 

Ehe  man  die  zweite  Frage  auf  werfen  kann :  „Wie  können 
wir,  von  diesen  Einzelheiten  ausgehend,  zu  allgemeinen  Ein- 
sichten von  vollkommener  Gewissheit  gelangen  r^^  muss  man 
sich  vergewissert  haben,  ob  man  dies  überhaupt  kann.  Die 
streng  wissenschaftliche  Untersuchung  ergiebt  eine  verneinende 
Antwort;  des  Verfassers  eigene  Erörterungen  zeigen,  dass  er 
wenigstens  nicht  „von  diesen  Einzelnheiten"  aus  dazu  gelangt, 
da  ihm  „der  leitende  Faden  abbricht  und  er  wieder  einen 
neuen  Anfang  machen  muss. . .  .  Wir  müssen  uns  darauf  be- 
sinnen, ob  wir  einen  allgemeinen  Satz  kennen,  welcher  un* 
mittelbar  gewiss,  durch  sich  selbst  einleuchtend,  kurz  selbst- 
verständlich ist.  Wie  man  schon  längst  weiss,  giebt  es  in, 
der  That  einen  solchen,  nämlich  den  Satz  der  Identität.  In 
diesem  letzteren  müssen  wir  also  den  Ausdruck  des  Grund- 
gesetzes unseres  Denkens  sehen." 

In  den  nun  folgenden  Erörterungen  über  „die  Natur  der 
Vorstellungen  und  des  erkennenden  Subjects''  bricht  der  leitende 


Beoenüoneii.  103 

Faden   öfters   ab,    und    der  Yer&sser  muss   sich  daher   nooh 
mehrmals  auf  Sätze  besinnen,  welche  ihm  durch  längere  Be- 
kanntschaft   „unmittelbar   gewiss  und   selbstTerständlich*'   ge* 
worden  sind.     Denn  sie  ergeben  sich  keineswegs  mit  logischer 
Nothwendigkeit  aus  seinen  Untersuchungen,  sondern  yerrathen 
nur  zu    deutlich    ihren  „apriorisoheB^^   Ursprung.     Die   y^Vor- 
stellung^^  ist  dasjenige,  wodurch  allein  die  Unterscheidung  von 
Wahrheit    und    Unwahrheit    möglich    ist:     Uebereinstimmung 
der  Vorstellung    mit   einem   durch    sie   g^ebenen    Inhalt  ist 
Wahrheit,   Nichtübereinstimmung   Unwahrheit.     ;,Die  Existenz 
eines  gegebenen   Inhalts,  welche  in  ausdrücklicher  Beziehung 
auf  einen    entsprechenden^   ausser  ihr  liegenden  Inhalt  steht , 
...  ist  die  Vorstellung.     Dasjenige  dagegen,  worauf  sich 
diese  bezieht,  ...  ist  das  reale  oder  objectiye  Dasein  des 
Torgestellten  Inhalts.     Die  Eigenthümlichkeit  der  Vorstellung 
besteht  darin,  dass  Alles,  was  in  ihr  vorhanden  ist,  nicht  ein- 
fiach  an  sich,  sondern  als  der  Bepräsentant  von  etwas  Anderem 
existirt;  darin,  dass  sie  etwas  yon  ihr  selbst  Unterschiedenes  — 
welches    man    ihren    Gegenstand    oder  ihr    Object   nennt  — 
Torstellt."     Die  Vorstellung,    wiewohl   sie   die   Eigenschaften 
des  Vorgestellten  in  sich  begreift,  hat  doch  selbst  nicht  diese 
Eigenschaften;    sie   ist  z.  B.    nicht  weiss,    nicht   ausgedehnt, 
nicht  hart  und  schwer,  „die  Vorstellung   der  Sünde  ist  nicht 
sündhaft''.  „Alle  Gegenstände,  welche  mir  bekannt  sind,  müssen 
doch  in  meinem  Bewusstsein  vorhanden  sein,  sonst  würde  ich 
ja  von  denselben  nichts  wissen   können;   aber  mein   Bewusst- 
sein   ist  nicht  selbst  alle  diese  Gegenstände..   Man  sieht,  das 
Wesen  der  Vorstellung  besteht  im  Allgemeinen  darin,  dass  sie 
selbst  an   sich  nicht  das  ist,   was   sie  vorstellt,  d.  h.,    dass 
Alles,    was   in  ihr  liegt,  nicht    von    ihr   selbst,  sondern  von 
etwas  Anderem  —  von  ihrem   Gegenstande  —  gilt.     Was  an 
sich   eine   ganz  reale  Welt  bildet,   findet   sich  ideell  in  dem 
Bewusstsein  eines  einzigen  Subjects  zusammen,  wird  aber  darin 
gerade   als   eine  ganze   reale  Welt  erkannt.     Die  Eigenthüm- 
lichkeit dieses  ideellen  Daseins  der  Gegenstände   (in  der  Vor- 
stellung) besteht  also  darin,  dass  es  das  reale,  objective  Dasein 
derselben    ausserhalb    der   Vorstellung  ausdrücklich    bejaht, 
affirmirt." 

Die  Vorstellung  unterscheidet  sich  vom  Bilde  eines  Gegen-* 
Standes,  weil  dasselbe  nur  einen  kleinen  Theil  des  Objects 
darstellt  und  an  sich,  in  seinem  eigenen  Wesen,  keine  Be- 
ziehung auf  den  abgebildeten  Gegenstand  enthält,  während  das 
letztere  gerade    das  Wesen   der   Vorstellnng    ausmacht,    und 


104  KeoensioiieD. 

zwar  giebt  sie  zugleich  den  Glauben  an  die  ausser  ihr  ror* 
handene  Existenz  des  Gegenstandes.  ,;AlIer  Glaube  und  alle 
Gewissheit  haben  ihre  Basis  und  Wurzel  in  dem  Wesen  der 
Vorstellung  selbst,  der  es  von  Haus  aus  eigenthümlich  ist,  die 
Affirmation  des  Vorgestellten,  den  Glauben  an  dessen  Dasein 
ausser  sich  zu  enthalten/'  Trotzdem  föUt  die  Vorstellung  nicht 
mit  ihrem  Gegenstand  zusammen;  ,,nie  kann  ein  Gegenstand 
in  die  Verteilung  selbst  kommen,  sondern  bleibt  stets  neben 
derselben  liegen." 

Die  zwei  Arten  von  Thatsachen :  ,;Es  ist  ein  realer  Inhalt 
vorhanden'*  und  „Ich  erkenne,  dass  dieser  Inhalt  da  ist'',  oder: 
„Es  sind  mehrere  Zustände  oder  Phänomene  auf  einander  ge- 
jfblgt'*  und  „Ich  erkenne  die  Succession  derselben",  sind  von 
einander  ^^tolo  genere"  verschieden.  ,yDamit  ich  einsehe  und 
erkenne,  dass  drei  Zustände  oder  mehr  aufeinander  gefolgt  sind^ 
muss  ich  sie  alle  in  einem  Bewusstsein,  zusammen  also  zu- 
gleich haben,  weil  sie  darin  mit  ausdrücklicher  Beziehung  auf 
einander  zusammengefasst  werden.  Wenn  nun  die  an  sich 
successiven  Zustände  in  ihrer  Vorstellung  zugleich  sein 
müssen,  so  ist  klar^  dass  die  Vorstellung  ihrer  Succession 
etwas  von  ihrer  Succession  selbst  Verschiedenes  ist."  — 

Die  letzte  Frage  ist  seit  Schopenhauer,  welcher  sie  be- 
reits richtig  beantwortet  hat,  noch  mehrmals  behandelt  worden, 
weshalb  sie  hier  nicht  mit  einem  Machtspruch  hätte  entschie- 
den werden  sollen.  Es  empfiehlt  sich,  statt  der  allgemeinen 
Begriffe  Einzelerkenntnisse  zu  nehmen,  die  beliebig  ausgewählt 
werden  können ;  eind  die  zwei  Thatsachen :  „est  ist  ein  Mensch 
da",  und:  „Ich  sehe  oder  höre  einen  Menschen",  toto  genere 
verschieden  oder  gleichartig?  Dies  entscheidet  sich  lediglich 
durch  Zurückgehen  auf  Dasjenige,  was  bewirkt,  dass  über- 
haupt von  einer  Thatsache  gesprochen  werden  kann,  und  das 
ist  die  Erfahrung,  in  welcher  sie  gegeben  ist.  Nun  lässt  man 
in  der  gewöhnlichen  Bedeweise  dies  weg,  und  dadurch  er- 
scheinen beide  Ausdrucksweisen  auf  den  ersten  Anblick  auch 
sachlich  verschieden;  sobald  man  aber  nach  der  Begründung 
einer  behaupteten  Thatsache  fragt,  so  muss  die  Berufung  auf 
die  Erfahrung  erfolgen,  ohne  dass  dadurch  der  Inhalt  der  Be- 
hauptung alterirt  wird.  Denn  es  findet  zwischen  beiden  Aus- 
drucksweisen nur  der  einzige  Unterschied  statt,  dass  im  ersteren 
Falle  die  besondere  Art  der  Erfahrung  nicht  angegeben  wird, 
wie  dies  im  anderen  Falle  geschieht.  Dasselbe  gilt  von  den 
andern  Beispielen:  „Es  sind  zwei  verschiedene  Dinge  vor- 
handen'',  heisst    nichts   Anderes    als:    Ich   habe    zwei   Dinge 


Kecensionen.  105 

wahrgenommen  and  dureh  Yergleichnng  ihre  Verschiedenheit 
erkannt;  ebenso:  ,,ich  habe  die  Succession  mehrerer  Zustände 
oder  Phänomene  wahrgenommen^^  Denn  nnr  durch  die  Wahr- 
nehmung habe  ich  ein  Recht  zu  sagen,  y^es  sind*^  etc.  —  Wir 
kehren  zu  den  Bestimmungen  des  Verfassers  über  die  Vor- 
stellung zurück. 

^;ünter  einer  Empfindung  versteht  man  einen  im  Bewusst- 
sein  vorhandenen  Inhalt,  welcher  keine  innere  Beziehung  auf 
Dinge  ausserhalb  des  Bewusstseins  ^  keine  Affirmation  über 
dergleichen  Dinge  enthält.  Solcher  Art  ist  die  pure  Empfin- 
dung einer  Earbe,  eines  Tons,  eines  Geschmacks,  eines  Geruchs 
und  dgl.  Unter  einer  Vorstellung  dagegen  versteht  maa 
einen  im  Bewusstsein  vorhandenen  Inhalt,  welcher  die  Affir- 
mation von  Dingen  ausser  sich,  nämlich  den  Glauben  an  das 
objective  Dasein  oder  Gewesensein  des  in  ihm  Vorgestellten 
enthalt.  Solcher  Art  ist  die  Vorstellung  der  Farbe  als  einer 
Eigenschaft  gesehener  Dinge,  die  Erinnerung  an  unsere  eigenen 
vergangenen  Erlebnisse  und  Aehnliches.^' 

Noch  eine  dritte  Eigenschaft  kommt  der  Vorstellung  zu: 
sie  ist  „in  ihrem  eigenthümlichen  Wesen  ein  ursprüngliches 
Factum,  wie  die  Farbe  und  der  Ton.  Die  Eigenschaften  der 
Vorstellung  können  aus  keinen  gegebenen  Eigenschaften  und 
Verhältnissen  existirender  und  uns  bekannter  Gegenstände  ab- 
geleitet werden.  Dies  bedeutet  Leibnizen's  Zusatz  Nisi  intel- 
lectus  ipse  zu  dem  bekannten  Dictum  Nihil  in  intellectu  quod 
non  in  sensu.  Dieser  Zusatz  besagt,  dass  der  Intellect  (die 
Vorstellung)  zwar  keinen  anderen  Inhalt  haben  kann  als  den 
seiner  unmittelbaren  Objecto,  d.  h.  der  Empfindungen,  dass 
aber  in  demselben  dieser  Inhalt  auf  eine  ganz  eigenthümliche 
Art  und  Weise  existirt,  welche  aus  keiner  Einwirkung  oder 
Zusammensetzung  der  Empfindungen  entstehen  kann.^' 

Wenn  die  Vorstellung  nichts  von  ihrem  Gegenstande 
Unterschiedenes  ist,  dann  hat  sie  auch  keinen  Gegenstand,  mit 
dem  sie  verglichen  werden  kann,  dann  hört  der  Unterschied 
zwischen  Wahrheit  und  Irrthum  auf.  „Es  kann  wohl  einzelne 
Vorstellnngen  geben,  welchen  keine  Gegenstände  in  der  Wirk- 
lichkeit entsprechen,  aber  die  Vorstellung  überhaupt 
kann  ohne  solche  nicht  gedacht  werden.  Denn '  ihr  Wesen 
besteht  eben  darin,  dass  sie  selbst,  an  sich  nicht  das  ist,  was 
sie  vorstellt;  . .  .  wenn  die  Vorstellung  überhaupt  keinen 
Gegenstand  hätte,  so  würde  sie  eben  nichts  vorstellen,  also 
keine  Vorstellung,  sondern  selbst  ein  Gegenstand  sein.^'  Doch 
verbürgt  die  Vorstellung  noch  nicht  etwa  das  „Dasein  äusserer 


1QQ  Becensionen. 

GegenständB  im  Eanme'^  sondern  nur  ausser  ihr,  der  Vor- 
stellung, liegende  Gegenstände.  ^^Ausserbalb  der  Vorstellung^ 
heisst  noch  nicht:  ,,au8serhalb  unseres  Ich'S  ^i^d  noch  weniger 
bedeutet  es  ein  reales  Dasein  im  Räume.  Was  wirklich 
ausser  uns  liegt,  das  können  wir  doch  nicht  wahrnehmen  und 
können  auch  dessen  nicht  unmittelbar  gewiss  sein,  ,,Unmittel- 
bar  gewiss  ist  nur,  dass  bei  jeder  Perception  oder  Wahr- 
nehmung der  Vorstellung  eine  gegenwärtige  Empfindung 
ausser  ihr  entspricht,  und  dass  sich  in  der  Vorstellung  über- 
haupt kein  Inhalt  vorfinden  kann,  welcher  nicht  in  Empfin- 
dungen vorhanden  gewesen  wäre."  — 

Wir  erfahren  hier  ausserordentlich  viel  über  die  Vor- 
stellung, leider  aber  das  Eine  gerade  nicht,  was  Noth  ist,  näm- 
lich ihr  Verhältniss  zur  Anschauung  oder  zur  Sinneswahr- 
nehmung überhaupt.  Es  mag  unbequem  und  schwierig  sein, 
im  Anfang  psychologischer  Untersuchungen  die  Bedeutung  der 
behandelten  Begriffe  festzustellen  und  sie  im  Verlaufe  der 
Untersuchung  festzuhalten  —  aber  es  ist  unbedingt  noth- 
wendig,  wenn  statt  beliebiger  Dogmen  und  Postulate  psycho- 
logische und  erkenntnisstheoretische  Thatsachen  eruirt  werden 
sollen.  Wo  freilich  dies  überhaupt  nicht  die  Absicht  ist,  wie 
bei  der  rein  speculativen  oder  metaphysischen  Psychologie, 
da  wird  man  principiell  mit  den  Begriffen  möglichst  willkür- 
lieh umspringen,  da  sich  hier  die  Thatsachen  fügen  müssen. 
Wer  aber  ausdrücklich  verheisst,  dass  er,  im  Gegensatz  zu 
Andern ,  der  Philosophie  die  „wissenschaftliche  Grundlage^'  und 
einen  „festen  Boden''  geben  will,  der  sollte  sich  billigermassen 
an  das  allgemein  wissenschaftliche  Verfahren  gebunden  er- 
achten. Es  kann  dem  Verfasser  kaum  unbekannt  sein,  dass 
der  frühere  Missbrauch  des  Wortes  Vorstellung,  vermöge  dessen 
es  geradezu  alle  psychischen  Funktionen  ohne  Ausnahme  um- 
faaste,  ziemlich  beseitigt  ist,  und  man  sich  dahin  einigt,  das- 
selbe nur  von  der  Beproduetion  einer  directen  Sinneswahr- 
nehmung oder  von  der  willkürlichen  Gombination  der  Elemente 
verschiedener  Sinneswahmehmungen  zu  gebrauchen.  Wenn  er 
hiervon  abweicht,  so  hätte  er  jedenfalls  die  Bedeutung  angeben* 
sollen,  in  welcher  er  das  Wort  Vorstellung  anwendet;  freilich 
wären  ihm  dann  einige  seiner  wichtigsten  Eesultate  verloren 
gegangen.  Denn  wenn  er  sagt,  dass  ein  Gegenstand  nie  in  die 
Vorstellung  selbst  kommen  kann,  sondern  stets  neben  der- 
selben liegen  bleibt,  so  fragt  man  sich  vergebens,  auf  welche 
thatsächlich  vorhandene  psychische  Fanction  dies  passt.  Wenn 
er  femer  verlangt,   um  Wahrheit  und  Unwahj^eit  zu  unter- 


Beeensionen,  107 

sdMideOy  dass  die  Voratellang  einen  Gegenstand  haben  aoUe 
mit  dem  sie  yergliohen  werden  nnd  von  dem  sie  abweichen 
könne,  aa  kann  hier  unter  Yoratellung  nnr  die  Beprodnction 
von  directen  SinneBwahmehmongen  yeratanden  sein,  welche 
mit  den  letzteren  selbst  verglichen  werden  soll.  Da  nun  aber 
weiter  von  einer  ,;Beproductionsfähigkeit"  and  yon  einem 
;; Vermögen  der  Vorstellung,  den  einmal  gehabten  Inhalt  in 
sich  zu  reproduciren'^;  die  Bede  ist,  so  wird  hier  offen- 
bar die  Vorstellung,  sofern  sie  etwas  wirklieh  Vorhandenes 
bezeichnen  soll,  der  directen  Sinneswahmehmung  gleichgesetzt. 
Dagegen  hat  wieder  der  Satz:  „Die  Möglichkeit  der  Unwahr- 
heit setzt  die  Vorstellung  yoraus'',  nur  dann  einen  Sinn,  wenn 
man  die  letztere  als  Beproduction  auffasst.  Dazu  wird  die 
Vorstellung  noch  ausserdem  mit  dem  Bewusstsein  und  dem 
Intellect  in  so  nahe  Verbindung  gebracht^  dass  sie  yon  beiden 
kaum  yerschieden  erscheint.  Hierauf  passt  nun  auch  wieder 
die  Behauptung,  dass  zum  Wesen  der  Vorstellung  der  Glaube 
an  das  Dasein  des  Vorgestellten  gehöre;  denn  dieser  Glaube 
findet  sich,  im  kritiklosen  natürlichen  Denken  wenigstens,  in 
Bezug  auf  den  gesammten  Inhalt  des  Bewusstseins  oder  In- 
tellects  ohne  Ausnahme,  und  ist  keineswegs  der  „Vorstellung^* 
im  Sinne  einer  besonderen  Function  eigenthümlich. 

Was  soll  endlich  der  Unterschied  zwischen  „einzelnen 
Vorstellungen,  welchen  keine  Gegenstände  in  der  Wirklichkeit 
entsprechen,  und  der  Vorstellung  überhaupt,  welche 
ohne  solche  nicht  gedacht  werden  kann;  denn  ihr  Wesen 
besteht  eben  darin^'  etc.  ?  Ist  dies  etwa  „wissenschaftlich",  dass 
der  allgemeine  Begriff,  der  das  „Wesen''  der  unter  ihm  be- 
fassten  einzelnen  Vorstellungen  enthält,  zu  einem  Theile  der 
letzteren  in  oontradictorischen  Gegensatz  gestellt  wird?  Aber 
es  kommt  noch  besser!  Vermittelst  eines  Bäsonneynents ,  in 
welchem  der  Begriff  „Vorstellung''  wiederum  statt  des  Begri  ffs 
Denken  gebraucht  wird,  gelangt  der  Verfasser  zu  dem  Besultat, 
dass  „es  einzelne  Vorstellungen  eigentlich  gar  nicht  giebt, 
sondern  nur  einen  einzelnen  (individuellen)  Inhalt  derselben, 
und  dass  die  Vorstellangen  sich  nur  durch  ihren  Inhalt  von 
einander  unterscheiden  und  einen  Anschein  der  Individualität 
erhalten.  Das  eigentlich  Vorstellende,  Vergleichende,  Urtheilende 
und  Schlnssfolgemde  ist  also  nothwendig  eine  Einheit,  welche 
einen  mannigfaltigen  Inhalt  in  sich  fasst  nnd  alle  Operationen, 
welche  wir  bei  der  Vorstellung  constatirten ,  an  demselben 
vollführt.  Diese  Einheit  nennt  man  das  erkennende  und 
denkende  Subject.'* 


108  Kecensionen. 

Gewiss  eine  überraschende  Wendung!  Fast  könnte  man 
auf  die  Vermuthung  kommen,  den  Verfasser  habe  bei  seinen 
Untersuchungen  das  zweite  Erkenntnissprincip  t.  Kirchmann*s 
geleitet:  ^Das  sich  Widersprechende  existirt  nicht^^  und  nur 
deshalb  habe  er  die  Vorstellung  mit  'widersprechenden  Be- 
stimmungen ausgestattet,  um  zu  Gunsten  der  Einheit  des 
Subjects  ihre  Nichtexistenz  zu  erweisen.  Denn  nur  diese  passt 
in  das  System,  und  diesem  zu  Liebe  wird  den  Thatsachen 
Gewalt  angethan. 

Nicht  yiel  besser  ist  es  mit  den  Beweisen  für  die  ,,Einheit 
des  erkennenden  und  denkenden  Subjects'^  bestellt.  Im  zweiten 
Bande  handelt  der  Verfasser  in  einem  besonderen  Kapitel  vom 
Ich  und  lehrt  mit  Locke,  dass  die  Einheit  des  Ich  an  die 
Continuität  des  Selbsbewusstseins,  die  letztere  aber  an  die  Erinne» 
lung  gebunden  sei.  Wenn  er  sieh  hiermit  auf  den  empirischen 
Standpunkt  stellt;  warum  ignorirt  er  die  Beweise  der  Empiriker^ 
durch  welche  das  Selbstbewusstsein  lediglich  als  eine  Species 
des  Bewusstseins  dargethan  wird?  Leider  ist  ihm  die  Einheit 
des  Subjects  so  selbstverständlich,  dass  er  sich  die  Sache  sehr 
leicht  macht;  so  sagt  er:  ,,Die  Einheit  des  erkennenden  Suh- 
jects  läugnen,  heisst  ja^  sich  selber  läugnen,  und  Dies  ist, 
gelinde  gesagt,  das  Wunderlichste,  was  einem  denkenden 
Menschen  je  passiren  kann/'  £&  heisst  aber  nur,  sich  selber 
als  Einheit  läugnen.  Weil  er  früher  das  Unmittelbare,  das 
Gegebensein  der  äusseren  Gegenstände,  nicht  als  Unmittelbares 
gölten  liess,  deshalb  muss  er  nun  das  Mittelbare,  die  logischen 
Gesetze,  herbeiziehen,  um  nur  wieder  zum  Unmittelbaren  zu 
gelangen.  Das  identische  Subject  soll,  im  Unterschiede  von 
den  „objectiren,  gleichsam  physischen^'  Gesetzen  seines  In- 
haltes, „logische''  Gesetze  haben^  und:  „ein  logisches  Gesetz 
ist  die  innere  Disposition,  etwas  yon  Gegenständen  zu  glauben''. 
Diese  Verwendung  der  Logik  ist  jedenfalls  neu ;  bisher  glaubte 
man,  und  zwar  aus  guten  Gründen,  dass  die  Logik  mit  dem 
Glauben  an  die  Gegenstände  nicht  das  Geringste  zu  schaffen 
habe. 

Die  Geschichte  der  gewöhnlichen  Logik  lehrt  nun  femer, 
wie  die  „allgemeine  apriorische  Einsicht",  der  „unmittelbar 
gewisse,  durch  sich  selbst  einleuchtende,  selbstverständliche" 
Satz  der  Identität  sehr  allmälig  entstanden  ist;  erst  Sokrates 
hat  ihn,  wenn  auch  nicht  formulirt,  so  doch  factisch  angewandt, 
stand  aber  damit  unter  seinen  Zeitgenossen  ziemlich  vereinzelt 
da,  und  zwar  zeigt  sich  gerade  bei  Sokrates  der  Ursprung  des 
Satzes   sehr  deutlich.     Weil   das   natürliche  Denken   der  Mit- 


RecenMODeB.  109 

unterredner  des  Sokrates  sich  fortwährend  in  widersprechenden 
Aeusserungen  erging,  deshalb  wies  er  sie  auf  die  „logische^' 
Nothwendigkeit  hin,  denselben  Begriff  in  derselben  Bedeutung 
zu  gebrauchen,  und  dies  ist  wohl  auch  gegenwärtig  noch  der 
einzig  berechtigte  Gebrauch  des  Satzes.  Will  man  freilich  ihn 
zu  einem  Denkgesetz  von  „objectiver  Bedeutung^'  stempeln, 
dann  muss  man  auch  behaupten,  dass  er  nicht  aus  der  Er- 
fahrung stammen  könne,  weil  diese  keine  wahrhaft  identischen 
Objecto  aufweise.  Darum  kümmert  sich  aber  weder  die  Logik, 
noch  das  natürliche  Denken,  welchem  die  Identität  des  Namens 
genügt,  um  die  Identität  des  Objects  ohne  Weiteres  zu  be- 
haupten. 

Für  seine  „objectiven"  Zwecke  stellt  der  Verfasser  neben 
der  gewöhnlichen  noch  eine  zweite  Formel  des  Satzes  vom 
Widerspruch  auf:  „Zwei  verschiedene  Affirmationen,  Behaup*- 
tungen,  welche  sich  auf  denselben  Gegenstand  in  derselben 
Hinsicht  beziehen  (wie  „A  ist  rund*'  und  „A  ist  viereckig") 
können  nicht  beide  wahr  sein.''  Vorher  hat  er  es  mit  Kant 
für  unpassend  erklärt,  in  den  Satz  des  Widerspruchs  Zeitver- 
hältnisse aufzunehmen  und  daher  das  bekannte  ,)Zugleich'' 
beseitigt.  Für  seine  zweite  Formel  dürfte  es  ihm  aber  doch 
unentbehrlich  sein;  denn  eine  weiche  Masse  A  kann  sehr 
wohl  in  diesem  Augenblick  rund,  im  nächsten  viereckig  sein. 
Dann  hat  man  freilich  nicht  mehr  „dasselbe  Ding'';  dies  heisst 
aber  nichts  Anderes,  als:  In  dem  Complex  von  Eigenschaften, 
welche  wir  als  ,iDing  bezeichnen^',  hat  sich  eine  Eigenschaft 
verändert,  was  sich  durch  directe  WahrnehmuDg  ei^iebt.  Dem- 
nach ist  die  Identität  von  A  an  die  Identität  seiner  Eigen- 
schaften gebunden.  Dass  aber  die  Eigenschaften  „rund'*  und 
„viereckig''  nicht  demselben  Object  zugleich  angehören  können, 
erklärt  sich  sehr  einfach  daraus,  dass  jede  concreto  Anschau- 
ung einen  bestimmten  Inhalt  hat,  und  vice  versa  jeder  be- 
stimmte Inhalt  in  einer  Anschauung  gegeben  ist.  „Rund''  und 
„viereckig"  sind  nun  nicht  als  Ein  bestimmter  Inhalt  gegeben ; 
wer  daher  dennoch  Beides  vereinigt,  widerspricht  der  Erfahrung, 
wie  denn  überhaupt  jeder  Widerspruch  irgendwie  an  einer  der 
Erfahrung  widersprechenden  Behauptung  gegeben  sein  muss. 
Dies  bestätigen  auch  die  Beispiele  des  Verfassers,  auf  Grund 
deren  er  dem  Satz  des  Widerspruchs  noch  weitere  Ausdehnung 
geben  will;  er  meint,  die  Sätze:  „das  Viereckigeist  an  sich,  als 
solches  (ohne  Bedingung  und  Vermittelung)  roth'',  oder  „das  Bothe 
ist  an  sich  etc.  süss",  enthielten  eben  so  sehr  einen  logischen 
Widerspruch,  wie  der  obige  Satz.     Aber  diese   Sätze   wider- 


110  Recenrionen. 

sprechen  in  enter  Linie  der  Erfahrang,  welche  nichts  Vier- 
eckiges etc.  an  sich  aufweist.  Nur  wenn  man  yon  der  Er- 
fahrung abweicht,  sind  überhaupt  Widersprüche  möglich,  wcfem 
man  nicht  unberechtigter  Weise  Veränderung  und  Widersprueh 
identifieirt.  Hält  man  sich  aber  innerhalb  der  Erfahrung, 
woran  bis  auf  Weiteres  jeder  Fhilosoph  wohl  thun  dürfte,  so 
kommt  man  vollständig  mit  der  üblichen  Formel  des  Wider- 
spruchs aus;  Abweichungen  yon  der  letzteren  sind  nur  aprio- 
ristischen  Neigungen  gegenüber  am  Platze.  Die  Erfahrung 
entscheidet  denn  auch  darüber,  ob  eine  „unbedingte  und  un- 
vermittelte Vereinigung  des  Verschiedenen  möglich  ist'^,  was 
der  Verfasser  verneint.  In  dem  Satze:  ^^das  Eothe  ist  aus- 
gedehntes haben  wir  eine  jedenfalls  ausnalimslose  Vereinigung 
des  Verschiedenen,  welche  man  nach  dem  gewöhnlichen 
Sprachgebrauch  auch  ,,unbedingt  und  unvermittelt^*  nennen 
kann.  Denn  man  darf  sagen:  das  Bothe  als  solches,  seinem 
,, Wesen'*  nach  ist  ausgedehnt,  weil  die  Qualität  roth  in  jeder 
Erfahrung  ohne  Ausnahme  mit  der  Qualität  „ausgedehnt''  ver- 
bunden ist,  „Wesen"  etc.  aber  nichts  Anderes  als  dies  bedeutet, 
nämlich  für  die  „wissenschaftliche'^  Auffassung. 

Wir  können  demnach  dem  Verfasser  nicht  zugeben,  dass 
es  ihm  gelangen  sei,  den  „IJebergang  von  der  Logik  zur 
.Ontologie^'  aufzuzeigen,  müssen  vielmehr  nach  wie  vor  daran 
festhalten,  dass  die  logischen  Gesetze  nichts  Anderes  als  Regeln 
für  das  Denken  als  der  Vereinigung,  Trennung  und  Beziehung 
von  Wahmehmui^^en,  Vorstellungen  und  Begriffen  sind.  Die 
Nichtbefolgung  der  logischen  Gesetze  führt  sicher  zum  Irrthum, 
ihre  Befolgung  dagegen  nur  zur  sogenannten  formalen  Wahr- 
heit, da  sie  über  den  Inhalt  nicht  das  Geringste  entscheiden.  — 

Aus  Bücksichten  des  Baumes  haben  wir  uns  an  dieser 
Stelle  darauf  beschränkt,  das  Wichtigste  zu  kritisiren,  was  der 
Verfasser  zur  Begründung  seines  obersten  Denkgesetzes  von 
objectiver  Bedeutung  beigebracht  hat.  Est  ist  dies  quantitativ 
nur  ein  kleiner  Theil*  des  mit  iobenswerther  Präcision  und 
Kvxze  des  Aasdrucks  abgefassten  Werkes,  dessen  sonstiger 
Inhalt  sehr  beachtenswerth  ist,  weil  er  durchweg  den  gewissen- 
haften und  selbständigen  Denker  zeigt.  Wenn  daher  gerade 
Dasjenige,  worauf  der  Verfasser  wohl  den  meisten  Werth  legt, 
weniger  gelungen,  oder,  ohne  Euphemismus,  ganz  unhaltbar 
erscheint,  so  hat  dies  vornehmlich  seinen  Grund  darin,  dass 
der  Verfasser  etwas  Unmögliches  möglich  zu  machen  unter- 
nommen hat,  nämlich  den  Beweis  des  Apriori  aus  den  That- 
sachen;  das  ist  aber  nichts  Anderes  als  die  beabsichtigte  Ver- 


111 

einigang  von  WiderBprüohen.  Seitdem  die  dreisten  Aacht- 
«priiche  des  Dogmatismus,  welcher  sich  auf  BegrÜDdimg  über- 
haapt  nicht  einlässt,  einigermassen  in  liisscredit  gerathen  sind, 
versncht  man  zwar  häufig  genug  auf  rationellem  Wege  sum 
Apriori  zu  gelangen,  aber  ohne  Erfolg;  es  bleiben  immer  auf 
der  einen  Seite  die  Thatsachen,  auf  der  anderen  das  Apriori 
unvermittelt  neben  einander.  Wenn  man  erst  aus  der  Ge- 
schichte des  Apriori  die  Ueberzeugung  erlangt  hat,  dass  es 
seinen  Ursprung  der  Negation  der  Erfiedirung  yerdankt,  dann 
yerzicfatet  man  darauf,  es  yermifctebt  der  Erfahrung  zu  be- 
gränden.  Denn  dann  hat  man  den  Grund  eingesehen^  aus 
welchem  der  ^^leitende  Faden  abbrechen"  muss,  und  wundert 
sich  nicht  mehr  darüber,  dass  das  Apriori  noch  immer,  wie 
einst  das  Schelling'sche  Absolute,  ;,aus  der  Pistole  ge- 
schossen wird^^ 

Leipzig.  C.  Göring. 


flohrdder,  Snuit.  Der  Operationskreis  des  Loi 
calouls.  Leipzig,  Druck  und  Verlag  von  B.  G.  Teubner. 
1877.  (VI  u.  37  8.  gr  S».)  M.  1. 
Die  ursprünglich  zuerst  vonLeibniz  ausgesprochene  Idee,  den 
Formalismus  der  yon  Aristoteles  überkommenen  Logik  in  ein 
festes  mathematisches  System  zu  bringen  und  so  die  Lösung 
der  einschlägigen  Angaben  yon  dem  subjectiyen  Denkyermögen 
des  Einzelnen  yöllig  unabhängig  zu  machen,  diese  grossartige 
Idee  iheilte  leider  mit  den  ihr  aufs  Engste  yerbundenen 
Schwestern^  der  Pasigraphie  und  der  allgemeinen  geometri- 
schen Charakteristik,  das  Loos^  über  das  erste  rudimentäre 
Stadium  nicht  hinauszukommen.  Erst  hundert  und  fünfzig 
Jahre  später  ward  ihr  das  Glück  zu  Theil^  yon  dem  trefflichen 
englischen  Mathematiker  Boole  wieder  aufgenommen  und  nun- 
mehr in  zwei  umfangreichen  Werken  (London  1847  und  1854) 
gleich  zu  hoher  Vollendung  geführt  zu  werden.  Andere 
englische  Gelehrte,  wie  Ellis  und  Cayley,  arbeiteten  specielle 
Partieen  der  neuen  Disciplin  weiter  aus,  wogegen  letztere  auf 
dem  Continent  so  gut  wie  gar  keinen  Anklang  fand  und  ledig- 
lich die  durch  originelle  Auffassung  ausgezeichneten  Gebrüder 
Grassmann,  yon  den  englischen  Mustern  durchaus  nnbeeinflusst, 
die  Grundzüge  der  Denkrechnung  in  ihren  arithmetischen  Lehr- 
büchern zur  Darstellung  brachten.  Der  Verfasser  der  yor- 
liegenden  Schrift  gehört  zu  jenen  Mathematikern  Deutschlande, 
welche  yon  Anfang  an  der  philosophischen  Seite  ihrer  Wissen- 


112  BecenuoneQ. 

Schaft  eine  besondere  Theilnahme  zugewendet  haben  ^  eine 
Theilnahme,  die  besonders  in  seinem  grossen  „Lehrbuch  der 
Arithmetik  und  Algebra^^  (Leipzig  1878)  und  vielleicht  noch 
prägnanter  in  der  Oelegenheitsschrift  „Ueber  die  formalen 
Elemente  der  absoluten  Algebra''  (Stuttgart  1873)  sich  aus- 
spricht. Die  formale  Algebra  hat  es  mit  Zahlen  im  weitesten 
Sinne  zu  thun,  das  heisst  mit  gleichartigen  discreten  Elementen, 
welche  nach  an  sich  willkürlichen  und  erst  später  beliebig 
begränzten  Yerbindungsgesetzen  gegenseitig  unter  sich  ver- 
knüpft werden.  In  dieser  ihrer  allgemeinsten  Formulirung 
begreift  diese  mathematische  üniversalwissenschaft  die  Logik 
als  besonderen  Fall  in  sich,  als  einen  Specialfall  von  beson- 
ders hervorragender  Wichtigkeit,  der  wohl  eine  gesonderte 
Bearbeitung  verdiente.  Wenn  man  die  Yorrede  liest,  gelangt 
man  denn  auch  zu  der  Yermuthung,  es  habe  dem  Yerf. 
zuerst  die  Absicht  vorgeschwebt,  Boole's  Methoden  bei  uns 
einzubürgern,  bei  eingehenderem  Studium  aber  habe  er  sich 
überzeugt,  dass  denselben  noch  eine  Menge  überflüssigen  alge- 
braischen Beiwerkes  beigemischt  sei,  und  dass  erst  allmalig  der 
Plan,  eine  neue  Grundlage  für  den  Logikcalcul  zu  schaffen,  bei 
ihm  Platz  gegriffen  habe.  So  gelangte  er^  offenbar  erst  all- 
malig und  nicht  mit  Einem  Ansatz,  dazu,  alles  ünndthige 
auszuscheiden  und  vor  Allem  den  Ballast  constanter  Grössen 
soweit  als  nur  immer  möglich  zu  entfernen.  Diesen  Yersuch, 
die  formale  Logik  in  der  denkbar  einfachsten  Gestalt  darzulegen, 
hat  der  Yerf.  im  vorvergangenen  Jahre  der  Oeffentlichkeit  über- 
geben^ indem  er  eine  mehr  populäre  Ausführung  des  Gegen- 
standes, die  denn  auch  im  Interesse  des  grösseren  Publicums 
sehr  zu  wünschen  wäre,  der  Folgezeit  vorbehält. 

Der  einleitende  Paragraph  gliedert  den  Logikcalcul  in  eine 
„Bechnung  mit  Begriffen'^  und  in  eine  ,36cbnung  mit  Urtheilen'^, 
welche  beide  Theile  übrigens  mit  einander  in  so  naher  Be- 
ziehung stehen,  dass  der  zweite  unmittelbar  aus  dem  ersten 
hergeleitet  werden  kann.  Die  Gesammtheit  der  einer  be- 
stimmten Glasse  von  Denk-Objecten  angehörigen  Individuen 
wird,  ebenso  wie  eine  algebraische  Zahl,  durch  einen  Buch- 
staben bezeichnet,  welcher,  wenn  die  Individuenanzahl  sich 
auf  Eins  reducirt,  auch  zur  Charakterisirung  eines  Einzel- 
begriffes, eines  Eigennamens  dient.  Die  vier  Species  der 
Arithmetik  flnden  ihre  logischen  Analoga  in  den  vier  Grund- 
operationen der  Determination  (Multiplication),  Addition 
(CoUection),  Division  (Abstraction)  und  Subtraction  (Exception). 
Nur   darf  hiebei   nicht  übersehen   werden,    dass   von   irgend 


Rece&sioneo.  113 

welohem  FandamentalanterBohied  9  wie  er  in  der  Zahlenlehire 
die  BechnuDgsopeiationen  der  ersten  und  zweiten  Stufe  trennt, 
hier  keine  Bede  sein  kann,  wie  denn  auch  die  logischen 
Operationen  recht  gut  in  bloss  drei  wirklich  yerschiedene  zu- 
sammengerogen  werden  können,  in  die  Multiplication,  Addition 
und  Opposition  (Negation).  Angesichts  dieses  Sachverhaltes 
möchte  man  yielleicht  geneigt  sein,  die  üebertraguug  der 
arithmetischen  Kunstwörter  auf  logische  Vorgänge  für  ein 
vages  Analogiespiel  zu  halten,  allein  dem  ist  in  Wirklichkeit 
nicht  so ;  das  Gesetz  der  Permanenz,  welches  Hankel  in  seinen 
YorlesuDgen  über  die  Theorie  der  complexen  Zahlensysteme 
(Leipzig  1867,  S.  10  ff.)  entwickelt  hat,  bethätigt  auch  hier 
noch  seine  Gültigkeit,  und  in  der  That  exi stiren  nicht  nur 
Aehnlichkeiten,  sondern  auch  Identitäten,  welche  die  Berechtigung 
der  gewählten  Kamen  ausser  Zweifel  setzen  und  die  Ueber- 
tragung  mathematischer  auf  logische  Begriffe  rechtfertigen. 

Lediglich  in  diesem  Sinne  durfte  oben  auch  von  con- 
stanten  Grössen  im  Logikcalcul  gesprochen  werden  —  ein 
Ausdruck,  der  übrigens  nicht  vom  Verf.  herrührt,  sondern  für 
welchen  Beferent  die  volle  Verantwortung  übernimmt.  Die 
mit  logischen  Begriffen  identiffcirten  Buchstaben  a^  b,  c .  .  . 
können  im  Allgemeinen  in  jeder  neuen  Aufgabe  auch  wieder 
einen  neuen  Begriff  repräsentiren,  sind  also  in  gewissem  Sinne 
variabel;  dem  gegenüber  könnte  man  sich  auch  gewisse  häufig 
vorkommende  Begriffe  durch  Symbole  ausgedrückt  denken, 
welche  ihre  Bedeutung  ein  für  allemal  beibehalten  und  somit 
den  Constanten  Grössen  äquivalent  sind.  Je  weniger  solche 
Symbole  nothwendig,  je  einfacher  und  bekannten  mathematischen 
Zeichen  adäquater  sie  sind,  um  so  mehr  Anspruch  auf  den 
Titel  einer  einfachen  und  naturgemässen  wird  die  von  ihnen 
abhängige  Operationsmethode  machen  können.  Gerade  in 
diesem  Puriücationsgeschäft  hat  Schröder  vor  Boole  das  Bichtige 
getroffen ;  er  befindet  sich  in  der  Lage,  ausschliesslich  mit  den 
beiden  Gonstanteu  0  und  1  auszukommen,  indem  ersteres 
Symbol  „eine  Glasse,  zu  welcher  gar  kein  Individuum  gehört'', 
letzteres  „die  Gesammtheit  alles  Dessen,  wovon  überhaupt  die 
Bede  sein  kann'',  umfassen  soll.  Gestützt  auf  diese  Festsetzung 
lässt  sich  dann  ein  sowohl  seines  metaphysischen  Charakters 
als  auch  seiner  Verwendbarkeit  willen  bemerkenswerthes  Gesetz 
von  folgendem  Wortlaut  formuliren:  „Aus  jeder  in  der  Logik 
geltenden  allgemeinen  Formel  muss  sich  wiederum  eine 
richtige  Formel  ergeben,  wenn  man  die  Plus-  und  Minuszeichen 
durchweg  mit  Multiplications-  und  Divisionszeichen  und  ausser^ 

VieTte^jahnschrift  f.  wisaenseliaflL  Philosophie.  III.  1.  8    < 


114  BecenBionen. 

dem  die  Symbole  0  und  1  mit  einander  yertauscht'^  Diese 
Begel  gestattet,  die  einzelnen  logischen  Wahrheiten  genau  in 
derselben  Weise  dual  einander  zuzuordnen,  wie  dies  in  der 
Ton  einer  entsprechenden  polaren  Gegensätzlichkeit  beherrschten 
Geometrie  der  Lage  üblich  ist;  natürlich  kann  es  wie  dort,  so 
auch  hier,  sich  selbst  dual  zugeordnete  Sätze  geben. 

Wie  jede  Wissenschaft  beginnt  auch  die  unsrige  mit 
Definitionen  und  Axiomen.  Abgesehen  von  der  schon  erwähnten 
Disponirung  über  die  Zeichen  der  Kuli  und  Einheit,  bedarf  es 
eigentlich  nur  einer  Definition  der  Gleichheit,  des  Productes 
und  der  Summe.  Das  Product  ab  yersinnlicht  das  zweien 
Begriffsgebieten  gemeinsame  Gebiet,  die  Summe  (a-|-&)  jenes 
Gebiet,  zu  welchem  sich  a  und  i  gegenseitig  ergänzen.  Geo- 
metrische Darstellung  der  Begriffe  durch  Kreise,  wie  solche 
in  der  formalen  Logik  seit  alten  Zeiten  gebräuchlich  ist,  führt 
uns  das  Wesen  dieser  Definitionen  unmittelbar  yor's  Auge. 

Wir  möchten  bei  dieser  Gelegenheit  auf  eine  interessante 
und  unseres  Wissens  noch  niemals  hervorgehobene  Wechsel- 
beziehung zwischen  diesen  logischen  Grundbegriffen  und  der 
Lehre  von  der  Flächenbestimmung  in  der  Geometrie  aufmerk- 
sam machen.  Sobald  die  ümfangslinie  eines  •  begräozten 
Elächentheiles  keine  mehrfachen  Funkte  aufweist,  liegt  der 
Begriff  des  Flächeninhaltes  offenkundig  zu  Tage;  sowie  der 
Perimeter  jedoch  zu  verschiedenen  Malen  sich  selbst  durch- 
setzt, muss  man  nach  dem  Vorgänge  von  Meister  und  MÖbius 
die  einzelnen  Flächenzellen  mit  Ooefficienten  versehen  und 
jede  Flächenzelle  mit  der  ihr  zugetheilten  Zahl  multiplicirt 
in  Bechnung  bringen^),  so  dass  etwa,  wenn  den  fünf  eine 
Figur  bildenden  Partieen  von  der  Grösse  a,  ij  Ct  d^  e  resp. 
die  Coefficienten  a,  ßj  y^  <5,  6  zukommen  ^  der  Flächeninhalt 
durch  den  Ausdruck  {aa  -|-  6^  +  cy  +  d<J + ee)  gegeben  erschien. 
Gegen  diese  uns  jetzt  sehr  natürlich  scheinende  Auffassung 
ist  vordem  selbst  von  geachteten  Fachleuten  vielfach  Verstössen 
worden^  und  dass  ihr  Yerständniss  immerhin  einen  gewissen 
Grad  von  Abstractionskraft  erfordert,  erhellt  sicherlich  aus 
der  Schwierigkeit,  welche  sie  im  geometrischen  Unterrichte 
dem  Anfänger  zu  bereiten  pflegt.  Denken  wir  uns  nun  wieder 
die  beiden   sich    durchdringenden   Begriffskreise  gebildet,    so 


^)  Vgl*  betreffs  der  einzelnen  Stadien,  welche  diese  wichtige 
Neuerung  zu  durchlaufen  hatte,  des  Beferenten  „Vermischte  Unter- 
suchungen zur  Geschichte  der  mathematischen  Wissenschaften'' 
(Leipzig  1876,  S.  41  ff.). 


Becensionen.  115 

würde  die  rohere  Aj^eicht  yom  Wesen  des  Flächeninhaltes  als 
Summe  beider  Kreise  einfach  das  betrachtet  wissen  wollen, 
was  wir  durch  die  Ic^ische  Summe  {a-{--b)  ausdrücken;  wir 
aber  müssen  uns  das  gemeinschaftliche  Kreiszweieck  mit  dem 
Coefficienten  2  belegt  denken.  Befolgen  wir  sonach  den  von 
Schröder  gelegentlich  gemachten  Vorschlag,  die  logischen 
Bechnungszeichen  von  den  mathematischen  durch  Einklamme- 
rung zu  unterscheiden,  so  haben  wir  die  unmittelbar  aus  dem 
geometrischen  Bilde  entfli essende  Gleichung 

a+6  =  a(+)  6  +  a(.)6. 
Abgesehen  davon,  dass  diese  Verbindung  des  eigentlichen 
Bechnens  mit  dem  formalen  vielleicht  eine  gewisse  pädagogische 
Nützlichkeit  für  jene  Classen  höherer  Mittelschulen  hat,  in 
welchen  gleichzeitig  Geometrie  und  philosophische  Propädeutik 
gelehrt  wird,  kann  sie  wohl  auch  dazu  dienen,  die  Anzahl  der 
zum  Aufbau  der  jungen  Wissenschaft  unbedingt  erforderlichen 
Grundsätze  einigermaassen  zu  verringern.  So  stellt  unsere 
Schrift  (8.  8)  die  beiden  Axiome 

als  selbstverständlich  hin.  Lassen  wir  jedoch  nur  das  eine 
derselben  zu,  etwa  das  zweite,  und  setzen  das  Ergebniss  in  der 
obigen  Bedingungsgleichung  ein,  so  erhalten  wir  für  b=a 

a'\'a=a'\'a{.)a]  a(  .)a  =  a. 

Damit  wäre  also  ein  Axiom  in  einen  beweisbaren  Lehr- 
satz umgewandelt.  Wir  verkennen  durchaus  nicht  ^  dass  der 
Verf.  —  gewiss  mit  Becht  —  auf  eine  möglichst  geringe 
Anzahl  von  Axiomen  keinen  besonderen  Werth  legt,  allein  für 
die  Zukunft  scheint  doch  eine  recht  innige  Belation  zwischen 
den  Operationskreisen  der  Algebra  und  des  Logikcalculs  im 
Interesse  beider  Wissenszweige  zu  liegen.  — 

Wir  nehmen  nach  dieser  Abschweifung  den  Faden  unseres 
Beferates  wieder  auf.  Die  Operationen  der  Addition  und 
Multiplication  liefern  für  beliebig  viele  dadurch  verknüpfte 
Classensymbole  immer  wieder  ein  neues  Classensymbol  als 
Ergebniss;  die  Fälle,  für  welche  ab  =  0  oder  a+6=l,  sind 
unschwer  zu  erkennen.  Ein  der  Buchstabenrechnung  wie  im 
Logikcalcul  gemeinsames  Band  bildet  das  beiderseits  bestehende 
Princip  der  Commutativität  und  Associativität,  welches  in  der 
formalen  Algebra  (z.  B.  in  der  Quaternionentheorie)  keine  all- 
gemeine Gültigkeit  besitzt.  Andererseits  bethätigen  die  be- 
treffenden logischen  Sätze  wieder  dadurch  ihre  Sonderstellung, 
dass  ihnen  zum  Theile  die  Eigenschaft  der  Umkehrbarkeit 
abgeht.    Als  „specifische  Gesetze  des  Logikcalculs^'  erklärt  der 

8* 


%1^  Recensioneo, 

V^rfc  die  bereits  oben  erörterten  Thatsachen  a+a+.  ..-ha^^a, 
a,a.a,..a  =  üf  ans  welQh'  letzterer  *  die  Unmöglichkeit 
des.  Auftretens  von  Potenzen  in  der  Denkrecbnang  her- 
Yorgeht,  Das  directe  Distribntionsgesetz  bat  die  bekannte 
arithmetische  Form,  das  umgekehrte  (duale  Gegenstück) 
eine  hieven  abweichende.  —  Die  bisherigen  Betrachtungen 
bezogen  sich  immer  nur  auf  zwei  oder  mehr  beliebig  ans 
der  Menge  herausgegriffene  Classensymbole ;  nun  aber 
stossen  wir  auf  die  den  anderen  Fartieen  der  formalen  Algebra 
fremde  Erscheinung;  dass  zu  jedem  a  eine  „Ergänzung"  a, 
ezistirty  welche  beide  Begriffe  durch  die  Kelationen  a%y  =  09 
a 4-*  ^  =  t>  verbunden  sind  und  durch  dies  ihr  gegenseitiges 
Verhalten  die  Aufstellung  resp.  Verificirung  der  Sätze  0  .  a  =  0, 
l-|.a=l,  a.l  =  a,  a+0  =  a  ermöglichen.  Die  Logik  be- 
zeichnet in  ihrer  gewöhnlichen  Terminologie  das,  was  hier 
Ergänzung  genannt  wurde,  als  contradictorischen  Gegensatz. 
Dass  in  der  That  nur  ein  einziger  solcher,  zu  jedem  a  nur 
ein  a,  oder  non-a  vorhanden,  lässt  sich  erweisen,  sobald  vor- 
her der  Beweis  dafür  geführt  worden  ist,  dass  für  simultanes 
Bestehen  der  Gleichungen  ac=bc,  a-]-  c=b-]rC  nothwendig 
a  =  h  wird,  und  damit  ist  dann  die  aristotelische  Basis  der 
Logik  unter  einem  wesentlich  neuen  Gesichtspunkt  wieder  ge- 
wonnen. 

Eine  unmittelbare  Folge  der  Einführung  des  Index  1  ist 
der  Satz  (öi)i  =  ö,  speciell  (0)i  =  l,  (l)i  =  0.  Daran  schliesst 
sich  eine  Entwickelung  allgemeiner  logischer  Functions- 
ausdrücke  von  beliebig  vielen  „Yariabeln'^  nach  solchen 
Functions- Aggregaten,  welche  ausschliesslich  die  beiden  ,)Con- 
stanten^'  0  und  1  in  sich  enthalten,  dafür  aber  jeweils  mit 
aus  den  Veränderlichen  zusammengesetzten  Goefdcienten  be- 
haftet sind.  Der  in  der  Vorlage  gegebenen  recurrenten  Fassung 
der  Vorlage  wäre  vielleicht  folgende  independente  vorzuziehen : 
Um  f{a(^^ . . .  a^^^)  in  der  erwähnten  Weise  zu  entwickeln, 
bilde  man  sämmtliche  Combinationen  mit  Wiederholungen, 
welche  aus  den  beiden  Elementen  0  und  1  zur  Classe  n  ge- 
bildet werden  können ,  und  multiplicire  jedes  /*(on*'0  ^^* 
dem  Producte  a^^^  a^^^  . . .  a^*^\  indem  man  noch  jedem  Factor, 
welcher  mit  einer  Null  der  Functionsklammer  gleichwerthig  ist, 
den  Index  1  beisetzt.  Die  Grössen  a  werden  die  „Constituenten^^, 
die  Grössen  f  die  „Coefficienten'^  der  Entwickelung;  mit  den 
Aggregaten  selbst  rechnet  es  sich  leicht,  da  beim  Multipliciren 
immer  eine  grosse  Anzahl  von  Gliedern  in  Wegfall  kommt. 
Die  betreffende  Regel  nennt  der  Verf.,    wohl  im  Hinblick  auf 


Becensionen.  117 

«in  AnalogoA  der  symbolischen  Invariantenlehre,   die  „XJeber- 
schiebangsregel^.     Neue    Gesichtspunkte    bietet    das   wichtige 
{sechzehnte)  Theorem ,  welches   besagt,    dass  die  Gleichungen 
■a-\'b=^0  und  a&  =  1  resp.  in  die  Doppelgleicbung  a  =  6  =  0, 
at=&s=sl    eich   auflösen.     Damit  ist   es   denn    auch   möglich 
geworden,  für  irgend   welche  wie   immer  gestaltete  Classen- 
misdrücke  die  Negationen   hinzuschreiben   und   somit  auch  an 
logischen  Gleichungen  jene   Operation    durchzufahren,   welche 
man  in   der  Sprache  der  Algebra   „Eine   Gleichung   auf  Null 
bringen"   nennt.     Ein    sehr   eleganter,    vom   Verf.    ob    seiner 
Wichtigkeit  auch  mit  zwei  verschiedenen  Beweisen  bekräftigter, 
Satz  sagt  aus,  dass  man  die  Negation  eines  entwickelten  Aus- 
druckes einfach  durch  Negirang  der  sämmtlichen  in  demselben 
vorkommenden   Goefficienten  erhält.     In  die  zuletzt  genannten 
Sätze    verlegt    der    Autor     den    wesentlichen    Vorzug    seiner 
eigenen   Methode  vor   derjenigen  Boole's.      Insbesondere   aber 
ist   von  Wichtigkeit   die  Einführung   einer   arbiträren   Grösse, 
welche  dnrch  das  zwanzigste  Theorem,  „das  Haupttheorem,  in 
welchem   der  ganze  Logikcalcul   gipfelt^,   geleistet  wird.    Mit 
ihm  ist  denn  auch  der  eigentlich  rechnerische  Apparat  so  gut 
wie  abgeschlossen;  und  es  handelt  sich  mehr  nur  noch  darum, 
-die   Verwendung   desselben   nach    zwei  Seiten  hin,   nach   der 
mathematischen  wie  nach  der  logischen,  klarzustellen.    So  hat 
«s  allerdings   zunächst    für   den    Mathematiker  Interesse;   zu 
sehen,  wie  in  diesem  Specialgebiete  der  formalen  Algebra  die 
ihm  geläufigen  Begriffe  der  Elimination,  der  Bestimmung  einer 
Gleichungswurzel ,   eines  simultanen  Systems    von  Gleichungen 
u.  s.  w.  ihre  Aussenseite   wechseln,    allein    das  logische  Sub- 
strat fehlt  ja  keinem  dieser  Begriffe,    wie    denn  z.  B.  der  an 
sich    rein    mathematische   Satz,    dass  (alle   Gleichungen   eines 
Systemes  unter  Voraussetzung  der  uns  bekannten  Vorschriften 
in  eine  einzige  zusammengezogen  werden  können,  sich  mit  der 
bekannten    Wahrheit    deckt,    dass    für     das    Zustandekommen 
eines  Schlusses  die  Anordnung   der   Prämissen   willkürlich   ist. 
Während   die    formale  Algebra    im  Allgemeinen  nur  Probleme 
stellt   und   die    möglicher  Weise   zu   ihrer    Lösung   führenden 
Wege  andeutet,   während   ferner  die    gewöhnliche  Algebra  die 
in  ihr  Bereich  fallenden  Fragen  nur  zum  Theile  abschliessend 
zu.  behandeln   vermag,   kennt   die  logische  Algebra  überhaupt 
keine  unlösbare   Aufgabe,    und  insoferne  wird  m^H  Schröder 
Eecht  geben  müssen,  wenn  er  (S.  24)  behauptet;  jene  sei  eben- 
«osefar    die    vollkommenste,    als    die    elementarste    Disciplin» 
welche  der  menschliche  Geist  construiren  könne. 


Wß  Recensionen. 

Der  Kern  der  Theorie  findet  sich  in  dem  sehr  umfäng- 
lichen zweiten  Paragraphen,  während  der  dritte  wesentlich 
der  Discussion  eines  complicirten  von  Boole  herrührenden 
Beispieles  gewidmet  ist.  Dieselbe  ist  in  der  That  recht  geeignet, 
die  Vortheile  der  Theorie  im  richtigen  Licht  erscheinen  zu 
lassen ,  einmal  weil  so  ziemlich  alle  Einzelsätze  aus  dem 
früheren  Theile  dabei  eine  Bolle  spielen,  und  dann,  weil  die 
Entscheidung  des  vorgelegten  Gomplexes  von  Fragen  auf  bloss 
reflectirendem  Wege^  ohne  die  Hilfsmittel  des  Calculs,  selbst 
für  denkgeübte  Männer  eine  harte  Nuss  abgeben  würde.  Der 
vierte  Paragraph,  welcher  es  hauptsächlich  mit  der  Special- 
bedeutung der  inversen  Bechnungsoperationen  zu  thun  hat  und 
dabei  vielfach  in  eine  einlässliche  Kritik  der  Boole'schen 
Aufstellungen  sich  vertieft,  kann  und  muss  seiner  engeren 
Tendenz  halber  in  diesem  für  ein  allgemeineres  Publicum 
bestimmten  Berichte  bloss  erwähnt  werden. 

Die  Schrift  Schröder*s  hat  den  Aufbau  einer  strenge 
formalen  Denklehre  aus  den  einfachsten  Gründen  und  mit  den 
elementarsten  Hilfsmitteln  um  ein  sehr  Beträchtliches  gefördert, 
wo  nicht  zum  vollen  Abschlüsse  gebracht.  Gegner  dieser  seit 
Aristoteles  für  alle  anderen  Abzweigungen  des  Wissens  und 
Erkennens  maassgebenden  Doctrin  hat  es  von  je  gegeben  (vgl. 
Drobisch's  Logik,  Vorrede  zur  ersten  Auflage),  und  diese  werden 
wohl  auch  an  dem  neuesten  Fortschritt,  den  dieselbe  durch 
ihre  enge  Verbindung  mit  der  Mathematik  zu  machen  wusste, 
Vielerlei  auszusetzen  wissen.  Allein  das  wird  die  vollzogene 
Thatsache  nicht  aus  der  Welt  schaffen.  Ein  nicht  unberech- 
tigter Wunsch  des  Beferenten,  den  wohl  mancher  Leser  mit 
ihm  theilt,  wäre  allerdings  der  gewesen,  dass  der  Verf.  die 
Abstraction  etwas  weniger  hätte  walten  lassen,  als  er  es  factisch 
that;  mehr  Exempel  wären  bei  der  Leetüre  sehr  angenehm^); 
wenn  z.  B.  Boole  in  einem  seiner  charakteristischen  Beispiele 
(Transactions  of  London,  1869)  eine  Gesellschaft  von  r  Personen 
einführt,  von  denen  p  Böcke  und  q  Westen  tragen  und  nun 
nach  der  Anzahl  derjenigen  fragt,  welche  weder  Bock  noch 
Weste  tragen,  so  ist  man  ungleich  rascher  orientirt,  als  dies 
z.  B.  die  immerhin  nicht  ganz  einfache  Formulirung  des 
Generalproblemes  in  §  3  gestattet.  Auch  das  englische  Vorbild 
ist  bei  eingehenderem  Studium    der  Schröder'schen  Ideen  vor- 


^)  In  dieser  Hinsicht  sei  auf  ein  sehr  lichtvolles  Referat  von 
Schubert  im  Jahresberichte  der  mathematischen  Gesellschaft  zu 
Hamburg  verwiesen. 


Selbstanzeigen.  119 

]äQ%  nicht  wohl  zu  entbehren.  Allein  das  sind  Accidentien, 
nnd  zndem  verspricht  uns  ja  der  Verf.  gegenwärtiger  Abhand- 
lung, welche  einstweilen  mehr  den  Zweck  eines  Programmes 
verfolgt;  eine  populärere  und  ausführlichere  Darstellung  nach- 
folgen zu  lassen.  Wir  wünschen,  dass  dies  recht  bald  ge- 
schehen möge,  glauben  aber,  dass  auch  die  hier  besprochenen 
y^olegomena  zu  einer  neuen  Darstellung  der  formalen  Logik'', 
wie  man  sich  füglich  ausdrücken  könnte^  unter  Mathematikern 
wie  Philosophen  bereits  jetzt  sich  ein  theilnehmendes  und 
ansehnliches  Publicum  erwerben  werden. 

Ansbach.  S.  Günther. 


Selbstanzeigen. 


Zur  gefälligen  Beachtung. 

Beim  Beginn  des  neuen  Jahrganges  erlaubt  sich  die 
Redaction  in  geneigte  Erinnerung  zu  bringen,  dass  —  gemäss 
demProspect  dieser  Zeitschrift  (vergl.  Jahrg.  I,  Heft  1  u.  2) 
—  die  „Selbstanzeigen" 

nur  auf  da^enige  aufmerksam  machen  sollen ,  worin 
nach  der  eigenen  Auffassung  der  Herren  Autoren  das 
Neue,  hez.Cha/if*akteri8ti8che  ihrer  neuerschienenen 
Werke  besteht.  — 
Von  der  Thatsache  ausgehend,  dass  die  durch  eine  grosse 
literarische  Production  gebräuchlich  und  nothwendig  gewordenen 
kurzen  Notizen,  welche  —  ohne  irgend  welche  Kritik  zu 
üben  —  dennoch  unter  der  Rubrik  „Recensionen''  in  den  wissen- 
schaftlichen Zeitschriften  gebracht  zu  werden  pflegen,  oft  eben 
durch  ihre  Kürze  den  Herren  Autoren  Anlass  zu 
Klagen  über  „Missverstehen,  bez.  Kichtbemerken 
ihrer  eigentlichen  Intentionen"  geben  —  von  dieser 
nicht  seltenen  Wahrnehmung  ausgehend  hofft  die  Redaction 
durch  die  Rubrik  „Selbstanzeigen'*  solche  in  manchem  Betracht 
unentbehrlich  gewordene  kurze  Recensentenanzeigen  durch 
authentische  Idttheilungen  zu  ersetzen,  welche,  da  sie  von 
den  Yerfassem  der  Werke  selbst  herrühren,  sowohl  den  Herren 
Autoren  die  Gewissheit  einer  ihren  wissenschaft- 
lichen Intentionen  entsprechenden  Berichter- 
stattung, als  auch  den  geehrten  Lesern  die  Garantie 
einer  im  Sinne  der  Verfasser  zuverlässig  unver- 


1 


120  Selbstanseigen. 

fälschten  Charakteristik  der  neuen  Erscheinungen  su 
bieten.  Zugleich  giebt  der  Autor  den  Lesern  ein  Mittel  in 
die  Handy  die  Darstellung  der  Becensentenreferate  zu  con- 
troliren  —  ein  Umstand,  weldier  auf  die  Zuverlässigkeit 
^er  letzteren  nur  günstig  zurückwirken  kann.  Die  erwähnten 
Leistungen  der  ,,Selb8tanzeigen''  dürften  als  Vorzüge  zu  be- 
zeichnen  sein^  welche  diese  Institution  auch  für  den  Fall 
empfehlen,  dass  die  Herren  Autoren  anderweite,  eingehende 
und  competente  Beurtheilungen  ihrer  Werke  bestimmt  erwarten. 

Demgemäss  hofft  die  Redaction,  den  wissenschaftlichen 
Ansprüchen  der  Verfasser  wie  der  Leser  gleichmassig  gerecht 
zu  werden,  und  zwar  um  so  mehr,  als  sie  sich  dadurch  die 
Freiheit  bewahrt,  in  der  Rubrik  der  ^^Recensionen''  auch  wirk- 
lich, wenn  nöthig  längere,  immer  aber  kritische  Be- 
sprechungen der  neueren  Werke  und  dadurch  eine  Förderung 
der  daselbst  niedergelegten  Problembehandlung  zu  geben.  Von 
solchen  y^Recensionen"  sind  die  selbstangezeigten  Werke  durch 
die  blosse  Thatsache  der  ^^Selbstanzeige^'  nicht  ausgeschlossen. 

Lidem  die  Redaction  sich  beehrt,  ihre  Einladung  an  die 
Herren  Autoren  zur  Benutzung  der  Rubrik  der  „Selbstanzeigen'^ 
hiermit  ergebenst  zu  erneuern,  erlaubt  sie  sich,  darauf  hinzu- 
weisen, dass  als  zur  Erfüllung  des  Zweckes  der  „Selbst anzeigen' ' 
ungeeignet  insbesondere  solche  Notizen  betrachtet  und  mithin 
Ton  der  Zulassung  ausgeschlossen  werden  müssten,  welche 
1)  den  Charakter  von  buchhändlerischerseits  erlassenen  An- 
zeigen behufs  geschäftlicher  Einführung  der  betr.  Werke  nicht 
überschreiten ;  2)  welche  wesentlich  nur  eine  Copie  der  Capitel- 
überschriften  enüialten;  und  3)  welche  ihre  Problembehandlung 
und  Lösung  einfach  als  eine  „neue'^  und  ,,eigenthümliche''  be- 
zeichnen, ohne  anzugeben,  worin  eben  das  „Neue"  und  „Eigen- 
thümliche'^  bestehe. 

Dringend  wünschenswerth  ist,  dass  der  Umfang  der  ,,Selbst- 
anzeigen''  den  im  Prospecte  zur  Verfügung  gestellten  Raum 
von  ^3  bis  ^/s  Druckseite  innehalte,  und  dass  sowohl  die  Titel- 
angabe als  der  Text  der  „Selbstanzeige''  in  deutlich  lesbarer 
Handschrift  eingesandt  werde;  letzteres  erscheint  um  so  mehr 
erfordert,  als  es  nicht  möglich  ist,  Abzüge  der  „Selbstanzeigen'' 
den  Herren  Verfassern  zur  Revision  vorzulegen. 

Die  Redaction  übernimmt  keine  Verpflichtung  zur  Auf- 
nahme, bez.  Rücksendung  eingesandter  und  keine  andere  als 
die  ihr  zukommende  juristische  Verantwortlichkeit  für  die  ver- 
öffentlichten „Selbstanzeigen". 


Selbatanseig«!.  X21 

Byk,  8.  A.  Die  Physiologie  des  Schönen.  Leipsig, 
Moritz  Schäfer,  1878.     (YI.  u.  286  8.  gr.  8.). 

Der  Verfasser  ist  bestrebt,  die  Lehre  vom  Schönen  Tom 
nnberechtigten  Einflüsse  der  Torgefassten  Meinung  über  die 
Bescbaflfenheit  des  metaphysischen  Principes  zu  befreien  und 
sowohl  die  Entwickelung  als  die  Auseinanderlegung  desselben 
in  seine  manigfaltigen  Formen  aus  seiner  inneren  und  äusseren 
l^othwendigkeit  im  Zusammenhange  mit  der  des  empfindenden 
fiubjectes  zu  erklären.  Dazu  schien  ihm  die  physiologische 
Methode  am  geeignetsten»  die  uns  den  fortschreitenden  geistigen 
Process  innerhalb  der  Bedingungen  der  Materie  vorführt.  Der  Verf. 
fiucht  aus  der  ersten  einfachen  ästhetischen  Thatsache  die  weitere 
Entwickelung  und  Entfaltung  der  manigfaltigen  Gestalten 
innerhalb  derselben  Form  abzuleiten  und  nachzuweisen ,  dass 
sie  nur  durch  das  Hinzukommen  neuer  logischer  Momente, 
psychologischer  Ideen associationen  oder  äusserer  Umstände  ans 
ihr  entstanden  sind.  Ebenso  erklärt  er  daraus  die  manig- 
faltigen Gestalten,  die  dieselbe  ästhetische  Form  bei  ver- 
achiedenen  Völkern  angenommen  hat  und  macht  auf  den  Ein- 
fluss  aufmerksam  9  den  das  Leben  und  die  technischen  Be- 
dingungen auf  die  Gestaltung  der  Kunst  ausgeübt  haben  ^  wie 
auch  auf  die  Rückwirkung  ihrer  Gestalten  auf  das  Schönheits- 
ideal, was  er  an  der  Hand  der  Geschichte  und  der  ästhetischen 
Thatsachen  festzustellen  sich  bemüht. 

Diese  Methode  hat  der  Verfasser  auch  bei  seiner  Behand- 
lung des  Hässlichen  festgehalten,  dessen  Fortschreiten  von 
seinem  Entstehen  aus  den  Trümmern  des  über  sich  selbst 
hinaustreibenden  Schönen  er  stetig  bis  zu  seiner  höchsten 
Stufe  verfolgt,  in  der  es  als  unvereinbarer  ViTiderspruch  das 
Wesen  des  Schönen  selbst  ergreift,  welches  der  Verfasser  in 
der  allen  Erörterungen  vorangehenden  analytischen  Untersuchung 
des  Schönen  als  abstracten  Urtypus  aller  Schönheitsformen  hin- 
gestellt hat. 

Srdmann^  Benno.  Immanuel  Kaut's  Kritik  der  reinen 
Vernunft.  Herausgegeben  von  B.  Er d mann.  Leipzig, 
Leop.  Voss.    1878.     XVI.  u.  676  S. 

Die  Veranlassung  zu  dieser  Ausgabe  bot  die  Wahr- 
nehmung, dass  in  den  bisherigen  Ausgaben  nicht  wenige  sach- 
lich bedeutsame  Differenzen  der  beiden  ersten  Auflagen  der 
Kr.  d.  r.  V.  übersehen  worden  sind,  und  dass  der  in  Folge 
der  schnellen  Niederschrift  sowie  des  nachlässigen  Druckes 
der   Schrift    sehr   mangelhafte  Text  eine  um  vieles  grössere 


122  Selbstanseigen« 

Menge  von  Correcturen  fordert^  als  bisher  yenucht-  worden 
Bind.  Der  Text  der  zweiten  Auflage  ist;  wie  nicht  gerecht- 
fertigt zo  werden  braucht,  zum  Grundtext  gewählt.  Diejenigen 
sachlichen  Differenzen ,  die  einen  unmittelbaren  Vergleich  mit 
der  späteren  Bearbeitung  zulassen,  sind  als  Anmerkungen,  die 
anderen  (Vorwort,  Deduction,  Kritik  der  Paralogismen)  als 
Beilagen  angefügt  worden.  Die  sprachlichen  Veränderungen^ 
sowie  die  Correcturen  des  Herausgebers  sind  in  einem  ;^n- 
hang  zur  Textrevision^'  verzeichnet.  Die  Originalpaginirnng 
der  zweiten  Auflage  ist  durch  Bandzahlen  zum  Abdruck  ge- 
bracht worden.  Der  Herausgeber  schlägt  vor,  dieselbe  künftig* 
hin  als  Normalpaginirung  zu  benützen. 

Srdxnann,  Benno«  Eant's  Kriticismus  in  der  ersten 
u.  zweiten  Auflage  der  Kr.  d.  r.  V.  Eine  historische 
Untersuchung.     Leipzig,  L.  Voss.  1878.  XI.  u.  247  S. 

Kant  selbst  hat  mehrfach  erklärt,  dass  die  zweite  Be* 
arbeitung  seiner  Kr.  d.  r.  V.  durch  die  Missverständnisse  und 
Angriffe  bedingt  sei,  die  das  Werk  in  seiner  ursprünglichen 
Gestalt  erfahren  habe.  Der  Verfasser  giebt  daher  nach  einer 
Analyse  der  ersten  Auflage,  soweit  die  letztere  für  die  spätere 
Umarbeitung  in  Betracht  kommt,  eine  historische  Darstellung 
der  Bewegung  um  die  Kr.  d.  r.  V.  in  den  Jahren  1782  —  1786, 
einerseits  der  Gegner,  Vermittler  und  Anhänger ^  andererseits 
des  Spinozastreits.  Aus  der  Art  der  Bück  Wirkung  dieser  Be- 
wegung auf  K.,  die  sich  in  den  Schriften  desselben  aus  dieser 
Zeit  documentirt  und  durch  mannigfache  andere  Quellen  näher 
bestimmt  wird,  ergeben  sich  sodann  die  Motive,  die  für  die 
Neubearbeitung  wirksam  waren:  der  Wunsch  nach  Erläuterung 
des  Sinnes  der  Lehre,  das  Streben  nach  Hervorhebung  der 
positiven  Bedeutung  derselben  in  metaphysischer  und  ethischer 
Hinsicht,  der  Versuch  einer  Abwehr  des  ihm  von  allen  Seiten 
aufgebürdeten  Idealismus,  die  Absicht  einer  Klärung  der 
Argumentation  der  Deduction.  Das  letzte  Gapitel  sucht  zu 
zeigen,  inwiefern  diese  neu  hinzugetretenen  Motive  den  Inhalt 
wie  den  Zusammenhang  der  ursprünglichen  Gedanken  in  mehr- 
facher Hinsicht  modiflciren  mussten:  der  kritische,  anti- 
dogmatische Hauptzweck  wird  schärfer  betont,  obgleich  andrer- 
seits durch  eine  missverständliche  Einleitung  geschwächt  und 
durch  Andeutungen  seiner  positiven  Bedeutung  verdunkelt. 
Die  Wirklichkeit  der  Dinge  (u.  des  Ich)  an  sich,  die  anfangs 
selbstverständliche  Voraussetzung  war,  wird  nicht  bloss  wie 
in  den  Prolegomenen  specifisches  Merkmal,  sondern  Problem, 
d.  i.  ein  Gegenstand  besonderer  Beweise. 


Philosophische  Zeitschriften.  123 

Beady  Carreih«    On  the  Theory  of  Logic :  an  Essay.   London, 
C.  K^an  Faul  &  Co.,  1878.     (XIL  and  258  pp.  8.) 

This  is  an  attempt  to  reconstitnte  the  science  of  Logic 
by  combining  hannonizing  and  systematizing  the  yiews  of  J.  S. 
Milly  A.  Bain  and  H.  Spencer.  It  does  so  chiefly  in  two  ways, 
1)  by  regarding  Logic  as  an  abstract  science  coordinate  with 
Mathematics,  and  treating  not  of  thought  or  language,  bnt 
of  the  relations  of  phenomena  as  such  (whilst  Mathematics 
treats  of  the  quantitative  relations  of  phenomena,  Logic  treats 
of  their  qualitatiTe  relations):  2)  by  readopting  the  synthetic 
Order  of  exposition,  so  that  Liduction  finds  its  place  between 
Definition  (with  some  simpler  topics)  and  Deduction,  instead 
of  being  treated  apart  as  by  J.  S.  Mill. 


Philosophische  Zeitschriften. 


Philosophisohe  Monatshefte.    Unter  Mitwirkung  von  Dr. 

F.  Ascherson  etc.,    redigirt  und   herausgegeben  von 

G.  Schaarschmidt. 

Band  XIV,  Heft  5:  K.  Ch.  Planck:  Das  Causalgesetz 
in  seiner  rein  logischen  und  in  seiner  realen  Form.  —  L.  Wei  s: 
Herder  und  die  moderne  Naturphilosophie  (zugleich  Anzeige 
von  V,  Bärenbach,  Herder  als  Vorgänger  Darwins).  —  Fr. 
Michelis,  die  Philosophie  des  Bewusstseins ;  bespr.  von  C. 
Schaarschmidt.  —  A.  Meinong,  Hume-Studien,  I;  angez. 
von  demselben.  —  L.  Eabus,  Philosophie  und  Theologie;  rec. 
von  F  r  e  d  e  r  i  c  h  8.  — ■.  K.  Schramm,  Die  Erkennbarkeit  Gottes  etc. ; 
rec.  von  demselben.  —  J.  E.  Erdmann,  Grundr.  der  Geschichte 
der  Philosophie,  3.  Aufl.;  angez.  von  C.  Schaarschmidt. 
—  Litteraturbericht :  Boeckh,  Huber,  Späth,  Bahnsen,  Wildauer, 
Emminger,  Lütze,  Bullinger,  Weil,  Weber.  —  Bibliographie 
von  F.  Ascherson.  —  Philos.  Vorlesungen.  —  Kecensionen- 
Verzeichniss.  —  Aus  Zeitschriften.  —  Miscelle. 

Band  XIV,  Heft  6:  Baumann:  Kurze  Darstellung  der 
Philosophie  Fr.  v.  Baader's.  —  Tobias,  Grenzen  der  Philo- 
sophie etc.;  bespr.  von  E.  Arnold t.  —  A.  Spir,  Denken 
und  Wirklichkeit;  bespr.  von  Th.  Lipps.  —  R.  Eucken,  Ge- 
schichte und  Kritik  der  Grundbegriffe  der  Gegenwart;  bespr. 
von  G.  Schaarschmidt.  —  E.  Pfleiderer ,  Die  Idee  eines 
goldenen  Zeitalters.    —    H.  Spitta,  Die  Schlaf-  und   Traum- 


1 


^24  PhüOBophiBche  Zeitschriften. 

zustande  der  sdenschL  Seele;  beapr.  yon  Böhm.  —  Bins,  üeber 
den  Traum;  bespr.  von  demselben.  —  Lltteratnrberiohi : 
Kirchner,  Grant-Imelmann,  Jan  Holland,  v.  Bärenbach^  Haber, 
Spaeth^  Kaulich.  —  Bibliographie  von  F.  Ascherson.  — 
FhiloB.  Vorlesungen.  —  Eecensionen-Veraeichniis.  -r-  Au« 
Zeitechriften.  - —  Miscelle. 

Baad  XIV,  Heft  7:  C.  Schaarschmidt :  Zur  Wider- 
legung des  subjectiven  Idealismus.  —  Cohen,  Kantus  Begrün- 
dung der  Ethik;  bespr.  von  Knauer.  —  Ueberhorst,  die  Ent- 
stehung der  Gesichtswahmehmung ;  bespr.  von  W.  Schuppe. 

—  H.  V.  Stein,  Ueber  Wahrnehmung ;  bespr.  v.  demselben.  — 
€1.  Blaeumker^  Des  Aristoteles  Lehre  von  dem  äusseren  und 
inneren  Sinnesvermögen;  bespr.  von  J.  Neu  haus  er.  —  J.  A- 
Piväny,  Entstehungsgeschichte  des  Welt-  und  Erdgebäudes  etc. ; 
bespr.  von  Siegfried.  —  Bibliographie  von  F.  Ascherson. 

—  Recensionen- Verzeichnisa.  —  Aus  Zeitschriften.  —  Miscelle. 

2eit80hrift    für   Philosophie   und   philosophische    Kritik, 

herausgegeben   von  J.  H.  v.  Fichte,   H.  Ulrici   and 

J.  ü.  Wirth.    N.  F. 

Band  LXXIII,  Heft  1:  B.  Weiss:  Untersuchungen  über 

Fr.  Schleiermachers  Dialektik   (l.  Theil).   —   Fr.  Bertram: 

Die  Unsterblichkeitslehre  Plato's  (2,  Hälfte).  —  lif.  Schasler: 

Zur  Geschichte  der  Ironie.  —  K.  Seydel:    Ueber  die  Frage 

nach   der  Erkenntniss   der   Dinge  -  an  -  sich.    —    Becensionen: 

Persönlichkeits -Pantheismus   und   Theismus;    von   Fr.   Hoff- 

mann    (1.    Hälfte).  —   Philosophie    der    Freiheit   dargestellt 

für   deutsche  Laien;    von  A.  Krohn.  —  A.  Emminger,    Die 

vorsokratischen Philosophen  etc.;  von  demselben.  —  T.  Wildauer, 

Die  Psychologie  des  Willens  bei  Sokrates  etc.;  von  demselben. 

—  W.  Biehl,  Die  Erziehungslehre  des  Aristoteles;  von  dem- 
selben. —  In  Sachen  Herder's  und  Darwin's ;  von  v.  B  ä  r  e  n  - 
bach.  —  Bibliographie. 

Heft  2:  G.  Glogau:  Darlegung  und  Kritik  des  Grund- 
gedankens der  Cartesianischen  Metaphysik.  —  E.  Dreher: 
Zum  Verständniss  der  Sinneswahrnehmungen  (IV).  —  Recen- 
sionen: Persönlichkeits  -  Pantheismus  und  Theismus;  von  Fr. 
Hoff  mann  (2.  Hälfte).  —  W.  Shields,  Eeligion  and  Science 
in  their  Belation  to  Philosophy ;  von  A.  Krohn.  —  Newman 
Smyth,  the  Beligious  Feelinllg;  von  demselben.  —  J.  Kreyen- 
bühl,  Beligion  und  Ohristenthum ;  von  demselben.  —  S.  A.  Byk, 
Die  vorsokratische  Philosophie  der  Griechen  etc.,  II.  Theil; 
von  demselben.  —  G.  B.  Halstead,  Boole's  Logioal  Method; 
von  H.  Ulrici. 


Philosophische  ZeitsehrifteD.  12&- 

B^Tiie  Phüosophique  de  la  Franoe  et  de  l^tranger, 
dingte  par  Tb.  Bibot  (Paris,  Librairie  Oermer  Bailli^re 
et  Cie.) 

Uly  7:  G.Oompayre:  Origines  de  la  Psychologie  ^yo- 
lutionniste :  La  Psychologie  de  Lamarck.  —  T.  Y.  Gharpen- 
tier:  La  Logiqae  du  hasard,  d'aptis  J.  Y  enn.  —  D.  Nolen? 
Les  nouvelles  Philoeophies  en  AUemagne.  —  Notes  et  docu- 
ments:  Le  Sens  muscnlaire,  d'apr^s  G.  H.  Lowes.  —  Essais 
sor  le  syllogisme.  L  Les  trois  Figures,  par  P.  Tanner y. -— 
Analyses  et  eomptes  rendus:  Steinthal,  Der  Ursprung  der 
Sprache.  —  Lilienfeld,  Gedanken  über  die  Socialwissenschaft 
der  Zukunft.  —  Revue  des  P^riodiques  ^trangers. 

III,  8:  H.  Spencer:  Etudes  de  sociologie  (dorn.  art.). 
Th.  Bibot:  Les  Theories  allemandes  sur  l'espace  tactile.  — 
T.  Y.  Charpentier:  La  Logique  du  hasard ;  d'apres  J.  Yenn 
(flu).  —  Analyses  et  eomptes  rendus:  Ferrier,  Lectures  on 
cerebral  localisation.  —  Fechner,  Yorschule  der  Aesthetik.  — 
Lexis,  Theorie  der  Massenerscheinungen  in  der  menschl.  Ge- 
sellschaft. —  Hess,  Dynamische  Stofflehre.  —  Ferraz,  Philo- 
sophie du  devoir.  —  Revue  des  Päriodiques  ^trangers. 

UI^  9 :  W.  W  u  n  d  t :  Sur  la  th^orie  des  signes  locaux.  — 
N.  Grote:   Essai  dune  Classification  nouvelle  des  sentiments. 

—  F.  Paulhan:  La  Theorie  de  Vinconnaissable  de  H.  Spencer. 

—  Notes  et  documents:  Le  lapsus  de  la  vision,  par  Y.  Egger. 

—  Application  de  l'algebre  au  syllogisme,   par  P.  Tannery, 

—  Analyses  et  eomptes  rendus:  Dauriac:  Des  Notions  de 
matiöre  et  de  force  dans  les  sciences  de  la  nature.  —  Gizycki : 
Philosophische  Gonsequenzen  der  Lamarck  -  Darwin'schen  Ent- 
wickelungstheorie.  —  Flint:  The  Theism.  —  Revue  des 
Periodiques. 

Wndy  a  quarterly  Review  of  Psychology  and  Philosophy> 
ed.  by  G.  G.  Robertson.  (London ^  Williams  and 
Norgate.) 

No.  11:  G.  J.  Romanos:  Consciousness  of  Time.  — 
A.  Bain:  Education  as  a  Science  (III).  —  Grant  Allen: 
The  Origin  of  de  Sublime.  —  D.  Greenleaf  Thompson: 
Intuition  and  Inference  (I).  —  A.  Sidgwick:  The  Negative 
Character  of  Logic.  —  W.  H.  S.  Monck:  Butler's  Ethical 
System.  —  W.  Cunningham:  Political  Economy  as  a  Moral 
Science.  —  Critical  Notices :  Pillon's  Introd.  to  Hume's  Treatise 
of  Human  Nature,  and  Meinong's  Hume- Studien,  by  G.  C. 
Robertson;  Huber's  Forschung  nach  der  Materie,  by  A  d  a  m  - 


/ 


126  Bibliographische  Mittheilangen. 

80 n.  —  Reports:  An  Infant's  Frogress  in  Language,  hj  F. 
Pollock;  Note  Deafness^  by  Edith  Simoox  and  Grant 
Allen.  —  Notes  and  Discussions:  The  Genesis  of  Disintereeted 
Benevolenoe,  by  F.  Friedmann;  Mr.  Sully  on  Fessimism, 
by  Caryeth  Eead;  Prof.  Jevons  on  Mill's  Experimental 
Methods,  by  Adamson;  Necessary  Connexion  and  Inductive 
Beasoning,  by  W.  G.  Da  vi  es.  —  New  Books.  —  News. 

No.  12:  G.  Stanley  Hall:  The  Muscular  Ferception 
of  Space.  —  A.  Bain:  Edncation  as  a  Science  (IV).  — 
D.  Greenleaf  Thompson:  Intuition  and  Inference  (II).  — 
A.  J.  Balfour:  Transcendentalism«  —  G.  Barzellottir 
Philosophy  in  Italy.  —  Critical  Notices:  Read's  Theory  of 
LogiC;  by  J.  V  e  n  n ;  Perez'  Trois  premi^res  ann^es  de  l'Enfant, 
by  F.  Pollock;  Turbiglio's  Antitesi  tra  il  Medioeyo  e  TEti 
moderna  nella  storia  della  Filosofia,  by  B.  Flint;  Erdmann's 
Axiome  der  Geometrie,  by  .T.  F.  N.  Land.  —  Reports :  Con- 
sciousness  ander  Chloroform,  by  H.  Spencer;  The  Semi- 
circular  Ganais  and  the  „Sense  of  Space'',  by  G.  G.  Robert- 
son. —  Notes  and  Discussions:  Logic  and  the  Elements  of 
Geometry,  by  Dr.  H i r s t  and  G.  C.  Robertson;  Hegelianism 
and  Psychology,  by  R.  B.  H  a  1  d  a  n  e ;  The  Rule  of  Three  in 
Metaphysics,  by  J.  T.  Lingard;  The  Foundation  of  Arith- 
metic,  by  HensleighWedgwood.  —  New  Books.  —  News. 

La  FiloBofia   delle   Souole  Italiane  ^    Rivista  bimestrale. 
Diretta  da  T.  Mamiani  e  L.  Ferri. 

XVIII,  1:  T.  Mamiani:  Della  crescente  necessitä  delle 
sintesi  abbreviative.  —  G.  Barzellotti:  La  critica  della 
conoscenza  e  la  metafisica  depo  il  Kant.  —  F.  Bonatelli: 
Truccioli  di  filosofia,  ossia  Girolamo  Clario.  —  G.  AUieyo: 
La  personalitä  umana.  —  Bibliografia:  A.  Conti;  P.  Siciliani; 
G.  Fontana;  A.  Paoli;  A.  Martinazzoli.  —  Periodici  di  filo- 
sofia. —  Notizie.  —  Recenti  pubblicazioni. 


BlbllograpUsche  Mittheilnngen. 

Bonwetseh^  Fast.  G.  Nathanael^  die  Schriften  Tertullians  naoh 
der  Zeit  ihrer  Abfassung  untersucht,  gr.  8.  (89  S.)  Bonn, 
A.  Marcus.    2  Mk. 

Bonssinesq  (J.)*  —  Conoiliation  du  veritable  determiniBme 
meoanique  aveo  Tezistenee  de  la  vie  et  de  la  liberte  morale. 
In-8.  5  fr.    Extrait  des  M^moires  de  la  Soci^t^  des  Sciences  de  Lille. 


Bibliograpliische  Mittibeilnngen.  127 

Byk,  S.  A.,  die  Physiologie  d.  SohSnen.  gr.  8.  (287  S.)  Leipiig, 
M.  Schäfer.    6  Mk. 

Carette  (le  colonel  £•).  —  ^Stades  sur  les  temps  antehistoriques. 
Premiere  ^tade:  le  Langage.    In-8.    8  fr. 

Caspar!,  Otto,  Virohow  und  Hseckel  vor  dem  Forum  der 
methodologiBChen  Forsohuxig.  gr.  8.  (32  S.)  Aagsbnig,  Lam- 
part &  Co.     1  M. 

Barwin's,  Ch»,  gesammelte  Werke.  Autoris.  deutsche  Ansg.  Ans 
dem  Engl,  übers,  von  J.  Vict.  Canis.  Mit  über  200  (eingedr.)  Holz- 
schn.,  7  Fhotogr.,  4  Karten  u.  dem  Fortr.  d.  Verf.  80 — 85.  (Schluss-) 
Lfg.  gr.  8.  (12.  Bd.  I.  Abth.  X,  400  u.  2.  Abth.  VI,  104  S.)  Statt- 
gart, SchweizerbarL     1  Mk.  20  Ff. 

Deschamps,  Frof.  Dr.  Ars^ne,  la  genese  du  soeptieisme  6rudit 
chez  Bayle.    gr.  8.    (238  S.)    Li^ge.    Bonn,  Strauss.     6  Mk. 

Bieterioh,  Dr.  Konr.,  Kant  und  Rousseau,  gr.  8.  (XIII,  200  S.) 
Tübingen,  Lanpp.    4  Mk. 

Doergens,  Hermann,  Grundlinien  einer  Wissenschaft  der  Qe- 
schichte.  2  Bde.  gr.  8.  Leipzig,  C.  F.  Winter.  6  Mk.  60  Ff. 
Inhalt:  1.  Ueber  das  Bewegungsgesetz  der  Geschichte.  2.  verm. 
Ausg.  Mit  2  das  Wachsthum  der  Ideen  in  der  Geschichte  veran- 
schaulichend. (11  th.)  Schichtenkarten.  (VI,  98  S.)  1  Mk.  60  Ff.  — 
2.  Die  Nationalitäten.  Uebersicht  und  Ergebnisse  der  aus  ihrem  An- 
theile  hervorgegangenen  staatspolitischen  Entwicklung  Europas.  2.  er- 
gänzte Ausg.  Mit  6.  Anh.  päpstl.  u.  staatl.  Urkunden  in  ihren  Ur- 
texten, sowie  e.  chronolog.  Frojection  die  Signatura  Temporum  dar- 
stellend,   (in  gr.  Fol.)     (XI,  379  S.)     5  Mk. 

Döring,  Dir.  Dr.  A«,  lieber  den  Begriff  der  Philosophie,  gr.  8. 
(V,  52  S.)    Dortmund,  Koppen.     1  Mk.  20  Ff. 

Engels,  Frdr.,  Herrn  Eug.  Dühring's  Umwälzung  der  Wissen- 
schaft. Philosophie.  Folitische  Oekonomie.  Socialismus.  8.  (274  S.) 
Leipzig,  Genossenschaftsdruckerei.     3  Mk. 

£rdmann,  Privatdoc.  Dr.  Benno,  Elant's  Kriticismus  in  der  1.  und 
2.  Aufl.  der  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Eine  histor.  Unter- 
suchung,   gr.  8.     (XI,  247  S.)    Leipzig,  Voss.     7  Mk.  20  Ff. 

Fichte,  J*  H*  y*.  Der  neue  Spiritualismus,  sein  Werth  u.  seine 
Täuschungen.     Eine  anthropolog.  Studie,    gr.  8.  (105  S.)    2  Mk. 

Francke,  Dr.  Karl  Bemh.,  die  Psychologie  und  Erkenntniss- 
lehre des  Arnobius.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  patrist.  FhUo- 
sophie.    gr.  8.     (82  S.)    Leipzig,  Böhme.     1  Mk.  20  Ff. 

Onjan.  —  La  Morale  dlfepicure  et  ses  rapports  avec  les 
doctrines  eontemporaines.    In-8.    6  fr.  50  cts. 

Haeckel,  Ernst,  freie  Wissenschaft  und  freie  Iiehre.  Eine  Ent- 
gegnung auf  Bud.  Virchow*s  Münchener  Bede  über  „Die  Freiheit  der 
Wissenschaft  im  modernen  Staat*'  gr.  8.  (106  S.)  Stuttgart,  Schweizer- 
bart.   2  Mk. 

Jellinek,  Dr.  Geo«,  die  sooialethische  Bedeutung  von  Becht, 
Unrecht  und  Strafe,  gr.8.  (IV,  131  S.)  Wien,  Holder.  2  Mk.  80  Ff. 

Kant's,  Immannel,  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Herausg.  von 
Benno  Erdmann.   gr.  8.    (XVI,  676  S.)    Leipzig,  Voss.    4  Mk.  50  Ff. 

Kirchmann,  Fräsid.  a.  D.  y*,  über  die  Wahrscheinlichkeit.  Ein 
Vortrag.  (Aas:  „Verhandl.  der  philosoph.  Gesellschaft;  zu  Berlin'*.) 
gr.  8.     (60  S.)    Leipzig,  Koschny.     1  Mk.  20  Ff. 


I 


128  Bibliographische  MittheiiiingeD. 

Krause,  Albr*^  Kant  und  Helmholta  über  den  Ursprung  und 
die  Bedeutung  d.  Baumanschauung  und  der  geometrischen 
Axiome,    gr.  8.    (VI»  94  S.)    Lahr,  Schauenbnrg.    3  Mk. 

Meylan^  A.^  Jean  Jacques  Rousseau.  Sein  Leben  u.  seine  Werke. 
Biographische,  krit.  u.  histor.  Stndie  nebst  bisher  noch  ungedmckten 
Aktenstücken  and  einem  Portrait  J.  J.  Uoasseau^s  (Holzschnitttafel). 
8.     (IV,  151  S.)    Bern,  Haller.    2  Mk. 

— ,  Jean-Jacques  Rousseau,  sa  vie  et  ses  oeuvres,  lätude  bio- 
graphique,  critiqne  et  historique,  accompagn^e  de  documents  officiels 
et  in^dits.  Avec  an  portrait  de  J.-J.  Boasseaa  (Holzschnitttafel).  8. 
(IV,  Ibd  S.)    Ebd.     2  Mk. 

Morlejy  John^  Diderot  and  the  Encyolopaedists«  2  vols.  8to. 
11.    6s. 

Mühry,  Dr.  Adf«,  über  die  exaote  Natur-Philosophie.  2.  verm. 
Ausg.     8.    (VI,   101  S.)     Göttingen,  Dieterich's  Verl.     1   Mk.  20  Ff. 

Pelletan  OB^ST^i^®)*  —  Uu  Roi  philosophe ;  le  Qrand  Frederic. 
NouTelle  Edition.    In-12.     3  fr.  50  cts. 

Pfleiderer,  Otto^  die  Religion,  ihr  "Wesen  und  ihre  G-eschichtr^ 
aaf  Grand  d.  gegenwärt.  Standes  der  philosoph.  a.  d.  histor.  Wissen- 
schaft dargestellt.  2  Bde.  2.  Aafl.  gr.  8.  (XIII ,  413  n.  495  S.) 
Leipzig,  Fues.     12  Mk. 

Bami^re  (le  P.  Henry),  —  Xi'Accord  de  la  Philosophie  de  saint 
Thomas  et  de  la  science  moderne  au  sujet  de  la  composition 
des  Corps.    In-S.     1  fr.  25  cts. 

Reich;  Dr.  Ed*9  die  Gestalt  d.  Menschen  u.  deren  Beziehungen 
zum  Seelenleben,  gr.  8.  (XII,  360  S.)  Heidelberg,  C.  Winter« 
10  Mark. 

Bnbinstein,  Dr.  Snsanna^  psychologisch  -  ästhetische  Essays, 
gr.  8.    (199  S.)     Heidelberg,  C.  Winter.    6  Mk. 

Sammlung  physiologischer  Abhandlungen  heraasg.  t.  W.  Preyer. 
2.  Reihe.  2.  Heft.  gr.  8.  Jena,  Fischer.  1  Mk.  60  Pf.  Inhalt: 
Entwarf  einer  Psychologie  der  Licht-  and  Farbenempfindang  von  Dr. 
A.  Glassen.     (50  S.) 

Sanctis^  Minister  Francesco  de^  die  'Wissenschaft  und  das  lieben. 
Inaagnralrede.  Antoris.  deatsche  Ansg.  Mit  einem  Vorwort  v.  Prof. 
Carl  Goldbeck.     8.    (VI,  32  S.)    Berün,  Friedber^  &  Mode.     80  Pf. 

SauY^  (Mgr.).  —  De  l'Union  substantielle  de  Täme  et  du  corps. 
In-8.    S  fr. 

Schäffle^  Minister  a.  D.  Dr.  Alb.  £•  Fr«,  Bau  und  lieben  des 
socialen  Körpers.   Encyclopädischer  Entwarf  einer  realen  Anatomie, 

{|  Physiologie  and  Psychologie  der  menschl.  Gesellschaft,  mit  besond. 
Bücksicht  aaf  die  Volks wirthschaft  als  socialen  Stoffwechsel.  3.  Theil. 
Specielle  Socialwissenschaft  1.  Hälfte,  gr.  8.  (XV,  575  S.)  Tübingen, 
Lanpp.     10  Mk.     (l~-3:  34  Mk.) 

Schmitz-Dnmonty  O«,  die  mathematischen  Elemente  der  Er- 
kenntnisstheorie. Grandriss  einer  Philosophie  der  mathemsbischen 
Wissenschaften,    gr.  8.     (XV,  452  S.)     Berlin,  C.  Dancker.     12  Mk. 

Sehnedermann  5  Oberlehrer  Dr.  Frz.^  über  die  beiden  Haupt- 
perioden in  Schillers  Ethik  mit  Bücksicht  aaf  das  Verhältniss 
des  Dichters  za  Kant.    gr.  8.   (33  S.)    Leipzig,  Hinrich*8  Verl.    60  Pf. 


Picrar'flehe  Hoflrachdnickani.   Stephan  0«ibel  *  Co.  in  Altenlmrg. 


üeber  das  Yerhältniss  der  Gefahle  zu  den 

Yorstellimgen. 


Das  VerhäUniss  der  Gefühle  zu  den  übrigen  Bestand- 
theilen  des  psychischen  Geschehens  bildet  eines  jener  Probleme 
der  Psychologie y  bei  denen  diese,  wie  es  scheint,  nicht  über 
den  Streit  gewisser  principieller  Gegensätze  hinaus  kommt.  Die 
einander  bekämpfenden  Anschauungen  nehmen  zwar  zuweilen 
veränderte  C^talten  an,  aber  unter  der  neuen  Maske  entdecken 
wir  bei  näherem  Zusehen  doch  meistens  wieder  ein  längst  be- 
kanntes Gesicht.  £in  derartiger  Zustand  der  Dinge  pflegt  be- 
kanntlich ein  ziemlich  sicheres  Zeichen  dafür  zu  sein,  dass 
man  es  mit  einer  Frage  zu  thun  hat,  bei  deren  Beantwortung 
eine  Neigung  besteht,  speculative  Erwägungen  oder  ethische 
Forderungen  heranzuziehen.  Wenn  selbst  andere  Motive  dieser 
Art  fehlen ,  so  macht  sich  mindestens  jener  speculative  Ein- 
heitstrieb bemerklich,  welcher  alle  Erscheinungen  möglichst  aus 
einer  Quelle  abzuleiten  und,  wenn  ihm  die  Erfahrung  keine 
zureichenden  Gründe  an  die  Hand  giebt,  schliesslich  durch 
einen  Machtspruch  sein  Ziel  zu  erreichen  sucht.  So  hat  man 
denn  auch  den  Dualismus  von  Gefühl  und  Vorstellung  meistens 
dadurch  beseitigt,  dass  man  das  Fühlen  und  Begehren  als  eine 
Form  des  Yorstellens  betrachtete  oder  auf  eine  Wechselwirkung 
der  Vorstellungen  zurückführte.  Diese  Anschauung,  die  zuletzt 
in  Herbart's  Mechanik  der  Vorstellungen  ihren  vollendetsten 
Ausdruck  fand,  stützte  sich  auf  die  naheliegende  Wahrnehmung 
der  Abhängigkeit,  in  welcher  sich  unser  Gefühlsleben  von 
unsern  Vorstellungen  befindet  Eben  desshalb  liegt  der  ent- 
gegengesetzte Versuch,  den  Gefühlen  das   Primat  einzuräumen 

Vierte^ahnsehrift  f.  wiflsenschaftl.  Philoaopliie.  m.  2.  9 


130  W.  Wundt: 

uod  womöglich  die  Formen  des  Yorstellens  aus  den  Formen 
der  Gefühle  abzuleiten,  offenbar  ferner.  Doch  liesse  sich  die 
besonders  durch  Christian  Wolff  und  seine  Schule  ausgebildete 
Theorie,  welche  in  dem  Gefühl  einen  dunkeln  Erkenntniss-w 
process  sieht,  in  gewissem  Sinne  hierher  beziehen.  Sobald 
man  nämlich  jenes  Primat  des  Gefühls  im  genetischen  Sinne 
auffasst^  also  die  Erkenntnissformen  vorgebildet  sieht  in  Ge- 
fühlsformen, ist  es  offenbar  ziemlich  gleichgültig,  ob  man  sagt, 
das  Gefühl  sei  ein  unentwickeltes  Erkennen,  oder  das  Er- 
kennen sei  ein  entwickeltes  Gefühl.  Eine  ausgeprägtere  Ge- 
stalt hat  aber  diese  Lehre  vom  Primat  des  Gefühls  erst  in 
jenen  Hypothesen  angenommen,  welche  dem  Gefühl  eine  Art 
causaler  Wirksamkeit  gegenüber  allen  andern  psychischen  Pro- 
cessen zuerkennen  und  hierdurch  Rechenschaft  davon  zu  geben 
hoffen,  dass  dasselbe  nicht  bloss  im  Anfang  aller  psychischen 
Entwicklung  stehe,  sondern  auch  fortan  alles  Vorstellen,  Denken 
und  Wollen  begleite.  Diese  Anschauung,  an  die  sich  schon  bei 
früheren  Philosophen^  z.  B.  bei  Fr.  H.  Jacobi,  Anklänge  finden, 
hat  auf  psychologischem  Gebiete  in  neuerer  Zeit  besonders 
Fortlage  zur  Geltung  gebracht,  ihre  eingehendste  Begründung 
aber  hat  dieselbe  wohl  in  den  Arbeiten  von  A.  Horwicz  ge- 
funden ^).  Zwar  bezeichnet  Fortlage  als  „Trieb",  was  Horwicz 
in  der  Regel  dem  „Gefühl"  zuschreibt,  ein  sachlicher  Unterschied 
dürfte  aber  zwischen  den  Ansichten  Beider  kaum  vorhanden 
sein.  Auch  darin  berühren  sich  die  Auseinandersetzungen  dieser 
Forscher,  dass  sie  physiologischen  Analogieen  einen  hohen 
Werth  beimessen,  die  sich  freilich  im  einzelnen,  vermöge  der 
zwanzigjährigen  Entwicklung  der  Physiologie^  die  zwischen  ihren 
Arbeiten  liegt,  sehr  verschieden  gestalten. 

Neben  diesen  einander  entgegengesetzten  Anschauungen^ 
von  denen  die  eine  die  Gefühle  aus  den  Vorstellungen  und  die 
andere  die   Vorstellungen  aus  den  Gefühlen   hervorgehen  lässt, 


*)  Fo^rtlage,  System  der  Psychologie.  2  Bde.  Leipzig  1855. 
A.  Horwicz,  Psychologische  Analysen,  Bd.  1  und  2.  Halle 
und  Magdeburg  1872—1878. 


Ueber  das  VerhSltniss  der  Gefühle  zu  den  Vorstellangen.    131 

bat  als  eine  dritte  noch  diejenige  ihre  Vertheidiger  gefunden, 
welche  C^fQhl  und  Vorstellung  als  ?511ig  von  einander  unabhängige 
und  gleich  selbständige  Formen  der  Innern  Erfahrung  be- 
trachtet. Sie  ist  besonders  in  der  in  der  WolfTschen  Schule 
entstandenen,  dann  auf  Kant  übergegangenen  und  auch  in 
neuerer  Zeit  nicht  ganz  verlassenen  Annahme  eines  besonderen 
Gefühlsvermögens  vertreten.  Auch  die  letzte  Arbeit  von  Leon 
Dumont  lässt  sich,  bei  machem  Eigenthümiichen,  was  sie  ent- 
hält, wohl  hierher  rechnen^). 

Offenbar  ist  aber  noch  eine  vierte  Auffassung  möglich, 
die  den  Eindruck,  welchen  der  Thatbestand  der  innern  Er- 
fahrung auf  uns  macht,  vielleicht  am  unmittelbarsten  repro- 
ducirt,  ohne  auf  Deutungen  und  Hypothesen  sich  einzulassen. 
Es  ist  diejenige,  die  zwischen  der  Annahme  eines  Primates  des 
einen  oder  andern  Bestandtheils  der  inneren  Wahrnehmung  und 
der  Zulassung  mehrerer  gleich  selbständiger  Functionen  ge- 
wissermassen  in  der  Mitte  steht,  indem  sie  Vorstellung 
und  Gefühl  als  die  einander  coordinirten  Theil- 
erscheinungen  eines  und  desselben  inneren  Vor- 
ganges auffasst,  wobei  alles,  was  wir  als  Affect,  Trieb, 
Begehren,  Wollen  bezeichnen,  wiederum  als  Theilerscheinung 
oder  specielle  Gestaltung  des  Gefühls  angesehen  wird.  Diese 
Ansicht  berührt  sich  mit  der  zuletzt  angeführten  am  nächsten. 
Immerhin  besteht  der  beachtenswerthe  Unterschied,  dass  sie  Ge- 
fühl und  Vorstellung  nicht  als  verschiedene  Vorgänge  auffasst, 
sondern  als  Bestandtheile  eines  und  desselben  Processes,  dessen 
Trennung  sie  nicht  als  eine  wirkliche,  sondern  als  ein  Resultat 
psychologischer  Abstraction  betrachtet.  Natürlich  kann  der 
letzteren  das  Recht  nicht  genommen  werden,  die  Erscheinungen 
auf  diese  Weise  zu  zerlegen.  Aber  die  psychologische  Analyse 
überschreitet  ihre  Befugniss,  wenn  sie  solche  Bestandtheile  des 
Geschehens,  die  erst  durch  Abstraction  gewonnen  worden  sind, 
als  reell  geschiedene  Vorgänge  ansieht  oder  gar  auf  verschie- 
dene psychische  Kräfte  zurückführt. 

^)  L^on  Dumont,  Vergnügen   und  Schmerz.    Leipzig  1876. 
(Internationale  wissenschaftliche  Bibliothek.) 

9* 


132  W.  Wundt: 

Der  Vei*U*eter  dieser  vierten  Ansicht  wird  vor  allem  auf 
die  unmittelbare  AutTassung  der  Thatsachen  des  Bewusstseins 
sich  stützen  können,  für  welche  Gefühl  und  Vorstellung  stets 
einander  begleitende  und  sich  wechselseitig  bestimmende  innere 
Erfahrungen  sind,  wobei  bald  das  eine  bald  das  andere  dieser 
Elemente  pravalii^n  mag,  ohne  dass  wir  jedoch  jemals  im 
Stande  wären,  die  völlige  Unabhängigkeit  des  einen  vom  andern 
nachzuweisen.  Diese  natürliche  Auffassung,  welche  sich  uns 
vor  jeder  psychologischen  Untersuchung  aufdrängt,  muss  sich 
zwar  gefallen  lassen  durch  die  letztere  beseitigt  zu  werden, 
sobald  dieselbe  ausreichende  Gründe  beibringt.  So  lange  aber 
dies  nicht  der  Fall  ist,  so  lange  derartige  Gründe  nur  in  vor- 
gefassten  Meinungen  bestehen  oder  in  Hypothesen,  welche  man 
in  die  Erscheinungen  hineininterpretirt,  —  so  lange  wird  auch 
jene  Auffassung,  welche  als  der  unmittelbarste  Ausdruck  des 
thatsächlichen  Verhaltens  gelten  kann,  das  gute  Recht  für  sich 
in  Anspruch  nehmen  dürfen,  dass  sie  unter  den  verschiedenen 
Voraussetzungen  die  einfachste  und  am  wenigsten  zu  Hülfs- 
hypothesen  genöthigt  ist. 

Die  unmittelbare  innere  Erfahrung  bezieht  bekanntlich  den- 
jenigen Bestandtheil  unseres  inneren  Geschehens,  den  wir  Vor- 
stellung nennen,  im  allgemeinen  auf  ein  Object,  die  Gemüths- 
bewegungen  jeder  Art  aber  auf  subjective  Zustande  des 
eigenen  Bewusstseins.  Die  psychologische  Untersuchung  des 
causalen  Zusammenhangs  beider  Thatsachen  vermag  nun  nirgends 
über  die  ebenfalls  schon  der  einfachen  Erfahrung  sich  auf- 
drängende Bemerkung  hinauszukommen,  dass  wir  unsere  sub- 
jectiven  Zustände  vielfach  durch  die  Objecte,  anderseits  aber 
auch  nicht  minder  die  Auffassung  der  letzteren  durch  die 
ersteren  bestimmt  finden.  Schon  in  meinen  „Grundzögen  der 
physiologischen  Psychologie''  habe  ich  den  verschiedenen  Er- 
klärungsversuchen gegenüber  geglaubt  betonen  zu  müssen,  dass 
in  dieser  Beziehung  die  einzige  uns  tliatsi^chlich  gegebene  Ein- 
heit eben  die  durchgängige  Verbindung  der  Vorstellungen  und 
Gefühle  ist,  und  dass  wir  daher  keinen  Grund  haben  zu  irgend 
einer  Voraussetzung,  wekhe  jene  erst  in   unserer  Abstraction 


Ueber  das  Verhältoiss  der  Gefühle  ku  den  Vorstellungen.     133 

^h  trennendeo  Bestandtheäe  der  inneren  Erfahrung  zu  Pro- 
cessen macht,  die  in  Wirklichkeit  getrennt  und  eventuell  sogar 
von  einander  unabhängig  sein  sollen.  Zu  meiner  Verwunderung 
ist  dieser  Versuch,  Hypothesen  abzuwehren  auf  einem  Gebiete, 
auf  welchem  dieselben  bis  dahin  von  zweifelhaftem  Nutzen  ge- 
i^esen  sind,  gänzlich  missverstanden  worden.  Denn  Horwicz 
glaubt,  dass  ich  das  „Wesen  und  den  Grund  der  Gefühle^  in 
^em  Conslrast  suche  ^).  Dieses  Missverständniss  kann  nur 
daraus  entsprungen  sein,  dass  ich  —  wie  übrigens  jeder  An- 
dere, der  mit  dem  Thema  sich  beschäftigt  hat,  und  gelegen4ich 
Horwicz  selbst  thut  —  die  Existenz  der  Gegensätze  von  Lust 
und  Unlust  als  eine  charakteristische  Eigenschaft  aller  Gemüths- 
bewegungen  bezeichnete.  Wenn  aber  Jemand  die  Eigenschaft 
«ines  Gegenstandes  fär  die  Ursache  desselben  ansehen  wollte, 
so  würde  ich  dies  unter  allen  Umständen  für  verkehrt  halten, 
und  es  ist  mir  in  der  That  niemals  beigefallen,  mich  zu  dieser 
Ansicht  zu  bekennen.  Vielmehr  habe  ich  es  ausdrücklich  als 
«ine  „ursprüngliche  Eigenthümlichkeit  des  Bewusstseins**  be- 
zeichnet, „durch  seine  Empfindungen  und  überhaupt  durch 
seine  inneren  Zustände  in  einer  Weise  bestimmt  zu  werden,  die 
sich  zwischen  Gegensätzen  bewegt**  ^).  Der  Umstand,  dass  ge- 
wisse Empfindungen,  wie  dunkle  Farben,  tiefe  Töne,  vorzugs- 
weise äiit  Unlust-,  andere,  wie  helle  Farben,  hohe  T5ne,  mit 
Lustgefühlen  sich  verbinden,  schien  mir*dan]|  allerdings  des  Ver*' 
suchs  einer  Erklärung  aus  der  Beschaffenheit  dieser  Empfin- 
dungen bedürftig.  Aber  durch  diesen  Versuch  konnte  doch 
nur  höchstenfalls  anschaulich  gemacht  werden  sollen,  dass  in 
der  Beschaffenheit  der  Empfindungen  und  auch  unseres  Be- 
wusstseins  die  Anlage  zu  solchen  gegensätzlichen  Zuständen 
gegeben  sei.  Im  übrigen  habe  ich  es  allgemein  als  eine 
Eigenschaft  unserer  inneren  Zustände  bezeichnet,  dass  an  ihnen 
drei  Elemente  zu  unterscheiden  seien,  Intensität,  Qualität  und 
4vefühlston,  von  denen  jedoch  die  ersteren  ebenso  wenig  wie  der 


^)  Horwicz,  Analysen  II,  2.  S.  32. 
*)  Physiologische  Psychologie  S.  456. 


134  W.  Wandt; 

letztere  für  sich  vorkommen.  Das  Gefühl  aber  glaubte  ich, 
der  unmittelbaren  Auffassung  gemäss,  als  die  Art  betrachten 
zu  können,  wie  das  Bewusstsein  oder  Selbstbewusstsein  in  jedem 
Moment  auf  das  innere  Geschehen  reagirt  Ich  habe  übrigens 
ausdrücklich  abgelehnt  damit  etwas  neues  sagen  zu  wollen, 
theils  desshalb,  weil  eben  offenbar  diese  Auffassung  ausserhalb 
der  psychologischen  Schulen  die  allgemeine  ist,  theils  desshalb^ 
weil  diejenige  psychologische  Theorie,  welche  die  Gemuths^ 
bewegungen  als  unmittelbare  Reactionen  der  Seele  bezeichnet^ 
ohne  Zweifel  das  nämliche  meint,  nur  dass  sie  den  meta- 
physischen Begriff  der  Seele  dem  substituirt,  was  uns  allein 
empirisch  gegeben  ist,  dem  Bewusstsein. 

Horwicz  hat  es  nun  allerdings  in  seinen  „psychologischen 
Analysen^*  an  angeblichen  Beweisen  für  das  Primat  der  Ge-^ 
fühle  nicht  fehlen  lassen,  ja  man  kann  wohl  sagen,  ein  wesent* 
lieber  Zweck  des  Werkes  besteht  in  dieser  Beweisführung. 
Gerade  dadurch  aber,  dass  der  Verfasser  offenbar  sogleich  mit 
einer  bestimmten  vorgefassten  Meinung  an  jede  einzelne  Ana- 
lyse herantritt  und  sich  fragt,  in  wiefern  das  Einzelne  sich  seiner 
Anschauung  fugen  will,  hat  er  in  Bezug  auf  diese  Seite  seiner  Unter- 
suchungen, wie  mir  scheint,  den  sonst  in  röhmenswerther 
Weise  eingenommenen  Standpunkt  unbefangener  Prüfung  ver- 
lassen. Die  Vorstellung  von  dem  Primat  der  Gefühle  bildet 
bei  ihm,  wie  sich  die  Herbartianer  ausdrücken  würden,  die 
herrschende  Apperceptionsmasse,  welche  sich  alles  assimilirt  was 
sie  vorfindet.  Wer  nicht  unter  dem  Einfluss  dieser  herrschen- 
den Vorstellung  steht,  der  wird  in  den  vorgeblichen  Bewisisen 
höchstens  mehr  oder  weniger  treffende  Belege  für  den  innigen 
wechselseitigen  Zusammenhang  der  Gefühle  und  Vorstellungen 
erblicken  oder  wohl  auch  für  den  übrigens  von  unbefangenen 
Beobachtern  längst  anerkannten  Satz,  dass  die  ursprünglichsten 
Zustände  unseres  Bewusstseins  ungeschieden  enthalten,  was  erst 
in  der  späteren  Entwicklung,  zum  Theil  sogar  erst  in  der 
psychologischen  Abstraction  sich  trennt,  —  manchmal  freilich 
kann  man  sich  auch  des  Eindrucks  nicht  erwehren,  dass  der 
Verfasser  in  den  Verlauf  des  Denkens  Gefühle  hineininlerpretirt 


Ueber  das  Verhältniss  der  Gefühle  zu  den  Vorstellungen.    135 

hat,  von  weicben  wiederum,  derjenige,  der  jener  herrschenden 
Vorstellung  entbehrt,  dahingestellt  lassen  muss,  ob  sie  sich 
wirklich  darin  befinden.  Derartige  Analysen  subjecti?er  Vor- 
gänge, welche  es  unternehmen,  irgend  welche  innere  Er- 
fahrungen gleichzeitig  zu  beschreiben  und  zu  interpretiren, 
haben  nicht  selten  auf  den  Leser  eine  bestechende  Wirkung. 
Unwillkürlich  wird  derselbe  von  der  nämlichen  herrschenden 
Vorstellung  erfasst,  auch  er  denkt  und  fühlt  nun  in  die  Dinge 
hinein,  was  seine  Autoren  ihm  vordenken  und  vorfühlen,  und 
es  bedarf  zuweilen  einer  energischen  Besinnung ,  um  sic(i  zu 
überzeugen,  dass  man  nur  dem  guten  Beispiel  gefolgt  ist. 
Fortlage  z.  B.  stellt  mit  grösster  Anschaulichkeit  den  Zustand 
des  Fragens,  des  Lauschens  und  Aufmerkens  dar,  welcher  nach 
ihm  das  Wesen  des  Bewusstseins  ausmachen  soll,  und  ähnlich 
schildert  Horwicz,  wie,  in  dem  Moment  wo  eine  Vorstellung 
in  unser  Bewusstsein  eindringen  will,  in  uns  die  Fragen  sich 
überstürzen:  was  ist  das?  woher  kommt  das?  was  wird 
daraus?  —  Fragen,  die  freilich  zunächst  nur  in  der  Form  von 
Gefühlen  in  uns  liegen  sollen;  aber  solche  Betrachtungen 
scheinen  es  ihm  dann  unzweifelhaft  zu  machen,  dass  allem 
Appercipiren  und  Denken  Gefühle  vorangehen  ^).  Gewiss,  man 
kann  sich  vorstellen,  dass  solche  Fragen  und  Gefühle  das 
Denken  beherrschen,  ja  noch  mehr,  man  kann  sich  in  diese 
Vorstellung  so  hineindenken,  dass  man  sich  einbildet,  das  sei 
immer  und  überall  der  thatsächhche  Verlauf  unserer  Gedanken. 
Und  wer  vermöchte  den  Gegenbeweis  zu  führen  ?  Ich  kann  nur 
versichern,  dass  ich  meinerseits  —  sofern  ich  nicht  etwa  durch 
die  fesselnden  Schilderungen  psychologischer  Autoren  präoccupirt 
bin  —  von  einer  derartigen  Fragethätigkeit  höchstens  dann 
etwas  zu  merken  glaube,  wenn  die  appercipirten  Vorstellungen 
zu  Gegenständen  des  Nachdenkens  gemacht  werden,  nicht  aber 
bei  dem  unmittelbaren  Bewusstwerden  der  Vorstellungen. 

Handelt  es  sich  hier  um  ein  bestreitbares  Resultat  angeb- 
licher  Beobachtung,   dessen   Unsicherheit  nur   die  trügerische 


')  Psychologische  Analysen,  II,  1.  S.  SO. 


136  W.  Wandt: 

Natur  der  subjectiveo  Beobachtung  blosssteilt,  so  verhält  es  sich 
anders  mit  jenen  Beweisgründen,  die  auf  die  thatBächliche  Yer«- 
bindung  der  Gefühle  und  Vorstellungen  hinweisen,  um  daraus 
die  Priorität  des  Gefühls  zu  folgern.  Jene  Verbindung  kann 
man  zugeben,  aber  für  die  daran  geknüpfte  Folgerung  ist 
nirgends  ein  zwingender  Grund  zu  finden.  Die  Verbindung 
von  Empfindung  und  Bewegung  soll  beweisen ,  dass  der  Be** 
wegungstrieb  oder  das  Muskelgefühl  die  ursprünglichste  psychi* 
sehe  Function  sei,  die  Verbindung  der  Aufmerksamkeit  mit 
Gefühlen,  dass  die  Perception  auf  Gefühlen  beruhe,  die  Wirk- 
samkeit des  Willens  bei  der  Wiedererinnerung  soll  darthun, 
dass  alle  Reproduction  von  Gefühlen  ausgehe^).  Selbst  wenn 
man  hier  allen  Prämissen  zustimmt,  so  ist  doch  die  daran  ge- 
knüpfte Schlussfolgerung  in  keiner  Weise  bindend.  Nun  wer- 
den aber  auf  diese  Folgerung  dann  wieder  weitere  Folgerungen 
gebaut,  für  die  nichts  spricht  als  eben  die  bestrittene  Voraus- 
setzung, auf  die  sie  sich  stützen:  so  z.  B.  wenn  Horwicz  be- 
hauptet, der  Grad  der  Bewusstheit  der  Vorstellungen  hänge  ab 
von  dem  Grade  ihrer  Gefühlsbetonung  ^) ,  oder  wenn  er  die 
Forderung  aufstellt  und  zu  erfüllen  trachtet,  alle  höheren  Ge- 
fühle seien  als  Complicationen  und  Combinationen  der  ein- 
fachsten sinnlichen  Gefühle  aufzufassen ').  Zu  einer  solchen 
Auffassung  muss  man  freilich  kommen,  wenn  man,  um  die 
Priorität  des  (^efühls  zu  wahren,  den  Satz  verficht,  die  intellec- 
tuellen,  ästhetischen,  sittlichen  Gefühle  eilten  stets  den  Vor- 
stellungen, an  die- sie  geknüpft  sind,  voraus.  Um  dieser  Be- 
hauptung nichts  zu  vergeben,  zieht  es  Horwicz  z.  B.  vor,  zur 
Erklärung  des  rhythmischen  Gefühls  hypothetische  Nerven- 
fibrationen  zu  erfinden,  die  unmittelbar  gefühlt  werden  sollen, 
nur  um  dem  Zugeständniss  auszuweichen,  dass  das  rhythmi- 
sche Gefühl  an  ein  gewisses  Zeitverhältniss  der  Vorstellungen 
gebunden  ist  ^).    Hierdurch  würde  ja  der  Schein  entstehen,  als 

^)  Vergl.  namentlich  Horwicz,  Analysen  I,  S.  191  u.  f. 
»)  a.  a.  0.  I,  S.  259. 
>)  Ebend.  H,  2,  S.  66. 
«)  Ebend.  H,  2,  S.  144. 


lieber  das  Yerhältniss  der  Gteföhle  zu  den  Vorstellungen.     137 

könnten  unter  Umstanden  Vorstellungen  den  Gefühlen  yoran- 
gehen,  und  das  rerstösst  gegen  die  Voraussetzung.  Ueber- 
haupt  kann  ich  nicht  umhin,  den  weitgehenden  Gebrauch  be- 
denklich zu  finden,  den  sich  Horwicz  von  physiologischen 
Hypothesen  zu  machen  gestattet.  Ohne  Zweifel  sind  wir  be- 
rechtigt uns  über  den  Zusammenhang  Rechenschaft  zu  geben, 
der  zwischen  den  psychologischen  Vorgängen  und  den  physio- 
logischen Processen  in  den  körperlichen  Substraten  derselben 
stattfindet;  aber  von  der  hypothetischen  Annahme  solcher 
physiologischer  Processe,  die  von  physiologischer  Seite  noch 
nicht  nachgewiesen  sind,  wird  man  doch  nur  einen  sehr  vor- 
sichtigen Gebrauch  machen  dürfen. 

Ich  irre  wohl  nicht,  wenn  ich  als  einen  entscheidenden, 
wenn  auch  selten  direct  hervorgehobenen  Grund  für  die  An- 
nahme einer  Priorität  des  Gefühls  die  subjective  Beschaffenheit 
desselben  ansehe.  Vorstellungen  von  äusseren  Gegenständen  zu 
eriangen^  dazu  bedarf  es,  so  vermutliet  man,  jedenfalls  einer 
gewissen  psychischen  Entwicklung.  Aber  irgend  welche  innern 
Zustände  sind  doch  nothwendig  als  ursprünglich  gegeben  vor- 
auszusetzen: diese  Zustände  sollen,  eben  weil  sie  bloss  sub- 
jectiver  Art  sind;  Gefühle  sein.  Nun  ist  wohl  zuzugeben,  dass 
den  ausgeUldeten  Vorstellungen  und  Gefühlen  unentwickelte 
innere  Zustände  vorangehen  werden,  die  sich  nicht  vollständig 
decken  mit  dem,  was  wir  im  ausgebildeten  Bewusstsein  an- 
treffen. Aber  ob  es  angemessen  ist^  diese  unbestimmten  Zu- 
stände, welche  die  Anlage  zu  allen  späteren  EntVricklungen  in 
sich  schliessen,  Gefühle  zu  nennen,  ist  eine  andere  Frage. 
Denn  voraussetzen  müssen  wir  allerdings  von  denselben,  dass 
sie  die  Anlage  zu  Gefühl  und  Vorstellung  gleichmässig  in  sich 
tragen.  Und  gerade  dies  deutet  die  psychologische  Termino- 
logie, wie  sie  sich  allmälig  ausgebildet  hat,  nicht  unangemessen 
an,  indem  sie  jene  elementaren  Vorgänge,  in  die  sich  uns  die 
complexen  Producte  unseres  Bewusstseins  zerlegen,  und  denen 
wir  desshalb  die  ursprünglichen  Zustände  des  unentwickelten 
Bewusstseins  analog  denken,  Empfindungen  nennt.  Die 
Empfindung  aber  denkt  man   sich   demzufolge  als  einen  ein- 


188  W.  Wandt: 

fachen  Zustaud  und  doch  zugleich  als  einen  solchen,  der 
irgend  eine  Intensität,  eine  qualitative  Beschaffenheit  und  eine 
Gefühlsfarbung  besitzt,  und  der  eben  hierdurch  zu  allen  com- 
plexen  Erzeugnissen  des  Bewusstseins  die  Anlage  in  sich  trägt 
Man  könnte  nun  freilich  meinen,  es  sei  im  Grunde  ein  blosser 
Wortstreit,  ob  solche  ursprungliche  Zustande,  die  doch  nie- 
mals direct  zu  unserer  Beobachtung  kommen,  Gefühle  oder 
Empfindungen  genannt  werden  sollen.  Aber  dass  hier  das 
Wort  nicht  ganz  so  gleichgültig  ist,  zeigt  der  Erfolg.  Wer 
jene  Zustande  Gefühle  nennt,  der  hat  eben  die  ausgebildeten^ 
durch  psychologische  Abstraction  von  den  Vorstellungen  ge- 
schiedenen Gefühle  im  Auge  und  überträgt  nun  sofort  die  so 
angenommene  Priorität  des  Gefühls  auf  alle  späteren  Vorgänge. 

Gewiss  ist  die  schon  von  Herbart  gemachte  und  auch 
gelegentlich  von  Horwicz  wiederholte  Bemerkung  eine  sehr 
richtige,  dass  dem  Bewusstsein  keine  Priorität  zukomme  vor 
dem  was  uns  bewusst  ist  In  der  That,  die  ganze  Unter- 
scheidung des  Bewusstseins  von  seinem  Inhalt  ist  ja  nur  ein 
Erzeugniss  psychologischer  Reflexion:  gegeben  sind  uns  nur 
Zustände,  deren  wii*  uns  bewusst  sind.  Eben  darum  ist  es 
fruchtlos  nach  dem  Wesen  des  Bewusstseins  zu  fragen,  denn 
diese  Frage  lässt  sich  doch  nicht  anders  beantworten,  als  indem 
man  auf  die  einzelnen  inneren  Erfahrungen  hinweist,  dei*en 
wir  uns  bewusst  werden.  Aber  wie  mit  dem  Bewusstsein  und 
seinem  so  genannten  Inhalt,  so  verhalt  es  sich  nicht  selten 
auch  mit  den  einzelnen  Bestandlheilen  des  letzteren,  —  und  so 
dürfte  es  insbesondere  sich  verhalten  mit  den  Vorstellungen 
und  den  Gefühlen.  Unsere  psychologische  Reflexion  trennt 
dieselben,  aber  wir  haben  keinen  zureichenden  Grund  anzu- 
nehmen, dass  sie  wirklich  getrennt  sind.  Unsere  inneren  Zu- 
stände sind  im  aUgemeinen  immer  complexer  Art,  und  es  kann 
sich  daher  nur  um  die  Frage  handeln,  was  denn  unsere  Re- 
flexion nachträglich  zu  einer  solchen  Trennung  veranlasst 

Natürlich  sind  hier  psychologische  Motive  wirksam,  wie 
dies  schon  der  Umstand  bezeugt,  dass,  bevor  die  Wissenschaft»- 
liehe  Reflexion  beginnt,  schon  die  Sprache  jene  Trennung  an- 


Ueber  das  Verhältaiss  der  Gefühle  zu  den  Vorstellungen.    139 

gedeutet  hat*  Auch  scbeiut  es  nicht  schwer,  sich  über  diese 
Motive  im  allgemeinen  Rechenschaft  abzulegen.  Zunächst  können 
die  nämlichen  Vorstellungen  bei  den  wechselnden  Zustanden 
des  Bewusstseins  von  wechselnden  Gefühlen  begleitet  sein. 
Sodann  aber  empfinden  wir  gerade  dieses  wechselnde  Element 
unmittelbar  als  dasjenige,  welches  den  Werth  bestimmt ,  den 
die  Vorstellung  jeweils  für  uns  besitzt,  und  welches  so  den 
Anlass  bietet,  dass  die  Vorstellung  selbst  von  uns  gesucht  oder 
gemieden  wird.  Man  kann  zugeben,  dass  hierin  nichts  anderes 
als  eine  Umschreibung  dessen  enthalten  sei,  was  wir  ohnehin 
schon  unter  Fühlen  oder  Begehren  verstehen.  Darin  macht 
sich  eben  die  elementare  psychologische  Natur  dieser  Vorgänge 
geltend,  welche  es  ebenso  wenig  gestattet,  von  ihnen  eine 
eigentliche  Definition  zu  geben  wie  von  der  einfachen  Em- 
pfindung oder  von  dem  Bewusstsein  selber.  Nur  die  innigere 
Beziehung,  in  der  sie  zu  unserm  Selbstbewusstsein  stehen,  wird 
immer  als  das  unterscheidende  Merkmal  festgehalten  werden 
können,  durch  welches  sie  allem  sonstigen  Inhalt  desselben 
gegenöbertreten.  Von  dieser  Beziehung  wird  daher  auch  die 
psychologische  Theorie  vor  allem  Rechenschaft  geben  müssen« 
Die  Frage,  wie  weiterhin  die  Abhängigkeit  der  Gefühle  von  den 
Vorstellungen  oder  dieser  von  jenen  zu  eiidären  sei,  wird  dann 
erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht  kommen.  Nun  ist  es  eine 
unmittelbar  wahrgenommene  Thatsache  unseres  Bewusstseins, 
dass  die  wechselnden  Zustände  desselben  mit  einander  in  Ver- 
bindung stehen.  Vermöge  dieser  Verbindung  tritt  jeder  neue 
Eindruck  in  Beziehung  zu  früheren  Vorstellungen,  und  ordnen 
sich  die  angesammelten  Vorstellungen  nach  innerer  Verwandt- 
schaft und  äusserem  Zusammensein  in  zahlreiche  sich  durch- 
kreuzende Reihen.  Wenn  uns  daher  in  der  unmittelbaren  Auf- 
fassung das  Fühlen  und  Begehren  als  die  subjective  Ergänzung 
der  Vorstellungen  erscheint,  so  wird  anzunehmen  sein,  dass  bei 
dieser  subjectiven  Reaction  das  Bewusstsein  mit  allen  den 
Eigenschaften  betheiligt  sei,  die  es  vermöge  der  ihm  zu  Gebote 
stehenden  Vorstellungs-  und  Gefühlsverbindungen  angenommen 
hat.     Hierdurch  wird   sich  aber   auch    alsbald    der   die  Vor- 


140  ^-  Wandt: 

stdlaogen  begletlende  Gemotlisziulaiul  io  unserer  ionereo  Wabr- 
nehmaiig  scheiden  von  den  Vorstellungen  selber.  Denn  eine 
und  dieselbe  Vorstellung  wird  ja  nach  vorausgegangenen  Er- 
lebnissen und  bereil  liegenden  Vorstellungsverbindungen  ver- 
schiedene Gemdthsreaclionen  erwecken  können.  In  der  Vor- 
stdlung  selbst  findet  immer  nur  die  nnmittdbare  Wechsel- 
wirkung des  Bewusstseins  mit  der  Aussenwelt  ihren  Ausdruck. 
In  der  Gemüthsbewegung  dagegen  sjuegelt  sich  die  Art,  vrie 
das  Bewusstsein  vermöge  seines  Gesammtsuslandes,  sräier 
dauernden  und  vorübergehenden  Anlagen  jene  Wechselwirkung 
aufnimmt. 

Je  verwickelter  die  Anlagen  eines  Bewusstseins,  je  reicher 
die  frAheren  Eriebnisse  desselben  sich  gestalten,  um  so  mannig- 
faltiger werden  daher  die  Formen  der  Gemüthserregung  sein 
und  um  so  weniger  werden  sie  sich  aus  der  Natur  deijenigen 
Vorstellungen,  mit  denen  sie  unmittelbar  in  Verbindung  treten, 
voraus  bestimmen  lassen.  In  dem  unentwickelten  Bewusstsein 
des  Kindes  mag  das  Gefühl  noch  ein  Zustand  sein,  der  grossen- 
tbeils  von  der  Intensität  und  Qualität  der  unmittelbaren  Sinnes- 
empfindungen abhängt  und  darum  mit  diesen  Elementen  un- 
trennbar verschmolzen  ist  Zusammengesetztere  Gefühle  und 
Strebungen  werden  dagegen  offenbar  erst  möglieb,  wenn  mehr 
oder  weniger  zusammengesetzte  Vorstellungsverbindungen  dem 
Bewusstsein  jeden  Augenblick  zu  Gebote  stehen.  So  verbinden 
steh  schon  mit  den  einfiicheren  Vorstellungscomplexen  ver- 
schiedenartige Affecte,  auf  welche  die  vorhandenen  Dispositionen 
einen  Elinfluss  gewinnen.  Die  intellectuelien,  moralischen  und 
ästhetischen  Gefühle  endlich  setzen  voraus,  dass  ein  reicher 
Schatz  geordneter  Vorstellungsreihen  durch  das  Denken  ver- 
arbeitet sei.  Der  Versuch,  diese  complexen  Gemüthszustände 
als  einfache  Resultanten  sinnlicher  Gefühle  aufzufassen,  ist 
darum  noch  immer  gescheiteil.  Hier  überall  ist  der  Gemüths- 
zustand  offenbar  nicht  sowohl  von  den  unmittelbar  in  das  Be- 
wusstsein eintretenden  Vorstellungen  als  von  den  Beziehungen 
abhängig,  in  denen  dieselben  zu  den  vorhandenen  dauernden 
Anlagen   stehen.     Diese  Beziehungen  machen   sich  aber  nicht 


Ueber  das  VerhältniM  der  Qefiihle  zu  den  VorsteHangen.    141 

etwa  in  der  Weise  geltend,  dass  die  neuen  Yorateilungen  die 
älteren  in  das  Bewusstsein  hereini*afen.  Von  einer  solchen 
Wirkung  sagt  uns  die  innere  Walimehmung  im  aligemeinen 
nichts.  Wo  überhaupt  Associationen  auftreten,  da  ist  dies  ein 
nebenhergehender,  für  die  Gemüthserregung  selbst  offenbar 
verhältnissmässig  gleichgAltiger  Vorgang.  Vielmehr  scheint  es, 
als  wenn  hiebet  die  durch  Association  wachgerufenen  Vor- 
stellungen gar  nicht  anders  wirkten  als  die  ursprünglichen  eben* 
falls,  indem  auch  an  sie  Gefühle  gebunden  'sind.  Dadurch  mag 
die  ursprüngUche  Gemüthserregung  verstärkt  werden,  und  nur 
insofern  ist  zuzugestehen,  dass  in  der  Association  ein  wichtiger 
Factor  für  die  Entstehung  namentlich  der  zusammengesetzteren 
Gefühle  .liegen  kann. 

Im  allgemeinen  aber  ist  die  Beschaffenheit  des  Gefühls, 
wie  sich  gerade  an  den  compUcirteren  Formen  zeigt,  offenbar 
weniger  von  den  unmittelbar  im  Bewusstsein  anwesenden  Vor- 
stellungen als  von  den  ursprungUchen  Anlagen  und  älteren 
Erwerbungen  des  Bewusstseins  abhängig.  Wie  wollten  wir 
uns  anders  die  unverkennbare  Entwicklungsfähigkeit  des  Ge- 
müthslebens  erklären,  wobei  insbesondere  alle  zusammen- 
gesetzteren Gefühle  als  verhältnissmässig  späte  Erzeugnisse  auf- 
treten? Bestätigt  wird  aber-  diese  Folgerung  wohl  durch  dia 
Thatsache,  dass,  wo  wir  über  den  Grund  solcher  zusammen- 
gesetzter Gefühle  i*eflectiren,  wir  uns  immer  auf  früher  erwor- 
bene Eindrücke  und  Gedankenverbindungen  hingewiesen  sehen. 
Hieraus  entspringt  dann  freilich  der  nicht  seltene  Fehler,  dass 
man  in  die  Natur  des  Gefühls  selbst  eine  derartige  Reflexion 
verlegt,  wovon  doch  die  psychologische  Wahrnehmung  nicht 
das  geringste  entdecken  lässt. 

So  lässt  sich  z.  B.  das  intellectuelle  Gefühl  der  Zu- 
stimmung nur  daraus  begreifen,  dass  ältere  intellectuelle  Er- 
werbungen einem  neuen  Gedanken  übereinstimmend  entgegen- 
kommen. Aber  da  -wir  jener  älteren  Gedankenreihen  nicht  un- 
mittelbar uns  bewusst  werden,  sondern  sie  uns  erst  nach- 
träglich, durch  eine  oft   mühsame  Reflexion,  vergegenwärtigen 


142  W.  Wundt: 

können,  so  bleibt  nur  übrig  anzunehmen,  dass  unser  Bewusst- 
sein  in  der  Art  seiner  Reaction  auf  einen  neuen  Eindruck 
durch  Vorstellungen,  die  früher  in  ihm  anwesend  waren,  be- 
stimmt wird,  ohne  dass  doch  diese  Vorstellungen  selbst  in  das 
Bewusstsein  eintreten.  Dass  nicht  minder  bei  den  höheren 
ästhetischen  Gefühlen  associatire  Verbindungen  der  unmittelbaren 
mit  den  unserm  Bewusstsein  verfügbaren  Vorstellungen  eine 
wesentliche  Rolle  spielen,  ist  wohl  allgemein  anerkannt.  Darum 
erfordert  ja  der  ästhetische  Genuss  eine  lange  Vorbildung. 
Wo  diese  mangelt,  da  bleibt  das  Bewusstsein  gerade  vollende- 
teren Kunstformen  gegenüber  gleichgültig  oder  geräth  durch  sie 
in  Verwirrung,  weil  den  äusseren  Eindrücken  die  inneren  Be- 
ziehungen mangeln,  durch  die  sie  erst  ihren  Gefühls werth 
empfangen  können.  Aber  auch  hier  würde  es  nicht  gerecht- 
fertigt sein,  sich  die  Wirksamkeit  dieses  associativen  Factors 
der  ästhetischen  Eindrücke  in  der  Form  wirklich  vollzogener 
Associationen  zu  denken.  Die  Zergliederung  eines  Kunstwerks 
ist  ja  verschieden  von  dem  ästhetischen  Genuss.  Schlimmsten 
Falles  kann  sie  ihn  aufheben,  indem  die  unmittelbare  Macht 
des  Eindruckes  durch  die  eintretende  Reflexion  verdrängt  wd, 
und  besten  Falles  kann  sie  ihn  verstärken^  indem  die  an- 
geregten Vorstellungen  selbst  wieder  zur  Quelle  ästhetischer 
Wirkungen  werden.  Immer  also  kommen  wir  darauf  zurück, 
dass  das  Gefühl  selbst  nicht  in  den  unmittelbar  gegenwärtigen 
Vorstellungen  oder  ihrem  Verhältniss,  sondern  in  einer  Rück- 
wirkung besteht^  die  das  Bewusstsein  auf  die  Vorstellungen 
ausübt,  Und  die,  wenn  wir  sie  zergliedern,  auf  die  Beziehungen 
zurückweist,  in  denen  sich  die  unmittelbar  gegenwärtigen  zu 
früheren  Vorstellungen  befinden. 

In  diesen  Beziehungen  zu  früheren  Vorstellungen  findet 
offenbar  auch  der  Herbarfsche  Versuch,  die  Gemüthsbewegungen 
abzuleiten  aus  einer  Mechanik  der  Vorstellungen,  seine  relative 
Berechtigung.  Aber  nicht  nur  ruht  diese  Mechanik  selbst  auf 
zweifelhaften  Grundlagen,  sondern  gegen  ihre  hypothetische  Ueber- 
tragung  auf  die   Gemüthsbewegungen   erheben   sich   noch   be- 


Ueber  das  Verhältniss  der  Gefühle  zu  den  YoratelluDgen.    143 

sondere  Bedenken,  auf  die  ich  jedoch  hier  nicht  wieder  zurück- 
kommen will^). 

Ebenso  bedeutsam  wie  diese  unbegrenzte  Abhängigkeit  der 
Gemüthserregung-  von  der  ganzen  Anlage  und  dem  gesammten 
Erwerb  des  Bewusstseins  därfle  vielleicht  die  weitere  Thatsache 
sein,  dass  uns  das  Gefühl  als  ein  einheitlicher  Zustand 
oder  Yorgaitg  bewusst  wird.  So  mannigfach  die  Gefühle  auch 
in  der  Zeit  wechseln  können,  so  scheint  doch  in  jedem  Moment 
das  Gemüth  nur  in  einer  bestimmten  Weise  erregt  zu  sein. 
Auf  den  ersten  Bück  widerspricht  dem  allerdings  die  Existenz 
zwiespältiger  Gemüthslagen ,  in  denen  mindestens  zwei  Ge« 
fühle  neben  einander  bestehen.  In  der  ungewissen  Erwartung 
bewegt  uns  gleichzeitig  Furcht  und  Hoffen,  der  Zweifel  besteht 
aus  Zustimmung  und  Widerspruch,  das  Komische  verdankt,  wie 
man  annimmt,  seinen  Ursprung  dem  Contrast  der  Gefühle. 
Gewiss  wäre  hier  die  Annahme  verfehlt,  dass  nur  eine  rasche 
Successidn  diese  zwiespältigen  Gemüthsstimmungen  hervor- 
bringe. Denn  das  Eigenthümliche  der  letzteren  besteht  gerade 
darin,  dass  ihre  verschiedenartigen  Componenten  gleichzeitig  in 
sie  eingehen.  Aber  hiermit  ist  auch  schon  angedeutet,  dass 
solche  Gemüthserregungen  nicht  bloss  aus  einer  Summe  ver- 
schiedener Gefühle  bestehen,  sondern  dass  aus  diesen  eine  Re- 
sultante hervorgehL  Wie  also  eine  zusammengesetzte  Vor- 
stellung aus  vielen  Bestandtheilen  sich  aufbaut,  so  können  sich 
auch  an  einer  Gemüthsbewegung  mehrere  Gefühle  als  ihre 
Elemente  betheiligen.  Aber  während  unser  Bewusstsein  zweifel- 
los mehrere  Vorstellungen  enthalten  kann,  die  einander  nicht 
in  merkUcher  Weise  beeinflussen,  resultirt,  wie  es  scheint,  aus 
den  gleichzeitig  vorhandenen  Gefühlen  immer  ein  einheitlicher 
Zustand.  Es  giebt  nicht  mehrere  Gemüthslagen  neben  einander, 
sondern  nur  eine  einzige,  die  übrigens  mehr  oder  weniger  zu- 
sammengesetzt sein  kann,  und  die  stetig  in  der  Zeit  sich  ver- 
ändert. Wenn  wir  uns  nun  vieler  unverbundener  Vorstellungen 
gleichzeitig   bewusst   sein  können,   so  ist  es   möglicher  Weise 


*)  Vergl.  meine  phyBiologische  Psychologie,  S.  461,  798. 


144  W.  Wundt: 

nur  diese  Einheit  unserer  Gemüthslage,  durch  die  wir  zunächst 
veranlasst  werden  von  der  Einheit  unseres  Bewusstseins  zu 
reden.  Umgekehrt  liegt  aber  auch  in  jener  Einheit  der  Ge* 
müthserregung  wohl  ein  Zeugniss  dafür,  dass  wir  es  bei  ihr 
mit  einer  Art  i*esuUirender  Kraft  zu  thun  haben,  in  welcher 
die  Componenten,  die  sie  zusammensetzen,  meistens  nicht  mehr 
einzeln  zu  unterscheiden  sind. 

Da  wir  uns  nun  von  der  Entstehungsweise  dieser  Re- 
sultante nicht  unmittelbar  Rechenschaft  geben  können,  so  bleibt 
nichts  übrig  als  anzunehmen,  dass  psychische  Vorgänge,  die 
uns  nur  in  ihren  Endwirkungen  bewusst  werden,  an  denen 
aber  die  ursprünglichen  und  erworbenen  Eigenschaften  des 
Bewusstseins  betheiUgt  sind,  den  Gemülhserregungen  zu  Grunde 
liegen.  Es  verhält  sich  in  dieser  Beziehung  mit  den  letzteren 
wohl  ähnlich  wie  mit  den  Vorgängen  bei  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung, bei  denen  uns  ebenfalls  nur  die  Aesultate  einer 
psychischen  Synthese  bewusst  werden,  nicht  aber  die  Elemente,, 
die  in  eine  solche  Synthese  eingehen.  Wie  man  nun  bei  der 
sinnUchen  Wahrnehmung  trotzdem  diese  Elemente  nachzuweisen 
und  mit  Hülfe  derselben,  sich  wenigstens  in  hypothetischer 
Weise  von  den  Processen  Rechenschaft  zu  geben  vermag^  die 
bei  der  WahrnehuMing  wirksam  sind,  so  wird  es  auch  bei  den 
Gefühlen  die  Aufgabe  der  Psychologie  sein,  eine  Art  Recon- 
strucüon  der  nicht  zu  unserem  Bewusstsein  gelangenden  Vor- 
gänge vorzunehmen.  Damit  soll  übrigens  keineswegs  behauptet 
werden,  dass  diese  Elemente  absolut  unbewusst  seien,  sondern 
nur,  dass  sie  vollständig  in  dem  aus  ihnen  resultirenden 
Effecte  aufgehen,  ähnlich  wie  bei  der  Bildung  einer  Gesichts- 
vorstellung Localzeichen  und  Innervationsempfindungen  in  <ler 
resultirenden  Anschauung. 

Theilweise  ist  es  wohl  diese  Eigenschaft  resultirender  Ge- 
sammteffecte,  welche  die  oft  hervorgehobene  Dunkelheit  der 
Gefühle  bedingt.  Mehr  noch  freilich  trägt  daran  deren  sub- 
jective  Natur  die  Schuld.  Die  Vorstellung  bezieht  sich  vermöge 
ihrer  Entwicklung  aus  äusseren  Sinneseindrücken  auf  Objecte, 
über  deren  Bezeichnung  wir  uns  mit  unsern  Mitmenschen  ver- 


Ueber  das  VerhältiuBs  der  Gefühle  zu  den  VorsteUmigeD.    145 

ständigen  müssen.  Mit  dem  bezeichnenden  Worte  fixirt  und  be- 
grenzt sieb  die  Vorstellung.  Wesentlich  anders  verhält  sich 
dies  bei  den  Gemüthserregungen.  Wie  dem  Bedärfniss  der 
Mittheilung  derselben  durch  eine  oberflächliche  Unterscheidung 
ihrer  Hauptdassen  genagt  wird,  so  können  wir  überhaupt  die 
specielleren  subjectiven  Färbungen  der  Gefühle  nur  unmittelbar 
empfinden,  nicht  aber  näher  bestimmen,  worin  sie  bestehen. 
Wenn  so  die  blosse  psychologische  Classenbezeichnung,  die  hier 
stattfindet,  auf  der  einen  Seite  dazu  beiträgt,  die  subjectiv 
empfundenen  Unterschiede  zu  verwischen,  so  ist  sie  auf  der 
andern  Seite  nicht  minder  geeignet  Grenzen  zu  ziehen,  wo 
solche  in  Wirklichkeit  nicht  existiren.  So  unterscheiden  wir 
vor  Allem  Fühlen,  Begehren  und  Wollen  als  drei  wesentlich 
verschiedene  innere  Vorgänge.  Gewiss  liegen  dieser  Abstraction 
richtige  Beobachtungen  zu  Grunde.  Aber  eben  so  zweifellos 
begehen  wir  einen  psychologischen  Irrthum,  wenn  wir  jede 
einzelne  Gemüthserregung  nun  entweder  als  ein  Fühlen  oder 
als  ein  Begehren  oder  als  ein  Wollen  ansehen.  Ja  es  genügt 
nicht  einmal  einzuräumen,  dass  sich  diese  verschiedenen  Vor- 
gänge in  einzelnen  Fällen  mit  einander  vermischen  können, 
sondern  der  inneren  Wahrnehmung  entspricht  es  offenbar  mehr« 
wenn  wir  jeder  Gemüthserregung  einen  gemischten  Charakter 
zuschreiben  und  nur  zugeben,  dass  je  nach  Umständen  der 
eine  oder  andere  jener  drei  Bestandtheile  mehr  hervortreten 
könne.  Es  begegnet  also  hier  abermals  was  schon  in  Bezug 
auf  die  Unterscheidung  der  Gefühle  und  Vorstellungen  bemerkt 
wurde:  die  Unterscheidungen,  die  sich  an  unsere  verschiedenen 
Ausdrücke  knüpfen,  beruhen  auf  einer  Abstraction,  der  eine 
reale  Trennung  der  Gegenstände  und  Vorgänge  nicht  entspricht. 
Was  nun  vor  allem  für  die  gemischte  Natur  der  Gemüths- 
erregungen zeugt  ist  der  Umstand,  dass  gerade  diejenigen 
Formen,  die  man  als  die  ursprünglicheren  ansieht,  augen- 
scheinlich nicht  bestehen  würden  ohne  die  angeblich  secun- 
dären  Formen,  die  aus  ihnen  hervorgehen  sollen.  Als  den 
elementarsten  der  drei  Gemüthszustände  betrachtet  man  das 
Gefühl.     Aber  die  Bedingung  jedes   Lust-   und  Unlustgefuhls 

VierteljahrsBchrift  f.  wisaenschaftl.  PhilosopMe.  III.    2*  10 


j  j 


a  ^ 


14ß  W.  Wandt: 

ist  das  Begehren  oder  Widerstreben,  durch  welche  das  Bewusst- 
sein  reagirt  auf  die  dasselbe  erregenden   Yorsteliungen.     Und    , 
Begehren    oder    Widerstreben    setzen    wiederum     den    Willen 
voraus  als  die  unmittelbar  in  uns   vorhandene  Fähigkeit  uns 
den  Gegenstanden  zuzuwenden,  die  wir  bevorzugen,   oder  die- 
jenigen zu  fliehen;  die  wir  verabscheuen.     So  kann  der  WiUe, 
den  man  gewöhnlich  für  das  letzte  Erzeugniss  der  Gemüths- 
bewegungen  ansieht,  eben  so  gut   als  die   Bedingung  derselben 
betrachtet  werden,  wenn   es   nicht  überhaupt   unstatthaft  w&re, 
hier   von   einer  Rangordnung  zu  reden,  wo  erst  der  Gesichts- 
punkt, unter  dem  man  die  Erscheinungen  auffasst,  eine  solche 
hervorbringt.    Uebrigens   wenden   wir  hierbei  den  Begriff  des 
Willeps  in  der  berichtigten  Bedeutung  an,   welche  die  Psycho- 
logie ihm  zuweisen  muss.    Der  WiUe,  wie  er   gewöhnlich  auf* 
gefasst  wird,  ist  die  Fähigkeit  der  Wahl  zwischen  verschiedenen 
in  der  Form  von  Vorstellungen  gegebenen  Motiven.  Eine  solche 
Wahl  ist  aber  keine  elementare  Willensfunction  mehr,  sondern 
ein  complexes  Wülenserzeugniss,  ein  potenzirtes  Wollen, 
wie  wir  es  wohl  nennen  können.    Denn  wir  stellen  uns  dabei 
verschiedene   Willensentscheidungen    vor,    unter   denen    unser 
WiUe   einer   bestimmten    sich   zuwendet.      Die    Wahl    ist    das 
Wollen  einer  unter  vielen  Willenserregungen.     Ihr  steht  der 
einfache    Wiliensact    gegenüber    als    eine    unmittelbare    innere 
Thätigkeit,    bei    der    eine   Mehrheit    einander    widerstrebender 
WiUensacte  gar  nicht  in  Frage  kommt. 

Noch  in  einer  zweiten  Beziehung  bedarf  der  herkömmliche 
psychologische  Begriff  des  Willens  der  Berichtigung.  Da  näm- 
lich jene  potenzirten  Wiliensact«,  die  wir  als  Wahlhandlungen 
von  dem  einfachen  Wollen  unterscheiden,  eine  praktische 
Wichtigkeit  vorzugsweise  dann  erlangen,  wenn  unser  Wille  auf 
verschiedenartige  Motive  äusserer  Handlungen  gerichtet  ist,  so 
hat  der  Begriff  des  Willens  in  der  gewöhnlichen  Wortbedeutung 
noch  eine  weitere  Einschränkung  erfahren,  indem  man  unter 
ihm  nur  jene  Wahlhandlungen  zu  verstehen  pflegt,  welche 
äussere  Handlungen  entscheiden.  Hier  wird  also  der  Wille 
nicht  nur  auf  einen  potenzirten,   sondern  dazu  noch  auf  einen 


lieber  das  Verhältniss  der  Gefühle  zu  den  VorstelluDgea.     147 

secundären  Wille nsact  eingeschränkt  Denn  es  ist  augen- 
scheinlich, dass  derjenigen  Willensentscheidung,  die  eine  be- 
stimmte Handlung  hervorbringt,  jene  Willensentscheidung, 
welche  sich  der  Vorstellung  dieser  Handlung  zuwendet,  vor- 
angehen muss. 

So  hat  denn  der  Wille  überhaupt  eine  doppelte  Richtung. 
Auf  der  einen  Seite  richtet  er  sich  nach  innen,  um  bestimmten 
Vorstellungen  unseres  Bewusstseins  sich  zuzuwenden  oder  sogar 
unmittelbar  nicht  anwesende  Vorstellungen  in  das  Bewusstsein 
zu  heben.  Auf  der  andern  Seite  richtet  er  sich  nach  a.issen, 
um  Handlungen  hervorzubringen.  Zunächst  wird  dem  äusseren 
immer  ein  innerer  Willensact  vorangehen  müssen.  Aber  nach- 
dem die  körperliche  Bewegung  hinreichend  eingeübt  ist,  dass 
sie  sich  in  jedem  Moment  den  inneren  Willensimpulsen  anzu- 
passen vermag,  kann  die  experimentelle  Beobachtung  unter  ge- 
wissen Bedingungen  zwischen  der  AufTassung  der  Vorstellung 
und  der  von  ihr  abhängigen  Handlung  keinen  merklichen  Zeit- 
unterschied mehr  nachweisen^  so  dass  in  diesen  Fällen  der 
Wille  in  einem  zeitlich  untheilbaren  Acte,  wie  es  scheint,  die 
Vorstellung  appercipirt  und  die  von  ihr  abhängige  körperliche 
Bewegung  vollführt.  Während  wir  willkürlich  Vorstellungen 
auffassen,  handeln  wir  gleichzeitig  angemessen  diesen  Vor- 
stellungen. 

Der  Wille  ist 'nun,  so  weit  wir  dies  aus  der  Beol)achtung 
zu  erschliessen  vermögen,  eine  ebenso  ursprüngliche  psychische 
Function  wie  das  Vorstellen.  Bei  den  niedersten  thierischen 
Wesen,  bei  denen  wir  nur  eben  das  Vorhandensein  von  Sinnes- 
functionen  nachweisen  können,  treten  uns  auch  schon  Be- 
wegungen entgegen,  die  uns  als  willkürliche  erscheinen,  ja  be- 
kanntlich schliessen  wir  auf  den  untersten  Stufen  des  Thier- 
reichs,  wo  sich  die  Sinnesorgane  noch  nicht  differenzirt  haben, 
nur  aus  den  willkürlichen  Bewegungen  auf  die  Ex:istenz  sinn- 
licher Vorstellungen.  Schwerlich  werden  wir  voraussetzen 
wollen,  dass  in  solchen  Fällen  jeder  willkürlichen  Bewegung 
eine  Reflexion  vorausgeht,  wie  wir  sie  zu  unsern  potenzirten 
Willenshandlungen  hinzudenken,  sondern  in  der  Regel  wird  hier 

10* 


148  W.  Wundt: 

der  Wille  eindeutig  bestimint  sein  durch  einen  sinnlichen  Ein- 
druck; selten  nur  werden  mehrere  Eindrucke  um  die  Herr- 
schaft kämpfen  und  so  einen  inneren  Vorgang  hervorrufen, 
welcher  schon  zu  complicirteren  Willenshandiungen  den  lieber- 
gang  bildel. 

Alle  Gemüthsbewegungen  lassen  sich  nun  auch  als  Reac- 
tionen  des  Willens  auffassen.  Sobald  eine  solche  Reaction  zu 
einer  inneren  oder  äusseren  Willenshandlung  strebt,  ohne  dass 
sie  noch  in  eine  solche  übergegangen  ist,  nennen  wir  sie  Be- 
gehren. Wenn  sie  dieses  Stadium  des  Strebens  entweder 
noch  nicht  erreicht  oder,  weil  die  Willenshandlung  bereits  aus- 
gelöst worden  ist,  schon  zurückgelegt  hat^  bezeichnen  wir  sie  als 
Gefühl.  So  hat  die  Hoffnung  vorzugsweise  den  Charakter  des 
Begehrens^  die  Freude  den  des  Gefühls,  weil  dort  unser  Wille 
einer  zukünftigen  Lust  entgegenstrebt,  während  er  hier  in  der 
Erreichung  des  erlangten  Gutes  befriedigt  ruht.  Gewisse  zu- 
sammengesetzte Gefühle,  wie  die  intellectuellen  und  ästhetischen, 
scheinen  sich  dieser  Beziehung  auf  den  Willen  schwerer  zu 
fügen.  Doch  ist  dies  nur  desshalb  der  Fall,  weil  man  den 
Willen  auf  die  äusseren  Handlungen  einschränkt  und  die  funda- 
mentalere Wirksamkeit  desselben  gegenüber  den  Vorstellungen 
zu  ignoriren  pflegt.  Gerade  bei  den  intellectuellen,  sittlichen 
und  ästhetischen  Gefühlen  hat  man  es  aber  in  der  Regel  mit 
dieser  letzteren  Wirksamkeit  allein  zu  thun.  So  entsteht  ein 
Gefühl  intellectueller  Befriedigung,  wenn  es  dem  Willen  geh'ngt, 
die  Elemente  unseres  Denkens  übereinstimmend  mit  einander 
und  mit  den  objectiven  Erfahrungen,  auf  welche  sie  sich  be- 
ziehen, zu  verbinden.  Die  moralischen  Gefühle  haben  zwar 
huulig  äussere  Handlungen  zu  ihrem  unmittelbaren  Gegenstand. 
Aber  indem  sie  sich  auf  die  Gesinnung  beziehen,  aus  der  eine 
Handlung  hervorgeht,  oder  die  durch  sie  erzeugt  wird^  sind  es 
schliesshch  auch  hier  primitive,  d.  h.  auf  die  inneren  Vor- 
stellungen gerichtete  Willensacte,  welclie  die  eigentlichen  Ob- 
jecte  sittlicher  Gefühle  bilden,  und  zwar  werden  die  letzteren 
dann,  wie  es  scheint,  erregt,  wenn  das  unter  vielen  möglichen 
Willensenlscheidungen  zum  Vollzug  gelangende  wirkliche  Wollen 


tJeber  das  Verhältniss  der  Gefühle  zu  den  Vorstellungen.     149 

unmittelbar  entweder  als  angemessen  oder  als   widerstreitend 
der  allgemeinen   WiUensrichtung  erfasst  wird,   welche  sich  in 
dem  menschlichen   Bewusstsein   durch   ursprüngliche  Anlagen 
und   Erziehung  entwickelt  hat     Das   sittliche  Gefühl   gründet 
sich  also  immer  auf  einen  potenzirten  WillensTorgang,  auf  eine 
im   Bewusstsein   vor  sich  gehende  Wahlhandlung:   es  ist  das 
liefühl,   welches   denjenigen   Willensact  begleitet,  der  zwischen 
verschiedenen  vorgestellten  Willenshandlungen  entscheidet    Von 
noch    verwickelterer    Beschaffenheit    ist    im     allgemeinen    das 
ästhetische  Gefühl,  weil  es  in  seinen  höheren  Formen  intellec- 
tueUe  und  sittliche  Gefühle  als  Factoren  in  sich  enthält    Jene 
einfacheren  ästhetischen  Gefühle,  welche  durch  die  Auffassung 
nach  einfachen  Maassverhältnissen   geordneter  Formen  in   uns 
erregt  werden,  sind   offenbar  den  intellectuellen  Gefühlen  am 
nächsten  verwandt  Man  könnte  sie  vielleicht  geradezu  als  die- 
jenigen intellectuellen  Gefühle  bezeichnen,  welche  die  unmittel- 
bare sinnliche  Anschauung  begleiten.  Bei  den  höheren  Formen 
kommen  dazu  sittliche  und  inteljdptuelle  Gefühle,  die  durch  den 
besonderen  Inhalt  der  ästhetischen  Vorstellungen  angeregt  wer- 
den.    Wenn  demnach  alle  Bestandtheile  eines  ästhetischen  Ge- 
fühls auf  Gemüthserregungen  zurückzuführen  sind,  bei  denen 
sich  die  Wirksamkeit  des  Willens  nachweisen  lässt,  so  lässt  sich 
damit  diese,  allerdings  in    einer  besonders  verwickelten   Form, 
auch  als  die  Grundlage  des  ästhetischen  Gefühls  selbst  ansehen. 
Die  nähere  Anwendung  dieser  Gesichtspunkte  auf  die  ver- 
schiedenen  Formen  der  Gemüthsbewegung  muss   der  psycho- 
logischen Einzeldarstellung  überiassen  bleiben.     Nur  auf  zwei 
Momente   sei   hier   noch   hingewiesen,    die   für  die  allgemeine 
Beziehung  der  Gefühle  zum  Willen   von  Bedeutung  sind.     Alle 
Gefühle  bewegen  sich  zwischen  den  Gegensätzen  der  Lust  und 
Unlust     Diese  Gegensätze  lassen  sich  nun  unmittelbar  zurück- 
führen  auf  die   entgegengesetzten   Beziefiungen  des  Willens  zu 
seinen   Objecten.     Denn  alles  Wollen   ist   positiv  oder  negativ. 
Entweder  strebt  es  einem  Gegenstande  zu,   oder  es  widerstrebt 
ihm.      Sodann   ist   mit   der   Zurückführung    der    Gemüthsbe- 
wegungen   auf  Reactionen  des   Willens    zugleich  einigermassen 


150  W.  Wundt: 

darüber  Recliendchaft  abgelegt,  dass  jede  Gemüthsbewegung  eine 
Tolalkraft  darstellt,  io  welcher  die  verschiedenen  Componenten, 
die  zu  ihr  beitragen,  vollständig  aufgehen.  Zwar  kann  auch 
das  Wollen  in  seinen  polenzirten  Formen  anscheinend  aus 
mehreren  einfachen  WiUensacten  resultiren.  Aber  dabei  sind 
alle  Willensacte  mit  Ausnahme  desjenigen,  der  wirklich  zur 
Ausfähi'ung  kommt,  in  Wahrheit  als  blosse  Vorstellungen  in 
unserm  Bewusstsein  anwesend.  Das  wirklich  Gewollte  ist  immer 
nur  Eines.  Was  allein  simultan  sich  verbinden  kann,  ist  eine 
zusammengehörige  innere  und  äussere  Willenshandlung.  Dann 
ist  aber  die  letztere  nur  eine  unmittelbare  Ruckwirkung  der 
ersteren,  der  Richtung  des  Willens  auf  die  VorsteUung,  nicht 
ein  für  sich  bestehender  Willensact 

So  können  wir  mit  demselben,  wenn  nicht  mit  grösserem 
Rechte,  wie  man  sonst  den  Willen  aus  dem  Gefühl  sich  ent- 
wickeln lässt,  umgekehi't  aus  dem  Willen  die  übrigen  Formen 
der  Gemüthsbewegungen  abzuleiten  versuchen.  Aber  damit  soll 
nun  keineswegs  einem  Unternehmen  das  Wort  geredet  sein, 
welches  etwa  auf  einen  Dualismus  von  Vorstellen  und  Wollen 
die  ganze  Psychologie  gründen  möchte.  Unsere  Auseinander- 
setzungen sollten  nur  dieses  erläutern,  dass  es  bei  allen  jenen 
Zuständen,  die  wir  als  Fühlen,  Begehren,  Wollen  bezeichnen, 
nicht  um  ein  thatsächhch  verschiedenes  Geschehen  sich  handelt, 
sondern  um  Processe,  die  durchgängig  zusammenhängen.  Nach- 
dem wir  erst  die  verschiedenen  Seiten,  welche  diese  Vorgänge 
unserer  inneren  Wahrnehmung  darbieten,  in  Begriffe  gefasst 
haben,  sind  wir  nur  zu  sehr  geneigt  auch  die  wirklichen  Er- 
scheinungen künstlich  zu  ti*ennen,  ohne  dass  dazu  ein  Grund 
vorhegt. 

Für  die  Unterscheidung  von  Gefühl  und  Vorstellung  gilt 
im  webenllichen  die  nämliche  Bemerkung.  Gesteht  man  zu, 
dass  auch  sie  in  der  Wirklichkeit  immei*  verbunden  sind,  so 
hat  die  Frage  nach  der  Priorität  von  Getilbl  oder  Vorstellung 
im  Grunde  keinen  Sinn  mehr.  Seit  Herbnrt.  hat  man  sich  daran 
gewöhnt,  Gedächtniss,  Phantasie,  Verstand  und  Vernunft  als 
Abstractionen  zu  beti^achten,  die  wir  zu  dem  Verlauf  des  inne- 


Ueber  das  Verhältniss  der  Grefüble  zu  den  Vorstellungen.    151 

ren  Geschehens  hinzudenken,  nicht  als  Kräfte,  die  dieses  Ge* 
schehen  selbst  hervorbringen.  Es  ist  wohl  nicht  unnütz  sich 
zu  erinnern,  dass  es  sich  mit  dem  Vorstellen,  Fühlen  und 
Wollen  nicht  anders  verhält.  So  nöthig  wir  diese  Ausdrücke 
haben,  so  sollten  wir  uns  doch  durch  ihren  Gebrauch  nicht  ver- 
führen lassen  zu  vergessen,  dass  wir  damit  nur  Begriffe  be- 
zeichnen, die  wir  selber  gebildet  haben. 

Leipzig.  W.  Wundt. 


Sinnesansohauung  und  logisches  Gausalgesetz. 

Eine  Entgregrnungr  auf  die  neuesten  Ausfllhninflren 

Ton  E.  Zeller. 


Zweiter  Artikel. 
(SchloBs.) 

Die  Empfindungen  werden  von  Zeller  S.  500  a.  a.  0.  ganz 
der  jetzigen  Theorie  gemäss  definirt  als  „psychische  Reac- 
tionen  auf  die  Reize,  welche  der  empfindenden  Seele 
durch  gewisse  Bewegungen  in  den  Sinnesorganen  zugeführt 
werden^^  Da  nämlich  weder  die  äusseren  Einwirkungen  auf 
die  Nerven,  noch  auch  die  Bewegungen  in  den  Nerven  und 
im  Centralorgane  selbst  das  subjective  Wesen  der  Empfindung 
erklären,  so  könne  man  mit  Recht  auch  von  apriorischen  Formen 
oder  Bedingungen  der  Empfindung  reden,  kraft  welcher  der 
bestimmte  Bewegungsvorgang  erst  diese  specifische  Empfin- 
dung errege. 

So  sehr  nun  diese  AufPassungsweise  die  jetzt  herrschende 
ist,  so  müssen  wir  sie  doch  schon  von  dem  subjectiven  Wesen 
der  Empfindung  aus  (noch  ganz  abgesehen  von  den  mechanisch- 
physikalischen Voraussetzungen)  desshalb  als  unzulänglich  zurück- 
weisen, weil  sie  gerade  dem  specifischen  Wesen  der  Sinnesempfin- 
dung als  einer  Yerinnerlichung  des  betreffenden  organischen 
Vorgangs  noch  durchaus  nicht  gerecht  wird.  Denn  schon  in 
dieser  Verinnerlichung   (ganz    abgesehen    von  der   besonderen 


K.  Ch.  P la n;c k :  Sinnesanschauung u.  logisches  Causalgeseti.  153 

fiubjecti?en  Erscheinungsform  des  einzelnen  Sinnes),  liegt  durch- 
aus eine  specifische  innerlich  leidenlliche  Einheit 
mit  dem  betreffenden  Nervenvorgange  eingeschlossen.  Ohne  eine 
solche  ist  jene  Yerinnerlichung  oder  Subjectivirung  des  Vor- 
ganges, in  welcher  die  Empfindung  besteht,  ganz  undenkbar, 
sie  macht  eben  das  innere  Wesen  der  Empfindung  aus.  Damit 
aber  wird  jener  Begriff  eines  blossen  „Reizes**  und  einer 
subjectiven  „Reaction^'  auf  denselben  durchaus  ungenügend. 
Denn  in  diesen  Begriffen  ist  eben  jene  innerliche  Einheit  ml 
dem  Nervenvorgange,  die  subjective  innere  Erscheinung  des- 
selben, noch  nicht  ausgedrückt.  Ein  „Reiz**  in  jenem  obigen 
Sinne  enthält  noch  nichts  Weiteres,  als  eine  alterirende  Ein- 
wirkung auf  ein  Organisches,  die  von  Seiten  dieses  letzteren 
irgend  welche  innere  Gegenwirkung  hervorruft.  Von  jener 
specifisch  innerlichen  und  empfanglich  leidentlichen  Einheit  mit 
dem  betreffenden  Nervenorgane  enthält  also  die  obige  Definition 
noch  nichts,  sie  bleibu  viel  zu  äusserlich,  lässt  das  empfindende 
Subject  gegenüber  von  der  Sinneseinwirfcung  in  einer  zu  selb- 
ständig getrennten  Weise  bestehen,  wie  diess  freilich  bei  der 
bloss  mechanischen  Auffassung  des  Nervenvorganges  selbst  nicht 
anders  sein  kann.  Denn  bei  dieser  bleibt  vor  allem  das  Yer- 
hältniss  des  Nervenvorganges  zur  subjectiven  Empfindung  nur 
das  eines  äusseren,  seiner  genaueren  Nalur  nach  gar  nicht  zu 
erklärenden  Änstosses,  und  Analoges  gilt  für  das  Verhältniss 
der  äusseren  Einwirkung  zu  dem  Nervenvorgange.  Denn  wenn 
dieser  nur  aus  molekularen  Schwingungen  bestehen  soll,  so 
kann  demgemäss  auch  schon  die  Einwirkung,  die  ihn  hervor- 
ruft, keine  innerlich  eindringende  sein,  bei  welcher  das 
Wesen  des  Einwirkenden  selbst  in  dem  innerlich  offenen 
Objecte  der  Einwirkung  offenbar  würde,  sondern  auch  hier 
bleibt  die  Einwirkung  nur  ein  äusserer  Anstoss.  Allein  auch 
hier  ist  es  also  nicht  der  allgemeine  Begriff  des  einwirkenden 
Verhältnisses,  welcher  jenen  einseitig  subjectiven  Begriff  der 
Empfindung  mit  sich  brächte,  sondern  erst  die  mechanische 
Auffassung  des   Einwirkens    und    des  Nervenvorganges    bringt 


154  ^'  ^^'  Planck: 

diess  mit  sich,  und  dieser  werden  wir  darum  auch  weiter  unten 
entgegentreten  mjissen. 

Wie  nun  schon  der  Begriff  des  Reizes  die  Einwirkung  des^ 
INervenvorganges  auf  das  empfindende  Subject  zu  unvollständig 
und  äusserlicb  t'asst,  so  denkt  auch  der  Begriff  einer  subjectiven 
Keaction  auf  diesen  Reiz  das  Wesen  der  Empfindung  in  einer 
viel  zu  selbsttliätigen  und  geti*ennt  subjectiven  Form.  Das  volle 
innerlich  leidentliche  und  empfängliche  Verhältnisse 
das  in  jener  specifischen  inneren  Einheit  mit  dem  Nervenvor- 
gange  enthalten  ist,  diese  innerlich  psychische  Naturbedingt- 
heit,  kommt  nicht  zur  Anerkennung.  Und  eben  diese  falsch 
idealistische  Selbständigkeit  und  Seibstthätigkeit ,  die  so  schon 
in  den  Begriff  der  Empfindung  hineingelegt  wird,  bietet  dann 
den  Anhalt  auch  für  die  Hineinschiebung  solcher  mit  der  Natur 
der  Sinnesauffassung  ganz  unvereinbarer  Thätigkeiten^  wie  jener 
sogenannten  unmittelbaren  Schlüsse,  durch  welche  angeblich  die 
'  Sinnesanschauung  ihren  eigenthümlich  gegenständlichen  Character 
erhalten  soll.  Im  Gegensatz  hiezu  will  also  unsere  Auffassung, 
erst  die  volle  innerlich  empfängliche  und  leidentliche  Natur- 
bedingtheit im  Wesen  der  Empfindung  zur  Gellung  bringen,, 
so  wie  ebendamit  auch  die  volle  innerlich  psychische 
Natur  des  vom  Nerven  aus- angeregten  Vorganges  im  Central- 
organ.  Denn  darin  liegt,  kurz  gesagt,  der  Grundfehler  der 
jetzigen  Auffassung,  dass  nach  ihr  die  Vorgänge  im  Nerven  und 
Gehirn  als  bloss  mechanische,  wie  Zeller  S.  500  sagt,  „nur 
den  Anstoss  geben  zu  Bewusstseiuserscheiuungen,  die  ihrer 
Qualität  nach  von  den  organischen  Vorgängen  verschieden 
sind,  aus  denen  sie  hervorgiengen'*.  Damit  haben  wir  wieder 
den  alten  Dualismus  des  Leiblichen  und  Psychischen,  und 
zwar  schon  innerhalb  der  blossen  Sinnesempfindung.  Wir 
werden  sehen,  dass  diese  nichts  ist  als  das  in  seiner  höheren 
wahrhaft  innerlichen  Natur  begriffene  Wesen  des  organi- 
sehen  Vorganges  selbst 

Allein  ehe  wir  auf  diess  letzte  übergehen,  haben  wir  zu- 
nächst noch  diejenigen  specielleren  Gründe  zu  würdigen,  mit 
welchen  Zeller  von  Seiten  der  Raumanschauung  und  ihres 


Siimesaascliauung  und  logisches  Causalgesetz.  X55 

Ursprunges  d^n  obigen   Begriff  der  Empfindung  und  Sinnes- 
anschauung noch  stutzen  will. 

Wir  geben  hier  vorerst  vollkommen  zu,  was  Zeller  S.  506  ff 
a.  a.  0.  ausfährt,  dass  die  Raumanschauung  nicht  Sache  eines 
speciiischen  Sinnes  sei,  so  wie  z.  B.  das  Licht  und  die  Töne, 
sondern  durch  mehr  als  einen  Sinn  angeregt  wird,  wenn  auch 
vor  allem  durch  den  Gesichtssinn ,  so  doch  auch  durch  den 
Tastsinn  und  dessen  verschiedene  Euipfiiidungsformen  u.  s.  w. 
Ebenso  gewiss  ist  auch  das  Weitere,  dass  die  Raumanschauung 
für  sich  nicht  Auffassung  irgend  welcher  bestimmten  Ein- 
wirkung ist,  so  wie  die  Licht-  und  Farbenempfindung,  Ton- 
empfindung u.  s.  w.,  sondern  blosse  Anschauung.  Allein  wir 
geben  durchaus  nicht  zu,  dass  hieraus  das  folge,  was  Zeller 
folgern  will,  dass  es  nämlich  eben  desshalb  unmöglich  sei,  dass 
verschiedene  specifische  Sinne  eine  und  dieselbe  Empfindung^ 
die  Raumempfindung,  bewirken  könnten.  Denn  wenn  auch  diese 
keine  specifische  Inhaltsform  eines  besonderen  Sinnes  und  keine 
Einwirkung  gleich  der  des  Lichtes,  Schalles  u.  s.  w.  ist,  so 
kann  sie  doch  um  so  mehr  auf  der  verschiedenen  Sinnen 
gemeinsamenGrundform  ihres  Empfindens  beruhen.  Sie 
entsteht  nämlich  durch  die  allgemeinere  Grundform  des  Inne- 
werdens  einer  räumlich  intensiven  Einwirkung  über- 
haupt, welche  jenen  verschiedenen  Sinnen,  dem  Gesichtssinn, 
Tastsinn  u.  s.  w.  gemeinsam  ist  Und  wenn  auch  die  blosse 
Raumanschauung  selbst,  nach  der  Seite  ihres  gegenständlichen 
Inhalts  betrachtet,  keine  intensive  Einwirkung  mehr  auffasst, 
so  wie  die  Lichtempfindung,  Tastempfindung  u.  s.  w.,  so  ent- 
häh  sie  ja  doch  nach  Seiten 'der  subjectiven  allgemeinen 
Empfindungsform  das  Innewerden  eines  Räumlichen  und  in 
diesem  Sinne  also  eines  innerlichen  (oder  intensiven)  Einwirkens 
dieses  Räumlichen.  Eben  das  Innewerden  dieses  Extensiven, 
in  welchem  die  Raumanschauung  besteht,  schliesst  ja  als  inner- 
hch  leidentliche  Empfönglichkeit  für  dasselbe  die  allgemeine 
Grundform  eines  innerlichen  oder  intensiven  Einwirkens  des- 
selben in  sich.  Und  wenn  auch  die  Raumanschauung  selbst 
als    blosses    allgemeines    Element    der    bestimmten    Sinnes- 


156  K.  Ch.  Planck: 

empßndung  nicht  mehr  eine  derartig  bestimmte  intensive  Ein- 
wirkung zum  Inhalte  hat,   wie  die  Sinnesauffassung  selbst,  so 
ist  doch   durchaus  nicht  einzusehen,   warum  denn  nicht  ver- 
schiedene specifische  Sinne  diese  ihnen  gemeinsame  Grundform, 
das  Innewerden  eines  räumlich  intensiven  Einwirkens,  unmittel- 
bar sollten  hervorbringen  können  und  müssen.    Sie  schliessen 
es  vielmehr  zufolge  des  ganzen  Grundverhältnisses,  in  welchem 
jsie  bestehen,  in  sich.    Und  eben  als  dieses  verschiedenen  Sinnen 
gemeinsame  Grundelement  erhält  dann  die  Raumanschauung  ihre 
selbständig    mathematische,    von    dem  Inhalt   der  besonderen 
Sinne  unabhängige  und  allgemein  giltige  Bedeutung.   Allein  erst 
als   abstracte  Uaumanschauung  hat  sie  diese  Bedeutung,  und 
in  dieser  für  sich  isolirten  Form  gehört  sie  ja  erst  einer  zweiten 
und   höheren,   über  die  unmittelbare  Sinnesanschauung  schon 
hinausliegenden  Stufe,  der  des  sinnlichen  Bewuss ts eins  und 
seiner  Einbildungskraft   an.     Und   auch   diese  wird   erst  vom 
Denken   aus   zu   dieser  letzten  und   selbständigsten  Abstraction 
angeregt,  in  welcher  sie  nur  noch  die  allgemeinste  Grundfoim 
alles  Sinnlichen  zum  Object  hat.     Und   selbst  hiebei   kann   sie 
wenigstens    von   den   Grundformen   des  Gesichtssinnes  (als 
des  objectivsten  aller  Sinne),  von  Dunkel  oder  Helligkeit,  nicht 
völlig  abstrahiren,  so   dass  sie  auch  hierin  noch  auf  ihre  ur- 
sprüngliche innere  Zusammengehörigkeit  mit  der  Sinnesempfin- 
dung zurückweist. 

Freilich  will  nun  Zeller  ein  solches  unmittelbares  Gegeben- 
sein der  Raumanschauung  in  einer  Sinnesempfindung  auch  da- 
mit bekämpfen,  dass  die  „einfache  Licht-  oder  Druckempfindung 
nur  eine  punktuelle**  sei,  also  bloss  intensiver,  nicht  exten- 
siver Art,  während  die  Raumanschauung  schon  eine  Vor- 
stellung sei,  die  auf  der  Combination  mehrerer  Empfin- 
dungen (z.  B.  von  verschiedenen  Hautstellen)  beruhe.  Allein 
so  sehr  er  auch  in  dieser  Kantischen  Trennung  des  Intensiven 
der  Empfindung  vom  Extensiven  wieder  die  jetzt  herrschende 
Auffassungsweise  vertritt,  so  ist  doch  für  uns  eben  diese 
Trennung   eine  blosse   petitio  principii  und  eine  in  sich  selbst 


Sinnesanschauung  und  logisches  Cansalgesetz.  157 

widernatürliche.  Oder  woher  soll  es  denn  feststehen,  dass  eine 
solche  SinnesaufTassung,  die  schon  ein  Verschiedenartiges  und 
Extensives  in  sich  schliesst,  nicht  mehr  unmittelbare  Empfindung, 
sondern  schon  eine  davon  verschiedene  Comhination  sei?  Das 
mögen  allerdings  die  behaupten,  welche  auch  für  die  Empfin- 
dung eine  atomistische  Zerlegung  ihrer  angeblichen  einfachen 
Elemente  zu  Grunde  legen.  Pur  uns  ist  das  Umgekehrte  gewiss 
und  wird  gegen  den  Schluss  hin  seine  Begründung  erhalten, 
dass  ebenso,  wie  es  in  der  Natur  selbst  nichts  atomistisch  Ein- 
faches und  rein  Intensives  gibt,  sondern  nur  innerliche  Zu- 
sammenfassung eines  Extensiven,  so  auch  die  Sinnesempfindung 
nur  als  innere  Zusammenfassung  eines  räumüch  Unterschiedenen 
ist,  niemals  dagegen  rein  intensiv.  Führt  man  z.  B.  für  eine 
rein  punktuelle  Lichtempfindung  den  Sternenhimmel  an,  so  ist 
zwar  gewiss,  dass  hier  die  ausserordentliche  Kleinheit  bloss 
durch  die  Intensität  ihrer  Wirkung  für  uns  sichtbar  wird. 
AUein  schon  sachlich  steht  ja  fest,  dass  es  sich  darin  nur  um 
ein  ausserordentlich  Kleines,  nicht  um  ein  absolut  Punktuelles 
handelt,  und  dazu  kommt  das  Weitere,  dass  uns  dieses  Kleine 
eben  desshalb  etwas  grösser  erscheint,  weil  wir  durch- 
aus nur  Sehempfindungen  von  irgend  welcher  räumlichen 
Grösse  haben  können,  und  so  auch  jenes  ausserordentlich 
Kleine  seiner  Intensität  gemäss  als  grösser  auffassen. 

Analog  verhält  es  sich  mit  dem  Hautsinn,  wo  ja  gleich- 
falls schon  sachhch  eine  absolut  punktuelle  Einwirkung  rein 
widersinnig  ist.  Und  wenn  uns  auch  ein  feiner  Nadelstich  an 
sich  selbst  noch  nicht  auch  den  Eindruck  einer  extensiven 
Einwirkung  macht,  so  ist  doch  die  ganze  Trennung  dieser  rein 
intensiven  Empfindungsseite  von  der  extensiven  (als  der  soge- 
genannten „Vorstellung'*)  desshalb  widernatürlich,  weil  ja  schon 
nach  der  ganzen  Grundform  des  Sinnes  selbst,  als  dieses  leib- 
lich extensiven  Nervenorgans,  das  Intensive  uns  schlechterdings 
nicht  anders  als  zugleich  in  extensiver  Form  zukommt  Jener 
Nadelstich  z.  B.  kann  durchaus  nur  als  integrirender,  wenn  auch 
eigenthümlicher  Theil  einer  extensiveren  und  umfassenderen 
Hautempfindung   unterschieden   werden,  innerhalb   welcher  er 


158  K-  Ch.  Planck: 

als  diess  örtlich  Eigenthü milche  und  Hervorstechende  em* 
pfunden  wird^  im  Gegensalz  und  Verhällniss  zu  einem  nicht 
gereizten ,  sondern  nach  seinem  gewohnten  ruhigen  Zustand 
empfundenen  Theil  der  Hautfläche.  Es  ist  also  widernatürlich, 
etwas  was  gar  nicht  für  sich  allein  empfunden  werden  kann, 
sondern  durchaus  nur  als  unselbständiger,  wenn  auch  eigen- 
thümlicher  Theil  eines  Extensiven,  von  diesem  letzteren  künst- 
lich trennen  zu  wollen  und  zu  sagen,  das  Extensive  jener 
Empfindung  beruhe  als  blosse  Combination  mehrerer  Em- 
pfindungen nicht  mehr  auf  objectiven  Empfindungs-,  sondern 
auf  subjectiven  Anschauungsgesetzen.  Die  betreffende  Sinnes- 
empiindung  ist  immer  schon  ihrer  eigenen  Natur  nach  ein 
Mehreres  oder  Extensives,  und  so  ist  auch  die  Auffassung  dieses 
letzteren  nicht  etwas  anderes  ausser  der  Empfindung,  sondern 
nur  ein  allgemeineres  Grundelement  dieser  letzteren  selbst. 
Dass  dagegen  diese  nur  als  punktuelle  sei,  ist  schon  eine  Vor- 
aussetzung, die  man  von  der  mechanisch-atomistischen  Theorie 
der  Empfindung  aus  macht.  Aus  dem  empirischen  Wesen  der 
Empfindung  selbst  ist  es  nicht  zu  beweisen,  und  dass  es  dem 
inneren,  nach  seiner  psychischen  und  organischen  Natur  be- 
griffenen Wesen  der  Empfindung  widerspreche,  werden  wir 
zum  Schlüsse  sehen. 

Rein  intensiv  in  dem  Sinne,  dass  wir  darin  keinerlei 
räumliche  Grösse  auffassen,  ist  im  Grunde  nur  die  Empfin- 
dungsweise des  Gehörs,  weil  dieses  überhaupt  nur  darauf  an- 
gelegt ist,  die  eigenthümliche  Wirkungsform  inne  zu  werden, 
nicht  aber  eine  Einwirkung  nach  ihrer  Ausdehnung.  Allein 
selbst  die  Gehörempfindung  enthält  doch  nach  ihrer  allgemeinsten 
Grundform  insoweit  ein  Extensives  in  sich,  als  sie  durchaus 
das  Gefühl  einer  Einwirkung  von  aussen  her,  eines  Ein- 
wirkenden ausser  uns,  in  sich  schfiesst,  also  wenn  auch 'keinerlei 
Raumgrösse,  so  doch  jenes  allgemeine  Grund verhältniss  des 
Raumes,  ein  Aussereinander  und  vielfach  auch  eine  Richtung 
dieses  äusseren  Herein wirkens.  Es  ist  also  durchaus  vergeb- 
lich, mit  jener  Trennung  des  Intensiven  an  der  Empfindung 
von  ihrem  Extensiven  die  Möglichkeit  eines  unmittelbaren  inneren 


Sinnesanschauung  und  logisches  Causalgesetz.  159 

Gegebenseins  der  Raumanschaiiung   innerhalb  der  Empßndung 
selbst  widerlegen  zu  wollen. 

Die  wahre  Grundfrage,  auf  welche  bei  dem  Begriffe  der 
Empfindung  und  dem  Ursprung  der  Raumanschauung  alles 
2uräckkommt,  bleibt  demnach  vielmehr  die,  ob  der  organische 
Vorgang  in  den  Nerven  und  dem  Centralorgane,  durch  welchen 
die  Empfindung  hervorgerufen  wird,  nur  durch  mechanische 
Bewegungen  kleinster  Theile  vermittelt  ist,  oder  ob  er  vielmehr 
auf  einer  stetig  hindurchgehenden  und  wahrhaft  in  ein  and  er- 
wirkenden (innerlich  intensiven)  Einheit  der  Theile  beruht,  die 
insofern  gegenüber  von  jener  bloss  mittelbaren  mechanisch- 
atomistischen  Fortpflanzung  eine  specifisch  unmittelbare  ist,  und 
in  welcher  so  die  örtlich  raumliche  Seite  der  äusseren  Ein- 
wirkung zugleich  mit  der  qualitativen  dem  Centralorgane  sich 
mittheilt.  Bei  jener  ersteren  Auffassung  bleibt  nicht  nur  das 
psychische  Wesen  der  Empfindung  (als  einer  inneren  Selbst- 
unterscheidung des  eigenen  Zuslandes)  ein  ganz  unerklärtes 
und  metaphysisch  hinter  und  über  der  Natur  liegendes  Ge- 
biet, sondern  es  bleibt  auch  nach  der  äusseren  gegenständlichen 
Seite  hin  widersprechend,  wie  bei  einer  bloss  mittelbaren,  durch 
getrennte  Atome  sich  vollziehenden  Fortpflanzung  der  äusseren 
Erregung  dennoch  diese  selbst  als  dieser  äussere  (peripherische) 
Nervenzustand  im  Centralorgan  soll  empfunden  werden  können. 
Und  bei  dem  Gesichtssinne  vollends  steigert  sich  dieser  Wider- 
spruch in  d  e  r  Weise,  dass  nicht  nur  die  Erregung  des  äusseren 
peripherischen  Sinnesorgans  selbst  als  solche  empfunden  wird, 
sondern  dass  sie  sich  überdiess,  ungeachtet  auch  sie  nur  auf 
einer  mittelbaren  Fortpflanzung,  auf  blossen  Aetberschwingungen 
beruhen  soH,  doch  als  Erscheinung  des  fernen  Gegenstandes 
selbst  darstellt.  Hier  handelt  es  sich  also  nicht  bloss  um  das 
subjective  Erscheinen  des  peripherischen  Nerven  Vorgangs  in  der 
Empfindung,  sondern  entsprechend  auch  um  das  objective  Er- 
scheinen des  fernen  einwirkenden  Gegenstandes.  Beide  Seiten 
aber  sind,  wie  Verf.  dieses  längst  nachgewiesen  und  namentUch 
in  seiner  neuesten  Schrift  (S.  162  ff.)  wieder  hervorgehoben 
hat,    im   Gegensatz   zur   mechanisch  -  atomisttschen   Theorie  in 


160  K.  Cb.  Planck: 

eineo)  und  demselben  allgemeinen  Grund  verhältuiss  der  Nalur 
begründet,  das  im  Lichte  nach  seiner  ursprünglichen  noch 
individuaiitatslos  universellen  Form  erscheint,  im  Psychischen 
aber,  und  zunächst  in  der  SinnesaufTassung^  in  seinem  subjectiv 
individuellen  Gegenbilde.  Nachdem  wir  daher  gesehen  haben^ 
dass  die  Erklärung  der  Sinnesanschauung  aus  einem  angeb- 
lichen causalgesetzlichen  Schlüsse  zu  den  übrigen  Schwierig- 
keiten der  mechanischen  Theorie  nur  einen  neuen  noch  härteren 
Widerspruch  hinzufügt,  und  dass  ebenso  aus  dem  empirischen 
Wesen  der  Sinnesempfindung  gegen  ihre  ursprüngliche  und 
unmittelbare  Einheit  mit  der  Raumanschauung  nichts  bewiesen 
werden  kann,  sondern  auch  dabei  wieder  schon  anderweitige 
Voraussetzungen  zu  Grunde  liegen,  so  gehen  wir  nun  auf  den 
letzten  Theil  unserer  Aufgabe,  auf  den  positiven  und  wahrhaft 
erschein ungsgemässen  Begiiff  der  Sinnesanschauung,  insbesondere 
des  Gesichtssinnes  ein,  um  dann  von  hieraus  den  inneren  Wider- 
spruch, namentlich  der  Kantischen  Auffassung,  aber  auch  über- 
haupt aller  erst  subjectiv  secundären  Erklärung  der  Sinnes-  und 
Raumanschauung,  noch  klarer  zu  machen.  Die  aligemein  natur- 
wissenschaftliche, wie  die  logisch  kritische  Begründung  unserer 
Gesammlansicht  können  wir  dabei  freilich  in  ihrer  genaueren 
Form  nur  von  anderwärts  voraussetzen  und  in  kürzester  Weise 
zusammenfassen. 

Zunächst  liegt  sie  in  dem  logisch-kritischen  Grundsatze  ^)r 
der  zugleich  auch  die  oberste  Grundthatsache  aller  äusseren 
Erscheinung  ist^  dass  stetig  nur  im  Zusammen. eines  quanti- 
tativen Unterschiedes  <  im  Zusammen  eines  Aussereinanders^ 
überhaupt  Etwas  oder  Realität  (in  diesem  wenn  auch  vorläufig 
nur  relativen  Sinne)  ist.  Denn  hierin  liegt  unmittelbar,  dass 
die  Ausdehnung  nicht,  wie  ein  unvollständiges  Denken  meint, 
ein  selbständig  äusserliches  und  beziehungsloses  Nebeneinander 
ihrer  Theile   ist,   sondern  gerade   umgekehrt  rein   unselb- 

*)  Ueber  die  Begründung  desselben  s.  „Log.  Causalgesetz**, 
S.  15 — 19,  sowie  den  Schlussabsehnitt  von  „Seele  und  Geist",  und 
namentlich  auch  von  dem  Programme  „Grundriss  der  Logik  als  Ein- 
leitung zur  Wissenschaftslehre",  1873. 


Sinnesanschauang  and  logisches  Caosalgesetz.  161 

ständige  und  absolutzusammengehdrige  innere  Ein- 
heit ihrer  Theile.  Da  nämlich  das  aneinander  Grenzende  stetig 
und  überall  nur  in  seinem  Zusammen  Etwas  ist»  so  ist  es 
hierin  eine  schlechthin  zusammengehörige  und  unzertrennliche, 
rein  und  stetig  ineinander  fliessende  Realität  Jeder  Theil  gehört 
ja  der  Realität  nach  rein  unselbständig  mit  den  andern  zu- 
sammen, ist  schlechthin  nicht  für  sich,  sondern  ein  rein  un- 
selbständiger innerer  Bestand  theil  des  Ganzen.  Er  ist  also  selbst 
gegen  weit  entfernte  Theile  desselben  nicht  äusserlich,  sondern 
ist  als  rein  unselbständiger  innerlicher  Bestandtheil  dieser  Ge- 
sammtrealität  in  ihnen  auf  wirksame  Weise  gegen- 
wärtig. Alle  Theile  sind  also  stetige  und  rein  unselbständig 
ineinanderwirkende  Zusammenfassung  mit  dem 
Ganzen,  und  diese  ist  als  eine  von  allen  Seiten  her  gleich- 
massige  ihre  innere  Concentrirung  (wie  wir  sie  empirisch, 
in  einer  schon  bestimmteren  und  individuelleren  Form,  in  der 
Schwere  sehen).  So  ist  jene  gegenseitige  reine  Einheit  der 
gesammten  Peripherie  einerseits  nur  im  Centrum  nach  ihrer 
Gesammtrealität  vorhanden,  ist  nur  hier  als  die  Gesammt- 
intensität  Aber  da  sie  ebenso  gegenseitige  unmittelbare 
Einheit  mit  der  ganzen  Peripherie  ist,  so  setzt  sie  sich  zu- 
gleich nach  allen  Seiten  über  d^s  Centrum  hinaus  fort,  als 
unmittelbare  innere  Einheit  desselben  mit  allen  Peripherieseiten. 
Und  so  ist  sie  vorerst  selbstloses  und  innerlich  universelles 
Hinaiiswirken  in  die  ganze  Peripherie,  Wärmestrahlung 
(gleichwie  schon  das  Centrum  selbst  als  reines  individualitäts« 
loses  Ineinanderwirken  reine  Wärme  ist). 

Aber  auch  die  eigene,  von  der  Peripherie  selbst  verschiedene 
und  insofern  gegen  sie  abgegrenzte  Intensität  des  Centrums 
muss  (da  sie  ja  nur  als  die  von  allen  Seiten  herein-  und  zu- 
sammenwirkende Einheit  der  Peripherie  ist),  von  jeder  Seite 
her  zugleich  in  unmittelbarer  relativer  Einheit  mit  der  herein- 
wirkenden entgegengesetzten  Peripherieseite  sein;  sie  muss  also 
nach  ihrem  gegen  sie  abgegrenzten  Wesen  oder  nach  ihrer 
fernen  Oberfläche  (denn  diese  ist  ja  die  Abgrenzung)  doch 
relativ  in  ihr  gegenwärtig   sein  oder  in  sie  herein  sehe  inen. 

VierteljaliTSBCbTift  f.  wiasenschaftL  Philosophie.    QI.  2.  11 


162  K.  Ch.  Planck: 

Denn  da  jede  Peripherieseite  mit  der  entgegengesetzten  im 
Centrum  als  unmittelbare  Einheit  zusammenwirkt,  so  ist  zwar 
nur  im  Centrum  ihre  beiderseitige  intensive  Einheit  vorhanden, 
aber  doch  muss  darin  jede  auch  noch  mit  dieser  hereinwirkenden 
entgegengesetzten  Peripherieseite  in  unmittelbar  gegenwärtiger 
relativer  Einheit  sein,  muss  nach  ihrer  intensiven  und  centralen 
Einheit  mit  ihr  wenigstens  in  sie  herein  seh  einen.  Und  eben 
diess  ist  ja  (ganz  der  Erscheinung  g^ynäss)  die  Natur  des 
Lichtes.  Dass  das  Centrum  ebensosehr  nur  die  gegenseitige 
innere  Einheit  der  Peripherie,  wie  doch  ebendann  der  geschiedene 
Gegensatz  zu  ihr  (zu  dem  blossen  Welträume)  ist,  diess  beides 
stellt  sich,  wie  schon  in  der  Wärmestrahlung,  so  noch  schärfer 
eben  im  Lichte  dar,  als  dem  blossen  Hinein  scheinen  in  die 
ganze  Peripherie.  Und  in  dieser  Natur  des  Lichtes  ist  also 
bereits  die  objective  Seite  der  Sehempfindnng  begründet,  das 
unmittelbare  Hereinscheinen  des  fernen  Gegenstandes  selbst  in 
das  Auge,  wenn  wir  auch  über  alles  Bestimmtere  dieser  physi- 
kalischen Seite,  Wesen  der  Farbe  u.  s.  w.,  auf  anderweitig 
Gesagtes  verweisen  müssen.  Nur  das  heben  wir  noch  hervor, 
dass  ebenso  wie  unserer  Nachweisung  zufolge  schon  das  logische 
Causalgesetz  Identitätsgesetz  ist,  so  nach  dem  Obigen  auch 
die  Grundform  des  realen  Causalzusammenhanges  (oder  ur- 
sprünghchen  Wirkens)  in  der  unmittelbaren  und  stetigen  reinen 
Einheit  oder  Identität  des  Aussereinanders  mit  sich  selbst 
liegt  ^),  und  dass  aus  dieser  unmittelbaren  inneren  Zusammen- 
ßissung  der  Wirklichkeit  mit  sich  selbst  auch  alle  erst  mittel- 
bare und  individuelle  Concentrirung  uiid  Wirksamkeit  ent- 
sprungen ist. 

Eben  darum  ist  aber  jenes  Grund verhältniss  auch  schon 
die  erste  nnd  vorbildliche  Begründung  des  Organischen  und 
seiner  innerlich  psychischen  und  geistigen  Einheit.  Schon  die 
Urform  der  StofHichkeit  selbst  ist  nach  dem  Obigen  nur  als  die 


^)  Ueber  die  tiefsiDiiige  Ahnung  dieser  Wahrheit  in  der  alten 
Philosophie  (Eleaten,  Heraklit  u.  s.  w.)  vgl.  „Log.  Causalgesetz^^ 
S.  114  ff.  und  das  hierauf  bezügliche  Programm  des  Verfassers. 


\ 


Sinnesanschauung  und  logisohes  Causalgesetz.  163 

unmittelbare  innerlich  concentrirte  Hervorbringung 
und  ala  rein  nndifferenorte  Keimform  gleich  der  organischen. 
Sie  ist  concenftrirte,  rein  ineinander  wirkende  Gesammtthätig- 
keit,  und  hierin  innerlich  unirerselle  Centrumseinheit  gleich  dem 
Geiste.  Und  sie  ist  von  dem  Organischen  und  Psychischen 
nur  dadurch  verschieden,  dass  in  ihr  jene  ineinander  wirkende 
Einheit  noch  eine  rein  aussehUeasende  und  individualitatslose 
ist,  während  das  Organische  diese  centrale  Einheit  schon  im 
Entgegengesetzt»!  9  innerhalb  der  individuellen  Stoiftheiie  und 
innerhalb  einer  immer  vollständigeren  Scheidung  von  Centrum 
und  Peripherie  verwirklicht.  Allein  indem  so  die  Natur  von 
Anfong  innerlich  concentrirte  Hervorbringung  oder  einheitlich 
zeugende  Macht  ist,  so  schhesst  sie  auch  die  Entwicklung  zur 
v(^en  und  consequenten  Form  selbständig  innerlicher  Ein- 
heit und  Concentrirung  in  sich.  Im  ursprünglichen  Grund- 
Verhältnisse  nämlich,  in  welchem  noch  die  Einheit  sämmtlicher 
Peripherietheile  mit  der  ganzen  Peripherie  das  Be- 
herrschende bleibt,  muss  ebendamit  auch  noch  die  expansiv 
warme  und  lichte  Hinausbeziehung  in  die  Peripherie  herrschen; 
sie  bleibt  also  in  den  Urkörpern  oder  Sonnen  die  äberwiegende 
Grundbeziehung.  Allein  die  intensive  innere  Zusammen- 
fassung ist  im  Gegensatz  hiezu  vielmehr  central  und  nach 
innen  gehend.  So  wie  sie  sich  schon  überhaupt  im  Centrum 
und  als  Gegensatz  gegen  die  Peripherie  verwirklicht,  so  erhält 
sie  auch  wiederum  innerhalb  des  Centrums  ihre  volle 
Consequenz  und  Wirkfichkeit  nur  in  der  rein  centralen  und 
ganz  nach  innen  wirkenden  Richtung.  Allein  er^  vom  Centrum 
selbst  aus,  wo  die  Theile  in  sich  schon  intensive  und  nach 
innen  strd>ende  Zusammenfossung  sind,  nicht  mehr  gleich  den 
ThdUen  des  Weltraums  (oder  der  Peripherie)  bloss  in  der 
UneiBwirkenden  Einheit  mit  dem  übrigen  Ganzen  ihre  intenätät 
haben,  kann  und  muss  auch  ebendesshalb  jenes  rein  centrale 
und  nach  innen  gerichtete  Streben  sich  geltend  machen.  Da 
es  aber  innerhalb  der  Urkörper  selbst  wegen  der  entgegen- 
gesetzten (peripherisch  heissen  und  lichten)  Grundbeziehung 
sich  nicht  verwirklichen   kann,  so  muss  es  sich  durch  selb- 


164  K.  Ch.  Planck: 

standige  Ausscheidung  aus  dem  Urkörper  bethäügen,  ab- 
eine  selbständig  neue  und  rein  nach  innen  zusammenstrebende 
Concentrirung^  die  im  GegensatE  zu  jener  urspröngtichen  un- 
mittelbar kosmischen  Hineinbeziehung  in  die  ganze  Peripherie 
nun  selbständig  für  sich  besteht. 

Wie  also  schon  alle  Stofflichkeit  nur  kraft  der  ineinander 
wirkenden  Zusammenfassung  oder  innerlich  concentrirten  Her- 
vorbringung ist,  so  sind  auch  diejenigen  Weltkörper,  welche  eine 
selbständig  nach  innen  gehende  und  ebendamit  individuelle 
Entwicklung  nehmen,  die  planetarischen  (im  weitesten  Umfange 
dieses  Wortes)  nur  durch  die  Consequenz  der  vollen  selbsülndig 
innerUchen  Concentrirung,  als  eine  selbständig  ausscheidende 
Geburt  aus  jenem  noch  individuabtätslosen  und  noch  von 
der  ursprünglichen  Gesammteinheit  beherrschten  Mutterschossie. 
Und  nur  kraft  dieses  Ursprunges  können  diese  Weltkörper 
in  ihrer  reifsten  Stufe  (wie  sie  in  unserer  Erde  vorhanden  ist), 
auch  die  vollendet  innerliche  Concentrirung,  die  organische 
und  geistige,  zu  ihrem  Entwicklungsziele  haben. 

So  sehr  nämhch  die  neue  Centrumsform  ihrem  Ursprünge 
nach  rein  centrale  Zusammenfassung  und  ebendarum  hinsicht- 
lich des  innern  Verhältnisses  ihrer  Theile  noch  individualitälslos 
glühendes  Ineinanderwirken  ist^  so  tritt  doch  eben  durch  die 
Ausscheidung  aus  dem  Urkörper  auch  ein  ganz  anderes  freieres 
Yerhältniss  ihrer  Theile  ein.  Diese  sind  ja  jetzt  nicht  mehr 
innerhalb  der  ursprünglichen  noch  rein  selbstlos  zusammen- 
fassenden Einheit,  sondern  sind  nach  der  Peiipherieseite  hin 
zugleich  frei  für  sich,  und  indem  jeder  in  sich  schon, 
nicht  bloss  in  seinem  Yerhältniss  zum  Ganzen^  Intensität  ist, 
so  müssen  sie  sich  je(zt  gegenüber  von  jeaev  einseitigen  an** 
fanglichen  Zusammenfassung  in  ihrer  relativen  Selbständigkeit 
geltend  machen,  als  selbstische  Zurückziehung  in  sich,  Erkaltung 
und  Verdunkelung.  Und  indem  in  dieser  Verselbständigung  der 
Theile  auch  die  innere  Einheit  derselben  sich  stetig  mit- 
behauptet und  so  selbst  zu  einer  individuellen  umbildet  (wenig- 
stens bei  den  planetarischen  Körperii  im  engeren  Sinne),  so 
entwickelt  sich  die  ganze  Reihenfolge  der  besonderen  Stoffe  als 


Sinnesanschauung  und  logisches  Causalgesetz.  165 

der  naiurlichen  Stufen,  welche  das  innere  Yerhaltniaa  der  Theile 
%H  ihrer  nun  gleichfalls  individuellen  Einheit  durchlauft.    Das 
nothwendige  Ziel  dieser  Entwicklung  aber  ist,  dass  auch  in  der 
individuellen  Losscheidung  und  Umbildung  schliesslich  die  ur- 
sprüngliche  und   beherrschende  innerlich  centrale  Einheit  der 
Theile,  die  als  ^e  noch  individualitatslos  warme  und  lichte 
(oder  innerlich  universelle)  im  unentwickelten  Kerne  des  Planeten 
vorhanden  ist,  sich  mitbehauptet  und  milverwirklicht.    Und  so 
geht  sie  nun  nicht  mehr  unmittelbar  in  sich  selbst  in  individuelle 
Theilform    über   (womit   sie   zu   irgend   welcher   unorganisch 
äusserlichen   Form    erlöschen    wurde),   sondern    sie    bethätigt 
sich  wieder  (gleich  dem  Ursprünge  des  Planelen  selbst)  als  aus- 
scheidender Concentrirungsact,  der  erst  mittelbar,  durch 
organisirendes   Ergreifen    der    schon   vorhandenen   indi- 
viduellen  Stoffe,   sein   inneres  Streben    nach   individueller 
Centrumsform  verwirklicht.    Diese  aber  kann  ihre  conse- 
quentere  Form  nicht  im  blossen  unmittelbaren  TheiUeben  haben, 
wie  in  der  Pflanze  und  im  nervenlosen  Thiere;  sondern  als 
innerlich  beherrschende  centrale  Einheit  setzt  sie  sich  dadurch 
erst  vollständiger,  dass  sie  sich  als  Nervensystem  mit  innerlich 
zusammenfassendem  Gentralorgan  von  der  bloss  vegetativen  Seite 
ihrer  LeibUchkeit  abscheidet    Und   da  jener  individualitatslose 
Kern  des  Planeten,  von  dem  diess  organisirende  Entwicklungs- 
streben ausgeht,    noch   innerlich   universelle,   von  aller 
besonderen  Theilbestimmtlieit  freie  Einheit  ist,  so  muss  sich 
diese  zuletzt  auch  in  ihrer  organisirenden  Thätigkeit  als  eine 
solche  Centrumsform  setzen,  die  ihrer  hödisten  Stufe  nach  von 
aller  unmittelbaren  Rückbeziehung  auf  die  besonderen  Theil- 
bestimmtheiten   ihres  Nervenlebens   geschieden,    und  insofern 
unsinnlich  universeile  oder  geistige  Zusammenfassungs- 
form ist. 

Innerhalb  des  Nervensystems  nun  ist  die  eigenthümliche 
innere  Einheit,  auf  welcher  das  psychische  Leben  ruht,  nach 
organisch^-stofflicher  Seite  zunächst  durch  das  stetige  chemische 
Ineinanderwirken  der  Theile  vermittelt.  Denn  wie  schon  die 
Stofilichkdt  selbst  ihrem  Ursprünge  nach  nur  die  rein  ineinander 


166  K.  Cb.  PU^k: 


^wirkende  Einheit  der  Ausdehnung  ist,  niobt  eine  fnr  gich  be- 
stehende   Substanz   (was,    wie    wir   anderwirts   nachgewiesen 
haben ^),  in  reine  Widerspruche  hineinführt),  so  ist  auch  die 
chemische  yeii>indung  der  indiriduellen  Stoffe  nur  ihr  erneutes- 
volles  Ineinanderwirken,  ihr  wahrhaftes  inaerffiches  sieh 
Durchdringen  (nicht ein  bloss  mechanisches  sich  Aneinander- 
lagem  kleinster  Theile),  wenn  auch  diess  Ineinanderwirken  als< 
von   Individuellem  ausgehend    selbst   wieder  zu   einem   neuen 
äusserlichen  Theildasein  erlöschen  muss.    Durch  die  stetig  in- 
einander wirkende  unselbständige  Offenheit  der  Theile,  zu  weicher 
die  Nervenmasse  in  spedfischer  Weise  organisirt  ist,   werden 
also   die  psychischen  Organe  zu   einer  individuellen  Er- 
neuung  der  ursprünglichen  noch  individuaUtatslos  ineinander 
wirkenden  Einheit  und  Concentrirung.     Sie  werden   selbst  zu 
einer  stetig  unmittelbaren  inneren  Einheit,  deren  Theilzustande 
ebendamit  auf  untersch^end  unmittelbare  Weise  Zustände  des 
übrigen   Ganzen   und   des   zusammenfassend«!   Ceniralorganes 
werden.  AHein  diess  ist  doch  nur  die  eigenthümliche  physische 
Seite  dieses  Yertiältnisses.    Dass  dagegen  die  Theilzustande  der 
Nervenzweige  innerlich   unterschieden  oder  empfunden 
werden,  diese  psychische  Natur  jenes  inneren  Einheitsver* 
hältnisses,  beruht  vielmehr  darauf,  dass  das  zusammenfiassende 
Centralorgan ,  unbeschadet  jener  innerlich  offenen  Einheit  mit 
den  Nervenzweigen,  doch  smner  organischen  Anlage  nach  zu- 
gleich ein  gegen  sie  abgegliedertes,  relativ  für  sich  bestehendes 
Ganzes  ist,  das  in  seinem  orgamsch-chemischen  Processe  zu-* 
nächst  in  sich  selbst  zu  jener  innerlich  offenen  Einheit 
zusammengefasst  ist,  und  von  hieraus  erst,  als  dieses   relativ 
besondere  Ganze,  mit  den   sensibeln  Nervenzweigen  in  jenem» 
organisch    offenen    inneren    Einheitsverhältniss    ist.     Dadurch 
kommen   ihm    die  Theilzustande   der   sensibeln  Nervenzweige- 
zugleich  in  der  Form  eines  Andern,  eines  von  ihm  selbst 
unterschiedenen    und   ebensosehr   ausser  ihm   liegenden 
Theilzustandes  zu.    Und   eben   diess  macht  ja  das  Wesen  der 


V  Vergl.  namentUdi  „^^g.  Cansidgesete^,  8.  16  ff. 


Silmetantchaaaog  und  logisches  Causalgesetz.  IQ'J 

siBiiHcheii  Empfindung  aus,  dass  das  Centralorgan  den  Zustand 
des  Nenrenzweiges  innerlich  als  seinen  Zustand  mitgelbeilt 
erhjdt,  und  doch  in  der  Form  eines  von  ihm  selbst  unter- 
schiedenen objeetiven  Theilzustandes.  Erst  durch  diese 
relative  Scheidung  also,  die  innerhalb  des  unmittelbaren  inner- 
lich offenen  Einheitsverhältnisses  vorhanden  ist,  wird  dasselbe 
in  die  subjective  Form,  in  die  der  innerlichen  Selbstunter- 
scheidung erhoben,  so  dass  aber  diese  hier  noch  bloss  in  der 
unmittelbaren  inneren  Beziehung  des  Centralorgans  auf  die 
sensibeln  Nervenzweige  selbst  vorhanden  ist.  Und  hiemit  erst 
ist  nun  auch  deutlich,  wie  dieses  Verhältniss  des  Centralorgans 
zu  den  peripherischen  Nervenzweigen  die  gegenbildlich  indivi- 
duelle Erneuung  jenes  oben  erörterten  anfanglichen  Grundver- 
hältnisses von  Gentrum  und  Peripherie  ist,  das  wir  in  Wärme- 
strahlung und  Licht  gefunden  haben.  Denn  in  diesem  ersten 
Grundverhältniss  der  Natur  ist  das  Gentrum  ungeachtet  seiner 
relativen  Scheidung  von  der  Peripherie  doch  individualitätslos 
universelle  Hineinbeziehung  in  diese,  ist  noch  rein  unselbständige 
innere  Einheit  mit  ihr.  Das  empfindende  Gentralorgan  hingegen 
ist  in  seiner  innerlich  offenen  Einheit  mit  den  Nervenzweigen 
doch  zugleich  in  organisch  individueller  Weise  gegen  sie  ab- 
gegliedert, und  so  erhält  jetzt  jenes  selbstlos  lichte  Hinein- 
scheinen in  die  Peripherie  sein  individuelles  Gegenbild  an  dem 
subjectiven  Erscheinen  des  peripherischen  Nervenzu- 
standes  im  Gentralorgane. 

Nach  diesem  rein  erscheinungsgemässen  Begriffe  der  Em- 
pfindung ist  also  dieselbe  identisch  mit  dem  in  seiner  vollen 
innerlichen  Natur  erkannten  organischen  Vorgange  selbst.  Es 
kann  nicht  mehr,  wie  bei  der  äusserlich  mechanischen  Auf- 
fassung desselben,  von  einem  blossen  Reize  und  einer  sub- 
jectiven Reaction  auf  denselben  die  Rede  sein,  sondern  der 
psychische  Vorgang  ist  in  unzertrennlicher  Weise  eins  mit  dem 
leiblich-räunUicheiiy  und  jene  schon  oben  bekämpfte  Trennung 
der  intensiven  Seite  der  Empfindung  (als  einer  angeblich  punk- 
tuellen) von  der  räumlich  extensiven  Seite  ^  wornach  sie  un- 
mittelbar eine  Mehrheit  von  Theilzuatänden  in  sich  enthält,  zeigt 


168  K.  Cfa.  Planck: 

sich  jetzt  in  ihrer  ganzen  Unhaltbarkeit.  Indem  z.  B.  die  Haut- 
fläche und  durch  sie  das  Nervenorgan  des  Tastsinnes  eine  Ein- 
wirkung erleidet,  so  n^ird  dabei  das  raumhch-örtliche  der  Ein- 
wirkung kraft  jener  stetigen  innerlich  offenen  Einheit,  die  in 
den  Nerven  stattfindet,  in  einer  von  der  intensiven  Eigenthnro- 
lichkeit  des  Nervenzustandes  unzertrennlichen  Weise  zu  einer 
inneren  Bestimmtheit  des  Centralorganes  und  damit  zum  In- 
hah  der  suhjectiven  Unterscheidung.  In  einer  noch  ungleich 
schärferen  Weise  wird  hei  dem  Auge  (zufolge  der  specifischen 
Natur  dieses  Sinnes)  die  räumlich  -  örüiche  Seite  der  im  Auge 
sreRenwärtigen  Licht-  und  Farbenerscheinung  zugleich  mit  deren 
eigenthiimUch  quahtativer  Natur  zum  unmittelbaren  Inhalt  des 
ganzen  Nervenzustandes  und  des  Centralorganes.  Denn  auch  in 
seinem  Yerhältniss  zur  äusseren  Einwirkung  ist  ja  der 
Nervenzustand  (hier  und  bei  allen  Sinnesorganen)  ein  inner- 
lich offener,  kein  gegen  die  Einwirkung  mechanisch  äusser- 
licher^  so  dass  ebendamit  die  specifische  Natur  des  Einwirkenden 
in  ihm  offenbar  werden  kann.  Und  wenn  auch  z.  B.  *der  Seh- 
nerv selbst  kein  durchsichtiges  Medium  für  die  Fortpflanzung 
des  Lichtes  ist;  so  werden  doch  kraft  seiner  innerlich  offenen 
und  unselbständigen  Einheit  mit  den  durchschienenen  Theilen 
der  Netzhaut  die  örtlichen  Theilzustände  dieser  zu  unmittelbaren 
Zuständen  des  ganzen  Nervenorgans.  Die  Erklärung  mittelst 
sogenannter  Localzeichen,  welche  bei  dem  Begriffe  des  blossen 
mechanischen  Reizes  und  der  suhjectiven  Reaction  auf  den- 
selben zu  Hilfe  genommen  werden  muss,  erweist  sich  also  als 
ein  künstlicher  Nothbehelf,  der  nur  durch  eine  dualistische 
Trennung  des  psychischen  Vorganges  von  dem  organischen  und 
durch  eine  demgemässe  Verkehrung  der  Empfindung  in  eine 
falsche  subjective  Selbstthätigkeit  herbeigeführt  wird.  Die  in- 
teressante Entdeckung  des  sogenannten  Sehpurpurs  der  Netz- 
haut, in  welchem  durch  chemische  Einwirkung  die  Licht-  und 
Farbenerscheinung  selbst  sich  ihrer  eigenthumlichen  Natur  ge-  < 
mäss  abbildet,  gibt  von  der  äusseren  physischen  Seite  her 
unmittelbar  die  Erklärung  davon,  wie  das  Hereinscheinen  des 
Gegenstandes  in  das  sensible  Organ  zu  einem  hereinwirkenden 


SinnesanscbaauQg  und  logittohes  Causalgesetz.  169 

Zustand  des  ganzen  Nerven  und  des  Centralorgans  werden  kann. 
Und  zugleich  ist  diese  Entdeckung  eine  vollständige  Bestätigung 
derjenigen  Ansicht,  die  wir  schon  fHlher  über  die  Art  der 
Licht-  und  Farbeneinwirkung  aufgestellt  haben  ^),  so  wie  nament- 
lich auch  unsere  Auffassung  der  Rothblindheit  und  überhaupt 
der  unterscheidenden  Natur  und  Wirkung  des  Roth  (im  Gegen- 
satz gegen  die  bekannte  Helmholtz-Young'sche  Hypothese)  da- 
durch vollständig  bestätigt  wird,  dass  eben  das  Roth  auf  den 
Sehpurpur  am  schwächsten  einwirkt  Denn  so  liegt  also  der 
lebhafte  Eindruck  des  Roth,  wie  wir  es  a.  a.  0.  ausgeführt 
haben,  nicht  nach  der  Seite  der  erregenden  physischen  Ein- 
wirkung, sondern  der  subjectiven  Auffassung  des  Centralorganes, 
welche  das  eigenthümliche  objecti  ve  Erscheinungswesen 
des  Roth  selbst  inne  wird. 

Dadurch  nämlich,  dass  die  Empfindung  mit  dem  in  seiner 
vollen  innerlichen  Natur  erfassten  Wesen  des  organischen  Vor- 
ganges selbst  identisch  ist,  wird  die  relative  Selbständigkeit  der 
subjectiven  Auffassung  im  Centralorgan^  wie  Verf.  dieses  gleich- 
falls längst  dargethan  hat'),  durchaus  nicht  aufgehoben.  Sondern 
eben  die  eigene  höhere  Natur  des  organischen  Verhältnisses,  das 
durch  jene  relative  Scheidung  des  Centralorgans  zu  einem  inner- 
lich subjectiven  erhoben  ist,  begründet  auch  die  relativ  selb- 
ständige und  von  der  Art  der  blossen  physischen  Einwirkung 
selbst  so  vielfach  abweichende  Form  der  subjectiven  Auffassung 
(z.  B.  bei  dem  einfach  Sehen  mit  den  zwei  Augen,  bei  der 
Auffassung   des   Grössemasses,  und   der  Entfernung   u.  s.  w.). 


^)  Anthropologie  und  Psychologie,  S.  87  ff.,  92  ff.,  und  „Seele 
und  Geist'S  S.  434  ff.,  451—456. 

')  In  gleicher  Weise  hat  er  vor  allem  auch  hinsichtlich  der 
geistigen  Thätigkeiten  gezeigt,  dass,  so  sehr  sie  auch  nur  in  und 
mit  organiiehen  sich  vollsiehen,  sie  desshalb  nicht  weniger  geistig 
freie  sind,  da  der  Geist  (und  analog  das  ganse  Seelenleben)  eben 
durch  die  hÖhexe  innerliche  Natur  seiner  Organisation  in  Frei- 
heit gesetzt  ist  gegen  die  niedrere  bloss  physische  Seite  der  or- 
ganischen Processe,  von  weicher  der  Materialismus  das  Seelenleben 
abhängig  macht. 


170  K.  Ck  PUnek: 

Und  80  hat  denn  Verf.  dieses  gerade  in  seiner  neuesten  Schrift 
selbst  (&  155  —  61) ,  so  sehr  säe  die  Erklärung  der  Sinnes- 
anschanung  aus  einem  causalgesetdichen  Verstand^sacte  bekämpft, 
doch  in  nachdräcklicber  und  angehender  Weise  ausgeführt, 
dass  es  nicht  die  vereinzelte  objective  ErscheinungsfiNrm 
ist,  die  als  solche  auch  zur  Empfindung  wird,  sondern  dass 
die  Erscheinung  immer  nur  theils  nach  ihrem  objectiv  gegebenen 
und  bedingenden  Gesammtzusammenhang,  theils  gemäss 
der  Gesammtheit  der  eignen  subjectiven  Anlage  und 
Lebensgewohnheit  (d.  h.  der  unbewusst  ihrer  früheren 
Bestimmtheit  gemäss  fortwirkenden  Nacherinnerung)  auf- 
gefasst  wird.  Nach  dieser  Seite  liegt  das  Wahre  an  der  jetzigen 
Theorie.  Allein  alle  die  mannigfachen  subjectiTen  Abweichungen 
der  Sinnesauffassung  von  der  blossen  physischen  Einwirkungs- 
form begründen  doch  nicht  jenen  subjectiv  idealistischen  Ur- 
sprung der  Sinnesanschauung  überhaupt,  sondern  erklären  sich 
(wie  wir  a.  a.  0.  und  anderwärts  nachgewiesen  haben)  voll- 
kommen gerade  aus  der  wahrhaft  objectiven  und  naturgetreuen 
ursprunglichen  Gesammtnatur  der  Sinnesempfindung.  Dass  die 
ganze  Grundform  unserer  Sehempfindung,  die  Erscheinung 
einer  räumlich  entfernten  Oberfläche,  erst  Sache  der  auf 
den  Reiz  hin  reagirenden  subjectiven  Thätigkeit  sei,  diess  ist 
ebenso  wenig  aus  jenen  subjectiven  Abweichungen  zu  be- 
gründen, als  es  mit  dem  Wesen  der  logisch  causalgesetzUchen 
ThäÜgkeit  und  mit  dem  wahren  Bepiffe  der  betreffenden 
Naturformeu  selbst,  des  Lichtes,  der  Farben  u.  s.  w.  zu  ver- 
einigen ist.    , 

Und  jetzt,  nachdem  wir  in  dem  wahrhaft  naturgemässen 
Grundbegriffe  der  Sinnesempfindung  feststehen  und  ihre  volle 
innerlich  leidentliche  Naturbedingtheit  erkannt  haben,  jetzt 
machen  wir  uns  den  reinen  Widerspruch,  in  welchem  sich  die 
Kantische  Auffassung  der  Raumanschauung  und  jede  erst 
subjectiv  secundäre  Erklärung  derselben  bewegt,  vollkommen 
deutlich.  Ein  Innewerden  eines  Räumlichen,  eine  inner- 
liche Unterscheidung  desselben ,  ist  die  Ranmanschauung,  oder 
(nach  objectiver  Seite  ausgedrückt)  ein  inneres  Erscheinen  eines 


SiiinesaDschainiiig  und  logisches  Cansalgesetz.  171 

Räumlicheii.  Wie  Usst  üch  diess  ftonsi  irgend  denkea,  als  so, 
daw  sie  inneiüche  Einheit  mit  einem  Rftumlichen  ist?  Eben 
darin  besteht  ja  die  Ansehauung,  dass  das  Räomliobe  in  der 
Form  eines  vom  Subjeet  Unterschiedenen,  ihm  EntgegengesetHen 
und  ausser  ihm  Liegenden,  doch  zugleich  ihm  innerlich  ist  und 
in  diesem  Sinne  in  ihm  hereinwirkt.  Und  eben  diess  haben 
wir  oben  aus  der  innerlich  organischen  Natur  der  Empfindiing 
und  aus  den  entgegengesetzten  Seiten  erklart,  welche  die  inner- 
lich offene  Einheit  des  Gentralorgans  mit  den  sensibehi  Nerven- 
zweigen  in  sich  schliesst.  Darauf  antwortet  man  nun  freilich 
von  Kantischer  Seite,  diess  Räumliche,  mit  dem  das  Subjeet  in 
solcher  Einheit  ist^  sei  selbst  nur  subjective  Erscheinung.  Das 
heisst  also,  es  ist  kein  vom  Subjeet  unabhängiges  Hereinwirken 
eines  Objectiven,  gegenüber  von  welchem  das  Subjeet  sich 
wahrhaft  leidentlich  und  empfanglich  verhielte,  sondern  es  rAhrt 
vom  Siibjecte  selbst  her.  In  welcher  Weise  also?  Als  ein  im 
Subjeet  selbst  auf  unmittelbare  leidentliche  Weise  vorhandener 
Unterschied?  Wäre  diess  der  Sinn,  dann  wäre  nur  dasselbe 
gesagt,  was  auch  wir  wollen,  dass  das  psychische  Subjeet  selbst 
eine  objectiv  räumliche  und  organische  Seite  in  sieh  schtiesst, 
die  ihm  in  dieser  innerlichen  Weise  erscheint.  Da  diess  aber 
nicht  der  Sinn  sein  soll,  so  bleibt  durchaus  nichts  übrig,  als 
dass  jenes  Räumhehe  selbst  nur  durch  die  Thätigkeit  des 
Subjects,  durch  den  Act  des  innerlichen  Unterscheidens  selbst 
in  ihm  erscheint,  (mag  nun  dieser,  wie  bei  Kant,  als  mne  schon 
ursprüngliche  und  unmittelbare  Auffassungsform  gedacht  werden 
oder,  wie  in  der  jetzigen  Theorie,  als  eine  erst  empiristisch 
vermittelte  und  entstandene).  Damit  aber  sind  wir  an  jenem 
gewaltsamen  Widerspruch  angelangt,  den  das  Fichte'sche  Ich 
auf  sich  nehmen  wollte,  und  an  dem  es  zu  Grunde  gegangen 
ist,  dass  das  reine  Subjeet  selbst,  das  doch  nur  naturlose  Thätig«- 
keit  sein  soll,  sich  dennoch  in  sich  selbst  als  diesen  Gegensatz, 
als  diese  erscheinende  innere  Leidentlichkeit  setzt  Ist  es  nun 
der  reine  Widerspruch,  dass  das  naturiose  und  unraumliche 
Subjeet  sich  von  sich  selbst  aus  als  jene  innerlich  leidentliche 
und   empföngliche  Einheit    mit   einem   Räumlichen  setze,    so 


172  K.  Ch.  Planck: 

bleibt  nur  das  Andere  übrig,  dass  diesdbe  eine  wahrhaft  ob- 
jective  und  empfänglich  leidenüiche  Naturbediogtheit  im  Sub- 
jecte  selbst  ist,  jene  oben  erklärte  innerlich  organische  Ein- 
heit, in  wddier  Psyclüsches  und  raumlich  Leibliches  auf  un- 
zertrennliche Weise  eins  ist,  und  welche  wir  als  gegenbildliche 
Erneuung  des  ursprunglichen  Grundverhältnisses  der  Natur  er- 
kannt haben. 

Zu  dem  Obigen  kommt  nun  aber  noch  die  Durch- 
einanderwirrung  ganz  ^verschiedener  psychischer 
Stufen  und  Gebiete,  zu  wdcher  die  Kantische  Auffassung  der 
Raumanschauung  und  jede  ihr  ähnliche  führt  Denn  nach  dieser 
Theorie  wäre  also  schon  die  unmittelbare  Sinnesauffassung  selbst, 
vor  allem  die  unmittelbare  Sehemp6ndung,  diess  Innewerden 
einer  räumlich  objecliven  Erscheinung^  nur  als  ein  selbstthätig 
subjectiver  schaffender  Act,  als  ein  rein  psychisches,  wenn 
auch  durch  irgend  welche  (rein  intensive)  Einwirkungen  ver- 
anlasstes Produciren  zu  denken.  An  die  Stelle  einer  leidentlich 
empfänglichen,  organisch  innerlichen  Naturbedingtheit,  als  welche 
die  Sinnesanschauung  sich  darstellt,  würde  jener  rein  schaffende 
und  unsinnlich  selbstthätige  Act  treten.  Denn  unsinnKch  wäre 
er  ja,  sofern  er  rein  innerlich  psydiischer  Art  wäre  (wenn 
auch  durch  weiche  Einwirkungen  von  unbekannter  rein  inten- 
siver Art  veranlasst).  Demnach  würde  hier  schon  die  unmittel- 
bare Sinnesauffassung  zu  einem  gleichen  rein  selbständig  inner- 
lichen Acte,  wie  es  die  sinnliche  Einbildungskraft  ist;  ja 
sie  wäre  insofern  »och  selbständiger  als  diese,  weil  sie  ja  das 
sinnliche  Raumbild  rein  schaffen  würde,  während  die  Ein- 
bildungskraft immer  nur  am  Inhalt  früherer  Sinnesauffassungen 
das  Material  ihrer  Thätigkeit  hat.  Der  Stufennnterscfaied  der 
unmttelbaren  Sinnltchkeit  (oder  unmittelbaren  Reziehung  auf  die 
Nervenzustände)  und  des  sinnlichen  Rewusstseins,  weldiem 
die  Erinnerung  und  Einbildungskraft  angehört,  würde  also  auf- 
gehoben. Schon  die  unmittelbare  Sinnesauffassung  würde  zu 
einer  räumlich  ordnenden  und  nach  dieser  Seite  rein  schaffenden 
Einbildungskraft.    Und  so  wird  bei  Kant  in  widersinniger  Yer- 


Sinnesaoachauung  and  bgiiches  Causalgeaetz.  X78 

kehrung  da»  reine  Subject,  diese  innerlich  centrale  Einheit,  sum 
Prindp  aller  räumlichen  und  mtliehen  Verausserlicfaung  und 
sondernden  Auseinanderiegung  gemacht,  statt  dass  umgekehrt 
das  Aussereinander  in  seiner  stetigen  reinen  Zusammengehörig- 
keit und  Zusammenfiissung  als  die  Grundlage  und  Quelle  des 
innerlich  Centralen  erkannt  wäre. 

Allein  nicht  weniger  als  der  Unterschied  der  sinnlichen 
Stufen  wird  auch  der  Gegensatz  der  unsinnlich  geistigen  Thätig- 
keits-  und  Unterscheidungsformen  von  den  sinnlichen  aufge* 
hoben.  Denn  schon  die  Raum-  und  Zeitanschauung  wird  ja 
zu  einem  rein  selbstthätigen  Acte  verkehrt,  der  durchaus  kein 
empfanglich  passives  Innewerden  eines  realen  zeitlichen  und 
räumlichen  Unterschiedes  in  sich  schliesst,  sondern  diese  Formen 
erst  selbstthätig  hervorbringt.  Und  so  wird  dieser  Act  zu  einem 
unsinnlichen,  obgleich  er,  in  reinem  Widerspruch  damit,  eben 
die  Grundformen  alles  Sinnliehen  zu  seinem  schaffenden  Inhalt 
haben  soll  Kein  Wunder,  wenn  bei  einer  solchen  idealistischen 
Aufhebung  und  Durcheinanderwirrung  aller  organisch  psychischen 
Stufenunterschiede  auch  schon  jene  ordnende  „Synthesis^  der 
sinnlichen  Einbildungskraft  als  eine  unbewusst  durch  die  logi- 
schen Kategorieen  bestimmte  und  beeinflusste  gedacht  wird,  oder 
wenn  bei  Schopenhauer  die  Sinnesanschauung  selbst  vollends 
zu  einem  schaffenden  Yerstandesade  verkehrt  wird,  der  gemäss 
dem  (empiristisch  mbsverstandenen  und  veräusserlichten)  logi- 
schen Causalgesetze  die  erscheinende  Gegenstandsform  erst  her- 
vorbringen soIL  Die  jetzige  Theorie  aber,  mit  ihrer  auch  von 
Zeller  vertretenen  Erklärung  der  Sinnesanschauung  aus  soge- 
nannten unmittelbaren  Schlüssen^  (obgleich  dieselbe  nicht  all- 
gemein getheilt  wird),  zeigt  ja  auch  nach  dieser  Seite,  in  diesem 
Zusammenwerfen  der  unmittelbaren  Sinnesauffassung  mit  einer 
unsinnlieh  intelligibeln  Thätigkeit,  wie  sehr  sie  in  dieser  idealisti- 
schen Aufhebung  und  Yermengung  der  organisch -psychischen 
Stufenuntei-schiede  mit  Kant,  Schopenhauer  u.  s.  w.  überein- 
stimmt. 

Gegenüber  von  all  diesen  bisher  erörterten  Widersprüche  i 
und  dieser  Yermengung   ganz    verschiedenartiger  Stufen   und 


174  K.  Ch.  Planck: 

Gebiete  hatten  wir  daran  fest,  data  nur  durch  de»  oben  ent-* 
wickelten  Begriff  der  Sinnesempfindiing  und  Sinnesanachauuog, 
sowie  andererseits  des  logischen  Causaigesetaes,  in  gleicher  Weise 
der  wahrhaflen  Natur  und  Erscheinung,  wie  der  roll- 
ständigen  Scheidung  des  Geistigen  und  LogisdMu  von  allem 
Sinnlichen  und  Empirischen,  ihr  volles  Recht  wird.  Nur  von 
jener  obigen  Grundanschauung  aus  erscheint  schon  der  erste 
Anfang  der  Natur,  diess  scheinbar  Aeusseiüchste  und  Selbst« 
loseste,  in  seiner  innerlich  centralen  und  zum  Geiste  hinaielenden 
Einheit.  Nur  so  wird  ferner  auch  der  organische  Nerven-  und 
Gehirnvorgang  nach  seiner  vollen  innerlich  psychischen  Natur 
erkannt  im  Gegensatz  zu  seiner  mechanischen  Veräusseriichung; 
und  nur  so  wird  endlich  in  der  Sinnesempfindung  selbst,  wie 
in  der  ganzen  objectiven  Natur  ^  die  wahrliafte  Erscheinung 
wieder  in  ihr  Recht  eingesetzt,  im  Gegensatz  gegen  jene  wider- 
sprechende Wdt  idealistischen  Scheines,  zu  welcher  die  jetzige 
Sinnestheorie  und  die  mechanische  Auffassung  der  Grundformen 
der  Natur  sie  gemacht  hat  Und  doch,  eben  indem  so  die 
Wurzel  des  Geistes  in  der  vollen  Natur  selbst  erkannt  ist,  tritt 
er  zugleich  auch  erst  in  seiner  vollen  Reinheit  und  Scheidung 
von  allen  niedreren  und  sinnlichen  Thatigkeiten  hervor  Er 
ist  als  diejenige  innere  Zusammenfassungs-  und  Unterscheidungs* 
form  erkannt,  wetohe  im  Gegensatz  zu  aller  Sinnlichkeit  und 
allem  sinnlichen  Bewusstsein  (sinnlicher  Erinnerung  und  Ein- 
bildungskraft) kraft  ihrer  ganzen  organischen  Abgliederung  und 
Centrumsstufe  von  aller  unmittelbaren  Beziehung  auf  die  be- 
sonderen T  h  e  i  1  bestimmtheiten  (d.  h.  Nervenzustfinde  und  Sinnes- 
empfindungen) geschieden  und  frei  ist,  und  ebendamit  wieder 
innerlich  universelle  Einhdt  ist,  gleich  der  anfauchen 
Grundform  der  ganzen  Natur-  und  Erdentwickelung.  Und  nur 
so  kann  dann  auch  das  Logische  in  seiner  ganzen  inhaltslos 
formalen  Reinheit,  aber  d>endamit  auch  in  seiner  univer- 
sellen (auf  keine  empirisdie  Beziehung  beschränkten)  Gilligkeit 
und  Bedeutung  zum  Bewusstsein  kommen,  und  ihm  gegen- 
über wiederum  das  Reale  als  das  nothwendige  Gegentheil  der 
blossen  logischen  Einheit,   als   der  unendliche  stetige  Unter- 


Sinnesanschauung  und  logisches  Caosalgesetx.  175 

jBchied,  in  welchem  aber  die  Einheit  und  Identität  selbst  erst 
zu  realer  Kraft  kommt,  als  seine  innere  centrale  Zusammen- 
fassung. Kurz  nach  allen  Seiten  ergibt  sich  das,  was  das  Ziel 
der  neueren  wissenschaftlichen  Entwickelung  ist,  das  wahrhaft 
realistische  und  mit  der  voUen  Natur  geeinigte  Gegenbild  jenes 
▼on  der  Natur  noch  entfremdeten  und  mittelalterlich  idealisti- 
schen Bewusstseins ,  das  in  der  Kantischen  Kritik  seinen  Aus- 
druck fand. 

Biaubeuren.  K.  Ch.  Planck. 


Zur  Entwiokeliing  der  Willensäusserungen  im 

Thierreioh. 


Erster  Artikel. 

Ein  Versuch,  sammtliche  Willensäusserungen  oder  eine 
Gruppe  derselben  auf  eine  Grundform  zuruckzufühi*en  und  die 
phylogenetische  Entwickelungsreihe  derselben  zu  zeigen,  war 
vor  der  Kenntniss  der  biologischen  Entwickelungsgesetze,  welche 
bei  der  Entwickeiung  der  Organformen  zur  Geltung  kommen, 
nicht  gut  möglich,  ist  aber  auch  nach  unserem  Bekanntwerden 
mit  diesen  Gesetzen  bis  jetzt,  meines  Wissens,  noch  nicht  ge- 
macht worden. 

In  ihrer  psychologischen  Werthigkeit  sind  die  Willens- 
äusserungen zum  Nahrungserwerb,  zum  Sdiutz,  zur  Liebes- 
werbung und  Brutpflege  noch  nicht  einmal  systematisirt,  ge- 
schweige, dass  deren  allmälige  Entstehung  und  Entwickeiung 
gezeigt  worden  wäre.  Wir  haben  ein  System  aller  animalischen 
Bewegungen,  also  auch  der  wiUkührlichen,  von  Job.  Müller, 
aber  das  ist  ein  System  in  Rücksicht  der  physiologischen 
Werthigkeit  Die  Eintheilung  der  sog.  thierischen  Kunsttriebe 
von  Reimarus.  aber  hat  nur  noch  historisches  Interesse. 

Um  die  Willensäusserungen  der  verschiedenen  Thiere  be- 
urtheilen  zu  können,  ist  es  unbedingt  nothwendig,  deren  Be- 
ziehungen zu  einander  zu  kennen.  Wenn  schon  die  einzelnen 
Organformen  ohne  Kenntniss  der  Entwickelungsreihen  unver- 
ständlich sind,  so  gilt  das  noch  vielmehr  von  dem  psycholo- 
gischen Werth  einer  Willensäusserung;  denn  die  morpholo- 
gischen Gebilde  können  wir  noch  unmittelbar  mit  den  Sinnen 
wahrnehmen  y  von  dem  Willen  resp.  Trieb  eines  Thieres 
beobachten  wir  nur  den  äusseren  Effect.    Es  würde  aber  sehr 


Zur  Entwickeluug  der  WilieusäusseruDgen  im  Thierreich.    177 

übereilt  und  falsch  sein,  wenn  man  nach  jedem  verschiedenen 
Effect  einer  willkührlichen  Bewegung  auf  einen  anderen  Willen 
schliessen  wollte.  Der  äussere  Erfolg  ist  abhängig  von  den 
morphologischen  Verhältnissen  eines  Thieres  und  diese  sind 
Producte  der  Selection.  Wie  wir  in  vorliegender  Arbeit  sehen 
werden,  kann  ein  und  dieselbe  Bewegung,  die  Gontraction 
des  gesammten  Körpers:  1)  ein  Entfernen  vom  Ort  der 
Gefahr,  2)  ein  Bergen  der  feineren  Organe,  3)  ein  Zurück- 
ziehen in  die  schätzende  Hülle,  4)  sogar  ein  Auspressen  von 
Vertheidigungsmitteln  u.  a.  m.  zur  Folge  haben.  Wollte  man 
nun  den  Willen  der  verschiedenen  Thiere  nach  dem  äusseren 
Effecte  beurtheilen,  so  müsste  man  im  ersten  Falle  annehmen, 
das  Thier  sei  sich  bewusst,  dass  es  sich  durch  Entfernung  vom 
Ort  der  Gefahr  vor  dieser  retten  könne,  im  zweiten  Falle 
musste  man  dem  Thiere  ein  Bewusstsein  davon  zuschreiben 
1)  welches  die  feineren  Organe  sind,  2)  dass  diese  am  meisten 
gefährdet  sind  und  3)  dass  durch  deren  Beschädigung  das 
Thier  am  meisten  verliert;  im  dritten  Falle  musste  man  glauben, 
das  Thier  habe  ein  Bewusstsein  von  der  Werthigkeit  seiner 
Hülle  und  von  der  Zweckmässigkeit  seines  Zurückziehens;  und 
im  vierten  Fall  müsste  man  gar  ein  Bewusstsein  nicht  nur  vom 
Vorhandensein  der  Waffen,  sondern  auch  von  deren  Werthig- 
keit resp.  deren  Wirkung  voraussetzen.  Damit  kämen  wir  aber 
dahin,  schon  bei  den  niedersten  Thieren,  nämlich  bei  den 
Protozoen  und  Zoophyten  klare  Vorstellungen  und  Ideenver- 
bindungen anzunehmen. 

Die  wissenschaftliche  Wertlüosigkeit  der  meisten  bisherigen 
Beu^theilungen  thierischer  W^illensäusserungen  hat  ihren  Grund 
zum  grossen  Theil  darin,  dass  man  dieselben  nach  dem  äusseren 
Erfolg,  nach  ihrer  Zweckmässigkeit  beurtheilt  hat  Nun  hatte 
man  ganz  Recht,  wenn  man  bei  den  niederen  Thieren  nicht  die 
klaren  Reflexionen  über  die  relative  Zweckmässigkeit  der  Be- 
wegungen voraussetzte,  wie  solche  beim  Menschen  in  den 
meisten  Fällen  stattfinden,  und  so  kam  man  auf  die  Theorie 
des  Instinktes.  Auch  Brehm,  der  uns  ja  das  meiste  Material 
an  Beobachtungen  über  Thiergewohnheiten  gesammelt  hat,  weiss 

Vierteljahrssclirift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.  III.  2.  ]2 


178  O.  H.  Schneider: 

dieselben  aber  nicht  nach  deren  psychologischen  Werthigkeit  zu 
beurlheilen,  und  aus  diesem  Grunde  hat  sein  Werk  ?erhältniss- 
massig  wenig  wissenschaftlichen  psychologischen  Werth.  Brehm 
geht  der  Annahme  vom  Instinkte  zu  Leibe/  fallt  aber  in  den 
anderen  Fehler,  alle  Gewohnheiten  der  Thiere  für  zweck- 
bewusste  zu  halten.  Das  kommt  nur  daher,  weil  er  sie  einzig 
nach  ihrer  Zweckmässigkeit,  nach  dem  äusseren  Effecte  beurtheilt. 

Die  Erhaltung  der  Art  erweist  sich  als  der  Endzweck  aller 
thierischen  Bewegungen ,  und  insofern  als  der  Effect  einer 
Willensäusserung  diesem  Endzwecke  dient,  ist  allerdings  der 
Zweck  einer  Bewegung  nicht  die  Bewegung  selbst,  sondern  der 
äussere  Erfolg  derselben.  Dass  aber  dieser  Effect  ein  zur  Er- 
haltung der  Art  (wozu  natürlich  auch  die  Erhaltung  des  Indi- 
viduums bis  zu  einer  gewissen  Zeit  nöthig  ist)  zweckmässiger 
ist,  das  hat  seinen  Grund  nicht  immer  in  den  Reflexionen  eines 
Thieres,  sondern  in  den  meisten  Fällen  liegt  die  Ursache  hierzu 
in  der  Selection.  Die  Folgen  der  Selection  sind  eben  nicht  nur 
die  alleinige  Erhaltung  der  relativ  zweckmässigen  Organe  und 
physiologischen  Funktionen,  sondern  auch  der  zweckmässigen 
Willensäusserungen.  —  Dass  die  Zweckmässigkeit  des  Effectes 
einer  Bewegung  sehr  oft  ihre  Ursache  in  der  Selection  hat, 
geht  schon  daraus  hervor,  dass  dieser  Effect  ganz  und  gar 
durch  die  morphologischen  Gebilde  bedingt  ist  und  man  diese 
selbst  als  durch  die  Selection  entstandene  annehmen  muss. 

Um  aber  die  Bewegung  und  somit  den  Trieb  resp.  Willen 
kennen  zu  lernen,  welcher  einem  Effecte  zu  Grunde  liegt,  ist 
es  nothwendig  diejenige  Bewegung  aufzufuhren,  welche  ver- 
schiedenen Effecten  gemeinsam  zukommt.  Das  ist  die  *eine 
Aufgabe  vorliegender  Arbeit.  Eine  andere  Aufgabe  ist  die,  zu 
zeigen,  dass  alle  verschiedenen  Schutzbewegungen,  auch  solche, 
denen  verschiedene  Triebe  zu  Grunde  liegen,  sich  aus  einer 
Grundform  entwickelt  haben,  dass  die  verschiedenen  Triebe 
Differenzirungsprodukte  eines  urspräuglich  einzigen  Triebes 
sind.  Dabei  kommt  von  selbst  zugleich  die  Frage  zur  Er- 
ledigung, innerhalb  welcher  Thierklasse  eine  solche  Willens - 
differenzirung  zuerst  deutlich  zu    erkennen   ist,   welche   gewiss 


Zar  Entwickelung  der  WillensäusserungeQ  im  Thierreicb.    179 

för  die  yergleichende  Psychologie  ebenso  grosse  Bedeutung 
hat,  als  die  Gewissheit  voin  ersten  Auftreten  bestimmter  Organe 
für  die  yergleichende  Anatomie. 

Die  Besprechung  der  Differenzirungen  soll  sich  aber  in 
vorliegender  Arbeit  nur  auf  die  Triebe  beschränken,  welche 
sich  direkt  aus  der  Grundform  entwickeln. 

Es  werden  also  folgende  Fragen  zu  beantworten  sein: 

1)  Welches  ist  die  Grundform  der  Schutzbewegungen,  und 
ist  diese  eine  willkührliche? 

2)  Welche  verschiedenen  Effecte  sind  auf  diese  Grundform 
und  den    sie   bedingenden   Grundtrieb   direkt  zurückzuführen? 

3)  Welche  anderen  Triebe  und  Bewegungen  diiTerenziren 
sich  direkt  aus  der  Grundform ,  und  in  welchen  Thierklassen 
ist  diese  Differenzirung  zuerst  deutlich  erkennbar? 

Hierzu  will  ich  gleich  im  Voraus  bemerken^  dass,  wenn 
auch  die  meisten  hier  zur  Sprache  kommenden  Thatsachen  den 
Zoologen  bereits  bekannt  sind,  ich  es  doch  nicht  unterlassen 
habC;  alle  diese  Beobachtungen  auch  selbst  anzustellen,  sie  also 
sämmtlich  zu  conlroliren  und  zwar  von  den  oben  angeführten 
Gesichtspunkten  aus,  da  die  meisten  Beobachtungen  hierüber 
bisher  ohne  bestimmten  psychologischen  Gedanken  gemacht 
wurden,  wobei  dann  oft  das  wichtigere  Element  übersehen  und 
Unwichtigeres  festgehalten  wurde.  Aus  letzterem  Grunde  ist 
von  dem  ungeheuren  Material,  welches  z.  B.  Brehm  über 
Thiergewohnheiten  gesammelt  hat,  nur  weniges  für  eine  wissen- 
schaftliche vergleichende  Psychologie  zu  verwerthen.  Zu  einer 
solchen  Verwerthung  müssen  alle  Gewohnheiten  noch  einmal 
von  den  oben  besprochene  i  Gesichtspunkten  aus  beobachtet 
werden;  wozu  ich,  soweit  dieselben  besonders  Seethiere  be- 
treffen, an  Kreta's  Küste  und  in  Neapel  reichliche  Gelegenheit 
gehabt  habe.  — 

Wie  das  Prinzip  aller  physiologischen  Vorgänge  in  einem 
Thiere  und  überhaupt  in  einem  Bion  ein  zweifaches  ist,  näm- 
lich ein  centrifugales  und  centripetales,  resp.  ein 
Prinzip  des  Abgebens  und  Aufnehmens;  so  lasst  sich  auch, 
wenigstens  bei  den  niedersten  Thieren,  in  den  Willensäusserungen 

12* 


180  <^*  H.  Schneider: 

nur  ein  doppeltes  Prinzip  beobachten,  ein  expansives  und 
contractives;  und  nach  meiner  individuellen  Ansicht  lassen 
sich  alle  Willensausserungen  auch  der  höchst  entwickelten  Thiere 
aus  diesen  beiden  BewegungsprinapieU;  resp.  aus  zwei  Trieben, 
einem  Expansionstriebe  und  Contractionstriebe 
ableiten. 

Der  Contractionstrieb  bildet  nun  die  Grundlage  alles 
WoUens  zum  Selbstschulze,  und  die  Contraction  des  ge- 
sammten  Körpers,  wie  wir  sie  bei  den  niedersten  Thieren 
beobachten,  ist  die  Grundform  aller  Schuizbe- 
wegungen,  und  zwar 

i)  weil  sie  die  Schutzbewegung  ist,  welche  in  der  phylo- 
genetischen Entwickelungsreihe  zuerst  auftritt  und  bei  den 
niedersten  Thieren  Oberhaupt  die  einzig  vorhandene  bildet; 

2)  weil  sie  die  einzige  Schutzbewegung  ist,  welche  in 
irgend  welcher  Formabänderung  in  allen  Thierklassen  von  den 
Protozoen  bis  zum  Menschen  vorkommt; 

3)  weil  sich  die  übrigen  Schutzbewegungen  direkt  oder 
indirekt  aus  ihr  differenziren.  — 

Die  niederen  Protozoen  (Moneren,  Amoeben  und  Rhizo- 
poden)  zeigen  nur  primitive  Willensäusserungen  zur  Nahrungs-^ 
suche  und  zum  Schutze,  ersteren  liegt  das  expansive,  letzteren 
das  conti*active  Prinzip  zu  Grunde. 

Zur  Nahrungssuche  und  Ortsbewegung  hierzu  stülpen  die 
Moneren  und  Amoeben  eine  oder  mehrere  Partien  des  Proto^ 
plasmas  aus,  und  die  Rhizopoden  dehnen^  wie  bekannt,  einen 
Theil  der  Sarkode  zu  einer  Menge  Pseudopodien  aus,  die  nach 
Ha  ekel  u.  a.  Zoologen  nur  als  weiter  entwickelte  homologe 
Formen  der  primitivsten  pai*tiellen  Verlängerungen,  wie  wir  sie 
bei  den  Moneren  beobachten,  zu  betrachten  sind,  und  mit  Hilfe 
deren  die  Thiere  sowohl  Ortsbewegungen  ausführen,  als  auch 
tastend  nach  Nahrung  umhersuchen.  Um  bei  der  Nahrungs^ 
suche  möglichst  vielseitige  Berührungen  mit  andern  Körpern  zu 
bekommen,  werden  möglichst  viele  Sarkodefaden  gebildet  und 
diese  im  Yerliältniss  zur  Körpergrösse  ungemein  lang  ausgestreckt 

Wird  dagegen  ein  Rhizopod  unangenehm  berührt,  so  zieht 


Zar  £ntwickelang  der  WilleDsimsserangen  im  Thierreich.    Igl 

ev  zum  Schutze  alle  ausgestreckten  Theile  zuräck  und  zu  einem 
leblos  scheinenden  Klümpchen  zusammen.  Das  ist  die  einzige 
Scbutzbewegung,  der  er  überhaupt  fähig  ist. 

Wenn  auch  bei  dem  grössten  Theile  des  ganzen  Thier- 
reiches  die  Lokomotion  sowohl  zur  Nahrungssuche,  wie  auch 
zum  Schutze  (Flöchten)  stattfindet,  so  gilt  das  doch  nicht  von 
den  Rhizopoden,  die  sich  überhaupt  nur  sehr  langsam  zu  be- 
wegen vermögen  und  zwar,  wieHäckeP)  beobachtet  hat,  und 
wie  auch  ich  es  gesehen  habe,  in  ganz  analoger  Weise,  wie  die 
Echinodermen,  besonders  die  Echiniden,  indem  sie  ihre  Pseudo- 
podien wie  diese  ihre  Ambulacralfusschen  anheften  und  durch 
Contraction  ders^ben  den  übrigen  Körper  nachziehen.  Solch 
langsame  Lokomotionen  sind  zur  Flucht  schon  gar  nicht  ge* 
eignet y  sondern  können  nur  die  Nahrungssuche  bezwecken; 
und  für  den  Selbstschutz  bleibt  also,  wie  bemerkt,  nur  das 
Zusammenziehen. 

Bemerkenswerth  ist  jedenfalls  die  Thatsache^  dass  man  die 
rein  physiologischen  Bewegungen  von  den  Willensäusserungen 
auch  bei  diesen  niedersten  Thieren  schon  deutlich  unterscheiden 
kann ;  und  dass  beide  bis  zu  einem  gewissen  Grade  unabhängig 
von  einander  sind.  Als  physiologische  Bewegung  ist  die  con- 
tinuirliche  Sarkodeströmung  von  beiden  Seiten  der  Pseudo* 
podien  zu  betrachten,  welche,  da  sie  diesen  Fäden  entlang  geht 
und  an  deren  Spitzen  sich  von  8er  einen  auf  die  andere  Seite 
fortsetzt,  eine  centrifugale  und  centripetale  zugleich  ist,  und 
augenscheinlich  dazu  dient,  in  ihrer  centripetalen  Richtung 
Nahrungspartikelchen  dem  Körper  zuzuführen  und  in  ihrer 
centrifugalen  Richtung  die  Sekretionen  fortzuschaffen,  gleichwie 
bei  den  entwickelteren  Thieren  das  Blut  die  aufgenommene 
Nahrung  allen  Theilen  des  Körpers  zuführt  und  zugleich  die 
Sekretionen  mit  fortnimmt  und  in  den  betreffenden  Organen 
zur  Weiterschaffung  abgiebt. 

Die  Willensäusserungen  dagegen  bestehen  in  dem  Aus- 
strecken resp.  partiellen  Verlängern  der  Sarkodemasse  zu  den 


^  Häckel:  „Die  Radiolarien"  S.  181—132. 


182  O.  H.  Schneider: 

feinen  fadenförmigen  Pseudopodien,  in  deren  hin  und  her  tasten- 
dem Suchen  nach  Nahrung,  in  dem  Zusammenziehen  der  Sar- 
kode zum  Schutz  und  in  dem  Anheften  der  Fäden  und  den 
Contractionen  derselben  zur  Lokomotion. 

Hier  könnte  man  freilich  die  Frage  auf  werfen,  ob  die 
letzteren  Bewegungen  in  der  That  willkuhriiche  sind,  also  auf 
einem  Tiieb  beruhen,  oder  nur  automatische,  von  denen  das 
Thier  nichts  fühlt.  Das  einfache  Ausstrecken  und  Zusammen- 
ziehen könnte  allerdings  auch  nur  eine  physiologische  Ursache 
haben  ;  ja,  das  Zusammenziehen  zum  Schutze  macht  nicht  nur 
bei  den  Rhizopoden,  sondern  auch  bei  den  Wimperinfusorien, 
bei  allen  Zoophyten,  den  Holothurien,  Gasteropoden  und  den 
meisten  Würmern  den  Eindruck*  einer  automatischen  und* 
wenn  man  will,  einer  rein  mechanischen  Bewegung;  und  zeigten 
die  Thiere  ihr  Bewusstsein  nicht  bei  ihren  Bewegungen  zur 
Nahrungssuche  und  Liebeswerbung,  so  würde  ich  nichts  gegen 
die  Ansicht  Hacke Is  sagen,  nach  welcher  die  Bewegungen 
dieser  niederen  Thiere  auf  gleiche  Stufe  mit  den  Bewegungen, 
welche  bei  Pflanzen  vorkommen,  zu  stellen  sind.  Auf  jeden 
Fall  hat  Häckel,  der  wohl  die  meiste  Kenntniss  der 
niederen  Thiere  besitzt,  richtig  beobachtet,  dass  deren  Be- 
wegungen sich  bedeutend  von  denen  der  höheren  Thiere  unter- 
scheiden. Das  tastende  Umhersuchen  dagegen ,  welches  auch 
ich  sehr  deutlich  schon  an  Rldiolarien  beobaclitet  habe,  sowie 
das  Ausstrecken  der  Pseudopodien,  Anheften  und  die  Con- 
traction  derselben  zur  Ortsbewegung  ist  nicht  aus  physiologi- 
schen Ursachen  allein  zu  erklären. 

Es  ist  nicht  der  Zweck  vorliegender  Arbeit  auf  die  Unter- 
schiede der  Pflanzenbewegungen  und  derjenigen  der  niederen 
Thiere  näher  einzugehen;  aber  soviel  sei  hier  bemerkt,  dass 
ein  Umhersuchen  durch  so  lebhatles  Hin-  und  Hertasten,  wie 
es  die  Rhizopoden  zeigen,  und  wie  es  sich  in  den  verschiedeil- 
sten  Formen  durch  alle  Thierklassen  fortsetzt,  dass  ein  augen- 
scheinliches Suchen  nach  einer  Beziehung  zur  Aussen  weit  ohne 
besonderen  äusseren  Reiz  bei  keiner  Pflanze  vorkommt  Sind 
aber  die  Bewegungen   zur  Nahrungssuche  auch  bei  den  Proto- 


Zur  EntwickeluDg  der  Willensäusaerungen  im  Thierreicb.  183 

zoen  schon  willkübrliche ,  so  haben  wir  keinen  Grund ,  der 
Schutzbewegung  den  Charakter  einer  bewussten  Action  ab- 
zusprechen, um  so  mehr,  als  sich  dieselbe  Bewegung,  nur  in 
gewissen  Modificationen^  in  allen  Thierklassen,  zum  gleichen 
Zwecke  ausgeführt,  wiederfindet,  und  dort  zweifellos  eine  be* 
wusste  ist. 

Aber  diese  Thiere  haben  ja  weder  Sinnesorgane  noch 
überhaupt  Nerven! 

Wenn  wir  allerdings  nicht  wussten^  dass  sich  die  Proto- 
zoen auch  ernährten  und  fortpflanzten  ohne  besonders  differen- 
zirte  Organe  hierzu,  dann  würden  wir  auch  nicht  berechtigt 
sein,  eine  Zustandsunterscheidung,  d.  h.  ein  Fühlen  oder 
Empfinden  bei  denselben  für  möglich  zu  halten  ohne  Nerven- 
apparate ;  denn  das  Reaguren  auf  einen  Reiz  ist  ja  noch  kein 
Beweis  für  das  Vorhandensein  einer  Bewusstseinserscheinung* 
So  sehen  wir  aber,  dass  alle  vegetativen  Funktionen  stattfinden 
ohne  besondere  morphologische  DitTerenzirungen  hierzu ;  warum 
soll  nun  nicht  auch  ein  Fühlen,  ein  Spüren  irgend  welcher 
Zustandsveränderung  ohne  Nerven  stattfinden  können,  umsomehr 
als  wir  bei  der  Nahrungssuche  der  Thiere  deutlich  wahr- 
nehmen, dass  sie  gewisser  Unterscheidungen  fähig  sind,  ohne 
welche  Fähigkeit  das  Tasten  keinen  Zweck  hätte,  gar  kein  Tasten 
genannt  werden  könnte? 

Max  Schultze^)  sagt  sehr  richtig:  „Die  von  mehreren 
Seiten  erhobenen  Zweifel  gegen  die  Existenz  einer  organischen 
Substanz,  welche,  ohne  deutlich  faserig  zu  sein,  ausgezeichnete 
Contractilität  besitze,  empfinde ^  und  auf  die  Empfindungen 
reagiren  könne,  ohne  dass  besondere,  von  den  Muskelfasern 
verschiedene,  empfindende  Organe  in  derselben  differenzirt 
seien,  werden  durch  die  unbefangene  Beobachtung  des  Spides 
der  Gromia-  und  anderer  Foraminiferenfortsätze  gänzlich  be- 
seitigt/' 

Sowohl  das  Ausstrecken  zur   Nahrungssuche   als  auch  das 


^)  Max  Schultze:   „Ueber  den   Organismaa  der  Polytha]a< 
mien"  S.  16—17.    Leipzig  1854. 


184  G.  H.  Schneider: 

Zusammenziehen  zum  Schutz  Seitens  der  Rhizopoden  können 
ivir  also  ohne  Bedenken  als  willkührliche  Bewegungen  be- 
trachten, freilich  nicht  in  dem  Sinne,  dass  diese  Thiere  eine 
Vorstellung  vom  Zwecke  derselben  hätten,  wohl  aber  in  der 
Bedeutung  4  dass  sie  einen  Trieb  zur  Ausführung  dieser  Be- 
wegungen fühlen.  Dass  aber  mit  einer  unangenehmen  Be- 
rührung der  Trieb  zum  Zusammenziehen  und  bei  Nahrungs- 
mangel der  Trieb  zum  Ausstrecken  entsteht,  diese  zweck- 
mässigen Verhältnisse  müssen  wir  uns  durch  die  Selection  ent- 
standen denken,  so  gut  als  andere  zweckmässige  Erscheinungen 
der  Lebewesen.  — 

Das  Zusammenziehen  hat  hei  den  Moneren  und  Amoeben 
nur  einen  Effect,  nämlich  die  Entfernung  der  angegriffenen 
Theile  vom  Ort  der  Gefahr.  Bei  den  Rhizopoden  dagegen  ist 
dieser  Effect  bereits  ein  mehrfacher.  Es  entfernen  sich  nicht 
nur  durch  die  Contraction  die  unangenehm  berührten  Theile 
vom  Ort  dieser  Berührung,  sondern  es  werden  auch  die  Sar- 
kodefaden eingezogen  und  so  also  die  feineren  tastenden  Theile 
der  Sarkode  geborgen;  und  da  die  Foraminiferen  ein-  oder 
mehrkammerige  Schalen  und  die  Radiolarien  Kieselgitter  gleich- 
sam als  schützende  Hüllen  ausscheiden,  in  denen  sich  immer 
die  Hauptmasse  des  Körpers  befindet,  und  in  welche  die  Sar- 
kodefäden zurückgezogen  werden,  so  ist  das  Zusammenziehen 
zugleich  ein  Zurückziehen  in  die  schützende  Hülle. 

Dieser  dreifache  Effect  wird  aber  nur  durch  eine  einzige 
Bewegung  erzielt ,  durch  die  einfache  Contraction  des  ganzen 
Körpers,  und  es  ist  klar,  dass  diese  eine  Bewegung  auch  nur 
durch  einen  undifferenzirten  Schutztrieb  verursacht  wird,  während 
die  Mannigfaltigkeit  des  Effectes  durch  die  Organisation  resp. 
morphologische  Beschaffenheit  der  Thiere  bedingt  ist. 

Bei  den  meisten  Wimperinfusorien  fällt  der  eine  Effect, 
das  Zurückziehen  in  schützende  Hüllen,  einfach  deshalb  weg, 
weil  diese  Thiere  keine  Hüllen  bewohnen.  Um  so  eclatanter 
sind  die  beiden  anderen  Effecte,  die  sich  besonders  schön  bei 
den  Vorticellen  und  Stentoren  beobachten  lassen.  Wird  ein 
Vorticellenstöckchen  unangenehm  berührt,  so   fahrt  das  schön 


iZur  Entwickelang  der  Willensäusserangen  im  Thierreich.    ]g5 

:aasgebreitete  Glockenbäumchen ,  wie  bekannt,  zu  einetn  un- 
förmigen Klumpen  zusammen;  damit  werden  aber  die  Glocken- 
Ihiere  in  einem  Augenblicke  sehr  weit  vom  Ort  der  Gefahr 
entfernt;  und  zu  gleicher  Zeit  werden  die  grossen  Wimpern, 
welche  das  Peristomfeld  umgeben  ^  eingelegt.  Derselbe  Effect 
entsteht,  wenn  sich  ein  angehefteter  und  lang  ausgestreckter 
:Slentor  plötzlich  zusammen-  und  sich  damit  nach  der  Anhefte- 
stelle  zurückzieht. 

Nun  ist  das  Entfalten  der  Wimpern  und  Strudeln  mit  den- 
selben vom  Ausstrecken  des  öbngen  Körpers  offenbar  unab- 
hängig, und  der  Expansionstrieb  ist  bei  den  Wimperthieren 
also  in  einen  Strecktrieb  und  Strudeltrieb  differenzirt,  ja,  man 
kann  ausserdem  noch  einen  Schwimmtrieb  und  Tasttrieb  unter- 
scheiden, da  alle  die  betreffenden  Bewegungen  in  verschiedener 
Weise  und  in  gewissem  Grade  unabhängig  von  einander  aus- 
geführt werden.  Während  aber  der  Nahrungs-  resp.  Expan- 
sionstrieb so  weit  differenzirt  ist,  so  scheint  der  Schutz-  resp. 
Contractionstrieb  noch  ein  einfacher^  undifferenzirter  zu  sein; 
denn  ich  habe  nie  beobachtet,  dass  ein  Wimperthier  zum 
Schutze  nur  die  Wimpern  einlege  oder  nur  den  übrigen  Körper 
2usammenziehe.  Handelt  es  sich  in  der  That  um  den  Schutz 
bei  irgend  welcher  unangenehmen  Berührung,  so  erfolgt  immer 
Beides  zugleich;  mit  der  Gontraction  des  Körpers  erfolgt  das 
Einlegen  der  Wimpern,  wie  es  scheint,  von  selbst^  ohne  dass 
hierzu  noch  ein  besonderer  Trieb  nötbig  wäre.  Das  hat  aber 
nichts  Befremdendes,  weil  sich  der  Nahrungstrieb  überhaupt 
früher  weiter  entwickelt  als  der  Schulztrieb,  wie  ja  auch  der 
Nahrungstrieb  der  Rlnzopoden  sich  schon  in  einen  Streck-, 
Lokomotions-  und  Tasttrieb  differenzirt  hat,  während  der 
Schutztneb  der  einfachen  Bewegung  nach  noch  ein  einziger, 
undifferenzirter  ist. 

Aber  sdbst  bei  den  Zoophyten,  speziell  bei  den  KoraDen- 
ihieren,  ist  das  Zusammenziehen  des  Körpers  und  das  Einziehen 
der  Tentakeln  im  Allgemeinen  psychologisch,  wie  es  scheint, 
noch  nicht  gelrennt;  mit  der  Gontraction  des  Körpers  ziehen 
sich  immer  zugleich  die  Tentakeln   zusammen.     Dass  sie  dabei 


186  G.  H.  Schneider: 

ganz  eingezogen  und  von  der  lederartigen  Oberhaut  des  Thierei» 
ganz  überdeckt  und  so  voUkommen  geschätzt  werden,  darf 
man  nicht  als  ein  Bestreben  des  Thieres  deuten,  sie  zu  bergen, 
sondern  das  liegt  in  der  Organisation  resp.  in  der  Stellung  der 
Tentakeln  und  in  der  Art  und  Weise,  in  welcher  die  Con- 
traction  verlauft,  nach  welcher  die  Theile,  die  sich  beim  Aus* 
strecken  zuletzt  herauskehren,  nämlich  der  Mund  und  die 
nächste  Umgebung,  zuerst  und  am  meisten  zurückgezogen  werden. 
Trotzdem  aber  bei  der  Nahrungssuche  ^die  Tentakeln  Be- 
wegungen ausführen,  welche  von  einer  Expansion  und  Con* 
traction  des  übrigen  Körpers  ganz  unabhängig  sind,  so  beobachtet 
man  dagegen,  dass  bei  der  Schutzbewegung  die  Contraction  de» 
Körpers  und  das  Einziehen  der  Tentakeln  immer  zusammen 
erfolgt  Berührt  man  nur  leise  eine  Tentakel,  so  ist  bei  dem 
geringen  Reiz  natürlich  auch  der  Contractionstrleb  sehr  gering^ 
wie  ja  eine  solche  graduelle  Yerscliiedenheit  schon  bei  den 
Protozoen  zu  beobachten  ist,  es  zieht  sich  dann  diese  Tentakel 
etwas  zurück,  während  die  anderen  mehr  oder  weniger  ihre 
Stellungen  behalten;  aber  zu  gleicher  Zeit  kann  man  eine,  wenn 
auch  noch  so  geringe  Contraction  des  ganzen  Körpers  wahrnehmen, 
Ist  endlich  die  Berührung  eine  äusserst  vorsichtige  und  leise, 
und  findet  sie  nur  an  einer  Tentakelspitze  statt,  so  erfolgt  zwar 
nur  das  Zurückbiegen  dieser  Spitze;  allein  in  diesem  Falle  hat 
das  Thier  auch  höchst  wahrsch^nlich  keinen  Schutztrieb,  son- 
dern die  Berührung  ist  dem  Thier  nur  insofern  nicht  gleich- 
giltig,  als  es  gewöhn  l  ist,  die  Tentakeln  frei  im  Wasser  schweben 
zu  lassen  und  dieselben  von  jedem  festen  Körper,  den  sie  he-* 
rühren,  zu  entfernen,  falls  dieser  nicht  ein  Nahrungsobjekt  ist. 
Bei  den  freischwimmenden  Coelenteraten  ist  nun  allerdings 
ein  von  der  allgemeinen  Körpercontraction  unabhängiges  Zu- 
sammen- resp.  Zurückziehen  der  Tentakeln  und  Fangladen  zu 
beobachten,  so  dass  man  hier  auch  eine  anianglidie  Dilfferen- 
zirung  des  Contractionstriebes  annehmen  kann;  allein  wegen 
der  eigenthümlichen  Organisation  dieser  Thiere  vermag  man 
über  dieses  Bewegungsverhältniss  nicht  sicher  zu  urtheilen.  Die 
Quallen  sind,  abgesehen  von  der  Schwimmbewegung,  überhaupt 


Zur  EntwickeluDg  der  WiUeiuiiasserungeD  im  Thierreich.  187 

keiner  stärkeren  Confraction  fähig,  und  bei  den  Siphonophoren 
sind  ja  die  einzelnen  Organe  zugleich  selbststandige  Individuen. 

Die  so  weit  degenerirten  Spongien  erinnern  in  ihrer  Con- 
traction  der  Sarkode  mehr  an  die  Rhizopoden,  als  an  ii*gend 
welche  andere  Thiere. 

Die  freischwimmenden  Coelenteraten  und  Rorallenthiere 
haben  nun  aber  noch  ein  anderes  Schutzmittel  ausser  der  Con- 
traction  an  sich,  das  ist  das  Yerthddigen  mit  den  Nesselorganen. 
Die  wichtigste  Funktion  dieser  Gebilde  ist  wohl  das  Vergiften 
kleinerer  Beutethiere;  allein  da  sich  die  Nesselkapseln  bei  jed- 
weder Berührung  entladen,  so  dienen  sie,  ohne  dass  das  Tfaier 
vielleicht  das  geringste  Bewusstsein  davon  hat,  zugleich  als  Ver- 
theidigung.  Die  Mesenteriallllamente  der  Actinien  sind  aus- 
schliesslich zu  letzterem  Zwecke  vorhanden.  Dieselben  werden, 
wie  auch  ich  das  so  oft  beobachtet  habe,  bei  jedesmaligem 
starken  Zusammenziehen  überall  aus  dem  Körper  herausgepresst 
Ob  aber  die  beiden  verschiedenien  Vorginge,  die  Contraetion 
und  das  Heraustreten  der  Nesselbatterien,  auch  psychologisch 
verschieden  sind  und  auf  einem  zweifachen  Triebe  beruhen,  ist 
nicht  sicher  festzustellen.  Es  hat  mir,  wenn  ich  solche  Tliiere 
reizte,  zuweilen  scheinen  wollen,  als  ob  das  Austreten  der 
Mesenterialfilamente  nicht  allein  vom  Zusammenziehen  des  Kör- 
pers abhängig  wäre^  indem  sie  zuweilen  sofort  ausgepresst 
wurden  und  in  anderen  Fällen  wieder  nicht  zum  Vorschein 
kamen,  wenn  auch  der  Körper  bereits  sehr  stark  zusammen- 
gezogen war;  allein  diese  Verschiedenheit  kann  auch  an  mor- 
phologischen Verhältnissen  liegen.  Im  Allgemeinen  erfolgt  das 
Heraustreten  der  Nesselbatterien  erst  bei  stärkerer  Contraetion 
und  macht  den  Eindruck,  als  ob  es  eine  unmittelbare  Folge 
der  Contraetion  sei.  Als  ich  mir  einst  eine  grosse  Anzahl  von 
Eupagurus  Pridanxii,  welche  mit  Adamsien  versehen  waren,  in 
meinem  Privataquarium  in  Neapel  hielt,  um  näher  zu  unter- 
suchen, auf  welche  Weise  der  Einsiedlerkrebs  die  U^bersiede- 
lung  der  Adamsia  zu  Stande  bringt^  beobachtete  ich  sehr  ofl, 
dass,  wenn  ich  den  Krebs  attakirte,  er  die  Actinie  mit  einer 
Scheere  in    deren    Tentakelkranz    kneipte;   und   darauf  traten 


188  G.  H.  Sehneider: 

jedesmal  die  Waffen  des  Blumenthieres  heraus,  weil  sich  in 
Folge  dieser  Behandlung  Seitens  des  Krebses  das  Thier  sehr 
stark  zusammenzog. 

Es  könnte  noch  die  Behauptung  aufgestellt  werden,  dass 
das  Thier  die  Contraction  nur  als  Mittel  zum  Zweck  benutze. 
Auf  diesen  Gedanken  kann  man  kommen,  wenn  man  die 
Willensäusserungen  nur  nach  dem  äusseren  Effect  der  Be* 
wegungen  beurtheilt.  Bei  dem  grössten  Theile  der  niederen 
Thiere  ist  das  Zusammenziehen  die  einzige  Schutzbewegung^ 
deren  sie  fähig  sind;  und  die  zwedimässigen  äusseren  Erfolge 
derselben  sind  nur  als  unbewusste  Effecte  zu  betrachten,  von 
denen  es  auch  gar  nicht  nothwendig  ist,  dass  sie  den  Thieren 
bewusst  sind ;  sie  kommen  in  dem  einen  Fall  so  gut  zu  Stande, 
wie  in  dem  andern.  Der  Trieb  zur  Contraction  genügt,  nach- 
dem ein  Thier  so  oder  so  organisirt  ist,  um  sich  auf  diese  oder 
jene  Weise  schätzen  zu  können.  So  haben  wir  auch  das  Aus- 
pressen der  Waffen  Seitens  der  Actinien  wohl  nur  als  einen 
äusseren  Effect  der  Contraction  anzusehen,  was  noch  mehr  ein- 
leuchten wird,  wenn  wir  jetzt  die  Effecte  betrachten,  welche  die 
einfache  Contraction  bei  den  Echinodermen ,  Wurmern  und 
Mollusken  zur  Folge  hat. 

Es  ist  bekannt,  dass  die  Röhren holothurie,  wenn  man  sie 
in  die  Hand  nimmt  oder  sie  in  Spiritus  thut,  im  ersten  Fall 
zuweilen,  im  letzten  Fall  fast  immer  die  ganzen  Eingeweide 
zum  Mund  berauspresst  Dieser  merkwürdige  Vorgang  nimmt 
nach  meinen  Beobachtungen  folgenden  Verlauf.  Nimmt  man 
das  Thier  aus  dem  Wasser,  so  zieht  es  sich  einfach  zusammen 
ganz  in  der  Weise  wie  die  Actinien.  Die  nächste  unmittelbare 
Folge  davon  ist,  dass  das  aufgenommene  Wasser  in  weitem 
Strahle  ausgespritzt  wird,  ähnlich  wie  ja  die  Muscheln  auch 
beim  plötzlichen  Schliessen  ihrer  Schale  das  Wasser  im  Strahle 
auspressen.  Es  wäre  jedenfalls  sehr  naiv,  wenn  man  annehmen 
wollte,  das  Thier  ziehe  sich  zusammen  mit  der  Vorstellung, 
den  Angreifer  dadurch  voll  zu  spritzen.  Der  Wasserstrahl  ist 
eben  nur  ein  unmittelbarer  und  unbewusster  Effect  der  Con- 
traction.   Behält  man  nun  die  Holothurie  noch  länger  in  der 


Zur  Entwickelung  der  WillensäusseroikgeQ  im  Thierreich*   lg9 

Hand  und  reizt  sie  womöglich  noch  besonders,  so  wird  die 
CkMStraetion  immer  iatensiyer;  und  was  geschieht  nun?  Es  tritt 
die  bekannte  milchweise  klebrige  und  ungemein  haftende  Substanz 
ausy  mit  welcher  man  in  Ekel  erregender  Weise  besudelt  wird,  und 
die  sich  sehr  schwer  wieder  entfernen  lässt  Da  diese  Substanz 
kleineren  Thieren  auch  den  Tod  bringt,  wie  ich  beobachtet 
habe,  weil  sich  dieselben  nicht  wieder  los  machen  können,  und 
da  jedenfalls  auch  allen  grösseren  Seethieren  so  gut  wie  dem 
Menschen  diese  klebrige  Hasse  unangenehm  ist,  so  ist  das  Aus- 
pressen dieser  Substanz  als  ein  Vertheidigungsmittel  zu  be* 
trachten.  Diese  Vertheidigung  ist  aber  ebensowenig  bewusster 
Zweck  der  Coniraction,  als  es  das  Wasserausspritzen  ist,  son- 
dern kann  eben  nur  als  ein  unbewusster,  zweckmässiger,  durch 
die  Seleclion  erworbener  Effect  des  bewussten  Zusammen- 
ziehens betrachtet  werden. 

Quält  man  nun  die  Holothurie  noch  weiter  oder  wirft  sie 
zur  Tödtung  in  Spiritus,  so  steigert  sich  die  Intensität  der  Con- 
traction  noch  mehr  und,  jedenfalls  gegen  das  Interesse  des 
Thieres,  bis  zu  einem  solchen  Grad,  dass  schliesslich  die  Ein- 
geweide zum  Mund  herausgepresst  werden.  Von  diesem  Effect 
der  Contraction  wird  nun  Niemand  mehr  behaupten  wollen, 
dass  er  ein  dem  Thiere  bewusster  Zweck  sei;  denn  es  kann 
unmöglich  im  Interesse  des  Thieres  liegen,  die  feineren  Organe, 
welche  allgemein  im  Thierreiche  bei  irgend  welcher  Gefahr  so 
viel  wie  möglich  geborgen  werden,  blos  zu  legen  und  den  An- 
griffen auszusetzen,  während  sie  im  Leibe  durch  die  derbe 
lederartige  Haut  des  Tliieres  sehr  gut  geschützt  sind.  Sobald 
ich  eine  Röhrenholothurie  nur  einige  Zeit  in  die  Hand  nahm, 
wurde  durch  die  Contraction  wohl  das  Wasser  ausgespritzt 
und  die  Vertheidigungssubslanz  ausgepresst,  aber  niemals  wurden 
die  Eingeweide  herausgedrückt,  was  indessen  regelmässig  er- 
folgte, wenn  ich  die  Thiere  in  Spiritus  warf,  wo  dann  die 
Contraction  durch  den  Alkohol  offenbar  so  beeinflusst  wurde, 
dass  sie  sich  über  den  Willen  des  Thieres  hinaus  steigerte. 

Wenn  nun  das  Ausspritzen  des  Wassers  und  das  Aus- 
pressen  der  Eingeweide   kein  bewusster  Zweck,  sondern  nur 


190  &•  H.  Schneider: 

unmiitelbare  Folge  der  Contraction  ist,  so  kann  man  auch  das 
Heraustreten  der  Vertheidigongsinasse  nur  als  einen  unbewusslen 
unmittelbaren  Effect  der  Contraction  betrachten ;  und  man  sieht 
hieraus,  wie  das  Vertheidigen  der  Actinien  und  anderer  niederer 
Thiere  zu  beurtheilen  ist.  Aehnliche  Erscheinungen  werden 
wir  unten  bei  den  Gasleropoden  wieder  finden.  i 

Was  nun  die  Contraction  an  sich  bei  den  Holothurien  be- 
trifft, so  scheint  auch  bei  diesen  Thiereu  der  Schutztrieb  noch 
ein^  einfacher  oder  sehr  wenig  differenzirter  zu  sein.  Fast  alle 
Holothurien  ziehen  bei  jedweder  unangenehmen  Berährung,  die 
einen  Schutztrieb  erweckt,  gleich  den  ganzen  Körper  stark  zu- 
sammen, wobei  immer  auch  die  Tentakeln  eingezogen  werden. 
Die  Pentacta  (Klettenholothune)  vermag  die  baumt'örmig  ver- 
ästeUen  Tentakeln  allerdings  eine  nach  der  andern  zu  con- 
trahiren,  ohne  dass  der  übrige  Körper  im  geringsten  Masse 
dabei  in  Mitleidenschaft  gezogen  würde ;  die  Contractionen  der 
einzelnen  Tentakeln  sind  ganz  unabhängig  von  einem  Zu- 
sammenziehen der  übrigen  Körperlheile.  Aber  zu  welchem 
Zwecke  werden  diese  Tentakelcontractionen  ausgeführt?  Um 
die  Tentakel  in  den  Mund  zu  stecken  und  sie  abzuschlecken, 
also  die  kleinen  Thierchen,  welche  sich  daran  gesetzt  haben, 
zu  fressen;  also  wieder  zum  Nahrungserwerb  ^).  Beim  Schutz- 
trieb  ist  die  Sache  anders.  Wenn  man  das  Thier  auch  nur 
an  einer  Tentakel  irgend  ein  wenig  unangenehm  berührt,  so 
dass  das  Thier  einen  Schutztrieb  fühlt,  so  zieht  sich  auch, 
nicht  allein  diese  Tentakel,  sondern  zugleich  der  übrige  Körper 
wenn  auch  nur  wenig  zusammen.  Nur  bei  ganz  leisen  Be- 
rührungen ist  letzteres  nicht  der  Fall;  allein  dann  weiss  man 
auch  nicht  sicher,  ob  ein  Schutztrieb  überhaupt  entstanden  ist. 
Immerhin  ist  zu  vermutheU;  dass  eine  anfängliche  Differen- 
zirung  des  Contractionstriebes  bei  der  Pentacta  vorhanden  ist 

Bei  den  Echiniden  und  Ästenden  beschränkt  sich  die  Con- 


*)  Diese  Art  der  Ernährung  Seitens  der  Pentacta  ist  meines 
Wissens  erst  im  neapolitaner  Aquarium  deutlich  beobachtet  worden; 
und  ich  kann  mich  mit  zu  den  ersten  Beobachtern  derselben  zählen. 


n 


Zur  Entwickelang  der  WillentSusserungen  im  Thierreich.    191 

traction  zum  Schutze,  soweit  sie  äusserlich  und  sichtbar  ist, 
nur  auf  die  Ambulakralfösschen ;  und  zwar  hat  sie  bei  diesen 
Thieren  wieder  einen  anderen  Schutzeffect,  als  bei  allen  bisher 
besprochenen. 

Da  diese  Echinodermen  immer  eine  grosse  Anzahl  dieser 
Saugfusschen  an  ihrer  Unterlage  angeheftet  haben,  um  sich 
daran  fortzuziehen^  so  ist,  sobald  die  Fusschen  contrahirt  wer- 
4len,  der  Erfolg  der^  dass  sich  die  Thiere  fester  an  die  Unter- 
lage anziehen  und  nun  nicht  so  leicht  abzunehmen  sind.  Wenn 
man  plötzlich  einen  Echiniden  anfasst,  so  kann  man  dieses 
festere  Anziehen  an  einem  kleinen  Ruck  spuren. 

Bei  den  Ophiuren  ist  der  Effect  des  Contractionstriebes 
ein  Anziehen  der  Arme,  welches  aber,  wie  wir  unten  sehen 
werden,  regelmässig  zu  einer  ganz  neuen  Schutzbewegung,  zum 
Flächten  fuhrt. 

Bei  den  Würmern  und  Gasteropoden  verursacht  der  Gon- 
tractionstrieb  dieselben  Effecte,  als  bei  den  bisher  besprochenen 
Thieren,  nur  zuweilen  in  ausgeprägterer  Form.  Wie  bei  den 
Actinien  und  Holothurien,  so  werden  auch  bei  manchen 
Schnecken  durch  die  Gontraction  des  Körpers  gewisse  Yer- 
theidigungsmittel  ausgepresst.  DoUum  spritzt,  gereizt,  aus  der 
Mundöffnung  in  weitem  Strahle  eine  starke  Säure  aus,  Aplysia 
giebt  Anilin  yon  sich,  und  auch  Pneumodermon  sondert  bei 
Angriffen  eine  Flüssigkeit  ab.  Ganz  wie  bei  den  genannten 
€oelenteraten  und  Echinodermen  erfolgt  das  Auspressen  dieser 
Yertheidigungsmittel  nicht  sofort,  sondern  erst,  wenn  die  Gon- 
traction einen  gewissen  Grad  der  Intensität  erreicht  hat,  wie 
ich  sehr  oft  constatiren  konnte.  Der  Gontractionstrieb  allein 
genügt  auch  hier  bereits,  um  einen  solchen  Effect  zu  erzeugen, 
und  es  ist  bei  den  Schnecken  so  wenig  anzunehmen,  dass  das 
Auspressen  der  Veriheidigungsflüssigkeiten  ein  bewusster  Zweck 
der  Gontraction  sei,  als  bei  den  vorher  genannten  Thieren.  So 
gut  das  Vorhandensein  dieser  Flüssigkeiten  resp.'  das  physio- 
logische Vermögen  sie  abzusondern  ein  Produkt  der  Selection 
ist,  so  gut  ist  es  auch  die  Organisation,  wonach  sie  bei  der 
Gontraction  des  Körpers  heraustreten. 


192  Gt.  H.  Schneider: 

Bei  allen  Röhrenwürmern  aad  solchen  Schnecken,  welche 
ein  (iehause  bewohnen,  ist  der  Effect  der  Contraction  stets  eia 
Zurückziehen  in  die  schützende  Hülle,  welcher  bei  diesen 
Thieren  nun  bedeutend  ausgeprägter  ist  als  etwa  bei  den  Rhizo- 
poden.  Da  nun  manche  Schnecken  und  einige  Serpeliden  am 
vorderen  Körperende  eine  kalkige  Platte  haben,  welche  in  die 
Oeffnung  des  Gehäuses  resp.  der  Röhre  passt,  so  yerbindet 
sich  mit  dem  Effect  des  Zurückziehens  zugleich  noch  ein  an- 
derer, nämlich  das  Verschliessen  der  Oeffnung.  Dass  auch 
dieser  zweckmässige  Effect  nur  ein  unbewusster  ist,  zu  dem 
ausser  dem  Contractionstrieb  kein  anderer  Trieb  mehr  erforder- 
lich ist,  sondern  der  ganz  davon  abhängt,  ob  durch  die  Se* 
lection  eine  Verschlussplatte  erworben  wurde  oder  nicht,  braucht 
wohl  kaum  noch  besonders  hervorgehoben  zu  werden. 

Die  Patellen  erzeugen  durch  ihre  Contraction  denselben 
Effect  als  die  Echiniden  und  Astenden,  sie  ziehen  sich  fest  an 
ihre  Unterlage,  wodurch  dann  der  Rand  ihrer  Schale  zugleich 
mit  dem  Gestein  in  Berührung  kommt,  so  dass  die  Thiere 
vollständig  bedeckt  werden. 

'Bei  den  Muscheln  ist  die  Contraction  des  Schliessmuskels 
jedenfalls  unabhängig  vom  Einziehen  des  Fusses  und  anderer 
Körpertheile ;  denn  die  Muschel  streckt  den  Puss  zur  Lokomo- 
tion  heraus  und  zieht  ihn  wieder  zurück,  ohne  dabei  die  Schale 
zu  schliessen«  Trotz  dieser  Unabhängigkeit  zieht  eine  Muschel, 
wenn  man  nur  den  ausgestreckten  Fuss  berührt,  nicht  nur 
diesen  zurück,  sondern  schliesst  auch  stets  die  Schale,  so  dass 
bei  der  Schutzbewegung  diese  Unabhängigkeit  nicht  zu  merken 
ist  und  es  zweifelhaft  bleibt,  ob  der  auf  Schutzbedürfniss  be- 
ruhende Contractionstrieb  bei  diesen  Mollusken  differenzirt  ist 
oder  nicht. 

Die  Schnecken  zeigen  nun  eine  solche  Difierenzirung  schon 
ziemlich  deutlich.  Berührt  man  eine  Helix  nur  leise  an  den 
Fühlhörnern,*  so  stülpen  sich  diese  ein,  ohne  dass  sich  die 
Schnecke  in  das  Gehäuse  zurückzieht;  reizt  man  dagegen  den 
ausgestreckten  Schneckenkörper  in  der  Nähe  des  Schalenrandes, 
so  zieht  sich  das  Thier  in   die  Schale  zurück;  zu   gleicher 


Zur  Entwickelung  der  WiliensäuatieruDgen  im  Tbierreich.    193 

Zeit  stülpen  sich  aber  auch  die  Fühlhurue  r,  ob* 
gleich  sie  nicht  berührt  wurden,  ein.  Das  ist  ein 
sehr  bezeichnendes  Faktum  für  die  Art  und  Weise,  in  welclier 
die  Differenziruug  des  Contractionstriebes  vor  sich  geht.  Schon 
bei  den  oben  besprochenen  Thieren  der  drei  untersten  Klassen 
ist,  wie  bereits  hervorgehoben  wurde,  eine  verschiedene  Inten- 
sitätsstärke  des  Contractionstriebes  bemerkbar,  bei  ganz  leiser 
Berührung  zieht  sich  das  Thier  oft  nur  wenig  zusammen,  bei 
stärkerem  Reize  dagegen  mehr.  Diese  geringere  Con- 
traction  beschrankt  sich  nun  nach  und  nach  nur 
auf  einzelne  und  zwar  auf  die  gereizten  T heile. 
^chon  bei  den  Holothurien  imd  Coelenteraten  ziehen  sicb^  ob- 
gleich der  Contractionstrieb  noch  nicht  deutlich  differenzirt  ist. 
die  Tentakeln,  wenn  nur  diese  leise  berührt  werden,  etwas  mehr 
zusammen,  als  der  übrige  K&rper.  Das  tritt  nun  bei  den 
Schnecken  deutlicher  zu  Tage;  hier  ist  die  Contraction  der 
Fühlhörner  nicht  nur  etwa  bei  der  Nahrungssuche,  sondern 
auch  beim  Schutzbedürfniss  in  gewissem  Sinne  unabhängig  von 
der  Contraction  des  übrigen  Körpers,  so  dass  man  bei  den 
Schnecken  wohl  zwei  Schulz-  lesp.  Contractionstriebe  zum 
Schutz  annehmen  muss,  nämlich  einen  weniger  intensiven 
Trieb  zum  Einstülpen  der  Fühlhörner  und  einen  intensiveren 
zur  Contraction  des  ganzen  Körpers.  Dieser  letztere  schliesst 
aber  den  ersteren  allemal  mit  ein,  der  weniger  intensive  Trieb 
ist  ein  Theil  des  intensiveren.  Diese  Difl'erenzirung  ist  also 
keine  solche  im  Sinne  etwa  der  Coordination ,  sondern  im 
Sinne  der  Subordination;  und  diese  Subordination 
ist  hervorgegangen  aus  einer  einfachen  gra- 
duellen Abstufung  und  aus  einei'  aUmäligen  Lo- 
kal isation  der  Contraction  beim  schwächeren 
Schutzlrieb. 

Viel  deutlicher  ist  dieses  Verhältniss  der  unterordnenden 
Willensdifferenzirung,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  bei  allen 
höheren  Thieren  ausgeprägt. 

Ehe  wir  zur  Betrachtung  derselben  übergehen,  sei  noi-h 
einmal    hervorgehoben,    dass    sich   nach   dem    Vorhergeheüdeii 

Vierteljalirsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    III.    2.  13 


194  (*.  H.  Schneider: 

fast  säminüiche  Schutzgewohnheiten,  welche  in  den  vier  unteren 
Klassen  des  Thierreiches  und  bei  einem  Theil  der  Mollusken 
vorkommen,  nur  durch  die  Organisation  bedingte  verschiedene 
zweckmässige  Effecte  eines  einzigen  Triebes  resp.  Willens  sind. 
Zurückziehen  vom  Ort  der  Gefahr,  Einziehen  der 
empfindlicheren  Organe,  Auspressen  von  Ver- 
theidigungsmitteln,  festeres  Anziehen  an  die 
Unterlage,  Zurückziehen  in  schützende  Hüllen 
und  Ver  schliessen  der  Hüllen,  all  diese  verschie- 
denen zweckmässigen  Bewegungen  erklären  sich 
aus  dem  einzigen  Vermögen  auf  eine  unange- 
nehme Empfindung  hin  den  Körper  zusammen-4 
ziehen  zu  können.  Diese  mannigfachen  Effecte  sind  als 
Producte  der  Selection,  und  die  Eigenschaft  der  Thiere,  nach 
einem  äusseren  Reiz  einen  Tneb  zur  Gontraction  fühlen  und 
diese  Gontraction  ausführen  zu  können,  ist  ebenfalls  als  ein 
Produkt  der  Selection  zu  betrachten.  — 

Zwischen  aUen  bisher  besprochenen  Thieren  und  allen 
höheren  von  den  Gephalopoden  und  Grustaceen  an  aufwärts 
ist  in  psychologischer  Beziehung  nun  ein  bedeutender  Unterschied 
beinerkbar.  Während  die  Gephalopoden  in  morphologischer 
Beziehung  ja  mit  den  Gasteropoden  zur  Molluskengruppe  ver- 
einigt sind,  entfernen  sich  erstere  in  psychischer  Beziehung 
sehr  weit  von  letzteren,  wie  denn  überhaupt  eine  psychologische 
Eintheilung  der  Thiere  wesentlich  andere  Gruppen  bilden  würde 
als  die  morphologische.  Ein  i'äuberisches  Leben  und  eine  hohe 
Entwickelung  der  Sinnesthätigkeiten  und  der  Willensäusserungen 
bedingen  sich  gegenseitig;  die  Gephalopoden,  insbesondere  die 
Octopoden  gehören  aber  mit  zu  den  fürchterlichsten  Räubern 
des  Meeres ;  daher  erklärt  sich  ihre  hohe  geistige  Entwickelung, 
welche  zu  den  psychischen  Aeusserungen  der  anderen  Mollusken 
einen  starken  Gontrast  bildet.  Psychisch  stehen  alle  Gephalo- 
poden den  Wirbelthieren  näher  als  den  Gasteropoden  ^).  — 


^)  Die  Mollaskenklasse  ist  auch  in  rein  morphologischer  Be- 
ziehung eine  ziemlich  unglückliche;  Gephalopoden  und  Gastero- 
poden sollten  besser  zwei  verschiedene  Thierklassen  bilden. 


Zur  Entwickelung  der  Willensäusserungen  im  Thierreich.    I95 

Bei  allen  ausgebildeten  Arthropoden,  Cephalopoden  und 
den  meisten  Vertebraten  hat  der  allgemeinere  Contractionstrieb 
den  Effect,  welchen  wir  am  besten  mit  dem  Worte  ,,Ducken^ 
bezeichnen,  weil  dieser  Trieb  ein  Anziehen  aller  Extremitäten 
einschliesst,  wodurch  die  Thiere  alle  mehr  oder  weniger  an  die 
Unterlage  gedrückt  werden.  Man  glaube  aber  nicht  etwa,  dass 
das  Ducken  eines  Arthropoden  dem  Ducken  eines  Raubsäuge* 
thieres  psychologisch  gleichwerthig  sei,  zwischen  dem  einen  und 
dem  andern  liegt  eine  lange  Enlwickelungsreihe.  Von  diesem 
allgemeineren  Contractionstrieb,  der  das  Ducken  erzeugt,  ist  nun 
bei  aUen  hier  genannten  höheren  Thieren  der  jenem  unter- 
geordnete^ weniger  intensive  Contractionstrieb,  welcher  seine 
Wirkung  nur  auf  einzelne  Theile  erstreckt,  ganz  deutlich 
differenzirt;  aber  das  Yerhältniss  der  Subordination  dieser  beiden 
Triebe  bleibt  bei  allen  höheren  Thieren  bis  zum  Menschen 
bestehen. 

Wenn  man,  wie  ich  es  oft  gethan  habe,  vor  ein  Insekt 
oder  einen  Krebs  ein  Bretichen  stellt,  in  dem  sich  ein  kleines 
Loch  befindet,  durch  dieses  Loch  eine  Borste  oder  ein  sehr 
dünnes  Reis  steckt  und  damit  die  Fühlhörner  des  Arthro- 
poden bei^ührt^  so  werden  nur  diese  zurückgebogen  (der 
Krebs  legt  die  Augen  zurück,  wenn  sie  berührt  werden),  ein 
Ducken  erfolgt  dabei  nicht.  Naht  man  demselben  Thiere  aber 
mit  der  Hand,  so  duckt  es  sich;  und  beim  Ducken  werden 
immer  zugleich  auch  die  Fühler  resp.  Augen  mehr  oder  weniger 
zurückgelegt.  Auch  bei  den  Cephalopoden  ist  das  Ducken  und 
das  Zurückfahren  mit  einer  Armspitze  ganz  deutlich  von  einan- 
der getrennt,  letzteres  ersterem  aber  untergeordnet 

Diese  partielle  Contraction  resp.  das  Zurückziehen  einzelner 
Theile  beschränkt  sich  indessen  bei  allen  Arthropoden  haupt- 
sächlich auf  die  Fühlhörner  und  erstreckt  sich  noch  wenig  auf 
die  Beine.  Wenn  man  ein  Insekt  in  der  vorhererwähnten 
Weise  an  einem  Beine  beunruhigt,  ohne  ihm  auch  mit  der 
Hand  zu  nahen,  so  wird  in  der  Regel  nicht  dieses  Bein  einzeln 
zurückgezogen,  wie  das  bei  den  höheren  Wirbelthieren  der 
Fall  ist,  sondern  das  Thier  duckt  sich,  wenn  es  nicht  zu  fliehen 

13* 


196  Gr-  H.  Schneider: 

* 

vermag,     ^ur   die  höheren  Krebse  ziehen  ihre  Scheeren  unab- 
hängig vom  Ducken  zurück,  wenn  man  sich  diesen  naht. 

Das  Ducken  ist  am  besten  bei  solchen  Thieren  ausgebildet, 
welche  nicht  gut  zu  fliehen  vermögen,  weniger  bei  solchen,  die 
sich  ihres  besseren  Fluchtvermögens  bewusst  sind.  Die  Krabben 
ducken  sich,  so  oft  sich  ihnen  ein  verdächtiges  Ding  nähert; 
Hummern  und  Langusten  legen  in  diesem  Falle  nur  ihre  Fühl- 
hörner zurück^  gehen  gravitätisch  rückwärts,  ducken  sich  fast 
gar  nicht,  sondern  fliehen  durch  Schwanzschläge,  wenn  ihnen 
ein  Feind  gefährlich  zu  werden  droht.  Für  die  Maja  hat  das 
Ducken  einen  ganz  besonderen  Werth.  Da  sie  sich  mit  Algen 
besteckt  oder  mit  Steinen  und  Muschelschalenstückchen  bedeckt 
und  sich  zum  Theil  in  den  Sand  vergräbt,  so  scheint  sie,  wenn 
sie  sich  geduckt  hat,  mit  dem  Boden  eins  zu  sein.  —  Bei  den 
Pagurenarten  hat  die  allgemeinere  Coniraction  den  £fi'ect  des 
Zurückziehens;  dieses  Zurückziehen  geschieht  aber  mit  voll- 
kommenem Bewusstsein  der  Zweckmässigkeit.  Diese  Krebse 
schätzen  den  Besitz  eines  Gehäuses  so  hoch,  dass  sie,  wenn  sie 
ohne  solches  sind,  in  der  grössten  Angst  umherrennen  und 
darnach  suchen  und  dabei  an  kein  Fressen  denken,  sondern 
die  besten  Bissen  ruhig  liegen  lassen,  so  lange  sie  ihren  Hinter- 
leib nicht  wieder  geborgen  haben.  Findet  sich  kein  Gehäuse, 
so  wird  letzterer  in  der  Noth  auch  unter  einen  Stein  oder 
einen  Algenfetzen  gesteckt.  Ein  gefundenes  Gehäuse  wird  sehr 
sorgfaltig  von  innen  und  aussen  untersucht  und  etwaiger  In- 
halt mit  der  Scheere  herausgezogen.  Alle  diese  Thatsachen 
habe  ich  in  meinem  Privataquarium  in  Neapel  vielfach  beobachtet. 
Ein  Eupagurus  Pridauxii  wusste  die  Leinwand,  mit  welcher  ich 
ein  IVatica-Gehäuse,  das  mit  einer  Adamsia  versehen  war,  fest 
verstopft  hatte,  nach  fünfzehn  Minuten  mühevoller  Arbeit  zu 
entfernen ;  das  ist  ein  Beweis  dafür,  dass  der  Krebs  die  Werthig- 
keit  eines  solchen  Gehäuses  vollkommen  kennt  und  zwar  jeden- 
falls besser,  als  wir  sie  kennen.  Das  Zurückziehen  der  Paguren 
ist  nun  darnach  nicht  mehr  als  ein  unbewusster  Efiect  der 
Contraction  zu  betrachten,  wie  bei  den  Schnecken,  sondern  als 
zweckbewusste    That,   die  aber  zur   Gewohnheit  geworden  ist, 


Zur  Entwickelung  der  WillensäusseruDgeD  im  Thierreich.    197 

und  deren  Entstehung  immerhin  der  Contractionstrieb  zu  Grunde 
li^  Mit  welch  klarem  Bewusstsein  das  Zurückziehen  Seitens 
der  Paguren  geschiebt,  beweist  die  Thatsache,  dass,  wenn  man 
ein  Loch  in  die  Schale  macht,  der  Krebs  sich  nicht  mehr 
zurückzieht,  sondern  die  Schale  womöglich  verlässt.  Eine  sehr 
interessante  hierher  gehörige  Beobachtung  machte  ich  einst  im 
Aquarium  zu  Neapel  mit  Herrn  Dr.  S.  gemeinsam.  Eine  Schild- 
kröte hatte  einen  gio^sen  Paguren  in  ihrem  Bassin  entdeckt. 
Sie  schwamm  auf  ihn  zu;  der  Krebs  zog  sich  mit  raschem 
Ruck  zurück  und  verhielt  sich  ruhig  in  seinem  vermeintlich 
sicheren  Versteck.  Vergebens  versuchte  die  Schildkröte  das 
harte  Gehäuse  zu  zerbeissen;  nach  längerem  fruchtlosem  Be- 
mühen liess  sie  dasselbe  wieder  liegen  und  schwamm  seitwärts, 
beobachtete  es  aber.  Der  Pagurus  kam  ruckweise  heraus  und 
suchte  zu  entfliehen,  sofort  kehrte  auch  die  Schildkröte  wieder 
zurück  und  packte  die  Schale,  in  welche  der  Krebs  wieder 
verschwunden  war,  von  neuem ;  lange  Zeit  biss  sie  au  derselben 
herum,  aber  der  Krebs  schien  sich  sicher  zu  fühlen  und  blieb 
ruhig  in  seiner  Schale.  Endlich  gelang  es  der  Schildkröte  ein 
Loch  in  das  Gehäuse  zu  beissen ;  und  von  diesem  Augenblick 
an  streckte  sich  der  Krebs  heraus,  zog  sicii  nicht  ein  einziges- 
mal  wieder  zurück,  sondern  zappelte  mit  seineu  Beinen  so 
lange  herum,  bis  ihn  das  ungeschickte  Reptil  fallen  liess;  er 
floh  und  konnte  sich  noch  rechtzeitig  zwischen  Steinen  ver- 
stecken. Bekanntlich  gelingt  es  gar  nicht  oder  nur  sehr  schwer, 
einen  Paguren  aus  seinem  Gehäuse  herauszuziehen,  er  lässt  sich 
meist  lieber  zerreissen  als  seine  Hülle  zu  verlassen.  Nahm  ich 
aber  vom  Gehäuse  des  Eupagurus  Pridauxii  die  Actinie  her- 
unter oder  bohrte  ich  ein  Loch  in  die  Schale,  dann  verhess 
der  Krebs  immer  freiwillig  seine  Wohnung.  In  ein  Helix- 
gehäuse  kann  man  ein  Loch  machen  an  welcher  Stelle  man 
will,  kann  auch  die  Schnecke  am  hinteren  Körperende  zer- 
drücken oder  zerschneiden,  sie  verlässt  das  Gehäuse  nicht,  son- 
dern weiss  sich  nur  zusammenzuziehen.  Das  beweist  klar  ge- 
nug, dass  bei  den  Schnecken  nur  der  Contractionstrieb  bewusst, 
das  Zurückziehen  aber    nur    ein  unbewusster   in   der  Selection 


198  <^-  H.  Scbueider: 

erworbener  Effect  der  Contraction  ist,  während  das  Zurück- 
ziehen bei  den  Krebsen  im  vollen  Bewusstsein  des  Zweckes, 
resp.  der  Werthigkeit  stattfindet. 

Von  den  Krebsen  an  aufwärts  ist  nun  bei  allen  Thieren 
das  Zurückziehen  in  die  Hüllen  ein  zweckbewusstes.  Entstanden 
ist  dasselbe  offenbar  bei  den  Würmern,  und  zwar  hat  es  sich 
weniger  direkt  aus  dem  Zurückziehen  ohne  Bewusstsein  des 
Zweckes,  sondern  in  psychologischer  Hinsicht  wohl  mehr  aus 
dem  Trieb  zum  Flüchten  und  Verstecksuchen  entwickeh. 

Bei  den  Insekten  und  Spinnen  äussert  sich  der  Con- 
traclionstrieb,  ähnUch  wie  bei  vielen  Krebsen,  hauptsächlich  im 
Ducken.  Bei  allen  Arthropoden  hat  dasselbe  den  Charakter 
einer  willkührlichen  und  zweckbewussten  Bewegung,  die  aber 
zur  vererbten  Gewohnheit  geworden  ist.  Der  letztere  Charakter 
tritt  besonders  bei  den  Insekten  sehr  hervor. 

Die  Wirbelthiere,  insbesondere  die  warmblütigen,  zeigen 
nun  nach  zwei  Richtungen  hin  eine  weitere  Differenzirung  des 
allgemeineren  Contractionstriebes.  Einmal  beschränkt  sich  die 
partielle  Contraction  nicht  mehr  auf  ganz  bestimmte  Theile, 
sondern  dehnt  sich  auf  jede  einzelne  äussere  Gliederung  aus. 
Je  nach  dem  Angriffe  können  die  höheren  Wirbelthiere  einzeln 
mit  dem  Kopf,  mit  einem  Bein,  mit  einem  Flügel  oder  Arm, 
mit  einer  Hand,  ja  mit  einem  einzelnen  Finger  „zurückfahren^ 
und  die  Augen  oder  den  Mund  schhessen,  ohne  den  übrigen 
Körper  zusammen  zu  ziehen,  obgleich  trotz  der  versduedenen 
Organiss^on  der  Trieb  zur  Conti*action  des  ganzen  Körpers 
noch  existirt,  sich  aber  nur  in  anderer  Weise  äussert  als  bei 
den  niederen  Thieren.  Schon  von  den  Arthropoden  an  kann 
von  einer  Contraction  des  ganzen  Körpers  im  strengsten  Sinne 
bei  keinem  höheren  Thiere  die  Rede  sein,  sie  erstreckt  sich 
hier  nur  auf  die  Beugemuskeln.  Trotzdem  ist  wohl  der  Trieb 
und  ist  auch  der  Effect  desselben  ungefähr  der  gleiche  als  bei 
den  niederen  Thieren,  der  Körper  wird  schmnbar  verUeinert, 
in  jedem  Falk  verkürzt.  Um  diesen  Effect  des  allgemeineren 
Contractionstriebes  bei  den  Vertebraten  näher  zu  besprechen, 
muss  ich  gleich  die  zweite  Differenzirung  berühren.     Während 


Zur  Entwickelung  der  WilienBäusserungen  im  Thierreicb.  199 

Dämlich  der  lücht  zweckbewusste  Contracüoiistrieb  sowohl  für 
den  ganzen  Körper  als  fär  einzelne  Tbeile  bestehen  bleibt, 
aber  so  leicht  ausgelost  wir^,  dass  die  Contraction  nicht  nur 
den  Charakter  einer  Gewohnheit  überhaupt  hat,  sondern  sich 
einer  reinen  Reflexbewegung  nähert,  bildet  sich  ein  vollkommen 
zweckbewusstes  Einziehen  dei*  einzelnen  Körpertheile  sowolü, 
als  ein  Zusammenziehen  des  ganzen  Körpers  aus.  Alle  höheren 
Wirbelthiere  zeigen  ein  Ducken  und  Einziehen  einzelner  Tiieile, 
welches  auf  klaren  Vorstellungen  des  Zweckes  beruht  und  ein 
willkühriiches  im  engeren  Sinne  ist;  aber  auch  der  ursprüng- 
liche, nicht  zweckbewusste  Trieb  zur  Contraction  des  ganzen 
Körpers  oder  einzelner  Theile  ist  noch  erhalten,  wie  sich 
denn  bei  aller  Triebs- resp.  Willensdifferenzirung 
ganz  allgemein  das  Gesetz  geltend  macht,  dass 
ein  einmal  entstandener  Trieb  in  irgend  welcher 
Form  bestehen  bleibt;  dass  somit  Schutzgewohnheiteu, 
welche  niedere  Thiere  haben,  auch  bei  den  höheren  Wirbel- 
thieren  und  beim  Menschen  noch  vorkommen,  obgleich  diesem 
nun  ganz  andere  Schutzmittel  zu  Gebote  stehen.  Ich  will  au 
dieser  Stelle  nur  noch  ein  Beispiel  hierzu  erwähnen,  welches 
dieses  €resetz  erhellt.  Die  niedrigste  Art  und  Weise  des  will- 
kührlichen  Vertheidigens  z.  B.  ist  das  Beissen  mit  den  Kiefer»; 
dann  entwickelt  sich  das  Wehren  mit  den  Extremitäten,  erst 
bei  den  Wiiiielthieren  und  nur  in  einzelnen  Fällen  kommt  ein 
Vertheidigen  mit  umliegenden  Dingen  vor,  und  nur  der  Mensch 
weiss  sich  mit  künslüchen  Waflen  und  mit  der  Rede  zu  ver- 
Iheidigen.  Trotzdem  nun  dem  Menschen  diese  vollkommenen 
Vertheidigungsmittei  zu  Gebote  stehen,  finden  sich  auch  in  der 
<kttung  homo  sapiens  die  primitiveren  Vertheidigungsweisen 
noch  vor;  unter  Umständen  beisst  der  Mensch  auch  noch. 

So  bleibt  also  auch  der  ursprüngliche  Conti*actionstrieb  in 
aUen  höheren  Thiei^n  ehalten,  nur  dass  er  hier  sehr  modi- 
icirt  ist  und  vor  allem  eine  ganz  andere  Werthigkett,  oft  sog^* 
nur  eine  negative  hat.  Am  deutlichsten  können  wir  das  zweck- 
bewusste, vorbedachte  Einziehen  aller  Körpertheile  oder  einzelner, 
sowie  andererseits  den   ursprünglichen    nicht   zweckbewussten 


200  G.  H.  Schneider: 

Gontractionstrieb,  vermöge  dessen  wir  unwilikubrlich  „zusammen- 
fahren'^ oder  mit  einzelnen  Gliedern  „zurückfahren",  an  uns^ 
selbst  beobachten ,  weil  beide  Bewegungen ,  die  unabsichtlichen^ 
und  zweckbewussten,  beim  Menschen  am  deutlichsten  diüeren- 
zirt  sind.  Wenn  sich  irgend  eine  Gefahr  langsam  unserem 
Kopf,  einer  Hand  oder  einem  Fusse  nähert,  so  weichen  wir 
bedächtig  mit  dem  betreffenden  Körpertheil  aus;  und  wenn  der 
Mensch  als  Jäger  ein  Wild  beschleichen  will  und  es  fär  nöthig 
hält  sich  zu  ducken,  so  zieht  er  die  Gliedmassen  mehr  an  sich,^ 
beugt  den  Kopf  und  Rumpf  und  sinkt  in  die  Kniee;  die 
meisten  überhaupt  vorhandenen  Beiigemuskeln  werden  in  diesem 
Fall  zur  scheinbaren  Verkleinerung  der  Gestalt  contrahirL  Noch 
besser  ist  das  Zusammenziehen  des  ganzen  Körpers  beim  sog. 
„Kauern"  ausgeprägt.  Wenn  die  Lazaroni  Neapels  kalte  Winter- 
nächte in  Kirchthüren  zubringen,  so  liegen  oder  sitzen  sie  so 
gekauert,  dass  der  Kopf  auf  den  Knieen  liegt  oder  zwischen 
diesen  steckt.  Arme,  Beine  und  Kopf  werden  der  Mitte  des 
Körpers  möglichst  nahe  gebracht.  Ganz  dieselben  Bewegungen 
als  heim  willkührlichen  Ducken  und  Kauern  machen  wir  in 
geringem  Grade,  sobald  wir  erschreckt  werden.  Wir  ziehen 
dann  alle  Muskeln,  besonders  aber  die  Beugemuskeln  auf  einen 
Augenblick  zusammen;  die  Arme  werden  sehr  auffallend  an- 
gezogen, auch  sinken  wir  meist  etwas  in  die  Kniee  und 
schliessen  stets  die  Augen.  Diese  Schreckbewegungen  können 
sich  bekanntlich  auch  auf  einen  Theil  erstrecken.  Wenn  unsere 
Hand  unvermuthet  im  Dunkeln  einen  unbekannten  Gegenstand 
berührt,  wobei  wir  das  Gefühl  haben,  als  hätten  wir  irgend 
etwas  Geföhrliches  oder  Ekelhaftes  angefasst,  so  zuckt  unsere 
Hand  ganz  unabsichtlich  energisch  zurück.  Derartige  Be- 
wegungen haben  sich  so  weit  den  Reflexbewegungen  des  ani- 
malischen Systemes  genähert,  dass  sie,  freilich  irrtimmlicher 
Weise,  oft  als  solche  betrachtet  worden  sind,  und  dass  in  der 
That  unser  Wille  sie  oft  nicht  zurückhalten  kann.  Darwin 
vermochte  es  trotz  des  festesten  Vorsatzes  nicht  dahin  zu 
bringen,  seinen  Kopf  an  die  Glasscheibe  zu  legen,  hinter  welcher 
sich  eine  Puffotter  befand,  ohne  mit  demselben  zurückzufahren, 


Zur  Entwickelang  der  Willensäusserungen  im  Thierreieb.  201 

wenn  die  Otter  den  Kopf  vorstiess.  Die  Ursache  zur  all- 
gemeinen Schreckbewegung  ist  nan  nach  meiner  Ansicht  das 
Willensrudiment  des  ursprünglichen,  nicht  zweckbewussten  all- 
gemeinen Contractionstriebes ,  welcher  sich  durch  die  ganze 
Thierreihe  hindurch  erhalten  hat,  und  das  unwillkuhrUche  Zu- 
rückfahren mit  einem  einzelnen  Körpertheile  beruht  auf  einem 
Rudiment  des  ursprünglichen  oben  besprochenen  Contractions- 
triebes, welcher  sich  auf  einzelne  Theile  beschränkt 

Bei  allen  Säugethieren  und  Vögeln  ist  dieser  Unterschied 
zwischen  der  zweckbewussten  Einzel-  oder  Gesammtcontraction 
und  zwischen  dem  Rest  des  ursprünglichen  und  nun  unwill- 
knhrlich  gewordenen  Contractionstriebes  deutUch  erkennbar. 
Die  Raubsäugethiere  ducken  sich  zweckbewusst,  wenn  sie  ein 
Opfer  beschleichen ;  und  werden  sie  ei*schreckt,  so  machen  sie 
dieselbe  Duckbewegung  unabsichtlich,  sie  „fahren  zusamnien^^ 
wie  wir  Menschen. 

ßei  den  Arthropoden  ist  diese  Differenzirung  noch  nicht 
oder  nur  in  den  ersten  Anfangen  (bei  Spinnen  und  Krabben)  zu 
beobachten.  Im  Allgemeinen  zeigt  sich  das  Ducken  der  Glieder- 
thiere  als  Wirkung  des  ursprünglichen  Contractionstriebes,  der 
aber  mehr  und  mehr  ein  zweckbewusster  geworden  ist,  während 
bei  den  Wirbelthieren  eine  Spaltung  desselben  eintritt,  indem 
sich  eine  vorbedachte  Contraction  ausbildet,  während  auf  Grund 
dieser  Ausbildung  der  ursprüngliche  Conti*actionstrieb  wieder 
zurückgebildet,  wieder  unabsichtlich,  gleichsam  von  der  zweck- 
bewussten Contraction  beherrscht  und  unterdrückt  wird.  — 

Das  absichtliche  Ducken  wird  mehr  zum  Beschleichen  der 
Beute  in  Anwendung  gebracht,  während  der  ursprüngliche 
Cpntractionstrieb  mehr  bei  plötzlich  auftauchender  Gefahr  zum 
Selbstschutz  zur  Geltung  kommt.  Nun  sind  zwar  insbesondere 
die  Krabben  schon  wahre  Meister  im  Beschleichen,  sie  benutzen 
jeden  Gegenstand  geschickt  als  Deckung,  halten  sich  auch, 
wenn  sie  bemerkt  zu  werden  fürchten,  ganz  ruhig  oder  ver- 
schwinden in  den  Sand;  und  auch  manche  Spinnen  verstehen 
die  Fliegen  sehr  gut  zu  beschleichen;  aber  dieses  Beschleichen 
•geschieht  bei  keinem  dieser  Thiere,  überhaupt  bei  keinem  Arthro- 


202  ^-  H.  Schneider: 

poden  in  der  geduckten  Stdlung,  wie  dies  bei  den  Raubsäuge- 
tbieren  zu  beobachten  ist.  Nur  bei  den  Krabben  ist  ein  An- 
fang hierzu  vorhanden. 

Die  Cephalopoden  zeigen  dieses  absichtliche  Ducken  beioi 
Beschleichen  schon  etwas  deutlicher^  wenn  auch  nicht  in  dem 
Grade,  wie  die  höheren  Wirbelthiere ;  und  es  ist  die  Spaltung 
des  ursprünglichen  Contractionstriebes  in  ein  absichtiiches 
Duckeu  und  in  ein  mehr  unwillkührliches  „Zusammenfahren^ 
besonders  bei  den  Oclopoden  schon  einigermassen  deutlich  zu 
bemerken.  Fährt  man  plötzhch  mit  der  Hand  dicht  an  der 
Scheibe  vorüber,  hinter  welcher  sich  ein  Octopus  vulgaris  be- 
findet^ so  kneift  er  die  Augen  etwas  zu  und  fährt  zur  geduckten 
Stellung  zusammen^  wobei  dann  auch  immer  eine  momentane 
dunklere  Färbung  des  Thieres  entsteht.  Diese  Bewegungen 
machen  ganz  den  Eindruck  wie  unsere  Schreckbewegungen. 
Beschleicht  der  Pulp  nun  einen  Krebs,  so  bewegt  er  sich  auf 
den  Boden  oder  an  den  Felsen  gedrückt  nach  ihm  hin,  das  ist 
schon  ein  zweckbewusstes  Ducken;  indessen  ist  es  noch  wenig 
ausgeprägt. 

Bei  den  Fischen  kann  der  Organisation  nach  von  einem 
Ducken  in  dem  Sinne  wie  bei  den  übrigen  Vertebraten  und 
Arthropoden  nicht  die  Rede  sein.  Sie  zeigen  ein  absichtliches 
Ducken  in  der  Form,  dass  sie  sich  an  einen  Felsen  möglichst 
vollkommen  anschmiegen.  Der  ursprüngliche  Gantractionstrieb 
äussert  sich  nur  im  Niederlegen  der  Rückenflossen  und  An- 
legen der  Kiemendeckel. 

Bei  den  Schildkröten  hat  der  ursprüngliche  Contractions- 
tneb  den  Effect  des  Einziehens  der  Gliedmassen  in  den  Paazer, 
das  absichtUche  Ducken  konnte  sich  bei  ihrer  Orgaiiisalieii 
wenig  oder  gar  nicht  ausbilden.  Bei  den  übrigen  Reptäien 
und  den  Lurchen  ist  dasselbe  bereits  deutlicher  vom  unwiQ- 
kührlichen  getrennt,  und  die  Vögel  und  Säugethiere  nähern  sich 
in  diesen  Verhältnissen,  wie  schon  bemerkt,  sehr  dem  Menschen. 
Je  mehr  sich  das  zweckbewusste  Ducken  ausbildet,  desto  mdir 
tritt  das  unwilikühriiehe  zurück  und  nimmt  die  Form  vmi 
Schreckbewegungen  an^  die  scbUesslich  nur  noch  wenig  zwedi- 


Zur  Entwickeiung  der  Willensäusserungen  im  Thierreich.    203 

massig  sind.  Je  nach  der  Lebensweise  der  Thiere  wird  be- 
sonders der  arsprungliche  Ducktrieb  in  seinem  Effect  sehr  modi- 
fidrt;  die  Beobachtungen  hierüber  sind  aber  noch  sehr  spärlich. 
Die  Vögel  ziehen  beim  willkührlichen  Ducken  die  Flügel  nicht 
an,  sondern  breiten  sie  aus,  um  sich  eine  möglichst  platte  Form 
zu  geben;  und  auch  die  Schreckbewegung  ist  hiemach  etwas 
modificirL  Wenn  ein  Vogel  erschrickt,  was  man  sehr  häufig 
leicht  beobachten  kann,  wenn  er  beim  Fressen  ist,  so  sinkt  er 
zusammen  und  breitet  die  Flügel  aus.  Die  Heerdenthiere,  ins- 
besondere die  Pferde,  schnellen  beim  Schreck  immer  empor 
und  führen  einen  Sprung  nach  der  Seite  aus.  Dieser  Sprung 
gebort  nur  zum  Theil  zur  Schreckbewegung,  zum  andern  Theil 
liegt  er  in  der  Gewohnheit  dieser  Thiere,  bei  Gefahr  immer  ihr 
Heil  in  der  Flucht  zu  suchen.  Beobachtet  man  aber  ein  er- 
schreckendes Pferd  genau,  »o  bemerkt  man  dann,  dass  der 
eigentliche  Schreck  ein  momentanes  Zusammensinken  des  Thieres 
zur  Folge  hat;  es  kommt  hier  der  ursprüngliche  Ducktrieb  zur 
Geltung  wie  bei  allen  anderen  Thieren.  4ber  eben  dieses 
momentane  Zusammensinken  ist  die  Ursache,  dass  dann  durch 
eine  straffe  Contraction  der  Streckmuskeln  dieses  Empor- 
schnellen entsteht.  Aehnlich  wie  bei  den  Pferden  schliesst  sich 
bei  allen  Thieren,  welche  gut  zu  fliehen  vermögen  und  auch 
gewohnt  sind,  vor  jeder  verdächtigen  Erscheinung  sofort  zu 
fliehen,  wie  die  meisten  Vögel,  die  Hufthiere,  Hunde  und  andere 
Säuger  die  Fluchtbewegung  eng  an  die  Schreckbewegung  an; 
während  z.  B.  die  katzenartigen  Raubthiere,  welche  wohl  wissen, 
dass  sie  in  der  Lokomotionsfahigkeit  viele  andere  Säugethiere  nicht 
überbieten;  sich  dagegen  zu  wehren  vermögen,  immer  beim 
Schreck  zur  geduckten  Stellung  zusammensinken  und  in  dieser 
mehr  oder  weniger  einige  Zeit  verharren.  Der  Hund  springt 
bei  jedem  Schreck  auf  die  Seite;  aber  diesem  Sprunge  geht 
immer  das  Zusammensinken  unmittelbar  voraus;  die  Katze 
bleibt  in  der  geduckten  Stellung,  insbesondere,  wenn  sie  vom 
Menschen  erschreckt  wird,  bis  sie  sich  womögKch  davon- 
schleichen kann. 

Einen  noch  sehr  ausgeprägten  Effect  hat  der  ursprüngliche 


204  Qr.  H.  Schneider: 

Contractionstrieb  offenbar  beim  Schuppenlhier,  Gürteltbier  und 
Igel,  welche  beim  Erschrecken  zur  Kugel  zusammenfahren  wie 
die  Kugelassehd.  Es  scheint,  dass  bei  den  hier  genannten 
Säugethieren ,  deren  Gewohnheit  zum  Zusammenkugeln  in  so 
naher  Beziehung  steht  zu  ihren  in  der  Selection  erworbenen 
Hautgebilden,  der  ursprungliche  Gontractionstrieb  wieder  grössere 
Bedeutung  gewonnen  hat;  denn  im  Allgemeinen  darf  man 
Schulzbewegungen,  welche  nur  wegen  gewisser  in  der  Selection 
erworbener  morphologischer  Gebilde  ihren  Zweck  erfüllen,  nicht 
für  zweckbewusste  halten;  und  dann  unterscheidet  sich  das 
Kugeln  dieser  Säuger  in  der  That  auch  nicht  von  dem  der 
Kugelasseln,  welches  ohne  Zweifel  ein  Effect  des  ursprünglichen 
Gontractionstriebes  ist  — 

So  sehen  wir  also,  dass  der  ursprüngliche  Gontractions- 
trieb, welcher  bei  den  niederen  Thieren  überhaupt  allein  das 
Streben  nach  Schutz  bildet,  auch  bei  allen  höheren  Thieren  er- 
halten und  trotz  der  Modificationen  im  Allgemeinen  ziemhch 
derselbe  bleibt  und  auch  ungefähr  den  gleichen  Effect  hat, 
trotzdem  die  morphologischen  Verhältnisse  und  die  physiolo- 
gischen Vorgänge  so  verschieden  sind;  welch  letzteres  sich 
daraus  erklärt,  dass  sowohl  der  ursprüngliche  Trieb  üls  das 
zweckbewusste  Wollen  in  direkter  Beziehung  zum  Effect  steht. 
Wenn  unsere  Hand  bedroht  wird,  so  denken  wir  nicht  daran, 
dass  nur  die  flexores  zu  contrahiren  sind,  wir  haben  nur  die 
Willensvorstellung  vom  zweckmässigen  Effect  des  Gontractions- 
triebes. Aus  diesem  Grunde  steht  der  Ansicht,  dass  das  un- 
willkührliche  Ducken  der  höheren  Tbiere  aus  demselben  all- 
gemeinen Gontractionstrieb  hervorgehe,  welcher  bei  den  niederen 
Thieren  überhaupt  der  einzige  Schutztrieb  ist,  nicht  die  That- 
sache  entgegen,  dass  bei  den  Arthropoden  und  Vertebraten  von 
einer  Gontraction  des  ganzen  Körpers  nicht  die  Rede  sein  kann, 
und  das  Ducken  nur  aus  der  Gontraction  der  flexores  und 
andererseits  aus  dem  Nachlassen  der  extensores  hervorgeht. 
Der  physiologische  Vorgang  ist  wohl  sehr  different,  aber  Trieb, 
resp.  Wille  und  Effect  bleiben  ungefähr  dieselben. 

Daraus,  dass  sich  der  ursprüngliche  Gontractionstrieb  schon 


Zur  Entwickelung  der  Willensäusserungen  im  Thierreich.  205 

vom  Anfang  unserer  phylogenetischen  £ntwickelungsreihe  an 
vererbt  hat,  erklärt  es  sich  nun  auch,  warum  sich  die  Schreck- 
bewegung so  unmittelbar  auslöst,  noch  bevor  eine  Yorstellung« 
ein  zweckbewusstes  Wollen  entstehen  kann,  und  sich  deshalb 
mehr  den  reinen  Reflexbewegungen  des  animalischen  Systems 
nähert,  als  den  sog.  Gewohnheiten  im  engeren  Sinn.  Nun  ist 
nicht  schwer  zu  constatiren,  dass  das  allgemeine  „Zusammen- 
fahren", die  Schreckbewegung  im  engeren  Sinn,  weit  mehr  den 
Reflexcharakter  hat,  als  das  Zurückfahren  mit  einzelnen  Theilen, 
was  sich  nach  meiner  Ansicht  daraus  erklärt,  dass,  wie  wir  oben 
gesehen  haben^  der  allgemeine  Contractionstrieb  ja  schon  bei 
den  Protozoen  vorhanden  ist  und  sich  seit  allem  Anfang  des 
thierischen  Lebens  vererbt  hat,  während  der  Trieb  zur  Con- 
traction  einzelner  Theile  sich  erst  bei  den  Mollusken  vom 
ersteren  zu  differenziren  beginnt  und  erst  bei  den  Arthropoden 
und  Yertebraten  deutlich  ausgebildet  ist.  — 

(Fortsetzung  im  nächsten  Heft.) 

Leipzig.  G.  H.  Schneider. 


üeber  Wirbelatome  und  stetige  RaumerMung. 


£rster   Artikel. 

Die  TheorieeD  der  Materie,  welche  in  ihrer  ausserordent- 
lichen Mannichfaltigkeit  ein  erschreckendes  Gewirr  von  Meinungen 
darstellen,  lassen  sich  nach  einem  doppelten  Gesichtspunkte 
gruppiren;  entweder  nach  den  Beziehungen,  welche  für  die 
Vertheilung  der  Materie  im  Räume,  oder  nach  denjenigen, 
welche  für  die  Bewegung  derselben  gelten. 

In  Hinsicht  auf  die  Vertheilung  der  Materie  im  Baume  hat 
man  zu  unterscheiden  zwischen  denjenigen  Theorieen,  welche 
sich  den  Raum  stetig  von  Materie  ausgefüllt  denken,  und 
zwischen  solchen,  in  denen  abgeschlossene,  mit  Materie  erfüllte 
Räume  durch  leere  Bäume  getrennt  gedacht  werden.  Die  letzteren 
nenne  ich  nach  allgemeinem  Sprachgebrauche  atomistische, 
obwohl  das  unterscheidende  Merkmal  in  der  Betonung  des 
leeren  Baumes  liegt  (kenotische  Theorieen).  Für  diejenigen 
Theorieen,  welche  von  der  stetigen  Baumerfüllung  ausgehen, 
kenne  ich  keinen  gemeinschaftlichen  und  bezeichnenden  Namen, 
da  das  Wort  „dynamisch"  sich  auf  einen  anderen  Eintheilungs- 
grund  bezieht  und  „stetige  Theorieen'^  doch  etwas  anderes  be- 
deuten würde.  Ich  will  sie  daher  der  Kürze  wegen  unter  dem 
Namen  plerotische  Theorieen  zusammenfassen,  da  der  Be- 
griff des  vollständigen  Erfüllens  des  Baumes  das  wesentliche  ist. 

Das  zweite  £intheilungsprincip  unterscheidet  die  Theorieen 
der  Materie  nach  der  Art,  in  welcher  *die  Bewegung  vermittelt 
wird.      In    dieser    Hinsicht    heissen    dynamisch    diejenigen 


L 


K.  Lasswitz:  Ueber  Wirbelatome  und  stetige  RaumerfülluDg.  207 

Theorieen,  welche  eine  Einwirkung  der  materiellen  Theüchen 
aufeinander  durch  fern  wirkende  Kralle  annehmen,  kinetisch 
dagegen  diejenigen,  in  welchen  eine  Uebertragung  der  Bewegung 
ledighch  durch  unmittelbare  Berührung  (Stoss)  vorausgesetzt  wird. 
Auf  diese  Weise  entstehen  vier  getrennte  Gruppen,  deren 
Unterscheidung  mir  von  Bedeutung  erscheint. 

1.  Die  ato mistisch-kinetische  Theorie,  von  Demo> 
krit  herstammend  und  in  der  modernen  Physik  als  Theorie 
der  Gase  von  besonderer  Bedeutung,  meiner  Ansicht  nach  die- 
jenige, welche  vom  kritischen  Standpunkte  der  Erfahrungs- 
theorie aus  die  allein  haltbare  ist 

2.  Die  aton^istisch-dynamische,  aus  der  elfteren 
entstanden,  nachdem  durch  Roberval  der  Gedanke  von  in  den 
einzelnen  Theilen  der  Materie  wirkenden  Kräften  ausgesprochen, 
durch  Newton's  Nachfolger  die  Idee  der  fernwirkenden  Kräfte 
eingebürgert  war,  wohl  zuerst  durch  Boskovich  consequent  (als 
sog.  einfache  Atomistik)  durchgeführt.  Atome,  welche  an- 
ziehende oder  abstossende  Kräfte  auf  einander  ausüben,  bilden 
bis  zur  Gegenwart  die  Grundlage  der  meisten  Erklärungsver- 
suche der  Physik.  Gegenüber  der  „einfachen"  kann  man  eine 
„corpuscuiare^  Atomistik  unterscheiden. 

3.  Die  plerotisch-kinetische  Theorie  betrachtet  den 
Raum  als  stetig  erfüllt  mit  Materie,  deren  Theile  sich  durch 
Bewegung  differenziren  und  durch  dieselbe  auf  einander  wirken. 
]hr  Hauptvertreter  ist  Descartes.  iNeuerdings  ist  sie  der  mathe- 
matischen Physik  zu  Grunde  gelegt  worden  und  hat  von  da 
aus  zu  dem  merkwürdigen  Versuche  einer  Begründung  der 
Atomistik  geführt^  von  welchem  ich  im  Nachstehenden  aus- 
führlich reden  werde. 

4.  Die  plerotisch-dynamische  Theorie  denkt  sich 
den  Baum  stetig  erfüllt  von  Materie,  deren  Theile  alle  auf- 
einander durch  anziehende  und  abstossende  Kräfte  wirken.  Ihr 
Vertreter  ist  Kant  in  den  „metaphysischen  Anfangsgründen  der 
Naturwissenschaft" . 

Während  diese  letzte  Theorie  in  der  Physik  keine  Rolle 
gespielt  hat,  scheint  es  in  der  jüngsten  Zeit,   dass  alle  anderen 


208  K.  Lasswitz: 

Theorieen  durch  die  Erfolge,  der  kinetischen  Atomistik 
verdrängt  zu  werden  Aussicht  haben.  Es  ist  daher  natürlich, 
dass  man  nach  einer  Vertiefung  der  Grundlagen  der  kinetischen 
Atomistik  strebt  und  die  Principien  derselben  begreiflich  und 
sicher  zu  machen  sucht.  Nach  meiner  Ansicht  ist  dies  nur 
möglich  durch  ein  Zurückgehen  auf  den  Ursprung  unserer 
physikalischen  Erkenntniss;  nur  aus  der  Art  und  Weise,  wie 
unser  Naturerkennen  überhaupt  durch  Vermittelung  unserer 
Sinne  zu  Stande  kommt^  kann  man  eine  Begründung  der  Prin- 
cipien der  physikalischen  Theorieen  geben,  wie  ich  dies  an 
anderer  Stelle  ausführlich  dargelegt  habe  ^). 

Auf  anderem  Wege  hat  ein  berühmter  englischer  Physiker^ 
Sir  William  Thomson^),  die  Begründung  der  kinetischen 
Atomistik  gesucht,  indem  er  auf  die  Stetigkeil  der  Materie 
zurückgriff  und,  auf  die  Ergebnisse  einer  mathematischen  Ab- 
handlung von  Helmholtz^)  gestützt,  die  Theorie  der  Wirbel- 
atome aufstellte.  Da  diese  Theorie  auch  bei  hervorragenden 
deutschen  Physikern  lebhaften  Anklang  gefunden  hat,  so  scheint 
es  angemessen,  eine  sorgfältige  Prüfung  derselben  vorzunehmen. 
Soll  eine  Theorie  wissenschaftliche  Bedeutung  besitzen,  so  darf 
sie  nicht  bloss  in  irgend  einem  Theile  der  Physik  von  prak- 
tischem Vortheil  sein^  sie  muss^auch  das  Erkenntnissbedürfniss 
des  Geistes  überhaupt  befriedigen.  Der  Bau  der  Wissenschaften 
muss  ein  einheitlicher  sein. 

Obgleich  in  letzter  Zeit  schon  mehrfach  populäre  Dar- 
stellungen der  Thomson'schen  Wirbeltheorie  gegeben  worden 
sind  ^),  wird  es  doch  nöthig  sein,  eine  ausführliche  Erörterung 


^)  Atomistik  und  Kriticismus.  Ein  Beitrag  zur  erkenutiiitts- 
theoretischen  Grundlegung  der  Physik.     Braunschweig  1878. 

*)  Philosophical  Magazine.     Vol.  34.    4tk.   Ser.    p.  15.    1867. 

^)  Crelle-Borchardt's  Journal  für  die  reine  und  angewandte 
Mathematik.    1858.  Bd.  55.    S.  25. 

*)  Tait,  Vorlesungen  über  einige  neuere  Fortschritte  der 
Physik.  Deutsch  von  Wertheim.  Braunschweig  1877.  S.  241  ff.  — 
0.  E.  Meyer,  Die  kinetische  Theorie  der  Gase.  Breslau  1877. 
S.  243  ff.  —  Der  Naturforscher.  Herausgeg.  von  W.  Sklarek. 
XL  Jahrg.  Nr.  51.     S.  477  ff. 


lieber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfullung.  209 

derselben  ihrer  Kritik  voranzuschicken,  um  nicht  nur  die  Re- 
sultate, sondern  auch  die  Fundamente  klar  zu  steilen.  Wir 
beginnen  mit  den  mathematischen  und  experimentellen  Grund- 
Jagen  1). 

Es  wird  verlangt,  dass  man  sich  eine  „vollkommene" 
Flüssigkeit  vorstelle,  welche  als  ein  Continuum  aufgefasst  wird 
und  deren  Theilclien  keine  Reibung  erleiden.  Jeder  Rauni- 
punkt  bestimmt  durch  seine  Lage  ein  Flüssigkeitstheilchen, 
dessen  Dimensionen  sämmtlich  als  „unendlich  klein"  anzusehen 
sind;  zugleich  kommt  jedem  Punkte  eine  bestimmte  Dichtigkeit 
zu,  welche,  mit  dem  Volumen  des  durch  ihn  bestimmten  un- 
endlichkleinen Flussigkeitselementes  multiplicirt,  die  Masse  des- 
selben darstellt.  Man  nimmt  nun  an,  dass  jedes  noch  so  kleine 
und  in  beliebiger  Richtung  in  der  Flüssigkeit  gedachte  Flächen- 
t  hei  leben  einen  gewissen,  von  der  Lage  des  Punktes  zur 
gegebenen  Zeit  abhängigen  Druck  erleide.  Der  Regriff  des 
Druckes  ist  nur  eine  andere  Fassung  für  den  RegrifT  einer 
Rewegungsursache,  und  die  erwähnte  Annahme  sagt 
daher  lediglich  aus,  dass  die  Flüssigkeit  in  Rewegung  ist,  und 
dass  man  nur  in  Gedanken  von  der  thatsächlichen  Rewegung 
abstrahirt,  indem  man  einen  bestimmten  momentanen  Zustand 
ins  Auge  fasst;  ferner  dass  die  Raumtheile  der  Flüssigkeit  ihre 
Rewegung  durch  ihre  gegenseitige  Rerührung  auf  einander 
übertragen.  Die  Annahme  der  Vertheilung  eines  bestimmten 
Druckes  in  der  Flüssigkeit  enthält  also  das  kinetische  Prin- 
cip  der  Theorie  in  der  Fassung  der  mathematischen  Mechanik. 

In  dieser  bewegt  gedachten  Flüssigkeit  erleidet  im  Verlaufe 
einer  beliebig  kurz  gedachten  Zeit  jedes  unendlichkleine  Theilcheii 
eine  Veränderung,  welche  aus  einer  Verschiebung,  einer  Drehung 
und  einer  Ausdehnung  gewisser  Art  zusammengesetzt  ist.  In 
Rezug  auf  die  Drehung  der  unendlichkleinen  Flüssigkeits- 
theilchen ergiebt  die  Rechnung  Folgendes: 


*)  Vergl.  hierüber  Helm  hol tz  in  Crelle's  Journ.  Bd.  55.  — 
Kirch  hoff,  Vorlesungen  über  mathematische  Physik.  Leipzig 
1876.  —  Tait,  a.  a.  0.  —  Auch  Gröbli,  Specielle  Probleme  über 
die  Bewegung  geradliniger  parall.  Wirbelfäden.    Zürich  1877. 

Vierteljahrssclirift  f.  wissenschafll.  Philosophie.   III.  2.  14 


210  K.«  Lasswitz: 

1.  Wenn  es  einen  Zeiimomeat  giebt,  in  welchem  ein  be- 
stimmtes Flüssigkeitstheüchen  nicht  rotirt^  so  rotirl  dieses 
Flussigkeitstheilchen  überhaupt  niemals.  Eine  vorhandene 
Rotation  kann  also  niemals  veniichlet  und  ein  nicht  rotirendes 
Theilchen  niemals  in  ein  rotirendes  umgewandelt  werden. 

2.  Wenn  es  einen  Zeitmoment  giebt,  in  welchem  die  Axe 
der  Rotation  zweier  unendlich  naher  Theilchen  mit  der  Ver- 
bindun£;sHnie  der  Theilchen  zusammenfällt,  so  findet  dieses  Zu- 
sammenfallen  jederzeit  statt.  Zieht  man  also,  von  einem  be- 
Uebigen  Theilchen  ausgehend,  diurch  die  benachbarten  Theilchen 
eine  Linie  so,  dass  ihre  Richtung  überall  mit  der  Drehungsaxe 
der  Theilchen,  durch  welche  sie  hindurchgeht,  übereinstimmt, 
so  haben  alle  auf  dieser  Linie  liegenden  Theilchen  die  Eigen- 
schaft, dass  sich,  wie  auch  ihre  Bewegung  sich  ändern  mag, 
doch  immer  wieder  eine  Linie  von  gleicher  Eigenschaft  durch 
dieselben  Theilchen  legen  lasst.  Eine  solche  Linie  nennt  Helm- 
hollz  eine  Wirb elli nie.  Diejenigen  Theilchen,  welche  zu 
irgend  einer  Zeit  sich  auf  einer  Wirbellinie  befinden,  bleiben 
also  immer  auf  einer  solchen.  Sehen  wir  nun  die- 
jenigen Wirbellinien  als  identisch  an,  welche  immer  durch  ein 
und  dieselben  Flussigkeitstheilchen  hindurchgehen,  so  können 
wir  von  einer  Veränderung  einer  Wirbellinie  im  Laufe  der  Zeit 
sprechen.  Denn  während  die  einzelnen  Theilchen  sich  in  ihren 
Lagen  verschieben,  ändern  sich  auch  die  Richtungen  der  Ver- 
bindungslinien der  einander  unendhch  nahen  Theilchen,  welche 
mit  ihren  Drehungsaxen  übereinstimmen,  d.  h.  es  ändert  sich 
die  Wirbelünie. 

Die  Gesaram theit  aller  Wirbelhnien,  welche  von  einer  ver- 
schwindend kleinen  Fläche  ausgehen,  constituirt  einen  Wirbel- 
faden.  Ein  solcher  Wirbelfaden  umfasst  also  alle  diejenigen 
Flussigkeitstheilchen,  welche  auf  benachbarten  Wirbelhnien 
hegen,  und  ist  als  ein  unendlich  dünner  Flüssigkeitsfaden  an- 
zusehen. Er  hat  die  Eigenschaft,  dass  das  Producl  aus  einem 
beliebigen  Quersi;hnilt  desselben  mit  der  Drehungsgeschwindig- 
keit dieses  Querschnitts  erstens  von  der  Zeit  unabhängig,  und 
zweitens  in  demselben  AugenbUcke  für  alle  Theile  des  Wirbel- 


Ueber  Wirbelatome  und  stetige  KanmerfüUung.  211 

fadens  gleich  gross  ist.  Hieraus  folgt  zunächst,  dass,  wenn  die 
Rotationsgeschwindigkeit  des  Fadens  an  einer  Stelle  abnimmt^ 
daselbst  sein  Querschnitt  sich  vergrössern  muss,  und  umgekehrt 
Der  zweite  Tfaeil  des  Satzes  aber  ergiebt  die  wichtige  Eigen- 
schaft, dass  ein  Flüssigkeitsfaden  innerhalb  der  Flüssigkeit  nie*- 
niais  ein  Ende  haben  kann.  Seine  Enden  müssen  entweder  in 
der  Oberfläche  der  Flüssigkeit  hegen,  oder  er  muss  in  sich 
selbst  zurücklaufen.  ^ 

Befinden  sich  in  einer  Flüssigkeit  Wirbeltaden,  so  trägt 
jedes  Element  eines  Wirbelfadens  einen  gewissen  Theil 
bei  zu  der  Bewegung  irgend  eines  Punktes  der 
Flüssigkeit.  Giebt  es  in  einer  Flüssigkeit  nur  einen  ein- 
zigen Wirbelfaden,  so  bleibt  derselbe  im  Allgemeinen  an  seinem 
Orte,  und  jedes  Flüssigkeitstheilchen,  das  sich  in  endlicher  Ent- 
fernung von  ihm  befindet,  beschreibt  um  ihn  einen  Kreis  mit 
gleichbleibender  Geschwindigkeit.  Giebt  es  mehrere  Fäden,  so 
wirken  dieselb.en  (durch  Vermittelung  der  nicht  wirbelnden 
Flüssigkeit)  auf  einander  ein.  Doch  nur  für  wenige  sehr 
einfache  Fälle  vermag  die  Analysis  die  entstehende  Bewegung 
zu  bestimmen. 

Um  die  mögUchen  Wirbeibewegungen  der  Anschauung 
näher  zu  bringen,  sollen  noch  einige  Resultate  der  Rechnung 
hier  angegeben  werden.  Zwei  parallele,  entgegengesetzt  rotirende 
Fäden  schreiten  mit  gleichbleibender  Geschwindigkeit  senkrecht  zu 
ihrer  Verbind ungsUnie  fort.  Die  Theilchen  der  Flüssigkeit,  welche 
sich  zwischen  den  Fäden  befinden,  bewegen  sich  in  derselben 
Richtung  wie  die  Fäden,  und  zwar  die  in  ihrer  Mitte  befind- 
lichen mit  der  vierfachen  Geschwindigkeit.  Bilden  die  Wirbel- 
tädeU;  indem  sie  sich  stetig  an  einander  schhessen^  einen  Cyhn- 
der  von  endlichem  Querschnitt,  so  bleibt  dieser  Querschnitt, 
wenn  er  eine  Ellipse  ist,  immer  eine  Ellipse.  Dieser  elUptische 
Cylinder  dreht  sich  mit  einer  bestimmten  Winkelgeschwindig- 
keit um  seine  Axe,  wobei  zugleich  die  einzelnen  Wirbelfäden 
untereinander  relative  Verschiebungen  erleiden;  und  zwar  be- 
schreiben die  einzelnen  Flüssigkeitstheilchen  innerhalb  des 
Cylinders   Kreise    mit    gleichbleibender   Geschwindigkeit,  jedoch 

14* 


212  K.  Lasswitz: 

jedes  Theilchen  einen  anderen  Kreis  mit  anderem  Radius  und 
Centrum. 

Sind  alle  vorhandenen  Wirbellinien  Kreise,  welche  dieselbe 
Axe  haben,  so  entsteht  ein  ringförmiger  Wirbel;  auch  dieser 
Zustand,  einmal  vorhanden,  besteht  immer.  £in  solcher  Wirbel- 
faden behält  denselben  Radius,  schreitet  aber  in  der  Richtung 
seiner  Axe  fort,  während  die  denselben  umgebende  Flüssigkeit 
dwch  die  Oeffnung  des  Ringes  in  der  Richtung  des  Fort- 
schritts des  Fadens  hindurchströmt.  Dabei  rotirt  jeder  Quer- 
schnitt des  Ringes  so  ^  dass  die  Flüssigkeitstheilchen  auf  der 
inneren  Seite  des  RiTi|es  dieselbe  Richtung  haben  wie  die  fort- 
schreitende Bewegung  des  Ringes  selbst  Zwei  hinter  einander 
auf  gleicher  Axe  fortschreitende  Wirbelringe  verhalten  sich  so, 
dass,  während  der  vorangehende  seine  Bewegung  verlangsamt 
und  sich  dabei  erweitert,  der  zweite,  bei  rascherem  Fortschritt 
sich  verengend,  durch  denselben  hindurchgeht,  worauf  der 
zweite  dasselbe  Spiel  wiederholt ;  begegnen  sich  zwei  Ringe  mit 
gleichen  Radien,  gleichen  und  entgegengesetzten  Rotations- 
geschwindigkeiten, so  werden  sie  sich  einander  nähern  und 
dabei  sich  gegenseitig  erweitern  und  zwar  das  erstere  mit  bis 
ins  Unendhche  abnehmender,  das  zweite  mit  immer  grösserer 
Geschwindigkeit.  Aehnlich  verhält  sich  ein  einzelner  Ring  einer 
festen  Wand  gegenüber. 

£inem  solchen  Wirbelring  ist  auf  keine  Weise  beizukommen ; 
vor  einem  rasch  genäherten  Körper  weicht  er  aus  oder  schlingt 
sich  um  ihn  herum;  keine  Macht  vermag  ihn  zu  zertrennen. 

Die  dargestellten  Sätze  werden  durch  die  Erfahrung  be- 
stätigt. Zwar  in  einer  „vollkommenen",  *d.  h.  reibungsfreien 
Flüssigkeit  kann  man  keinen  Wirbelring  erzeugen,  erstens  weil 
wir  keine  solche  kennen  und  zweitens  weiJ,  wie  gesagt,  solche 
Wirbel  ewig  sind.  Aber  in  „reibenden"  Flüssigkeiten  ist  es 
möghch,  sie  zu  erzeugen;  zu  beobachten  sind  sie  am  be- 
quemsten in  Gasen,  die  man  durch  fein  vertheilte  Staub- 
theilchen  sichtbar  gemacht  hat.  Solche  Wirbelringe  sind  die- 
jenigen, welche  man  beim  Tabacksrauchen  bilden  kann  Tait 
verfuhr  methodisch  folgendermaassen :  Er  nahm  einen  hölzernen 


Ueber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfüllang.  213 

Kasten,  dessen  eine  Wand  durch  ein  strammgespanntes  Stück 
Zeug  ersetzt  war,  während  die  gegenüberliegende  eine  kreis- 
förmig oder  sonstwie  gestaltete  Oeffnung  besass.  In  diesem 
Kasten  wurde  chemisch  der  fein  vertheilteste  Saimiakstaub  er- 
zeugt. Ein  Schlag  auf  die  elastische  ^and  trieb  nun  einen 
Theil  der  im  Kasten  befindhchen  Luft  sammt  dem  in  ihr 
schwebenden  Salmiakstaub  heraus,  und  der  letztere  machte  die 
Bewegung  der  die  Saimiaktheilchen  mitreissenden  Lufltheilchen 
sichtbar.  Die  Reibung  der  Luft  an  der  Wand  der  Oeffnung 
beim  Heraustreten  bewirkt  nun  in  der  That,  dass  bei  jedem 
Schlage  ein  Wirbelring  aus  dem  Kasten  hervorkommt,  welcher 
das  theoretisch  geforderte  Verhalten  zeigt  (natürlich  bis  auf  die 
Unzerstörbarkeit).  £r  erweitert  sich,  wenn  seine  Gesammt- 
bewegung  sich  verlangsamt,  er  prallt  von  anderen  Ringen  ab 
und  verhält  sich  wie  ein  elastischer  Körper,  er  führt  um  seine 
Gleichgewichtsgestalt  (den  Kreis)  Schwingungen  aus,  wenn  die- 
selbe gestört  wird,  u.  s.  w. 

Als  Sir  William  Thomson  die  Helmholtz'sche  Theorie 
und  das  Tait'sche  Experiment  kennen  gelernt  hatte,  da  sagte 
er:  Jetzt  haben  wir  das  einzig  wahre  Atom  (the  only  true 
atom)!  Diese  Wirbelringe  sind  die  Atome.  Denn  in  der 
Wirbelbewegung  haben  wir  ja  jetzt  eine  unvertilgbare  Eigen- 
schaft der  Materie  wirkUch  nachgewiesen.  Hier  ist  also  ein 
Ding,  das  niemals  entstehen  kann,  es  sei  denn  durch  einen 
Schöpfungsact,  und  das  niemals  vergehen  kann;  es  behält  für 
alle  Ewigkeit  bestimmte  Eigenschaften  und  erklärt  somit  die 
Constanz  der  Eigenschaften  der  chemischen  Elemente.  Es  wird 
dadurch  begreiflich,  warum  die  Atome  eines  bestimmten  Stoffes 
in  allen  Gegenden  der  Welt  in  gleichen  Phasen  schwingen,  wie 
das  die  Spectralanalyse  verlangt  und  wie  es  sonst  nur  bei  zu- 
sammengesetzten Molekeln  erklärbar  wäre.  Es  ist  damit  zu- 
gleich ein  Atom  geschaffen,  das  die  Eigenschaft  der  Elasticität 
besitzt,  das  biegsam  und  plastisch  ist  und  dabei  doch  undurch- 
dringlich. Selbst  eine  Wirkung  in  die  Ferne  können  diese 
Atome  mit  Leichtigkeit  ausüben,  vermittelt  durch  die  nicht 
mitwirbelnde   Materie.      Zwar    die    Gravitation    ist  damit   nicht 


214  K*  Lasswitz : 

erklärbar  '),  aber  auf  die  elektrodynamische  Fernwirkung  wird 
auf  diese  Weise  ein  Licht  geworfen.  Uebrigens  behält  man 
alle  Yortbeile,  welche  die  kinetische  Atomistik  zur  Naturer- 
klärung besitzt  und  gewinnt  diese  Fernwirkung  nur  noch  zur 
beliebigen  Verwendung»  hinzu.  Endlich  wird  es  gewiss  auch 
möglich  sein,  die  Gesetze  der  Wärme  und  die  Thatsachen  der 
Chemie  aus  der  Energie  und  der  Form  der  Wirbelatome  zu 
erklären.  Um  dies  Alles  leisten  zu  können  ist  weiter  nichts  zu 
thun  als  anzunehmen,  dass  der  Weltraum  mit  „Etwas^ 
erfüllt  ist,  das  wir  eine  vollkommene  Flüssigkeit 
nennen,  und  das  gewissermaassen  Materie^  d.  h.  wahrnehm- 
barer Stofi*  dadurch  wird,  dass  gewisse  Theile  desselben  in 
mannichfaltigster  Weise  von  Ewigkeit  her,  oder,  wie  Thomson 
sagt,  durch  einen  Schöpfungsact  (an  act  of  creative  power)  in 
Wirbelbewegung  verselzt  sind. 

Die  Thomson'sche  Wirbeltheorie  setzt  also  voraus^  dass 
der  Raum  continuirlich  von  einer  absoluten  Flüssigkeit  erfüllt 
sei ;  sie  setzt  ferner  voraus,  dass  diese  Flüssigkeit  in  Bewegung 
sei,  und  dass  die  Theile  derselben  lediglich  durch  Bewegung 
atif  einander  wirken.  Denn  wie  ich  bereits  bei  Darstellung  der 
mathematischen  Grundlagen  betonte,  setzen  dieselben  die  Fort- 
pflanzung eines  Druckes  nach  allen  Riebtangen  voraus,  was 
tatsächlich  nur  ein  anderer  Ausdruck  für  die  Fortpflanzung 
der  Bewegung  der  Theile  ist.  Wenn  wir  uns  nämlich  ein  an- 
schauliches Bild  der  Vorgänge  in  der  FlüssigkeiC  machen  woflen, 
so  ist  mit  „Druck^  als  „Ursache  einer  Bewegung^  gar  nichte 
gesagt,  sondern  die  Ansehauimg  muss  immer  zurückgehen  auf 
die  thatsächliche  Bewegung  der  Masse  selbst.  Man  kann  auch 
nicht  sagen,  dass  nur  diejenigen  Theile  des  Raumes  von  Ma- 
terie erfüllt  seien,  welche  die  Wirbel  enthalten,  weil  eben  erst 
durch  die  Wirbelbewegung  die  Materie  gesetzt  sei  und  nicht- 
bewegte  Materie,  Materie  ohne  Energie,  nicht  auf  unsere  Sinne 
wirken  könne;  sondern  es  liegt  im  Wesen  der  Theorie,  dass 
auch  d^  nicht  wirbelnde  Materie  bewegt  ist,  wie  dies 

>)  Tait,  a.  a.  O.  S.  24«,  249. 


lieber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfüll ung.  215 

unzweifelhaft  aus  den  mathematischen  Grundlagen  hervorgeht 
Es  muss  also  auch  dieser  nicht  wirbelnde  Theil  der  Flüssigkeit 
Energie  und  damit  Realität  im  physikalischen  Sinne,  ebenso 
wie  die  Wirbel,  besitzen.  Demnach  muss  die  Th«mson'sche 
Wirbeltheorie  zu  derjenigen  Gruppe  der  Theorieen  der  Materie 
gezählt  werden,  welche  ich  als  plerotiscb-kinetiscbe  bezeichnet 
habe.  Sie  tritt  dadurch  unmittelbar  in  eine  Reihe  mit  der 
Theorie  des  Descartes. 

Es  ist  nicht  nur  interessant,  die  genannten  beiden  Theorieen 
'mit  einander  zu  vergleichen,  welche  schon  durch  den  Gebrauch 
der  Wirbelbewegung  an  einander  erinnern;  es  ist  auch  im 
höchsten  Grade  lehrreich  zu  sehen,  wie  der  menschliche  Er- 
kenntnisstrieb bei  seinen  rastlosen  Versuchen  des  Regreifens 
immer  wieder  in  gleichem  Wirbel  getrieben  wird;  es  ist  aber 
geradezu  nothwendig,  neben  die  moderne  Theorie  diejenige 
des  scharfen  Denkers  Descartes  zu  stellen,  wenn  man  die 
Theorie  der  stetigen  Raumerfüllung  zu  prüfen  unternimmt  Ich 
werde  daher  zunächst  eine  Darstellung  der  physikalischen 
Theorie  des  Descartes  geben,  und  an  die  zugleich  durch  die 
Geschichte  derselben  zn  beleachiende  Kritik  die  Resprechung 
der  Thomson'schen  Theorie  anschliessen.  Es  mag  hier  gleich 
erwähnt  werden,  dass  das  Urtheil  über  die  Theorie  der  Wirbel- 
atome, insofern  sie  sich  auf  die  Annahme  der  Plasticität  als 
einer  Grundeigenschaft  der  Materie  stützt,  abweisend  ausfallen 
muss.  Alles  Nähere  kann  des  beschränkten  Rauoies  wegen 
erst  in  dem  im  nächsten  Hefte  folgenden,  die  hier  nur  ge- 
gebene Einleitung  abschliessenden  Artikel  auseinandergesetzt 
werden. 

Gotha.  K.  Lasswitz. 


Znm  ethischen  Problem. 


Es  ist  eine  bemerkenswerthe  Tbatsache,  dass  in  dem  so- 
genannten practischen  Theile  der  Philosophie  noch  immer  eine 
altherkömmliche  Glaubens  -  Dogmatik  herrscht ,  welche '  anzu- 
tasten die  Kritik  bis  jetzt  eine  heilige  Scheu  hatte.  Auch  einem 
Feuerbach  und  einem  Straiiss  war  die  hergebrachte  ethische 
Doctrin  ein  noli  me  tangere,  und  selbst  der  Materialismus  will 
mit  dieser  Moral  nicht  ernstlich  brechen.  Es  dürfte  deshalb 
sehr  an  der  Zeit  seyn^  d£tö  unbefangene  kritische  Denken  auf 
diese  ethische  Frage  zu  lenken.  So  war  es  mir  denn  eine  an- 
genehme Ueberraschung,  als  ich  in  Heft  1  des  Jahrgangs  II 
dieser  Zeitschrift  dem  Aufsatze  des  Herrn  A.  Schäffle  „Ueber 
Kecht  und  Sitte  vom  Standpunkte  der  sociologischen  Erweite- 
rung der  Zuchtwahl  -  Theorie"  begegnete,  durch  welchen  wenig- 
stens ein  beachtenswerther  Griff  in  jene  alte  dogmatische  Doctrin 
gethan  wird.  Es  scheint  mir  zwar  eine  einseitige  Schemati- 
sirungs- Liebhaberei  zu  seyn,  wenn  die  Entwicklung  von  Sitte 
und  Recht  lediglich  unter  die  Rubrik  der  Darwin'schen  Zucht- 
wahls  -  Theorie  gebracht  wird,  und  ich  halte  dies  um  so  weniger 
für  gerechtfertigt,  als  dieser  Theorie  auch  in  Sachen  der  Na- 
tur schwer  wiegende  Bedenken  entgegenstehen.  Doch  auf 
diese  Einregistrirung  unter  einen  besondern  analogen  Namen 
und  das  Bestreben,  diese  Analogie  möglichst  zutreffend  durch- 
zuführen, kommt  am  Ende  nicht  sonderlich  viel  an,  wenn  nur 
der  wesentliche  Gedanke,  von  dem  dabei  ausgegangen  wird, 
richtig  und  probehaltig  ist.  Diesen  Gedanken  spricht  Herr 
Schäffle  in  den  Worten  aus:  Es  erscheine  als  zulässig.  Recht 
und  Sitte  als  gesellschaftlich  gesetzte,  nach  den  geschichtlichen 
Bedingungen  der  gesellschaftlichen  Gesammt- Erhaltung  sich 
regelnde,  aus  der  Erfahrung  über  Wohl  und  Wehe  gewonnene, 
von  den  geschichtlich  gegebenen  Trägern  der  Macht  im  Bande 
mit  den  idealistischen  Gesellschafts  -  Kräften  äusserlich  und  in- 


A.  Steudel:    Zum  ethischen  Problem.  217 

nerlich  erzwungene,  durch  Vererbung  und  Gewohnheit  befestigte 
Ordnungen  des  Thuns  und  Lassens,  als  Ordnungen  der  subjec- 
tiven  Organisation  zur  Eegelung  des  socialen  Zusammenlebens 
anzusehen  (S.  44  —  45).  Eecht  und  Sitte  seien  entwickelungs- 
geschichtlich  nothwendige  Attribute  des  zur  gemeinschaftlichen 
Selbsterhaltung  genöthigten  Menschen  (S.  49),  und  es  sei  sich 
aller  mystischen  Erklärung  derselben  zu  entschlagen  (S.  59). 

Ich  freue  mich^  im  Allgemeinen  meine  vollständige  lieber- 
einstimmung  mit  diesem  Gedanken  aussprechen  zu  können.  Es 
ist  jedoch  mit  diesem  Gedanken  die  ethische  Frage  noch  kei- 
neswegs vollständig  erschöpft.  Hiezu  wird  vielmehr  noch  eine 
ganze  Reihe  daran  sich  knüpfender  Untersuchungen  erfordert. 
Icli  meinerseits  glaube  diesem  Erfordemiss  in  meiner  ,,Kritik 
der  Sittenlehre'^  ein  Genüge  gethan  zu  haben^  und  es  wäre  mir 
daher  von  Interesse  gewesen ,  wenn  Herr  Schäffle  in  seinem 
Aufsatze  auf  den  Inhalt  jenes  meines  ihm  offenbar  bis  dahin 
unbekannt  gebliebenen  Buches  Eücksi cht  genommen  hätte;  wie 
es  mir  denn  überhaupt  sehr  wünschenswerth  wäre,  ein  unbe- 
fangenes Urtheil  über  die  von  mir  in  dieser  Frage  gepflogenen 
Untersuchungeü  und  entwickelten  Ansichten  zu  vernehmen. 

Es  hat  sich  mir  seit  lange  mit  unabweislicher  Intensivität 
das  Bedürfniss  aufgedrängt,  gegenüber  von  dem  besonders  seit 
Kant  Mode  gewordenen  Speciiliren  einer  apokryphen  Vernunft, 
welches  des  Schwindels  nur  zu  viel  mit  sich  fuhrt,  mit, einer 
Philosophie  des  nüchternen,  unbefangenen  Verstandes  aufzutre- 
ten; und  so  habe  ich  mir  die  Aufgabe  gestellt,  diese  meine 
Philosophie  in  einem  systematischen,  alle  philosophische  Haupt- 
fragen umfassenden  Werke  mit  dem  Titel  „Philosophie  im  üm- 
riss"  möglichst  gedrängt  darzulegen.  Von  diesem  Werke  ist 
der  erste,  die  theoretischen  Fragen  besprechende  Theil  vor 
mehreren  Jahren,  und  von  dem  zweiten,  die  practischen  Fragen 
besprechenden  Theile  die  erste  Abtheilung  unter  dem  Special- 
Titel  „Kritik  der  Sittenlehre"  im  Spätjahr  1876  erschienen. 
In  diesem  Buche  sind  daher  meine  Untersuchungen  der  ethi- 
schen Frage  enthalten. 

Ich  habe  es  wahrhaftig  für  sehr  an  der  Zeit  gehalten, 
insbesondere  über  die  veralteten  und  verschimmelten,  von  Ge- 
schlecht zu  Geschlecht  sich  vererbenden  Sittlichkeitsbegriffe 
endlich  einmal  mit  der  Lauge  einer  verständigen  Kritik  her- 
zufahren, mit  den  hier  nach  altem  Herkommen  mit  unange- 
griffener geheiligter  Auctorität  allgemein  herrschenden  Vor- 
urtheilen  und  lUasionen  gründlich  aufzuräumen,  Klarheit  und 
durchsichtiges  Verständniss  in  diesen  Knäuel  miss  verstand  lieber 


\ 


218  A.  Steudel: 

und   vielfach   sich  widersprechender  Anschaaungen,   und  Licht 
in  das  hier  obwaltende  mystische  Dunkel  zu  bringen. 

Dabei    habe  ich  mich  indessen  keiner  Täuschung  darüber 
hingegeben,    dass    meine  Kritik  und  die  daran  sieh  knüpfende 
Beform  der  Sittenlehre  sich  keines  sofort  sich  sichtbar  machen- 
den Erfolges  werde  erfreuen  dürfen.     Inveterirte,  seit  undenk- 
lichen Zeiten  wie  ein  gefeites  Evangelium  für  heilig  gehaltene 
Doctrinen   und    Glaubenssätze    sind,    insbesondere  auf  schrift- 
stellerischem Wege,  äusseret  dentlich  schwer  zu  corrigiren.    Die 
Menge  hält  sich  ferne  von  wissenschaftlichen  Erörterungen,  zu 
ihr   vermag    daher    ein    solches   reformatorisches  Unternehmen 
gar    nicht  durchzudringen,   und   wenn  es  auch  wirklich  an  sie 
heranträte,   so   würde    sie  es  sich  nicht  zu  einem  klaren  und 
durchschlagenden   Verständniss   zu   bringen    vermögen.     Philo- 
sophen  aber,   welche    in  einer  bestimmten  Frage  bereits  Stel- 
lung genommen  haben,  pflegen  sich  —  das  ist  eine  Erfahrungs- 
Thatsache  —  daraus  durch  keinerlei  Angriffe  und  dnrch  keine, 
wenn  auch  noch  so  gewichtige  Argumente  verdrängen  zu  lassen, 
und  sind  dabei  in  der  Kegel  nur  darauf  bedacht,  solche  sie  be- 
drohende Neuerungen,   so  gut  es  eben  gehen  mag,   wenn  auch 
nur  durch  Ignoriren  derselben,  von  sich  abzuwehren,  ohne  mit 
redlichem,  wissenschaftlichem  Ernst  und  mit  ruhiger  objectiver 
Hingebung  an  die  Sache  sich  auf  die  Streitfragen  selbst  einzu- 
lassen.    Ich    durfte    mir  daher  auf  näher  eingehende,    zumal 
beiföllige,  Besprechungen  meines  Buches  keine  grosse  Hoffnung 
machen,    namentlich   nieht    in  Becensionen    der    gewöhnlichen 
Art,  in  welchen  sieh  nur  selten  auf  eine  wirklich  wissenschaft- 
liche Discussion  des  Inhalts  des  recensirten  Buches  eingelassen 
zu   werden  pflegt.     So  war  ich  denn  auch  nicht  im  mindesten 
überrascht,  als  ich  in  Bd.  XIII  S.  381  ff.  der  Philosophischen 
Monatshefte    eine   nichts  weniger  als  freundliche  und  günstige 
Becension    meines    Buches    von    Professor    Lassen    las.      Wie 
konnte   diese   auch   günstig  ausfallen,    da  der  Becens^at  sagt, 
unsere  beiderlei  Ansichten  seyen  durch  Entfernungen  getrennt, 
welche  nur   durch    Sirius  -  Weiten    gemessen  werden  können? 
Diese  Becension   gab   mir  jedoch  keinen  Anlass  zu  einer  Ent- 
gegnung, da  die  Freiheit  des  Urtheils  in  Becensionen  anerkannt 
werden   muss,   und   die  Becension  keine  wesentliche  sachliche 
Unrichtigkeiten,  namentlich  keine  Entstellungen  enthält,    ihre 
Mäkeleien   über  die  Disposition   meines   Buehes   aber,    gegen 
w^elche  ich  mich  wohl  hätte  verth^idigen^  können,  für  die  Sashe 
selbst,  um  wtelche  es  mir  zu  thun  war,  von  gar  keiner  Erheb^- 
lichkoit  sind. 


Zum  ethischen  Problem.  219 

Nun  hat  aber  die  Zeitschrift  für  Philosophie  und  philo- 
öophische  Kritik  van  Fichte,  Ulrioi  und  Wirth  Bd.  72  S.  153  if. 
unter  der  Bubrik  „B^ensionen"  einen  Aufsatz  von  Professor 
TJlrici  über  mein  Buch  gebracht,  zu  welchem  ich  nicht  still- 
schweigen kann,  da  er  fast  nichts  als  XTnrichtigkeiten  und  Un- 
wahrheiten enthält,  auf  welche  dann  —  also  in  ganz  unbe- 
gründeter Weise  —  gehässige  Verunglimpfungen  gegen  mich 
gebaut  werden,  welche  darauf  berechnet  zu  seyn  scheinen,  und 
jedenfalls^  wenn  ich  dazu  stillschweigen  würde,  die  Wirkung 
haben  müssten ,  von  der  Leetüre  meines  Buches  zurückzu- 
schrecken. Gegenüber  von  solchen  Unwahrheiten,  Entstellungen 
und  Invectiven  ist  es  für  mich  eine  Forderung  der  Ehre,  von 
dem  Bechte  der  Vertheidigung  Gebrauch  zu  machen.  Daneben 
erachte  ich  es  jedoch  auch  für  eine  Pflicht  gegen  die  freie 
wissenschaftliche  Bichtung,  welche  ich  vertrete,  sie  nicht 
auf  eine  solche  zum  mindesten  leichtfertige  Art  beschmutzen 
tmd  schädigen  zu  lassen,  sondern  sie  hiegegen  in  Schutz  zu 
nehmen.  Dabei  dürfte  indessen  das,  was  ich  vorzutragen  habe, 
zugleich  einen  weiteren  Beitrag  zur  Lösung  des  ethischen 
Problems,  wenn  auch  nur  in  einigen  Detailfragen,  liefern. 

Vor  Allem  muss  ich  bemerken,  dass  der  Aufsatz  Ulrici's 
d«n  Namen  einer  Becension  gar  nicht  verdient.  Eine  Becen- 
sion  soll  doch  ein  Urtheil  über  den  Inhalt  des  recensirten 
Buches  geben;  sie  muss  daher  diesen  Inhalt  seinen  wesent- 
lichen Partien  nach  dem  Leser  vorföfaren  und  ihn  besprechen. 
Hier  aber  erfährt  der  Leser  von  dem  Inhalt«  des  recensirten 
Buches  so  gut  als  gar  nichts.  Die  Besprechung  beschränkt 
sich  vielmehr  einmal  auf  eine  8telle  der  Eiinleitung,  in  wel- 
cher ich  nur  auf  ein  Resultat  meiner  im  ersten  Theile  des 
Werkes  geführten  Untersuchungen  zurückweise,  und  dann  aaf 
einige  kritische  Bemerkungen,  zu  denen  mich  gewisse  in  den 
Schriften  Ulrici's  selbst  enthaltene  Erörterungen  veranlasst 
kabeu;  wa  also  meine  eigenen  positiven  Gedanken  gar  nicht  zur 
Spvaehe  kommen. 

Der  Itfhalt  des  recensirten  Buches  ist  kurz  folgender: 
Die  Eifileitting  giebt  zuerst  eine  kurze  Erörterung  über  den 
meist  missTerständlich  viel  zu  weit  gefassten  Begriff  des  W^illens, 
und  dann  eine  aosiührlioke  Abhandlung  über  die  Frage  der 
menechlichen  Willens -Freiheit,  in  welcher  ich  durch  die  ganz 
unabhängig'  von  den  Ergebnis»^  meines  theoretischen  Philo- 
sophirens,  ganz  voraussetzungslos  und  analytisch  gehaltene  Un- 
teffiBUohung  zu  dem  Besultate  gefülirt  werde*^  dass  es  keine 
Fr^heit  des   menschlichen   Willens  gebe   und   der  Glaube  »i 


220  A.  Steudei: 

diese  Freiheit  auf  einer  Illusion  beruhe.  Dieses  Resultat  habe 
ich  jedoch  keineswegs  zur  Grundlage  und  zum  Ausgangspunkt 
meiner  darauf  folgenden  Kritik  der  Sittenlehre  gemacht,  viel- 
mehr ist  auch  diese  Kritik  ganz  voraussetzungslos  und  rein 
analytisch  gehalten.  Ich  gebe  hier  im  ersten  Buche  eine  Auf- 
führung und  Kritik  der  Ansichten  und  Aufstellungen  anderer, 
und  zwar  in  Betreff  des  Begriffs  und  Wesens  der  Sittlichkeit, 
in  Betreff  der  aufgestellt  werdenden  Moralprincipien ,  der  Be- 
griffe von  gut  und  böse,  der  Begründung  des  Sittengebots, 
unter  Erörterung  der  Begriffe  des  Sollens,  der  Pflicht,  der 
Schuld,  des  Gewissens;  sodann  in  Betreff  der  Beziehung  der 
Sittlichkeit  zu  Gott,  der  Frage  einer  sittlichen  Weltordnung 
und  einer  Theodicee,  und  endlich  in  Betreff  des  Verhältnisses 
der  Sittlichkeit  zur  Glückseligkeit.  Im  zweiten  Buche  ent- 
wickle ich  dann  positiv  meine  eigenen  Ansichten  und  meine 
Gedanken  über  eine  Reform  der  Sittenlehre.  Das  Ergebniss 
dieser  Erörterungen  geht  dahin,  dass  der  hergebrachte  Begriff 
der  Sittlichkeit,  wonach  sie  das  verdienstliche  und  zum  An- 
spruch auf  Belohnung  berechtigende  Befolgen  eines  verbind- 
lichen Sittengesetzes,  die  Unsittlichkeit  aber  eine  strafbare 
Schuld  sein  soll,  an  unauflöslichen  Widersprüchen  laborirt; 
dass  es  ein  wirkliches,  für  den  Menschen  verbindliches  Sitten- 
gesetz gar  nicht  giebt  und  nicht  geben  kann^  da  alle  Sitten- 
gebote nur  Ausflüsse  der  Selbstgesetzgebung  des  Menschen  sind, 
eine  solche  Selbstgesetzgebung  aber  keine  positive  Verbindlich- 
keit begründet;  dass  die  Begriffe  von  gut  und  böse  sich  schliess- 
lich nur  auf  die  Annehmlichkeit  oder  Unannehmlichkeit  unserer 
Gefühle  und  Empflndungen  beziehen;  dass  die  Vorstellung  eines 
sittlichen  Gottes,  eines  Gottes  als  sittlichen  Gesetzgebers  und  sitt- 
lichen Richters,  ohne  welche  Vorstellung  der  hergebrachte  Be- 
griff der  Sittlichkeit  gar  nicht  durchführbar  ist,  eine  gänzlich 
unhaltbare,  mit  dem  Begriff  eines  absoluten  Gottes  im  ent- 
schiedensten Widerspruche  stehende  Vorstellung  ist;  dass  bei 
dem  hergebrachten  transscendentalen  Begriff  der  Sittlichkeit 
Gott  unausweichbar  der  Grund  und  die  wollende  Ursache  des 
Bösen,  und  daher  eine  Theodicee  auf  keine  Weise  zu  begründen 
ist.  An  die  Stelle  jener  hergebrachten  transscendentalen  Sitt- 
lichkeit tritt  dann  folgender  andere  Begriff  der  Sittlichkeit. 
Es  herrschen  im  Menschengeschlechte  seiner  einmal  von  Natur 
so  angelegten  Oekonomie  nach  zwei  sich  entgegengesetzte  Arten 
von  Instincten  und  Trieben,  die  socialen  und  humanistischen 
Triebe  und  Instincte  auf  der  einen,  und  die  antisocialen,  rein 
egoistischen  Triebe  und  Instincte  auf  der  anderen  Seite.     Der 


Zum  ethischen  Problem.  221 

in  seinem  Wohlbefinden,  in  seinem  gemüthlichen  und  glück- 
lichen Zusammenleben  verletzte  oder  doch  gefährdete  Theil 
der  Gesellschaft  macht  nun  natürlicher  Weise  Opposition  gegen 
die  ihn  behelligenden  antisocialen  Triebe  und  Instincte,  sucht 
sich  ihrer  zu  erwehren  und  so  weit  möglich  ihnen  vorzubeu- 
gen, oder  wenigstens  einen  Gompromiss  mit  ihnen  einzugehen. 
Das  ist  denn  auch  natürlicher  Weise  das  Interesse  und  die 
sich  geltend  machende  Stimmung  der  sich  bildenden  Volks- 
gemeinschaften, in  denen  sich  eine  ein  solches  autisociales  Ge- 
baren verdammende,  und  dagegen  eine  den  humanistischen 
und  socialen  Trieben  entsprechende  Lebensweise  thunlichst  för- 
dernde Volkssitte  ausbildet,  welcher  der  Einzelne  bei  Ver- 
meidung des  Tadels  und  der  Missachtung  der  Gesellschaft,  ja 
auch  wohl  eines  missliebigen  Einschreitens  gegen  ihn  sich  zu 
fügen  hat.  Dies  ist  nun  das  wahre  Princip  dessen,  was  man 
das  Sittliche  nennt.  Die  Bildung  dieses  Sittlichkeitsprincips 
ist  hiernach  ein  rein  menschlicher  Process,  bei  dem  von  der 
Wirkung  einer  göttlichen  Gesetzgebung  nicht  die  Rede  seyn 
kann,  wenn  auch  das,  was  sich  so  als  Volkssitte  gestaltet,  ver- 
möge der  bei  allen  Völkern  sich  bildenden  religiösen  Vorstel- 
lungen stets  durch  diese  tingirt  zu  werden  pflegt.  Sittlichkeit 
in  dem  hiernach  sich  ergebenden  Sinne,  also  gereinigt  von 
allen  transscendentalen  Beziehungen  zur  Gottheit,  ist  somit 
ihrem  Entstehen  und  ihrem  wahren  Wesen  nach  nichts  an- 
deres, als  durchaus  autonome,  nach  Umständen  calculirende 
Lebensweisheit. 

Anstatt  nun  diesen  meinen  Gedankengang  darzulegen  und 
zu  besprechen ,  beginnt  die  sogenannte  Recension  nach  einigen 
bedeutungslosen  sprachlichen  Bemerkungen,  welche  keiner  Ent- 
gegnung bedürfen,  mit  den  sich  ausschliesslich  auf  die  Frei- 
heitsfrage beziehenden  Worten: 

üra  meine  eigene  Auffassung  (worüber,  ist  nicht  gesagt) 
nach  Geist  und  Gehalt  zu  charakterisiren,  werde  es  genügen, 
die  Schluss  -  Stelle  der  Einleitung,  in  welcher  ich  das  Re- 
sultat meiner  Erörterung  der  Freiheitsfrage  zusammenfasse, 
herzusetzen. 

Darauf  giebt  die  Recension  abschriftlich  (übrigens  mit 
einem  Druckfehler)  eine  auf  S.  105  —  6  des  Buches  meiner 
Abhandlung  über  die  Freiheitsfrage  angehängte  Bemerkung, 
worin  ich  sage,  dass  das  Resultat  meiner  vorstehenden,  ganz 
objectiv  und  analytisch  gehaltenen  Erörterungen  der  Freiheits- 
frage zugleich  eine  nothwendige  Folge  des  Verhältnisses  der 
geistigen  Substanz  zu  der  Welt  und  zu  den  Menschen  sey,  wie 


222  A.  Steudel: 

«B  sich  im  ersten  Theile  meiDes  Werkes  in  Folge 
der  dort  angestellten  theoretischen  Untersuchun- 
gen herausgestellt  habe.  Von  diesen  in  meinem  ersten  Theile 
gepflogenen  Untersuchungen  ist  jedoch  meine  in  dem  recen- 
sirten  Buche  (S.  7 — 105)  stehende  Erörterung  der  Freiheits- 
Arage  ganz  uDabhängig^  sie  hält  sich  durchaus  selbstständig  und 
nimmt  gar  keinen  Bezug  auf  das  im  ersten  Theil  untersuchte 
Yerhältniss  der  geistigen  Substanz  zur  Welt  und  zum  Men- 
schen, und  durch  jene  meine  von  der  Becension  wiedergegebene 
Bemerkung  sollte^  wie  in  derselben  ausdrücklich  gesagt  ist,  nur 
die  Gongruenz  des  Resultats  meiner  Untersuchung  der  Freiheits- 
frage mit  der  aus  den  Besultaten  der  im  ersten  Theil  enthal- 
tenen theoretischen  Untersuchungen  sich  ergebenden  Conaequen- 
zen  constatirt  werden.  Und  nun  stellt  es  die  Becension,  indem 
«ie  des  Inhalts  meiner,  in  dem  recensirten  buche  ent- 
haltenen Abhandlung  über  die  Freiheitsfrage  mit 
keiner  Sylbe  Erwähnung  thut,  so  hin,  als  ob  ich  in  jener  Be^ 
merkung  das  Resultat  dieser  meiner  Erörterung  der 
Freiheits frage  zusammenfasse.  Das  ist  somit  geradezu 
unwahr.  Hierdurch  ist  nun  von  selbst  die  Aeusserung  der 
Becension  gerichtet:  dass  die  Anführung  jener  meiner  Bemer- 
kung genügen  werde^  um  meine  Auffassungen  (der  Sittlichkeits- 
frage ?!),  von  denen  die  Becension  mit  keiner  Sylbe  Kunde 
giebt,  nach  Geist  und  Gehalt  zu  charakterisiren.  Ich  brauche 
hiernach  dem  Urtheil  über  dieses  Verfahren  der  Becension 
keine  weiteren  Worte  zu  leihen. 

Nach  Anführung  jener  meiner  Bemerkung  sucht  mich  dann 
die  Becension  mit  den  Worten  niederzuschlagen: 

„Dieser"  —  also  der  in  jener  Bemerkung,  nicht  in  mei- 
ner Abhandlung  über  die  Freiheitsfrage  enthaltenen  —  „Lö- 
sung der  Freiheitsfrage  wird  jeder  philosophische  Forscher 
den  Einwand  entgegen  halten :  Aber  wie  kommt  es  oder  wie 
lässt  es  sich  erklären,  dass  Gott  in  dem  einen  Menschen  als 
eingefleischter  Egoist^  als  abgefeimter  Betrüger,  als  verstock- 
ter Verbrecher,  in  dem  andern  als  sich  hingebender  Gatte 
und  Vater,  als  aufopfernder  Patriot  und  Menschenfreund  er^ 
scheint  oder  sich  darlebt?  Da  wir  auf  diese  Frage  keine 
Antwort  erhalten,  weil  sie  sich  von  des  Verfassers  Prämissen 
aus  nicht  beantworten  lässt  etc."    • 

Darauf  habe  ich  vor  Allem  zu  bemerken,  dass  das,  was 
ich  in  der  allegirten  Bemerkung  sage,  gar  keine  „Lösung"  der 
Freiheitsfrage  ist  und  seyn  will,  sondern  nur  eine  Bemission 
auf  die  im  ersten  Theil  enthaltenen  Untersuchungen ,    dass  so- 


Zum  ethischen  Problem.  223 

mit  die  Exclamation  der  Beceusion  nur  jenen  ersten  Theil, 
und  nicht  das  recendirte  Buch,  treffen  würde,  von  dessen  Ab- 
handlung über  die  Freiheitsfrage,  welche  Abhandlung  allein 
eine  Lösung  dieser  Frage  geben  will,  die  Rccension  gar  keine 
Notiz  nimmt. 

Im  Uebrigen  ist  jener  Einwand  vom  Standpunkte  der  An- 
nahme eines  sittlichen  Gottes  aus  gestellt,  und  ruht  auf  der 
Prätension,  dass  nur  derjenige  das  Pradicat  eines  Philosophen 
yerdiene,  der  sich  auf  diesen  Standpunkt  stelle.  Hier  hätte 
daher  der  Recensent  allen  Anlass  gehabt,  sich  auf  das  Kapitel 
des  recensirten  Buches  einzulassen,  das  von  der  Beziehung  der 
Sittlichkeit  zu  Gott  handelt,  und  wo  ich  unwiderleglich  nach- 
gewiesen zu  haben  glaube,  dass  die  Vorstellung  eines  sittlichen 
€k)ttes  ihrer  Widersprüche  wegen  eine  schlechterdings  unhalt- 
bare ist,  was  also  auch  von  dem  Standpunkte  gilt,  auf  welchen 
sich  der  Kecenseut  hier  gestellt  hat.  Die  Kecension  berührt 
jedoch  das  Alles  gar  nicht.  Ob  nun  der  Kecensent  von  jenem 
seinem  Standpunkt  aus  ohne  Weiteres  berechtigt  war,  dem- 
jenigen, der  denselben  nicht  mit  ihm  theilt,  die  Eigenschaft 
eines  philosophischen  Forschers  abzusprechen,  was  von  ihm 
stillschweigend  per  consequentiam  geschieht,  diese  Frage  be- 
antwortet sich  hiemach  von  selbst.  Ich  kann  mich  daher  über 
jenes  Urtheil  um  so  leichter  trösten,  als  dasselbe  auf  dogma- 
tischer, ketzerrichterlicher,  mit  der  Yoraussetzungslosigkeit  der 
Philosophie  unverträglicher  Bornirtheit  beruht. 

Was  aber  die  von  der  Recension  mir  entgegengeworfene 
Frage  betrifft:  wie  es  komme,  dass  Gott  sich  in  der  Mensch- 
heit in  so  verschiedenartigen  Weisen  und  Gestalten  darlege, 
so  wäre  es  eine  Yermessenheit,  die  Motive  Gottes  bei  seiner 
Ausgestaltung  zur  Welt  —  oder  auch  von  Ulrici's  Standpunkt 
aus  seiner  Weltregierung  —  mit  positiver  Bestimmtheit  dar- 
legen zu  wollen.  Es  können  hier  mit  Sicherheit  nur  in  nega- 
tiver Weise  unberechtigte  und  unhaltbare  Aufstellungen  zurück- 
gewiesen, in  positiver  Weise  aber  kaum  mehr  als  Vermuthun- 
gen  gegeben  werden.  In  beiderlei  Beziehungen  glaube  ich  das 
Mögliche  geleistet  zu  haben;  und  wenn  die  Becension  sagt: 
man  erhalte  auf  jene  Frage  von  mir  keine  Antwort,  weil  eine 
solche  von  meinen  Prämissen  aus  nicht  möglich  sei,  so  beweist 
dieses  nur,  dass  der  Becensent  sich  mit  meii^en  Büchern  nur 
sehr  oberflächlich  beschäftigt  haben  kann.  Ich  habe  mich  über 
diesen  Gegenstand  schon  in  meinem  ersten  Theile  (Abth.  II 
S.  368,  396,  397,  404)  folgendermaassen  ausgesprochen:  Wir 
müssen  uns  bescheiden ,  uns  in  dieser  Beziehung  überall  keine 


224  A.  Steudel: 

Vorstellung  von  dem  göttlichen  Leben  machen  zu  können.  Es 
sei  jedoch  ein  vollkommen  berechtigter  Gedanke,  dass  Gott,  da 
es  für  ihn  in  seiner  reinen  Wesenheit  kein  mit  Beizen,  Em- 
pfindungen und  Gefühlen  ausgestattetes  Leben  geben  könne, 
in  seiner  peripherischen  Ausgestaltung  zur  Welt  ein  solches 
reizvolles,  psychisches  Leben  habe  leben,  die  mit  dem  psychi- 
schen Leben  nothwendig  gesetzten  Gegensätze  selbst  an  sich 
habe  erleben,  und  auf  dem  Meere  der  daraus  sich  entwickeln- 
den Illusionen  sich  habe  wiegen  wollen,  ohne  dass  übrigens 
darin  das  wahre  Seyn  und  Leben  Gottes  an  sich  zu  erkennen 
wäre.  In  dem  recensirten  Buche  selbst  sodann  habe  ich 
(S.  377  ff.)  nachzuweisen  gesucht,  dass  gerade  von  dem  her- 
gebrachten sittlichen  Standpunkt  —  also  von  dem  meines  Be- 
censenten  —  aus  eine  Theodicee,  eine  wirkliche  Rechtfertigung 
Gottes  wegen  des  Bösen  in  der  Welt  durchaus  unmöglich  sei 
(s.  auch  S.  594),  und  mich  dabei  noch  weiter  ausgesprochen, 
wie  folgt:  Alle  Moralprincipien  seien  selbstverständlich  nur  für 
Menschen  und  zur  Ordnung  menschlicher  Verhältnisse  aufge- 
stellt, passen  daher  auf  Gott  gar  nicht.  Es  sei  eine  Anmassung, 
zu  statuiren,  dass  diese  Moralprincipien,  nach  welchen  dem 
einen  dieses,  dem  andern  jenes  als  sittlich  gut  und  wünschens- 
werth  gelte,  für  Gott  in  irgend  einer  Weise  verbindlich  seyn 
sollen,  dass  der  absolute  Gott  sich  solchen  durchaus  hypothe- 
tischen Menschensatzungen  unterzuordnen  und  sich  zum  Voll- 
strecker derselben  herzugeben  habe,  um  sittlich  zu  seyn.  Der 
Mensch  nenne  das  Eine,  da  es  ihm  angenehme  Gefühle  und 
Empfindungen  mache,  gut,  das  Andere,  da  es  ihm  unangenehme 
Gefühle  und  Empfindungen  mache,  schlimm  und  böse;  aber  er 
habe  kein  Recht,  dem  hiernach  für  ihn  sich  bildenden  Maass- 
stab auch  Geltung  für  Gott  beizulegen.  Gott  habe  es  so  ge- 
wollt, dass  das  ganze  Menschenleben  und  die  Menschenge- 
schichte eine  Combination  und  ein  fortdauernder  Conflint  von 
mit  einander  im  Kampfe  liegenden  Gegensätzen  seyn  solle;  er 
habe  nicht  die  langweilige  Einförmigkeit  eines  idyllischen  that- 
losen  Dahinlebens  der  Menschheit  gewollt,  sondern  eben  das 
durch  die  Reibung  jener  Gegensätze  bedingte  und  getragene 
bunte  und  wechselvolle  Farbenspiel  des  Menschenlebens  gerade 
in  der  Gestaltung,  in  der  es  sich  vor  unseren  Blicken  entrolle, 
mit  all  seinen  Jllusionen,  Schwachheiten  und  Verirrungen.  Zu 
dem  so  von  Gott  ganz  direct  Gewollten  und  nicht  blos  Zuge- 
lassenen gehöre  auch  das,  was  der  Mensch  das  üebel  und  das 
Böse  nenne.  Dieses  Böse  sei  sonach  nichts  weniger,  als  etwas 
gegen  Gott  sich  Auflehnendes,  eine  sich  ihm  entgegensetzende 


Zum  ethischen  Problem.  225 

Macht,  die  er  zu  bekämpfen  und  mit  Strafen  zu  yerfolgen  hätte. 
Der  menschliche  Begriff  des  Bösen  falle  vielmehr  in  Beziehung 
auf  Gott  ganz  in  sich  zusammen.  Was  Gott  wolle,  das  könne  für 
ihn  nicht  böse  seyn,  und  wegen  dessen  bedürfe  es  für  ihn 
keiner  Bechtfertigung,  keiner  Theodicee.  Der  Begrifl^  des  Bö- 
sen habe  in  Beziehung  auf  Gott  keinen  Sinn  und  keine  Be- 
deutung. Alles  das  gewinne  sein  genügendes  und  vollständig 
beruhigendes  Verständniss  in  der  Einsieht,  dass  Welt  und 
Menschheit  nichts  anderes  seyen,  als  das  peripherische  Leben 
Gottes  selbst,  dass  er  das  in  der  Menschheit  sich  manifesti- 
rende  vielbewegte  und  vielgestaltige  psychische  Leben,  das 
eben  durch  den  Gonflict  aller  jener  Gegensätze  bedingt  sei, 
äusserlich  an  sich  habe  erleben  wollen.  Wer  möchte  sich  nun 
erheben  und  mit  Gott  darüber  rechten,  warum  er  gerade  ein 
solches,  aus  Lust  und  Schmerz,  aus  Genuss  und  Mühsal  zu- 
sammengesetztes Leben  für  seine  irdisch  -  menschliche  Darlebung 
sich  gewählt  habe?  Angesichts  der  Menschheitsgeschichte  dürfe 
man  wohl  sagen,  es  gehöre  zur  Bestimmung,  zum  göttlichen 
ürgedanken  der  Menschheit,  dass  sie  eine  bleibende  Schatti- 
ning  von  Glück  und  Unglück,  von  Lust  und  Unlust  darstelle. 
(S.  363,  596—98.) 

Wenn  dann  die  Becension  weiter  sagt:  Mein  „extrem  pan- 
theistischer  Gottesbegritf''  und  meine  Metaphysik  seien  „im 
Grunde  der  einzige  Grund'',  weshalb  ich  dem  Menschen  alle 
Freiheit  abspreche,  so  muss  man  daraus  mit  Nothwendigkeit 
schliessen,  dass  der  Recensent  meine  Abhandlung  über  die 
Freiheitsfrage  gar  nicht  gelesen  habe;  denn  dann  müsste  er 
ja  gefunden  haben,  dass  in  derselben  von  dem  in  meinem 
ersten  Theile  gefundenen  Gottesbegriff  mit  keiner  Sylbe  die 
Bede  ist,  dass  ich  vielmehr  die  Untersuchung  ganz  selbstäp- 
dig  ohne  jede  Voraussetzung  in  ganz  analytischer  Weise  ge- 
führt habe,  und  dass  bei  dem  Besultate  dieser  Untersuchung 
mein  Gottesbegriff  entfernt  keine  Rolle  spielt. 

Wenn  die  Recension  bei  dieser  Gelegenheit  das  ganz  un- 
motivirte  Urtheil  hinwirft,  dass  meine  Metaphysik  auf  sehr 
schwachen  Füssen  stehe,  so  muss  ich  dahin  gestellt  seyn  lassen, 
was  den  Recensenten  zu  Aussprechung  dieses  Urtheils  bewogen 
haben  möge.  Jedenfalls  muss  ich  demselben,  so  lange  es  nicht 
genügend  begründet  wird,  jeglichen  Werth  absprechen.  Der 
Umstand,  dass  meine  Philosophie  von  derjenigen  des  Herrn 
Professors  allerdings  bedeutend  divergirt,  und  dass  ich  häufig  — 
auch  in  dem  recensirten  Buche  —  in  den  Fall  gekommen  bin^ 
ihm   polemisch   entgegentreten    zu  müssen  —  und  das  wissen- 

Yierteljalirssclirift  f.  wiasenschaftl.  Philosophie.    III.  2.  15 


226  A.  Steudel: 

schaftliche  Eecht,  meine  stets  motiTirte  Urtheile  immer 
auch  frei  auszusprechen,  muss  ich  mir  wahren  —  dieser  Um- 
stand für  sich  könnte  fttr  ihn  das  Eecht  nicht  hegründeu,  mit 
einem  solchen  verletzenden  Urtheil,  ohne  es  ii^end  wie  zu  be- 
gründen, vor  die  Oeffentlichkeit  zu  treten.  Die  in  der  Note 
geschehene  Allegirung  der  früher  in  jener  Zeitschrift  erschie- 
nenen vielfach  anerkennenden  Becension  des  ersten  Theils 
meines  Werks  und  eines  nachgefolgten  weitem  Aufsatzes  über 
denselben  von  H.  Schwarz  kann  ich  nicht  als  eine  solche  Be- 
gründung anerkennen.  Jedenfalls  war  es  übrigens,  wenn  der 
Kecensent  jene  Aufsätze  allegirte,  eiqe  Forderung  der  Billig- 
keit, auch  meiner  (in  derselben  Zeitschrift  Bd.  64  8.  305  ff. 
und  Bd.  66  S.  322  ff.)  darauf  erschienenen  Erwiderungen  zu 
gedenken.  Ich  bin  überzeugt,  dass  jeder  unbefangene  Leser 
des  ersten  Theils  meines  Werks  ein  ganz  anderes  Urtheil,  als 
mein  Kecensent,  darüber  fallen  wird.  —  Es  verbreitet  sich 
indessen  dieser  erste  Theil  nicht  bloss  über  diejenigen  Fragen, 
welche  man  speciell  zur  Methaphysik  zu  rechnen  pflegt,  son- 
dern über  alle  theoretische  Hauptfragen  der  Philosophie, 
namentlich  diejenige  der  Erkenntnisstheorie. 

Dabei  bemerke  ich  gelegentlich,  dass  ich  für  meine  theo- 
retische Philosophie  absichtlich  nicht  den  Namen  einer  Meta- 
physik in  Anspruch  nehme,  da  dieser  Name  nach  Speculation 
schmeckt,  ich  aber  das,  was  man  unter  Speculation  begreift, 
worüber  ich  mich  ebenfalls  in  meinem  ersten  Theil  (Abth.  I 
S.  49  ff.)  ausgesprochen  habe,  als  eine  verfehlte  und  unbe- 
rechtigte Art  des  Philosophirens,  entschieden  verwerfe. 

Die  darauf  folgende  Bemerkung  der  Eecension:  Die  That- 
sache,  dass  wir  das  unabweisliche  Bewusstseyn  der  Freiheit 
unsrer  Wiilensentschli essung  (wenigstens  in  den  allermeisten 
Fällen)  haben,  läugne  ich  selbst  nicht,  weil  sie  sich  nicht 
läugnen,  nicht  abweisen  lasse,  ist  eine  abermalige  Unrichtig- 
keit. Ich  sage  (8.  43  —  44  meines  Buches)  ausdrücklich:  Ich 
müsse  durchaus  bestreiten,  dass  es  ein  Bewusstseyn  der 
Freiheit  gebe;  denn  der  Gegenstand  des  Bewusstseyns  könne 
immer  nur  etwas  Thatsächliches  seyn,  was  die  Freiheit  nicht 
sey,  die  für  uns  immer  nur  in  der  Form  eines  Gedankendings 
existire,  was,  wie  ich  (S.  38)  angeführt  habe,  Uirici  selbst  an- 
erkennt. Das  Thatsächliche  aber,  dessen  wir  uns  hier  bewusst 
werden,  sei  nur  der  Umstand,  dass  wir  keinen  inneren  Zwang 
fühlen,  durch  welchen  wir  zu  unserem  Wollen  genöthigt  würden. 
Wenn  wir  nun  aber  schliessen,  dass  eine  Nöthigung,  welche 
wir  nicht  fühlen,  auch  thatsächlich  nicht  bestehe,  so    sei    dies 


Zum  ethischen  Problem.  227 

ein  FehUohluss.  Was  man  Bewusstseyu  der  Freiheit 
nenne,  sey  sonach  ein  blosser  Glaube,  der  jedoch  nicht 
gerechtfertigt  sey  (ß.  72  ff.). 

Wenn  die  Recension  dann  weiter  sagt:  Dass  jenes  (an- 
gebliche) Bewusstseyn  der  Freiheit  eine  Selbsttäuschung  sey, 
habe  ich  „in  objectiTer  analytischer  Weise"  —  also  abgesehen 
von  jenem  (mir  unterstellten)  metaphysischen  Argument  — 
nicht  bewiesen,  weil  es  sich  in  „objectiver  analytischer"  Weise, 
also  von  gegebenen  Thatsachen  aus,  nicht  beweisen  lasse;  so 
wäre  vor  Allem  festzustellen,  wem  denn  in  der  Freiheitsfrage 
die  Beweislast  obliege,  ob  demjenigen,  welcher  die  Freiheit, 
oder  demjenigen,  welcher  die  Unfreiheit  des  menschlichen 
Willens  behauptet.  Auch  hierüber  habe  ich  mich  in  meinem 
Buche  (S.  38)  und  zwar  dahin  ausgesprochen,  dass,  da  weder 
für  das  Eine,  noch  für  das  Andere  eine  Vermuthung  spreche, 
derjenige,  welcher  eines  von  beiden  behaupte,  dafür  beweis- 
pflichtig  sey.  Es  liegt  hiernach  auch  denjenigen,  welche  die 
Freiheit  behaupten,  die  Verbindlichkeit  ob,  dafür  einen  strin- 
genten  Beweis  zu  erbringen,  und  sie  können  die  Gegner  nicht 
damit  abfertigen,  dass  sie  ihnen  die  Beweislast  zuschieben. 
Nun  hat  aber  Ulrici  (s.  S.  38  meines  Buches  und  S.  156  oben 
der  Becension)  selbst  anerkannt,  dass  sich  die  wirkliche  Ex- 
sistenz  der  Freiheit  auf  keine  Weise  darthun  lasse.  Ich  aber 
glaube  allerdings  auf  objective,  analytische  Weise 
und  auf  den  Grund  psychischer  Thatsachen  einen 
yoUen  Beweis  dafür  geführt  zu  haben,  dass  es  keine  mensch- 
liche Willensfreiheit  gebe,  dass  eine  solche  eine  Unmöglichkeit 
sey,  wofür  ich  auf  jene  meine  Abhandlung  über  die  Freiheits- 
frage verweisen  muss.  Davon  ist  es  aber  dann  eine  selbst- 
verständliche Folge,  dass  der  Freiheitsglaube  ein^  Selbsttäu- 
schung ist.  Wenn  diese  Nichtexistenz  der  Freiheit  Consequenzen 
mit  sich  führt,  welche  dem  Einzelnen  unerwünscht  sind,  so 
kann  dieses  natürlich  nicht  als  ein  Gegenai^ment  geltend  ge- 
macht werden. 

Ich  sage  allerdings,  das  menschliche  Handeln  sey  ein  mit 
schlechthiniger  Noth wendigkeit  determinirtes ;  von  Natur- 
nothwendigkeit  aber  habe  ich  nicht  gesprochen. .  Die  Belehrung 
der  Becension,  dass  es  keine  schlechthinige  Naturnothwendig- 
keit  gebe,  trifft  mich  daher  gar  nicht,  und  war  um  so  un- 
nöthiger,  als  ich  (Th.  I,  Abth.  I,  S.  395  —  96)  selbst  geltend 
mache,  dass  die  Noth  wendigkeit  der  Naturgesetze  keine  imma^ 
nente,  begriffliche,  sondern  nur  eine  hypothetische  sey,  die  Ge- 
setze daher  auch  andere  seyn  könnten. 

15* 


228  A.  Steudel: 

Die  Invective^  dass  es  einen  starken  Mangel  an  „objectiyer, 
analytischer  Weise''  der  Erörterung  und  Auffassung  verrathe^ 
wenn  ich  dem  menschlichen  Wollen  und  Handeln  alle  Freiheit 
abspreche  und  doch  von  Eecht  und  Sittlichkeit  rede  —  wobei 
man  übrigens  nicht  begreift^  was  hiebei  die  Art  und  Weise 
der  Erörterung  der  Freiheitsfrage  zu  schaffen  haben  soll  — , 
hätte  mein  Becensent  sich  ersparen  können,  wenn  er  das,  was 
ich  in  dieser  Beziehung  ausgesprochen  habe,  gelesen  hätte  oder 
hätte  beachten  wollen.  Er  scheint  davon  auszugehen,  dass 
unter  Sittlichkeit  nichts  Anderes  verstanden  werden  könne^  als 
was  man  gemeinhin  und  herkömmlicher  Weise  darunt-er  zu  be- 
greifen pflegt ,  nehmlieh  eine  mit  Freiheit  geschehende  und  als 
ein  Verdienst  zuzurechnende  Befolgung  eines  transscendentalen 
Sittengesetzes.  Ich  habe  jedoch  an  die  Stelle  dieses  Begriffs 
einen  ganz  andern  Begriff  von  Sittlichkeit  —  von  Becht  spreche 
ich  gar  nicht  —  zu  setzen  gesucht,  und  muss  zum  Yerständ- 
niss  dessen  Einiges  aus  meinem  Buche  ausziehen.  Ich  ss^e 
z.  B.:  Das  Trachten  nach  dem  Wohle  der  ganzen  Gesellschaft 
gestalte  sich  bei  einzelnen  Völkern  zu  einer  Volkssitte.  Wer 
nun  dem  in  dieser  Volkssitte  sich  kund  thuenden  allgemeinen 
Willen;  das  Wohl  des  Granzen  nach  Möglichkeit  zu  fordern, 
gemäss  lebe  und  handle ,  wozu  vor  Allem  auch  die  Sorge  für 
sein  eigenes  körperliches  und  geistiges  Wohlergehen  gehöre, 
der  sey  sittlich;  wer  diesem  allgemeinen  Willen  entgegen  lebe 
und  handle»  der  sey  unsittlich.  Sittlich  sey  ein  Individuum 
um  so  mehr,  je  mehr  man  bei  ihm  versichert  seyn  könne,  dass 
es  immer  nur  der  allgemeinen  Sitte  und  dem  allgemeinen 
Wohle  gemäss  handeln  werde.  Dies  treffe  bei  den  sogenann- 
ten schönen  Seelen  zu,  denen  ein  unsittliches  Handeln  von 
Natur  eine  Unmöglichkeit  sey,  deren  Sittlichkeit  aber  eben 
deswegen  keine  verdienstliche  sey,  weil  sie  bei  ihnen  Natur- 
gesetz sey.  Sie  seyen  gerade  deswegen  in  ausgezeichnetem 
Maasse  sittlich,  und  ihre  Sittlichkeit  sei  eine  liebenswürdige, 
weil  sie  nicht  sittlich  sein  woUen,  über  Sittlichkeit  gar  nicht 
reflectiren.  Ich  verwerfe  eine  Sittenlehre  keineswegs,  ich  be- 
streite ihr  nur  die  Berechtigung,  sich  einen  transscendentalen 
Charakter  beizulegen,  und  beschränke  sie  auf  das  lediglich  im 
Diesseits  sich  bewegende  Streben  nach  einem  möglichst  glück- 
lichen und  angenehmen  Zusammenleben  der  Menschen.  Es  sey 
dies  freilich  eine  Sittlichkeit  ohne  Freiheit.  Darin  liege  jedoch 
kein  Widerspruch,  da  an  diesem  Begriffe  von  Sittlichkeit  keine 
transscendentale  Pflicht,  kein  Verdienst  und  keine  Schuld,  keine 
Belohnung  und  keine  Bestrafung  hänge.    Die  Calculationen  der 


Zum  ethischen  Problem.  229 

Lebensweisheit  bleiben  dieselben,  ob  man  das  Bestehen  der 
Freiheit  yemeine  oder  bejahe.  Es  wäre  indessen,  wenn  man 
die  üeberzeugung  gewonnen  habe,  dass  der  Freiheitsglaube  auf 
Selbsttäuschung  beruhe,  nichts  yerkehrter,  als  sich  deshalb 
einem  indolenten  und  thatlosen  Fatalismus  zu  ergeben.  Man 
solle  leben,  denken  und  handeln,  als  ob  man  frei  wäre;  das 
Naturgesetz  werde  sich  darin  nichts  dest«weniger  mit  Sicher- 
heit vollziehen.  Dabei  sey  auch  kein  'Qrwsd  vorhanden,  sich 
des  Begriffs  der  Sittlichkeit  zu  entschlagen;  denn  das  Norm- 
gebende in  diesem  Begriff  sey  das  objectiv  Gkite,  und  nicht  die 
subjective  Gesinnung  des  Handelnden.  So  seyeu  denn  auch 
diejenigen,  in  denen  ein  guter  Wille,  die  guten  socialen  In- 
stincte  präponderiren ,  vollkommen  berechtigt,  gegen  solche, 
welche  durch  Hingebung  an  ihre  antisocialen  Instincte  das  all- 
gemeine Wohl  gefährden  und  verletzen,  Unwillen  und  Miss- 
achtung  zu  hegen  und  zu  äussern,  und  hierdurch  in  diesen 
Motive  zum  Guthandeln  zu  schaffen  zu  suchen.  Zu  allem  die- 
sem brauche  man  keine  wirkliche  Freiheit  des  Willens,  son- 
dern nur  das  berechtigte  Waltenlassen  des  in  Allen  sich  äussern- 
den und  im  practisohen  Leben  mit  unwiderstehlicher  Gewalt 
und  unwillkürlich  sich  geltend  machenden,  wenn  auch  illu- 
sorischen, Geftlhls  der  Freiheit,  das  der  Mensch  mit  den 
Thieren  theile.  So  lasse  sich  denn  eine  Sittlichkeit  recht  wohl 
auch  bei  Verneinung  der  menschlichen  Willensfreiheit  anneh- 
men, und  es  sey  Ulrici  nicht  beizustimmen,  wenn  er  (in  seinem 
Naturrecht  S.  10,  65)  meine:  wer  die  Willensfreiheit  läugne, 
läugne  auch  alle  Ethik,  und  damit  den  Unterschied  von  Eecht 
und  Unrecht,  wahr  und  unwahr,  gut  und  böse ;  er  müsse  conse- 
quenter  Weise  alle  Staats-  und  Gemeinde  verbände,  die  nur 
auf  den  Begriffen  von  Gesetz,  Eecht  und  Pflicht  ruhen,  für 
sinnlose  Traditionen  erklären  und  auf  deren  Abschaffung  dringen. 
Im  Gegentheii  entsprechen  die  socialen  Institutionen  dem  natür- 
lichen Bedürfniss  der  Mehrzahl  der  Menschen,  und  üben  einen 
wohlthätigen  sittlichen  Einfluss  aus,  auch  wenn  keine  Willens- 
freiheit bestehe.  Wir  müssen  nur  wünschen ,  dass  die  Sitten- 
lehre von  all  den  abergläubischen  Beigaben,  mit  denen  sie  ver- 
brämt werde ,  gereinigt  und  ihr  der  angedichtete  transscenden- 
tale  Charakter  genommen  werde.  Dem  gemeinen  Wohl  werde 
dadurch  sicherlich  kein  Eintrag  geschehen.  Aber  freilich  müsste 
man  dabei  auch  darauf  bedacht  seyn,  ein  naturwüchsiges,  kräf- 
tiges, freies,  durch  keinen  Aberglauben  mehr  verkümmertes 
Volksleben  auf  jede  Weise  zu  fördern  (S.  521  —  22,  524,  538, 
588—591). 


280  A.  Steudel: 

Alles  das  ist  mit  der  Einsicht  recht  wohl  zu  vereinigen, 
dass  es  nur  Gott  ist,  der  sich  auch  im  Menschenleben  dar- 
lebt. Ist  es  denn  nicht  auch  Gott,  der  in  der  Natur  und 
ihrem  Leben  waltet?  Und  doch  geschieht  dies  unter  der 
Form  constanter  Naturgesetze,  die  nach  Umstanden  auch  der 
Mensch  sich  dienstbar  machen  kann.  In  gleicher  Weise  hat 
sich  das  freie  Walten  Gottes  im  psychischen  Leben  des  Men- 
schen an  die  Form  bestimmter  Gesetze  gebunden,  auf  deren 
erfabrungsmässige  Eenntniss  der  Mensch  mit  vollem  Beoht 
seine  socialen  Institutionen  gründet.  £s  ist  daher  durchaus  unbe- 
gründet, wenn  Ulrici  meint :  wenn  es  keine  menschliche  Freiheit 
gebe  und  Gott  im  Menschen  willkürlich  schalte»  so  seyen  alle  der- 
artigen Listitutionen  sinnlos.  —  Ach,  ich  weise  und  begreife 
es  wohl,  wie  schwer  es  ist,  sich  von  traditionellen  und  in  Saft 
und  Blut  übergegangenen  illusorischen  Anschauungen  los  zu 
sagen,  und  wie  derjenige,  der  sich  über  solche  zu  erheben 
wagt,  dem  Altgläubigen  als  leichtsinniger  und  mit  dem  Anathem 
zu  belegender  Ketzer  erscheinen  muss,  wie  er  nicht  hoffen 
darf,  seine  errungenen  Einsichten  von  diesem  mit  vorurtheib- 
loser  Euhe  beurtheilt  zu  sehen ;  aber  ich  gebe  mich  der  Hoff- 
nung hin,  dass  auch  hier  die  wirkliche  Einsicht  allmälig  sich 
in  immer  weitere  Bereise  verbreiten  werde. 

Warum  ich,  wie  die  Becension  mir  vorrückt,  durch  meine 
eudämonistische  Weisheitslehre,  auf  welche  ich  hier  nicht 
näher  eingehe,  mich  mit  mir  selbst  in  Widerspruch  setze^  sehe 
ich  nicht  ein.  Dabei  will  ich  nur  kurz  constatiren,  dass,  wie 
überhaupt  jede  Sittenlehre  auf  einen,  wenn  auch  etwas  her- 
ausgeputzten, Eudämonismus  hinausläuft^  so  auch  Ulrici  nicht 
umhin  kann,  sich  zu  einem  solchen  zu  bekennen,  wofür  ich  mich 
auf  dessen  eigene  Worte  (S.  160  der  Becension):  dass  das  sitt- 
liche Sollen  auch  auf  Verbesserung  und  Verschönerung  unseres 
Daseyns  gehe,  und  auf  das  von  mir  S.  134,  178  und  202  meines 
Buches  von  ihm  Angeführte  beziehe.  Nun  ist  es  aber,  worüber 
ich  mich  ebendaselbst  (S  466«— 67  und  580)  ausgesprochen 
habe,  unwidersprechlich,  dass,  wo  ein  eudämonistischer  Zweck 
des  Handelns  statuirt  wird,  von  Pflicht  und  von  verdienstlicher 
Sittlichkeit  schlechterdings  nicht  die  Bede  seyn  kann. 

]>a  ich  die  Berechtigung  der  staatlichen  Institutionen  zur 
Förderung  der  Sittlichkeit,  zu  denen  auch  die  Criminaljustiz 
gehört,  ausdrücklich  anerkenne,  so  ist  die  Insinuation,  dass  ich 
als  Ober-Tribunal-Frocurator  bei  der  Criminaljustiz  mitgewirkt 
habe,   wiewohl    sie    nach   meiner  Anschauung  nicht  nur   eine 


Zum  ethischen  Problem.  231 

TÖUig  unberechtigte,  sondern  auch  eine  völlig  sinn-,  zweck- 
nnd  nutzlose  Institution " sei,  ein  Hieb  in  die  Luft.  Sie  zeigt 
übrigens,  dass  es  dem  Becensenten  nicht  bekannt  ist,  welche 
Stellung  früher  die  Procuratoren  in  Württemberg  eingenommen 
haben,  worüber  ihn  zu  belehren  hier  nicht  die  Stelle  ist.  Ich 
beschränke  mich  daher  auf  die  Bemerkung,  dass  ich  als  Pro- 
curator  mit  der  Griminaljustiz  lediglich  nichts  zu  schaffen. ge- 
habt habe.  Indessen  mochte  es  sich  doch  wohl  yon  selbst  ver- 
stehen, dass  gesetzlich  normirte  amtliche  Functionen  ausser 
allem  Rapport  mit  den  philosophischen  Privat  ansichten  eines 
Beamten  bleiben  müssen. 

Wenn  die  Becension  es  sodann  so  hinstellt,  als  ob,  wenn 
jenen  staatlichen  Institutionen  ein  Einfluss  auf  das  Wollen  und 
Handeln  eines  Verbrechers  eingeräumt  werde,  Gott  sich  selbst 
belehren,  in  Folge  davon  seinen  Willen  ändern  und  sich  fortan 
in  dem  Verbrecher  anders  darleben  würde,  als  er  bisher  ge- 
than,  was  doch  ein  eigenthümlicher ,  seltsamer  Gott  wäre,  so 
zeigt  damit  der  Eecensent  nur,  dass  er  sich  in  meine  Auffas- 
sung des  peripherischen  Darlebens  Gottes  im  Menschen  gar 
nicht  hineindenken  kann  oder  nicht  hinein  denken  will.  Vom 
Standpunkt  jener  seiner  Bemerkung  aus  müsste  er  mir  zu- 
muthen,  so  viele  bich  darlebende  Götter  anzunehmen,  als  es 
Menschen  giebt.  Zum  Verständniss  meiner  betreffenden  Auf- 
fassung muss  ich  auf  das  verweisen,  was  ich  darüber  im  vierten 
Buche  meines  ersten  Theils  (namentlich  Abth.  U  S.  384  ff.) 
ausgeführt  habe.  Ich  sage  daselbst  insbesondere  (S.  396,  397, 
406):  Bei  Gott  als  solchem  in  seiner  universellen  Einheit  könne 
an  ein  menschliches  seelisches  Leben  schlechterdings  nicht  ge- 
dacht werden,  er  habe  nur  das  an  Millionen  einzelner  Indivi- 
duen sich  abwickelnde  Spiel  eines  psychischen  Collectivlebens 
äusserlich  an  sich  erleben  wollen.  Aber  das  sey  nicht  das 
Seyn  und  Leben  Gottes  an  sich  in  seiner  Universalität  und 
Einheit.  Gott  lebe  zwar  in  dem  irdischen  psychischen  Farben- 
spiel, aber  nicht  sein  Leben  als  Gott,  als  universelle  geistige 
Substanz. 

Bis  hieher  hat  es  sich  eigentlich  nur  um  die  Freiheits- 
frage  gehandelt,  auf  deren  Erörterung  durch  mich  jedoch  die 
Becension  gar  nicht  eingegangen  ist.  Wie  nun  der  Becensent 
an  meine  Kritik  der  Sittenlehre  kommt,  meint  er:  Es  werde 
genügen,  an  einem  einzelnen  Beispiel  zu  zeigen,  wie  ich  Kritik 
übe ;  und  da  liege  es  ihm  am  nächsten,  mein  Verfahren,  dur,ch 
das  ich  die  Grundlage  seiner  Ethik  als  unhaltbar  darzuthun 
suche,   zu   charakterisiren.     Darauf  giebt  derselbe  eine  kurze 


232  A.  Steudel: 

Zusammenstellung  dieser  Fundirung  seiner  Ethik,  führt  dann 
einige  der  von  mir  dagegen  erhobenen  Ausstellungen  auf,  wor- 
unter die  hauptsächliche  die  ist,  dass  er  die  Vorstellung 
des  Guten  aus  dessen  Begriff  ableite,  während  die  Vorstellung 
doch  das  Frius  des  Begriffs  sey.  Daran  hängt  er  dann  nur  die 
kurze  Bemerkung,  dass  ich  ihn  gründlich  missyerstanden  habe, 
lieber  meine  Kritik  der  Sittenlehre  selbst  aber  und  deren  Er- 
gebnisse, insbesondere  über  die  nach  dem  Sichlusse  der  Kritik 
in  Bach  II  vorgetragene  Reform  der  Sittenlehre  hat  er  nicht 
einmal  ein  Wort;  vielmehr  schliesst  mit  jener  Bemerkung  der 
ganze  Aufsatz  ab.  So  ist  also  von  dem  ganzen  Inhalte  meines 
Buches,  von  der  Abhandlung  über  die  Ereiheitsfrage ,  von  der 
Kritik  der  Sittenlehre,  von  der  aufgestellten  Reform  der  Sitten- 
lehre, in  dem  Aufsatze  —  abgesehen  von  jener  ganz  abgeris- 
senen Detailpolemik  gegen  mich  —  so  gut  wie  mit  keiner  Silbe 
die  Rede.  Und  das  soll  eiue  Recension  meines  Buches  seyn ! 
Das  ist  der  Aufsatz  um  so  weniger,  als  die  Streiche,  die  darin 
gegen  mich  geführt  werden,  in  der  Hauptsache  gar  nicht  gegen 
den  Inhalt  dieses  Buches  gerichtet  sind. 

Gesetzt  nun  aber  endlich  auch,  ich  hatte  in  den  von  der 
Recension  angeführten  Ausstellungen  die  betreffenden  Darle- 
gungen Ulrici's  wirklich  missverstanden  —  wiewohl  er  nicht 
sagt,  worin  diese  Missverständnisse  liegen  sollen  —  mit  wel- 
chem Rechte  sollte  sich  darauf  ein  verdammendes  ürtheil  über 
den  ganzen  Inhalt  meines  Buches  gründen  lassen? 
Ein  solches  Miss  verstand  niss  würde  hieza  in  keiner  Weise  „ge- 
nügen^^  Doch  ülrici  hat  mir  solche  Missverständnisse  durch 
das,  was  er  vorbringt,  keineswegs  nachgewiesen.  Jedenfalls 
habe  ich  seine  betreffenden  Aeusserungen  in  meinem  Buche 
wortgetreu  allegirt;  und  wenn  er  die  Sache  nun  anders  gemeint 
haben  sollte,  als  seine  Worte  lauten,  so  hätte  eben  er  selbst 
ein  solches  Missverständniss  verschuldet.  Zum  Beweise  dafür, 
dass  ich  ihm  nicht  Unrecht  gethan  habe,  erlaube  ich  mir  hier 
nur  noch  auf  einige  Stellen  aus  seinem  Buche  „Glauben  und 
Wissen"  hinzuweisen.  Er  sagt  hier  S.  182:  Die  Vorstel- 
lung des  ethisch  Guten  könne  uns  nur  aufgehen,  wenn 
und  indem  wir  Strebungen  und  Handlungen  nach  ihrem 
sittlichen  Werthe,  in  ethischer  Beziehung  gegen 
einander  abwägen.  Dabei  müsse  der  allgemeine,  for- 
male, kategorische  Begriff  des  sittlich  Guten  in 
ähnlicher  Weise,  wie  die  logischen  Kategorien,  unserer  un- 
terscheidenden Thätigkeit  ursprünglich  inhäri- 
ren,  wenn  uns  das  sittlich  Gute  zum  Bewusstseyn 


Zum  ethischen  Problem.  233 

kommen  solle.  Dann  S.  186:  Der  ethisch  kategori- 
sche Normalbegriff  des  Guten  leite  nnsern  Verstand 
im  Unterscheiden  nnd  Auffassen  der  menschlichen  Willens- 
thätigkeit  dergestalt,  dass  ohne  solche  Leitung  eine 
Vorstellung  von  Gut  und  Böse  gar  nicht  entstehen 
könnte.  Femer  S.  189:  Der  kategorische  Begriff 
des  Guten  sei  ursprünglich  unbewusst  in  der  Seele 
vorhanden.  Endlich  190:  Weil  wir  uns  Terpflichtet  fühlen, 
überall  das  Gute  zu  wollen  und  zu  thun,  und  weil  dies  Wollen 
ohne  die  Erkenntniss,  was  in  jedem  einzelnen  Falle  das  Gute 
se j ,  also  ohne  den  allgemeinen  Begriff  des  Guten  unmög- 
lich sey,  so  fühlen  wir  uns  zugleich  verpflichtet,  uns  einen 
solchen  Begriff  zu  bilden  und  ihn  zum  Sittengesetz  zu 
erheben.  —  In  dem^  was  ülrici  in  der  Recension  diesfalls 
sagt,  fasst  er  sich  den  Worten  nach  allerdings  etwas  vorsich- 
tiger; doch  würde  die  Kritik  auch  hieran  wieder  allerlei  aus- 
zustellen haben.  Allein  ich  verzichte  auf  eine  solche  aber- 
malige Kritik. 

Nur  das  muss  ich  noch  bemerken,  dass  der  Leser  aus  dem, 
was  die  B^cension  hier  sagt,  über  die  Pointe  des  Streites  un- 
möglich klar  werden  kann,  dass  es  vielmehr  hiezu  erforderlich 
gewesen  wäre,  auf  meine  betreffende  Kritik  viel  näher  einzu- 
gehen. Dieselbe  steht  in  meinem  Buche  in  dem  Abschnitt 
„Absolutheit  und  Apriorität  des  Sittengebots''  (S.  252  ff.).  Dabei 
sage  ich:  Ulrici  habe  dieser  Frage  eingehende  Reflexionen  ge- 
widmet, suche  aber  dann  zu  zeigen,  dass  das  Resultat,  zu  dem 
er  gekommen,  theils  ein  schwankendes,  theils  ein  widerspre- 
chendes sey,  und  dass  er  sich  bei  seinen  Erörterungen  zum 
Theil  in  einem  Zirkel  bewege,  und  bemerke  schliesslich :  Der- 
selbe scheine  mir  durch  seine  Ausführungen  gerade  den  Be- 
weis geliefert  zu  haben,  dass  weder  ein  Angeborenseyn ,  noch 
eine  Apriorität  der  sittlichen  Elemente  im  Menschen  in  seinem 
Sinne  sich  begründen  und  durchführen  lasse  (S.  265).  Bei 
diesem  ürtheil  muss  ich  auch  durchaus  beharren. 

Die  Bemerkung  der  Recension,  dass  mir  im  Verlauf  mei- 
ner kritischen  Erörterungen  überhaupt  mehrfach  Missverständ- 
nisse passirt  seien,  ist  bei  ihrem  Mangel  an  aller  Begründung 
werthlos. 

Was  schliesslich  die  Anordnung  meines  Buches  betrifft, 
welche,  wie  es  scheint,  von  der  Recension  ebenfalls  getadelt 
werden  will;  wenn  sie  am  Schlüsse  sagt:  ich  habe  die  ver- 
schiedenen Theorien  nicht  in  dem  historischen  Zusammenhang, 
in   dem  sie  stehen,    und   aus  einander  sich  entwickelt  haben. 


234  A.  Steudel:    Zam  ethischen  Problem. 

sondern  jede  für  sich  behandelt^  und  nur  die  Periode  von  Kant 
bis  auf  die  Gegenwart  eingehender  berücksichtigt;  so  bemerke 
ich  hierüber  Folgendes,  was  zugleich  auch  zur  Verständigung 
gegenüber  von  den  betreffenden  Ausstellungen  der  erwähnten 
Lasson' sehen  Becension  dienen  mag.  Ich  habe  keine  Ge- 
schieh t  e ,  sondern  nur  eine  Kritik  der  Sittenlehre  schreiben 
wollen.  Da  es  jedoch  keine  Sittenlehre  für  sich  in  abstracto 
giebt,  sondern  nur  die  betreffenden  Lehren  und  Aufstellungen 
der  einzelnen  Philosophen,  so  konnten  auch  nur  diese  Lehren 
und  Aufstellungen  im  Einzelnen,  durch  deren  grosse  Mehrzahl 
indessen  doch  im  Ganzen'  derselbe  Begriff  der  Sittlichkeit  wie 
ein  rother  Faden  hindurchläuft,  der  Gegenstand  der  Kritik  seyn. 
Dies  führte  jedoch  keineswegs  die  Nothwendigkeit  mit  sich, 
diese  Systeme  nun  selbst  der  Beihe  nach,  eines  nach  dem  an- 
dern, Yorzunehmen.  £s  erschien  das  vielmehr  aus  Gründen, 
über  welche  ich  mich  in  dem  Buche  selbst  (S.  141 — 42)  aus- 
gesprochen habe,  als  unthunlich ;  und  es  war  von  mir  wohl  er- 
wogen, wenn  ich  anstatt  dessen  der  Kritik  eine  stofflich  nach 
den  einzelnen  in  einer  Ethik  zum  Vorwurf  kommenden  prin- 
cipiellen  Fragen  gegliederte  Anordnung  gab ,  bei  welcher  sie 
nicht  an  Namen  und  Systeme  gebunden  war^  sondern  unter 
den  ersten  und  aus  dem  Inhalte  der  letzten  eine  sachdienliche 
Auswahl  treffen  konnte.  Eine  solche  einschränkende  Auswahl 
war  aber  schlechterdings  geboten,  wenn  das  Buch  nicht  wegen 
seines  massenhaften  Stoffes  und  der  dabei  unvermeidlichen  Wie- 
derholungen ungeniessbar  werden  sollte.  Daraus  ist  es  nun 
auch  zu  erklären  ,  wenn  in  demselben  hauptsächlich  nur  die 
Leistungen  der  neuern  Zeit  in  Sachen  der  Ethik  Berücksich- 
tigung gefunden  haben.  Und  diese  Einschränkung  erschien  um 
so  unbedenklicher,  als  die  früheren  diesfälligen  Leistungen 
theils  antiquirt  sind,  theils  die  sonst  gepflogene  Kritik  von 
selbst  auch  auf  sie  ihre  Anwendung  findet,  die  Kritik  also  auch 
unter  dieser  Einschränkung  Anspruch  auf  ein,  was  den  Umfang 
betrifft,  vollständiges  Genüge  machen  kann. 

Es  leitet  mich  bei  meinem  ganzen  philosophischen  Begin- 
nen nur  das  redliche  Bestreben,  einerseits  zu  zeigen,  wie  die 
Philosophie  bisher  meistens  auf  verfehlten  Bahnen  gewandelt 
sey,  zu  welchen  Bahnen  ich  namentlich  diejenige  der  phanta- 
sirenden  Speculation  rechne,  und  andererseits  dieselbe  auf  eine 
neue  gesichertere  Bahn,  diejenige  des  verständigen  Denkens, 
zu  leiten,  welches  jedoch  keineswegs  mit  Nothwendigkeit  zu 
dem  entgegenstehenden  Extrem  des  Materialismus  (les  extremes 
se   touchent)   führen    muss.     Dass    das    erstere    Geschäft   mich 


Recensionen.  23Ö 

anfs  Vielfachste  in  Gonflict  mit  der  hergebrachten  Art  des  Philo- 
sophirens  und  den  Ergebnissen  desselben  bringen  musste,  war 
natürlich  unvermeidlich;  ich  glaubte  mich  jedoch  dabei  der 
Anerkennung  versichert  halten  zu  dürfen,  dass  es  mir  immer 
nur  rein  um  die  Sache,  welche  aber  freilieh  mit  allem  Ernst 
und  allem  Nachdruck  verfochten  werden  musste,  zu  thun  ge- 
wesen ist.  Ich  kann  es  daher  nur  in  hohem  Grade  be- 
dauern, dass  jenes  mein  Beginnen  bei  Herrn  Professor  Ulrici 
eine  solche  Gereiztheit,  einen  solchen  jede  Gerechtigkeit  des 
XJrtheils  ausschliessenden  AfFect,  wie  ein  solcher  in  seiner 
Recension  sich  ausspricht,  hervorgerufen  hat.  Mein  Versuch 
einer  Reform  der  Philosophie  in  der  erwähnten  Richtung  ist» 
wenn  man  ihn  auch  als  einen  revolutionären  prädiciren  will, 
gewiss  ein  wohlberechtigter,  und  die  von  mir  entwickelten  An- 
sichten sind,  wie  ich  denke,  wohl  fundirt.  Wenn  denselben 
jedoch  von  Dissentienten  mit  wissenschaftlichen  Gbründen  und  in 
wissenschaftlichem  Ernst  entgegen  getreten  werden  will,  so  soll 
mir  das  nur  willkommen  seyn.  Ein  ehrlicher  Kampf  kann  die  Sache 
der  Wahrheit  immer  nur  fördern,  wogegen  ich  oberflächliche, 
wegwerfende  und  leidenschaftliche  ürtheile,  wie  diejenigen 
•des  Herrn  Professors  ülrici,  für  werthlos  erachten  muss. 

Stuttgart.  •  A.  Stau  de  1. 


Becensionen. 


HorvBioB,  Adolf.  Psychologische  Analysen  auf 
physiologischer  Grundlage.  Ein  Versuch  zur 
Neubegründung  der  Seelenlehre.  Zweiter  Theil.  Zweite 
Hälfte.  Die  Analyse  der  qualitativen  Geßihle.  Magde- 
burg. Verlag  der  Faber'schen  Buchdruckerei,  A.  &  R.  Faber. 
1878.    VIII.    524  S. 

Im  Vorwort  zum  ersten  Theil  des  verdienstlichen  Werkes, 
von  welchem  der  Schluss  des  zweiten  Theils  uns  hier  vorliegt, 
hat  der  Verfasser  seine  Ansicht  über  das  Verhältniss  der  Psy- 
chologie zur  Philosophie  ausgesprochen ;  die  Psychologie  ist  ihm 
die  philosophische  Grundwissenschaft,  und  nur,  wenn  sie  als 
Unterbau  dient,  wird  ein  haltbares  System  der  Philosophie  auf- 
gerichtet werden  können.    Ebendaselbst  hat  er  auch  die  physio- 


236  Recensionen. 

logische  Grundlegung  der  Psychologie  gerechtfertigt,  sowie  den 
leitenden  Gesichtspunkt  seiner  psychologischen  Analysen  ange- 
geben: sein  Bestreben  ist,  ^alle  Seelenprocesse  and  £in  ein* 
faehes  physisch -psychisches  Grundelement  zurückzuführen^» 
Dieses  Grundelement  ist  das  Gefühl. 

Die  hier  zu  besprechende  zweite  Hälfte  des  zweiten  Theiles 
handelt  von  den  ^qualitativen  Gefühlen^.  Die  historische  Ueber- 
sicht  über  die  Entwickelung  der  psychologischen  Theorieen^ 
welche  der  Verfasser  in  den  früheren  Abtheilungen  seines 
Werkes  gab,  hat  er  hier  aus  guten  Gründen  weggelassen;  wo 
die  Theorieen  so  weit  auseinandergehen ,  wie  es  hinsichtlich 
der  Gefühlslehre  der  Fall  ist,  da  kann  eine  einfache  Zusammen- 
stellung derselben  kaum  anders  als  desorientirend  wirken. 

Den  rettenden  Faden  im  Labyrinthe  der  psychologischen 
Theorieen,  ^unsere  einzige  Zuflucht  in  der  Noth^,  bildet  die 
Physiologie,  welche  zunächst  „in  Ansehung  der  sinnlichen  Ge- 
fühle uns  darüber  aufklärt,  in  welchen  Organen  und  durch 
welche  Functionen  derselben  Gefühle  zu  Stande  kommen^^; 
denn  „seelischer  und  Nervenprocess  bedingen  einander  wechsel- 
seitig in  allerwesentlichster  Weise".  Die  neueste  physiologische 
Theorie  lehrt  nun ,  dass  in  der  Nerven  Substanz  „positive  und 
negative  Molekulararbeit^'  stets  neben  einander  hergehen,  dass 
alle  Nervenfunction  von  den  Gegeiisätzen  der  Erregung  und 
Hemmung,  des  Verbrauches  und  des  Ersatzes  von  Kraft  be- 
herrscht wird;  die  Anwendung  auf  die  Gefühle,  welche  ja 
gleichfalls  von  einem  ebenso  durchgehenden  Gegensatze  des 
Angenehmen  und  des  Unangenehmen,  der  Lust  und  der  Unlust 
sich  ganz  und  gar  beherrscht  zeigen,  „springt  gleichsam  mit 
Gewalt  in  die  Augen'',  und  zwar  ist  dieser  Parallelismus  so 
verführerisch,  dass  ihm  gegenüber  Vorsicht  und  Unbefangenheit 
in  der  Fragestellung  dringend  geboten  erscheint:  „Unsere  frage 
lautet  völlig  voraussetzungslos :  unter  welchen  Verhältnissen  der 
Nervenreizung  haben  wir  sinnliche  Gefühle?  unter  welchen  an- 
genehme? unter  welchen  unangenehme?  sind  wir  jemals  und 
wann  völlig  gleichgiltig?*' 

Die  ans  dem  psychophysiscben  Grundgesetz  abgeleitete 
Annahme  „negativer  Empflndungsgrössen'%  als  welche  die  un- 
bewussten  Zustände  des  Seelenlebens  angesehen  werden,  erscheint 
dem  Verfasser  unhaltbar,  da  er  im  ersten  Theil  nachgewiesen 
hat,  dass  „das  Unbewusste  nicht  ein  negatives,  sondern  ein  ver- 
mindertes, schwaches  Bewusstsein^'  ist.  „Die  Curve  oder 
Inten sitätsscala  beginnt  also  nicht  mit  unendlich  negativen 
Werthen,  sondern  mit  unendlich  kleinen  positiven.     Was  man 


Recensionen.  237 

Schwelle  des  Bewnsstfieins  nennte  ist  kein  absoluter  Nullpunkt, 
sondern  ein  ganz  yanabler  Beizzustand.'^  ,,Demgeniäs6  decken 
sich  die  Begrifft  £rregungsgrÖ6se  (Fechner^s  psycho- 
pbysischer  Process),  Empfindung  und  Bewusstsein^',  und 
dieser  Satz  „bildet  die  Grundlage  für  die  Betrachtung  der  Lust- 
XJnlustbewegung  der  Gefühle  im  Yerhältniss  zu  den  Intensi- 
täten der  Reize  und  Empfindungen^^ 

Diese  Abweisung  negativer  Empfindungsgrössen  erscheint 
durchaus  gerechtfertigt^  da  sie  offenbar  nur  den  negativen 
Werthen  des  Logarithmus  ihre  Einführung  in  die  Psychologie 
verdanken.  Am  deutlichsten  tritt  der  Widersinn  derselben, 
wie  auch  der  Verfasser  bemerkt  hat,  in  Fechner's  Worten  hervor : 
yyMan  kann  ganz  in  demselben  Sinne  sagen:  man  empfindet  im 
unbewussten  Zustande  weniger  als  nichts,  als  man  im  Falle 
von  Schulden  sagen  kann,  man  hat  weniger  als  nichts/^  Denn 
es  hat  schon  für  die  genauere  psychologische  Untersuchung  seine 
grossen  Bedenken,  zu  sagen :  yjch  empfinde  nichts^',  da  hiervon 
der  bekannte  Nachweis  Schopenhauer  s  gilt,  dass  ^»Ich"  =  ist  ,,Ich 
denke^S  was  bei  der  Empfindung  ja  noch  weit  mehr  der  Fall 
ist.  Demnach  wird  der  Satz:  ,,Ich  empfinde  nichts'*  niemals 
einen  concreten  Zustand  als  Grundlage  haben,  welcher  dazu 
berechtigte,  ihn  in  der  exacteu  Psychologie  zuzulassen;  aber 
viel  weniger  noch  kann  man  behaupten :  „Ich  empfinde  weniger 
als  nichts".  Deshalb  weist  der  Verfasser  die  Unterscheidung 
negativer  und  positiver  Zustände  von  der  Gefühlslehre  mit 
Recht  ab. 

Auf  Grund  physiologischer  Erörterung  gelangt  er  nun  zu 
den  folgenden  vier  Sätzen,  aus  welchen  er  die  Grundzüge  der 
allgemeinen  Gefühlslehre  ableitet  (S.  13): 

1)  Es  giebt  für  jedes  empfindende  Organ  und  für  den 
Organismus  im  Allgemeinen  eine  Gleichgewichtslage,  um 
welche  unsere  Gefühle  gravitiren,  dergestalt,  dass  die  Ent- 
fernung von  derselben  unangeuehm,  die  Wiederannäherung  an 
dieselbe  angenehm  empfunden  wird. 

2)  Es  werden  im  Allgemeinen  nicht  die  Zustände,  sondern 
nur  deren  Veränderungen  empfunden. 

3)  Das  zu  1)  erwähnte  Gleichgewicht  ist  ein  relatives  und 
labiles,  innerhalb  gewisser  Grenzen  veränderliches. 

4)  Es  giebt  weder  einen  Nullpunkt  des  Reizes,  noch  des 
Gefühles. 

Den  beiden  ersten  Sätzen  entsprechen  im  rein  psycho^ 
logischen  Gebiete  diese:  „Das  subjective,  psychische  Correlat 
des  objectiven  Molekular-Gleichgewichts  ist  die  Gewöhnung; 


238  Recensionen. 

der  Gonirast  ist  das  Neue,  Ungewohnte/^  Beides,  Ge- 
wohntes und  Ungewohntes  geht  in  fliessei^er  Reihe  in  einander 
über.  Das  wahre  Wesen  des  Gefühlsvor^nges  wird  nun  in  der 
Art  und  Weise  der  organischen,  ,,spontanen  und  auto- 
nomen^' Reaction  auf  die  Veränderung  zu  suchen  sein^ 
welche  im  Interesse  der  „Selbst erhaltung,  d.  h.  zur  Bewahrung 
der  Form  und  des  Wesens''  des  Organismus  sich  vollzieht;  die 
Wurzel  des  Gefühls  ist  das  ,,Innewerden  des  Nutzens  oder 
Schadens'^ 

Bas  Gefühl  hängt  nun  weiter  unzertrennlich  zusammen 
mit  dem  Begehren:  „es  giebt  kein  Gefühl,  das  nicht  sofort 
Begehren  ist,  es  giebt  kein  Begehren,  das  nicht  seinen  Grund 
in  einem  Gefühl  hat  Das  wahre  Urbild  dieses  Yerhältnisse& 
ist  das  Yerhältniss  zwischen  Empfindung  und  Bewegung/'  Durch 
diese  Bestimmung  soll  einestheils  die  zu  gewaltsame  Sonderung 
von  Gefühl  und  Begehren^  andrerseits  die  völlige  Identificirung 
beider  verhindert  werden. 

Der  Satz:  „Es  giebt  kein  Gefühl,  das  nicht  sofort  Be- 
gehren ist^^,  wird  sich  mit  der  psychologischen  Erfahrung 
schwerlich  in  Einklang  bringen  lassen.  Wenn  auf  ein  starkes 
Begehren  das  Lustgefühl  der  Befriedigung  folgt,  so  dürfte  ea 
wohl  die  Regel  sein,  dass  hier,  und  zwar  oft  verhältnissmässig 
lange  Zeit,  sich  keinerlei  Begehren  zeigt.  Vielmehr  wundem 
sich  aufmlrksame  Beobachter  in  diesem  Falle  über  den  Zustand 
vollkommener  Wunschlosigkeit ,  in  welchem  sie  sich  befinden^ 
während  sie' sich  doch  vollkommen  glücklich  fühlen;  erst  wenn 
der  Gedanke  sich  einstellt,  dass  dieses  Gefühl  des  Glücks  ebenso 
sein  Ende  finden  wird,  wie  alles  Andere,  dann  kommt  sofort 
das  Begehren  nach  seiner  ewigen  Dauer.  An  und  für  sich  aber 
schliesst  ein  starkes  Lustgefühl  wohl  sogar  in  der  Regel  daa 
Begehren  aus.  — 

Das  Gefühl,  als  Grundelement  des  psychischen  Lebens,  ist 
der  stete  und  unzertrennliche  Begleiter  aller  seelischen  Thätig- 
keiten,  woher  die  mannichfaltige,.  dem  Psychologen  oft  Schwierig- 
keiten bereitende  Verschiedenheit  der  Gefühle. 

Der  Verfasser  nimmt  drei  verschiedene  Grunddassen  von 
Gefiihlen  an: 

I.  Die  qualitative  Gcfühlsentwickelung:  „Die 
natürliche  organische  Verschiedenheit  der  Seelenthätigkeit  be- 
gründet eine  ebenso  mannichfaltige  Verschiedenheit  der  Gefühle. ** 
Nach  dieser  qualitativen  Verschiedenheit  ergeben  sich  nun  in 
der  ersten  Grnndclasse  die  folgenden  vier  Abtheilungen: 


Recensionen.  2S9 

1)  Die  Sinnes- und  Gemeingefühls-Empfindungen, 
deren  Oefuhlsgehalt  man  allgemein  unter  dem  Ausdruck  der 
sinnlichen  Gefühle  begriffen  hat. 

2)  Die  ästhetischen  Gefühle,  d.  h.  diejenigen  Lust- 
Unlust-Gebilde,  welche  der  weiteren  Bewusstseinsentwickelung 
Gewöhnung,  Erinnerung,  der  Wahrnehmungs-  und  Vor- 
stellungs-Bildung entsprechen.  Zu  ihnen  gehören  auch 
Raum-  und  Zeit -Sinn  mit  den  ihnen  zugehörigen  Formen  der 
Symmetrie-  und  Bhythmus-Gefühle. 

3)  Die  intellectaellen  Gefühle,  d.  h.  diejenigen,  welche 
dem  eigentlichen  höheren  Denken  und  dem  durch 
dasselbe  hervorgerufenen  theoretischen  Interesse  entsprechen. 

4)  Die;  moralischen,  d.  h.  die  den  Verhältnissen  des 
Begebrens  und  Willens  entsprechenden  Gefühle. 

TL  Die  Denkentwickelung  oder  die  Entwicke- 
lung  zum  Denken:  diejenigen  Gefühle,  welche  sich  zur 
Einheit  des  Denkens  und  des  entschiedenen  Wollens  entwickeln. 

III.  Die  Secundär-Entwickelung  oder  die  Ent- 
Wickelung  von  Gefühlen  aus  Gefühlen,  Gefühle 
höherer  Ordnung,  Gefühle  von  Gefühlen,  z.  B.  die  Furcht  vor 
dem  Schmerz  einer  Operation. 

Der  Grundgedanke  dieser  Eintheilung  dürfte  von  bleibendem 
Werthe  sein,  da  er  sachlich  begründet  ist;  im  Einzelnen  werden 
sich  freilich  hinsichtlich  der  I.  und  II.  Classe  die  specifischen 
Unterschiede  nicht  immer  genau  feststellen  lassen,  nach  welchen 
ein  concreter  Geftthlszustand  in  die  eine  oder  andere  Classe 
einzureihen  wäre. 

Von  diesen  drei  Arten  der  Gefühlsentwickelung  wird  im 
vorliegenden  Bande  nur  die  erste,  die  qualitative  Besonde- 
rung  behandelt;  hinsichtlich  der  beiden  andern  verweist  der 
Verfasser  auf  die  Fortsetzung  des  Werkes. 

Die  nun  folgende  Analyse  der  einzelnen  qualitativen  Ge- 
fühle ist  von  einer  Vollständigkeit,  wie  sie  bisher  wohl  kaum 
geboten  worden  ist,  und  zeichnet  sich  durch  reiche  Fülle  von 
Beobachtungsmateria],  eindringenden  Scharfsinn  und  sorgfaltige 
Kritik  aus.  Der  Verfasser  erkennt  höhere  Gefühle  an,  aber 
sie  sind  ihm  das  Product  einer  immer  höher  gipfelnden  Ent- 
wickelung;  dies  gilt  speciell  auch  vom  Mitgefühl,  „dem  Grund- 
und  Eckstein  aller  Tugenden^:  „Ein  Kind  hat  zuerst  weder 
Mitleid  noch  Mitfreude^ ,  ebenso  ist  andrerseits  auch  die 
Schadenfreude  ein  Resultat  höherer  Bewusstseinsentwickelung. 
Den  EinfluRs  der  Entwickelung  und  Bildung  schlägt  er  sehr 
hoch  an,  indem   er   die   ursprüngliche  Naturanläge   durch   sie 


240  Recensionen. 

veredelt  werden  lässig  und  in  idealer  Aufifassnng  die  so  f|;e- 
wonnene  höhere  Bildungsstufe  als  die  eigentliche  ^Katur**  des 
Menschen  zu  erweisen  bestrebt  ist. 

Dieses  ebenso  schwierige  als  wichtige  Problem  nimmt  er 
in  Angriff^  indem  er  es  versucht,  das  Bild  einer  Entwickelung 
des  Gefühlslebens  zu  zeichnen,  welches  von  den  elementarsten 
und  niedersten  sinnlichen  Gefühlen  ausgehend  zu  immer  um- 
fassenderen Complexen  und  immer  höher  entwickelten  Gefühls- 
einheiten aufsteigt.  Die  Art,  wie  er  immer  das  Eine  aus  dem 
Andern  abzuleiten,  wie  er  z.  B.  die  eigentlichen  Sinnes- 
gefühle auf  die  frühesten  Stadien  der  vegetativen  Gemein- 
gefühle zurückzuführen^  wie  er  die  ästhetischen  als  die 
hohem  Gomplicationen  und  Gontinuitäten  der  Sinnesgefühle  zu 
erklären,  die  intellectuellen  Gefühle  wieder  als  die  höhere, 
strenger  einheitliche  Synthese  ^aller  harmonischen  und  Con- 
tinuitäts-Bildungen  darzustellen  versteht,  dürfte  sieber  als  neu 
und  originell  anzuerkennen  sein.  Und  auch  das  wird  man  ihm 
zugeben  müssen,  dass  er  es  verstanden  hat,  seinen  Deductionen 
durch  reiches  thatsächliches  Material  und  durch  den  Nachweis 
der  überall  erkennbaren  üebergangsglieder  eine  möglichst  ge- 
sicherte Grundlage  zu  geben. 

Wenn  die  bisherigen,  die  Capitel  I— VIII,  S.  1—226  füllen- 
den Untersuchungen  noch  über  zumeist  bekannte  Gebiete  (nament- 
lich über  die  ästhetischen  und  die  formalen  intellectuellen  Ge- 
fühle ist  ja  viel  geschrieben)  sich  erstreckten,  so  beginnt  mit 
den  nun  folgenden  moralischen  Gefühlen  ein  ganz  un- 
bekanntes Land,  ein  bisher  fast  ganz  unbebautes  Gebiet,  ein 
Chaos  durcheinander  schwirrender  vager  Meinungen,  Welches 
um  so  drückender  empfanden  wird,  als  es  sich  hier  um  Dinge 
und  Fragen  handelt,  die  mit  dem  Wohl  und  Wehe  jedes  Ein- 
zelnen wie  mit  dem  der  Gesammtheit  in  engstem  Zusammen- 
hange stehen.  Auch  hier  geht  der  Verfasser  entschlossen  an's 
Werk  und  sucht  Ordnung  zu  schaffen,  und  man  kann  nicht 
läugneu;  es  gelingt  ihm,  so  etwas  wie  ein  System  der  mora- 
lischen Gefühle  zu  Stande  zu  bringen. 

Schon  auf  dem  Gebiete  der  intellectuellen  Gefühle  war 
eine  doppelte  Strömung  der  formalen  Einheits-  und  der 
materialen  Erfolgs-Gefühle  zu  unterscheiden  gewesen. 
Diese  bilden  nun  die  beiden  Quellströme  für  die  moralische 
Gefühlsentwickelung.  Die  erstere  führt  zu  den  formalen 
Beurtheilungsgefühlen,  die  sich  um  die  Begriffe  der 
Kraft,  des  Muthes,  der  Treue  und  Consequenz  u.  s.  w.  grup- 
piren.      Die   zweite,    viel    umfassendere    Hauptabtheilung    der 


Recensiooen.  241 

materialen  moralischen  Gefühle  wird  weiter  eingetheilt  in  die 
Eigex^  und  Selbst-Gefühle  einerseits  und  in  die  Mit- 
und  Fremdge fühle  andrerseits.  Die  erste  Gruppe  ist 
wieder  die  kleinere  und  umfasst  diejenigen  Gefühle,  welche 
sich  auf  die  eigene  Gefühls-  und  Willensthätigkeit  und  auf  die 
eigene  Person  hcziehen.  Es  sind  das  diejenigen  Gefühle,  welche 
um  den  Egoismus  als  ihren  geistigen  Schwerpunkt  gravitiren^ 
als:  Eigenliebe,  Selbstgefälligkeit,  Eitelkeit,  Selbstsucht,  Stolz, 
Kochmuth,  Scham,  Beue,  Ehrgefühl  u.  s.  w.  Entgegen  der 
üblichen  Meinung,  welche  im  Egoismus  das  materiale  Grund- 
gefühl erblickt,  aus  dem  sich  die  Specialgefühle  des  Stolzes, 
der  Ehre  u.  s.  w.  erst  entwickeln,  weist  der  Verfasser  nach, 
da  SS  die  Entwicklung  gerade  den  umgekehrten  Verlauf  nimmt, 
einzelne  von  den  Specialgofühlen  zu  immer  einheitlicher  ge- 
stalteten Gefühlsgruppen  verschmelzen,  welche  dann  in  den 
höheren  Persönlichkeitsgefühlen  ierst  ihre  spätere  einheitliche 
Spitze  gewinnen.  Den  Ausgangspunkt  der  ganzen  Entwickelung 
bildet  der  „Erfolgs  äffe  et",  und  der  Verfasser  legt  Werth 
darauf,  an  der  besonderen  Art  dieser  Complexbildung  ihre 
Verwandtschaft  mit  den  ästhetischen  Harmoniegefühlen  nach- 
zuweisen. 

Mit  der  Herausbildung  des  Persönlichkeitsgefühles  (welche  in 
früher  dargelegter  Weise  mit  der  Ausbildung  der  entsprechenden 
Erkenn tniss  Hand  in  Hund  geht),  ist  eine  neue  wichtige  Entwicke- 
luDgsstufe  erreicht.  Wie  in  theoretischer  Beziehung  die  Er- 
kenntniss,  so  ist  auch  in  pathischi^r  Hinsicht  das  Gefühl  der 
eigenen  Person  nur  möglich  in  und  mit  der  Erkenntniss  und 
dem  Gefühl  der  fremden  Person.  Man  erkennt  sich  nur  im 
Spiegelbilde  der  Andern,  die  Andern  nur  aus  der  Analogie  von 
sich  selbst.  Dieser  innige  Wesenszusammenhang  des  Selb  st- 
und Mitfühlens  hildet  nun  den  Ausgangs-  und  Keimpunkt, 
das  einheitliche  genetische  Princip  für  die  ganze  höhere  sitt- 
liche Gefühlswelt;  das  Mit-  und  Gleichfühlen  des  Gleichen 
unter  Gleichen  ist  der  organische  Mittelpunkt  aller  Moral  und 
Gerechtigkeit,  aller  menschlichen  Verhältnisse,  aller  Verbände 
in  Staat,  Gesellschaft,  Kirche  u.  s.  w. 

Die  speciellere  IJntereintheilung  macht  sich  dem  Verfabser 
von  selbst.  Ergehtaus  von  den  einfachen  Mitgefühlen, 
die  völlig  voraussetzungslos  und  ohne  Rücksicht  auf  die  zwischen 
den  Menschen  bestehenden  Verhältnisse,  sich  oft  so  gewaltsam 
aufdrängen  wie  das  Mitleid  mit  einem  in  Gefahr  Befindlichen. 
Die  Gruppe  von  Mitleid,  Mitfreude,  Schadenfreude,  Neid,  Miss- 
gunst  zeigt   in  diesen    mehr   elementaren  Gefuhlsverhältnissen 

VierteljahrsBchrift  1  Wissenschaft!.  Philosopliie.    III.  2.  16 


242  Recensionen. 

einen^  so  zu  sag^n,  dialektischen  FortBchritt.  Die  genannten  anti- 
pathischen  Affecte  —  in  dem  bewussten  Gegensatz  des  eignen 
Subjectd  zum  fremden  wurzelnd  —  bilden  gewissermaaMen  das 
Ferment  der  weiteren  Entwickelung.  „Es  ist  das  erste  Symptom, 
der  erste  rohe  kindische  Gebrauch,  den  das  höher  entwickelte 
Subject  von  der  ihm  eben  zum  Bewusstsein  kommenden  Eigen- 
freiheit und  Autonomie  zu  machen  versteht.^ 

Damit  ist  der  üebergang  zu  den  menschlichen  Verhält- 
nissen und  historischen  Verbänden  von  selbst  gegeben.  Die  Gruppe 
der  „Erwiederungsgefühle"  (Dankbarkeit  —  Rache  — 
Undankbarkeit  —  Vergebung)  bezeichnet  die  niedrigste  Stufe 
dieser  ^historischen  Gefühlsentwickelung^.  Auch  hier  tritt  schon 
die  Tendenz,  sich  von  dem  momentanen  Gefühlsanlasa 
zu  emancipiren  und  sich  zu  festern  und  dauernden  Ge- 
fühlshaltungen zu  erheben,  deutlich  erkennbar  hervor.  In 
der  folgenden  Gruppe  der  materialen  Schätzungsgefühle 
(Achtung  —  Verachtung,  Ehrerbietung  —  Abscheu,  Ehrfurcht — 
moralischer  Ekel)  tritt  dieser  Hinweis  auf  dauernde  Gefühls- 
lagen noch  schärfer  hervor,  während  die  nun  folgende  grosse 
und  wichtige  Gruppe  der  Liebesgefühle  ganz  und  gar  auf 
einer  solchen  dauernden  Gefühlshaltung  beruht  (Verfastiier 
führt  dafür  den  Terminus  „Gefühlshabitus^^  ein).  Nach 
sehr  eingehender,  das  gesammte  thatsächliche  Material  in  ziem- 
licher Vollständigkeit  berücksichtigender  Analyse  der  einzelnen 
Liebesarten  (Verwandtenliebe:  Mutter-,  Vater-,  Kindes-, 
Geschwister  -  Liebe ;  Liebe  zum  andern  Geschlecht: 
Romantische  Liebe,  verständiges  Ehebegehren,  sinnliche  Leiden- 
schaft, Gattenlitbe,  Galanterie  und  Coquetterie;  allgemeine 
Menschenliebe:  Umgang,  Verkehr,  Freundschaft,  Bekannt- 
schaft, Höflichkeit,  Urbanität,  Leutseligkeit),  —  sowie  des 
Hasses  (Abneigung,  Gleichgültigkeit)  gelangt  der  Verfasser  zu 
dem  Manchen  wohl  etwas  frappirenden  Resultat,  dass  „die 
Liebe  den  allgemeinsten  und  der  Menschennatur 
in  ihren  wesentlichsten  Grundzügen  am  meisten 
entsprechenden,  ihnen  angemessensten  Geftthls- 
habitus  bilde". 

Der  Verfasser  steht  einerseits  auf  dem  Boden  eines  hohen 
ethischen  Idealismus,  von  dem  aus  er  es  z.  B.  unternimmt,  das 
Gebot  Christi,  Böses  mit  Gutem  zu  vergelten,  psychologisch  zu 
rechtfertigen  und  die  allgemeine  Menschenliebe  als  das  natür- 
liche Froduct  einer  normalen  Gefühlsentwickelung  nachzuweisen. 
Andrerseits  bewegt  er  sich  durchaus  auf  dem  Boden  thatsäch- 
licher  inductiver  Forschung  und  eines  nüchternen  realistischen 


K 
I 


Beeensionen  243 


Bmpirismus ^  welcher  den  Thatsachen  unbefangen  ins  Gesicht 
blickt  and  den  Forderungen  des  „gesunden  Menschenverstandes'^ 
(trotz  mancher  frappirender  Paradoxieen)  Gerechtigkeit  wider- 
fahren lässt,  indem  er  mit  Vorliebe  den  Fingerzeigen  des 
Sprachgebrauches,  der  gemeinen  Eede weise  und  der  Aoschau- 
cingen  von  JedermaDu  nachgeht.  Als  ein  besonders  prägnantes 
Beispiel  dieser  zugleich  idealen  und  realen  Anpassung  lässt 
«ich  das  Capitel  von  der  romantischen  Liebe  bezeichnen^  welche 
sich  dem  Verfasser  zufolge  rein  natürlich  auf  sexueller  Grund- 
lage entwickelt,  aber  über  dieselbe  hinauswachsend  zu  einem 
hohen  sittlichen  Ideal  wird.  Seine  Ansichten  hierüber  sind  in 
folgenden  Sätzen  zusammengefasst,  die  zugleich  als  Probe  seiner 
Darstellung  dienen  mögen: 

^s  ist  mit  der  Liebe  wie  mit  der  Ehre,  auch  sie  ist  zum 
grossen  Theil  schon  ein  historisches  Gefühl,  d.  h.  durch 
die  besondere  Weise  unsrer  Gulturentwickelung  bedingt  und 
durch  die  Sitte  beherrscht.  Die  Institution  der  Ehe  bildet 
einmal  die  überlieferte,  durch  Recht  und  Sitte  geheiligte  Form 
der  Gemeinschaft  zwischen  Mann  und  Weib,  den  Eahmen,  in 
welchem  dieses  Gefühl  sich  allein  entwickeln  kann;  und  das 
wirkt  wieder  zurück  auf  die  Art  des  Gefühls,  entzündet  es 
höher,  macht  es  reiner  und  feiner,  ausdauernder  und  opfer- 
bereiter. Das  ist  der  erziehende  Einfluss  der  Sitte  und  darin 
besteht  zugleich  die  hohe  veredelnde.  Macht  echter  Weiblichkeit. 
Eben  dadurch,  dass  es  nicht  möglich  ist,  die  stärkste  Leiden- 
schaft, den  mächtigsten  Grundtrieb  zu  befriedigen,  ohne  die 
ganze  Person  einzusetzen  und  dranzugehen,  wird  dieser  Trieb 
einerseits  stärker  und  mächtiger  wie  ein  gestautes  Wasser, 
andrerseits  reiner  und  edler,  geadelt  durch  den  höheren  Werth 
des  erstrebten  Gegenstandes.  Gerade  die  Grösse  des  Opfers, 
das  ich  bringen,  der  hohe  Preis,  den  ich  zahlen  muss,  macht 
das  erstrebte  Gut  in  meinen  Augen  werthvoUer  und  lockender. 
Daraus  erklärt  sich  die  hohe  Gluth  und  Innigkeit,  die  unser 
Gefühl  so  oft  annimmt,  die  schwärmerische  Illusion,  mit  der 
es  sein  Object  zu  umhüllen  pflegt  und  die  leidenschaftliche 
Zähigkeit  und  Ausdauer,  mit  der  es  demselben  nachstrebt." 

Der  Begriff  des  „Gef  ühlshubitus^S  der  dauernd  ange- 
nommenen Gefühlshaltung,  in  welchem  die  Entwickelung  der 
Mit-  und  Selbstgefühle,  der  Erwiederungs-  und  Liebesgefühle 
gipfelt,  bildet  zugleich  den  Uebergang  und  die  Grundlage  für 
die  letzte  Hauptabtheilung  der  historischen  oder  Ver- 
band-Gefühle. Dieselben  wurzeln  durchweg  im  Begriff  der 
Pflicht,    welchen    der   Verfasser  aus   der  Willenslehre    und 

16* 


244  Recei»H>iieD. 

Ethik  anticipirend ,  hier  einer  vorläufigen  Analyse  unterzieht'; 
er  kommt  zu  dem  Resultat,  dast»  ^^das  Pflichtgefühl  erstlich  ein 
habituelles,  anerzogenes,  angewöhntes  Gefühl  ist,  welches  eben 
deshalb  mit  allen  unsren  Gefühlen ,  wie  man  zu  sagen  pflegt, 
mit  unsrer  ganzen  Denk-  und  Sinnesart  innig  Terwachsen,  mit 
unauslöschlichen  Zügen  in  Herz  und  Gemüth  eingegraben  ist, 
und  zweitens,  dass  es  ein  Verbandgefühl  ist,  d.  h.  ein  Gefühl, 
welches  sich  auf  ein  über  uns  stehendes^  uns  mit  allen  unsem 
Gefühlen  und  Gefühlscomplcxen  umfassendes,  tragendes,  be-* 
dingendes,  höheres  Ganze  bezieht."  (S.  477.)  Und  es  ist  hierzu 
noch  hinzuzunehmen,  was  er  S.  48 1  foststellt,  „dass  alle  Pflicht 
Liebespflicht  ist,  auf  Liebe  beruht,  ganz  und  gar  Liebe  ist'*. 

Auf  dieser  wiederum  hochidealistischen  Grundlage  breiten 
sich  nach  Art  concentrischer  Ringe  in  immer  weiteren  Sphären 
die  Verband gefühle  gegen  Familie,  Gemeinde,  Kreis,  Staate 
Volk,  Nation,  die  gesellschaftlichen  Gefühle  in  sehr  complicir* 
ten  Verhältnissen,  endlich  die  allgemeinen  Sittlichkeits-  und 
die  religiösen  Gefühle  aus.  — 

Diese  kurze  Inhaltsangabe  würde  ihren  Zweck  vollkommen 
verfehlen,    wenn    sie   dem  Leser    einen  Ersatz    für  das   Buch 
selbst  bieten  würde;   vielmehr  soll   sie   lediglich   dazu   dienen, 
die   Aufmerksamkeit   auf  dasselbe    als    ein    des    gründlichsten 
Studiums  durchaus  würdiges  hinzulenken.     Und  zwar  verdient 
es  nicht   nur   die  Beachtung   der  Psychologen,   sondern    es  ist 
auch   vorzüglich   geeignet,   die   psychologischen   Anschauungen 
weiterer  Kreise   in   wesentlichen  Punkten    zu  fördern   und   zu 
berichtigen.    Die  empirische  Psychologie  steht,  indem  sie  ohne 
vorgefassfe  Meinung  die  Thatsachen  sammelt   und   sichtet  und 
nach    wissenschaftlicher    Methode    verwerthet,    in    der    Mitte 
zwischen  zwei    entgegengesetzten   Ansichten    speculativen    Ur- 
sprungs, welche  beide  eine  ziemliche  Popularität  erlangt  haben. 
Die  Psychologie   der   spiritualistischen  und  dualistischen  Meta- 
physik  stellt  den  Menschen  als  ein  Muster   von    theoretischer 
und   praktischer  Vollkommenheit  dar,  welche  er   mühelos  von 
Natur  besitzen  soll ;  die  moderne  materialistische  Reaotion  gegen 
diese  phantastischen  Annahmen   glaubt  unfehlbar  das  Richtige 
zu  treffen,  wenn  sie  in   allen  Punkten  einfach  das  Gegentheil 
behauptet,  und  kümmert  sich  daher  ebensowenig  um  die  That- 
sachen wie  ihre  idealistischen  Antipoden     Hiermit  sind  natür^ 
lieh   nicht   die    eigentlichen    wissenschaftlichen   Vertreter    des 
Materialismus  gemeint,  welche  ja  im  Kampfe  mit  der  specula« 
tiven  Philosophie  zum  Theil  die  Psychologie  wahrhaft  gefördert 
haben,  und  jedenfalls  auf  einem  Niveau  stehen ,  von  dem  aus 


Selbstanzeigep.  245 

sie  über  wissenschaftliche  Streitfragen  mitreden  können ;  diese 
haben   mit    denjenigen,    welche  sich   heutzatage  Materialisten 
nennen,    kaum   etwas  Anderes  gemein  als  den  Namen.     Diese 
letzteren,   die  populären  Ausläufer  des  gegenwärtig  von  allen 
wissenschaftlichen  Männern  aufgegebenen  Materialismus,  suchen 
häufig   mit  widerwärtiger  Dreistigkeit  ihren  Euhm  darin,   ihr 
eigenes  Mass  von  Denken,  Fühlen  und  Wollen,  von  Kenntnissen 
und  Bildung  allen  Andern  wenigstens  theoretisch  aufzubürden. 
Mit  der  bekannten  Sicherheit  aller  Speculativen,  für  welche  ja 
ihre    Dogmen   stets   absolute  Gültigkeit  haben ^  stellen  sie  die 
Resultate  ihrer  persönlichen  Erfahrung  als  allgemein  und  noth- 
-wendig  hin  und  sehen  daher  selbstverständlich  Alles ,  was  sie 
bei  sich  selbst  nicht  vorfinden,  als  überhaupt  nicht  vorhanden 
An;   ein  Standpunkt,  welchen   sie   gern  mit  der  Etiquette  der 
„Bescheidenheit*^  versehen,  während  sie  abweichende  Ansichten 
als  anmaassend  oder  auch  als  heuchlerisch  von  vornherein  ver- 
werfen.    Dieser  Unfug ,   welcher  sich  der  Bequemlichkeit  sehr 
empfiehlt,    hat  sich  gegenwärtig  recht  eingebürgert  und  wirkt 
AVLoh   in   praktischer  Beziehung    höchst   verderblich.     Deshalb 
wäre   es   dringend   zu  wünschen,   dass   eine   wirklich   wissen- 
.srhaftliche  Psychologie,  so  lange  es  noch  Zeit  ist,  an  die  Stelle 
der  speculativen  Phantasiegebilde  träte,  seien  diese  nun  spiri- 
tualistischen  oder  materialistischen  Ursprungs.    Diesen  so  noth- 
-wendigen  Umschwung  einzuleiten,  erscheinen  die  „psychologischen 
Analysen*^  sehr  geeignet,  auch  durch  die  Art  ihrer  Darstellung, 
w^elche    durch    häufig    eingestreute    typische  Geschichten   und 
Anekdoten  die  übliche  Trockenheit  der  Lehr-  und  Handbücher 
vermeidet. 

Leipzig.  G.  Göring. 


Selbstanzeigen. 

^Die  „Selb8taiiMig«n'*  sclili«sBen  «ine  Becension  der  betreffenden  Werke  in  dieser  Zeit- 

•clirift  nicht  ans.) 

Capeaius,  J.  Die  Metaphysik  Her  hartes  in  ihrer 
Entwicklungsgeschichte  und  nach  ihrer  histo- 
rischen Stellung.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  nach- 
kantischen  Philosophie.  Leipzig,  187S.  H.  Matthes.  (XII  u. 
108  S.  gr.  8.) 

Der  erste  Theil  gibt  die  bisher  hauptsächlich  von  Harten- 
stein und  Zimmermann  behandelte  Entwicklungsgeschichte  der 
H.'schen  Metaphysik  in  theilweiser  Abweichung  von  jenen  Au- 


246  SellMteoMigen: 

toren.  £s  werden  in  denselben  (1788  —  1806)  vier  Perioden 
(statt,  wie  bei  Zimmermann^  zwei)  unterschieden.  Dadurch  gelingt 
eine  genauere  Sonderung  der  einzelnen  Factoren,  welche  die 
Entwicklung  H.'b  bedingen,  und  unter  denen  als  grundlegend 
der  durch  Wolff  vertretene  Bationalismus  und  als  weiter  richtung- 
gebend besonders  die  Wiesenschaftslehre  Fichte's  erscheint.  Die 
Haupt tendenz  war  auf  eine  psychologische  Erklärung  der  be- 
handelten ErscheiDungen  gerichtet.  —  Im  Zusammenhang  mit 
den  Eesul taten  der  Entwicklungsgeschichte  bestimmt  der  zweite 
Theil  die  bist.  Stellung  der  H.'schen  Metaphysik  in  anderer  Weise^ 
als  es  bisher  yielfach  üblich  war:  Zunächst  wird  einem  weit 
verbreiteten  Yorurtheil  gegenüber  die  durchaus  negirende  Hal- 
tung H/s  zu  Kant  nachgewiesen,  und  sodann  die  positive  Stellung 
seines  Systems  als  diejenige  eines  logischen  —  dem  WolflTschen 
zumeist  verwandten  —  Bationalismus  bestimmt,  im  Gegensatz^ 
zu  der  von  Kant  ausgehenden  Richtung  des  sog.  Idealismus,, 
für  welche  die  Bezeichnung  eines  psychologischen  Bationalismus 
gewählt  wird.  Der  letzte  Abschnitt  gibt  eine  kritische  Beleuch- 
tung des  H.'schen  Bationalismus,  namentlich  im  Zusammenhang 
mit  der  Kantischen  Formulirung  des  re^tionalistischen  Problems.. 

Hoppe,  J.  I.    Die  Schein- Bewegangen.   Wtirzbnrg,. 
A.  Stuber,  1879.    (XII  u.  212  S.  gr.  8»).  M.  4. 

Der  Verfasser  ist  von  dem  undeutlichen  Sehen  eines  kleinen 
Gegenstandes  ausgegangen,  der,  wenn  man  mit  den  Augen  auf 
demselben  verweilt,  bald  den  Eindruck  zu  machen  pflegt,  als 
ob  er  sich  fortbewege.  Diese  Erscheinung  erklärt  sich  aus 
dem  Zucken  der  Augenmuskeln  in  Folge  der  Sehan- 
strengung. Somit  wurden  zunächst  die  hieraus  sich  ergebenden 
Scheinbewegungen  nebst  den  verwandten  Erscheinungen,  nament- 
lich die  Bewegungen  der  Statuen  und  Bilder,  erörtert  und  auf- 
gehellt.  Die  gefundene  Erklärung  führte  nothwendig  dazu,  die- 
jenigen  Scheinbewegungen,  die  sich  aus  zurücklaufenden  oder 
gekreuzt  laufenden  Bildern  des  bewegten  Auges  nun  einmal 
nicht  erklären  lassen,  wie  die  scheinbare  Bewegung  des  Ufers,, 
bei  ruhigem  Stehen  am  Ufer  in  ruhigem  Hinsehen  auf  dasselbe^ 
ebenfalls  auf  feine  Zuckungen  der  Augenmuskeln  zurückzu- 
führen, welche  Zuckungen  aber,  da  sie  nicht  aus  anstrengender 
Bethätigung  der  Augenmuskeln  entstellen  können,  vom  Yer^ 
fasser  als  reflectorischc  Zuckungen  der  Augenmuskeln  in 
Folge  des  vom  bewegten  Waseer  her  die  Netzhaut  treffenden 
Lichtreizes  aufgefasst  werden,  wodurch  zugleich  die  rück- 
läufige Form  der  Scheinbewegung  erklärt  wird.  Diese  Theorie 
der  durch  Bewegungsreize,  welche  bei  der  Abprägung  von  wirk 


Selbstanieigen.  247 

Hohen  Bewegungen  aof  der  Netshant  entstehen,  veranlassten  Be- 
flezbewegnngen  ist  anoh  bei  den  übrigen  Scheinbewegungen 
soweit  verwerthet  worden,  als  der  geometrische  Verlauf  der 
Bilder  über  die  Netzhaut  oder  das  Denken  in  den  reproducirten 
'Vorstellungen  früher  wahrgenommener  Bewegungen  sur  Er- 
klärung nicht  oder  nicht  allein  genügte.  Auch  die  scheinbaren 
Bewegungen  beim  Eisenbahnfahren,  die  Scheinbewegungen  des 
Mondes  u.  a.,  ferner  die  Reizung,  welche  durch  gesehene 
Bewegungen  auf  die  Netzhaut  und  durch  Fortleitung  auf  das 
Gehirn  ausgeübt  wird^  der  Begriff  der  »Bewegung"  sowie 
das  Verhalten  der  Geistesthätigkeit  im  Zustande  der 
V^ahmehmung  des  Scheines  sind  möglichst  genau  erörtert  worden. 
Einige  allgemeine  Betrachtungen  über  ,,Percipi  est  esse'',  über 
Subjectivität  der  Naturauffassung  und  Fhänomenalität  der  Wirk- 
lichkeit etc.  schliesaen  den  Versuch. 

Mühry,  Adolf.  Ueber  die  exacte  Natur-Philo- 
sophie. Göttingen,  Dietrich^  zweite  venu.  Ausg.  (IV, 
101  S.,  kl.  80.)    1878. 

Unser  Wissen  von  den  Naturverhältnissen  muss  die  Grund- 
lage bilden  für  die  Philosophie  überhaupt;  in  der  neusten 
Zeit  hat  jenes  Wissen  sehr  rasch  sehr  grossartige  Erweiterungen 
gewonnen.  Die  Auffassung  der  Natur  ist  vornehmlich  eine 
kosmologische  geworden.  Es  ist  jetzt  erkannt,  dass  im  ganzen 
Weltall  gelten  nicht  nur  dieselben  mathematischen,  mechani- 
schen, physikalischen  und  chemischen,  sondern  auch  dieselben 
logischen  Gesetze.  Aber  es  mangelt  noch  an  der  Anerkennung 
der  letzteren,  und  damit  zunächst  auch  der  Teleologie,  welche 
vor  allem  der  richtigen  Begriffsbestimmung  bedarf,  um  deut- 
lich hervorzutreten,  nämlich  als  die  in  den  Theilen  eines  Ganzen 
bestehende  Proportionalität,  (auch  in  einer  blossen  Maschine), 
welche  nie  ohne  Denken'  zu  Stande  kommen  kann.  Das  im 
Universum  so  rein  naturwissenschaftlich  anzuerkennende  Denken 
ist  aber  identischer  Art  mit  dem  Denken,  oder  dem  Geiste, 
des  Menschen,  denn  yerschiedene  logische  Gesetze  kann  es 
nicht  geben,  obgleich  in  Vergleichung  mit  jenem  das  mensch- 
liche Denken  nur  eine  minimale  Grösse  darstellt.  Aus  dieser 
Auffassung  der  allgemeinen  Stellung  des  Geistes  im  grossen  Ganzen 
der  Natur  ergeben  sich  wichtige  Folgerungen  für  die  Philosophie, 
Yon  denen  einige  zu  ziehen  schon  unternommen  worden  ist.  Sie 
identificirt  das  Subject,  nicht  wie  früher  vom  Pantheismus 
geschah,  nicht  auch  mit  dem  Physischen  im  engeren  Sinne; 
sondern  nur  mit  dem  objectiven  Geiste  im  Weltall.  Damit  hat 
die  Philosophie  in  richtiger  Weise  die  ihr  zukommende  Analogie 


248  Philosophische  Zeitschriften. 

mit   der  Copernicanischen  Weltanschauung  gewönnet!   (welche 
manchmal  unrichtig  in  Anspruch  genommen  wird). 
Qtiiilones,  XJbaldo   B.    La  Religion  de  la  Ciencia. 

(Filosofia  racional.)  Madrid,  Libreria  Bailly-Balieri,  1878. 

gr.  8^    XXXV  &  515  pp. 

El  autor  de  este  libro  exencialmente  espiritualista ,  espone 
en  los  dominios  de  la  ciencia  matematica  lo  melde  para  una 
Beligion  universal. 

Componese  la  obra  de  dos  libros.  En  el  primero  despues 
de  la  tesis  en  el  Frdlogo,  en  el  capitulo  „Ley  general  del  Ba- 
cioiiDio*'  espone  un  m^todo  cientifico  para  la  investigacion 
general  de  la  yerdad  y  trata  luego  de  las  relaciones  entre  el 
hombre  y  Dios  presentando  las  Bases  para  un  Dogma  de  moral 
universal.  En  este  primer  libro  combate  el  Materialismo,  de- 
clarandose  deista  pero  no  en  la  manera  y  forma  que  lo  han 
hecho  hasta  hoy  todos  los  pensadores,  sino  afirmando  toda  in- 
determinacion  en  orden  d  la  Idea  de  esta  Primera  Causa.  —  En 
el  libro  segundo  ocupase  de  las  relaciones  del  hombre  con  sus 
Bemejantes  elevandolas  d  categoria  de  Leyes  universales  com- 
batiendo  victoriosamente  la  Filosofia  y  concepciones  Hegelianas. 


Philosophische  Zeitschriften. 


Fhilosophiflolie  Monatshefte. 

Band  14,  Heft  8  und  9:  R.  Eucken:  Untersuchungen 
zur  Geschichte  der  älteren  deutschen  Philosophie.  II.  Nico- 
laus von  Cues.  —  J.  Witte:  Die  Lehre  vom  subjectiven  An- 
theile  des  Geistes  an  allem  Erkennen  und  der  Apriorismus.  — 
A.  Scheuten:  Aphoristische  Gedanken  über  Baum  und  Zeil. — 
P.  V.  Lilienfeld,  Gedanken  über  die  Socialwissenschaft  der  Zu- 
kunft; rec.  von  Jodl.  —  G.  Biedermann,  Philosophie  als  Be- 
griffswissenschaft; bespr.  von  L.  Weis.  —  J.  Sully,  Pessi- 
mism;  b^pr.  von  C.  Schaarschmidt.  —  Ob.  Renouvier  et 
F.  Pillon,  Psychologie  de  Hume ;  besp.  von  dems.  —  0.  Flügel, 
Die  Seelenfrage ;  bespr.  von  dems.  —  Ereyenbühl,  Religion  u. 
Ghristenthum ;  bespr.  von  L.  Weis.  —  Fr.  Zimmer,  J.  G. 
Ficht e's Religionsphilosophie ; bespr.  von 0. Schaarschmidt. — 
Bibliotheca  philos.  med.  aet. ,  hrsg.  von  C.  S.  Barach  —  und 
Noack,  Philosophie  -  geschichtl.  Lexicon ;   angez.  von  dems.  — 


•  Philosophische  Zeit  Schriften.  249 

Litteraturbericht :  Biese;  Post;  Gross;  Ueberhorst;  Ditterici; 
Frederichs ;  Goebel ;  Horwicz ;  Pensier ;  Hellenbach.  —  A .  Sp  i  r : 
Antikritik;  Th.  Lipps:  Doplik.  —  Bibliographie  von  F. 
Ascherson.  —  Vorlesungen.  —  Becensionc  n  -  Verzeichnigs. — 
Aus  Zeitschriften.  —  Miscellen. 

Band  14,  Heft  10:  M.  J.  Monrad:  Hamlet  —  und  kein 
Ende.   —    M.  Carriire,    Die  sittl.    Weltordnung;    bespr.    von 

A.  Lassen.  —  K.  Dittmar,  Vorlesungen  über  Psychiatrie; 
bespr.  von  K.  Böhm.  —  L.  v.  Golther,  Der  moderne  Pessi- 
mismus; bespr.  von  C.  Schaarschmidt.  —  L.  Strümpell, 
Die  Geisteskräfte  des  Menschen;  bespr.  von  dems. —  Littera- 
turbericht:  Pfleiderer;  Harms;  v.  Eirchmann;  Völkel.  — 
C.  Ueberhorst:  Zur  Abwehr;  J.  H.  Witte:  Replik.  Biblio- 
graphie von  F.  Ascherson.  —  Vorlesungen.  —  Recensionen- 
Verzeichniss,  —  Aus  Zeitschriften.  —  Miscellen. 
Zeitschrift  f&r  Philosophie  und  philosophische  Kritik. 

Band  74,  Heft  1:  H.  Sommer:  Die  Lehre  Spinoza's  u. 
der  Materialismus.  I.  —  J.  B.  Weiss:  Untersuchungen  über 
Fr.  Schleiermacher's  Dialektik.  IL  —  E.  Dreher:  Zum  Ver- 
ständniss  der  Sinneswahmehmungen.  V.  —  Recensionen:  Per- 
fiönlichkeits-Pantheismus  u.  Theismus.  Carri^re,  Baader,  Ritter, 
TJlrici;  von  Fr.  Hoffmann  (Schi.)  —  0.  Caspari,  Die  Ur- 
geschichte   der   Menschheit;    von    Fr.  v.   Baerenbach.    — 

B.  Bocholt,  Die  Philosophie  der  Geschichte ;  von  M.  Carriire.  — 
B.  Conta,  Theorie  du  Fatalisme;  von  Lassen.  —  Fr.  Miche- 
lis,  Die  Philosophie  des  Bewusstseins.  —  J.  Grote,  A  Trea- 
iise  on  the  Moral  Ideals;  von  Erohn.  —  R.  Flint;  Theism; 
von  H.  Ulrici.  —  Smith,  Faith  and  Philosophy ;  von  dems.  — 
Hodgson  j  The  Philosophy  of  Refiection ;  von  dems.  —  Cook, 
Biology ;  von  dems.  —  J.  4{  u  her.  Die  Forschung  nach  der  Ma- 
terie ;  von  dems.— G.  Martins,  Zur  Lehre  vom  Urtheil ;  von  dems.  — 
J.  Jacobson,  Ueber  die  Beziehungen  zw.  Kategorien  etc.;  von 
dems.  —  E.  Dreher,  Beitrage  zur  Theorie  der  Farbenwahr- 
nehmung; von  dems.  —  v.  Wangenheim  E.,  Vertheidigung 
Kant's  gegen  Fries;  Selbstanzeige.  —  v.  Gi?ycki,  Die  Ethik 
David  Hume's  etc;  Selbtsanzeige.  —  Bibliographie. 

Bevue  Philosophique  de  la  France  et  de  l*iltranger. 

Jahrg.  3.,  Heft  10:  H.  Taine:  Geographie  et  M^canique 
c^r^brales.  —  C  a  r  ra  u :  Moralist  es  anglais  contemp. :  M.  Lecky.  — 
S^ailles:  Fhilosophes  contemp.:  M.  Ravaisson.  —  Notes  et  do- 
cuments:  La  conscience  sous  l'action  du  chloroforme,  d'aprös 
H.  Sp  e  n  cer.  —  De  la  Durde  des  actes  psjchiques  ^t^mentaires, 
d'apris  Eries  et  Auerbach.  —  Analyses  et  comptes  rendus: 


250  Philotophische  Zeitschriften. 

Hnber,  Der  Fessimismas ;  HorwicZyTsychol.  Analysen ;  v.  Oizyoki, 
Die  Philosophie  Shaf lesbury's ;  Eneken ,  Gesch.  u.  Kritik 
der  Grundbegriffe  etc. ;  Hanslick,  Du  Heau  dans  la  mnsique.  — 
Beyne  des  P^riodiques.  —  Correspondance :  Joyau:  Les  lapsus 
de  la  Vision;  Egger:  Räponse. 

Heft  11:  A.  D  a  s  t  r  e :  Le  Probleme  physiologique  de  la 
vie.  —  G.  Compayre:  La  Psychologie  de  Tenfant»  d'apr^ 
des  publications  r^centes.  —  H.  J  o  1  y :  La  Jeanesse  de  Leibniz 
k  rUniversit^  de  Leipzig.  —  Notes  et  docnments:  L'Intelli- 
gence  animale,  d'apr^s  Rom  an  es.  Note  sur  le  sens  muscu- 
laire,  par  G.  Pouch  et.  —  Analyses  et  comptes  rendus:  Renan, 
Caliban;  Guyau,  La  Morale  d'Epicure:  Bougot,  Essai  sur  la 
critique  d'art;  Liard,  Les  Logiciens  anglais  contemp.;  Zöllner, 
'Wissenschaft!.  Abhandlungen.  I.;  di  Giovanni,  Prineipii  di 
filoBofia  prima.  —  Notices  bibliographiques :  Beaussire ;  Gugnin } 
Delaunay ;  Ferri ;  Grote ;  Reich ;  Shields.  —  Revue  des  Periodiquee. 

Heft  12:  C.-S.  Peirce:  La  Logique  de  la  Science.  (L)  — 
A.  Penjon:  La  Metaphysique  ph^nom^niste  en  Angleterre: 
Hodgson.  L —  P.  Regnaud:  Etudes  de  philosophie  indienne 
(rEcole  Yedanta).  —  Varietes:  Les  Etudes  psychol.  en  Alle- 
magno:  Lazarus,  par  Th.  Reinach.  —  Analyses  et  comptes 
rendus:  Mayr,  Die  philos.  Geschichtsauffassung  der  Neuzeit; 
HorwicZy  Psychol.  Analysen.  Hf. ;  Horwicz,  Moral.  Briefe;  J. 
V.  Eirchmann,  Katechismus  der  Philosophie ;  Secretan,  Discours 
laiques;  Ouyau,  La  Morale  d'^ilpicure  (fin). — Revue  desP^riodiques. 
La  Philosophie  Positive. 

Jahrg.  11,  Heft  1 :  E.  Littr^:  Le  D^terminisme  de  Claude 
Bemard.  —  G.  Wyrouboff:  La  Guerre  d'Orient  (suite).  — 
H.  Stupuy:  y,La  Rdvolation''  selon  M.  Taine.  —  E.  Littr^: 
De  rinfluence  de  la  Philosophie  posit.  en  nos  affaires.  — 
T.  R  i  d  a  r  d :  Instinct-Intelligence  ?  —  A.  D  u  b  o  s  t :  Le  Trans- 
formisme.  —  £.  L  i  1 1  r  ^ :  Le  centenai  re  de  Voltaire.  —  P.Petroz: 
Salon  de  1878.  —  E.  deRoberty:  Notes  sociologiques.  — 
£.  Littr^:  La  paix  probable.   —    Vari^t^s.  —  Bibliographie. 

Heft  2:  £»  Littre:  La  double  conscience.  —  £•  Lesig ne: 
La  Familie  dans  le  pass^.  —  G.  A.  Hubbard:  L'£lcole  d'ad- 
ministration.  —  £.Littr^:  La  religion  d'Israel.  —  P.  Petroz: 
Exposition  univ.  de  1878.  —  £.  Noel:  Mad.  Gomte  a 
Rouen.  —  X.:  Les  missions  laiques  (suite).  —  M.  Rt^gis: 
France  et  Monarchie  (suite).  —  G.  Wyrouboff:  La  Guerre 
d'Orient.  —  £.  Littre:  La  paix  faite.  —  Vari^t^.  — 
Bibliographie. 

Heft  3:  P.  A.  Segond:    Du   Proc^de  comparatif  et  de 


PhUosophisehe  ZeitMhriften.  251 

flon  application  auz  ^tudes  biologiques.  —  A.  Sanson:  L'^tat 
actuel  de  la  Zootechoie.  —  A.  Bitti:  £tude  aar  la  folie.  — 
£.  L  i  1 1  r ^ :  De  la  ciTilisation  des  AryenB-Hindoiu. —  H.  S  t u  pu  7 : 
Notice  sur  la  yie  et  les  oeuvres  de  Sophie  Germain.  -~ 
P.  Petroz:  Le  roman  moderne  et  £.  Zola.  —  Fr.  Paul- 
han:  Le  fondement  de  la  Morale.  —  M.  R^gis:  Fraoce  et 
Monarchie  (suite).  —  G.  Wyrouboff:  Quelques  nouyeauz 
livres.  —  Bibliographie. 
Mind. 

Heft  13:  Wm.  James:  Are  we  Automata?  —  E.Gurney: 
On  Discord.  —  J.  "Venu:  The  Di£Picultif  s  of  Material  Logic.  — 
Fr.  Pollock:  Marcus  Aurelius  and  the  Stoic  Philosophy.  — - 
0.  Plumacher:  Pessimism.  —  G.  St.  Hall:  Philosophy  in 
the  United  States.  —  Notes  and  Discussions:  The  Establisment 
of  Ethical  First  Principles,  by  H.  Sidgwick;  Mr.  Balfour: 
on  Transcendentalism ,  by  E.  Caird;  with  Beply  by  A.  J. 
Balfour;  The  Number  of  Terms  in  a  Syllogism,  by  C.  B  e  a d ; 
„Matter-of-Fact"  Logic,  by  J.  N.  Keynes;  Theoretical  and 
Practical  Logic,  by  A.  Sidgwick;  Modem  Nominalism,  by 
A.  Meinen g.  —  Ctitical  Notices:  Fowler's  Edit.  of  Bacon's 
NoYum  Organum,  by  G.  C.  Bobertson;  B^musat's  Hist.  de  la 
Philosophie  en  Angleterre,  by  C.  Bead;  Benan's  Dialogues  et 
Fragments,  by  G.  C.  Bobertson.  —  New  Books.  —  Mis- 
cellaneous. 
IiB  Filosofia  delle  Scuole  Italiane. 

Band  18,  Heft  2:  L.  Ferri:  L'idea  (analisi  de'  suoi  carat- 
teri).  —  G.  Danieili:  Della  fisiopsicologpa  del  prof.  Herzen.  — 
R  Bobba:  La  dottrina  della  libertä  secondo  Spencer  in 
rapporto  colla  morale.  —  F.  Bagnisco:  Le  cause  finali  in 
Piatone  e  Aristotele.  —  G.  AUievo:  La  personalita  umana 
(II).  —  Bibliografia:  L.  Strümpell;  CoUyns  Simon;  G.  Bar- 
zellotti;  Herti;  G.  Buroni.  —  Periodici  di  filosofia.  — ■  Becenti 
pubblicazioni. 

Heft  3:  B.  Manzoni:  Sulla  dottrina  dell'  amore  in 
Giordano  Bruno  e  Schopenhauer.  —  T.  Mamiani:  Filosofia 
della  realitji.  —  Fr.  Bertinaria:  Bicerca  se  l'odierna  societ^ 
ci vile  progredisca  ovvero  retroceda.  —  G.  Jandelli:  Del  sen- 
timento.  —  Fr.  Lavarino:  Sui  principii  della  educazione 
morale.  —  Bibliografia:  Mac  Cosh;  Frohechammer;  W.  Windel- 
band; L.  Marion;  A.  Espinas;  £.  Beaussire;  D.  Carutti.  — - 
Notizie.  —  Becenti  pubblicazioni. 


Eine    neue  philosophische   Zeitschrift   erscheint 
seit  Ende  des  vorigen  Jahres  in  Porto  im  Verlag  von  Magalh&es 


252  Bibliographische  Mittheiliingen. 

&  Moniz.  Dieselbe  führt  den  Titel:  ,,0  Positlyismo^^ 
und  wird  Ton  den  Herren  Theophilo  Braga  und 
Julio  de  Mattos  in  jährlich  6  Heften  zu  5  Bogen  (S^) 
herausgegeben.  Eine  weitere  Anzeige  Torbehaltend  werde  an 
dieser  Stelle  nur  der  Inhalt  des  uns  vorliegenden  1.  Heftes 
angegeben:  Disciplina  mental.  —  C.  Pedroso:  0  fortuito 
na  historia.  —  J.  de  Mattos:  O  determinismo  em  psyco- 
logia.  —  G.  de  VasconceUos  Abreu:  Litteratura  S&os- 
krita.  —  Th.  Braga:  Gr&o-Vasco.  —  J.  de  Mattos:  A 
religi&o  do  futoro.  —  F.  Ad.  Coelho;  Materiales  para  o 
estudo  da  origem  e  transmiss&o  dos  contos  populäres. 


Bibliographische  Mttheilnngen. 

Aristotelis  de  arte  poetica  Über.  Bec  Gailelmns  Christ.  8.  (VI, 
48  S.)  •  Leipzig,  Tenbner.     60  Ff. 

Bain's  (Dr.  Alex.)  Mind  and  Body:  the  Theories  of  their  Relation. 
6th  Edition.     Cr.  8vo.     48      (International  Scientific  Series.) 

Bärenbach^  Dr.  Frdr.  t.,  Grundlegung  der  kritischen  Fhilo- 
Bophie.  1.  Thl.  A.  a.  d.  T.:  Prolegomena  zu  e.  anthropolog.  Phi- 
losophie.   gr.  8.    (XL.  386  S.)  Leipzig  1879,  Barth.    6  M. 

Bibliotheca  philosophorum  mediae  aetatis.  Herausg.  ▼.  Prof. 
Dr.  Carl  Sigm.  Barach.  2.  ßd.  gr.  8.  Innsbruck,  Wagner.  Mk.  3.  60 
(1  u.  2:  6.  — ).  Inhalt:  Excerpta  e  libro  Alfredi  Anglici  de  motu 
cordis  item  Costem-Üen-Lucae  de  diiTerentia  anima  et  spiritus  über 
trauslatns  a  Johanne  Hispalensi.  Als  Beitrilge  zur  Geschichte  der 
Anthropologie  und  Psychologie  des  Mittelalters  nach  handschriftl. 
Ueberlieferungen  herausg.  u.  m.  e.  einleit.  Abhandl.  und  Anmerkungen 
versehen.     (XI,  139  S.) 

Bibliothek^  philosophische,  oder  Sammlung  der  Hauptwerke 
der  Philosophie  alter  und  neuer  Zeit.  Unter  Mitwirkung  nam- 
hafter Gelehrten  herausg.,  bez.  übers.,  erläutert  und  mit  Lebensbe- 
Schreibungen  versehen  von  J.  H.  v.  Kirchmann.  2b6.  u.  267.  Heft, 
gr.  8.  Leipzig,  Koschny.  a  — .  50.  Inhalt:  Leibniz,  Theodicee. 
1.  u.  2.  Heft.    (S.  1—128.) 

Bibliothek  der  Volkswirthsehaftslehre  u.  Gesellsohaftswissen- 
schalt.  Herausg.  von  ¥.  Stöpel.  15.  Lfg.  gr.  8.  Berlin,  Ezped. 
d.  Merkur.  1  M.  —  Inhalt:  Die  Einheit  d.  Gesetzes  nachgewiesen 
in  den  Beziehungen  der  Natur-,  Social-,  Geistes-  und  Moral-Wissen- 
schaft   Von  H.  C.  Carey.  Aus  d.  Engl.  4.  Lfg.   (XX  u.  S.  337—436.) 

B  eiliger  9  Dr.  Adf.  ^  das  Problem  der  CausaUtät.  Ein  philosoph. 
Versuch,    gr.  8.   (VIII,  157  S.)    Leipzig,   Femau.     3  M.  60  Ff. 

Bourdet  (le  Dr.  £m^*)  —  Des  ICaladies  du  oaiactere,  au  point 
de  vue  de  l'hygiene  morale  et  de  la  Philosophie  positive. 
Nouvelle  Edition.    Iq-8.    5  fr. 

Busch,  Otto,  Arthur  Schopenhauer.  2.,  gänzlich  umgearb.  Aufl. 
gr.  8.     (VIII,  239  S.)  München,   Bassermann.     4  M.  50  Pf. 


/ 


Bibliographische  Mittheüungen.  253 

Capesiosy  Dr.  J.,  die  Metaphysik  Herbort's  in  ihrer  Ent- 
wicklungsgeschichte und  nach  ihrer  historischen  Stellung. 
Ein  beitrag  zar  Geschichte  der  nachkant.  Philosophie,  gr.  8.  (\I, 
108  S.)  Leipzig,  Matthes.     2  M.  50  Pf 

Caro   (£•)•    —    I«e    Fessimisme     au    XIX  e    siecle.     L^opardi. 

Schopenhauer      liartmann.     In- 12.     3  fr.  50. 
Clairefond  (A.  M«).  —  Une  nouvelle  ezplication  de  TA-B-C. 

£tnde  physiologiqne   sur  les  orgines  dn  langage.    Gr.  in-8.     4  fr. 
Comte  (Aag.).  —  Essais  de  Philosophie  mathematique.    In-8. 

]  fr.  5  »  cts 
De-Dominlcls  (S.  F.).  La  dottrina  dell'  evoluzione.  parte  I, 

L'organismo  della  filosofia  positiva;  in-8,  pag.    150.  'i'orino, 

1878.     2  L.  50. 
Eneken,  Pr.  Dr.  Bud«,  Geschichte   der  philosophischen  Ter- 
minologie.   Im  Umriss  dargestellt,   gr.  8.    (V,  226  S.)  Leipzig  1879, 

Veit  &  Co.     4  M. 
Fischer^  Knno^  Geschichte  der  neuern  Philosophie.      1.  Bd. 

1.  Thl.  A    11.  d.  T. :  Descartes  u.   seine  Schale.     1.  Tbl.  Allgemeine 

Einleitg.    Descartes*  Leben,  Schriften  u.  Lehre.     3.  neu  bearb.  Aufl. 

gr.  8     (XVL  440  S.)  München,  Bassermann.     9  M. 
FreriehS;  Dr.  Herrn.,  über  Naturerkenntniss.  gr.,8.  (36  S.)  Bremen, 

Kühtmann  &  Co.   1   M. 
Funke,  Sem.-Lehr.  Dr.  C.  A.,  die  Lehre  Flatons  v.  den  Seelen- 

vermogen,   nach   den  Quellen   dargestellt  u.   beurtheilt.    8.  (50   Q.) 

Paderborn,  F.  Schöningh.     1   M.  20  Pf. 
Geiger,  L.,  zur  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit.  Vor- 
träge.    2.  Aufl.   gr.  8.   iVII,  l.iO  S.)  Stuttgart,  Cotta.     4  M. 
Harms,  Frdr.«  die  Formen  der  Ethik.  [Aus:   „Abhandlgn.  d.  kgL 

Akad.  d.  W.**]  gr.  4.  (42  S.)  Berlin,  Dümmler's  Verl.  in  Comm.  2  M. 
— ,  — ,  über  die  Psychologie  v.  Johann  Nicolas  Tetens.  [Ans: 

„Abhandign.  d.  kgl.  Akad.  d.  Wiss."]  gr.  4.  (32  S.)  Berlin.  Dümm1er*B 

Verl.  in  Comm.     I   M.  50  Pf. 
Hartmann,  Ed.  y.,  Phänomenologie  d.  sittlich.  Bewusstseins. 

Prolegomena   zu  jeder   künft.  Ethik    gr.    8.  (XXIV,   871    S.)    Berlin 

1S79    C.  Duncker.     16  M. 
Helmholts,  Dr.  H«,  die  Thatsachen  in  der  Wahrnehmung.  Rode, 

geh.   zur  Stiftungsfeier  der  Friedrich-Wilhelms-Universität  zu  Berlin 

am  3.  Aug.  1878,  Überarb.   n.    m.  Zusätzen   versehen,    gr.  8.   (68  S.) 

Berlin  1879,  Hirschwald.     2  M. 
Holder,  Prof.  Dr..  über  die  Möglichkeit  und  die  Bedingungen 

wahrer  Erkenntni  ss.  gr.  4.  (37  S.)  Urach.  (Tübingen,  Fues.)  1  M.  20  Pf. 
Kluge,  Prof.  A»,  philosophische  Fragmente.    Mit  Bezug  auf  die 

V.  Hartmann^sche  „Philosophie  d.  Unbewussten".  2.  (Titel-)Ausg.  gr. 

8.  (IX,  296  S.)  Freiburg  (1877),  Herder.    4  M. 
Köstlin,  Dr.,  Heinr.  Adf.,  die  Tonkunst.  Einführung  in  die  Aes- 

thetik  der  Musik    gr.  8.  (XII,  370  S.)  Stuttgart  1 S79,  Engelhom    7  M. 
•— ,  Prof.  Dr.  Karl,  über   den  Schönheitsbegrifr.    gr.  4.  (60  S.) 

Tübingen   (Fues).     2  M. 
Kjrm,  A.  L.,  das  Problem  d.  Bösen.     Eine  metaphys.  Untersnchg. 

gr.  8.    (78  8.)  München,  Th.  Ackermann.    1  M.  60  Pf. 
Lef^yre  (Andr^).  —  La  Philosophie.  In- 12.    5  Ar. 
Marion  (Henri),  J.  Ijocke,  sa  vie  et  son  oauvre,  d'apres  des 

documents  nouveauz.    In-ri.    2  fr.  50  cts. 


254  Bibliographische  Mittheilangen. 

liendeeker^  Dr.  G.^  Stadien  sur  0esohiohte  der  deutschen 
Aesthetik  seit  Kant.    gr.  K   (V,  136  S.)  Würzbarg,  Stakel.  4  M. 

Vemhaeusery  Prof.  Dr.  J»,  Aristoteles'  Lehre  v.  dem  sinnlichen 
ErkenntnisBvermogen  u.  seinen  Organen,  gr.  8.  (134  S.) 
Leipzig,  Koschny.     2  M. 

Voaeky  Prof.  Dr.  Ludw.,  historisch-biographisches  Handwörter- 
buch sur  Geschichte  der  Philosophie.  6 — 9.  Lfg.  Lex. -8. 
(S.  -101-720.),  Leipzig,  Koschny.    1  M.  50  Pf. 

Pflzmaier^  Dr.  A«,  die  philosophischen  Werke  China's  in  dem 
Zeitalter  des  Thang.  [Aus:  „SitzuDgsberichte  d.  kgl.  Akad.  d. 
Wis8.<^]    Lex.-8.    (82  S,)  Wien,  Gerold's  Sohn  in  Comm.  1  M.  40  Pf. 

Pfleiderer^  Prof.  Dr.  Otto,  Beligionsphilosophie  auf  geschicht- 
licher Grundlage,    gf .  8.  (XX,  797  S.)  Berlin,  G.  Reimer.  1 1  M. 

PlotinI  Enneades;  rec.  Herrn.  Frdr.  Müller.  Antecedunt  Per- 
phyrius,  £anapiu8,  Suidas,  Eudocia  de  vita  Plotini.  Vol.  1.  gr.  8. 
(IV,  28  u.  280  S.>  Berlin,  Weidmann.     5  M.  40  Pf. 

— ,  — ,  übers,  v.  Herrn.  Frdr.  Müller.  Vorangeht  die  Lebens« 
beschreibg.  d.  Plotin  v.  Porphyrins.  J.  Bd.  gr.  8.  (IV,  24  n.  274  S.) 
Ebd.    4  M.  80  Pf. 

Behmke^  Dr.  Jobs*;  da6  Princip  d.  Katholicismus  u.  Protes- 
tantismus in  der  christlichen  Weltanschauung.  Bine  philo- 
soph.  Studie,    gr.  8.  (IV,  54  S.)  Zürich,  Schmidt.     1   M.  20  Pf. 

Beieh^  Dr.  Ed.,  Beiträge  zur  Anthropologie  u.  Psychologie, 
m.  Anwendgn.  auf  das  Ijeben  der  Gesellschaft.  2.  verm.  Ausg. 
gr.  8.  (XIII,  375  S.)  Braunschweig.  Vieweg  &  Sohn.    6  M. 

Beynandy  (P*)«  —  Materiaux  pour  servir  k  Phistoire  de  la 
Philosophie  de  PInde.    2.  partie.   In-8.    10  fr. 

Bosenkranz;  Karl;  neue  Studien.  4.  Bd.  Zur  Literaturgeschichte. 
Zur  Gesch.  d.  neueren  deutschen  Philosophie,  besond.  der  Hegel'schen. 
gr.  8.     (IX,  474  S.)  Leipzig,  Koschny.     10  M. 

Rousseau  (J*  J.)  et  ses  oauvres.  Biographie  et  fragments. 
Publik  par  le  comit^  du  Centenaire  (2  juillet  1878).  In-12  (Gen^vo.) 
3  fr.  50  cts. 

Schäffle^  Minister  a.  D.,  Dr.  Alb.  £•  Fr.,  Bau  u.  Leben  d.  so- 
cialen Körpers.  Encyclopädischer  Entwurf  e.  realen  Anatomie, 
Physiologie  n.  Psychologie  der  menschl.  Gesellschaft,  m.  besond.  Bäck- 
sicht auf  die  Volkswirthschaft  als  socialen  Stoffwechsel.  4.  Tbl.  Spe- 
cielle  Socialwissenschaft.  2.  H&lfte.  gr.  8.  (VIII,  538  S.)  Tübingen, 
Laupp.    10  M.  (1-4.:  44.—). 

Sehleiermaeher,  Dr.  F.,  über  die  Beligion.  Beden  an  die  Ge- 
bildeten unter  ihren  Verächtern.  7.  Aufl.  gr.  8.  (XIII,  242  S.)  Berlin, 
G.  Reimer.    2  M. 

SehlottmanOy  Konst.^  Bavid  Strauss  als  Bomantiker  d.  Heiden- 
thums.    gr.  4.  (ii4  S.)  Halle,  Buchh.  d.  Waisenb.     1  M.  60  Pf. 

Sckopeuhamer«  Arth.^  Parerga  u.  Paralipomena.  Kleine  philos. 
Schriften.  4.  Aufl.  Hrsg.  v.  JuL  Frau  enstädt.  2  Bde.  gr.  8. 
(XV,  532  u.  VIII,  696  S.)  Leipzig,  Brockhaus.     17  M. 

— ,  — ,  über  den  Willen  in  der  Natur.  Eine  Erörterg.  der  Be- 
stätiggn.,  welche  die  Philosophie  d.  Verf.,  seit  ihrem  Auftreten,  durch 
die  empir.  Wissenschaften  erhalten  hat.  4.  Aufl.,  herausg.  von  Jul. 
Frauen  Stadt,     gr.  8.  (XXXII,   147  S.)  Leipzig,  Brockhaus    3  M. 

Sehwegler,  Dr.  Alb.^  Qeschichte  der  Philosophie  im  Umrlss.  Ein 
Leitfaden  zur  Uebersicht.  10.  Aufl.  gr.  8.  (VIII,  302  S.)  Stuttgart, 
Conradi.     3  M.  60  Pf. 


Bibliographische  Mittheilungen.  255 

SeUtZy   D.  y.;   das  exacte  Wissen  der  Naturforscher.    Eine 

Znsammenstelluiig  von  Aussprächen  hervorragender  Naturforscher  und 

Philosophen.     8.     (VIII,  220  S.)     Mains,  Kircbheim.     2  Mk. 
Seifert  9  Lehrer  Ang.^  die  Unsterblichkeits  -  Idee  in  ihrer  ge- 

sehiohtlichen  Entwiokelung .   als  culturhist.  Beitrag  dargestellt. 

gr.  8.     (39  S.)     Leipzig,  Würzner.     1  Mk. 
Sioiliani  (Pietro).  Prolegomeni  alla  modema  psioogenia,  me- 
moria, in-4,  pag.   lOH.  Bologna,  1^78.    4  L. 
,   Iia  eritica  della   filosofia  zoologica  del  XIX  secolo, 

in-l(5,  pag.  560.  Napoli,  1878.    5  L. 
Sigwart;  Prof.  Dr.  Chrjph.,  Logik.    2.  Bd.    Die  Methodenlehre. 

gr.  8.  (VIII,  612  S.)  Tübingen,  Laupp.     10  M. 
8iiiile8,   Sam.^    der   Charakter.     Deutsche,   autoris.   Ausg.  ▼.  Fr. 

Steg  er.    .*?.  verb.  Aufl.  8.  (XII,  584  S.)  Leipzig,  Weber.    6  M. 
Sebezyk,    Dr.,  das  pythagoreische  System  in  seinen  Grund- 
gedanken   entwickelt.     8.    (41    S.    mit    1    Steintafel.)      Breslau, 

(Koebner).     1  Mk. 
Spencer'»  (Herbert)  the  study  of  Sooiology.  7th  Edition.  Cr.  8vo. 

5s.     (International  Scientific  Series.) 
Spera  (Adolfe).    Saggio  di  psioologia  del  destlno  dell'uomo 

dal   punto   dl   vista   dalla  soienza  modema;  in-8,  pag.   62. 

Napoli,  1878.     2  L.  50. 
Spineza.    —    Dieu,  Thomme  et  la  beatitude,  trad.  pour  la 

pr emier e  fbis  en  fran^ais  et  precede  d*une  introduction  par 

Paul  Janet.     In- 12.    2  fr.  50  cts. 
Spir^  A.9  Recht  u.  Unrecht.    Eine  Erörterg.  der  Principien.  gr.  8. 

(108  S.)    Leipzig  1879,  FindeL     1   M.  50  Pf. 
Stahl,  Frdr.  Jvl. ,  die  Philosophie  d.  Bechts.  2  Bde.  in  3  Ab- 

thlgn.  5.  unveränd.  (Titel-)  Aufl.   gr.  8.   Tübingen  (1S70),  Mohr.  24  M. 
Stern,  Dr.  M.  L.^  die  Philosophie   u.  Anthropogenie  d.  Prof. 

Dr.  Ernst  HaeokeL  gr.  8.  (152  S.)  Berlin  1879,  Grieben.     2  M. 
Strauss,  Dar.  Frdr. ,  gesammelte  Schriften.    Eingeleitet  v.  E  d. 

Zeller.     10.  u.  11.  Bd.    gr.  8.    Bonn,  Strauss.     5  M. 

Inhalt:  10.  Priedr.  Gottl.  Klopstock.    Chrst.  M&rltel.    (XIII,  359  S.)  -  11.  Vol- 
taire.   Seclu  Yortr&ire.    5.  Aufl.  (Xm.  311  S.) 

Snsemihl,  Franc,  de  Aristotelis  ethiois  19ioomaoheis  reeogn. 
dissertatio  I.    4.  (19  S.)  Berlin,  Calvary  &  Co.     1   M.  20  Pf. 

Sülze,  Dr.  £.,  über  Büohner's  Schrift  „Stoff  und  Kraft**  und 
gegen  den  Materialismus.    (32  S.)     Dresden,  Weiss.     25  Ff. 

Sj^ert  (£•)•  —  I«e  Materialisme.    In- 12.     1  fr. 

Teichmttller,  Prof.  Gust.,  neue  Studien  zur  Oesohiohte  der 
Begriffe.  2.  Heft.  Pseudohippokrates  de  diaeta.  —  Herakleitos  als 
Theolog.  —  Aphorismen,   gr.  8.  (XIV,  298  S.)  Gotha.  Perthes.    6  M. 

Tiele,  Prof.  €•  P«9  die  Assyriologie  und  ihre  Ergebnisse  für 
die  vergleichende  BeUgionsgesohichte.  Bede.  Aus  d.  Holland, 
ron  K.  Friederci.     8.     (24  S.>     Leipzig,  O.  Schalze.     1  Mk. 

Tr^mamx,  F.,  Universal-Princip  der  Bewegung  u.  der  'Wir- 
kungen der  Materie,  hergeleitet  aus  der  Entdeckg.  folg.  Grund- 
gesetzes: „Die  lebendige  Kraft  aberträgt  sich  besser  zwischen  gleich- 
artigen als  zwischen  ungleichartigen  Körpern*  u.  angewandt  auf  die 
Materie  wie  auf  das  Leben.  3.  Aufl.  Im  Auftrage  d.  Verf.  aus  dem 
Franz.  übers,  durch .1.  J.  Romang  u.  D.  Mäder.  8.  (XXXXV,  271  S.) 
Leipzig,  T.  O.  Weigel.     2  M.  40  Pf. 

Yambttler,  Thdr.  y.,  acht  Aufsätze  zur  Apologie  der  menschl. 

•    Vernunft,    gr.  8.  (VII,  109  S.)  Leipzig,  T.  O.  Weigel.    1  M.  80  Pf. 


256  Bibliographische  Mitthcilungen. 

Yerati  (Giuseppe).  Luce  e  cerveUo,  la  fisiologia  della  ragione ;. 
in- 16,  pag.  XXXU-368.    Bologna,   1878.     5  L. 

Verhandlungen  der  philosopbischen  Gesellschaft  su  Berlin. 
9.,  10.  u.  n.  Heft  gr.  8.  (60  u.  118  S.)  Leipzig,  Koschny.  ä  l  M.  20  Pf. 

Yogt,  J.  G«9  die  Krait.  Eine  realmonistiscbe  Weltanschauung. 
].  Jbuch.  Mit  116  (eingedr.)  Holzschn.  Die  Contraktionsenergie,  die 
letztursächl.  einheitl.  mecban.  Wirkungsform  d.  Weltsubstrates,  gr.  8^ 
(VIII,  655  S.)  Leipzig,  C.  F.  Fleischer's  Sort.    14  M. 

T91kel^  Dr.  A.^  das  Vernünftige  u.  Bewusste  in  der  Natur  u. 
die  Weltansch.  d.  Zukunft,   gr.  8.  (44  S.)  Leipzig,  Koschny.    1  M. 

Windelbandy  Prof.  Dr.  W.^  die  Geschichte  der  neueren  Philo- 
sophie in  ihrem  Zusammenhange  m.  der  allg.  Cultur  u.  den 
besond.  Wissenschaften  dargestellt.  1.  Bd.  V.  d.  Renaissance 
bis  Kant.  gr.  8.  (VIII,  579  S.)  Leipzig,  Breitkopf    &  Härtel.     10   M. 

Zeller,  Ed.,  über  die  griech.  Vorgänger  Darwin's.  [Aus:  ,^Ab- 
handign.  d.  k.  Akad.  d.  Wiss.^^j  gr.  4.  (16  S.)  Berlin,  Dümmler's  Verl.  1  M. 

— ,  — ,  über  die  Iichre  d.  Aristoteles  v.  der  Ewigkeit  d.  Welt.. 
[Aus:  „Abhandlgn.  d.  k.  Akad.  d.  Wiss.*']  gr.  4.  (15  S.)  Berlin, 
Düminler*8  Verl.      1  M. 


Notizen. 


Obwohl  die   Veröüentlichnng  anderer  als   rein  redactioneller  ,,No' 
tizen**  ausserhalb   des  Programms   dieser  Zeitschrift  gelegen  ist,   glaubt 
die  Redaction  doch,  die  folgenden  Ausnahmen  zulassen  zu  sollen: 
l.Der  Akad.-Fhilosophische  Verein  zu  Iieipzig  sammelt  im  Auf- 
trage des  Herrn  Prof.  Dr.  G*  Th.   Fechner  Material  zur  genaueren 
Feststellung  bez.  Untersuchung  der  bekannten  Thatsaohe,  dass  mit  den 
Vokalen  Farbenvorstellungen  verbunden  werden,  auch  die  Tongattungen 
und  die  Temperamente  mit  den  Vokalen  associirt  auftreten.    Der  ge- 
nannte Verein  bittet  daher  um  betr.  Mittheilungen  und  wird  gern  auf 
geneigte    Anfragen    genauere    Auskunft   ertheilen.     Adresse:    Akad.- 
Philos.  Verein  zu  Leipzig  (Briefkasten  im  Paulinum). 

2,  Die  „Zeitschrift  für  vergleichende  lateratur*^  herausgegeben  von 
8«  Brassai  und  H.  t«  Meltzl  in  Klausenburg  (Siebenbürgen),  regt  die 
Idee  an,  Schopenhauer  zu  seinem  100.  Geburtstag  (22.  Febr.  188S)  eine 
Kolossalbüste  zu  setzen.  Die  Redaction  genannter  Zeitschrift  erklärt  sich 
bereit,  alle  hierauf  bezüglichen  Anmeldungen  entgegenzunehmen,  bez.  zu 
veröffentlichen,  lehnt  jedoch  die  Annahme  von  Baargeldem  aus- 
drücklich ab. 

3.  Herr.  Dr.  W«  8chl5telin  Heidelbeig  ersucht  die  Redaction  dieser  Zeit- 
schrift um  Veröffentlichung  einer  Zuschrift,  inhaltlich  welcher  er  sich 
(in  Form  eines  „Protestes*')  die  Priorität  betreffs  einer  kleinen  Ver- 
vollständigung der  Schlusskettenlehre  wahrt,  welche  Vervollständigung 
Herr  Prof.  Chr.  Sigwart  im  II.  Band  seiner  „Logik**  Herrn  Prof.  Dro- 
bisch  zuschreibt.'  —  Da  Herr  Dr.  Schlötel  seine  Priori tätswahmng 
bereits  anderweit  publicirt  hat,  so  darf  und  mnss  diese  Notiz  in  der 
hiermit  gegebenen  kürzeren  Form  um  so  mehr  an  dieser  Stelle  genügen, 
als,  wie  oben  angedeutet,  das  Programm  dieser  Zeitschrift  für  solche 
und  ähnliche  Mittheilungen,  sowie  für  alle  Personalnachrichten 
überhaupt,  eine   Rubrik  nicht  aufgenommen  hat. 


rierer*flche  Hofbuchdrucl^erei.    Stephan  Geibel '«Ij^  C!o.  in  Altenborg. 


DIE 

yiERTEUAHRSSCHRIFT  FlR  «ISSEISCHAFTUCHE  PHILOSOPHIE 

EHRT  UND  BEWAHRT 

DAS  ANDENKEN   IHRES  MITBEGRONDERS  UND  MITREDACTEURS 


C.  GOERING. 


Carl  Theodor  GOERING,  geboren  am  28.  April  1S41  zu 
Brüheim  im  Herzogtham  Gotha,  erhielt  vom  Jahre  1853  an  seine  Schal- 
bildnng  aof  dem  Eisenacher  Carl- Friedrich  -  Gymnasium,  das  er  Ostern 
1859  nach  glänzend  öberstandenem  Matoritatsexamen  verliess.  Nachdem 
er  vier  Semester  in  Jena  und  drei  in  Berlin  Philologie  studirt  hatte, 
promovirte  er  in  Jena  1S63.  Die  Betrachtangen,  die  durch  das  Thema 
seiner  Promotionsschrift:  „Ueber  die  Unsterblichkeitslehre  in  Platon's 
Phädon"  hervorgerufen  wurden,  erweckten  —  so  hat  er  selbst  be- 
richtet —  in  ihm  den  lebhaften  Drang  nach  eigener  philosophischer 
Forschung  und  selbständiger  philosophischer  Ueberzeugping.  In  Folge 
davon  widmete  er  sich  nun  dem  eifrigsten  und  (nach  Aufgabe  seiner  in 
Berlin  und  Bonn  1866 — 1869  ausgeübten  Lehrerthätigkeit)  ganz  aus- 
schliesslichen Weiterstudium  der  Philosophie.  Im  November  1874  habi- 
litirte  er  sich  als  deren  Docent  mit  einer  Untersuchung:  „Ueber  den  Be- 
griff der  Ursache  in  der  griechischen  Philosophie^^  an  der  Universität 
Leipzig.  Im  selben  und  im  nächstfolgenden  Jahre  veröffentlichte  er  die 
ersten  zwei  Bände  seines  Hauptwerkes:  „System  der  kritbchen  Philo- 
sophie"; eine  kleinere  Schrift  „Ueber  die  menschliche  Freiheit  und  Zu- 
rechnungsfahigkeit"  schloss  sich  unmittelbar  an  (1876).  Am  18.  Januar 
1878  ward  er  in  ehrendster  Weise  zum  ausserordentlichen  MitgUede  der 
Leipziger  philosophischen  Facultät  ernannt. 

In  den  letzten  Jahren  litt  der  Verstorbene  an  rheumatisch-nervösen 
Affectionen,  die  auf  seinen  Gemüthszustand  nicht  ohne  trabenden  Einfluss 
blieben.  Der  aus  edelsten  Rücksichten  von  ihm  gehegte  Wunsch,  sein 
auf  vier  Bände  berechnetes  Hauptwerk  bald  fertig  zu  schaffen,  liess  die 
angestrengte  Arbeit  zur  verderblichen  Ueberanstrengung  werden:  kurz 
vor  der  völligen  Beendigung  des  Werkes  vollendete  der  es  wirkte.  — 
Er  ist  aus  dem  Leben  geschieden  am  2.  April  d.  J.  in  seiner  Heimath 
Eisenach,  wohin  er  sich  —  wie  er  nicht  lange  vorher  in  einem  Briefe 
schrieb  —  begab  voller  Freude,  „in  gänzlich  ungestörter  Müsse  den 
Schluss  seines  Werkes  noch  einmal  genau  revidiren  und  überarbeiten" 
zu  können. 


Was  Carl  GoERING  der  Wissenschatl  war,  ist  den 
Freunden  wissenschaftlicher  Philosophie  bekannt;  aber  auch  die 
Gegner  haben  es  erfahren. 

Rein  und  echt  war  sein  Charakter^  echt  und 
klar  sein  Denken,  klar  und  offen  seine  Darstellung. 

GOERING  hat  nie  die  einfache  Schärfe  seiner  Consequenzen 
durch  stylistische  Umdämmerung  verschwommen  gemacht  oder 
durch  dialektische  Schnörkeleien  maskirt;  nie  hat  er  den  ge- 
raden Gang  seines  Urtheils,  auch  wo  es  Verurtheilung  allgemein 
beliebter  Ansichten  ward,  durch  kleine  Verbeugungen  nach  der 
entgegengesetzten  Seite  unterbrochen.  GOERING  hat  sich  in 
innerem  Ringen  zu  seinen  wissenschaftlichen  Ueberzeugungen 
hindurchgearbeitet  y  aber  seine  wissenschaftlichen  Darstellungen 
—  in  der  Leichtigkeit  und  Freiiieit,  womit  sie  dem  Verstandniss 
des  Lesers  entgegenkommen  —  zeigen  die  Spuren  jenes  Ringens 
nicht  mehr  auf,  und  der  spröde  Stoff  gelehrter  Kenntniss  und 
kritischer  Forschung,  der  in  ernstester  Arbeit  gewonnen  war, 
trat  mit  einer  gewissen  Anmuth  zu  Tag,  die  in  ihrer  An- 
spruchslosigkeit  und  ungekünstelten  Feinheit  seinem  Style  ganz 
allein  eigenthümlich  ist. 

Mensch  und  Denker  waren  bei  GOERING  Eins  —  und 
keinen  Theil  seines  Wesens  hat  die  „Gemeinheit  gebändigt^^ 
Er  hat  nur  die  Wahrheit  gewollt  und  er  hat  sie  rein  und  ganz 
gewollt:  ohne  Duldung  von  „Nebenzweckursachen'S  die  sein 
Denken  hätten  entstellen  —  ohne  Schonung  eigener  Lieblings- 
meinungen, die  er  hätte  conserviren  mögen. 

Wo  er  als  Kritiker  auftrat,  hat  er  ohne  Ansehen  der  Person 
getadelt,  aber  auch  gelobt  ohne  Ansehen  der  Person.  Er  ver- 
stand das  Gute  mit  freudiger  Bereitwilligkeit  anzuerkennen; 
aber  er  wusste  ebenso  mit  vernichtender  Strenge  den  hoch- 
müthigen  Anathemalisirungsversuchen  eines  gewissen  beschränk- 
ten Schulinfallibilismus  entgegenzutreten.  Den  unverdächtigen 
Irrthum  pflegte  er  mit  einem  überlegenen  Humor  zu  behandeln. 


In  der  Ausbildung  der  eigenen  Gedanken  verband  GOERING 
in  seltenen)  Masse  die  Gabe  vorurtheilsfreier  Inangriffnahme 
der  Probleme^  scharfsinniger  Beobachtung  der  Thatsachen  und 
selbständiger  Entwickelung  der  systematischen  Ansichten  —  mit 
den  Vorzügen  einer  genauen  Kenntniss  der  geschichtlichen  Er- 
scheinungen nicht  minder  als  der  neuesten  Erzeugnisse  auf 
dem  weiten  Gebiete  der  Philosophie.  Was  er  mit  diesen 
Mitteln  errungen,  wird  in  dieser  Zeitschrift  zu  erörtern  an 
anderer  Stelle  Gelegenheit  sich  bieten :  an  diesem  Platze  genüge 
zu  erinnern,  dass  —  wenn  der  Standpunkt  dieser  Zeitschrift 
einige  wissenschaftliche  Geltung  haben  sollte  —  GOERIJVG  dann 
das  Verdienst  in  Anspruch  nehmen  darf^  als  einer  der  Ersten 
an  der  neueren  Begründung  und  Befestigung  dieses  Stand' 
Punktes  in  der  Philosophie  mitgewirkt  zu  haben.  Es  ist  jetzt 
nicht  der  Moment,  zu  untersuchen^  ob  dieser  Standpunkt,  den 
man  mit  einem  allzuleicht  missverständlichen  und  allzugern 
missverstandenen  Ausdruck  als  den  „empiristischen"  bezeichnet, 
Wahrheit  oder  Irrthum  sei;  wohl  aber  darf  hervorgehoben 
werden,  dass  GOERING  ihn  nichts  weniger  als  in  kritikloser 
Tradition  aufgenommen,  sondern  ihn  in  nie  ruhender  Weiter- 
bildung, in  ehrlichster  Arbeit  und  unter  sorgsamster  Berück- 
sichtigung abweichender  Meinungen  selbständig  als  Wahrheit 
erkannt  hat,  um  ihn  dann  ebenso  ehi*lich  allen  gegnerischen 
Instanzen  gegenüber  als  Wahrheit  nachdrücklich  zu  vertheidigen. 
Es  kam  ihm  ja  auch  hier  in  keiner  Hinsicht  auf  die  Person, 
in  jeder  Hinsicht  auf  die  Sache  an;  daher  er  denn  nicht  an 
den  Problemen  herumgeistreichelte^  sondern  mit  festem  Griff 
in  ihrem  Kern  sie  fasste.  GOERING  kannte  so  wenig  Feigheit 
wie  Feilheit  —  weder  in  ihren  zartesten  Nuancen  noch  in 
ihren  liebenswürdigsten  Einkleidungen ;  aber  ebenso  wenig 
liebte  er  eine  auf  den  Markt  reflectirende  Gesinnungsrenommage 
und  unwissenschaftliche  Ueberzeugungsrabulisterei. 

Als  Lehrer  lag  es  GOERING's  ganzer,  innerlich  vornehmer 

Natur    näher,    mehr  intensiv    als    extensiv    zu    wirken;    seine 

Schüler  wurden  seine  Freunde.  Einen  kleinlichen  Berufsdünkel 

kannte  er   nicht.    Er  achtete   mehr  auf  das,    was  er  noch  zu 

17* 


leisten  habe,  als  auf  das,  was  er  geleistet  halte.  Hit  dem  theil- 
nehmendsten  Interesse  begleitete  er  die  Wirksamkeit  geistes- 
verwandter Zeitgenossen  —  auf  das  Neidloseste  ihre  Erfolge. 
Hehr  für  Andere  besorgt,  als  für  sich,  hat  er,  selbst  von  Arbeit 
überbürdet,  fremde  Arbeitslast  immerdar  zu  erleichtern  sich 
bemüht;  ohne  selbst  sein  Leiden  zu  klagen,  hat  er  geholfen 
und  getröstet  wo  ihm  Leiden  geklagt  wurden  —  unermüdlich 
bis  zum  letzten  Tage. 

Und  wenn  dem  verstorbenen  Denker  und  Forscher  an 
dieser  sonst  nur  strenger  Untersuchung  gewidmeten  Stelle  noch 
ein  Wort  als  Freund  nachzurufen  vergönnt  wird,  so  soll  es 
das  kurze  sein:  er  hat  seinen  Freunden  gehört,  wie  er  der 
Wissenschaft  gehörte;  wie  er  kräftig,  lauter  und  selbstlos  im 
Denken  war,  so  fest  und  so  rein  und  aufopfernd  war  er  in 
der  Freundschaft:  so  scharfsinnig  und  ehrlich  der  Denker,  so 
zartsinnig  und  zuverlässig  der  Freund. 

Und  so  betrauert  die  Redaction  dieser  Zeitschrift  den 
doppelt  unersetzlichen  Verlust  des  wahrhaften  und  reich- 
begabten Werkgenossen  —  des  treubewährten  und  hochgesinn- 
ten Freundes! 


üeber  den  Missbrauoh  der  Mathematik  in  der 

Philosophie. 

Ein   nachgelassener  Vortrag 

von 

C.  Göring.*) 


Die  Geschichte  eines  Begriffes,  wie  auch  einer  ganzen 
Theorie,  enthält  gewöhnlich  schon  einen  guten,  oft  den  besten 
Theil  der  Kritik,  indem  sie  die  Ursachen  kennen  lehrt, 
welche  in  Erq^iangelung  innerer,  sachlicher  Gründe  zur  be- 
treffenden Doctrin  führten.  Diese  allgemeine  Regel  bewährt 
sich  auch  an  unserem  Thema,  dessen  Specialgeschichte  mit 
dem  Torkantischen  Dogmatismus  beginnt.  Zugleich  bestätigt  sich 
auch  hier  wieder  die  Erfahrung,  dass  der  Irrthum  ursprünglich 
naiv  und  ebendeshalb  mit  der  gr&ssten  Sicherheit  auftritt. 
CartesiuSy  Spinoza  und  Leibniz  stellen  die  Mathematik  als  das 
Ideal  auf  für  die  wissenschaftliche  und  philosophische  Er- 
kenntniss  überhaupt.  Cartesius  sagt:  „Wie  man  in  der 
Mathematik  construirt,  einfach  dem  Wissenstrieb  folgend^  so 
soll  man  es  auch  in  der  Physik  machen,^ 

Spinoza 's   Methodologie   schreibt   vor,    „aus  einer  ge- 


*)  Der  Vortrag,  für  den  Akad.- Philosophischen  Verein  zn  I^eipzig 
bestimmt,  wurde  daselbst  am  14.  Februar  1878  verlesen,  da  Göring 
durch  eine  acute  Steigerung  seines  körperlichen  Leidens  am  persön- 
lichen Erscheinen  verhindert  war.  —  So  erhalte  denn  der  um  diese 
Zeitschrift  so  hochverdiente  Mann  in  ihr  mit  der  Veröffentlichung 
seines  Vortrags  das  Wort  noch  ein  Mal  —  ach  leider  das  letzte  Mal ! 

Der  Herausgeber. 


262  C.  Göring: 

gebenen  Definition  Gedanken  zu  finden'',  und  er  hat  ja  auch 
alles  geihan,  um  den  Schein  zu  erwecken,  als  ob  er  selbst  zu 
seinen  philosophischen  Gedanken  auf  diesem  Wege  gekommen 
sei.  Leibniz  trägt  sich  mit  dem  chimärischen  Gedanken 
einer  sdentia  generalis  et  characteristica  universalis,  für  deren 
Ausfuhrung  die  Mathematik  als  Muster  und  Ideal  der  einzu- 
schlagenden Methode  gilt. 

Die  gemeinsame  Grundanschauung  des  Dogmatismus  ist 
demnach  die,  dass  das  construirende  Verfahren  der 
Mathematik  allgemeines  Vorbild  werden  soll.  Ver- 
anlasst ist  sie  durch  die  Strenge  der  mathematischen  Beweis- 
führung, welche  man  als  „evidente  Demonsti*ation''  allen  andern 
Arten  der  Argumentation  gegenüberstellte,  und  der  auf  ihr 
beruhenden  Apodikticitat,  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  der 
mathematischen  Resultate.  In  der  That,  wenn  man  nach  der 
Anweisung  von  Cartesius  „^nfach  dem  Wissenstrieb  folgt**,  und 
dadurch  eo  ipso  die  absolute  Gewissheit  der  Erkenntniss 
zu  erreichen  meint,  wird  man  sich  kein  besstres  Muster  für 
die  absolute  Gewissheit  als  die  Mathematik  wählen  können. 

Leider  aber  führt  die  einfache  Hingabe  an  den  Wissens- 
trieb gewöhnlich  eher  zu  allem  Anderen,  als  zum  Wissen, 
nämlich  ausserhalb  der  Mathematik^  und  zwar  gerade  dann 
nicht  am  Wenigsten,  wenn  man  sich  das  Verfahren  der  letzteren 
zum  Muster  nimmt.  Hierüber  war  Kant  in  seiner  vor- 
kritischen Periode  zur  vollkommenen  Klarheit  gelangt,  wie 
seine  folgenden  Erörterungen  ausser  allen  Zweifel  setzen. 
Um  dem  dogmatischen  Verfahren  gegenüber  zu  zeigen,  von 
welch'  verschiedenem  Werthe  die  mathematischen  und  die  philo- 
sophischen Definitionen  sind,  geht  er  auf  ihre  ganz  ver- 
schiedenartige Entstehung  zurück:  „Man  kann  zu  einem 
jeden  allgemeinen  Begriffe  auf  zweierlei  Wegen  kommen ,  ent- 
weder durch  die  willkürliche  Verbindung  der  Begriffe, 
oder  durch  Absonderung  von  derjenigen  Erkenntniss^  welche 
durch  Zergliederung  deutlich  geworden  isL  Die  Mathematik 
fasst  niemals  anders  Definitionen  ab,  als  auf  die  erstere  Art . . . 
Mit  den  Definitionen   der  Weltweisheit  ist  es  ganz  anders  be- 


Ueber  den  Missbrauch  der  Mathematik  in  der  Philosophie.  263 

wandt.  Es  ist  hier  der  Begriff  von  einem  Dinge  schon  ge» 
geben,  aber  verworren  und  nicht  genugsam  bestimmt.^ 

Wenn  die  Philosophen  synthetisch  erklaren,  so  ist  das 
Willkür,  und  wenn  dies  Erklärung  heissen  kann,  so  ist  es 
höchstens  grammatische.  Denn  es  gehört  gar  keine  Philosophie 
dazu,  um  zu  sagen,  was  für  einen  Namen  ich  einem  willkür* 
liehen  Begriffe  will  beigelegt  wissen,  wie  dies  z.  B.  bei  Leibniz' 
Monaden  der  Fall  ist,  die  er  nicht  erklärt,  sondern  erdachi 
hatte.  Denn  der  Begriff  derselben  war  ihm  nicht  gegeben, 
sondern  von  ihm  geschaffen  worden. 

Als  ferneren  fundamentalen  Unterschied  zwischen  Mathe- 
matik und  Philosophie  stellt  Kant  den  auf,  dass  das  concreto 
Zeichen  und  der  abstracte  Begriff  in  der  Mathematik  sich  dem 
Inhalte  nach  vollständig  decken,  in  der  Philosophie  dagegen 
sinnliche  Zeichen  niemals  ein  adäquater  Ausdruck  der  Begriffe 
sind.  Demgemäss  geht  in  der  Mathematik  die  Definition  allen 
Erklärungen  voraus,  in  der  Philosophie  hat  sie  nachzu- 
folgen. —  Auf  Grund  dieser  Verschiedenheit  zwischen  Mathe* 
matik  und  Philosophie  behauptet  Kant,  dass  nichts  der  Phi- 
losophie schädlicher  gewesen  sei  als  die  Mathematik,  nämlich 
die  Nachahmung  ihrer  Methode  in  der  Philosophie.  Denn  die 
erstere  kann  in  ihren  Synthesen  und  Constructionen  einfach 
alles  so  verwenden  und  arrangiren,  wie  sie  es  für  ihren  jedes- 
maUgen  Zweck  nöthig  hat,  da  sie  durch  keine  entgegenstehende 
Erfahrung  verhindert  ist;  vielmehr  ist  gerade  die  beliebige  und 
willkürliche  Verbindung,  die  Kant  einfach  Synthesis  nennt, 
die  der  Mathematik  angemessene  Methode.  In  der  Philosophie 
dagegen ^ liegt  jederzeit  etwas  in  der  Erfahrung  Gegebenes 
vor,  wodurch  die  Synthesis  ausgeschlossen  und  dieAnalysis, 
die  Zergliederung  der  gegebenen  Begriffe  erfordert  ist  Erst 
wenn  diese  vollendet,  oder  wenigstens  soweit  vorgeschritten  ist, 
dass  man  klare  und  deutlich  bestimmte  Begriffe  hat,  dann  ist 
es  an  der  Zeit,  auch  in  der  Philosophie  synthetisch  zu 
verfahren,  jedoch  immer  mit  strenger  Beobachtung  des  prin- 
cipiellen  Untei*schiede8  von  der  mathematischen  Synthesis.  Die 
Philosophie  wird   nämlich  niemals   eine  willkürliche  Synthesis 


264  C.  Göring: 

Veranstalten  dürfen,  sondern  jederzeit  nur  die^   welche  ihr  die 
Erfahrung  selbst  aufdringt.  — 

Hiermit  hat  Kant  den  Gegensatz  klar  dargelegt^  in  welchem 
mathematische  und  philosophische  Ericenntniss  zu  einander  stehen, 
ebenso  auch  die  Gründe  dieses  gegensätzlichen  Verhältnisses, 
wenn  auch  nur  kurz  angegeben,  aber  doch  so  deuilich,  dass 
ihre  einigermassjsn  sorgfaltige  Erwägung  genügt  hätte,  um  Ma-^ 
Ihematik  und  Philosophie  von  da  ab  genügend  auseinander* 
zuhalten.  Leider  aber  ist  derselbe  Kant  Urheber  des  modernen 
Missbrauches  der  Mathematik  in  der  Philosophie  geworden^  indem 
er  in  seiner  kritischen  Periode  seine  eigene  Feststellung  und 
obige  Erklärung  der  Verschiedenheit  beider  ignorirte  und 
nun  umgekehrt  beide  recht  geflissentlich  in  möglichst  enge 
Verbindung  brachte.  Dieser  V^echsel  der  Ansichten  Kant's 
beruht  nicht  auf  zwingenden  sachlichen  Gründen,  sondern  auf 
praktischen  Motiven^  über  deren  Natur  er  sich  oft  genug 
sehr  deutlich  ausgesprochen  hat;  Prol.  §  44  (1783):  ^Unsere 
Kritik  des  Verstandes  vereinigt  sich  mit  den  Ideen  der  reinen 
Vernunft  zu  einer  Absicht,  welche  über  den  Erfah- 
rungs gebrauch  des  Verstandes  hinausgesetzt  ist"; 
er  will  die  Anmassungen  der  Sinnlichkeit  einschränken,  oder 
kurz,  wie  er  selbst  1787  in  der  Vorrede. zur  2.  Auflage  der 
Vernunflkritik  sagte,  um  nicht  länger  nicht  verstanden  zu 
werden:  „Ich  musste  das  Wissen  aufheben,  um  zum  Glauben 
Platz  zu  bekommen.*'  Dies  nannte  er^Kriticismus":  „Jene 
durch  Kritik  der  Vernunft  allein  mögliche  Er* 
kenntniss  seiner  Unwissenheit  ist  also  Wissen- 
Schaft**  Diese  macht  das  Feld  frei  für  Hypothesen, 
nämlich  für  den  Glauben  an  die  Möglichkeit  der  drei  Ver- 
nuaftideen  Gott,  Freiheit,  Unslerblichkeil.  Die  Behauptung  des 
Wissens  wie  die  des  Nichtwissens  von  diesen  Objecten  des 
Glaubens  ist  ihm  in  gleicher  Weise  dogmatisch:  der  Glaube 
allein  ist  „kritisch". 

Damit  nun  aber  diese  ganz  neue  Art  von  kritischer  Meta- 
physik selbst  Glauben  finden  sollte,  musste  sie  ausser  der  guten 
Absicht  doch   noch  einige  theoretische  Stützen  erhalten,    und 


Ueber  den  Missbrauch  der  Mathematik  in  der  Philosophie.  265 

dazu  diente  Kant  yornehaiUch  die  Mathematik.  Diese  er- 
weitert sich  nach  ihm  allein  durch  Vernunft  =a  priori, 
ohne  Erfahrung,  wenngleich  mit  Hülfe  der  construcliven 
Anschauung,  und  wird  daher  nun  auch  für  Kant,  was  sie  bei 
den  Dogmatisten  wm*,  das  Vorbild  der  Metaphysik,  die  er 
nach  seinem  eigenen  Ausdruck  „in  die  gute  Gesellschaft  der 
Mathematik  brachte*',  aus  der  sie  bis  jetzt  noch  nicht  wieder 
vollständig  befreit  ist.  Soweit  es  sich  nun  um  Metaphysik  im 
engeren  Sinne  handelt,  würde  dies  nicht  weiter  zu  bedauern 
sein;  leider  aber  erstreckt  sich  der  störende  Einfluss  der  Ver- 
gesellschaftung von  Mathematik  und  Philosophie  auch  auf  funda- 
mentale Fragen  vornehmlich  der  erkenntnisstheoretischen  und 
psychologischen  ForschuQg,  nebenbei  freilich  auch  noch  bei 
einzelnen  Denkern  auf  alle  philosophischen  Disciplinen  überhaupt 

Die  modernen  Kantianer  haben  kaum  etwas  Erhebliches 
zur  besseren  Begründung  des  Kantischen  Standpunktes  bei- 
getragen; nur  Lange  und  Liebmann  bemühen  sich,  die 
psychologische  Apriorität  in  eine  logische  umzuwandeln  und  da- 
durch zu  retten.  Da  indessen  die  Satze  der  Logik,  soweit  sie 
wissenschafüichen  Werth  haben,  sich  alle  aus  der  Erfahrung 
herleiten  lassen,  so  bestätigen  jene  beiden  Denker  vielmelvr  das, 
was  sie  widerlegen  wollen.  Die  übrigen  Kantianer  pflegen  sich 
nur  auf  das  zu  berufen,  was  ihr  Meister  gesagt  hat.  Wir  habep 
es  daher  audi  gegenwärtig  zunächst  nur  mit  dem  zu  thun,  was 
Kant  selbst  lehrte,  um  vermittelst  der  Mathematik  die  Annahme 
eines  Apriori  als  eine  nothwendige  zu  erweisen.  Seine  Beweis- 
führung ist  sehr  einfach  und  durchsichtig:  die  Erkenntnisse 
der  Mathematik  sind  allgemein  und  nothwendig;  nun 
findet  sich  in  der  Erfahrung  weder  Allgemeinheit  noch  Noth- 
wendigkeit,  denn  sie  lehrt  nur,  dass  etwas  sich  bisher  aus- 
nahmslos so  verbalten  hat,  nicht  aber,  dass  es  sich  in  alle 
Ewigkeit  so  verhalten  wird;  ebenso  dass  etwas  so  ist,  nicht 
aber,  dass  es  so  sein  muss;  also  stammt  die  Apodiktidtät  der 
Mathematik  nicht  aus  der  Erfahrung,  mithin  muss  das  mensch-^ 
liehe  Erkenntnissverm&gen  apriorische  Elemente  enthalten. 

Ueber  diese  allgemeine  Schlussfolgerung  hinai^  dient  nun 


266  C.  Göring; 

die  Mathematik  weiter  daiu,  die  Annahme  specieller  aprio- 
rischer Formen  des  Inteliects  zu  bewei8en4  1)  der  Raum  ist 
eine  nothwendige  Vorstellung  a  priori,  weil  nur  da* 
durch  die  apodiktische  Gewissheit  aUer  geometrischen  Grund* 
Sätze  und  die  Möglichkeit  ihrer  Constructionen  a  priori  gesichert 
erscheint.  „Wäre  nämlich  die  Vorstellung  des  Raumes  ein 
a  posteriori  erworbener  Begriff,  der  aus  der  allgemeinen 
äusseren  Erfahrung  geschöpft  wäre,  so  würden  die  eralen 
Grundsätze  der  mathematischen  Bestimmung  nichts  als  Wahr- 
nehmungen sein.  Sie  hätten  also  alle  Zufälligkeit  der  Wahr- 
nehmung, und  es  wäre  eben  nicht  nothwendig,  dass  zwischen 
zween  Punkten  nur  eine  gerade  Linie  sei,  sondern  die  Er* 
fahrung  würde  es  jederzeit  so  lehren.  Was  von  der  Erfahrung 
entlehnt  ist,  hat  auch  nur  comparative  Allgemeinheit,  nämlich 
durch  Indttction.  Man  würde  also  nur  sagen  können,  soviel 
zur  Zeit  bemerkt  worden,  ist  kein  Raum  gefunden  worden,  der 
mehr  als  drei  Abmessungen  hätte." 

Näher  wird  nun  diese  nothwendige  Vorstellung  a  priori 
bestimmt  als  „ursprüngliche  Anschauung^,  welche 
a  priori,  d.  i.  vor  aller  Wahrnehmung  eines  Gegenstandes  in 
uns  angetroffen  wird,  mithin  reine,  nicht  empirische  An* 
schauung  ist,  und  bloss  im  Subjecte  ihren  Sitz  hat, 
als  Form  des  äusseren  Sinnes  überhaupt.^ 

Ausser  dem  Gebrauch,  welchen  Kant  zur  Bestätigung  seiner 
Hypothesen  von  apriorischen  Formen  des  Intellectes  von  der 
Mathematik  macht,  hat  er  sie  auch  als  Vorbild  bei  seiner  Auf- 
hebung des  empirischen  Wissens  benutzt,  indem  er  die  ge- 
wöhnliche Anschauung  nach  Art  der  matliematischen  Anschauung 
und  das  Verhältniss  jener  zum  Begriff  ebenfalls  nach  mathe- 
matischer Analogie  construirt,  und  damit  trotz  aller  nachträg- 
lichen Unterscheidungen  die  philosophische  und  mathematische 
Erkenntniss  in  ihren  wesentlichen  Bestandtheilen  identificirt 
Auch  dies  hat  er  selbst  unmissverständlich  ausgesprochen;  das 
Charakteristische  der  matliematischen  Erkenntniss  besteht  ihm 
darin,  „dass  man  nicht  dem,  was  man  in  der  Figur  sieht  oder 
auch  dem   blossen  Begriffe   derselben  nachspurt  und  gleichsam 


Ueber  den  Missbrattch  der  Mathematik  in  der  Philosophie.  267, 

davon  ihre  Eigenschaften  ablernt  —  sondern  dass  man  das, 
was  man  nach  Begriffen  selbst  a  priori  hineindenkt  und  dar- 
stellt, (durch  Construction)  herrorbringt  und  daher  nur  das 
a  priori  und  mit  Sicherheit  von  einer  Sache  weiss,  was 
man  seinem  Begriffe  gemäss  selbst  in  sie  gelegt  hat^  Kurz 
gefasst  drückt  er  dies  so  aus:  „Die  Gegenstände  müssen 
sich  nach  unsrer  Erkenntniss  richten' ,  nicht  um- 
gekehrt. Dies  Beispiel  der  Mathematik  und  „Naturwissenschaft^, 
welche  letztere  damals  freilich  noch  gar  nicht  existirte,  scheint 
Kant  „merkwürdig^  genug,  um  es  auch  in  der  Metaphysik 
nachzuahmen:  „In  der  Metaphysik  kann  man  nun,  was  die 
Anschauung  der  Gegenstände  betrifft,  es  auf  ähnliche  Weise 
versuchen.  Wenn  die  Anschauung  sich  nach  der  Beschaffenheit 
der  Gegenstände  richten  müsste,  so  sehe  ich  nicht  ein,  wie 
man  a  priori  von  ihr  etwas  wissen  könne;  richtet  sich  aber 
der  Gegenstand  (als  Object  der  Sinne)  nach  der  Beschaffenheit 
unseres  Anschauungsvermögens,  so  kann  ich  mir  diese  Mög- 
lichkeit ganz  wohl  vorstellen.^  Natürlich  findet  dasselbe  statt 
bei  den  Begriffen,  und  weiter  bei  der  Verbindung  von 
Anschauung  und  Begriff  (im  Unheil)  zur  Erkenntniss,  wobei 
die  Verknüpfung  ebenfalls  apriorisch  ist.  — Hiermit  hat 
nun  Kant  alles,  was  wir  jetzt  vom  empirischen  und  wissen- 
schaftlichen Standpunkt  aus  Inhalt  nennen,  aus  dem  Wissen 
glücklich  beseitigt,  und  nur  dessen  „Form**,  Allgemeinheit 
und  Notfawendigkeit,  übrig  gelassen.  Der  Inhalt  ist  wechselnd, 
daher  „zufällig*^  und  nicht  Wissensobject;  er  ist  für  die  Kan- 
tische apriorische  oder  Vernunfterkenntniss  geradeso  gleich- 
gültig, wie  etwa  das  Material,  aus  welchem  ein  concretes 
Dreieck  hergestellt  ist,  für  die  Erkenntniss  von  den  Eigen- 
schaften dieses  Dreiecks;  denn  wie  diese  bei  jedem  Material 
dieselben  Meiben,  so  auch  unsere  apriorische  und  apodiktische 
Erkenntniss  von  den  Dingen,  da  wir  ja  eben  nur  das  an  ihnen 
a  priori  erkennen,  was  wir  selbst  in  sie  hineingelegt  haben. 
Auf  diesem  Wege  erreichte  Kant  seine  Absicht,  die  Erkenntniss 
von  der  Erfahrung,  diesen  Begriff  natürlich  im  üblichen 
Sinne  verstanden,    vollständig  unabhängig  zu  stellen;    dass  er 


268  C.  GöTing: 

dadurch  die  Wirklichkeit  aufhob  und  nur  die  Möglich- 
keit übrig  liess,  lag  von  vornherein  in  seiner  Absicht,  die 
Möglichkeit  der  Glaubensobjecte  zu  schützen.  So  ist 
schon  bei  Kant  die  rein  formalistiBche  Auffassung  des 
Wissens,  welche  seine  Nachfolger  noch  weiter  ausbildeten,  aus 
der  Mathematik  in  die  Philosophie  übergegangen.  Dass  aber 
dieser  fundamentale  Irrthum  von  der  grössten  und  verderb- 
lichsten Tragweite  für  die  Philosophie  sein  musste,  ist  „a  priori" 
leicht  einzusehen,  wie  auch  durch  die  philosophische  £nt- 
Wickelung  genügend  bestätigt  worden.  Wenn  man  das  Cor- 
rectiv  aller  Phantasterei,  die  Erfahrung  oder  die  Wirklich- 
keit, principiell  beseitigt  und  sich  auf  blosse  Möglichkeit, 
Widerspruchslosigkeif,  Denkbarkeit  etc.  als  vermeintliche  Kriterien 
des  Wissens  stützt,  dann  ist  einfach  Alles  möglich,  wie  es 
ja  in  der  nachkantischen  Philosophie  zum  Theil  auch  wirk- 
lich geworden  ist  Durch  diese  formalistische  Ansicht  vom 
Wissen  setzt  sich  die  Philosophie  in  directen  Gegensatz  zur 
Wissenschaft,  und  kann  durch  consequentes  Festhalten  an  ihrem 
apriorischen  Standpunkte  zwar,  wie  sie  dies  so  lange  gewähnt, 
über  der  Wissenschaft  zu  stehen  glauben,  in  Wirklichkeit 
aber  schliesst  sie  sich  selbst  von  der  gemeinsamen  Arbeit  der 
Wissenschaft  an  den  Fortschritten  der  Erkenntniss  principiell 
aus.  — 

„Der  Noth  gehorchend,  nicht  dem  eigenen  Trieb'',  ist 
nun  auch  die  deutsche  Philosophie  im  Ganzen  seit  geraumer 
Zeit  von  diesen  luftigen  Bahnen  auf  den  soliden  Weg  der  Er- 
fahrung zurückgekehrt,  oder  bemüht  sich  wenigstens  es  zu 
thun,  denn  es  gelingt  natürlicii  nicht  mit  einem  Male.  Es  sind 
daher  neuerdings  fast  weniger  die  Philosophen,  mit  Ausnahme 
der  ihr  Apriori  durch  die  Mathematiker  stützenden  Kantianer, 
welche  die  Mathematik  übei*  das  ihr  eigenthümliche  Gebiet 
hinaus  verpflanzen  und  so  die  „Grenzen''  der  Wissenschaft 
verletzen,  als  vielmehr  Mathematiker  und  Naturforsdier.  Von 
den  Nichtkantianern  ist  merkwürdigerweise  genade  deqenige 
Philosoph  nicht  von  dem  störenden  Einflüsse  der  Mathematik 
frei  geblieben,   welcher  ihren  anderweitigen  Missbrauch  (vor<* 


Ueber  den  Missbraach  der  Mathematik  in  der  Philosophie.  269 

nehmlich  die  falsche  YerdiDglichnng  der  Unendlichkeitsbegriffe) 
in  gewohnter  drastischer  Weise  bekämpfte.  Dühring  lehrt 
eine  Ueberein Stimmung  zwischen  Sein  und  Denken  in 
wesentlichen  Beziehungen,  wodurch  ein  alter  Hegelianer, 
Engels,  sich  berechtigt  glaubte,  ihn  des  Plagiats  an  der  Hegel - 
sehen  Philosophie,  speciell  an  der  Lehre  von  der  Identität 
von  Denken  und  Sein  zu  beschuldigen.  Dies  heisst  frei- 
lich Dühring  Unrecht  thun;  yielmehr  werden  seine  „Identitäts- 
velleitäten" ,  um  einen  seinem  eigenen  Sprachkreis  entlehnten 
Ausdruck  zu  gebrauchen,  wohl  auf  die  Einwirkung  der  Mathe- 
matik zurückzuführen  sein.  Er  behauptet  zunächst  die  Existenz 
von  logischen  Sätzen  und  Principien,  die  nicht  aus  der  Er- 
fahrung abgeleitet  werden  könnten;  er  kennt  ferner  logische 
Eigenschaften  des  Seins  und  glaubt  auf  Grund  derselben  eine 
absolute  Erkenntniss  des  Wesens  der  Dinge  zu  erreichen: 
yjWäre  das  Wesen  aller  Dinge  nicht  in  der  letzten  logischen 
Gesammtform  alles  vollendeten  Wissens  ausdrückbar  und  trüge 
es  nicht  in  sich  selbst  eine  Systematik  und  Logik,  die  in  der 
Verfassung  des  Verstandes  gleichsam  einen  subjectiven  Aus- 
läufer hat,  so  würde  alles  Erkennen  ein  nichtiger  Schein  sein.^ 
Da  nun  bei  Dühring  alles  eigentlich  Metaphysische  ausgeschlossen 
erscheint,  und  demnach  seine  Logik  und  Erkenntnisstheorie 
von  daher  nicht  inficirt  sein  kann,  so  bleibt  als  Erklärung  nur 
der  Einfluss  der  Mathematik  übrig.  Denn  nur  aus  dieser  rein 
formalistischen  Disciplin  werden  sich  logische  Sätze  ableiten 
lassen,  die  nicht  aus  der  Erfahrung  stammen;  freilich  werden 
dann  diese  Sätze  ihrem  Ursprung  getreu  auch  rein  forma- 
listisch und  für  die  nichtmathematische  Erkenntniss  un- 
fruchtbar bleiben,  während  die  aus  der  Erfahrung  gewonnenen 
logischen  Lehren  zwar  auch  formal  und  abstracto  aber 
stets  der  zusammenfassende  Ausdruck  vieler  concreten  Er- 
kenntnisse, daher  allgemeingültig  sind  und  deshalb  wieder 
auf  die  Erfahrung  angewandt  werden  können.  Keinesfalls  aber 
findet  eine  vorurtheilslose  Beü*achtung  „logische  Eigenschaften^ 
oder  eine  „Logik  des  Seins",  und  dem  Vorwurf,  eine  Art  von 


270  C.  Göring: 

Identität  des  Denkens  und  Seins  zu  lehren,  werden  die  mit* 
getheiiten  Sätze  Duhring's  sich  nicht  entziehen  können. 

Wenn  dies  mit  Recht  aus  dem  Einfluss  der  Mathematik 
erklärt  wird,  in  welcher  das  Denken  beliebig  über  das  Sein 
verfugt,  so  entfernt  sich  Duhring  gar  nicht  soweit  von  der 
Auffassung  eines  grossen  Mathematikers,  dem  er  „Crudität  der 
Welt-  und  Lebensansicht*^  vorwirft.  Auch  Gauss  bekannte 
sich  zur  Lehre  von  der  Identität  des  Denkens  und  Seins  in 
einem  ganz  ähnlichen  Sinne,  den  man  vielleicht  am  Einfachsten 
dadurch  wiedergiebt,  dass  man  da,  wo  Dühring  „logisch*'  setzt, 
vom  Gauss'schen  Standpunkt  „mathematisch"  brauchL 
Gauss  kennt  mathematische  Eigenschaften  und  eine  Mathematik 
des  Seins,  deren  subjectiver  Ausdruck  die  mathematischen 
Formeln  sind.  Es  handelt  sich  hierbei  nicht  etwa  nur  um  die 
angewandte  Mathematik  im  üblichen  Sinne,  sondern  einfach 
um  die  Ansicht,  dass  imi>^in  Mathematik  enthalten  ist,  welche 
der  rechnende  Mathematiker  nur  gleichsam  zu  entdecken  hat, 
um  das  „Wesen"  der  Dinge  zu  erkennen.  Oder  man  kann^ 
wie  bei  der  vorausgesetzten  Identität  vom  mathematischen 
Denken  und  Sein  natürlich,  auch  umgekehrt  verfahren,  und 
immer  weiter  rechnen;  das  zugehörige  Sein  wird  sich  dann 
schon  finden. 

Diese  Ansicht  war  früher  ziemUch  verbreitet  und  ist  auch 
in  die  Philosophie  eingedrungen;  ein  phantasiereicher  Hege- 
lianer, Rosenkranz,  legte  sie  theosophisch  zurecht  und 
gab  ihr  den  schwärmerischen  und  dabei  doch  trivialen  Aus- 
druck: „Gott  ist  ein  ebenso  grosser  Geometer  als 
Philosoph.^  Natürlich  griffen  sofort  alle,  welchen  die  von  der 
Erfahrung  der  Phantasie  gezogenen  Schranken  ein  Greuel  sind, 
mit  dem  grössten  Eifer  zu,  um  auf  vermeintlich  „exacte^*  Weise 
sich  aus  der  realen  Wirklichkeit  in  den  „reinen  Aether^  des 
Gedankens,  weniger  euphemistisch  in  die  trüben  Nebel 
mystischer  Begriffsdichtungen  zu  verlieren.  Wenn 
Denken  und  Sein  identisch  sind,  dann  braucht  man  sich  um 
die  Anschauung  nicht  nur  nicht  zu  kümmern,  sie  ist  vielmehr 
ein  Hinderniss  des  Erkennens,  wofür  sie  alle  dogmatischen 


Ueber  den  Missbrauch  der  Mathematik  in  der  Philosophie.  27 1 

Philosophen  Ton  Anfang  an  erklärt  haben.  Von  dieser  Grund- 
auflässung  aus  corrigirte  man  daher  die  Anschauung  mittelst 
des  mathematischen  Grössenbegriffs:  Fechner  hatte  einst  in 
Bezug  auf  die  drei  Dimensionen  •  des  Raumes  scherzhaft  ge- 
fragt: »Soll  denn  die  Welt  nicht  über  Drei  zählen  können?" 
Hiermit  wurde  es  bald  bitterer  Ernst;  weil  die  Mathematik 
den  Raum  als  Grössen  begriff  behandelt  und  sich  damit 
über  die  Schranken  der  mathematischen  Anschauung  erhebt, 
deshalb  hielt  man  sich  für  berechtigt,  dies  sofort  auf  das  Sein 
und  £i*kennen  überhaupt  zu  übertragen.  Hierdurch  kam  es 
zu  den  unglücklichen  Speculalionen  über  die  vierte  Dimen- 
sion des  Raumes,  welche  an  diesem  Orte  passender  mit  Still- 
sciiweigen  übergangen  werden.  — 

Es  ist  klar,  dass  die  formalistische  Auffassung  des  Er- 
kennens,  für  welche  Denken  =?  Erkennen  =»  Sein  gilt, 
die  gemeinsame  Quelle  ist,  aus  welchar  alle  Arten  des  Miss- 
brauchs der  Mathematik  in  der  Philosophie  stammen.  Diese 
formalistische  Auffassung  selbst  stammt  ihrerseits  aus  dem 
mathemalischen  Erkennen  her  und  wird  dadurch  beseitigt,  dass 
man  den  principiellen  Untei'schied  zwischen  der  ganz  eigen- 
artigen Mathematik  und  den  andern  Wissenschaften  aufzeigt 
Hierdurch  erledigt  sich  auch  die  erkenntnisstheoretische  Frage 
nach  dem  Ursprung  der  mathematischen  Apodikticität,  All- 
gemeinheit und  Nothwendigkeit,  ohne  Zuhülfenahme  irgend 
welches  Apriori;  zugleich  wird  klar^  dass  und  warum  die 
Mathematik  niemals  das  Vorbild  des  wissenschaftlichen  und 
philosophischen  Erkennens  werden  kann.  Zunächst  müssen 
die  überschwänglichen  Ansichten  von  der  Natur  der  mathe- 
matischen Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  auf'  ihre  reale 
Basis  zurückgeführt  werden.  Auch  dib  mathematischen  Wahr- 
heiten sind  thatsächlicher  Natur  und  nichts  weiter;  übrigens 
ist  ja  auch  eine  Thatsache  das  Höchste,  was  die  menschliche 
Erkenntniss  überhaupt  eiTeichen  kann.  Wohl  sind  die  mathe- 
matischen Wahrheiten  unabhängig  von  der  Aussen  weit;  die 
Sätze  vom  Kreis  z.  B.  haben  und  behalten  ihre  Geltung,  auch 
ohne  dass  es  einen  Kreis  in  der  Natur  giebt.    Keineswegs  aber 


272  C.  Goring: 

kommt  ihm  eine  absolute,  d.  h.  über  die  menschliche  Er- 
kenntniss  hinausgehende  Gültigkeit  zu.  Dfihring  benauptet  frei* 
lieh,  dass  2  X  2  =  4  sei  überall,  auf  aUen  Planeten  eine 
nothwendige  Wahrheit;  diese  Behauptung  hat  aber  nur  einen 
vernünftigen  Sinn  unter  der  sehr  willkürlichen  Annahme,  dass 
menschenähnliche  Wesen  auf  allen  Planeten  wohnen.  Nur  für 
diejenigen  Subjecte,  welche  den  in  der  Mathematik  festgestellten 
Begriff  eines  Kreises  oder  jeder  beliebigen  andern  Figur  haben« 
giebt  es  die  entsprechenden  mathematischen  Wahrheiten;  für 
andere  Subjecte  existiren  andere  oder  vielleicht  keine  mathe- 
matischen Wahrheiten,  daher  kommt  ihnen  eben  nur  That- 
sächlichkeit  zu.  Denn  mit  der  Aufhebung  aller  menschlich 
organisirten  Subjecte  wurden  die  mathematischen  Thatsachen 
gerade  so  aufgehoben  werden,  wie  alle  andern  Tliatsachen. 
Dies  ist  nun  allerdings  das  einzige,  was  die  mathematischen 
Wahrheiten  mit  andernP gemein  haben;  ihr  principieller  Unter- 
schied von  diesen  ist  der,  dass  sie  allgemein  und  nolhwendig 
im  Sinne  der  Unveränderlichkeit  sind,  so  lange  Menschen 
existiren.  Die  Mathematik  kennt  keine  Veränderung  ihrer 
Elemente,  nachdem  sie  dieselben  begrifflich  festgestellt  hat; 
daher  sind  ihre  Objecte  und  Resultate,  wie  von  der  Aussen- 
weit,  so  auch  von  Zeitbestimmungen  durchaus  unabhängig.  Der 
Kreis  der  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  ist  immer 
derselbe,  deshalb  unser  Wissen  von  jedem  zukünftig  gedachten 
oder  in  die  Erscheinung  ti*etenden  Kreise  ganz  ebenso  sicher^ 
wie  das  von  einem  gegenwärtigen.  Denn  die  mathematische 
Anschauung,  eines  concret  dargestellten  Kreises  z.  B.,  wird  vom 
Begriff  beherrscht,  d.  h.  derselbe  Inhalt  in  dem  ange- 
schauten Kreise  gedacht,  weicher  im  Begriff  des  Kreises  ein 
für  allemal  festgestellt  ist.  Es  ist  daher  eine  logische  Noth- 
wendigkeit^  dass  die  mathematischen  Sätze  allgemeine  und 
ausnahmslose  Gültigkeit  haben;  da  nun  aber  die  Nothwendig- 
keit  ihren  Inhalt  überhaupt  nur  in  der  AUgemeingüUigkeit 
(negativ  formulirt:  in  dem  Nichtandersseinkönnen)  hat,  so  sind 
die  mathematischen  Wahrheiten  auch  noth  wendig.  Die  Er- 
klärung   dieser   Apodikticität    liegt   in    der   Beschaffenheit    der 


Ueber  den  Missbrauch  der  Mathematik  in  der  Philosophie.  273 

mathematischen  Objecte,  nämlich  ihre  Unveranderlich- 
keit,  nicht  aber  in  irgend  welchen  apriorischen  subjectiven 
Formen. 

Weil  nun  hei  allen  andern  Objecten  das  Gegentheil  der 
Unveränderlichkeit  vorliegt,  deshalb  fehlt  natürlich  auch  ihrer 
Erkenntniss  die  ,,apriorische^  Gewissheit  oder  Apodikticität. 
Wir  haben  über  unsere  Sinneswahrnehmungen  keine  Macht; 
zwar  können  wir  unsere  Sinne  überhaupt  gegen  äussere  Ein- 
drücke yerschliessen,  sobald  wir  sie  aber  gebrauchen,  hört 
unsere  Willkür  auf,  und  wir  haben  jedenfalls  keine  absolute 
Gewissheit  über  die  Beschaffenheit  unsrer  zukünftigen  Sinnes- 
Wahrnehmungen;  und  müssen  demnach  auf  strenge  Allgemein- 
heit und  Nothwendigkeit  in  diesem  Gebiete  verzichten.  Zwar 
erreichen  wir  durch  Begriffe  und  Gesetze  auch  eine 
wenigstens  hypothetische  Apodikticität,  welche  uns 
eine  annähernd  sichere  Voraussicht  zukünftiger  Thatsachen  ge- 
stattet; es  fehlt  uns  aber  jede  Bürgschaft  dafür,  dass  sich  das 
Erwartete  in  jedem  Falle  verwirkhcht.  Wir  können  daher 
immer  nur  sagen:  Wenn  der  Lauf  der  Dinge  in  den  ent- 
scheidenden Punkten  derselbe  bleibt,  wird  Das  oder  Jenes  ein- 
treten „müssen^;  oder  auch:  Wenn  die  nämlichen  Ursachen 
in  Kraft  bleiben,  werden  die  gleichen  Wirkungen  erfolgen 
„müssen^.  Ob  aber  diese  Bedingung  jederzeit  erfüllt  wird, 
ist  erst  a  posteriori  festzustellen.  Demnach  ist  im  nichtmathe- 
matischen Erkennen  die  Anschauung  das  Bestimmende 
und  Massgebende,  und  Begriffe  und  Gesetze  haben  nur 
eine  von  der  Anschauung  entlehnte,  daher  hypothetische 
Gültigkeit;  sobald  sich  die  Anschauung  oder  die  Thatsachen 
ändern,  sind  sofort  auch  die  Begriffe  und  Gesetze  zu  modi- 
ficiren,  weil  deren  Inhalt  vernünftigerweise  überhaupt  nur  aus 
der  Erfahrung  entnommen  werden  kann. 

Wenn  das  Gesagte  richtig  ist,  so  folgt  daraus,  dass  die 
mathematische  Anschauung  von  der  gewöhnlichen  und  wissen- 
schaftlichen Anschauung  toto  genere  verschieden  ist,  und  daher 
jeder  Versuch,  auch  nur  eine  Art  von  Analogie  zwischen  mathe- 
matischer und  aligemein  wissenschafQicher,  wie  philosophischer 

VierteljahTssclirift  f.  Wissenschaft!.  Philosophie.    III.  3.  18 


274     C.  Göring:  lieber  d.  Missbrauch  der  Math,  in  d.  Philos. 

Erkenntniss  herauspressen  zu  woUen,  hieran  nothwendig  scheitert. 
Es  werden  demnach  auch  alle  mathematischen  Umwandlungen 
unserer  Raumanschauung  zu  einem  Grössenbegriff  von  behebig 
vielen  Dimensionen  für  die  psychologische  und  erkenntniss- 
theoretische  Behandlung  des  Raumproblems  nicht  im  Geringsten 
präjudicirUch  werden  dürfen.  Die  Mathematik  kann  auf  ihrem 
eigenen  Gebiete  beliebig  über  ihren  Raum  verfügen,  soweit 
sie  dies  für  ihre  Zwecke  nöthig  hat;  sie  darf  und  muss  sogar 
willkürUch  verfahren,  denn  sie  ist  keine  empirische  Wissen- 
schaft wie  die  andern  Disciplinen.  Mag  sie  immerhin  empiri- 
schen Ursprungs  sein,  so  ist  sie  doch  keineswegs  auch  in  der 
Empirie  beschlossen;  daher  kann  man  auch  vor  einem  Miss- 
brauch der  (empirischen)  Philosophie  in  der  Mathematik  warnen, 
der  dann  eintritt,  wenn  man  aus  philosophischen  Gründen  die 
Mathematik  auf  die  Operation  mit  anschaulichen  Elementen  be- 
schränken will  oder  verlangt,  dass  auch  die  mathematische 
Grössenlehre  sich  nicht  über  ihre  anschauUche  Grundlage  er- 
heben solle.  Die  Entscheidung  hierüber  steht  ausschhesslich 
der  Mathematik  zu.  Im  Uebrigen  wissen  sich  die  Mathematiker 
gewöhnlich  selbst  besser  gegen  die  Einmischung  der  Philosophen 
zu  schützen,  als  umgekehrt;  auch  dürfte  der  durch  einen  wirk- 
lichen Einfluss  der  Philosophie  in  der  Mathematik  angerichtete 
Schaden  kaum  ein  erheblicher  sein,  während  die  Uebertragung 
der  mathematischen  Resultate  in  die  Philosophie  Alles  in  Ver- 
wirrung bringt;  zum  Theil  freilich  auch  aus  dem  Grunde,  weil 
sich  die  Philosophie  meist  leicht,  vielleicht  ab  und  zu  ein- 
mal auch  gerne  vervnrren  lässt.  Wem  es  aber  in  erster 
Linie  um  Klarheit  der  Erkenntniss  zu  thun  ist,  der  wird  das 
Verschiedenartige  auseinanderzuhalten  bestrebt  sein,  nicht  es 
vermischen,  und  auch  in  der  Philosophie  nach  dem  Grundsatz 
verfahren:  Es  ist  besser  arm,  aber  ehrlich  zu  bleiben. 


lieber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfülliing. 


Zweiter  Artikel. 
(Schluss.) 

Bekanntlich  findet  Descartes^)  das  Wesen  der  Materie 
in  der  Ausdehnung.  Es  giebt  keinen  leeren  Raum  und  keine 
Atome;  denn  wie  der  Raum  kann  auch  das  Körperliche  in 
Gedanken  stets  weiter  getheilt  werden.  Wenn  daher  auch  ein- 
zelne Körpertheilchen  für  uns  untheilbar  wären,  so  müssten  sie 
doch  für  Gott  theilbar  sein,  weil  sich  sonst  ein  Widerspruch 
gegen  seine  Allmacht  ergäbe.  Der  Möghchkeit  nach  wenigstens 
existirt  also  eine  unendliche  Theilbarkeit. 

'  Mit  dieser  Gegenüberstellung  einer  absoluten  Theilbarkeit  der 
Materie  und  einer  relativen  Untheilbarkeit  gewisser  Körper  hat 
sich  Descartes  den  Weg  eröffnet,  die  Vortheile  der  Atomistik 
bei  den  Erklärungen  der  Physik  neben  der  steligen  Raum- 
erfüllung zu  benutzen.  Ohne  die  unendliche  Theilbarkeit  der 
Materie  aufzuheben  lässt  er  doch  kleinste  Theile  derselben  als 
Elemente  seiner  Construction  gelten.  Dieser  Zug  ist  für  D  e  s  - 
carte s  wie  Thomson  charakteristisch.  Die  tiefere  Bedeu- 
tung liegt  darin,  dass  der  Atombegriff  mit  der  Theilbarkeit  der 
Materie  gar  nichts  zu  thun  hat;  ich  komme  darauf  zurück. 
Descartes  nimmt  also  an^  dass  die  Materie  aller  Körper  ein- 
unddieselbe  sei,   theilbar   in  beliebige  Theile  und   schon  that- 


^)  £s  kommen  hier  insbesondere  in  Beti*acht:  Principia  philo- 
sophiae,  pars  II  und  IIT,  sowie  die  Meteora. 

18* 


276  .         K-  Lasswitz: 

sächlich  in  viele  getheilt,  welche  auf  verschiedene  Weise  be- 
wegt werden,  gewissermassen  kreisförmige  Bewegung  besitzen 
und  immer  dieselbe  Quantität  der  Bewegung  im  Universum  con- 
stant  erhalten.  Die  kreisartige  Bewegung  ergiebt  sich  natur- 
gemäss  aus  der  stetigen  Erfüllung  des  Raumes,  in  Folge  deren 
Bewegung  nur  möglich  wird,  wenn  der  letzte  Körper  in  einem 
Kreisprocesse  den  ersten  wieder  verdrängt.  Dies  gegenseitige 
Ersetzen  der  Theile  der  Materie  durch  einander  erfordert 
die  vollkommene  Plasticität  der  Materie  und  giebt  damit  im 
Sinne  des  Descartes  einerseits  einen  neuen  Beweis  für  die 
Theilbarkeit  ins  Unendhche,  ohne  welche  die  Anschmie- 
gung der  Materie  in  die  verlassenen  Räume  nicht 
möglich  wäre,  andrerseits  führt  es  auf  eine  rein  mechanische 
Naturerkläruug ,  bei  welcher  nur  der  Sloss  der  Theilchen  auf 
einander  die  Ursache  aller  Erscheinungen  ist  und  die  Annahme 
Gottes  als  Urhebers  aller  Bewegung  Nebensache  bleibt. 

Die  primitive  Materie,  von  welcher  die  Physik  des  Des- 
cartes ausgeht,  ist  diejenige,  welche  er  als  die  zweite  Art  der 
Materie  bezeichnet  und  aus  welcher  die  erste  und  dritte  ent- 
standen sind.  Sie  besteht  aus  Partikeln,  welche  anfanglich 
gleichwinklig  aneinandergefügt  den  Raum  stetig  ausfüllten  und 
erst  durch  allmähliches  Abschleifen  sphärisch  geworden  sind; 
sie  sind  sehr  klein  in  Bezug  auf  die  uns  umgebenden  Körper, 
aber  von  bestimmter  endlicher  Grösse  und  noch  theilbar  in 
kleinere.  Die  durch  das  Abschleifen  entstandenen  Splitter  bil- 
den nun  die  erste,  ausserordentlich  feine,  leicht  theilbare 
Materie,  welche  eine  derartige  Triebkraft  besitzt,  dass  sie  beim 
Anstoss  an  andere  Körper  in  die  minimalsten  Splitter  (ramenla) 
sich  zertheilt,  wodurch  eben  Jene  oben  hervorgehobene  An- 
schmiegung in  die  Hohlräume  hervorgerufen  wird.  Die  dritte 
Materie  entsteht  aus  der  zweiten  durch  Zusammenballung;  sie 
besitzt  gröbere  Theile,  welche  sich  zur  Bewegung  weniger 
eignen.  Aus  der  ersten  Materie  bestehen  die  Sonne  und  die 
Fixsterne,  aus  der  dritten  die  Erde,  Planeten  und  Kometen,  die 
zweite  vertritt  in  gewisser  Beziehung  die  Stelle  des  modernen 
Aethers,  sie  erfüllt  die  Himmelsräume.     Letztere  ist  es,  welche 


Ueber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfullung.  277 

in  Wirbelbewegung  begriffen  ist.  Hier  also  stossen  wir  auf  die 
berühmte  Wirbeltheorie.  Diese  dient  jedoch  lediglich  dazu, 
die  Bewegung  der  Himmelskörper  zu  erklären  und  unterscheidet 
sich  somit  schon  hierdurch  vöUig  von  der  modernen  Wirbel- 
theorie. Bei  Descartes  sind  Sonne  und  Fixsterne  Centra 
¥on  grossen  Wirbeln,  in  welchen  eine  Rotation  um  die  Axe 
des  Wirbels  stattfindet,  und  durch  dieselbe  werden  die  Planeten 
befördert  und  die  Gravitation  hervorgerufen.  Die  Pole  benach- 
barter Wirbel  liegen  möglichst  weit  von  einander  entfernt,  so 
dass  der  Pol  des  einen  Wirbels  in  der  Nähe  des  Aequators  der 
benachbarten  sich  befindet.  Da  aber  die  Wirbel  von  ungleicher 
Grösse  sind,  berühren  von  den  Polen  entfernte  Theile  eines 
Wirbels  solche  Theile  eines  andern  Wirbels,  welche  dessen 
Pole  näherliegen  und  somit  den  Theilen  des  ersten  Wirbels 
gegenüber  eine  geringere  Centrifugalkraft  besitzen.  Daher  fliesst 
fortwährend  Materie  (der  ersten  Art)  aus  den  äquatorialen 
Theilen  eines  Wirbels  durch  die  polaren  Gegenden  eines  zwei- 
ten Wirbeis  nach  dem  Centrum  desselben.  Es  findet  also  ein 
Austausch  von  Materie  der  ersten  Art  zwischen  den  Wirbeln 
fitatt,  während  die  gröberen  Kugeln  der  zweiten  Materie  nur 
bis  zu  einer  gewissen  Grenze  vordringen  können.  Diese  kugel- 
förmigen Theile  der  zweiten  Materie  bilden  „dreieckige^  Zwi- 
schenräume, in  welche  sich  nun  die  Theilchen  (minutiae)  des 
«rsten  Elementes  hineinwinden  müssen.  Dadurch  entstehen  die 
^striatae  particulae",  Theilchen  mit  drei  schneckenartigen  Canne- 
Urungen,  welche  entgegengesetzt  gewunden  sind,  wenn  die  Theil- 
chen von  entgegengesetzten  Richtungen  kamen.  Aus  diesen 
striatis  besteht  hauptsächlich  durch  Zusammenballung  die  dritte 
Materie,  welche  die  Planeten  bildet. 

Diese  Darstellung  der  physikalischen  Principien  der  Carte- 
sischen  Theorie  dürfte  ausreichend,  aber  auch  notwendig  zur 
Würdigung  derselben  sein.  Man  erkennt  sofort,  dass  nicht  die 
Annahme  von  Wirbeln  es  ist,  welche  sie  mit  der  Thomson^schen 
Theorie  in  Beziehung  setzt.  Die  Cartesischen  Wirbel  sind  ein- 
fache Rotationen,  nicht  Wirbelringe,  in  denen  die  Richtung  der 
Rotationsaxe  in  jedem  Punkte  eine  andere  ist.    Die  Rotationen 


278  K-  LasBwitz: 

der  kleinsten  Theilchen  der  Körper  benutzt  Descartes  nicht 
systematisch,  sondern  nur  hin  und  wieder,  wo  es  ihm  bequem 
ist.  So  erklär!  er  z.  B.  die  Ausdehnung  des  Wassers  beim 
Verdampfen  durch  ein  Rotiren  der  fadenförmigen  Wasser- 
theilchen,  welche  sich  durch  die  Centi*ifugalkraft  ausstrecken 
und  einen  grösseren  Raum  einnehmen;  oder  die  Ausdehnung 
der  Pulvergase  in  ähnlicher  Weise  durch  eine  Rotation  der 
Theilchen  des  Salpeters.  Aber  diese  Rotationen  sind  keine  un- 
zerstörlichen,  wie  die  der  Wirbelatome. 

Descartes  findet  den  leeren  Raum  und  die  Atome  nicht 
denkbar;  dennoch  kann  er  diese  Begriffe  als  Hilfsmittel  der 
Erklärung  nicht  entbehren.  Er  hilft  sich  also  dadurch,  dass 
er  an  Stelle  des  leeren  Raumes  eine  ausserordentlich  leicht 
durchdringbare  und  plastische  Materie  setzt.  Wiederholt  nimmt 
er  Gelegenheit  auszusprechen,  dass  der  leere  Raum  doch  keine 
andere  Bedeutung  habe,  als  die  ungehemmte  Bewegung  der 
Partikeln  zu  gestatten;  und  dies  soll  seine  feinste  Materie  eben- 
falls leisten^).  Bei  der  stetigen  RaumerfuUung  ist  es  aber  nur 
dadurch  möglich,  die  Beweglichkeit  der  Materie  zu  begreifen^ 
dass  man  die  einzelnen  Theile  derselben  sich  ausserordenthch 
leicht  nach  jeder  Richtung  hin  verschiebbar  denkt;  es  ist  dies 
nichts  anderes,  als  die  YorsteUung  von  der  Materie  als  einer 
absoluten  Flüssigkeit^  zu  welcher  sich  auch  die  mathe- 
matische Physik  gedrängt  sieht,  wenn  sie  mit  Volumelementen 
rechnen  will.  Der  Begriff  einer  absoluten  Flüssigkeit  oder  der 
vollkommenen  Plasticität  derMaterie  macht  also  das^ 
Wesen  der  plerotischen  Theorieen  aus,  und  es  handelt  sich 
darum  zu  untersuchen,  ob  dieser  Begriff  im  Stande  ist,  da» 
Fundament  einer  Naturerklärung  abzugeben. 

Die  mathemalische  Physik  setzt  sich  freilich  leichten  Her- 


^)  So  Princip.  III,  §  60.  Man  erzählt  sogar,  dass  Descarte» 
seine  Physik  anfänglich  auf  den  leeren  Raum  gegründet  und  sein 
System  erst  umgearbeitet  habe,  nachdem  Mersenne  ihn  belehrt,  dass 
das  Vacuum  in  Paris  nicht  mehr  Mode  sei.  S.  Whewell,  Geschichte 
der  indactiven  Wissenschaften.  Deutsch  v.  Littrow.  Stuttg.  1841* 
Th.  2,  p.  139. 


lieber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfüllung.         279 

zens  über  diese  Frage  hinweg.  Sie  behandelt  den  Begriff  einer 
absoluten  Flüssigkeit,  deren  Wesen  darin  besteht,  dass  jeder 
Bewegungsantrieb  (Druck)  sich  nach  allen  Richtungen  hin  fort- 
pflanzt, als  etwas  selbstverständliches,  nicht  weiter  zu  erörterndes. 
Dies  kann  sie  thun,  so  lange  sie  lediglich  den  technischen 
Zweck  verfolgt,  die  möghchen  Bewegungen  eines  solchen  Sub- 
strats möglichst  einfach  zu  beschreiben.  Eine  Wissenschaft  aber, 
welche  das  Erkenntnissbedürfniss  des  Menschen  befriedigen 
soll,  darf  bei  diesem  Begriff  der  Materie  nicht  stehen  bleiben; 
sie  muss  nothwendiger  Weise  soweit  vordringen,  bis  eine  ein- 
fache Anschaulichkeit  gewonnen  ist;  sie  muss  uns  nachweisen, 
wie  durch  das  Zusammenwirken  unserer  Sinne  und  unseres 
Denkens  fundamentale  Begriffe  unserer  physikalischen  Erfahrung 
erzeugt  werden,  bei  welchen  der  ganzen  Natur  unserer  Orga- 
nisation nach  eine  weitere  Frage  nach  Erklärung  nicht  mehr 
auftreten  kann;  sie  muss  den  Begriff  der  Materie  erkenntniss- 
theoretisch untersuchen  und  begründen,  wobei  sie  sich  natür- 
lich ledigUch  auf  phänomenalem  Gebiete  bewegt. 

Der  Verfasser  hat  dies  in  seiner  bereits  angeführten  Schrift 
„Atomistik  und  Kriticismus*'  durchzuführen  versucht  und  ist 
zu  dem  Begriff  der  kinetischen  Atome  als  der  sich  aus  dem 
Wesen  unserer  Erfahrung  nothwendig  ergebenden  Grundlage 
der  Physik  gelangt.  Es  ist  jetzt  seine  Aufgabe  zu  untersuchen, 
ob  die  Grundlage  der  plerotischen  Theorieen,  der  Begriff  einer 
absoluten  Flüssigkeit ,  wie  sie  von  Descartes  und  Thomson 
vorausgesetzt  wird,  sich  mit  den  Gesetzen,  nach  welchen  un- 
sere physikalische  Erfahrung  zu  Stande  kommt,  verträgt.  Ist 
die  Annahme  einer  absolut  plastischen  Materie  eine  unser  Er- 
kenntnissbedürfniss befriedigende?  Gewährt  dieselbe  das  not- 
wendige Fundament  aller  Erklärung  —  Anschaulichkeit?  Oder 
kann  sie  auf  unmittelbar  anschauliche  Vorstellungen  zurück- 
geführt werden? 

Diese  Fragen  müssen  beantwortet  werden.  Man  kann 
nicht  sagen,  dass  der  Begriff  der  Plasticität  ein  unmittelbar  an- 
schauUcher  sei.  Das  mit  Widerstand  verknüpfte  Nachgeben  der 
uns  umgebenden   Körper   vor   der  Bewegung   unseres   eigenen 


280  K.  Lasswitz: 

Körpers,  diese  Andrangsempfindung,  durch  welche,  wie  ich 
a.  a.  0.  nachgewiesen  habe,  der  Begriff  einer  bewegten  Masse 
erst  in  uns  entsteht,  könnte  zwar  zu  der  Behauptung  fuhren, 
dass  die  Plasticität  der  Materie  eine  unmittelbare  Erfahrung  und 
unmittelbar  anschaulich  sei.  Man  könnte  sagen,  dass  jeder 
Mensch  wüsste,  was  eine  Flüssigkeit  sei;  doch  gilt  dies  nur  in 
ganz  äusserlichem  Sinne.  Der  wissenschaftliche  Begriff  einer 
Flüssigkeit  ist  ein  durchaus  anderer,  und  schon  der  erste  Ver- 
such, die  verschiedenen  aus  der  Erfahrung  uns  bekannten 
Arten  der  Flüssigkeit  in  ihrem  Verhallen  von  einem  Gesichts- 
punkte aus  zu  verstehen,  zwingt  uns  in  den  Begriff  der  Plasti- 
cität näher  einzudringen.  Wollte  man  den  Begriff  der  Flüssig- 
keit als  weiterer  Erklärung  nicht  bedürftig  ansehen  (wogegen 
schon  die  Geschichte  der  Wissenschaften  spricht),  so  würde  man 
weiter  nichts  erhalten  als  die  Registrirung  einer  Unzahl  von 
Fällen,  in  welchen  Theile  von  Körpern  mit  mehr  oder  weniger 
Widerstand  sich  neben  einander  verschoben  haben,  aber  keine 
einheitliche  Erklärung.  Immer  wird  die  Anschauung  nur  an 
cjier  äusseren  Begrenzung  haften  und  der  Versuch,  sich  die 
Vorgänge  im  Innern  einer  Flüssigkeit  anschaulich  vorzustellen, 
wird  fehlschlagen.  Dies  soll  im  Nachstehenden  durch  eine  Be- 
trachtung des  Begriffs  der  Plasticität  vom  kritischen  Standpunkte 
aus  dargelegt  werden. 

Wir  können  „Plasticität"  nicht  anders  definiren  als  die 
Eigenschaft  der  Materie,  jeden  Bewegungsantrieb  nach  jeder 
Richtung  hin  zu  übertragen  und  ohne  Widerstand  jeder  Form- 
änderung nachzugeben,  so  dass  jeder  beliebig  geformte  Raum- 
theil  ausgefüllt  werden  kann^).  Sucht  man  sich  diese  Fähig- 
keit im  Einzelnen  vorzustellen,  so  verlangt  dies  ein  Wirken  von 
Raumtheil  zu  Raumtheil  und  eine  Theilbarkeit  in  beliebig  klein 
gedachte  Theile.  Nur  eine  solche  mathemalische  Theilbarkeit 
liegt  zunächst  im  Begriff  der  stetigen  Raumerfüllung;  und  dabei 


^)  £s  ist  also  das  Wort  „Plasticität'^  nicht  in  dem  sonst  auch 
üblichen  Sinne  von  „Zähigkeit*'  gebraucht,  sondern  gleichbedeutend 
mit  „Eigenschaft  der  absoluten  Flüssigkeit.** 


\ 


Ueber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfullung.  281 

findet  sich  nichts  widersprechendes.  Wie  aber  kommt  man 
nun  vom  Allgemeinen  zum  Besonderen,  von  der  Materie  zum 
Körper?  Wie  kann  die  physikalische  Trennung  in  hetero- 
gene Theile  stattfinden?  Wie  kann  man  sich  getrennte  Theile 
denken?  Das  ist  die  schwierige  Frage ^  an  welcher  alle  plero- 
tischen  Theorieen  scheitern. 

Hier  ist  es  nun  offenbar  die  verschiedenartige  Bewegung 
der  Theile,  welche  ihre  Verschiedenheit  von  einander  über- 
haupt constituiren  soll.  Es  werden  also  aus  dem  Continuum 
der  Materie  solche  Theile  ausgesondert,  welche  sich  durch  ihre 
Geschwindigkeit  von  den  benachbarten  unterscheiden.  Um  dies 
aber  zu  denken,  muss  man  immer  den  Begriff  abgeschlossener, 
ganzer,  erfüllter  Räume  bilden,  welche  sich  gegenseitig  ver- 
schieben. Wie  soll  man  auch  sonst  ein  Theilchen  der  Materie 
mit  sich  selbst  identificiren?  In  der  That  fühlt  das  Descartes. 
Seine  Materie  ist  nicht  nur  theilbar,  sondern  actuell  gelljeüt, 
d.  h.  sie  besteht  aus  selbständigen,  getrennten  Körpern,  welche 
ursprünglich  den  Raum  stetig  durch  ihre  Aneinanderlagerung 
erfüllten.  Diese  Theile  sind  also  nicht  flüssig  gedacht;  die 
Plasticitat  entsteht  erst  durch  die  leichte  Zerreibbar keit,  Trenn- 
barkeit der  Theile  (und  ihre  tliatsächhche  Bewegung),  welche 
sie  in  den  Stand  setzt,  jede  beliebige  Figur  aufzubauen.  Immer 
aber  sind  es  abgerissene  Partikel  von  bestimmter  Gestalt;  Splitter 
der  Materie.  Descartes  ringt  sichüich  nach  Anschaulichkeit  im 
Treiben  seiner  Materie  und  sieht  sich  dadurch  gezwungen  ^  die 
Theile  derselben  als  abgeschlossene  Corpuskeln  vorzustellen. 
Das  ist  aber  nichts  Anderes ,  als  der  Anfang  zur  Bildung  des 
Atombegriffs  ^). 


^)  Wenn  F.  A.  Lange  (Geschichte  des  Materialismus,  2.  A.  1.  Th. 
S.  200)  von  Descartes  sagt:  „Er  setzt  an  die  Steile  der  Atome  kleine 
runde  Körperchen,  die  in  der  That  ebenso  unverändert  bleiben,  als 
die  Atome^,  so  ist  das  trotzdem  nicht  genau.  Denn  kleine,  runde 
Körperchen  sind  bei  Descartes  nur  die  Theilchen  des  zweiten  Ele- 
ments, der  materia  coelestis,  und  auch  diese  sind  erst  durch  Ab- 
reiben sphärisch  geworden.  Die  Theilchen  der  irdischen  Körper  da- 
gegen, weiche  den  Atomen  der  Physik  entsprechen,  bleiben  keines- 


282  K*  LasBwitz: 

Mit  Nothwendigkeit  werden  wir  auf  denselben  gedrängt; 
es  bleibt  dabei  ganz  gieichgiltig,  ob  wir  den  übrigen  Raum  als 
leer  oder  erfüllt  ansehen,  denn  derselbe  ist  zunächst  nicht 
Gegenstand  unseres  Nachdenkens.  Wird  er  dies  zum  Zwecke 
physikalischer  Erklärungen,  so  werden  wir  allerdings  auch  weiter 
nach  demselben  Gesetze  der  Atombildung  ihn  denken  müssen. 
Man  berücksichtige  nur  dabei,  in  welcher  Weise  der  Atom- 
begriff kritisch  zu  fassen  ist  (Atomistik  und  Kriticismus,  S.  29  f.). 
Nicht  durch  die  Theilung  der  Materie  kommt  man  auf  den- 
selben, sondern  er  wird  synthetisch  erzeugt  als  der  aus  der 
Natur  unserer  Sinnlichkeit  sich  ergebende  Begriff  des  Körpers, 
wenn  man  dabei  von  allen  Eigenschaften  desselben  absieht, 
welche  nicht  wesentlich  zu  seiner  Constituirung  gehören.  Es 
giebt  für  uns  keinen  andern  ßegrifl  der  Materie,  als  den  eines 
abgeschlossenen  erfüllten  Raumes;  niemals  kann  man,  wie  die 
plerotischen  Theorieen  müssen,  von  der  Materie  zum 
Körper  oder  zum  Atom  kommen,  sondern  immer  nur  vom 
Atom  zur  Materie.  Das  Atom  ist  nicht  das  Untheilbare,  weil 
man  dies  bestimmte  Atom  nicht  getheilt  denken  könnte  oder 
weil  man  bei  irgend  einer  Grenze  aufhören  müsste,  sondern 
weil  man  bei  irgend  einem  Ganzen  anfangen  muss. 
In  derselben  Weise  wie  der  Begriff  des  abgeschlossenen,  er- 
füllten Raumes,  entsteht  aber  auch  der  des  leeren  Raumes. 
Der  leere  Raum  existirt  nur  als  Grenze  des  erfüllten,  er  ist 
nur  denkbar  durch   eine  Abstraction,    denn  der  Raumbegriff, 


wegs  unverändert,  sie  sind  biegsam,  dehnen  und  strecken  sich  etc.  Eine 
Verwandtschaft  Descartes's  zur  Atomistik  liegt  allerdings  in  der  An- 
nahme der  Corpuskeln,  aber  ein  principieller  Gegensatz  ist  doch 
darin  vorhanden,  dass  Descartes  ein  letztes,  unveränderliches  Theil- 
chen  (oder  Element,  Atom)  der  Materie  nicht  gelten  lässt.  Histo- 
risch aber  vermittelt  seine  Physik  den  Uebergang  von  der  corpus- 
kularen  zur  molekularen  Theorie  der  Materie;  er  ist  es,  der  die 
„kleinsten^  Theile  als  eventuell  noch  weiter  theiibar  betrachtet  und 
durch  diese  Eelativirung  des  Atombegriffs  auf  einen  neuen  Abschnitt 
in  der  Geschichte  der  Atomistik  hinweist ,  den  man  mit  Hobbes  be- 
ginnen kann. 


Ueber  Wirbelatome  und  stetige  BaumerfüUung.  283 

das  kann  nicht  oft  genug  hervorgehoben  werden,  bildet  sich 
nur  gleichzeitig  mit  und  aus  dem  des  Körpers.  Wer  dies  an- 
erkennt, muss  auch  die  Unhalibarkeit  der  plerotischen  Theo- 
rieen  anerkennen,  welche  den  Begriff  des  Körpers  aus  dem 
unbestimmten,  allgemeinen  der  RaumerfüUung  als  Ganzes  her- 
leiten müssen.  Wie  aber  kann  man  einen  Begriff  erklären 
wollen  aus  einem  anderen  Begriffe,  welcher  erst  mit  Hilfe  des 
ersten  entstanden  ist?  Es  ist  unumgänglich  noth wendig,  auf 
den  erkenntnisstheoretisch-fundamentalsten  Begriff  zurückzugehen, 
und  das  ist  in  Bezug  auf  die  Materie  das  Atom.  Unser  Denken 
verlangt  den  Atombegriff.  Dieselbe  Auffassung  des  Atombegriffs, 
über  welche  ich  auf  meine  schon  erwähnte  Schrift  verweisen 
muss,  habe  ich  zu  meiner  Freude  auch  neuerdings  bei  Schuppe 
in  seiner  „Erkenntnisstheoretisched  Logik"  (Bonn,  1878)  wie- 
dergefunden. Nur  aus  der  vertieften  Auffassung  des  Begriffs 
der  Materie  kann  die  Naturwissenschaft  eine  sichere  Grundlage 
zur  Erklärung  der  empirischen  Thatsachen  gewinnen. 

Wir  gehen  nun  zurück  zu  dem  Versuche,  dieTheorie  der 
stetigen  Raumerfüllung  und  die  Plasticität  der  Materie  auf  An- 
schaulichkeit zurückzuführen.  Die  Vergeblich keit  dieses  Ver- 
suches wird  treffend  illustrirt  durch  das  Schicksal,  welches  der 
Cartesischen  Theorie  in  der  Geschichte  der  Physik  bestimmt 
war.  Eine  ausführliche  oder  gar  vollständige  Darstellung  des- 
selben soll  an  dieser  Stelle  natürlich  nicht  gegeben,  sondern 
nur  auf  das  für  unsere  Untersuchung  bedeutungsvolle  Moment 
aufmerksam  gemacht  werden. 

Unter  den  Einvvürfen  gegen  das  System  des  Descartes 
spielte  immer  derjenige  die  Hauptrolle,  dass  aus  der  Wirbel- 
bewegung eine  Gravitation  nur  gegen  die  Axe,  nicht  aber  gegen 
das  Ceiitrum  des  Wirbels  sich  erklären  lasse. 

Die  Verbesserungsversuche  von  Huyghens^)  durch  An- 
nahme von  Wirbeln,  bei  denen  die  Materie  sich  auf  den  Schalen 
ihrer  Kugelflächen  in  jedem  Sinne  bewegt,  die  Vertheidigung 
durch  Säur  in  (1709),    die  Vervielfältigung   der  Wirbel  durch 


^)  De  causa  gravitatis.    Op.  rel.  Amst.  1728. 


284  K.  Lasswitz: 

Bullfinger  und  die  Untersuchungen  von  DanielBernoulli, 
welcher  „die  Hypothese  zwar  nicht  empfehlen,  aher  doch  einige 
Schlüsse  daraus  ziehen  will,  ohne  welche  dieselbe  ihm  nicht 
bestehen  zu  können  scheint",^)  sind  hier  weniger  von  Bedeu- 
tung, als  das  Bestreben  Johann  Bernoulli's,  die  Carte- 
sischen  Principien  Newton  gegenüber  aufrecht  zu  erhalten. 
Denn  Attraction  und  leerer  Raum  sind  für  Job.  BernouUi  immer 
„principes  imcomprehensibles  pour  un  Physicien.**  In  seiner 
Abhandlung^)  vom  Jahre  1730  „Nouvelles  pensees  sur  le 
Systeme  de  M.  Descartes"  nimmt  er  an,  dass  die  Materie  der 
Wirbel  vom  Centrum  nach  der  Peripherie  hin  abnehmende 
Dichtigkeit  besitze  und  erklärt  daraus  die  elliptischen  Bahnen 
und  die  Verschiebung  des  Perihels  der  Planeten.  Es  entstehen 
nämUch  dadurch  OsciUationen,  d.  h.  Annäherung  und  Entfer- 
nung der  Planeten  in  Bezug  auf  die  Sonne.  Wenn  nun  die 
Dauer  einer  Oscillation  nicht  gleich  der  Dauer  eines  Umlaufs 
ist,  so  muss  eine  Verschiebung  der  Lage  der  grossen  Axe  der 
EUipse  eintreten.  Aber  schon  1734  stellt  er  eine  neue  Theorie 
in  seiner  „Nouvelle  physique  Celeste"  auf,  in  welcher  er  zwei  Arten 
von  Wirbeln  annimmt,  um  die  Sonne  (und  die  Fixsterne)  einer- 
seits, um  die  Hauptplaneten  andrerseits;  zur  Erklärung  der 
Gravitation  hilft  er  sich  durch  Annahme  eines  Centralstroms. 
Nun  fühlt  BernouUi  das  Bedürfniss,  die  Cartesischen  Principien 
zu  vertiefen.  Er  macht  Descartes  den  Vorwurf^  dass  dessen 
„erste  Materie"  nicht  actueil  ins  Unendliche  getheilt, 
sondern  nur  theilbar  sei,  und  ganze  Corpuskeln 
enthalte.  Dies  ist  von  wesentlicher  Bedeutung  für  die  Ent- 
wickelung  der  plerotischen  Theorieen,  denn  es  trifiFt  genau  die 
schwache  Stelle  derselben^).     BernouUi  empfindet  es   als   eine 


^)  Hydrodynamica.    Argen torati  1738.  p.  252. 

*)  Job.  BernouUi,  Opera  omnia.  Tom.  IIL  Laus,  et  Genäve  1742. 

*)  Man  bemerkt:  Ein  Anhänger  des  Cartesius  zieht  die  letzte 
Consequenz  der  plerotischen  Theorie  und  fuhrt  sie  dadurch  ad  ab- 
surdum, während  die  eigentlichen  Gegner  derselben,  namentlich  die 
Physiker,  welche  die  sog.  Corpuskulartheorie  ausbildeten,  das  tief- 
liegende unhaltbare  Fundament  nicht  bemerkt  hatten.    So  einer  ihrer 


Ueber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfüllung.  285 

Inconsequenzy  dass  die  Theorie  des  Continuums  unter  der  Hand 
in  eine  solche  der  Atome  umschlagen  soll  Aber  Descartes 
kann  nicht  anders,  als  die  Materie  unausgesetzt  durch  ihre  Be- 
wegung in  abgeschlossene  Partikel  sich  sondernd  denken,  wie 
ich  oben  gezeigt  habe.  Kein  Mensch  kann  anders  verfahren, 
der  überhaupt  versucht,  eine  Anschauung  des  Vorganges  zu 
gewinnen;  denn  will  man  nicht  unterschiedslose  Flüssigkeit 
haben,  so  muss  man  eben  getrennte  Tbeile  unterscheiden,  das 
sind  Corpuskeln.  Aber  der  Gegner  der  Atomistik  kann  sich 
mit  diesem  Schlüsse  nicht  befreunden,  er  sucht  nach  einem 
anderen  Ausweg.  Der  einzige  Ausweg  jedoch,  den  es  noch 
giebt^  führt  ins  Unmögliche,  Denkwidrige!  Wie  nämlich  hilft 
BernouUi  sich?  Er  nimmt  zwei  Arten  Materie  an.  Die  eine 
besteht  aus  kleinen  Massen,  deren  Theile  zusammenhängen, 
ohne  gerade  unbesiegbar  hart  sein  zu  müssen  —  also  eine  Art 
relativer  Atome  oder  Corpuskeln.  Doch  dies  ist  unwesentlich. 
Diese  Theile  aber  befinden  sich  in  der  zweiten  Materie,  welche 
—  und  das  ist  Bernoulli*s  charakteristische  Annahme  —  ein 
continuiriiches  Fluidum  darstellt  und  wirklich  ins 
Unendliche  get heilt  ist  („reellement  divisee  ä  Pinfini"). 
Da  haben  wir  die  Consequenz  der  stetigen  Raumerfüllung,  die 
Forderung  einer  actuell  ausgeführten  Theilung  ins  Unendliche, 
den  Widerspruch  einer  vollendeten  Unendlichkeit. 

Wenn  bei  der  Darstellung  der  mathematischen  Grund- 
lagen die  übliche  ßezeichnungs weise  „unendlich  kleines  Volum- 
element etc."  beibehalten  wurde,  so  geschah  dies  nur  aus  Rück- 
sichten der  Bequemlichkeit;  das  Unendliche  ist  dann  eben  im 
Sinne  der  Mathematiker  zu  verstehen  und  in  seinem  Gebrauche 
berechtigt;  es  hat  nichts  zu  schaffen  mit  dieser  vollzogenen 
Unendlichkeit,    welche    gleichbedeutend    wäre    mit    der    Con- 


Hauptvertreter,  der  berühmte  Physiker  Dechales,  CursuB  b.  mun- 
dos  mathematicus.  Lugd.  1679.  Tom.  II.  MechaD.  Lib.  8.  p.  211  ff. 
Der  Grund  der  Flüssigkeit  liegt  nach  ihm  nicht  in  einer  Bewegung 
der  Theilchen,  sondern  nur  „in  facili  divisibilitate  aut  etiam  in 
actuali  divisione  in  partes  minutissimas."  Also  sehr  kleine,  aber 
nicht  unendlich  kleine  Theile! 


286  K.  LasBwitz: 

stituirung  eines  Raumes  aus  aufeinandergehäuften  Punkten. 
Diese  Annahme  von  Bernoulli  ist  in  sich  so  sinnwidrig,  dass 
darüber  kein  Wort  zu  vertieren  ist;  aber  man  k&nnte  ein- 
wenden, dass  wir  die  BernouUi'sche  Unendlichkeit  vielleicht 
retten  könnten,  wenn  wir  sie  ihres  transcendenten  Charakters 
entkleideten  und  unter  den  Gesichtspunkt  des  kritisch  durch- 
gedachten UnendhchkeitsbegrifTs  der  Gegenwart  brächten.  Doch 
auch  dies  ist  verlorene  Liebesmäh.  Denn  wollte  man  jene 
Theilbarkeit  ins  Unendliche  nur  als  die  Yorstellungsart  auf- 
fassen, vermöge  deren  wir  iins  die  Materie  mit  der  Fähigkeit 
begabt  denken,  jeden  beliebigen  Raumtheil  einzunehmen,  so 
hätte  man  damit  nichts  gewonnen  als  den  unbestimmten,  an- 
schauungslosen Begriff  der  Plasticität,  den  zu  erklären  wir  aus- 
gegangen sind.  Die  Theile  filiessen  wieder  ineinander,  an  keinem 
kann  unsere  Anschauung  haften  und  wir  sind  soweit  wie 
vorher. 

Wir  sehen  uns  also  wieder  auf  die  Cartesische  Anschauung 
gedrängt,  nach  welcher  wir  Partikel  von  bestimmter  Grösse 
nebeneinander  abgrenzen;  wir  müssen,  auch  von  der  stetigen 
Raumerfüllung  ausgehend,  doch  unter  Vernachlässigung  dieser 
Vorstellung  den  Begriff  abgeschlossener  Körper  bilden,  welche 
sich  neben  einander  verschieben.  Es  ist  dies,  wie  gesagt,  der 
Anfang  zur  Bildung  des  Atombegriffs.  Aber  wir  können  dabei 
nicht  stehen  bleiben,  wir  müssen  vom  Begriff  der  Corpuskel 
nothwendig  fortschreiten  zum  Begriff  des  starren  Atoms,  und 
damit  trennen  wir  uns  von  den  pleroüschen  Theorieen,  welche 
mit  der  erkenntnisstheoretischen  Forderung  eines  unverän- 
derlichen Atoms  in  Widerspruch  sind. 

Indem  ich  es  unternehme,  die  Unabweisbarkeit  dieser  For- 
derung  starrer  Atome  zu  erhärten,  habe  ich  damit  schon 
meinen  Standpunkt  zu  der  Thomson^schen  Theorie  der  Wirbel- 
atome bezeichnet.     Das  Nähere  wird  sich  sogleich  ergeben. 

Nach  den  vorausgegangenen  Erörterungen  ist  es  klar,  dass 
die  Thomson*sche  Theorie  zu  den  als  plerotisch  bezeichneten 
gehört.  Aber  sie  erhebt  gleichzeitig  den  Anspruch,  Atomistik 
zu   sein;   sie   nimmt  Wirbelatome  an^  welche  die  physikalische 


Ueber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfüllung.  287 

Forderuflg  unveränderlicher  und  unzerstörlicher  Eigenschaften 
besitzen.  Ihre  Vertreter  sind  hervorragende  Physiker,  welche 
die  praktische  Bedeutung  der  Atomistik  voll  zu  schätzen  wissen 
und  sie  auch  nicht  entbehren  wollen;  im  Gegentheil^  sie  hoffen 
den  Begriff  des  Atoms  dadurch  tasslich  zu  machen.  Erst  kürz- 
lich hat  die  Wirbelatomtheorie  derjenige  hochgeschätzte  deutsche 
Gelehrte  warm  empfohlen,  dem  wir  nicht  nur  bahnbrechende 
Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  atomistisch-ktnetischen  Theorie  der 
Gase^  sondern  auch  die  vollendetste  Darstellung  der  letzteren 
verdanken  1).  Und  doch  kann  die  Thomson'sche  Theorie  von 
einem  allgemeineren  Gesichtspunkt  aus  nicht  gebilligt  werden. 

Ein  Atom,  dessen  Theile  selbst  unter  einander  verschiebbar 
sind,  kann  nichts  erklären,  wenn  es  auch  gewisse  Eigenschaften 
constant  zu  bewahren  im  Stande  ist.  Denn  gerade  das  Flüssig- 
sein, die  Plasticität  der  Materie  ist  es  ja,  welche  erklärt,  d.  h.  auf 
ursprüngßchere  und  anschaulichere  Begriffe  zurückgeführt  wer- 
den soll.  In  dem  Wirbelatom  aber  finden  Bewegungen  statt; 
die  Theilchen  rotiren  in  bestimmten  Richtungen  u.  s.  w.  An- 
genommen, man  könnte  alle  Eigenschaften  der  uns  umgebenden 
Körper  widerspruchslos  und  einfach  aus  den  Bewegungen  der 
Wirbelatome  erklären,  so  würde  sofort  die  Frage  wieder  auf- 
tauchen, wie  die  Verschiebung  der  Theilchen  des  Wirbelatoms 
denkbar  sei.  Man  hätte  hier  alle  die  Bedenken  einer  stetigen 
Flüssigkeit  und  ihrer  Bewegung  wieder  zu  überwinden,  die 
man  aus  der  grossen  Welt  durch  Annahme  der  Wirbelatome 
herausgebracht  hat.  Die  ganze  Frage  ist  dann  nur  verschoben. 
Die  in  den  Atomen  bewegliche  und  bewegte  Materie  bleibt  in 
Bezug  auf  ihr  Verhalten  anschauungslos,  die  Theilchen  sind 
nicht  mehr  auseinanderzuhalten,  oder  man  muss  sie  wieder 
corpuskular  abgrenzen.  Alle  die  oben  dargestellten  Unzuläng- 
lichkeiten treten  ein.  So  lange  das  Denken  nicht  auf  den  Be-* 
griff  eines  in  aller  Erfahrung  Unveränderlichen,  nach  Grösse 
und  Gestalt  Beharrenden  gekommen  ist,  kann  es  sich  nimmer 
zur  Ruhe  geben.     Und   diese  findet   es  erst  im  starren  Atom, 


*)  0.  E.  Meyer,  Die  kinetische  Theorie  der  Gase.  Breslau  1877 


288  ^^  Lasswitz: 

dieser  unumgänglichen  Forderung  des  denkenden  Geistes,  der 
die  Mannichfaltigkeit  der  Erfahrung  einheitUch  zu  ordnen  strebt. 
Erst  wenn  dieser  Begriff  aufgefunden  ist,  fühlt  der'Erkenntniss- 
trieb  sich  befriedigt.  Hier  ist  keine  Frage  mehr  möglich;  hier 
findet  eine  Zurückverlegung  der  Eigenschaften  der  Materie  auf 
die  Atome  nicht  mehr  statt  (vergl.  „Atomistik  und  Kriticismus 
S.  37,  43—46).  Hier  ist  das  „Einfachste ""  der  Erfahrung  ge- 
wonnen, der  Ruhepunkt  erreicht,  von  welchem  aus  der  Bau 
der  Welt  für  unsere  Erkenntniss  synthetisch  aufgerichtet  wird. 
Im  wirbelnden  Continuum  der  Materie  giebt  es  nichts  Be- 
harrendes, an  welches  unser  Denken  anknüpfen  könnte;  den 
mit  sich  selbst  stets  identischen  Gegenstand  findet  es  erst  im 
(phänomenalen)  Atom.  Gerade  aus  der  Unveränderlichkeit,  nicht 
nur  der  nach  aussen  in  Wirkung  tretenden,  sondern  auch  der 
innerlichen,  des  Atoms  ergiebt  sich  die  Möglichkeit,  den  flüssigen 
Aggregatzustand  zu  erklären;  es  ist  unverständUch,  «wie  z.  B. 
Harms ^)  in  der  Unveränderiichkeit  des  Atoms  einen  Mangel 
für  seine  Verwendbarkeit  in  dieser  Hinsicht  finden  kann,  wäh- 
rend er  sonst  die  Begründung  der  Atomenlehre  auch  als  eine 
Anwendung  des  systematischen  Denkens  ansieht  (S.  322).  Wenn 
ich,  wie  S.  Günther  in  seiner  geschätzten  Besprechung  meiner 
Schrift  „Atomistik  etc."  (Kosmos,  2.  Tbl.  10.  Heft)  bedauert, 
diese  Arbeit  von  Harms  dort  nicht  erwähnt  habe,  so  geschah 
dieS;  weil  ich  keine  schickliche  Gelegenheit  für  die  Behandlung 
dieser  principiell  entgegenstehenden  Ansicht  finden  konnte,  ohne 
aus  dem  synthetischen  Charakter  meines  Buches  herauszugehen. 
Eine  nur  beiläufige  Erwähnung  schien  mir  nicht  angemessen. 
Die  Harms'sche  Kritik  der  Atomistik  steht  durchaus  auf  trans- 
cendentem  Standpunkte  und  musste  somit  durch  meine  Arbeit 
im  Ganzen  bekämpft  werden.  Harms  giebt  die  Annahme  von 
Atomen  zu,  tadelt  aber,  dass  dieselben  nicht  als  ein  Zusammen 
gedacht  werden,  noch  auch  gedacht  werden  können.  Von  letzterem 


^)  Karsten,  Harms  und  Weyer,  Einleitung  in  die  Physik. 
Leipzig  1869.  Philosophische  Einleitung  in  die  Encyklopädie  der 
Physik. 


Ueber  Wirbelatome  und  stetige  RaumerfUllang.  289 

Vorwurf  ist  meine  phänomenale  Atomistik  frei  (vergl.  S.  55  ff.), 
welche  überhaupt  im  Einzelnen  von  den  Harms'schen  Bedenken 
nicht  getroffen  wird.  Aber  der  principielle  Unterschied  liegt 
in  Folgendem.  Harms  findet  die  Schwierigkeit  und  Hinfälligkeit 
der  atomistischen  Lehre  darin,  dass  sie  nicht  im  Stande  ist  be* 
greiflich  zu  machen,  wie  zu  den  Atomen  Bewegung  und  eijfk 
Zuschauer  hinzukommen;  denn  für  ihn  sind  die  Atome  etwas 
Reales,  Transcendentes.  Für  mich  ist  diese  Schwierigkeit  ge- 
hoben, weil  der  Zuschauer  das  Erste,  Vorhandene  ist  und  die 
Atome  sammt  ihrer  Bewegung  nur  in  ihm  phänomenal  bestehen. 
Die  gesammte  anderweitige  Entwickelung  von  Harms  und  sein 
Zurückgehen  auf  das  Absolute  ist  demnach  für  die  kritische 
Atomistik  nicht  discutabel. 

Wenn  nun  Thomson  gerade  die  Annahme  eines  unver- 
änderlichen, absolut  harten  Atoms  durch  seine  Wirbelatome  zu 
beseitigen  hofit  und  namhafte  Physiker  ihm  beistimmen,  so 
kommt  dies  daher,  dass  er  und  die  Verlheidiger  seiner  Theorie 
immer  noch  die  Atome  als  real-transcendente  Dinge  ansehen, 
nicht  als  Erzeugnisse  unserer  Erkenntnissthätigkeit  bei  unserer 
Orientirung  in  der  Welt.  Das  transcendente  Atom  enthält  aller- 
dings unheilbare  Widersprüche;  ein  solches,  an  sich  real  un- 
veränderlich existirendes  Atom  ist  ebenso  wenig  denkbar,  wie 
die  gegenseitige  Mittheilung  ihrer  Bewegung.  Es  ist  daher 
natürlich,  dass  Physiker,  und  insbesondere  engUsche,  welchen 
die  kritische  Auffassung  der  Gegenslände  unserer  Erfahrung 
noch  fern  liegt,  zu  weiteren  Hypothesen  über  die  transcendente 
Materie  getrieben  werden.  Aber  um  so  mehr  ist  es  Pflicht,  im 
Interesse  einheitlicher  Wissenschaft  gerade  jetzt,  wo  die  Thom- 
son'sche  Theorie  erst  schüchtern  ihr  Haupt  erhebt,  darauf  auf- 
merksam zu  machen,  dass  jene  Versuche  niemals  zu  einem  be- 
friedigenden Resultate  führen  können;  dass  die  ganze  Schwie- 
rigkeit im  Atombegriff  erst  dann  fortfallt,  wenn  man  die  Atome 
sammt  ihrer  Bewegung  auffasst  als  das  nothwendige  und  un- 
vermeidliche Product  unserer  Erkenntnissthäligkeit,  wodurch  sie 
zwar  lediglich  Phänomene  für  uns,  aber  ebenso  sichere  und 
anschauliche  Gegenstände  der  Erfahrung  werden  wie  Raum  und 

Vierteljahrsscbrift  f.  wissenscliaft  Philosophie.    lU.  8.  19 


290  K.  Lasswitz: 

Zeit.     Möge  diese  mahnende  Stimme  in  den  Kreisen  der  Fach- 
genossen nicht  ganz  verhallen! 

Ich  habe  bereits  gezeigt,  dass  die  Hypothese  der  Wirbel- 
atome den  Vorgang  der  Bewegung  einer  Flüssigkeit  nicht  er- 
klärt, sondern  ihn  selbst  voraussetzt,  weil  ja  die  Theile  der 
Atome  selbst  fliessen.  Es  soll  nun  noch  gezeigt  werden ,  dass 
auch  unter  der  Voraussetzung  der  unmittelbaren  Begreiflichkeit 
einer  derartigen  Plasticitat  der  Atome  (oder  Bewegung  der 
Flüssigkeit)  eine  Theorie  der  Materie,  welche  uns  befriedigen 
könnte,  nicht  sich  geben  lässt. 

Der  Gedankengang,  welcher  auf  viele  Physiker  zu  Gunsten 
der  Thomson'schen  Theorie  so  bestechend  wirkt,  ist  nämlich 
folgender.  Der  Raum  ist  continuirlich  erfüllt  —  was  dem 
Mathematiker  ein  sehr  wohlthuender  Gedanke  ist  —  und  trotz- 
dem giebt  es  Atome,  und  zwar  nur  Atome.  Denn  die  Materie 
wird  erst  dann  wahrnehmbar,  wenn  sie  in  Bewegung  ist;  als 
ein  unbewegtes  Etwas  kann  sie  keine  Kräfte  ausüben  (d.  h.  Be- 
wegung hervorrufen),  also  auch  nicht  auf  unsere  Sinne  wirken, 
nicht  wahrgenommen  werden.  Sie  ist  also  gar  nicht  vorhanden. 
Die  vorhandene  Bewegung  (Energie)  ist  unvergänglich,  ausser 
der  bewegten  Materie  ist  nichts  wahrzunehmen,  also  haben  wir 
ja  Atome  im  leeren  Räume  aus  der  Natur  der  stetigen  Raum- 
erfüllung erklärt!  Das  Flüssigkeitstheiichen  ist  damit  aus  dem 
Continuum  durch  seine  Bewegung  atomistisch  geschieden  und 
die  nicht  wirbelnde,  kraftlose  Materie  geht  uns  nichts  an. 

Das  klingt  sehr  schön,  aber  es  ist  leider  nicht  haltbar. 
Denn  es  widerspricht  der  Helmholtz'schen  Entdeckung  selbst 
Wie  in  der  Darstellung  der  mathematischen  Grundlagen  erwähnt 
wurde,  ist  die  nicht  an.  den  Wirbeln  betheihgte  Materie  keines- 
wegs in  Ruhe,  sie  nimmt  vielmehr  nothwendiger  Weise  an  der 
Bewegung  Theil,  weiche  sie  vermittelt.  Schon  dass  man  sie  als 
„absolute*'  Flüssigkeit  auffasst,  macht  dies  dem  Begriffe  nach 
nölhig.  Denn  die  Fortpflanzung  des  Druckes  kann  anschaulich 
nur  gedacht  werden  als  Fortpflanzung  der  Bewegung  von  Theii 
zu  Theil,  wie  ich  dies  an  anderer  Stelle  ausgeführt  habe.  Doch 
davon   abgesehen:   Es    finden  Strömungen    in    der  Flüssigkeit 


lieber  Wirbelatome  und  stetige  Raumerfüllung.  291 

«tau,  sie  muss  also  ebenfalls  Energie  besitzen.  Diese  zwischen 
den  Wirbeln  befindliche  Materie  kann  also  nicht  der  Wahr- 
nehmbarkeit entbehren,  sie  kann  ebenfalls  Wirkungen  ausüben 
und  ist  somit  mehr  als  die  eigenschaftslose  Raumerfüllung. 
Sie  besitzt  vollberechtigte  Existenz,  denn  sie  besitzt  Energie, 
so  gut  wie  die  Wirbel;  der  Stoff  entsteht  nicht  erst  mit  der 
Wirbelbewegung.  In  dieser  nicht  wirbelnden  Materie  aber  haben 
wir  die  anschauungslose  und  unterschiedslose  Flüssigkeit  ^  die 
eben  erklärt  werden  soll,  wieder  in  voller  Unbestimmtheit  vor 
uns.  Hätte  es  sich  auch  nicht  gezeigt,  dass  wir  die  Unbegrei^- 
lichkeit  des  Flüssigen  immer  noch  in  deii  Wirbelatomen  be- 
halten, so  zeigte  es  sich  doch  hier,  dass  wir  jenen  unglücklichen 
Begriff  bei  Annahme  stetiger  Raumerfüllung  nicht  eliminiren 
können.  Jeder  tiefer  eingehenden  Kritik  halten  die  plerotischen 
Theorieen  nicht  Stand.  Angenommen  aber  —  was  nicht  der 
Fall  ist  —  die  mathematische  Theorie  hätte  ergeben,  dass 
die  nicht  wirbelnde  Materie  in  vollständiger  Ruhe,  also  eigen- 
schaftslos sei,  so  wäre  damit  immer  noch  nichts  gewonnen  als 
—  der  Aristotelische  Begriff  der  Materie.  Wir  hätten  das 
eigenschaftslose  Substrat  einer  möglichen  Bewegung;  die  that- 
sächhche  Bewegung  (die  Form)  kommt  von  Aussen  her  dazu; 
dadurch  entsteht  das,  was  wir  Materie  nennen.  Ob  diese 
Aristotelische  Auffassung  der  Materie,  welche  ihre  unvermeid- 
lichen, hier  nicht  näher  zu  erörternden  Consequenzen  nach  sich 
zieht;  Jemanden  befriedigen  kann^  möchte  ich  bezweifeln;  sie 
wäre  jedenfalls  eine  bedenkUche  Zuflucht  für  den  modernen 
Physiker.  Aber,  wie  gesagt,  soweit  kommt  es  gar  nicht,  die 
Theorie  stürzt  schon  vorher. 

Was  kann  uns  auch  die  Zurückführung  des  Wirbelatoms 
auf  die  unbewegte  Materie  für  die  Begreifbarkeit  nützen? 
Fragen  wir,  wie  es  daraus  entstand,  so  lautet  die  Antwort: 
Durch  einen  Schöpfungsact.  Also  ebenso,  wie  das  transcendente 
harte  Atom.  Ob  wir  uns  nun  den  Schöpfer  die  vorhandene 
Materie  in  Wirbelbewegung  versetzen  denken  oder  ihn  solide 
Atome  in  den  leeren  Raum  hinein  werfen  lassen  —  das  Eine 
ist   ebenso  unbegreiflich  wie  das  Andere,   beides  geht  über  die 

19* 


292  K.  Lasswitz: 

Grenzen  der  Erkenntniss  und  der  Wissenschaft  hinaus.  Nur 
dasB  die  Thomson'sclie  Theorie  zwei  Wunder  statt  eines  setzte 
sie  iässt  erst  die  Materie  schaffen  und  dann  sie  in  Wirbel 
kräuseln.  Erklärlich  wird  die  Sache  ja  überhaupt  erst  auf 
kritischem  Gebiete ;  hier  sind  die  Atome  ein  Erzeugniss  unserer 
Sinne  und  unseres  Verstandes;  die  starren  ein  notliwendiges 
jeder  Orientirung  in  der  physikalischen  Welt,  die  Wirbel  ein 
gluckUches  des  Helmholtz^schen  Calkuls,  die  Wirbelatome  ein 
weniger  gluckliches  der  Thomson'schen  Speculation. 

Kritisch  betrachtet  muss  nach  alledem  die  Theorie  der 
Wirbelatome  als  unzureichend  erklärt  werden,  eine  befriedigende 
Grundlage  der  allgemeinen  Naturerklurung  zu  geben.  Sie  kann 
die  Anschauungslosigkeit  des  absolut  Flussigen  und  den  Raum 
stetig  Erfüllenden  nicht  überwinden.  Es  fragt  sich  nur,  oh 
sie  für  die  Physik  praktische  Bedeutung,  vielleicht  als  Hilfs- 
mittel der  Erklärung  (vorbehaltlich  einer  Zurückführung  auf 
atomistische  Principien)  hat.  Darüber  muss  die  Zukunft  ent- 
scheiden. Bisher  sind  ihre  praktischen  Erfolge  unbedeutend. 
Zwar  das,  was  sie  dem  Philosophen  unannehmbar  macht,  das 
gerade  macht  sie  dem  Physiker  schätzbar,  die  BiegsamkeiU 
Plasticität,  Elasticität  der  Atome.  Hierin  beruht  ein  pliysika- 
lischer  Werth  derselben,  obgleich  die  „Elasticität**  der  Atome^ 
wie  anderweitig  gezeigt^),  für  die  kinetische  Atomistik  nicht 
erforderlich  ist;  aber  derselbe  wird  wieder  dadurch  geschmälert^ 
dass  sie  der  analytischen  Behandlung  immense  Schwierigkeiten 
entgegensetzen.  Trotzdem  glaube  ich,  dass  die  Benutzung 
rotatorischer  Bewegungen  ^)  in   der  Molekularphysik  noch  eine 


1)  0.  E.  Meyer,  a.  a.  0.  S.  38,  260,  239  u.  240.  —  G.  Lübeck, 
Schömilch's  Zeitschr.  f.  Math,  und  Phys.  22.  Jahrg.  S.  126.  — 
Lasswitz,  a.  a.  0.  S.  97  ff. 

')  Hierzu  vergl.  die  Arbeiten  von  Bankiiie,  Philos.  magaz. 
1855.  4th.  ser.  vol.  10.  p.  354,  411.  -  Hankel,  Berichte  üb.  d.  Verh. 
d.  K.  Sachs.  Gesellschaft  d.  Wiss.  za  Leipzig.  Math.-phys.  Classe. 
17.  Bd.  1865.  S.  7  u.  18.  Bd.  1866.  S.  219.  —  Arw.  Walter,  Unter- 
suchungen über  Molekularmechanik.  Berl.  1874. —  Schmitz-D  umont. 
Die  matb.  Elemente  der  Erkenntnisstheorie.    Berl.  1S78.    S.  394.  399. 


Ueber  Wirbelatome  und  stetige  Baumerfüllung.  293 

grosse  Rolle  spielen  wird.  Nur  soll  man  die  Wirbel  nicht  als 
Atome  aufTassen,  die  aus  einer  zusammenhängenden  Flüssig- 
keit bestehen,  sondern  als  Molekel,  zusammengesetzt 
aus  sehr  kleinen,  selbständigen  Atomen.  Was  die 
Rechnung  von  einer  continuirlichen  Flüssigkeit  aussagt,  das 
gilt  auch  von  einem  in  atomistisch-kinetischem  Sinne  zusam- 
mengesetzten Gase.  Und  das  ist  auch  der  Schluss,  welchen 
Thomson  und  Tait  aus  dem  Experimente  der  Wirbelringe 
«inzig  hätten  ziehen  dürfen.  Denn  was  dort  als  Rauch-  oder 
Staubring  wirbelte,  das  war  keine  ai)solute  Flüssigkeit 
{welche  niemals  hätte  dazu  gebracht  werden  können),  sondern 
es  waren  feste  Körperchen,  Aschentheilchen ,  Salmiak- 
stäubchen  und  Luflmolekeln.  Wohl  kann  man  annehmen,  dass 
in  ähnlicher  Weise  kleine,  sehr  constante  Wirbelringe  von 
Atomen  gebildet  werden,  welche  dann  vielleicht  die  Atome  der 
Chemie  vorstellen,  ja  der  Gedanke  liegt  nahe,  zu  fragen,  ob 
nicht  die  Atome  des  Weltäthers,  indem  sie  wie  jene 
Luftmolekeln  Wirbelringe  bilden,  die  Atome  der  Körper  dar- 
stellen ;  bei  der  Eigenschaft  des  Aethers,  durch  welche  wir  ihn 
«iner  „vollkommenen  Flüssigkeit**  vergleichen  können,  würde 
sich  die  Unveränderllchkeit  derselben  erklären.  Einer  solchen 
Theorie  würde  ich  mit  Freuden  zustimmen;  hier  hätten  wir 
die  von  der  Erkenntnisstheorie  geforderte  atomistische  Con- 
stitution der  Materie  und  wir  hätten  zugleich  alle  Wünsche  der 
Wirbelfreunde  erfüllt.  Der  experimentirende  Physiker  aber, 
indem  er  sich  auf  das  von  ihm  oft  verächtlich  behandelte  Ge- 
biet der  Speculation  begab,  vergass  die  Grundlagen  seines 
Experiments  und  sündigte  gegen  die  Grundlagen  der  Bildung 
unserer  Erfahrung.  Trotzdem  könnte  die  Idee  Thomson's  über 
die  Wirbel  von  anregendster  Bedeutung  sein,  wenn  man  sich 
«inigte,  dieselben  atomistisch  zu  fassen,  die  Atome  aber  anzu- 
sehen als  die  Elemente,  welche  Sinnlichkeit  und  Verstand  bei 
dem  Zustandekommen  unserer  Erfahrung  nothwendig  erschaffen. 

Gotha.  K.  Lasswitz. 


Zur  Entwickelung  der  Willensäusserungen  im 

.  Thierreich. 


Zweiter  Artikel. 

(Schluss.) 

Es  bleibt  nun  noch  zu  erörtern,  wie  sich  die  Stumme  der 
übrigen  Schutzbewegungen  aus  der  Contraction  des  gesammten 
Körpers  differepziren.  Diese  Stamme  sind  das  Bedecken  und 
das  Fluchten.  Das  Bedecken  bildet  den  Stamm  zum  Anfertigen 
von  Hüllen  und  Nestern,  sowie  zum  Aufführen  oberirdischer 
Baue  und  Hütten  (Termiten,  Biber,  Vögel,  Mensch).  Aus  dem 
Flüchten  differenzirt  sich  zunächst  das  Verslecksuchen,  welches 
einerseits  den  Stamm  zu  den  yerschiedenen  VersteckgewoKn- 
heiten  und  den  Yorsichtsmassregeln  hierzu,  andererseits  den 
Stamm  zum  Vergraben,  Gängemachen,  Höhlenmachen  und  Her- 
richten unterirdischer  Wohnungen  resp.  Baue  bildet;  und  weiter 
differenzirt  sich  aus  dem  Flächten  das  willkührUclie  Ver- 
iheidigen  und  aus  diesem  wieder  das  Abschrecken  und  Ver- 
stellen etc.  etc.  Es  ist  aber  nicht  der  Zweck  vorliegender 
Arbeit,  auf  all  diese  Differenzirungsprodukte  einzugehen,  sonst 
müssten  wir  sämmtliche  Schutzgewohnheiten  behandeln.  Hier 
will  ich  nur  zeigen,  wie  die  beiden  Stämme,  das  Bedecken  und 
Flächten  aus  dem  allgemeinen  ursprünglichen  Contractionstrieb 
entstehen. 

Es  ist  oben  bereits  besprochen  worden,  dass  bei  den 
Echiniden  der  Effect  des  Contractionstriebes  ein  festeres  An- 
ziehen an  die  Unterlage  ist.  Die  Echiniden  heften  aber  ihre 
Ambulacralfüsschen  nicht  nur  an  ihre  Unterlage,   sondern  viel- 


Zur  Entwickelang  der  Willensäusserungen  im  Thierreich.   295 

fach  an  seitliche  Gegenstände.  Sind  nun  diese  sehr  schwer,  so 
wird  bei  einer  Conti^action  der  Ambulacralfüsschen  das  Thier 
nach  diesen  Gegenständen  hingezogen;  sind  diese  dagegen  sehr 
leicht,  so  werden  sie  nach  dem  Thiere  hin  resp.  auf  das  Thier 
gezogen,  und  der  Echinid  also  damit  bedeckt.  Man  sieht 
hieraus^  wie  verschieden  der  äussere  Effect  eines  und  desselben 
Triebes,  einer  und  derselben  Contraction  sein  kann.  Bei  der 
Gewohnheit  der  Echiniden  mit  ihren  Saugfüsschen  sich  immer- 
während an  die  Steine  zu  heften  und  sich  an  denselben  fort- 
zuziehen, müssen  diese  Ecliiiiodermen  nothwendig  vielfach  bald 
diesen  bald  jenen  Effect  erfahren,  müssen  wahrnehmen,  dass 
sich  ein  Object  leicht  heranziehen  lässt  und  das  andere  nicht, 
dass  sie,  um  mit  gewissen  Dingen  in  nähere  Berührung  zu 
kommen,  diese  einfach  an  sich  heranziehen  können;  bei  andern 
unverrückbaren  Steinmassen  zu  gleichem  Zweck  aber  anderswo 
haftende  Füsschen  loslösen  und  ihren  eigenen  Körper  fort- 
ziehen müssen,  doch  das  eine  wie  das  andere  dnrch  dieselbe 
Contraction.  Bei  diesen  tagtägUchen  Erfahrungen  konnte  sich 
nun.  auch  bei  diesen  Thieren  leicht  eine  psychische  Difieren- 
zirung  des  Contractionstriebes  ausbilden.  Die  Echiniden  mussten 
bei  diesen  häufigen  Erfahrungen  nach  und  nach  ihr  Fortziehen 
und  Festziehen  von  dem  Anziehen  anderer  Gegenstände  und 
dem  Bedecken  damit  unterscheiden ;  wobei  ich  beiläufig  be- 
merken will,  dass  eine  Willensdifferenzirung  immer  auf  einer 
Unterscheidung  beruht.  In  der  That  hat  sich  nun  auch,  wie 
die  Beobachtung  lehrt,  bei  den  Echiniden  zuerst  (insofern  sie 
die  niedersten  Thiere  sind,  bei  denen  ein  Bedecken  vorkommt) 
der  Trieb  zum  Bedecken  vom  allgemeinen  Contraclionstrieb 
differenzirt.  Die  Echiniden  zeigen  nicht  nur,  dass  sie  die  Ge- 
wohnheit haben ^  sich  zu  bedecken,  sondern  auch^  dass  der 
Trieb  hierzu  in  gewissem  Grade  unabhängig  geworden  ist  vom 
allgemeinen  Contractionstrieb.  Das  feste  Anziehen  an  die  Unter- 
lage erfolgt  bei  diesen  Echinodermen  nur,  wenn  sie  angegriffen 
werden,  oder  wenn  sie  eine  Lokomotion  ausführen  wollen;  das 
Bedecken  dagegen  findet  auch  statt,  wenn  weder  ein  Angriff 
auf  das  Thier  gemacht  wird,   noch    das   Thier  Lokomotionen 


296  C>.  H.  Schneider: 

ausfuhrt.  Im  neapolitaner  Aquarium  haben  wir  dieses  Be- 
decken vielfach  beobachten  können;  und  ich  habe  gar  oft  wie 
Oskar  Schmidt  einen  Seeigel  in  ein  Waschbecken  gethan 
und  Muschelschalen,  kleine  Steine  und  Algenfetzen  mit  in  das 
Becken  gelegt;  und  in  der  Regel  bedeckte  sich  das  Thier  voll- 
standig  mit  diesen  Dingen,  indem  es  die  Saugfüsschen  amheflete 
und  dann  contrahirte. 

Auch  die  Lima  zieht  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Echiniden 
kleinere  Steine  und  Muschelschalen  an  sich  heran ;  verwebt  die- 
selben bekanntlich  aber  noch  zu  einer  vollständigen  Hülle.  Dass 
in  der  That  das  HuUenmachen  aus  dem  Trieb  zum  Bedecken 
hervorgeht,  lehrt  die  Thatsache,  dass  innerhalb  der  Insekten- 
gruppe oft  in  einer  einzigen  Familie  (Blattkäferlarven,  Motten- 
räupchen)  alle  Uebergangsstufen  vom  theilweisen  und  voll- 
ständigen Bedecken  zum  Anfertigen  von  Höllen  zu  beobachten 
sind;  doch  hiervon  ein  andermal. 

Etwas  complicirter  als  diese  Differenzirung  des  Bedeck- 
triebes ist  der  Vorgang  beim  Differenziren  des  Fluchttriebes. 
Auch  das  Fluchten  findet  sich  bei  den  jetzt  existirenden  Thieren 
zuerst  bei  den  Echinodermen  differenzirt.  Ehe  ich  nun  den 
Vorgang  der  Triebsdifferenzirung  bespreche,  will  ich  vorher 
zeigen,  wie  gerade  bei  den  Thieren,  bei  welchen  sich  das 
Flüchten  zuerst  deutlich  ausgeprägt  vorfindet,  ein  solches  aus 
dem  Contractionstrieb  entstehen  kann,  ohne  dass  schon  ein 
Fluchttrieb  differenzirt  ist. 

Anfänge  zum  Flüchten  mögen  schon  bei  den  Wimper- 
infusorien  und  den  pelagischen  Coelenteraten  vorhanden  sein, 
welche  bereits  ziemlich  rascher  Ortsbewegungen  iahig  sind. 
Allein  deutlich  ausgebildet  ist  das  Fluchten  hier  noch  nicht; 
und  die  Lokomotion  dient  fast  ausschliessUch  dem  Nahrungs- 
erwerb und  der  Liebeswerbung,  d.  h.  dem  Aufsuchen  eines 
Individuums  zur  Verschmelzung  (Wimperinfusorien);  wie  denn 
überhaupt  das  expansive  Prinzip,  insbesondere  die  Bewegungen 
zur  Nahrungssuche  sich  früher  entwickeln  als  die  Schutz- 
bewegungen. So  viel  ich  auch  die  Bewegungen  der  Wimper- 
infusorien beobachtet  habe,  ist  es  mir  doch  nie  vorgekommen, 


Zur  £ntwickeluDg  der  Wiliensäusserongen  im  Thierreich.  297 

ein  Flächten  zu  bemerken.  Engelmann ^)  beobachtete^  wie 
eine  Knospe  eine  grosse  VorticeUe  offenbar  zum  Zwecke  der 
Verschmelzung  verfolgte.  ^Eine  freischwimmende  Knospe  kreuzte 
die  Bahn  einer  mit  grosser  Geschwindigkeit  durch  den  Tropfen 
jagenden  grossen  VorticeUe,  die  auf  die  gewöhnliche  Weise 
ihren  Stiel  verlassen  hatte.  Im  Augenblicke  der  Begegnung  — 
Benthrung  fand  inzwischen  durchaus  nicht  statt  —  änderte  die 
Knospe  plötzlich  ihre  Richtung  und  folgte  der  VorticeUe  mit 
sehr  grosser  Geschwindigkeit  Es  entwickelte  sich  eine  förm- 
liche Jagd,  die  etwa  fänf  Sekunden  dauerte.  Die  Knospe  blieb 
während  dieser  Zeit  nur  etwa  Vis  ™™  hinter  der  VorticeUe, 
holte  sie  jedoch  nicht  ein,  sondern  verlor  sie,  als  dieselbe  eine 
plötzliche  Seitenschwenkung  machte.  Hierauf  setzte  die  Knospe 
mit  der  anfanglichen  geringeren  Geschwindigkeit  ihren  eigenen 
Weg  forL"  Nun  ist  aber  ti'otz  dieser  Verfolgung  noch  nicht 
gesagt,  dass  die  VorticeUe,  die  schon  vor  der  Begegnung  eine 
grosse  Geschwindigkeit  gehabt  hat  und  diese  Geschwindigkeit 
nicht  verändert  zu  haben  scheint,  vor  der  Knospe  geflohen 
wäre.     Letzteres  ist  vielmehr  höchst  unwahrscheinlich. 

Auch  bei  den  Coelenteraten  ist  ein  Fliehen  noch  nicht 
deutUch  zu  erkennen.  Ich  habe  nie  beobachtet,  dass  eine 
Qualle  auf  eine  unangenehme  Berührung  hin  ihre  Schwimm- 
geschwindigkeit zur  Flucht  vergrössert  hätte.  Wenn  ich  da- 
gegen den  Golf  von  Neapel  befuhr,  so  ist  es  mir  öfter  vor- 
gekommen, dass  ich  eine  Berog  (RippenquaUe)  dicht  an  der 
Oberfläche  bemerkte,  die  aber  bei  Annäherung  der  Barke  sehr 
bald  in  die  Tiefe  verschwand  und  meine  Hoffnung,  sie  schöpfen 
zu  können^  zu  nichte  machte.  Da  nun  schon  die  Actinien  eine 
Lichtunterscheidung  deutlich  zu  erkennen  geben  dadurch,  dass 
sie  in  einem  Zimmeraquarium  immer  die  dunkelsten  Winkel 
desselben  aufsuchen;  und  da  die  SchirmquaUen  sogar  schon 
deutUche  Augenanlagen  besitzen,  so  ist  auch  wohl  anzunehmen, 
dass  die  Rippenquallen  den  starken  Schatten,  welchen  eine  Barke 
verursacht,    von    der   starken    Lichteinwirkung  aus   der  Um- 

*)  Engelmann,  Th.  W.:    „Ueber  Entwickelung  und   Fort- 
pflanzung von  Infusorien".    Morph.  Jahrb.  von  Gegenbaur  1876. 


298  ^*  H-  Schueider: 

gebung  unterscheiden,  mögen  sie  nun  Lichtempfindungen  haben 
oder  eine  Wärmedifferenz  spüren;  und  es  ist  auch  nicht  un* 
wahrscheinlich,  dass  sie  diesen  Schatten  fliehen^  soweit  ^ie  es 
vermögen.  So  mag  also  bei  diesen  Thieren  ein  Anfang  zum 
Flüchten  vorhanden  sein.  Allein  ganz  deutlich  ist  dasselbe  erst 
bei  den  Echinodermen ,  besonders  bei  den  Ophiuren  aus* 
gebildet.  Schon  an  den  Echiniden  und  Ästenden  kann  man 
leicht  bemerken,  dass,  wenn  man  sie  auf  irgend  einer  Seite 
beunruhigt,  sie  sich  nach  der  entgegengesetzten  Seite  bewegen^ 
wenn  sie  dazu  auch  ihre  anfangliche  Lokomotionsrichtung  än- 
dern müssen.  Ich  habe  dieses  Experiment  gar  oft  mit  Erfolg 
gemacht.  Attakirt  mau  aber  einen  recht  gesunden  Ophiuren, 
so  greift  er  mit  seinen  Armen  weit  aus  und  weiss  sich  den 
Verfolgungen  sehr  geschickt  und  rasch  zu  entziehen,  wol)ei  er 
so  oft  seine  Fluchtrichtung  ändert,  so  oft  man  ihn  von  einer 
andern  Seile  angreift.  Am  besten  ist  es  zur  Beurlheilung  solcher 
Bewegungen,  wenn  man  die  Thiere  nicht  nur  in  einem  Aqua- 
rium, sondern  in  ihrer  Freiheit  im  Meere  beobachten  kann, 
wozu  ich  oft  Gelegenheit  hatte.  An  Kreta's  Nordküste,  zwischen 
der  Stadt  Kanea  und  dem  Dorfe  Khalepa,  ist  an  einer  Stelle 
der  aus  rissigem,  löcherigem  Kalkfelsen  bestehende  Meeresgrund 
sehr  flach,  so  dass  man  dort  die  in  den  Höhlungen  versleckten 
Thiere  mit  den  Händen  nehmen  kann.  Die  Kretenser  halten 
an  diesem  Orte,  der  reich  an  Thieren  ist,  und  an  dem  ich 
fast  alle  Thiere,  die  ich  damals  für  das  Jenenser  Museum 
sammelte,  gefunden  und  gefangen  habe,  ihre  Fastenmahlzeiten 
an  lebenden  Meeresfrüchten.  Und  hier  habe  ich  gar  oft  die 
mannigfachsten  Fluchtversuche  der  verschiedensten  Thiere  und 
auch  der  Ophiuren  beobachten  können.  Letztere  suchen  nicht 
nur  einfach  zu  fliehen,  sondern  auch  ein  Versteck  aufzufinden, 
in  welches  sie  sich  so  weit  wie  mögUch  zurückziehen.  Als  ich 
einen  ganz  unbeschädigten  grossen  Ophiuren  in  ein  grosses 
Glas  that,  musste  ich  mich  sehr  beeilen,  dasselbe  zu  bedecken, 
um  den  Schlangenstern  an  der  Flucht  zu  hindern.  Er  richtete 
sich  auf  zweien  seiner  Arme  so  hoch  in  die  Höhe,  dass  diese 
ganz  gestreckt  waren  und  nur  deren  Spitzen   noch   den  Boden 


Zur  Entwickelung  der  WillensfiusBerangen  im  Thierreich.  299 

berührten;  und  zu  gleicher  Zeit  streckte  er  die  übrigen  Arme 
nach  der  Oeffnung  des  Glases.  Ich  ging  dann  ans  Ufer  und 
Hess  ihn  absichtlich  aus  dem  Glase  entkommen.  In  weniger  als 
zehn  Sekunden  hatte  er  sich  aus  demselben  herausgearbeitet^ 
eilte,  auf  dem  Boden  angekommen,  sofort  dem  Meere  zu  und 
versteckte  sich  dort  in  einer  Höhlung.  Er  unterschied  also  nicht 
nur  die  verschiedenen  Richtungen,  welche  ihm  Gefahr  brachten 
und  nach  welchen  er  sich  retten  konnte,  sondern  unterschied 
auch  den  unfreiwilligen,  ihn  nicht  bergenden  Aufenthaltsort  von 
einem  freiwilligen,  die  Oeffnung  des  Glases  von  diesem  selbst» 
das  Meer  (in  seiner  Weise)  vom  Land  und  das  sichere  Ver- 
steck von  einem  offenen  Platz.  Hier  haben  wir  zum  ersten- 
mal in  der  Thierreihe,  wenn  wir  die  Echinodermen  unter  die 
Wärmer  stellen,  ein  deutlich  ausgebildetes  Flüchten.     » 

Wie  kommt  nun  die  Differenzirung  desselben  aus  dem 
allgemeinen  Contractionstriebe  zu  Stande? 

Wie  oben  ausgeführt  worden  ist,  hat  schon  bei  den  nieder- 
sten Thieren  das  Zusammenziehen  des  ganzen  Körpers  den 
äusseren  Effect  des  Zurückziehens.  Wenn  sich  etwa  ein  mit 
seinem  hinteren  Körperende  angehefteter,  lang  ausgestreckter 
Slentor  zusammenzieht^  so  entfernt  sich  der  umfangreichere 
vordere  Körpertheil  beträchtlich  vom  Ort  der  Gefahr.  Bei  den 
Ophiuren  hat  der  Contraclionstrieb  immer  den  Effect  des 
Zurück-  resp.  Anziehens  der  Arme.  Dieses  Anziehen  ist  aber 
das  eine  Endglied  resp.  Anfangsglied  der  Lokomotionskette.  Die 
Ortsbewegung  erfolgt  nämlich  in  der  Weise,  dass  die  angezo- 
genen Arme  sich  einstemmen  und  durch  ein  Strecken  den 
Körper  fortschieben;  während  zugleich  die  Arme  der  entgegen- 
gesetzten Seite  durch  Ausstrecken^  Anlfiammern  und  Zusammen- 
resp.  Anziehen  den  Körper  nach  vorne  ziehen  helfen.  Da  nun 
die  Ollsbewegungen  bei  den  Thieren  wie  beim  Menschen  immer 
gewohnheilsmässig  erfolgen,  so  dass  also  ein  erster  Impuls  stets 
genügt,  um  eine  ganze  Kette  von  Bewegungen  auszulösen,  so 
ist  klar,  dass  nach  einem  Anziehen  der  Schlangensternarme  der 
nächste  Act,  das  Ausstrecken  und  damit  das  Fortschieben  er- 
folgen kann,  ohne  dass  ein  besonderer  Trieb  zum  ersten  hin- 


300  Gr.  H.  Schneider: 

zukommt  —  Die  Lokomotion  selbst  ist  auf  keinen  Fall  aus 
dem  Fluchttrieb^  sondern  aus  dem  Nahrungstrieb,  und  zwar  aus 
dem  Ausstrecken  entstanden,  indem  das  Thier,  nachdem  es  sich 
nicht  weiter  ausstrecken  konnte,  wahrscheinlich  den  Trieb  be- 
kommen hat,  den  hinteren  Körpertheil  nachzuziehen.  In  dieser 
Weise  erfolgt  ja  die  Lokomotion  zur  Nahrungssuche  schon  bei 
den  Rhizopoden,  ja  bei  den  Amoeben  und  Moneren,  bei  denen 
ein  Flüchten  noch  nicht  zu  beobachten  ist.  Die  nun  einmal 
entstandene  Lokomotionsföhigkeit  bildet  aber  auf  jeden  Fall 
eine  Prädisposition  zum  Flüchten.  Der  Verlauf  der  Lokomotion 
ist  ein  abwechselndes  Ausstrecken  und  Zusammenziehen  bei 
den  Ophiuren  sowohl,  wie  auch  bei  den  Würmern.  Das  Aus- 
strecken auf  Grund  des  Nahrungstriebes  ist  das  eine  Anfangs- 
glied der  Kette,  das  Zusammenziehen  auf  Grund  des  Schutz- 
triebes ist  das  andere.  Man  kann  diese  Verhältnisse  bei  Würmern 
fast  noch  besser  beobachten  als  bei  den  Ophiuren.  Die  ganze 
Lokomotion  der  meisten  Würmer  besteht  in  einem  Ausstrecken 
des  einen  und  Nachziehen  des  andern  resp.  Nachziehen  des 
einen  und  Ausstrecken  des  anderen  Theiles.  Auf  das  Aus- 
strecken erfolgt  ein  Nachziehen  und  auf  dieses  gewohnheits- 
gemäss  wieder  ein  Ausstrecken.  Zieht  sich  nun  ein  Wurm  auf 
der  attakirten  Seite  zusammen,  so  ist  damit  der  Anfang  zur 
gewohnten  Lokomotion  gegeben,  es  erfolgt  gewohnheitsgemäss 
ein  Ausstrecken.  Der  physiologische  Verlauf  der  Lokomotion 
ist  bei  der  Nahrungssuche  derselbe  als  bei  der  Flucht;  aber 
der  Anfang  derselben  ist  je  nach  dem  psychologischen  An- 
stoss  hierzu  in  jedem  Fall  ein  anderer,  wie  ich  das  so  oft  an 
Echinodermen  und  Würmern  beobachtet  habe,  und  was  ohne 
Schwierigkeit  zu  beobachten  ist  Bei  der  Nahrungssuche 
beginnt  die  Lokomotion  immer  mit  dem  Aus- 
strecken der  einen  Seite,  falls  diese  nicht  in  der 
Ruhelage  schon  ausgestreckt  war;  beim  Flüchten 
dagegen  beginnt  die  Lokomotion  stets  mit  einem 
Zusammenziehen  des  einen  Theile«.  Im  ersten  Falle 
giebt  der  Nahrungstrieb,  im  zweiten  Falle  der  Schutz-  resp. 
Contractionstrieb  den  Impuls  zur  Auslösung  der  Bewegungskette. 


Zur  Eutwickelung  der  Willensäusaerungen  im  Thierreich.  301 

Hiernach  kann  also  auf  Grund  des  Contraclionstriebes, 
welcher  eine  Contraction  mit  dem  Effect  des  Zurückziehens 
vom  Ort  der  Gefahr  hervorruft,  ein  Flüchten  entstehen,  ohne 
dass  noch  ein  Fluchttrieb  in  irgend  welchem  Grade  entwickelt  ist. 

Wie  sich  aber  aus  dem  ursprüngUchen  einfachen  Expan- 
sronsti*ieb  nach  und  nach  der  Lokomotionstrieb  zur  Nahrungs- 
suche differenzirt;  so  kann  nun,  besonders  da  die  Lokomotions- 
tahigkeit  als  Prädisposition  zum  Flüchten  bereits  vorhanden  ist, 
aus  dem  allgemeinen  Contractionstrieb  mit  dem  Effect  des  Zu- 
rückziehens, nachdem  sehr  oft  ein  Flüchten  auf  eine  Con- 
traction gewohnheitsgemäss  gefolgt  ist,  leicht  ein  besonderer 
Fluchttrieb  entstehen. 

Mit  der  Lokomotion  zur  Nahrungssuche  geht  nothwendig 
die  Ausbildung  einer  Unterscheidung  verschiedener  Richtungen, 
d.  h.  eine  Unterscheidung  der  angenehmen  (in  welcher  sich  das 
Nahrungsobject  befindet)  von  der  relativ  weniger  angenehmen 
Richtung  Hand  in  Hand;  ist  einmal  diese  Unterscheidung  vor- 
handen, dann  wird  auch  leicht  die  Richtung,  von  welcher  die 
Gefahr  kommt,  von  der  entgegengesetzten  unterschieden.  Und 
ist  nun  die  Lokomotionsfahigkeit  vorhanden,  und  existirt  schon 
ein  Trieb  sich  nach  einem  Nahrungsobject,  also  in  der  relativ 
angenehmeren  Richtung  zu  bewegen,  dann  ist  zur  Entstehung 
des  Triebes,  sich  bei  Angriffen  von  einer  Seite  nach  der  ent- 
gegengesetzten, relativ  angenehmeren  Seite  zu  bewegen,  nur  ein 
kleiner  Schritt.  Bei  den  Echinodermen  ist  nun  eine  Unter- 
scheidung der  relativ  angenehmeren  Richtung  von  der  weniger 
angenehmen  und  ein  deutlich  differenzirter  Fluchttrieb,  der  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  vom  Contractionstrieb  unabhängig  ist, 
vorhanden  Man  kann  einen  Ophiuren  angreifen  von  welcher 
Seite  man  will,  er  bewegt  sich  immer  nach  der  entgegen- 
gesetzten Seite. 

Nun  habe  ich  bei  den  Ophiuren  wie  bei  vielen  Würmern 
und  Insektenlarven  sehr  oft  folgende  Thatsache  constatiren 
können,  die  sich  ohne  Schwierigkeit  beobachten  lässt. 

Berührt   man    eines  der  genannten  Thiere   nur  leise   auf 


302  G.  H.  Schneider: 

der  einen  Seite,  so  erfolgt  auf  derselben  nur  eine  Contraction, 
noch  kein  Flüchten;  reizt  man  das  Thier  dagegen  sehr  stark, 
so  erfolgt  die  Contraction  und  sofort  darauf  die-  Fluchtbewegung. 
Der  leise  Reiz  vermag  also  nicht  eine  ganze  Lokomotionskette 
auszulösen,  was  durch  den  stärkeren  dagegen  immer  geschieht. 
Die  sehr  intensive  Contraction  schliesst  also  den  Trieb  zum 
Ausstrecken  und  somit  zum  Flüchten  in  sich,  die  weniger 
intensive  nicht.  Demnach  beruht  auch  die  Differen- 
zirung  des  Fluchttriebes  auf  einer  graduellen 
Abstufung  des  Contractionstriebes.  Und  zwar 
tritt  das  Flüchten  mehr  oder  weniger  an  Stelle 
der  allgemeinen  Contraction,  so  dass,  während  z.  B. 
bei  den  Schnecken  auf  einen  leisen  Reiz  hin  eine  partielle  Con- 
traction, auf  einen  starken  Reiz  hin  eine  allgemeine  Contrac- 
tion erfolgt,  bei  Echinodermen ,  Würmern  und  Insekten- 
larven auf  einen  schwachen  Reiz  hin  ebenfalls  eine  partielle 
Contraction,  auf  einen  starken  Reiz  dagegen  ein  Flüchten  erfolgt. 
Dieses,  letztere  Verhältniss  bleibt  bei  allen  höhe- 
ren Thieren  bestehen.  Bei  allen  Arthropoden  und  Verte- 
braten  folgt  auf  eine  leise  unangenehme  Berührung  eines 
zurück-  resp.  anziehbaren  Körpertheiles  nur  dieses  Anziehen, 
die  partielle  Contraction,  auf  eine  unangenehme  Berührung  von 
grosser  Intensität  am  gleichen  oder  an  einem  anderen  Theile 
dagegen  stets  ein  Flüchten.  Wird  ein  ruhender  Hund  oder 
eine  Katze  nur  leise  an  einem  Fusse  oder  am  Schwänze  beun- 
ruhigt, so  wird  der  betreffende  Körpertheil  einfach  angezogen, 
wird  das  Thier  dagegen  in  einen  dieser  Körpertheile  stark  ge- 
kneipt^ so  springt  es  stets  auf  und  flieht;  und  zwar  erfolgt 
sowohl  das  einfache  Anziehen  des  Gliedes,  wie  das  Aufspringen 
und  Fliehen  immer  so  rasch  auf  den  Reiz,  dass  die  Entstehung 
klarer  Vorstellungen  in  der  Zeit,  die  zwischen  dem  Reiz  und  der 
Bewegung  liegt,  nicht  gut  denkbar  ist,  und  man  annehmen  muss, 
dass  bei  diesen  Erscheinungen  hauptsächlich  oder  ausschliesslich 
der  ursprüngliche  Contractionstrieb  und  die  ursprüngliche  Be- 
ziehung desselben  zum  Fluchttrieb  zur  Geltung  kommt. 

Die  Beziehung  des  Fluchttriebes  zum   ursprünglichen  par- 


Zur  Entwickelung  der  Willensäasserungen  im  Thi erreich.  303 

tiellen  Contraotionstrieb  (d.  h.  der  eine  partielle  Contraction 
verursacht  und  nicht  ein  Trieb,  der  selbst  nur  partiell  ist) 
zeigt  sich  noch  in  einer  anderen  Thatsache,  in  der  nämlich, 
dass,  sobald  ein  partieller  Contractionstrieb  nicht  befriedigt  wird 
und  nicht  durch  eine  partielle  Contraction  befriedigt  werden 
kann,  aus  diesem  Trieb  der  Fruchttrieb  entsteht.  Wenn  man,  wie 
das  leicht  zu  constaliren  ist,  ein  ruhendes  Säugethier  auch  nur 
leise  an  einem  Körpertheil  reizt,  den  es  nicht  zurück-  resp. 
anziehen  kann  (Bauch,  Rucken,  Aftergegend),  so  springt  es  viel 
leichter  auf  und  flieht,  als  wenn  man  es  mit  gleicher  Intensität 
an  einem  Theil  reizt^  den  es  zurückziehen  kann  (Fuss,  Schwanz^ 
Kopf).  Im  letzten  Falle  findet  also  der  geringe  Contractions- 
trieb durch  das  Anziehen  des  Gliedes  Befriedigung,  die  aus- 
gelöste Kraft  wird  dadurch  verbraucht;  im  ersten  Falle  dagegen 
fehlt  eine  derartige  Befriedigung,  ein  Verbrauch  der  ausgelösten 
Kraft  durch  eine  einfache  Contraction,  und  so  steigert  sich  der 
Contractionstrieb  zum  Fluchttrieb. 

Wie  der  Fluchttrieb  an  Stelle  des  intensiveren  Contractions- 
triebes  tritt,  das  zeigt  sich  weiter  sehr  auffallend  in  der  Thatsache, 
dass  bei  den  Thieren,  bei  welchen  ein  Fliehen  zuerst  ausgebildet 
ist  (Echinodermen  und  Würmer),  der  intensive  Contractionstrieb 
in  einer  allgemeinen  Contraction  nicht  zur  Geltung  kommt  und 
nicht  vorhanden  zu  sein  scheint.  Bei  den  Würmern,  welche 
nicht  fliehen  (Röhrenwürmer),  ist  die  allgemeine  Contraction  die 
vorherrschende  Schutzbewegung,  bei  denjenigen  Würmern  da- 
gegen, welche  auf  einen  intensiveren  unangenehmen  Reiz  zu 
fliehen  suchen,  fehlt  die  Gewohnheit  den  ganzen  Körper  zu- 
sammen zu  ziehen.  Dieselbe  fehlt  auch  bei  denjenigen  Echino- 
dermen, welche  zu  fliehen  gewohnt  sind  (Ophiuren,  Comatula, 
Echiniden,  Ästenden),  während  sie  wieder  sehr  ausgeprägt  bei 
denjenigen  ist,  welche  nicht  fliehen  (Holothuria  tubulosa,  Pentacta). 

Und  zwar  sind  nicht  nur  die  morphologischen  Organi- 
sationsverhältnisse Ursache  dieser  Verschiedenheit;  denn  es 
könnten  sich,  wenn  ein  intensiver  allgemeiner  Contractionstrieb 
z.  B.  bei  den  Echinodermen  vorhanden  wäre,  doch  sämmtliche 
Weichtheile,  also  zunächst  alle   Ambulacralfüsschen  auf  einmal 


304  Gr.  H.  Schneider: 

contrahiren;  das  habe  ich  iadessen  nie  beobachtet,  immer  ist  es 
nur  ein  Theil  derselben.  Ich  habe  auch  nie  beobachtet,  dass 
ein  Schiangenslern  oder  eine  Comatula  auf  eine  Berührung  hin 
sämmtliche  Arme  auf  einmal  anzöge,  es  sind  immer  nur  einige 
oder  ist  nur  ein  einziger. 

Aber  auch  bei  allen  höheren  Thieren  tritt  der  Fluchttrieb 
sehr  oft  an  Stelle  des  allgemeinen  Contractionstriebes  und 
umgekehrt.  Solche  Thiere,  i^elche  nicht  gewohnt .  sind  gleich 
zu  flächten,  wie  besonders  die  katzenartigen  Raubthiere^  ducken 
sich;  und  diejenigen,  welche  nicht  gewohnt  sind  sich  zu  ducken, 
suchen  stets  ihr  Heil  in  der  Flucht,  wie  das  die  Hufthiere  am 
besten  zeigen.  Wie  der  Flucbttrieb  in  den  allgemeinen  Con- 
tractionstrieb  übergeht;  zeigt  auch  die  ganz  allgemein  verbreitete 
Gewohnheit  der  Thiere  sich^  sobald  ihnen  die  Flucht  ab- 
geschnitten wird,  stets  zu  ducken.  Nach  all  diesen  Thatsachen 
ist  die  unmittelbare  Beziehung  des  Fluchttriebes  zum  ursprüng- 
lichen Contractionstrieb  und  die  Diiferenzirung  des  ersteren 
aus  letzterem  wohl  klar.  — 

Somit  glaube  ich  nun,  soweit  die  Forschung  auf  diesem 
Gebiet  eine  exacte  überhaupt  sein  kann,  folgende  Thatsachen 
festgestellt  zu  haben: 

1)  Die  so  verschiedenen  Schutzbewegungen  der  niederen 
Thiere,  wie  das  Zurückziehen  vom  Ort  der  Geiahr,  das  Ein* 
resp.  Anziehen  einzelner  Körpertheile,  insbesondere  der  feineren 
Organe,  das  Auspressen  von  Vertheidigungsmitteln,  das  festere 
Anziehen  an  die  Unterlage,  das  Zurückziehen  in  schätzende 
Hüllen  und  das  Versclüiessen  derselben  sind  alles  nur  durch 
die  in  der  Selection  erworbene  morphologische  Organisation 
bedingte  äussere  Effecte  eines  und  desselben  Contractionstriebes, 
einer  und  derselben  Contraction. 

2)  Die  Contraction  des  ganzen  Körpers  ist  diejenige  Schulz- 
bewegung, welche  in  der  phylogenetischen  Entwickelungsreihe 
zuerst  entsteht. 

3)  Die  einfache  Contraction  des  ganzen  Körpers  bildet  bei 
den  niedersten  Thieren  überhaupt  die  einzige  Schutzbewegung. 

4)  Die  Contraction  des  ganzen  Körpers   und   der  Trieb 


Zur  Entwickelung  der  Willensäusserungen  im  Thierreich.  305 

hierzu  findet  sich    von   den  Protozoen   bis  zum   Menschen  bei 
allen  Thieren  in  irgend  einer  Form  vor. 

5)  Der  Contractionstrieb  dififerenzirt  sich  auf  Grund  einer 
entstandenen  graduellen  Abstufung  im  Sinne  der  Subordination 
in  einen  stärkeren  zur  Contractiou  des  ganzen  Körpers  und  in 
einen  schwächeren  zur  Contraction  einzelner  Körpertheile ;  und 
^war  ist  dieser  zweifache  Contractionstrieb  zuerst  deutlich  bei 
den  Schnecken,  Echinodermen  und  Wärmern  zu  beobachten, 
bei  allen  höheren  Thieren  aber  noch  weit  mehr  als  dort  aus- 
geprägt. 

6)  Bei  den  Arthropoden  ist  der  ursprüngliche  Contractions- 
trieb in  gewissem  Grade  ein  zweckbewusster. 

7)  Bei  allen  Wirbelthieren  findet  sich  der  ursprüngliche 
Contractionstrieb  dififerenzirt  in  ein  zweckbewusstes  Wollen  zum 
Zusammenziehen  und  in  ein  unwiUkührliches  ^Zusammen- 
fahren" ;  das  letztere  ist  das  Rudiment  vom  ursprüngUchen 
Contractionstrieb,  welcher  vom  bewussten  Wollen  nach  und  nach 
zurückgedrängt  worden  ist.  Anlange  zu  dieser  DifiTerenzirung 
finden  sich  aber  auch  schon  bei  den  Cephalopoden  und  den 
höheren  Crustaceen. 

8)  Der  Trieb  zum  Bedecken  difiTerenzirt  sich  direkt  aus 
dem  ursprünglichen  Contractionstrieb;  und  zwar  ist  diese 
Diiferenzirung  zuerst  bei  den  Echiniden  zu  beobachten. 

9)  Der  Fluchttrieb  difiTerenzirt  sich  ebenfalls  direkt  aus 
dem  ursprünglichen  Contractionstrieb  und  zwar  bei  den  Echino- 
dermen und  Würmern;  diese  DifiTerenzirung  beruht  auch  auf 
einer  graduellen  Abstufung  des  Contractionstriebes  und  zwar  in 
der  Weise,  dass  der  Fluchttrieb  an  Stelle  des  stärkeren  Con- 
tractionstriebes  tritt. 

Hiernach  ist  der  Trieb  zur  Contraction  des  ganzen  Körpers 
als  das  Fundament  aller  Triebe  und  alles  zweckbewussten 
Wollens  zum  Selbstschutz  zu  betrachten. 

Beifolgende  Tafel,  den  hypothetischen  Stammbaum  der 
wichtigsten  Schutzgewohnheiten  darstellend,  giebt  eine  Ueber- 
sicht  der  verschiedenen  unbewussten  EfiTecte  des  ursprünglichen 
Contractionstriebes   und   der  direkten   wie   der    wichtigsten  in- 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.  III.    3.  20 


306    G.  H.  Schneider:  Z.  Entw.  d.  WiUensäusserg.  im  Thierrch. 

direkten  Differenzirungen  aus  demselben.  Die  punctirten  Linien 
bedeuten  WiUensdifFerenzirungen ,  die  in  vorliegender  Arbeit 
nicht  bebandelt  sind,  und  welche  ich  vieileicht  später  auch  an 
dieser  Stelle  besprechen  werde;  die  in  vorliegender  Arbeit  er- 
örterten Effecte  und  Differenzirongsprodukte  des  Contractions- 
triebes  sind  durch  die  vollen  Linien  angedeutet,  und  zwar  ist: 

a  s=  der  ursprungliche  Contraclionstrieb, 

a  =^  das  zweckbewusste  Zusammenziehen  als  Ducken  und 
Kauern, 

6  =  der  ursprüngliche  Trieb  zur  Contraclion  einzelner  Tbeile, 

})  =  das  zweckbewusste  Anziehen  einzelner  Thöile, 

c  =  das  Bedecken, 

d  =  das  Flüchten, 

e  ==  das  Anfertigen  von  Hüllen,  ^ 

f  =  das  Verstecken, 

g  =  das  Vergraben, 

Ä  =  das  willkührliche  Vertheidigen, 

1  a=s  der  Effect  des  Znrückzieheos  v0m  Ort  der  Gefahr, 

2  =    „        „        „    Einziehens  feinerer  Körper Iheile, 

3  =    „        „        ^    Zurückziehens  in  schützende  HtlUen, 

4  ==    ^        „        „    Auspres»en$'vbn  Vertheidigung$mitteln, 

5  =    „        „       «    festeren  Ansehens  an  die  Unterlage. 
Um  diesen  Ueberblick  auf  einei*  Tafel  überhaupt  darstellen 

zu  können ,  musste  ich  die  verschiedenen  Thiertypen  in  eine 
aufsteigende  Reihe  einordnen,  wodi;ä*ch  die  Darstellung  insofern 
eine  unvollkommene  ist,  als  nach  Häckel  u.  a.  bedeutenden 
Zoologen  sowohl  die  Echinodermen.  wie  die  Mollusken,  Arthro- 
poden und  Vertebraten  ihren  Urspifung  höchst  wahrscheinUch 
im  Würmerstamm  genommen  haben.  Zur  vollkommneren  Dar- 
stellung müsste  man  eben  für  jeden  einzelnen  Thiertypus  einen 
besonderen  Stammbaum  machen. 

Leipzig.  G.  H.  Schneider. 


Arfftr^oäe» 


Eckmo- 
derme» 


Zoophyten 


Das  Verhältniss  der  Grefühle  zu  den  VorstellungeD 
und  die  Frage  nach  dem  psychischen 

6-rundprocesse. 


Im  zweiten  ilefle  dieses  Jahrgangs  der  Vierteljahräschrifl 
hat  Herr  Prof.  Wundt  über  den  bezeichneten  Gegenstand  eine 
Abhandlung  veröffentlicht,  für  welche  unsere  Wissenschaft  ihm 
zu  vollem  Danke  verpflichtet  ist,  weil  er  darin  ein  Problem 
ans  Licht  gezogen  und  zur  Discussion  gestellt  hat,  das  bisher 
in  wahrhaft  unbegreiflicher  Gleichgültigkeit  und  Theilnahme- 
losigkeit  völlig  vernachlässigt  und  achtlos  unter  die  Füsse  ge- 
treten werden  zu  sollen  schien.  Man  hatte  ja  mit  der  nie  oft 
genug  zu  wiederholenden  Arbeit,  die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft immer  wieder  von  Neuem  zu  kritisiren,  zu  commentiren^ 
zu  glossiren  und  zu  emendiren  so  alle  Hände  voll  zu  thun^ 
dass  man  für  ein  psychologisches  Problem,  auch  wenn  das- 
selbe zufällig  die  wichtigsten  PrincipienfVagen  in  sich  schloss^ 
und  selbst  die  sonst  so  hoch  bevorzugte  Erkenntnisstheorie 
innig  berührte  —  es  genügte,  dass  es  ausserhalb  des  engen 
Horizonts  unsrer  Neokantianer  lag  —  natürlich  nicht  eine  Minute 
Zeit  und  nicht  einen  Gran  von  Interesse  übrig  hatte.  Darum 
verdient  es  —  ich  wiederhole  es  —  freudige  Anerkennung^ 
wenn  ein  Mann  von  so  hohem  allgemeinem  und  so  wohl  ver- 
dientem Forscherruhme,  als  er  das  Haupt  unsrer  empiristisch- 
physiologischen  Schule  unbestritten  ist,  die  Frage  nach  dem 
Verhältniss  der  psychischen  Vermögen  oder  Processe,  eine 
Frage,  deren  grundlegende  Wichtigkeit  nicht  nur  für  die  ge- 
sammte  Psychologie,  sondern  für  alle  philosophiselien  Probleme 


Das  Yerhältniss  der  Gefühle  zu  den  Vorstellungen  etc.     309 

für  jeden  JJnbefangenen  auf  der  Hand  liegt;  nachdem  sie  lange 
unbeachtet  geblieben,  von  Neuem  auf  die  Tagesordnung  ge- 
bracht und  in  so  eingehender  Weise  die  Debatte  darüber  er- 
öffnet hat. 

Mein  persönlicher  Antheil  an  der  dem  Herrn  Prof.  W. 
gebührenden  Dankbarkeit  muss  freilich  —  zu  meinem  lebhaften 
Bedauern  mit  dieser  allgemeinen  Anerkennung  sein  Ende 
«iTeichen.  Denn  die  ganze  Art  und  Weise,  wie  es  demselben 
gefallen  bat,  sich  seiner  Aufgabe  zu  entledigen,  erscheint  nicht 
nur  für  meine  Person  höchst  verletzend,  sondern  auch  die 
Sache  selbst,  um  die  es  sich  handelt,  eher  yerwirrend  als 
klärend,  so  dass  ich  eben  sowohl  in  persönlichem  als  in  all- 
gemein sachlichem  Interesse  mich  zur  Abwehr  und  Klarstellung 
gedrungen  fühlen  muss. 

Um  das  minder  angenehme  persönliche  Geschäft  vorweg 
zu  nehmen,  so  kann  und  will  ich  nicht  glauben ;  dass  Herr 
Prof.  W.  beabsichtigt  hat,  meine  wissenschaftliche  Stellung  im 
Oanzen  zu  erschüttern  oder,  wie  man  sagt,  mich  wissenschafti- 
lieh  zu  vernichten.  Die  Beziehungen,  in  die  ich  zu  Herrn 
Prof.  W.  zu  treten  die  Ehre  gehabt  und  die  obwohl  seltene, 
doch  nur  freundliche  —  meinerseits  durchaus  hochachtungs- 
YoUe  waren,  geben  einer  solchen  Annahme  keinen  Raum.  Aber 
thatsächlich  läuft  es  doch  auf  nicht  viel  weniger,  als  auf  ein 
solches  litterarisches  Todtmachen  hinaus,  wenn  mir  nicht  nur 
unvorsichtiger  Gebrauch  physiologisch  bedenklicher  Hypothesen 
(a.  a.  0.  S.  137)  und  vorgefasster  Meinungen  an  Stelle  der 
Beweise  (S.  132)  und  das  Hineininterpretiren  von  Hypothesen  in 
<lie  Erscheinungen  (ebenda)  vorgeworfen,  sondern  auch  meine 
Lehre  von  dem  Primat  der  Gefühle  als  die  mich  beherrschende 
^,Apperceptionsmasse"  in  Herbart'schem  Sinne  bezeichnet  wird, 
„welche  sich  Alles  assimilirt,  was  sie  vorfindet"  (a.  a,  0.  S.  134, 
warum  nicht  lieber  gleich :  Steckenpferd  und  fixe  Idee?),  wenn 
«8  an  derselben  Stelle  heisst:^„ja,  man  kann  wohl  sagen,  ein 
wesentlicher  Zweck  des  Werkes  besteht  in  dieser  Beweisführung,'* 
d.  h.  in  der  Beibringung  „angeblicher  Beweise*'  für  die  Priori- 
tät der  Gefühle;   wenn  der  Leser  gewarnt  wird  vor  der  „be- 


310  A.  Horwic«: 

Btedienden  Wirkung''  der  fesselnden  Schilderung  ^er  in  den 
Verlauf  des  Denkens  hineininterpretirten  Gefdhle  (S.  134.  135)^ 
wenn  mir  geradezu  imputirt  wird,  etwas  Nichtseiendes  zu  er- 
finden, bloss  um  dem  Zugestandniss  einer  unbequemen  That- 
Sache  auszuweichen. 

Das  Ueberrascbende  an  diesen  Verdammungsurtheilen  ist 
selbstverständlich  nicht  die,  wenn  auch  noch  so  energische  Be*- 
streitung  der  von  mir  vertretenen  Meinung  von  der  Priorität 
des  Gefühles.  Meinungsverschiedenheit  bildet  auf  philosophi- 
schem Gebiet  so  sehr  die  Regel  und^  dass  Jemand  sich  durch 
die  Deduktionen  des  Andern  überzeugen  lässt,  die  so  gan^ 
verschwindende  oder  wohl  gar  nicht  vorkommende  Ausnahme,, 
wie  es  wohl  selbst  auf  religiösem  Gebiete  kaum  der  Fall  sein 
dürfte,  so  dass  ich  natürlich  mich  um  so  weniger  wundern 
kann,  mit  meiner  Meinung  auf  Zweifel  und  Widerspruch  zu 
stossen,  als  ich  mir  sehr  wohl  bewusst  bin  ubd  daraus  auch 
nie  den  mindesten  Hehl  gemacht  habe,  wie  sehr  dieselbe  mit 
den  verbreitetsten  psychologischen  Anschauungen  und  zumal 
mit  den  vulgären  Auffassungen  des  alltäglichen  Lebens  in 
Widerspruch  steht.  Eine  Lehre,  die  so  geeignet  ist,  nicht  nur 
die  gesammte  wissenschaftliche  Psychologie  von  Grund  aus  um- 
zugestalten, sondern  auch  auf  alle  von  ihr  ressorlirenden  theo- 
retischen und  praktischen  Fächer  —  und  das  dürften  leicht 
die  wichtigsten  sein  —  das  Licht  neuer  tieferer  Begründung 
fallen  zu  lassen:  eine  solche  Lehre  muss  sich  allerdings  auf 
Widerspruch  und  Widerstand  aller  Art  —  aktiven  und  passiven^ 
erbitterten,  vornehm  abfertigenden,  kühl  ignorirenden  gefasst 
machen  und  sie  hat  ihn  ja  auch  in  allen  diesen  Tonarten  und 
Klangfarben  vollauf  erfahren.  Worauf  ich  aber  nicht  gefasst 
sein  konnte,  das  ist  diese,  von  einer,  wie  ich  bisher  glauben 
musste  —  verwandten  Seite  sich  erhebende  Feindseligkeit,  die 
den  Gegner  nicht  sowohl  bestreitet,  als  verdächtigt,  ihm  jeden 
wissenschaftlichen  Credit  abschneidet  und  ihn  sans  fa^on  zum 
hohlen  Rabulisten  und  gewissenlosen,  nur  auf  die  Durchsetzung 
seines  Stückes  bedachten  Sophisten  herabwürdigt. 

Herr  Professor  Wundt  scheint  sich  meinen  Entwicklungs- 


Das  Yerhältniss  der  Gefühle  zu  den  VorstelluDgen  etc.      311  * 

gang  so  vorziiust^lleD,  als  häUe  ich  eines  schönen  Tages  plötz- 
lich einen  Anfall  der  JBxen  Idee  von  der  Priorität  der  Gefühle 
hekonunen  und  seitdem  unier  dem  Zwange  derselben  mich  ge- 
nöthigt  gesdben,  die  Manege-Bewegung  meiner  psychologischen 
Analysen  zu  machen.  Mein  ganzes  Buch  soll  ich  zu  dem 
Zwecke,  geschrieben  haben,  die  Priorität  der  Gefühle  zu  be- 
weisen und  alle  Erscheinungen  soU  ich  mir  in  erster  Linie 
darauf  ansehen»  ob  sie.  auch  niciit  den  Trab  meines  Stecken- 
pferdes behindern.  Ich  möchte  wirklich  wissen,  was  ich  da- 
von haben  sollte,  mir,  wie  Herr  Prof.  W.^  es  sich  denkt,  zuerst 
eine  Meinung  unausrottbar  einzubilden  und  mich  dann  an  die  Psy- 
chologie zu  machen,  um  zu  sehen,  wie  ich  mit  ihrer  Hülfe 
dieselbe  v^rtheidigen  könne.  An  und  für  sich  könnte  es  mir 
doch  wirklich  ziemlich  gleichviel  gellen,  ob  die  Sache  sich  so 
oder  anders  verbalte.  Was  sollte  ich  davon  haben,  vor  unter- 
suchter Sache  mir  über,  psychische  Fragen  Meinungen  voraus 
zu  fassen,  um  hinterdrein  nach  Beweisen  für  dieselben  zu 
suchen.  Statt  solcher  Krahwinkelei  ist  es  doch  wohl  glaub- 
licher, dassich  es  gemacht  haben  werde,  wie  jeder  verstandige 
und  ehrliche  Mensch,  nemlich  zuerst  untersuchen  und  dann 
Meinungen  schöpfen.  ^ 

Herr  Prof.  W.  hat  auch  nicht  nölhig,  sich  bei  mir  um 
unausgesprochene  entscheidende  Gründe  mit  Yermuthungen  ab- 
zuquälen, wie  er  S.  137  tbut,  ich  gebe  überall  meine  Unter- 
suchungen, so  wie  ich  sie  geführt  habe^  und  gerade  um  dem 
Leser  auf  Schritt  und  Tritt  die  Coutrole  in  die  Hand  zu  geben, 
habe  ich  darauf  gebalten,  meine  Forschungen  im  Wesentlichen 
in  statu  nascendi  vorzulegen,  worüber  mir  erst  neuerdings 
noch  von  französischen  Kritikern  unangenehme  Dinge  gesagt 
gtnd.  Wenn  Herr  Prof.  W.  noch  der  ausdrücklichen  Versiche- 
rung bedarf,  so  soll  sie  ihm  hiermit  ertbellt  sein  —-  ich  hoife, 
dass  sie  bei  meinen  übrigen  Lesern  überflüssig .  sein  wird  — 
dass  ich  wirklich  keinen  andern  Zweck,  als  die  Erforschung 
der  Wahrheit  auf  psychischem  Gebiete  verfolge  und  dass  ich 
die  mehrgenannte  Theorie  nicht  desshalb  verfechte,  weil  ich  in 
unbegreiflicher  Laune  an  ihr  meinen  Narren  gefressen,  sondern 


312  A.  Horwicz;  \ 

weil  ich  sie  nddi  reiflicher  Prüfung  aller  in  Betracht  kommen- 
den Momente  für  am  Meisten  geeignet  halte,  zu  einer  wissen- 
schaftlichen Auffassung  vom  Seelenleben  zu  führen  und  das 
bisher  immer  noch  auf  diesem  Gebiete  herrschende  Chaos 
durch  einander  gährender  Meinungen  einiger massen  zu  ordnen 
und  verstandlich  zu  machen.  Und  dass  sie  das  in  der  That 
leistet,  dass  sie  auf  den  Rang  einer  legalen  wissenschaftlichen 
Theorie  Anspruch  machen  darf,  das  will  ich  dem  von  so  ge- 
wichtiger Seite  erhobenen  Angriff  gegenüber  in  aller  Kürze 
nachweisen,  und  zwar  in  dreifacher  Richtung: 

1.  apologetisch,  indem  ich  gegenüber  dem  Vorwurfe, 
willkürliche  Meinungen  in  die  Thatsachen  hinein  zu  interpre- 
tiren,  meine  Methode  und  mein  wirkliches  Verfahren  in  der 
Analyse  kurz  beleuchte; 

2.  physiologisch,  indem  ich  zunächst  gleichfalls  ver- 
theidigungsweise  den  Vorwurf  des  Gebrauchs  physiologisch  be- 
denklicher Hypothesen  abwehre,  sodann  aber  auch  positiv  den 
physiologischen  Befund  darlege  und  die  für  unser  Problem 
aus  demselben  sich  ergebenden  Schlüsse  ableite; 

3.  kritisch,  indem  ich  die  bisherige . Geschichte  unseres 
Problems  und  den  neuesten  Lösungsversuch  des  H^rrn  Pro- 
fessors Wundt  erörtere  und  daran  zeige,  dass  meine  Theorie, 
weit  davon  entfernt,  die  schwierigere  und  abstrusere  zu  sein,  die 
einfachste  und  ungezwungenste  Erklärung  der  Thatsachen  dar- 
zubieten scheint. 

I 

Auch  sonst  tüchtigen  Forschern  begegnet  es  wohl,  dass 
sie  sich,  wie  man  das  nennt,  in  Lieblingsmeinungen  verrennen 
oder  festreiten,  wie  z.  B.  Lachmann  in  seine  Heptaden-Theorie. 
Was  mir  hier  vorgeworfen  wird,  ist  Schlimmeres,  ist  völliger 
Mangel  an  wissenschaftUcbem  Wahrheitsdrange  und  unbefangenem 
Forschersinn.  Denn  wenn  Herr  Prof.  W.  S.  134  sagt,  ich 
hätte  „den  sonst  in  rühmenswerther  Weise  eingenommenen 
Standpunkt  unbefangener  Prüfung  verlassenes  so- kann  nach 
und  zwischen  so  vielen  und  entschiedenen  Verdammungen  der 


Das  Verhältniss  der  Gefühle  zu  den  Vorstellungen  etc.      313 

stärksten  Art,  von  denen  ich  nur  eine  kleine  Blumenlese  gab, 
das  eine  gelegentliche  Anerkenntniss  eigentlich  gar  keinen  Sinn 
mehr  oder  höchstens  den  einer  blanken  Höflichkeitsphrase  be- 
anspruchen. Ist  es  nun  an  dem,  dass  ich  die  psychischen  Er- 
scheinungen nicht  sowohl  analysire,  als  vielmehr,  was  mir  gefällt, 
in  sie  hinein  interpretire  ?  Dass  ich  die  Lehre  von  der  Priorität  der 
Gefühle  fix  und  fertig  mitbringe,  statt  der  Beweise  vorgefasste 
Meinungen  beibringe  und  mit  widersprechenden  Thalsachen 
Versteck  spiele?  Es  mag  ja  dem  Menschen  gut  sein,  wenn  er 
sich  dann  und  wann  vor  die  Frage  seines  Werthes  oder  Un- 
werthes  gestellt  und  zu  energischer  Selbstprüfung  aufgefordert 
wird.     Unterziehen  wir  uns  derselben  in  Geduld. 

Zunächst  eine  Kleinigkeit.  Herr  Prof.  W.  hat  entschieden 
Unglück  im  Citiren.  Wer,  ohne  mein  Buch  zu  kennen,  seine 
Abhandlung  best,  muss  glauben,  dass  die  von  Herrn  Prof.  W. 
citirten  Beweisstellen  zugleich  diejenigen  seien,  in  denen  ich 
den  Beweis  der  angefochtenen  Behauptungen  führe,  während 
dies  in  keinem  einzigen  FaJle  zutrifft.  Wenn  er  z.  B.  S.  135 
für  die  Behauptung,  „dass  allem  Appercipiren  und  Denken  Ge- 
fühle vorangehen",  Psych.  Anal.  U,  1.  S.  80  citirt,  so  findet 
sich  auf  der  angezogenen  Seite  kein  Wort  von  der  allegirten 
Behauptung  und  noch  viel  weniger  kann  davon  die  Rede  sein, 
dass  auf  derselben  der  Beweis  dafür  gegeben  werde^  sondern 
der  Leser  befindet  sich  daselbst  mitten  im  Zuge  einer  längeren 
Argumentation,  welche  S.  67  beginnt  und  S.  99  endet,  aber 
auch  noch  mit  den  voraufgehenden  und  nachfolgenden  Er- 
örterungen aufs  Engste  zusammenhängt.  „Gewiss,"  so  fährt  er 
unmittelbar  nach  seinem  schlagenden  Citat  fort,  „man  kann 
„sich  vorstellen,  dass  solche  Fragen  und  Gefühle  das  Denken 
„beherrschen,  ja  noch  mehr,  man  kann  sich  in  diese  Vor- 
„Stellung  so  hineindenken,  dass  man  sich  einbildet,  das  sei 
„immer  und  überall  der  thatsächliche  Verlauf  unserer  Gedanken. 
„Und  wer  vermöchte  den  Gegenbeweis  zu  führen?  Ich  kann 
„nur  versichern,  dass  ich  meinerseits  —  sofern  ich  nicht  durch 
„die  fesselnden  Schilderungen  psychologischer  Autoren  prä- 
„occupirt  bin  —  von  einer  derartigen  Fragelhäligkeit  höchstens 


314  ^*  Horwicz: 

^daun  etwa$  merke,  wenn  die  appercipirten  Vor- 
;y&le]luagen  zu  ftagenstlinden  d>es  Naclidenkens 
j,  gemacht  werdea,  nicht  aber  bei  dem  uAnuttoUbaren  fie- 
>,wii98twei*den  der  VorsteUuogen.^  Aber  gerade,  darum  handelt 
es  sich.  Der  ganxe  in  Rede  stehende  Hauptabschnilt  fuhrt  den 
Titel  ^^Analyse  les  Deakens^S  und  die  bezeichnete  geistige 
Thätigkeit  des  Nachdenkens  bildet  4en  Gegenstand 
dieser  Analyse,  und  wenn  Herr  Prof»  W.  von  dieser  Thaügkeii 
zugiebt,  daas  sie  sich  in  den  erwähnten  Fragen  und  Gefühlen 
thatsachlich  vollzieht,  dann  brauche  ich  meinerseits  bloss*  ooch 
hinzuzusetzen:  quod  erat  demonstrandum. 

Auf  S.  136  wird  mir  folgendes  artige  Sündenregister  vor- 
gebalten: ,Die  Verbindung  von  Empfindung  und  Bewegung 
^soU  beweisen,  dass  der  Bewegungstrieb  oder  (!)  daa  Muskel- 
ngefuhl  die  ursprüngUehsie  psychische  Function  sei^  (wer  das 
liest,  könnte  wirklich  meinen,  dass  ich  zwei  so  heterogene 
Dinge,  wie  Bewegungstrieb  und  Huskelgefühl,  confundirt  habe, 
was  mir  gar  nicht  einfällt;  was  ich  an  der  von  Herrn  Prof.  W. 
gemeinten )  wenn  auch  nicht  4titirten  Stelle  —  Ps.  Anal,  I, 
S.  202  —  nicht  als  Behauptung,  sondern  als  ,,Vermuthuttg^' 
hinstelle,  ist,  dass  die  innige  Verbindung  von  Empfindung  und 
Bewegung  das  einfache  Element  der  psychischen  Processe  bil- 
den möge),  „die  Vei^bindung  der  Aufmerksamkeit  mit  Ge- 
fühlen, dass  die  Perception  auf  Gefühlen  beruhe^.  (Wer  das 
41.  Cap.  Th.  I  S.  226—284  der  Psyciiol.  Anal,  gelesen,  wird 
dasselbe  in  vorstehender  Inhaltsan^be  schwerUch  wieder  er- 
kennen. Doch  davon  später.)  „Die  Wirksamkeit  des  Willens 
„bei  der  Wiedererinnerung  soll  darthun,  dass  alle  Reproduclion 
„von  Gefühlen  ausgehe/^  (Hier  findet  ^ch  das  Citat  Anal.  I 
S.  191  u.  f.,  d.  h.  der  Anfang  des  achten  Buches  „Empfindung 
und  Bewegung.^  Jedenfalls  erfuhrt  der  Leset*  nicht,  an  welcher 
Stelle  ich  mich  der  angefochtenen  Schlussfolgerung  schuldig  ge- 
macht.) Der  HeiT  Prof.  aber  fährt  siegreich  fort:  „Nun  wer- 
„den  aber  auf  diese  Folgerung  dann  wieder  weitere  Folge- 
„rungen  gebaut,  für  die  nichts  spricht,  als  eben  die  bestrittene 
„Voraussetzung,  auf  die  sie  sich  stützen :  so  z  B.  wenn  H.  be- 


Das  Verhältniss  der  Gefühle  xn  den  Vorstellungen  etc.       315 

^bauptet,  der  Grad  der  Be^^sstheit  der  Vorstetlungen  bäoge 
„ab  von  dem  Grade  ihrer  GeffihlsbetORung.^  (Hier  wieder  ein 
CStat,  und  sogar  eins,  dad  »tiinnit:  ^^a.  a.  0.  I  S.  259^.  Denn 
schlagen  wir  die  angezogene  Seite  auf,  so  finden  wir  auf  der- 
selben allerdings  obigen  Sat2 ,  freilich  mit  dem  Zusatz  ,,  w  i  e 
bereits  erwähn  t'^,  d.  h.  eine  beüaufige  Erinnerang*  an  den- 
sdben,  während  der  Beweis  im  vorhergehenden  Capilel  S.  254  «-58 
andeutangsweise  unter  ausdrückUeher  Hinweisung  auf  die  Ana- 
lyse der  Reprodttction  geführt  wird),  ^oder  wenn  er  die  For- 
^derung  aufsteUt  nnd  zu  erfüllen  trachtet,  alle  höheren  Gefühle 
^seien  als  Complicationen  und  Combinationen  der  einfachsten 
„sinnlichen  Gefühle  aufzufassen/  (Hiezu  ist  Anal.  U  2.  S«  66 
eitirt,  wo  dies  ausdrücklkh  und  wiederholt  als^Vermuthung'' 
bezeichnet  wird,  deren  Yerification  späterer  Untersuchung  vor- 
behalten bleibt.  „Diese  wichtige  Untei^suchung  kann  jedoch 
^nicht  allgemein  geführt  werden,  da  m5glichei*weise  zwischen 
„den  einzdnen  Gefuhisarten  in  dieser  Hinsicht  die  allerbedeu- 
„tendsten  Unterschiede  obwalten,  sondern  dieselbe  muss  spe- 
„ciell,  wenigstens  für  die  Hauptgefuhlsarten,  gefuhrt  werden.^* 
Dies  ist  denn  nun  anch  bei  den  einzelnen  I^ecial'-Gefühlsana- 
lysen  geschehen.) 

Ich  habe  es  als  „Kleinigkeit'*  bezeichnet  und  ich  bebe  es 
nicht  hervor,  um  meinem  Herren  Gegner  einen  Vorwurf  zu 
machen,  sondern  nur  um  den  Lesern  seiner  Abhandlung  zu 
zeigen,  dass  ich  es  mir  mit  der  Begründung  meiner  Theorien 
nicht  ganz  so  leicht  mache,  als  Herr  Prof.  W.  mit  seinen  Ci- 
taten  —  glauben  lassen  könnte. 

Aber  nun  zur  Hauptsache:  ist  es  wahr,  dass  ich  für  meine 
Theorien  statt  der  Gründe  nur  vorgefasste  Meinungen  gebe  und 
in  die  Erscheinungen  hinein  interpretirte  Hypothesen,  dass,  um 
es  kurz  und  grob  auszudrücken,  meine  ganzen  Analysen  nichts 
weiter  sind,  als  eine  lange  Kette  von  Ersehleichungen  nnd  Trug- 
schlüssen? Ich  glaube,  es  wird  wenig  psychologische  Schrift- 
steller geben,  die  von  Anfang  an  und  unablässig  ängstlicher 
darauf  bedacht  gewesen  »nd,  die  allerdings  auf  keinem  andern 
Gebiete,  als  dem  des  Seelenlebens  so  nahe  liegende  Gefahr  der 


316  A.    Horwicz: 

Ersclileichung  zu  vermeiden.  Meine  Abhandlung  zur  „Metho- 
dologie der  Seelenlehre'*  gipfelt  in  der  Frage,  wie  diesem  alier- 
gefährlichsten  Unkraut  aus  dem  Wege  zu  gehen  sei,  und  in  den 
„Analysen"  treffe  ich  die  umständlichsten  Veranstaltungen,  be- 
ginne ich  jede  Analyse  von  vorne,  so  dass  mir  der  Vorwurf 
häufiger  Wiederholungen  nicht  erspart  geblieben  ist ,  gehe  ich 
auf  Schritt  und  Tritt  mit  der  grössten,  alle  principiellen  Ent- 
'  Scheidungen  ans  Ende  der  Untersuchung  schiebenden  Vorsicht 
zu  Werke,  so  dass  seihst  Herr  Prof.  W.  mir  das  Zeugniss  des 
„sonst  in  rühmenswerther  Weise  eingenommenen  Standpunktes 
unbefangener  Prüfung"  nicht  versagen  zu  dürfen  glaubte, 
wenngleich  er  Sorge  zu  tragen  gewusst  hat,  diesem  Anerkennt- 
niss  durch  die  erwähnten  Vorwürfe  jeden  materiellen  Werth 
wieder  zu  nehmen.  Nun,  das  menschliche  Herz  ist  so  wunder- 
bar zur  Selbsttäuschung  geneigt,  dass  ich  als  Psychologe  nur 
sagen  kann,  möglich  wäre  es  ja,  dass  ich  trotz  Alledem  und 
Alledem  in  die  gröbsten  und  lächerlichsten  Ersclileichungen 
verfallen  sei;  ob  sehr  wahrscheinHch ,  mag  eine  andere  Frage 
sein,  man  mösste  es  denn  wörtlich  nehmen,  was  Minna  von 
Barnhelm  von  den  Männern  sagt,  dass  sie  von  den  Tugenden 
am  meisten  sprächen,  die  sie  am  wenigsten  besitzen. 

Herr  Prof.  W.  befindet  sich  im  frrthum,  und  zwar  in 
selbstverschuldetem  Irrthura,  wenn  er  meint,  es  sei  ein  wesent- 
licher Zweck  der  Analysen,  die  ^^riorität  der  Gefühle  zu  be- 
weisen. Was  der  Zweck  der  Analysen  ist,  habe  ich  im  Vor- 
wort zum  Ersten  Theil  so  unumwunden  gesagt,  dass  ein  be- 
gründeter Zweifel  darüber  nicht  möglich  ist.  „Meine  Analysen 
verfolgen  Einen  ganz  bestimmten  Zweck,  den:  alle  Seelen- 
processe  auf  Ein  einfaches  physisch-psychisches  Grundelement 
zurückzuführen.'^  Das  ist  mein  Zweck  von  allem  Anfang  ge- 
wesen und  wird  mir  stets  der  Hauptgesichtspunkt  sein.  Was 
die  Priorität  der  Gefühle  betrifft,  so  ist  dieselbe  nicht  der  lei- 
tende Zweck,  sondern  das  gefundene  Resultat  meiner  Unter- 
suchungen gewesen,  ein  Resultat^  das  ich  bis  jetzt  allen  Grund 
habe,  für  das  richtige  zu  halten;  ein  Resultat,  das  bis  jetzt  noch 
Niemand,  auch  Herr  Prof.  W.  nicht,    mit  wirksamen  Gründen 


y 


Das  Verhältniss  der  Gefühle  zu  den  Vorstellungen  etc.      317 

bekämpft  hat,  das  ich  aber  ohne  das  mindeste  Widerstreben 
und  sogar  mit  grosser  intellectueller  Befriedigung  fallen  lassen 
werde>  sobald  mir  etwas  Anderes  gezeigt  wird^  für  dessen  Prio- 
rität besseire  Gründe  sprechen,  als  ich  sie  für  die  Priorität  der 
Gefühle  beigebracht  habe. 

Es  ist  ferner  ein  unbegreiflicher  Irrthum  und  eine  völlig 
ungerechtfertigte  Beschuldigung,  wenn  von  meinem  Verfahren 
S.  134  gesagt  wird,  „dass  der  Verf.  offenbar  sogleich  mit  einer 
„bestimmten  vorgefassten  Meinung  an  jede  einzelne  Analyse 
„herantritt  und  sich  fragt,  in  wiefern  das  Einzelne  sich  seiner 
„Anschauung  fügen  will."  Was  Herr  Prof.  W.  zur  Begründung 
dieser  schweren  Anklage  beibringt,  sind  ausser  einigen  mehr 
oder  weniger  geschmackvollen  Wiederholungen  und  Variationen 
derselben  (wie  „Apperceptionsmasse"  und  einbilden  könne  man 
sich  alles  Mögliche)  jene  schlagenden  Citate,  die  ich  bereits 
kivz  beleuchtet  habe,  auf  die  ich  hier  aber  zurückkommen 
muss,  um  die  Natur  dieser  Verdächtigung  in  ihrem  vollen 
Lichte  erscheinen  zu  lassen. 

Wer  die  Darstellung  des  Herrn  Prof.  auf  S.  13^^  liest,  ohne 
die  Psychol.  Anal,  zu  kennen,  muss  wirkhch  auf  die  Ver- 
muthung  kommen,  alle  die  von  ihm  erwähnten  Abschnitte 
meines  Buches  beschäftigten  sich  mit  weiter  Nichts,  als  mit  der 
Priorität  der  Gefühle.  Aber  gleich  das  ganze  Achte  Buch, 
„Empfindung  und  Bewegung^,  enthält  von  dieser  verpönten 
Lehre  —  ebenso  wenig,  wie  die  voraufgegangenen  sieben,  kein 
Wort.  Dasselbe  giebt  in  vier  Capiteln  auf  S.  191 — 209  eine 
eingehende  und  völlig  voraussetzungslose  Analyse  des  Verhält- 
nisses der  Empfindung  zur  Bewegung.  Es  wird  zunächst  auf 
Grund  der  physiologischen  Verhältnisse  des  Nervensystems  und 
unter  Berufung  auf  Wundt's  Autorität  der  Satz  aufgestellt  und 
bewiesen,  dass  alle  Empfindung  noth wendig  Bewegung  (oder 
eine  stellvertretende  Thätigkeit)  zur  Folge  hat.  Es  werden  so- 
dann sämmtliche  Bewegungsarten  speciell  durchgangen  und  aus 
ihrer  Betrachtung  wird  die  Folgerung  abgeleitet,  dass  im  thie- 
rischen  Organismus  alle  Bewegung  auf  Empfindung  beruhe. 
Es  wird   sodann  die  Wechselwirkung  zwischen  Bewegung  und 


318  A.  Horwicz: 

Empßndung  unteitucht,  die  Abänderung  der  urspi'üDglicheti 
Empfindung  durch  die  Bewegung  und  ihfe  Compücation  durch 
die  Bewegnngsgefühle  und  die  Bedeutung  des  letzteren  für  die 
Herausbildung  der  Vorsteliung  sorgföltig  erwogen  und  aus  allen 
diesen  Verbältnisaen  das  Gesetz  der  Proportionalität 
zwischen  Empfindung  und  Bewegung  abgeleitet 
Eine  ganze  Anzahl  wichtiger  Untersuchungen  werden  hier,  wie 
ich  wohl  glaube  sagen  zu  dürfen,  gründlich  geführt  und  er- 
ledigt, Untersuchungen,  fOr  deren  Erheblichkeit  und  Verdienst- 
lichkeit  es  völlig  gleichgültig  ist^  ob  man  an  die  Priorität  der 
Gefühle  glaubt  oder  nicht,  und  von  dem  genannten  verpönten 
Dogma  findet  sich  keine  Spur* 

Gerade  so  verhält  es  sich  mit  dem  Satz:  „Die Verbindung  der 
Aufmerksamkeit  mit  Gefühlen  (seil,  soll  beweisen),  dass  die  Per- 
ception  auf  Gefühlen  beruhe/*  Dass  die  Aufmerksamkeit  eine  we- 
sentliche Bedingung  der  Perception  ist  und  dass  sie  lediglich  dem 
Gefühle  folgt,  das  erhalte  ich  allerdings  auch  jetzt  noch  aufrecht, 
das  glaube  ich  in  dem  betreffenden  Abschnitt  unwiderleglich 
bewiesen  zu  haben,  wenigstens  glaube  ich  etwaigen  Wider- 
legungen mit  voller .  Gemüthsruhe  entgegensehen  zu  können. 
Aber  wer  die  Untersuchungen  des  Neunten  Budies  —  die 
Analyse  des  Bewusstseins ,  Psychol.  Anal.  I,  S.  210—265  — 
mit  dem  ausführlichen  litterargeschichtlichen  Material,  der  dia- 
lektischen und  physiologischen  Orientirung  und  den  zahlreichen, 
alle  in  Betracht  kommenden  Elemente  gründlkh  erwägenden 
Detail-Untersuchungen  unbefangen,  d.  h.  ohne  durch  den 
Verdacht  einer  „herrschenden  Apperceptionsmasse^^  gereizt  zu 
sein,  betrachtet,  wird,  abgesehen  davon,  ob  er  meinen  Folge- 
rungen beipflichtet  oder  nicht,  mir  das  Zeugniss  nicht  versagen, 
dass  ich  meine  Untersuchungen  gründlich,  unbefangen  und  auf 
breitester  Basis  geführt  habe,»  er  wird  sicherlich  sich  nicht  ver- 
sucht fühlen,  zu  glauben,  dass  ich  an  diese  Analyse  mit  der  vor- 
gefassten  Meinung  herantrete  und  mich  frage,  „in  wie  fern 
das  Einzelne  sich  meiner  Anschauung  fügen  will/' 

Genau  dasselbe  gilt  von  der  Analyse  der  Reproduction 
(Psychol.  Anal.  I,   S.  266—331).     Ich  glaube,  ich  kann  mir 


Das  Verhältniss  der  Gefühle  zu  deü  Vorstelluugen  etc.       31d 

jeden  weiteren  Hinweis  auf  die  umfassenden  Erörterungen,  auf 
die  zahlreioben  Einzel-'Untersuchungen  und  die  Behandlung  der 
verschiedenen  zusammenhängenden  Probleme  dieser  sohwierigeD 
und  verwiekfiUen  Materie  ersparen.  In  der  That  Hn  ich  der 
Meinung,  dass  ich  durch  diese  von  den  versefaiedensten  Seiten 
her  untler  Berückskbtigung  aller  einschhgenden  Momente  auf 
Grund  reichen  Üiatsachliehen  Materials  und  v^üig  Toraas« 
setE«ttg«los  gefSthrten  Untersuchungen  allerdings,  wenn  nicht  er^ 
wiesen,  so  doch  zu  einem  hohen  Grade  yon  Wahrscheinlich- 
keit gebracht  habe,  dass  die  Reproduction  dem  Gefühle  folge. 
Wenn  ich  mich  darin  irre,  warum  widerlegt  man  mich  nicht? 
Warum  hat  man  es  die  sieben  Jahre  her  nicht  gethan?  Und 
wartim  kommt  man  mir  jetzt  nkht  mit  Wideriegungen ,  son- 
dern imt  Verdächtigungen?  ich  hätte  mir  einmal  all  das  Zeug 
in  den  Kopf  gesetzt  u.  dgl.  m.?  Wdche  erhebliehe  Thatsache 
habe  idi  übersehen?  Welchen  wichtigen  Gesichtspunkt  ausser 
Acht  gelassen?  Welchen  ron  Einfluss  gewesenen  Standpunkt 
habe  ich  ignorirt?  Welche  Fehlschlüsse  sind  mir  untergelaufen? 
Eine  wirkliche  Widerlegung  musste  doch  in  dieser  Weise  zu 
Werke  geben.  Die  Angriffe  des  Herrn  Prof.  W.  aber  sind 
etwa  von  solcher  Urbanität  und  Förderlicfakmt  für  die  Sache, 
als  wenn  Jemand  Herren  ScfaUemann  oder  Prof.  Curtius  beim 
Rockknopf  fasste  und  vertraulicli  fragte,  ob  er  nicht  alle  die 
hübschen  Sächelchen,  die  er  da  ausgegraben,  zuvor  -^  ein  ganz 
klein  wenig  —  ahem  —  eingebuddelt  habe. 

Herr  Prof^  W.  giebt  sich  die  Miene  siegreicher  Ueberlegen- 
heit,  die,  nachdem  sie  alle  vom  Gegner  ins  Treffen  gefühlten 
Beweise  dialektisch  vernichtet,  ihm  gutmüthig  nachw^st,  was 
ihn  etgentlidi,  ohne  dass  er  es  weiss  oder  sagen  will,  zum 
Irrthum  veranlasst  hat  (S.  137).  Nun,  ich  glaube  gezeigt  zu 
haben,  in  wie  wenig  zutreffender  Weise  er  von  Demjenigen 
spricht;  was  er  für  meine  Beweise  der  Lehre  von  der  Priori* 
tat  der  Gefühle  hält.  Es  ist  keine  Folgerung,  sondern  die  Fest- 
stellung einer  ganz  allgemein  bekannten  Thatsache,  dass  die 
Aufmerksamkeit  dem  Gefühle  folgt,  dass  Gleichgültiges,  sowie 
Interessirendes  leicht  wahrgenommen   wird;    es  ist  nicht  Fol- 


320  A.  Horwicz: 

gerung,  sondern  gleichfaUs  bekannte  Thatsache,  dass  die  Repro- 
duction  dem  Gefühle  folgt,  dass  das  mehr  Interessirende  das 
Gleichgültigere  rasch  aus  dem  Gedäcbtniss  verdrängt  u.  s.  w.  Es 
ist  daher  auch  nicht  auf  Folgerung  gebaute  Folgerung,  sondern 
der  einfache  Ausdruck  dieser  Thatsache,  dass  der  Grad  der  Be 
wusstheit  mit  dem  Grade  der  Gefühlsbetonung  proportional  geht. 
So  wichtig  aber  für  die  Ermittelung  des  wahren  Sach- 
verhaltes die  angegebenen  Thatsachen  immerhin  sein  mOgen, 
die  eigentlich  entscheidenden  Thatsachen  und  Argumente  sind 
sicherhch  die  von  Herrn  Prof.  W.  ganz  übersehenen,  wenig- 
stens mit  keinem  Wort  erwähnten  im  sechsten  Abschnitt, 
^Analyse  der  Yorstellungsbiidung",Psy Chol.  Anal.  I,  S.  332 — 376 
zusammengestellten,  nemlich  jene,  wie  ich  es  zu  nennen  pflege, 
vergleichende  Statistik  der  verschiedenen  Empfindungsarten  nach 
ihrem  theoretischen  und  Gefühlsgehalt;  nach  der  BewegUchkeit 
der  Sinnglieder  und  nach  der  Frequenz  ihres*  Gebrauches.  4us 
den  dort  von  mir  formirten  Reihen  von  Thatsachen  und  aus 
ihrer  streng  nachgewiesenen  Proportionalität  glaube  ich  aller- 
dings mit  Gewissheit  folgern  zu  dürfen,  dass  die  Sinnesempfin- 
dungen mit  zunehmender  Gebrauchsfrequenz  zugleich  gefühls- 
kälter und  theoretisch  klarer  werden  und  dass  das  reine,  ganz 
uDtheoretische  Lust-Unlust-Gefühl  die  früheste  Form  des  Em- 
pfindens sei.  Die  Ergänzung  hiezu  muss  freilich,  und  darauf 
ist  ausdrücklich  hingewiesen,  die  Analyse  des  Denkens  liefern. 
Aber  auch  hier  geht  es  Herrn  Prof.  W.  wie  vorhin,  dass  er 
über  den  Vorbereitungen  die  Hauptsache  vergisst,  indem  er 
über  die  die  Verbindung  des  Denkens  mit  dem  Gedankenlauf 
illuslrirend«n  Beispiele  die  angeführten  geistvollen  Witze  und 
Insinuationen  liefert,  die  Capitel  über  das  theoretische  Denken 
und  das  wissenschaftliche  Interesse  (Psychol.  Anal.  II  1.  S. 
73 — 80),  über  die  Denkprobleme  und  Stammbegriffe,  Causalitat 
und  Identität  u.  s.  f.  aber  mit  Stillschweigen  übergeht.  Am 
allerschlimmsten  ergeht  es  ihm  mit  der  Analyse  der  Gefühle. 
Hier  wird  mir  nach  der  bekannten  Maxime 

Im  Auslegen  seid  hübsch  munter, 

Legt  ihr  nicht  aus,  so  legt  doch  unter 


Das  Verhältniss  der  Gefühle  zu  den  VorstellaDgen  etc.    321 

frisch  und  frank  nicht  nur  die  Meinung  untergeschoben,  als  ein 
Satz,  den  ich  verfechten  soll,  ,, die  inlellectuellen^  ästhe- 
tischen und  sittlichen  Gefühle  eilten  stets  den  Vorstellungen, 
an  die  sie  geknüpft  sind,  voraus^  5  sondern  es  werden  mir  die 
schlimmsten  Manöver  angedichtet,  um  den  Schein  zu  vermeiden, 
„als  könnten  unter  Umständen  Vorstellungen  den  Gefühlen 
vorangehen^.  Gegenüber  solcher  lebhaften  und  fruchtbaren 
Phantasie  ist  die  einfache  Wahrheit^  dass  sowohl  im  letzten  Ca- 
pitel  der  Analyse  des  Denkens  „Denken  und  Gefühl^  auf  die 
wechselseitige  Abhängigkeit  und  Steigerung  dieser  beiden  Pro- 
cesse  (vgl.  namentl.  S.  179  u.  180)  ausdrücklich  hingewiesen 
ist,  und  dass  es  mir  natürlich  nicht  im  Traume  eingefaUen  ist, 
zu  bezweifeln,  wie  die  Analyse  der  intellectnellen  und  ästheti- 
schen Gefühle  auf  jeder  Seite  bekundet,  dass  diese  Gefühle 
bereits  die  Bildung  von  Vorstellungen  voraussetzen.  Um  die 
specielleren  Ausführungen  der  einzelnen  Analysen,  ja  überhaupt 
um  Bau  und  Anlage  des  ganzen  Werkes  scheint  Herr  Prof.  W. 
sich  nicht  viel  gekümmert  zu  haben,  sonst  könnte  er  schwer- 
lich auf  dea  Gedanken  verfallen  sein,  dass  ich  die  Forderung, 
alle  höheren  Gefühle  als  Combini^onen  und  Complicationen  der 
einfachsten  sinnlichen  Gefühle  aufzufassen,  nur  aufgestellt  habe, 
um  die  Theorie  von  der  Priorität  der  Gefühle  zu  stützen, 
während  mir  jene  Forderung,  die  von  dieser  Theorie  begriff- 
lich und  sachlich  ganz  unabhängig  ist  (denn  man  könnte  die 
umgekehrte  oder  eine  ganz  andere  Theorie  für  richtig  halten 
und  doch  die  höheren  Gefühle  als  Complicationen  der  niederen 
auffassen),  eine  einfache  Consequenz  der  physiologischen  Grund- 
lage ist,  wovon  später  noch  mehr;  sonst  hätte  er  wohl  ferner 
nicht  übersehen  können-,  wie  die  Analyse  jedes  einzelnen  Ge- 
fühls in  erster  Reihe  sich  auf  der  voraussetzungslosen  Ermitt- 
lung und  Prüfung  der  Thatsachen  aufbaut  und  er  hätte  mir 
und  vor  Allem  sich  selbst  den  höchst  ungerechten  Vorwurf 
erspart,  als  käme  es  mir  darauf  an^  unbequemen  Thatsachen 
und  Schwierigkeiten  aus  dem  Wege  zu  gehen.  Dies  ist  in  der 
That  ein  höchst  ungerechter  Vorwurf ;  denn  in  Wahrheit  mache 
ich   aus   den  jener  Theorie   entgegenstehenden  Schwierigkeiten 

Vierteljahrsschrift  f.  irissenscliaftl.  Philosophie.  III.  8.  21 


S'22  A.  HoTwicz: 

nirgend  ein  Hehl,  habe  nelmebr  bei  jeder  Gelegenheit  anf  'die- 
selben ausdrücklich  und  wiederholt  aufmerksafiD  f^emacbt,  z.  B. 
in  dei*  Analyse  des  Denkens  S.  77-^79,  99,  132  n.  s.  f.  Diese 
Schwierigkeiten,  die  in  der'  That  beträchtliefa  sind^  werden  uns 
im  letzten  Absehnitt  dieser  Abfatodlung  noch  besehiftigen. 


U. 

Die  Verwarnung,  welche  Herr  Prof.  W.  als  Physiologe 
für  nöthig  erachtet«  mir  mit  den  Worten:  ^jUeberhaupt  kann 
^^icb  nicht  umhin,  den  weitgehenden  Gebraocb  bedenküch  zu 
„finden,  den  sich  H.  von  physiologischen  Hypothesen  zu  machen 
„gestattet,^*  zu  ertheilen,  würde  auf  mich  einen  tieferen  Ein- 
druck gemacht  haben,  wenn  nicht  schon  vorher  durch  die  er- 
wähnten philosophischen  Angriffe  des  Herrn  Prof.  mein  Ver- 
trauen in  die  wissenschaftliche  Unbefangenheit  seines  UrtheUs 
über  mich  und  mein  Werk  etwas  erschüttert  gewesen  wäre. 
Indessen  prüfen  wir  mit  nichte  desto  geringerer  Sorgfalt  die 
Berechtigung  derselben.  Welches  ist  zunächst  die  unmittelbare 
Veranlassung,  welche  den  Herrn  Prof.  W.  bewegt,  dieses  phy- 
siologische Desa^Su  zu  verhängen? 

,,Um  dieser  Behauptung  (dass  die  Gefühle  immer  den  Vor- 
stellungen voraneilten,  wa«  mir,  wie  erwähnt,  nicht  eintallt  zu 
behaupten)  Nichts  zu  vergeben,  zieht  es  H.  z.  B.  vor,  zur  Er- 
klärung des  rhythmischen  Gefühls  hypothetische  Nervenfibra- 
tionen  zu  erfinden,  die  unmittelbar  gefühlt  werden,  sollen,  nur 
um  dem  Zugeständniss  auszuweichen,  dass  das  rhythmische 
Gefühl  an  ein  gewisses  Zeitverhältniss  der  Vorstellungen  ge- 
bunden ist.     Hiedurch  könnte  ja  der  Schein  entstehen ^* 

Sehen  wir  von  der  wirkhch  erstaunlichen  Verdächtigung  ab,  so 
ist  die  ganze  Bemerkung  wieder  so  unzutreffend,  als  sie  nur 
sein  kann.  Um  einer  Behauptung  Nichts  zu  vergeben,  die  ich 
niemals  gemacht  habe,  soll  ich  Etwas  erfinden,  was  mir  nie- 
mals eingefallen  ist,  damit  ich  einem  Zugeständniss  entgehe  und 
einen  Schein  vermeide^  die    ich  beide  bereitwilligst  auf  mich 


Das  Verhältniss  der  Geföhid  zu  den  Vorsteilungeu  etc.     323 

nehme.  Das  ist  der  Kern  dieses  \vahrhaft  vernichtenden  Luft- 
hiebes.    Was  l^re  uDd  was  behaupte  ich  nun  wirklich? 

In  der  Analyse  des  Denkens,  Ug.  14  „Zeit  und  Raum^ 
S.  129«~^148  wird  zunächst  im  Anschluss  an  frühere  Unter- 
sucbangen  der  Ursprung  der  Zeit-  und  Raum  Vorstellung 
«rörtert.  Dass  dies  zu  den  schwierigsten  Untersuchungen  im 
ganzen  Bereich  unsrer  Wissenschaft  gehört^  wird  wohl  Jeder, 
der  über  diese  Materie  nachgedacht  hat,  zugeben.  Aber  auch 
Jeder,  der  nicht  geborener  Nativist  ist,  wird  mir  darin  bei- 
stimmen, dass  weder  die  Zeit-,  noch  die  Raumvorstellung  ein 
ursprüngliches  Besitzthum  der  menschlichen  oder  irgend  einer 
uns  bekannten  Seele  sein  kann.  Auf  dem  Wege  der  analyti- 
schen Zerlegung  dieses  Entwicklungsproduetes  komme  ich  nun 
2U  dem  dort  als  wahrscheinlich  bezeichneten  Resultat,  dass  in 
dem  langen  und  complicirten  Entwicklungsgange  als  dessen 
Product  wir  die  raumzeitliche  Anschauung  zu  betrachten  haben, 
die  Zeitrhythmen  wohl  die  früheste  Phase  bilden  mögen 
<PsychoL  Anal.  II  1.  S.  140).  Das  Zeitbewusstsein  beruht 
darauf  und  besteht  darin,  dass  mehrere  Empßndungsreihen 
nebeneinander  herlaufen  und  untereinander  und  an  einer  haupt- 
sachlich bevorzugten  verglichen  und  gemessen  werden  (a.  a.  0. 
S.  183).  Im  Einklänge  hiemit,  aber  auf  völlig  von  jenem  un- 
abhängigem inductivem  Wege  untersuche  ich  in  der  Anal.  d. 
Gefühle  den  genetischen  Zusammenhang  zwischen  der  Zeit- 
vorsteliuDg  und  dem  Rhythmus.  Diese  Untersuchung  ist  eine 
der  leichtesten  und  sie  führt  zu  dem  ganz  unzweifelhaften  Re- 
sultate, dass  zwar  die  Zeitvorstellung  schon  einen  gewissen 
Orad  von  höherer  psychischer  Entwicklung  voraussetzt,  dass 
dagegen  das  Wöhlgefühl  am  Rhythmus  zu  den  elemen- 
tarsten am  tieften  in  unsrer  Natur  wurzelnden  Bildungen  ge- 
hört, dass  dieses  Gefühl  weit  davon  entfernt,  in  der  Vorstellung 
der  Zeit  s^ne  Erklärung  zu  finden,  vielmehr  ganz  dazu  an- 
gethan  erscheint,  seinerseits  die  Vorstellung  und  Messung  der 
Zeit  zu  eriilären. 

Wo  hier  eine  Schwierigkeit  stecken  soll,  vermag  ich  beim 
besten  Willen  nicht  einzusehen.     Die  Thatsache,  dass  das  Kind 

21* 


324  A.  Horwicz: 

wenige  Tage  nach  der  Geburt,  lange,  lange  bevor  von  irgend 
welcher  Zeilvorslellung  bei  ihm  die  Rede  sein  kann,  sich  für 
den  Rhythmus  empfänglich  zeigt,  durch  rhythmische  Töne  und 
Bewegungen  (Wiegen)  beschwichtigt  und  erheitert  wird,  ist  so 
evident  und  so  concludent,  dass  die  einzige  Schwierigkeit  wohl 
höchstens  darin  gesucht  werden  könnte,  dass  ein  Mann,  wie 
Wundt,  diese  elementare  Thatsache  nicht  berücksichtigt  und  ihr 
gegenüber  immer  noch  an  der  allen  Lehre  festhält,  dass  der 
Rhythmus  auf  der  leicht  überschaulichen  Verbindung  der  Vor- 
stellungen beruht.  Da  ich  aber  als  Psycholog  und  Philosoph 
darauf  angewiiesen  bin,  meinem  eignen  ürtheil  zu  fblgen,  sa 
kann  trotz  aller  Autorität,  die  der  Philosoph  und  mehr  noch 
der  Physiologe  Wundt  mit  Recht  für  sich  in  Anspruch  nehmen 
kann,  von  einer  eigentlichen  Schwierigkeit  nicht  die  Rede  sein. 

Nicht  also  um  einer  Schwierigkeit  zu  entgehen  oder  einem 
Zugeständniss  auszuweichen,  kann  ich  Etwas  erfinden.  Ja, 
wenn  die  Sache  so  läge,  dass  die  Vorstellungstheorie  etwa  das 
Rhytbmusgefühl  leicht  und  ungezwungen  erklärte.  Aber  daran 
ist  Ja,  wie  erwähnt,  gar  nicht  zu  denken.  Wenn  wir  nach  dem 
Grunde  fragen,  weshalb  der  Rhythmus  Wohlgefallen  erweckt, 
so  leistet  die  Antwort,  weil  er  eine  leicht  überschauliche  Ver- 
bindung der  Vorstellungen  gewährt,  zur  Erklärung  des  Gefühls 
nicht  das  Mindeste.  Dass  ich  mir  Etwas  vorstelle,  kann  doch 
nicht  ein  Grund  dafür  sein ,  dass  mir  das  Vorgestellte  oder 
etwas  Anderes  gefallt. 

Nun  aber  soll  ich,  um  dieser  so  plausibeln  Vorstellungs- 
theorie auszuweichen  und  um  den  Schwierigkeiten  meiner 
eignen  Theorie  abzuhelfen,  ^hypothetische  Nerven- 
fibrationen"  erfinden.  Es  ist  mir  wirklich  nicht  ein- 
gefallen, dergleichen  zu  thun.  Man  höre:  Wie  auch  sonst^ 
weise  ich  auch  in  Bezug  auf  den  Rhythmus  nach,  dass  er 
durch  fliessende  Uebergänge  mit  den  übrigen  Empfindungs- 
arten zusammenhängt.  Was  ich  in  dieser  Hinsicht  anführe, 
sind  nicht  etwa  Hypothesen,  sondern  längst  und  allgemein 
anerkannte  Thatsächen,  ddss  Licht  und  Schall  auf  regelmässi- 
gen Oscillationen  beruhen,  dass   wir  bei  sehr  tiefen  Tönen  die 


Das  Verhältniss  der  GrefUhle  zu  den  Vorstellungen  etc.    325 

einzelnen  Schwingungen  rhythmisch  auffassen,  dass  beim  Zu- 
sammentreffen mehrerer  Wellenzüge  die  rhythmischen  Super- 
Positionen  sich  zu  neuen  Tönen  (Summations-  und  Differenz- 
tönen)  zusammensetzen,  dass  man  einem  Muskel  durch  pe- 
riodische  Reizung  seines  N^ven  ein  schnurrendes  Geräusch 
entlocken  kann:  das  sind  Alles,  wie  gesagt,  lauter  unbesti'eit- 
bare  Thatsachen  und  das  schärfste  Mikroskop  wird  darin  keine 
Faser  von  einer  Hypothese  entdecken.  Jetzt  kommt  allerdings 
eine  Hypothese,  aber  es  ist  eine  starke  Entstellung  der  Wahr- 
heit, dass  ich  ^^hypothetische  Nervenfibrationen  erfinde".  Es 
fällt  mir  nicht  ein,  hier  oder  sonst  wo  Etwas  zu  erfinden,  son- 
dern ich  halte  mich  hier  wie  überall  gewissenhaft  und  sorg- 
sam an  den  Thatbestand  und  physiologischen  Befund.  Dass 
bei  der  rhythmischen  wie  hei  jeder  anderen  Empfindung  so- 
wohl der  äussere  Reiz,  als  auch  die  empfindende  Nervenmasse 
in  Schwingungen  begriffen  ist,  das  nimmt  man  doch  ganz  all- 
gemein an.  Meine  besondere  Vermuthung  —  die  ich  nach 
Alledem  nicht  umbin  kann,  für  sehr  wahrscheinlich  zu  halten  — 
besteht  nur  darin,  dass  bei  den  rhythmischen  Empfindungen 
vielleicht  eine  ähnliche  Anordnung  der  Wellenzüge  eintrete,  wie 
wir  sie  bei  den  Summations-  und  Differenztönen  nachweisen 
können.  Das  Hypothetische  liegt  nicht  in  den  Thatsachen,  son- 
dern in  dem  aus  diesen  Thatsachen  gezogenen  Schlüsse.  Diesen 
Schluss  kann  man  glaublich  finden  oder  nicht,  das  bleibt  Je- 
dem unbenommen.  Man  kann^  wenn  man  Gründe  bat^  ihn  an- 
greifen. Aber  man  hat  nicht  das  Recht,  vom  hohen  Katheder 
physiologischer  Autorität  herab,  eine  derartige  Vervverthung  des 
physiologischen  Materials  für  „bedenklich"  zu  erklären.  „Ohne 
Zweifel,*'  sagt  Herr  Prof.  W.  S.  137,  „sind  wir  berechtigt,  uns 
„über  den  Zusammenhang  Rechenschaft  zu  geben,  der  zwischen 
„den  psychologischen  Vorgängen  und  den  physiologischen  Pro- 
„cessen  in  den  körperUchen  Substraten  derselben  stattfindet, 
„aber  von  der  hypothetischen  Annahine  solcher  physiologischen 
„Processe,  die  von  physiologischer  Seite  noch  nicht  nachge- 
„wiesen  sind,  wird  man  doch  nur  einen  sehr  vorsichtigen  Ge- 
„brauch    machen    dürfen."     Damit   bin   ich    durchaus  einver- 


326  A.  Horwic«: 

standen,  nur  möchte  ich  den  Herrn  Professor  bitten,  mir  ein 
einziges  Beispid  ^^der  hypothetischen  Annahme  solcher  physio- 
logischen Processe,  die  bisher  von  physiologischer  Seite  noch 
nicht  nachgewiesen  sind'%  bei  mir  nachzuweisen.  Nicht 
einen  vorsichtigen,  sondern  gar  keinen  Gebrauch  darf  man  sich 
Ton  solchen  Pseudo -  Hypothesen  gestatten,  und  ich  bin  gern 
bereit ,  wo  mir  eine  solche  aufgezeigt  wird ,  sie  ohne  Weitere» 
auszustreichen. 

Was  ich  unter  einer  legalen  Hypothese  verstehe,  habe  ich 
in  meiner  Abhandlung  „Zur  Methodologie  der  Seelenl.**  aus* 
gefQhrt :  „Durch  die  heuristische  Induction  wird  die  Hypothese 
gefunden."  ,;Zunächst  wird  der  vorhandene  Vorrath  von  That- 
sachen,  nachdem  er  soweit  wie  möglich  (durch  Experiment) 
bereichert  worden,  gesammelt,  geprüft,  geordnet.**  —  „Hier 
tritt  das  Verfahren  der  Ausschliessung  ein,  indem  man  fragte 
weicht  Möglichkeiten  im  bestimmten  Falle  vorliegen,  diese 
nach  einander  prüft  und  diejenigen,  gegen  welche  sich  Gründe 
erheben y  ausschliesst.  Diejenigen. Möglichkeiten,  gegen  welche 
sich  keine  logischen  oder  sachlichen  Widersprüche  zeigen,  sind 
als  Hypothesen  wahrscheinlich  gemacht''  Danach  bin  ich  immer 
verfahren;  andere  Hypothesen,  als  solche^  die  sich  aus  dem 
allseitig  erwogenen  vollen  Befunde  der  wissenschaftlichen  That-* 
Sachen  als  die  wahrscheinlichsten  ergeben,  habe  ich  niemals 
aufgestellt. 

Was  insbesondere  die  aufs  physiologische  Gebiet  bezüg- 
lichen Hypothesen  betrifft,  so  spreche  ich  mich  über  deren 
Gebrauch  und  Bedeutung  Psych.  Anal.  I,  S.  288  aus.  Ich 
habe  dort  eine,  wenn  man  will,  recht  problematische  Hypo- 
these —  diejenige  der  „Erinnerungsbahnen  und  Erinnerungs- 
heerde"*  gewagt,  und  sage  in  der  Anmerkung: 

„Wir  erinnern  wiederholt,  dass  es  sich  bei  dem  gegen* 
„wärtigen  Stande  der  Wissenschaft  nur  um  Hypothesen  und 
„denkbare  Möglichkeiten  handeln  kann.  Es  kann  bei  einer  Ma- 
„terie,  bei  welcher  Messer  und  Nadel  so  vollständig  im  Stich 
„lassen,  selbstverständlich  nicht  darauf  ankommen,  zu  sagen, 
„wie   die   Dinge  wirklich   sein   müssen,    was   man  eben  nicht 


Das  Yerbältoiss  der  Gefahle  ^  den  Vorstellungen  etc.     327 

„weiw,  Wohl  aber  muss  es  van  Wichtigkeit  sein,  anzugeben, 
„wie  die  Dinge  nach  Massgabe  der  bisherigen  Ergebnisse  der 
„Physiologie  sein  können.  Wird  die  Physiologie  dereinst 
„gejoauere  oder  dem  oben  Gesagten  widersprechende  Resultate 
^^ergeben»  so  wird  sich  natürlich  die  Hypothese  berichtigen ;  bis 
„dahin  aber  muss  dasjenige,  was  man  als  physiologisch  denk- 
„bare  Möglichkeit  erkannt  hat,  als  allein  sichere  Grundlage  für 
„die  psychologische  Analyse  beibehalten  werden,  denn  nur  das- 
,  jenige,  was  physiologisch  denkbar  ist,  kann  Grundlage  bleiben. 
„Werthlos  und  geradezu  irreführend  aber  ist  nicht  bloss  das 
„physiologischen  Thatsachen  Widersprechende,  sondern  auch 
„das  Vage,  Allgemeine,  wofür  kein  physiologisches  Substrat  er- 
„kennbar  oder  denkbar  isl,  z.  B.  wenn  man  ohne  Weiteres  der 
,ySe6le  ein  Erinnerungsvermögen,  allenfalls  unter  Berufung  auf 
„das  allgemeine  Beharrungsvermögen  beilegt,  ohne  die  Möglich- 
„keit  zu  zeigen,  wie  ein  solches  sich  mit  den  Mitteln,  welche 
„für  psychische  Thätigkeilen  überhaupt  allein  zur  Verfügung 
„stehen,  zu  bethätigen  vermöchte." 

Ich  glaube,  gegen  diese  Grundsätze  wird  Niemand,  er  sei 
Philosoph  oder  Physiologe,  etwas  Begründetes  einzuwenden 
haben ;  und  ich  werde  es  als  eine  heilsame  Verbesserung  meines 
Buches  mit  dankbarer  Freude  begrüssen,  wenn  mir  Jemand 
nachweist,  dass  und  wo  ich  von  diesen  Grundsätzen  abge- 
wichen bin.  Mit  unbestimmten  und  geradezu  unwahren  Ver- 
dächtigungen ist  freilich  Nichts  geschafft. 

Eben  diesen  Grundsätzen,  denen  ich  sowohl  in  der  ganzen 
Anlage  meines  Werkes,  als  auch  in  der  speciellen  Ausführung 
der  einzelnen  Analysen  treulich  gefolgt  bin,  entspricht  auch 
durchaus  diejenige  Stellung  ,  die  ich  von  Hause  aus  zur  Phy- 
siologie eingenommen  und  bis  zur  Stunde  festgehalten  habe. 
Herr  Prof.  W.  scheint  sich  die  Sache  so  zu  denken,  dass  ich 
mich  der  Physiologie  bediene,  wie  der  Advocat  einer  Urkunde, 
d.  h.  als  eines  Mittels,  um  meine  vorgefassten  Meinungen  durch- 
zusetzen. Aber  weit  davon  entfernt,  in  die  Physiologie  hinein- 
zutragen, habe  ich  mich  lediglich  begnügt,  ihre  gesicherten 
Resultate   und  ihre   wahrscheinlichsten  Theorien  zu   adoptiren 


328  A.  Horwicz: 

und  als  Bausteioe   zum  G^bäudo  der  psychischen  Wissenschaft 
zu  verwerthen. 

Insbesondere  sind  es  vier  Theoreme  oder  Betrachtungs- 
weisen, die  ich  der  gründlichen  Beschäftigung  mit  der  Physio- 
logie verdanke,  die  micb  zur  Annabme  der  verrufenen  Theorie 
yon  der  Priorität  der  Gefühle  geführt  haben  und  von  denen 
ich  übereeugt  bin,  dass  sie  Jeden,  der  sie  annimmt,  nothwen- 
dig  zu  denuselben  Ziele  ffihren  müssen,  ausser  wenn  man  sich 
durchaus  darauf  steifl,  auf  halbem  Wege  stehen  zu  bleiben. 
Dies  sind: 

1)  Die  Lehre  von  der  durchgehenden  Correla- 
tjon  zwischen  Leiblichem  und  Seelischem, 
<J.  h.  dass  Beides  einander  sich  genau  entspricht,  jedes  der 
völlig  adaequate  Ausdruck  des  Andern  ist,  -Beide  ein- 
ander wechselseitig  zügkith  bedingen  und  bezwecken. 

2)  Die  Lehre  von  der  Homologie  aller  tHieri- 
sehen  Organismen,  d.h.  die  Lehre  von  der  Gleich- 
artigkeit des  Baues  aller  Tbiere,  dass  die  Organisation 
der  höheren  Thiere  nur  eine  weitere  Entwickelung  des-* 
selben  Planes,  nach  dem  die  niederen  Thiere  gebaut  sind, 
darstellt. 

3)  Die  Lehre  von  der  functionellen  Indifferenz 
der  Nervenfasern  und  Nervenzellen,  d.  h.  die 
Lehre,  dass  bei  den  höheren  Tfaieren  die  verschiedenen 
Leistungen  der  verschiedenen  Nervenfasern-  und  Nerven- 
zellen nicht  auf  verschiedener  Form  und  Mischung,  son- 
dern auf  ihrer  verschiedenen  Verwendung  und  -  Gewöh- 
nung im  Organisnvus  beruht. 

4)  Die  Lehre  von  der  individuellen  Autonomie  der  einzdnen 
den  Organismus  constituirenden  Factoren  (Gellular-Physio- 
logie  und  Pathologie). 

Die$e  vier  Sätze  sind,  soweit  ich  weiss,  für  Jeden,  der  auf 
dem  Boden  der  heutigen  Naturwissenschaften  st^ht,  vöUig 
sdbstverständlich.  Insbesondere  hat  auch  Herr  Prof.  W.  sich 
wiederholt  und  entschieden  zu  denselben  bekannt*  Sobald  man 
aber  mit  ihrer  Anwendung  Ernst  macht,  muss  man  bei  conse-' 


Das  Verhäitniss  der  Geffilile  2u  den  Vorstellungen  etc.     329 

quentem  Denken  zur  Priorität  der  Gefühle  gelangen,  so  sicher 
als  der  emporgeworfene  Stein  die  Mutter  Erde  treffen  muss. 

m. 

Ehe  ich  dies  zum  Schluss  kurz  andeute,  werfen  wir  einen 
Blick  auf  die  Construction  des  Herrn  Gegners.  Allerdings  ist 
das  sicherste  Mittel,  eine  Theorie  zu  bekämpfeti,  das,  eine 
bessere  an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Hat  Herr  Prof.  W.  von 
diesem  Mittel  gegen  mich  Gebrauch  gemacht?  Versucht  hat  er 
es^  aber  ich  glaube  kaum,  dass  er  selbst  bei  diesen  schwankenden 
und  einander  widersprechenden  Bestimmungen  auf  die  Dauer 
sich  befriedigt  fühlen  werde^  geschweige  denn,  dass  er  Andere, 
die  nach  einer  verständlichen  und  einheitlichen  Auffassung  des 
Seelenlebens  streben,  zu  befriedigen  vermöchte. 

Im  Eingange  stellt  Herr  Prof.  W.  neben  die  Herbart'- 
sche  Ansicht,  welche  die  Gefühle  aus  den  Vorstellungen,  neben 
die  von  Fortlage  und  mir  vertretene^  welche  umgekehrt  die 
VorsteUungen  aus  den  Gefühlen  ableite,  und  neben  die  Wolf- 
Kant'sche,  welche  beide  als  selbständige  Vermögen  betrachtet, 
eine  vierte  Auffassung,  die  an  dieser  Stelle  offenbar  die 
eigene  Meinung  des  Verf.  repräsentiren  soll:  „es  ist  diejenige^ 
„die  zwischen  der  Annahme  eines  Primates  des  einen  oder  an- 
„dem  Bestandtheils  der  inneren  Wahrnehmung  und  der  Zu- 
^^assung  mehrerer  gleich,  selbständiger  Functionen  gewisser- 
„massen  in  der  Mitte  steht,  indem  sie  Vorstellung  und  Gefühl 
„als  die  einander  coordinirten  Theilerscheinungen  eines  und 
„desselben  inneren  Vorganges  auffksst,  wobei  Alles,  was  wir  als 
Aifect,  Trieb,  Begehren,  Wollen  bezeichnen,  wiederum  als 
Theilerscheinung  oder  specielle  Gestaltung  des  Gefühls  ange- 
„sehen  wird''  (S.  131).  Diese  Ansicht  wird  als  die  natürhche, 
sich  auf  die  unmittelbare  Auffassung  der  Tbatsacheu  des  Be- 
wusstseins  stützende  bezeichnet  und  es  wird  zu  ihrem  Lobe 
besonders  hervorgehoben^  dass  sie  sich  auf  „Deutungen  und 
Hypothesen^*  nicht  einlässt  und  dass  sie  als  die  natürliche  „vor 
jeder  psychologischen  Untersuchung  sich  uns  auf- 
drängt'^ (doch  nicht  gar  als  „vorgefasste  Meinung'*?? 


»1 


380  A.  Horwic«: 

ich  mussgestehen,  dasfi  mir  eine  Mmung^  die,  sieb  vor  jeder 
psycho!.  Uatersuchui^,  alao  \or  Fe&UteUung  der  Terminologie 
—  wir  werden  ^mßh  an  einem  flagranten  Beispiel  sehen,  wie 
unentbehrlich  dieselbe  —  und  vor  aller  Prüfung,  Sichtung  und 
Ordnung  der  Thatsacben  aufdrangt ^  nicht  den  mindesten  Re- 
speet  einflösst). 

Also  Gefühl  und  Vorstellung .  hätten  wir  als  ooordinirte 
Theilerscheinungen  eines  unbekannten  Dritten  aufzufassen.  Gleich 
darauf  aber  wird  es  als  ein  beachtenswerther  Unterschied  dieser 
Auffassung  bezeichnet,  „dass  sie  Gefühl  und  Vorstellung  nicht 
,^ls  verschiedene  Vorgänge  auffasst,  sondern  als  Be- 
„standtbeile  eines  und  desselben  Proeesses,  dessen  Trennung 
,^ie  nicht  als  eine  wirkliche,  sondern  als  ein  ResuUal  psycho- 
,4ogischer  Abstraclion  betrachtet''.  Dies  ist  einerseits  schon 
nicht  mehr  ganz  concinn;  denn  was  wirkliche  Theilerschei- 
nungen  sind,  das  hat  auch  seine  wirklich  gesonderte  Existenz; 
und  in  der  Tbat  ninnnl  sich  die  Behauptung,  dass  Gefühle  und 
Vorstellungen  nur  in  der  psychologischen  Abstraction  getrennt 
werden  können^  fast  so  aus,  als  wenn  Jemand  behauptete^  die 
verschiedenen  Farben  würden  nur  durch  das  Spectrum  und 
die  Abstraction  getrennt,  in  Wahrheit  machten  sie  zusammen 
das  weisse  Licht  aus.  Diese  Auffassung ,  deren  beide  Theile 
nicht  sonderlich  zusammenstimBien,  ist  in  Bezug  auf  alle  Beide 
höchst  bestreitbar. 

Die  Annahme,  dass  aus  der  ursprünglich  indifferenten  Em- 
pfindung  sich  später  Gefühl  und  Vorstellung  differenziren ,  die 
bereits  in  den  „Vorlesungen  über  die  Menschen*  und  Thier- 
seele^^  II,  S.  5  vorgebracht  war,  habe  ich  bereits  in  den 
Psychol.  AnaL  l,  S.  343  bekämpft  mit  Gründen,  die  Herr 
Prof.  W.  niemals  zu  widerlegen  versucht,  die  er  vielmehr  vor- 
gezogen hat,  zu  ignoriren.  Ich  will  das  dort  Gesagte  hier  nicht 
wiederholen  und  beschränke  mich  auf  die  Bemerkung ,  dass 
die  „innere  Wahrnehmung'S  auf  die  Wundt'  sich  statt  der 
Gründe  so  ofl  beruft,  hievon  nicht  nur  Nichts,  sondern  das 
blanke  Gegenttieil  lehrt,  dass  also  beispielsweise  bei  einem 
Schlage  nicht  etwa  zuerst  ein  indifferentes  Zwitterding  und  als 


Das  Verhältniss  der  Gefüble  za  d«n  Vorstellungen  etc.    331 

dessen  Folge  erst  das  Geflhl  des  Schmerzes  und  die  Vor* 
sU^Uung  des  Schlages,  sotid«ny  dass  hier  zanäcbst  weiter  Nichts 
ds  das  -GefüU  des  Schmentes  empfunden  wird  und  später  sich 
erst  die  Vorstellimg  des  Schlages  emstellt. 

Hiebei  kann  ich  nicht  umhin,  anf  den  sonderbaren  Ge- 
hrauch aufmerksam  zu  machen,  den  Herr  Prof.  W.  Ton  seiner 
^^nneren  Wahrnehmung*'  macht.  Mir,  der  ich  wohl  von  mir 
sagen  darf,  dass  ich  dieses  gefährliche  Argument  niemals  an* 
wende,  ohne  concrete  Thatsachen  anzuführen,  mir 
klaubt  sich  der  Herr  Prof.  den  Einwand  zu  machen,  dass  ich 
das  AUes  mir  und  meinen  Lesern  einbilde.  Gegen  solchen 
Angriff  ist  man  allerdings  geschützt,  wenn  man  gar  keine 
Thatsachen  anführt,  sondern  die  Selbstwahrnehmung 
schlechtweg  als  Trampf  Ass  ins  Gefecht  führt.  Freilich  kann 
es  einem  mit  solcher  Giimml-Elasticum-'Erfahrang  passiren, 
dass  Gefühl  und  VorsteUung  bald  zwei  sind  —  coordinirte 
Theilsphären  —  bald  eins  —  nSmhch  nur  durch  Abstraction 
trennbar,  dass  der  Wille  auf  der  einen  Seite  als  Theilerschei- 
nung  und  besondere  Gestaltung  des  Gefühls,  S.  181,  und  auf 
der  anderen  Seite  als  die  Bedingung  jedes  Gefühls  der  Lust 
und  Unlust,  S.  145  f.  hezeichnet  wird  u.  a*  dgl.  m. 

Uebrigens  besteht  die  zweite  Bedingung,  daas  Gefühl  und 
Vorstellung  nur  durch  die  psychologische  Abstraction  trennbar, 
in  Wirklichkeit  aber  immer  verbunden  sind,  vor  dem  Richterstuhl 
der  inneren  Wahrnehmung  gerade  so  gut  und  so  schlecht,  als 
die  erste.  Erstlich,  wenn  es  zwar  richtig  ist,  dass  jede  Vor* 
Stellung  mit  Gefühl  verbunden  ist,  so  ist  doch  das  Umgekehrte 
entschieden  nicht  richtig,  dass  jedes  Gefühl  von  Vorstellungen 
begleitet  werde.  Im  Gegenlheil,  die  Erfahrung  zeigt  uns  doch 
oft  genug  Gefühle  ohne  VorsteUung,  z.  B.  in  dem  eben  er- 
wähnten Beispid  des  unerwarteten  Schlages.  Zweitens  aber, 
wie  kommt  man  denn  zu  der  ganz  wiUkürlichen  Behauptung, 
dass  die  Trennung  von  Gefühl  und  Vorst^ung  nur  auf  psy- 
chologischer Abstraction  beruhe?  Muss  dodi  Herr  W.  selbst 
zugeben,  dass  schon  die  Sprache  jene  Trennung  angedeutet 
hat    und   ist    doch  Nichts   verbreiteter,   als  die  Kenntniss  des 


332  A.  Horwicz:  * 

GegensaUes  von  Verstand  und  Gefühl  und  der  hohen^  allen  Vor- 
stellungen trotzenden  Selbständigkeit  und  £igenartigkeit  der  Gefühi«^ 

Weiterhin  begegnen  wir  einer  deutlichen  Hinneignng  zum 
Associationismus.  Die  innigere  Beziehung  der  Gefühle  zum 
Selbstbewusstsein  wird  auf  die  Verbindung  der  Vorstellungen 
nach  innerer  Verwandtechaft  und  äusserem  Zusammensein  zu- 
rückgeführt, S.  139.  Diesem  Gedanken  wird  weiter  nachge- 
hangen und  S.  142  geschlossen:  «^I^m^i*  al^o  kommen  wir 
„darauf  zurück,  dass  das  Gefühl  selbst  nicht  in  den  unmittd- 
,7bar  gegenwärtigen  Vorstellungen  oder  ihrem  Verhältniss,  son- 
„^ern  in  der  Rückwirkung  besteht  ^  die  das  Bewusstsein  auf 
„die  Vorstellungen  ausübt  und  die ,  wenn  wir  sie  zergliedern, 
„auf  die  Beziehungen  zurückweist,  in  denen  sich  die  unmittel-^ 
„bar  gegenwärtigen  zu  früheren  Vorstellungen  befinden.!* 

Zu  den  bisherigen  drei  ganz  disparaten  Ansichten  kommt  so-» 
gar  noch  auf  S.  145  eine  vierte  hinzu :  „Aber  die  Bedingung  jedes 
Lust*  und  Unlust-Gefühls  ist  das  Begehren  oder  Wider- 
streben u.  s.  w/*  Welche  Ansichten  vom  Seelenleben  wir*  nun 
schliesslich  zu  adoptiren  haben^  ist  hienach  nicht  klar  und  wird  am 
Schlüsse  noch  unklarer.  Nachdem  Herr  Prof.  W.  den  letzten  Ge- 
danken mehrere  Seilen  hindurch  verfolgt  hat,  schliesst  er  S.  150: 
„So  können  wir  mit  demselben,  wenn  nicht  mit  grösserem  Rechte, 
„wie  man  sonst  den  Willen  aus  dem  Gefühl  sich  entwickeln 
„lässt,  umgekehrt  aus  dem  Willen  die  übrigen  Formen  der  Ge- 
„müthsbewegungen  abzuleiten  versuchen.  Aber  damit  soll  nun 
„keineswegs  einem  Unternehmen  das  Wort  geredet  sein,  welches 
„etwa  auf  einen  Dualismus  von  Vorstellung  und  Wollen  die 
„ganze  Psychologie  gründen  möchte.  Unsere  Auseinander- 
„setzungen  sollten  nur  dieses  erläutern,  dass  es  bei  alleti  jenen 
„Zuständen,  die  wir  als  Fühlen,  Begehren,  Wollen  bezeichnen, 
„nicht  um  ein  thatsächlich  verschiedenes  Geschehen  sich  handelt, 

„sondern  um  Proeesse,  die  durchgängig  zusammenhängen*' 

„So  nöthig  wir  diese  Ausdrücke  haben,  so  sollen  wir  uns  doch 
„durch  ihren  Gebrauch  nicht  verführen  lassen,  zu  vergessen, 
„dass  wir  damit  nur  Begriffe  bezeichnen,  die  wir  selber  ge- 
„bildet  haben." 


Das  Verhältniss  der  Gefiihle  zn  den  Vorstellungen  etc.    333 

Herr  Prof.  W.  wird  bei  unbefangener  Envägung  selbst 
nicht  glauben,  durch  die  Nebeneinandersteliung  so  discrepanter 
Ansichten  die  Frage  nach  dem  Verhältniss  der  psychischen 
Vermögen  und  Processe  ihrer  Lösung  näher  gebracht  zu  haben. 
Besten  Falles  würde  durch  die  Lehre,  dass  die  psychischen 
Vermögen  nur  auf  Abstraction  beruhen ,  aUes  psychische  Ge- 
schehen in  den  Urbrei  eines  neuen  psychologischen  Nomi- 
nalismus veni^'andelt,  den  man  allerdings  nach  Gefallen  hier- 
hin und  dorthin  recken  kann,  von  dem  es  aber  schwer  abzu- 
sehen ist,  wie  man  ihn  seinen  Lesern  als  die  einfache  und 
natürliche  Auffassung  aufzutischen  vermag. 

Ein  nicht  unerheblicher  Theil  der  Schärfe,  mit  welcher 
Herr  Prof.  W.  meine  Theone  bekämpft,  scheint  auf  ein  be- 
griffliches Missverständniss  zurückgeführt  werden  zu  müssen. 
Es  gewinnt  namentlich  nach  einer  Aeusserung  auf  S.  138  immer 
mehr  den  Anschein,  als  verständen  wir  Beide  unter  dem  Wort 
„Gefühl*^  zwei  ganz  verschiedene  Dinge.  „Wer  jene^S  scil^  die 
ursprünglichen,  den  Vorstellungen  und  höheren  Gefühlen  vor- 
autliegenden  —  „Zustände  Gefühle  nennt,  der  hat  eben  die  aus- 
„gebildeten,  durch  psychologische  Abstraction  von  den  Vor- 
„stellungen  geschiedenen  Gefühle  im  Auge  und  überträgt  nun 
„sofort  die  so  angenommene  Priorität  des  Gefühls  auf  alle 
„späteren  Vorgänge.*'  Hier  ist  zunächst  wieder  der  bereits 
oben  gerügte,  durch  zu  geringe  Kenntniss  meines  Buches  ver- 
schuldete Irrthum  zu  beklagen,  als  ob  ich  alle  Gefühle  vor  alle 
Vorstellungen  setze,  was  mir  gar^nicht  einfallt.  Herr  Prof.  W. 
aber  folgert  das,  nach  ihm  muss  ich  diesen  Unsinn  beiiaupten, 
weil  er  unter  Gefühl  eben  dies  versteht;  eine  im  Gegensatz  zur 
Objecl- Vorstellung  empfundene  Veränderung  des  Subjects.  Es 
läuft  das  ungefähr  auf  etwas  Aelinliches,  wie  die  Terminologie 
der  Herbart'schen  Schule  hinaus,  welche  Gefühl  nennt  „alle 
,jene  Zustände,  die  keineswegs  unmittdbares  Product  von  Ner- 
„venreizen,  sondern  vielmehr  Resultat  gleichzdiig  im  Bewnsst- 
„sein  zusammentreffender  Vorstellungen  sind.'*  Vgl.  Nahlowsky, 
GefühUleben  S.  27,  auf  welchen  Schriftsteller  sich  Herr  Prof.  W. 
beruft.    Mir  aber  fallt  es  gar  nicht  ein,   mich  des  Wortes  und 


334  «A.  Hcfcwiez: 

Begauffes  tiC^fiuJ^l^'  in  dtedem  Sinite  izu  bedienea,  ich  liabe 
Psych.  Anal,  I,  S,  151  f.  und  I,  332  meinen  Spraebgebraiich 
in  aUer  Schärfe  und  Deutlichkeit  fixift.  leb  habe  von  Banse 
aus  und  im  gani^en  Verlaufe  meines  Buches  niemals  etwas  An- 
deres unter  Gefühl  verstanden,  als  den  ü^taod  von  Lust  oder 
Unlust.  Aus  ilun  suche  i^h  alle  übrigen  seelische»  Processe 
abzuleiten,  aber  es  fallt  mir  nicht  ein,  diese  Priorität  „auf  alle 
spateren  Vorgänge  zu  tbertragen'^,  also  etwa  intellectuelle  und 
moralische  Gefühle  vor  Vorstellungen  und  den  V^illen  zu  setzen. 
Man  muss  eise  Theorie,  di^  man  bekämpfen  will,  sich  erst 
recht  genau  anseben  und  sie  sich  nicht  erst  willkürlich  zu- 
richten. 

Ob  nun  diese  Theorie  richtig  ist  oder  nicht,  ob  es  mit 
ihrer  Hilfe  gelingt^  alle  Thatsachea  und  Erscbrinungen  des 
Seelenlebens  auf  die  leichteste  und  ungezwungenste  Weise  zu 
erklären,  darüber  lässt  sich  ja  streiten,  und  ich  habe  die  Pa- 
nut^i^ieen  und  Schwierigkeiten  —  namentlich  bei  der  Bildung 
der  räumlichea  Anschauung  -^  ja  selbst  hervorgehoben.  Wem 
meine  Erklärung  noch  zu  schwierig  für  dn  uns  so  einfach 
und  alltäglich  erscheinendes  Ding  wie  die  Seele  vorkommt,  der 
wolle  bedenken,  dass  diese  Einfachheit  nur  scheinbar  und  nur 
das  Resultat  einer  durch  vcdlkommene  Gew&hnung  beherrschten 
ungeheuren  Complication  ist  Wir  kennen  in  der  That  nichts 
Zusammengesetzteres  auf  der  ganzen  Welt,  als  den  Menschen; 
und  wohl  kann  man  auch  in  dieser  Hinsicht  dem  Dichter  bei- 
atimmen: 

„Vieles  Gewaltige  lebt,  doch  Nichts 
Ist  gew^tiger  als  der  Men^ch.^* 

Femer  aber^  wenn  Jemand  eine  einfachere  Theorie  hat, 
als  die  meinige,  so  bitte  ich  ihn  dringend,  sie  mir  zu  zeigen, 
ich  bin  ein  so  grosser  Anhänger  des  simplex  veri  sigillum,  dass 
ich  mich  verpflichte,  sie  mit  Haut  und  Haar  zu  adoptiren,  so- 
bald mir  ihre  grössere  Einfachheit  uiid  Leichtigkeit  in  der  Er- 
klärung aller  Erscheinungen  nachgewiesen  wird«  Aber  man 
habe  die  Güte,  nicht  von  mir  zu  verlangen,  dass  ich  meine 
einheitliche  und,  wenn  auch  mit  manchen  Schwierigkeiten  be- 


Das  Verhältniss  der  G^f^hle  eu  den  Vorstellungen  etc.    335 

haftete,  doch  im  Genzen  mit  dBn  Thatsachen  und  Erscheinungen 
leidlieh  fttimmende  Theorie  aufgebe  zu  Gunsten  von  Construc- 
ikmen,  die  noch  fiel  schwieriger  und  com|^icir(er  sind,  als  die 
m^inige  und  daför  noch  obenein  mit  den  Thatsachen  in  schrof- 
fem Widerspruch  stehen. 

Sicherlich  wird  man  die  Lehre  von  den  drei  Seelenver- 
mögen^  diesen  Nothhafen  der  entmasüeten  Speculation,  Aicht  als 
die  gesaehte  einfache  und  rationelle  Theorie  anpreisen  dürfen. 
Bkn  kann,  wie  Lotze,  Mikrokosmos  I,  S.  198  ff.  erklären, 
dass  es  mit  den  bisherigen  Mittdu  d^r  ZergMederung  nicht 
nH^glich  gewesen  9  die  eine  dieser  Seelenthätigkeiten  ohne  zu- 
rückbleibenden Rest  auf  die  andern  zurückzuführen.  So  hoch 
auch  gerade  ich  die  Autorität  Lotzes  zu  stellen  gewöhnt  bin, 
eines  Mannes,  dem  die  neuere  Psychologie  so  viel  zu  danken 
hat,  so  liegt  doch  nach  der  bekannten  Beweisregel  negatio  pro- 
bari  non  polest  auf  der  Hand,  dass  eine  solche  Unmöglichkeits- 
Erklärung  niemals  eine  definitive,  sondern  stets  nur  eine  thatsäeh- 
liche,  den  derweiligen  Stand  der  Wissenschaft  bezeichnende 
sein  kann  und  ungefähr  so  viel  zu  bedeuten  hat,  als  wenn  ein 
Liebig,  Berzelius  oder  A.  W.  Hoffmann  für  unmöglich  erklärt 
hätte,  die  ehemischen  Elemente  weiter  zu  zerlegen.  Gerade  so 
wenig,  wie  dort  bd  der  Annahme  von  so  und  soviel  Urstoffen, 
oder  wie  in  der  Physik  von  so  und  so  viel  selbständig  nebenein-^ 
ander  thätigen  Kräften^  oder  wie  in  der  Zoologie  und  Botanik 
von  zahllosen,  durch  besondere  Schöpfungsacte  erzeugten  Arten, 
gerade  so  wenig  kann  das  menschliche  Denken  sich  in  der 
Psychologie  bei  einer  unverstandenen  Vielfachheit  unreducir- 
barer  Yeripögen  und  Thätigkeiten  beruhigen.  Dabei  ist  nur 
noch  der  wichtige  Unterschied,  dass  die  Naturwissenschaften  seit 
Langem,  man  kann  sagen  seit  Baco,  nach  festen  sicheren  Me- 
thoden allgemein  anerkannter  thatsächlicher  Forschung  arbeiten, 
während  in  der  Psychologie,  abgesehen  von  jenen  Gebieten,  die 
dem  psychophysischen  Experiment  zugänglich  sind ,  noch  jene 
tastende  Unsicherheit  und  jener  Wirrwarr  schwankender  Mei- 
nungen, wie  sie  von  dem  Mangel  fester  Forschungsmethoden 
unzertrennlich,  sich  oft  genug  geltend  machen. 


336  A.  Horwicz: 

Wenn  dennoch  in  der  so  viel  älteren  und  methoden- 
sichereren  Naturwissenschaft  es  Niemandem  einfallt,  bei  den 
jetzigen  Elementen,  Kräften  und  Arten  als  letzten  Forschungs- 
zielen für  alle  Zeit  stehen  zu  bleiben,  wenn  sogar  das  an  einer 
yiel  entlegeneren  Grenze  proclamirte  „Ignorabimus"  des  be- 
rühmten Entdeckers  der  negativen  Stromschwankung  dem 
Murren  einer  strebelustigen  Opposition  begegnete,  die  ihrem 
Forscherdrange  auch  die  allerfernsten  Bahnen  nicht  yersperren 
lassen  wollte:  so  werden  wir  in  einer  so  jungen^  so  zwar  noch 
überall  unfertigen,  aber  doch  von  frischer  Werdelust  erfüllten 
Wissenschaft,  als  es  die  Psychologie  ist,  uns  auch  von  den 
denkbar  besten  Autoritäten  keine  Schlagbäume  aufrichten  lassen. 

In  der  That  würde  das  Stehenbleiben  bei  irgend  einer 
Form  der  alten  Drei-Yermögenslehre  nicht  bloss  einen  Ver- 
zicht auf  weitere  Fortschritte;  sondern  einen  Rückschritt  hinter 
die  besseren  und  selbst  mit  wichtigen  thatsächlichen  Erfolgen 
gekrönten  Bestrebungen  der  älteren  Psychologie  bedeuten.  Denn 
nicht  nur  ist  durch  Herbart  und  Stiedenroth  die  Abfächerung 
der  Seele  in  grundverschiedene  Vermögen  in .  negativer  Dia- 
lektik vernichtet,  sondern  es  sind  auch  sowohl  von  Herbart  und 
seiner  Schule,  als  auch  von  Beneke  —  ihm  folgend  von  Fort- 
lage, von  Krause;  in  der  HegePschen  Schule  und  sonst  von 
zahlreichen  Forschern  —  worüber  ich  in  den  verschiedenen 
Abschnitten  der  Analysen  mehr  oder  weniger  ausführhche  Nach- 
weisungen gegeben  —  theils  umfassende  Constructionsversuche, 
theils  einzelne  Verbindungen  und  Ueberfuhrungen  der  einen 
Seelenthätigkeit  auf  die  andere  gemacht  worden. 

Es  wäre  nun  wirklich  hübsch  5  wenn  unter  allen  in  der 
Psychologie  vertretenen  Schulen,  Secten  und  Schattirungen  — 
denn  selbst  die  im  Consequenzenziehen  sonst  so  vorsichtigen 
Engländer  haben  in  ihrem  Associationismus  ein  einheitliches 
oberstes  Princip  aufgestellt  —  es  allein  der  deutschen  physio- 
logischen vorbehalten  bhebe,  das  Forschen  nach  der  psychischen 
Einheit  zu  verbieten  oder  in  das  Reich  der  Träume  zu  ver- 
weisen. Denn  die  naturwissenschaftliche  Begründung  und  Ver- 
tiefung der  psychologischen  Analyse  erscheint  nicht  etwa  einer 


Das  Verhältniss  der  Gtofoble  eu  den  VorBtelluDgeD  etc.     337 

einheitlicbeo  Lösuog  abgeneigter,  als  andere  Behandlungsweisen, 
sondern  im  Gegentfaeil  recht  eigentlich  dafür  prädestinirt 
Schon  der  blosse  Gedanke,  das  Seelenleben  aus  seiner  organi- 
schen Grundlage  verstehen  au  wollen,  setzt  ja  eine  noch  viel 
weiter  gehende  Einheit,  die  Einheit  von  Geist  und  Natur  vor- 
aus, und  ein  solcher  Satz,  wie  der  von  der  Erhaltung  der 
Energie,  tritt  uns  ja  gleichsam  als  greifbarer  Bdrge  einer  ir- 
gendwie beschaffenen  nothwendigen  Einheit  vor  die  Augen. 

Werfen  wir  von  hier  aus  einen  Blick  auf  die  am  Schlüsse 
des  vorigen  Abschnittes  erwähnten  vier  Theoreme,  so  ist: 

1.  Die  Lehre  von  der  durchgehenden  Correla- 
tion  des  Leiblichen  und  Geistigen,  die  unmittelbare 
Anwendung  des  Satzes  von  der  Erhaltung  der  Energie^  und  sie 
erfordert  zu  ihrer  Durchführung  die  Zurückführung  alles  Seeli- 
schen auf  ein  einfaches  Element. 

2.  Die  Lehre  von  der  Homologie  aller  thieri- 
schen  Organismen,  d.h.  diejenige,  die  zum  Studium  der 
vergleichenden  Anatomie  und  Physiologie  und  Embryologie 
überhaupt  Entwickelungsgeschichte  treibt,  nöthigt  zu  der  An- 
nahme, dass  dasjenige,  was  das  letzte  einfachste  Element  des 
menschlichen  Seelenlebens  bilden  soll,  schliesslich  kein  anderes 
sein  kann,  als  dasjenige,  welches  sich  in  den  einfachsten  Thier- 
formen  nachweisen  lässt 

3.  Die  Lehre  von  der  functionellen  Indifferenz 
der  Nervenfasern  und  Nervenzellen  führt  unmittelbar 
und  ganz  unabweislich  zu  der  Consequenz,  dass  die  höheren  psy- 
chischen Leistungen  aus  den  niederen,  durch  Complication  und 
Combination  sich  gerade  so  zusammensetzen  müssen,  wie  die 
Centralorgane,  als  deren  Leistung  sie  anzusehen  sind,  sich  aus 
Fasern  und  Zellen  zusammensetzen. 

4  Endlich  die  Lehre  von  der  individuellen  Auto- 
nomie und  Gleichartigkeit  der  den  Organismus 
constituirenden  Factoren,  eine  Lehre,  deren  sämmtliche 
Consequenzen  wir  weitaus  noch  nicht  zu  übersehen  vermögen, 
nöthigt  in  Verbindung  mit  den  übrigen  zu  der  Annahme  des 
einen  und  gleichen  Ursprunges  und  Entwickelungsganges  für 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    III.  8.  22 


338  A.  Horwicz: 

alle  seelisohen  Qualitäten.  Eine  specielle  Anwendung  dieses 
Theorems  auf  die  verschiedenen  Empfindungsarten  fuhrt  zu 
der  wichtigen  Lehre  von  der  Homologie  der  Sinnesempfin- 
dungen  und  Gemeingefühle. 

Und  wenn  wir  uns  von  dieser  streng  naturwissenschaft- 
lichen, die  Resultate  zahlreicher  Detailforschungen  zwar  hoch 
generaUsirenden ,  die  Grenzen  einer  besonnenen  thatsächlichen 
Induction  ahei*  nicht  verlassenden  Betrachtungsweise  zu  den 
vorhandenen  psychologischen  Theorien  zurückwenden^  um  zu 
prüfen,  welche  von  ihnen  den  genannten  Erfordernissen  am 
Besten  entspreche,  dann  können  wir  uns  allerdings  bei  der 
Annahme  einer  Mehrheit  grundverschiedener  Vermögen  nicht 
beruhigen,  ebenso  wenig  aber  oder  noch  viel  weniger  bei  der 
hypothetischen  Annahme  eines  den  drei  Vermögen  vorauf- 
liegenden Primitivzustandes,  für  dessen  Existenz  keine  einzige 
Thatsache  beigebracht  werden  kann.  Trotz  der  grossen  Ver- 
dienste im  Einzelnen,  welche  Herbart  und  viele  seiner  Schüler 
um  unsere  Wissenschaft  sich  erworben  haben,  gilt  ihre  Ge- 
sammtconstruction  der  seelischen  Processe  heute  wohl  ziemlich 
allgemein  für  unmöglich;  namentlich  ihre  Zurückführung  der 
Gefühle  und  Begehrungen  auf  Verhältnisse  der  Reproduction 
und  dann  wieder  ihre  Erklärung  dieser  letzteren  ist  als  völlig 
unhaltbar  ausser  von  vielen  Anderen  auch  von  mir  wiederholt 
nachgewiesen  worden.  Der  englische  Associationismus,  mit 
dem  ich  mich  bisher  allerdings  noch  nicht  auseinandergesetzt 
habe,  leidet  an  denselben  Unmöglichkeiten,  wie  die  Herbart'sche 
Lehre.  Aus  der  blossen  Verbindung  der  Vorstellungen  lassen 
sich  einmal  Gefühl  und  Begehren  nicht  ableiten  und  es  lassen 
sich,  wie  ich  an  betrefi'ender  Stelle  nachgewiesen  zu  haben 
glaube,  aus  ihr  noch  nicht  einmal  die  Gesetze  der  Verbindung 
der  Vorstellungen  begründen.  Beneke's  und  Fortlage's  Con- 
structionen  wird  Niemand  für  eine  natürliche  und  ungezwungene 
Erklärung  der  psychischen  Thatsachen  und  Erscheinungen  aus- 
geben wollen  und  ebenso  wenig  wird  man  sich  heute  bei 
Schopenhauer's  Bestimmungen  beruhigen  können,  über  welche 
letzteren  Autoren  ich  mich  auf  die  bezüglichen  Auseinander- 
setzungen in  den  Analysen  beziehen  kann. 


Das  Verhältniss  der  Gefühle  zu  den  Vorstellungea  etc.    339 

Wenn  alle  diese  Ansichten,  als  mit  den  psychischen  That- 
Sachen  und  Erscheinungen  in  Widerspruch  stehend,  offenbar 
unbe^iedigt  lassen,  so  bleibt  doch  wirklich,  falls  man  auf  eine 
einheitliche  Auffassung  des  Seelenlebens  nicht  gänzlich  Verzicht 
leisten  will,  keine  andere  übrig,  als  diejenige,  welche  alle 
anderen  seelischen  Processe  auf  die  Gefühle  der  Lust  und  Un- 
lust zurückzuführen  sucht.  Diese  darf  in  der  That  mit  Recht 
auf  das  Prädicat  der  Einfachheit  und  NatürUchkeit  Anspruch 
machen,  insofern,  als  die  Gefühle  offenbar  das  Erste  sind,  was 
der  Mensch  an  psychischem  Besitz  mit  auf  die  Welt  bringt, 
was  ihn  die  Kindheit  hindurch  mit  voller  Macht  beherrscht  und 
mit  abnehmender  Lebenskraft  langsam  erkaltet  und  dem  gegen- 
über der  Intellect  langsam  von  minimalen  Anfängen  an  all- 
mälig  sich  Stück  für  Stück  mühsam  seinen  Boden  erringen 
muss.  Dass  die  gegenständliche  Vorstellung  nichts  Ursprüng- 
liches ist,  darin  stimmen  ohne  Ausnahme  Alle  überein,  die 
sich  heutzutage  um  Psychologie  bekümmern,  und  das  drängt 
sich  uns  in  der  That  bei  der  Analyse  der  Vorstellungen  bei 
dem  ersten  Blick  unter  die  Oberfläche  sofort  auf.  Die  Ansicht, 
dass  der  Wille  das  Gefühl  bedinge,  die  neuerdings,  wohl  im 
Anschluss  an  Schopenhauer,  der  aus  unserer  Mitte  so  früh  ab- 
gerufene C.  Goering  vertrat,  kann  in  dieser  Allgemeinheit  nicht 
aufrecht  erhalten  werden,  ohne  sofort  zu  der  pessimistischen 
Gonsequenz  des  grundlosen  Willens  zu  führen.  Abgesehen 
hievon,  da  wir  von  der  Einfachheit  und  Natürlichkeit  sprechen, 
welche  Ansicht  von  Beiden  erscheint  einfacher  und  natürlicher, 
dass  man  einen  Zustand,  weil  er  angenehm  ist,  festzuhalten 
und,  weil  er  unangenehm  ist,  los  zu  werden  strebt,  oder  die  um- 
gekehrte^ dass  wir  einen  Zustand  angenehm  finden,  weil  wir 
finden,  dass  wir  ihn  erstreben,  und  unangenehm,  weil  wir  fühlen, 
dass  wir  ihn  meiden?    Hier  kann  wohl  kein  Zweifel  obwalten. 

Wenn  von  der  Natürlichkeit  die  Rede  ist,  so  kommt  das 
Verhältniss  zur  Naturwissenschaft  entscheidend  in  Betracht; 
und  da  dürfen  wir  wohl  zuversichtlich  behaupten,  dass  mit  den 
aufgeführten  naturwissenschaftUchen  Anforderungen  keine  an- 
dere  psychische   Gotistruction  im   Entferntesten  so  gut   über- 

22* 


340  A.  Horwicz: 

einstimmt,  als  diejenige  der  Priorität  des  Gefühls.  Sobald  wir 
die  Entwickelungsgeschichte  in  Betracht  ziehen ;  so  kann  es 
wohl  keinem  begründeten  Zweifel  unterliegen,  dass  Lust  und 
Unlust  die  früheste,  noch  aiif  den  niedersten  Stufen  der  Thier- 
weit  nachweisbare  Empfindungsform  sei  und  nichts  Anderes. 
Herr  Prof.  W.  will  zwar  auch  hier  schon  Willen  und  Vor- 
stellungen finden.  Er  sagt  S.  147 :  „Bei  den  niedersten  thie- 
^frischen  Wesen,  bei  denen  wir  nur  eben  das  Vorhandensein 
„von  Sinnesfunctionen  nachweisen  können,  treten  uns  auch 
„schon  Bewegungen  entgegen,  die  uns  als  willkürliche  er- 
„scheinen,  ja  bekanntlich  schliessen  wir  auf  den  untersten 
„Stufen  des  Thierreichs,  wo  sich  Sinnesorgane  noch  nicht  diife- 
„renzirt  haben,  nur  aus  den  willkürlichen  Bewegungen  auf  die 
„Existenz  sinnlicher  Vorstellungen.^'  Aber  das  heisst  eben 
„willkürlich  schhessen'^  Der  Physiologe  kann  aus  einer  Be- 
wegung zunächst  überhaupt  weiter  Nichts  schliessen^  als  dass 
sensible  Nerven  bzhtl.  Sarkode  gereizt  wurde.  Um  eine  Be- 
wegung als  eine  „willkürliche*^  anzusprechen,  dazu  sind  schon 
längere  Beobachtungen  und  zusammengesetztere  Schlüsse  er- 
forderlich. Wenn  wir  auf  die  allerfrühesten  Anfange  psychi- 
scher Entwickelung  zurückgehen  wollen,  dann  haben  wir  es 
natürlich  weder  mit  willkürhchen  Bewegungen,  noch  mit  irgend 
welchen  Vorstellungen  zu  thun.  Was  empfindet  der  sprüch- 
wörtUche  Wurm,  wenn  er  getreten  wird  und  sich  krümmt? 
Etwa  die  Vorstellung  „Tritt**  und  den  Willen  „das  leid^  ich 
nicht**?  Offenbar  empfindet  er  weiter  Nichts,  als  Schmerz,  und 
er  krümmt  sich,  weil  er  nicht  anders  kann,  weil  der  in  seinen 
Geweben  gesetzte  Reiz  die  Muskelfasern  contrahirt.  Ebenso, 
wenn  die  Monere  in  dem  sie  umgebenden  Medium  entweder 
assimilirbare  Substanz  findet,  oder  Mangel  leidet,  dann  em- 
pfindet sie  zuverlässig  nichts  Anderes,  als  was  das  Neugeborene, 
das  zuerst  die  nährende  Mutterbrust  mit  den  reflectorisch 
saugenden  Lippen  erfasst,  Lust  in  dem  einen,  Unlust  in  dem 
anderen  Falle. 

Ueberhaupt  was   physiologisch   der  früheste  Zustand    der 
Dinge  ist,  das  kann  ja  gar  nicht  zweifelhaft  sein :  Ein  Reiz,  der 


X 


Das  YerhältnisB  der  Gefühle  zu  den  Vorstellungen  etc.    341 

an  das  eine  Ende  eines  sensibeln  Nerven  tritt ,  denselben  in 
Erregung  versetzt  und  die  Erregung  desselben  auf  diejenigen 
Gewebe y  die 'mit  ihm  in  leitender  Verbindung  stehen,  über- 
trägt. Der  Reiz  ist  angenehm  oder  unangenehm,  wäre  er 
gleichgiltig,  so  wäre  er  eben  kein  Reiz.  Von  diesem  frühesten 
Process  der  Reflexbewegung  bis  aufwärts  zu  den  höchsten 
Leistungen  des  psychischen  Organismus  besteht  eine  lange  Kette 
innig  zusammenhängender  und  durch  fliessende  Uebergänge 
verbundener  Zwischenglieder.  Lust  und  Unlust,  Schmerz  und 
Wohlsein  finden  wir  auf  allen  Stufen  dieser  langen  und  reich- 
gegliederten Kette,  und  in  jeder  Phase  zeigt  sich  dieser  Factor 
als  der  machtvollste  und  die  übrigen  Erscheinungen  beherr- 
schende. Es  kann  wohl  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die 
Ansicht,  welche  in  diesem  am  frühesten  erscheinenden  und  den 
ganzen  Entwickelungsgang  in  besonders  machtvoller  W^ise  be- 
gleitenden Factor,  dem  Gefühl  in  Verbindung  mit  der  unmittel- 
bar aus  ihm  folgenden  Bewegung,  das  letzte,  einfachste,  in  allen 
Formen  und  Processen  als  Grundtypus  wiederkehrende  Seelen- 
element gefunden  zu  haben  glaubt,  an  Einfachheit  und 
Natürlichkeit  es  getrost  mit  jeder  anderen  Ansicht  vom 
Seelenleben  aufnehmen,  ja  sogar  einen  erheblichen  Vorrang  be- 
anspruchen darf. 

Der  Streit  ist,  wie  einer  der  ältesten  Meister  der  löblichen 
Philosophenzunft  bemerkt  hat,  der  Vater  der  Dinge.  Hofi'ent- 
lich  wird  auch  dieser  Streit  sich  als  ein  fruchtbarer  erweisen. 
Mir,  glaube  ich,  wird  keiner  meiner  Leser  den  Vorwurf  ma- 
chen, dass  ich  meine  Ansicht,  die  ich  freilich  für  die  richtige 
halten  muss,  dem  Publikum  in  aufdringlicher  Weise  als  aliein 
richtige  anpreise.  Vielmehr  habe  ich  nie  verhehlt,  dass  ich  sie 
betrachte  als  einen  neuen  Versuch  der  Lösung  eines  ebenso 
schwierigen  als  wichtigen  Problems,  in  Betreif  dessen  —  ad- 
huc  sub  judice  lis  est. 

Magdeburg.  .  A.  Horwicz. 


344  W.  Wandt: 

wirft  mir  vor,  ich  hätte  die  Behauptung,  dass  der  Thätigkeit 
des  Nachdenkens  ein  Gefühl  vorangebe,  zuerst  geleugnet  und 
dann  im  nämlichen  Satze  selbst  zugegeben^  indem  ich  sagte, 
man  merke  von  der  supponirten  Fragestellung  erst  dann  etwas, 
wenn  die  appercipirten  Vorstellungen  zu  Gegenständen  des  Nach- 
denkens gemacht  werden.  Ich  hätte  mich  vielleicht  deutlicher 
ausdrücken  können:  nicht  im  Verlauf  des  Denkens  als  solchem, 
meinte  ich,  bemerken  wir  die  Fragestellung,  sondern  dann 
etwa  können  wir  dieselbe  in  das  innerlich  Wahrgenommene 
hineininterpretiren ,  wenn  wir  über  den  Verlauf  des  Denkens 
Reflexionen  anstellen,  indem  wir  uns  fragen,  wie  er  zu  Stande 
komme.  Das  ,,quod  erat  demonstrandum^*  ist  also  hier  nicht 
am  Platze.  Sodann  glaubt  Herr  Horwicz,  ich  schreibe  ihm  die 
Meinung  zu,  die  höheren  (intellectuellen,  ästhetischen^  sittlichen) 
Gefühle  giengen  den  einzelnen  Vorstellungen  voraus,  aus 
denen  sich  die  VorsteUungsmassen,  an  die  sie  geknüpft  sind, 
zusammensetzen,  so  als  wenn  die  ganze  Reihe  der  Gefühle  von 
den  einfachsten  sinnlichen  an  bis  zu  den  verwickeltsten  ethi- 
schen und  ästhetischen  fertig  sein  müsste,  ehe  unser  Bewusst- 
sein  anfienge  überhaupt  Vorstellungen  zu  appercipiren.  Es  ist 
mir  niemals  beigefallen,  ihm  eine  so  sonderbare  Meinung  zu- 
zuschreiben; vielmehr  bitte  ich  den  Ausdruck,  „sie  eilten  den 
Vorstellungen,  an  die  sie  geknüpft  sind,  voraus'^  genau 
in  seinem  wörtlichen  Sinne  zu  nehmen.  Die  ästhetische 
Wirkung,  welche  die  Sixlinische  Madonna  auf  mich  macht,  ist 
weder  an  die  Farbe  ihres  Mantels,  noch  an  die  Engel  zu  ihren 
Füssen,  noch  auch  an  die  Madonna  allein  gebunden,  sondern 
an  die  Gesammtheit  der  Vorstellungen,  aus  denen  das  Bild  sich 
zusammensetzt. 

Die  Frage  nun,  auf  welche  es  mir  bei  der  Beurtheilung  der 
Ansicht  des  Herrn  Horwicz  zunächst  anzukommen  scheint,  ist 
die,  ob  wir  in  derselben  eine  Aussage  über  unmittelbar  ge- 
gebene Thatsachen  der  inneren  Erfahrung  oder  aber  eine 
Hypothese  vor  uns  haben,  die  dazu  bestimmt  ist,  den  Zu- 
sammenhang gewisser  Thatsachen  zu  erklären.  Herr  Horwicz 
selbst  hat  sich  darüber  nicht  ganz  bestimmt  ausgedrückt    Er 


Psychologische  Thatsachen  und  Hypothesen.  345 

bezeichnet  die  Lehre  von  der  Priorität  der  Gefühle  bald  ab 
eine  Theorie,  —  worunter  wir  doch  nur  eine  auf  die  That- 
sachen angewandte  und  durch  sie  legah'sirte  Hypothese  ver* 
stehen,  —  bald  erklärt  er,  das  Vorangehen  der  Gefühle  sei  eine 
Thatsache,  an  der  in  allen  einzelnen  Fällen  nicht  gezweifelt 
werden  könne.    Prüfen  wir  daher: 

1)  Ist  die  Priorität  der  Gefühle  eine  thatsäch- 
liche  Wahrheit?  Ich  kann  nicht  anerkennen,  dass  die 
Beispiele,  die  Herr  Horwicz  auch  in  seiner  neuesten  Abhand- 
lung wieder  beibringt,  Beweiskraft  besitzen.  Wenn  Jemand 
einen  Schlag  ins  Gesicht  erhält,  so  soll  er  sich  zuerst  eines  un- 
angenehmen Gefühls  und  dann  der  Vorstellung  des  Schlages 
bewusst  werden.  Ich  halte  es  für  möglich,  dass  von  dem,  was 
bei  einem  derartigen  Vorgang  in  unser  Bewusstsein  eintritt, 
zuerst  dasjenige,  was  wir  Gefühl  nennen,  deutlicher  appercipirt 
wird;  ich  sehe  aber  keinen  zwingenden  Grund,  warum  dies 
immer  der  FaD  sein  sollte,  und  die  innere  Wahrnehmung 
scheint  mir  dieser  Annahme  einer  ausnahmslosen  Priorität 
selbst  in  derartigen  —  offenbar  für  die  Lehre  besonders  gün- 
stigen Fällen  —  zu  widersprechen.  Wenn  nun  verschiedene 
psycholo*gische  Beobachter  über  eine  so  einfache  Frage  uneins 
sein  können,  beweist  dies  freilich  in  betrübender  Weise,  ein 
wie  vieldeutiges  und  unzuverlässiges  Ding  die  innere  Wahr- 
nehmung ist,  aber  es  beweist  auch,  dass  die  von  Herrn  Hor- 
wicz verfochtene  Behauptung  nicht  die  Gewissheit  einer  That- 
sache besitzt. 

Dass  bei  der  Aufmerksamkeit  sowohl  wie  bei  der  Repro- 
duction  der  Vorstellungen  das  Interesse  und  demzufolge  auch 
das  Gefühl  eine  Rolle  spielt,  leugne  ich  nicht.  Aber  einerseits 
leugne  ich,  dass  das  Gefühl  immer  die  Apperception  und  die  Re- 
production  lenkt,  indem  mir  unter  bestimmten  Bedingungen, 
namentlich  bei  den  Verbindungen  des  logischen  Denkens,  viel- 
mehr der  Wille  von  entscheidendem  Einfiluss  zu  sein  scheint 
Anderseits  leugne  ich,  dass  eine  Trennung  von  Gefühl  und 
Vorstellung  in  der  Weise,  wie  es  in  den  „psychologischen 
Analysen^*   geschieht,    sich  durchführen  lasse,   da   das  Gefühl 


346  W.  Wundt« 

ebensosehr  von  dem  Inhalt  der  Vorstellungen  wie  von  der 
augenbhcklichen  Disposition  des  Bewusstseins  abzuhängen  scheint. 
Als  eine  unmittelbare  Thatsache  der  inneren  Walu'nehmung 
wird  demnach  die  Behauptung  der  Priorität  des  Gefühls  nicht 
betrachtet  werden  können,  sondern  höchstens  als  eine  Hypo- 
these, welche  die  Prüfung  zu  bestehen  hat,  inwiefern  sich  die 
Thatsachen  aus  ihr  erklären  lassen. 

Nun  habe  ich  ferner  bemerkt,  dass  zur  Durchführung 
dieser  Hypothese  nebenbei  noch  Hülfshypothesen  erforderlich 
sind  und  in  dieser  Beziehung  auf  das  rhythmische  Gefühl  hin- 
gewiesen, dessen  Entstehung  offenbar  das  ßewusstseiii  einer 
Aufeinanderfolge  der  Vorstellungen  voraussetzt.  An  ein  ent- 
wickeltes Zeitbewusstsein  braucht  man  hierbei,  wie  ich  glaube, 
nicht  zu  denken.  Warum  man  die  Fähigkeit,  eine  neue  Vor- 
stellung auf  eine  vorangegangene  ähnliche  zu  beziehen,  dem 
Kind  in  einer  frühen  Lebenszeit  absprechen  solle,  dazu  sehe  ich 
keinen  entscheidenden  Grund  vorliegen.  Herr  Horwicz  zieht 
statt  dessen  vor,  physiologische  Processe,  nämlich  eine  beson- 
dere Art  von  Nervenfibrationen  anzunehmen,  welche  die  rhyth- 
mischen Eindrücke  begleiten  und  unmittelbar  das  Gefühl  er- 
regen sollen.  Er  beschwert  sich  über  den  von  inir  ge- 
brauchten Ausdruck,  wonach  er  „hypothetische  Nervenfibrationen 
erfunden"  habe;  Schwingungsvorgänge  in  den  Nerven  seien 
allgemein  von  den  Physiologen  angenommen.  Aber  davon,  dass 
man  bei  den  einzelnen  Tonempfindungen  Schwingungen  in  den 
Nerven  voraussetzt,  ist  hierbei  nicht  die  Rede.  Die  in  Wirk- 
lichkeit neue  Annahme  ist  die,  dass  der  Rhythmus  auf  einer 
besonderen  Anordnung  von  Wellenzügen  in  den  Nerven  be- 
ruhe, auf  einer  Superposition  von  Schwingungen,  „ähnlich  wie 
bei  den  Differenz-  und  Summationstönen''.  Hier  ist  mir  die 
Beziehung  auf  die  Combinationstöne  ganz  unverständlich.  Bei 
ihnen  erfolgt  schon  in  der  äusseren  Luft  eine  Superposition 
gleichzeitig  zusammentreffender  Schallwellen.  Die  Com- 
binationstöne sind  daher  objective  Töne  und  werden  nicht 
anders  als  wie  alle  objecliven  Töne  von  uns  empfunden.  Die 
Hypothese  des  Herrn  Horwicz  scheint  mir  aber,  wenn  ich  ihn 


Psychologische  Thatsachen  und  Hypothesen.  347 

recht  verstehe,  darauf  hinauszulaufen^  dass  in  den  Nerven  eine 
Superposition  successiver  Schwingungen  stattfinde,  die  sich 
dann  zu  einer  neuen  Schwingungsforra^  welche  dem  Rhythmus 
entspreche,  zusammensetzen  sollen.  Dies  sind  in  der  That 
vollkommen  hypothetische  Nervenfibrationen,  die  nur  von  Herrn 
Horwicz  zum  Zweck  seiner  physiologischen  Erklärung  erfunden 
sind,  und  für  die  uns  auf  physiologischem  Gebiet  jeder  An- 
haltspunkt, ja  jede  Analogie  fehlt. 

Als  thatsächlich  erwiesen  kann  demnach  die  Lehre  des 
Herrn  Horwicz  keineswegs  gelten.  Der  inneren  Wahrnehmung 
lassen  sich  anscheinend  ebensowohl  Instanzen  für  wie  gegen 
dieselbe  entnehmen^  und  in  einzelnen  Fällen,  wie  z.  B.  beim 
rhythmischen  Gefühl,  bedarf  sie  zu  ihrer  Durchführung  höchst 
unwahrscheinlicher  physiologischer  Hülfshypothesen.  Prüfen 
wir  daher: 

2)  Ist  die  Lehre  von  der  Priorität  der  Gefühle 
eine  nützliche  Hypothese?  Wir  bedürfen  in  der  Wissen- 
schaft bekanntlich  auch  der  Hypothesen.  Zunächst  ist  es  uns 
um  die  Thatsachen  zu  thun;  aber  um  die  Thatsachen  in  einen 
Zusammenhang  zu  bringen,  ist  die  Hypothese  unerlässlich.  Die 
Deduction  der  Thatsachen  aus  der  zu  Grunde  gelegten  Hypo- 
these ist  sodann  die  Aufgabe  der  Theorie.  In  diesem  Sinne 
könnte  nun  die  Lehre  von  der  Priorität  der  Gefühle,  da  sie 
eine  widerspruchslose  Anerkennung  als  Thatsache  nicht  finden 
kann 9  den  Charakter  *einer  Hypothese  besitzen;  die  Unter- 
suchungen des  Herrn  Horwicz  würden  dann  die  Theorie  zu 
dieser  Hypothese  sein.  Ich  sehe  meinerseits  in  einem  der- 
artigen Unternehmen^  auf  eine  Hypothese,  sobald  sie  nur  erst 
zureichend  begründet  ist,  eine  Theorie  zu  bauen,  ein  höchst 
verdienstliches  Werk,  welches  in  den  meisten  Fällen  einer  blossen 
Sammlung  von  Thatsachen  vorzuziehen  ist.  Herr  Horwicz  selbst 
erklärt  aber,  dass  ihn  diese  Absicht  nicht  geleitet  habe;  er  hat 
in  jeder  einzelnen  Untersuchung  unabhängig  die  Ueberzeugung 
von  der  Priorität  des  Gefühls  sich  erworben,  er  hat  also  den 
inductiven  Weg  nicht  zu  verlassen  beabsichtigt,  und  jene  Ueber- 


348  W,  Wundt: 

Zeugung  betrachtet  er  als  das  schliessliche  Resultat  seiner  In- 
duction. 

Gleichwohl  glaube  ich  hier  sein  Werk  gegen  sein  eigenes 
Zeugniss  in  Schutz  nehmen  zu  müssen,  indem  ich  nachzu- 
weisen suche,  dass  dasselbe,  obzwar  es  im  Einzelnen  einen 
inductiven  Weg  einzuschlagen  pflegt,  doch  im  Ganzen  den 
Charakter  einer  Theorie  besitzt,  welche  auf  eine  bestimmte 
Hypothese  gegründet  ist  Er  weist  nämlich  auch  in  seiner 
neuesten  Abhandlung  mehrfach  auf  vier  physiologische 
Theoreme  hin,  welche  er  als  die  eigentlichen  Fundamente 
seiner  Lehre  bezeichnet  Aus  diesen  vier  Theoremen  soll  mit 
Nothwendigkeit  die  Forderung  hervorgehen,  dass  alles  Psy- 
chische auf  ein  einfachstes  Element  zurückgeführt  werde, 
welches  einerseits  schon  in  den  einfachsten  Thierformen  nach- 
zuweisen und  anderseits  in  den  Sinnesempfindungen  und  in  den 
Gemeingefühlen  als  ein  gleichartiges  Element  enthalten  sein 
müsse.  Hierdurch  ist  nun  allerdings  über  die  Natur  dieses 
Elementes  noch  nichts  Bestimmtes  ausgesagt;  aber  es  ist  doch 
klar,  dass,  sobald  nun  weiterhin  in  den  Gemeingefühlen  das 
Lust-  und  Unlustgefühl  als  das  charakteristische  Element  ge- 
funden ist,  über  jenes  gemeinsame  Element  psychischer  Ent- 
wickelung  kein  Zweifel  mehr  obwalten  kann.  Insofern  darf 
man  also  wohl  sagen:  die  Lehre  von  der  Priorität  des  Gefühls 
ist  eine  wesentlich  aus  physiologischen  Theoremen  deducirte 
Hypothese,  auf  welcher  dann  die  psychologische  Theorie  auf- 
gebaut wird.  Gegen  dieses  Verfahren  wäre  nichts  einzuwenden, 
wenn  die  Deduction  der  Hypothese  als  eine  gelungene  be- 
zeichnet werden  könnte.  Selbst  dass  es  eine  andere  Wissen- 
schaft ist,  welche  zum  grossen  Theil  die  Prämissen  hergiebt, 
stände  an  und  für  sich  nicht  im  Wege.  Die  theoretische  Na- 
tionalökonomie z.  B.  gewinnt  bekanntlich  einen  grossen  Theil 
ihrer  Erklärungen,  indem  sie  Voraussetzungen  der  praktischen 
Psychologie  ihren  Deductionen  zu  Grunde  legt.  Ich  kann  nun 
aber  durchaus  nicht  finden,  dass  aus  den  vier  Theoremen,  welche 
Herr  Horwicz  anführt,  dasjenige  folgt,  was  er  daraus  ableitet,  und 


Psychologische  Thatsachen  und  Hypothesen.  349* 

ich  will  versuchen   dies  nachzuweisen,  indem  ich  sie  einzeln 
durchgehe. . 

1)  Die  Lehre  von  der  durchgehenden  Corre- 
lation  des  Leiblichen  und  Geistigen  sei  die  unmittel- 
bare Anwendung  des  Satzes  von  der  Erhaltung  der  Energie, 
und  sie  erfordere  zu  ihrer  Durchfuhrung  die  Zuruckführung 
alles  Seelischen  auf  ein  einfaches  Element.  Hierauf  erwiedere 
ich^  dass  erstens  jene  Lehre  von  der  Correlation  durchaua 
keine  unmittelbare  Anwendung  des  Satzes  von  der  Erhaltung 
der  Energie  ist,  und  dass,  wenn  sie  dies  wäre,  dadurch  die 
Zuruckführung  des  Seehschen  auf  ein  einfaches  Element  nicht 
nothwendig  gefordert  würde.  Jene  Correlation,  d.  h.  eine 
fortwährende  Beziehung  geistiger  auf  körperiiche  Vorgänge, 
könnte  auch  stattfinden,  wenn  gelegentlich  Energie  entstehen 
oder  verschwinden  sollte.  Ferner  aber  folgt  aus  dem  Satz  von 
der  Energie  und  dem  von  der  Correlation  zusammengenommen 
nicht  im  mindesten  ^  dass  alles  Psychische  auf  ein  einfaches 
Element  zurückzuführen  sei.  Beide  Sätze  könnten  bestehen, 
wenn  verschiedenen  Formen  der  Energie  ganz  verschiedene 
psychische  Elemente  entsprächen.  Auch  wenn  die  sehr  ver* 
breitete  physikaUsche  Voraussetzung,  die  ich  gleichfalls  für  eine 
wahrscheinliche  halte,  sich  bestätigen  sollte,  dass  die  verschie- 
denen Formen  der  Energie  auf  eine  gemeinsame  Grundform 
zurückführbar  seien^  so  würde  daraus  jener  psychologische  Satz^ 
nicht  folgen.  Denn  so  gut  Ton  und  Licht,  obgleich  sie  als 
physikalische  Bewegungsvorgänge  verwandt  sind,  doch  von  un& 
verschieden  empfunden  werden,  ebenso  gut  könnten  den  ver- 
schiedenen Formen  der  einen  Bewegungsenergie  ganz  ver- 
schiedene psychische  Elemente  entsprechen,  ohne  dass  der  Satz 
durchgängiger  Correlation  verletzt  wäre.  Nicht  physikalische 
und  physiologische  Gesetze  veranlassen  uns,  die  psychologischen 
Thatsachen  so  viel  als  mögUch  auf  einfache  und  überein- 
stimmende Elemente  zurückzuführen,  sondern  wir  werden  da- 
bei zunächst  durch  den  jeder  Wissenschaft  innewohnenden 
Einheitstrieb   und   dann  dadurch  geleitet,  dass  es  in  einer  ge- 


350  W.  Wundt: 

wissen  Zahl  von  Fällen  in  der  That  gelungen   ist,   complexere 
Erscheinungen  aus  einfacheren  Elementen  abzuleiten. 

2)  Die  Lehre  von  der  Homologie  aller  thieri- 
sehen  Organismen  nöthige  uns  zu  der  Annahme,  dass  das 
letzte  einfache  Element  des  menschlichen  Seelenlebens  überein- 
stimmend sei  mit  demjenigen,  welches  sich  in  den  einfachsten 
Tliierformen  nachweisen  lasse.  Ich  habe  gegen  diesen  Satz 
nur  einzuwenden,  dass  ich  seine  umgekehrte  Formulirung  vor- 
ziehen würde:  die  einfachsten  Elemente,  die  sich  im  mensch- 
lichen Bewusstsein  nachweisen  lassen,  sind  mit  Wahrscheinlich- 
keit bei  den  einfachsten  Thierformen  vorauszusetzen.  Wir 
schliessen  bei  den  Thieren  aus  den  Bewegungsreactionen,  die 
sie  auf  äussere  Eindrucke  erkennen  lassen,  auf  die  psycholo- 
gischen Vorgänge  in  ihnen,  aber  doch  nur  deshalb,  weil  wir 
bei  ähnlichen  Bewegungen  bestimmte  psychologische  Vorgänge 
in  uns  selber  finden.  Bei  der  Frage  nach  der  Natur  der 
letzteren,  und  demnach  auch  bei  der  Frage,  was  der  elemen- 
tarste psychologische  Vorgang  sei,  sind  wir  ganz  auf  uns  selbst 
angewiesen.  Zugleich  muss  ich  trotz  des  Widerspruchs  des 
Herrn  Horwicz  an  meiner  Behauptung  festhalten,  dass  die  will- 
kürliche Bewegung  das  einzige  Merkmal  sei,  aus  welchem  wir 
bei  niederen  Thieren  auf  psychische  Eigenschaften  schliessen ; 
jede  andere  Bewegung  lässt  sich  von  mechanischen  Reflexen 
oder  von  Reizbewegungen,  wie  sie  an  vielen  Pflanzentheilen 
vorkommen,  nicht  mit  Sicherheit  unterscheiden.  Ich  glaube, 
dass  ich  mich  mit  dieser  Behauptung  durchaus  im  Einklang 
befinde  mit  allen  Forschern,  die  jemals  das  Grenzgebiet  zwischen 
Pflanzen-  und  Thierreich  zum  Gegenstande  ihrer  Untersuchung 
gemacht  haben. 

3)  Die  Lehre  von  der  functio n eilen  Indifferenz 
der  Nervenfasern  und  Nervenzellen  führe  zu  der 
Consequenz,  dass  die  höheren  psychischen  Leistungen  aus  den 
niederen  gerade  so  durch  Complication  und  Combination  sich 
zusammensetzen  wie  die  Centralorgane,  als  deren  Leistung  sie 
anzusehen  sind,  sich  aus  Fasern  und  Zellen  zusammensetzen. 
Zunächst   ist,   wie   ich  glaube,   in   dieser  Schlussfolgerung  die 


Psychologische  Thatsachen  und  Hypothesen.  351 

anatomische  in  eine  pphysiologische  Parallele  zu  verwandeln  und 
das  Wort  „zusammensetzen"  mit  „entwickeln*'  zu  vertauschen. 
Die  höheren  psychischen  Leistungen  entwickeln  sich  aus  den 
niederen,  wie  die  Gesammtleistungen  der  Centralorgane  aus  den 
Leistungen  ihrer  Elemente  sich  entwickeln.  Sodann  ist  aber 
dieser  Satz  nicht  eine  Folgerung  aus  der  functionellen  In- 
differenz, sondern  aus  der  Correlation.  Aus  der  Indifferenz 
würde  weiterhin  folgen  —  und  dies  scheint  in  der  That  die 
wirkliche  Meinung  des  Herrn  Horwicz  zu  sein,  —  dass  alle 
psychischen  Leistungen  aus  elementaren  Processen 
gleicher  Art  sich  zusammensetzen.  In  dieser  Form  aus- 
gedrückt, d.  h.  auf  die  entwickelten  Leistungen  des  Central- 
organs  und  auf  die  entwickelten  Functionen  des  Bewusstseins 
angewandt,  ist  aber  der  Satz  physiologisch  und  psychologisch 
nicht  haltbar,  und  zwar  deshalb,  weil  die  functionelle  Indiffe- 
renz nicht  bezogen  werden  kann  auf  die  bleibenden  Eigen- 
schaften der  Nervenapparate,  sondern  nur  auf  ihre  ursprüng- 
liche Beschaffenheit^).  Eine  vollständige  Gleichartigkeit  der 
Processe  in  den  Elementen  des  entwickelten  Nervensystems  ist 
deshalb  unannehmbar,  weil  die  verschiedenen  Elemente  wesent- 
lich verschiedenen  Bedingungen  äusserer  Reizerregung  und 
wechselseitiger  Verbindung  ausgesetzt  sind  und  auf  diese  Weise, 
wie  auch  durch  die  Thatsachen  bezeugt  wird,  verschiedene 
Eigenschaften  annehmen  mussten.  Damit  fällt  auch  die  hierauf 
gebaute  psychologische  Folgerung  bis  auf  die  ganz  allgemeine 
Voraussetzung,  dass  die  elementaren  Vorgänge^  mit  welchen  die 
psychische  Entwickelung  beginnt,  wahrscheinlich  von  gleich- 
artiger Beschaffenheit  sein  werden.  Hieraus  folgt  aber  nicht, 
dass  die  höheren  psychischen  Leistungen  sich  aus  jenen  ele- 
mentaren Functionen  zusammensetzen.  Denn  Zusammensetzung 
und  Entwickelung  sind  durchaus  verschiedene  Begriffe.  Der 
Mensch  z.  B.  entwickelt  sich  aus  den  Furchungszellen  des 
Dotters,  er  ist  aber  nicht  aus  Furchungszellen  zusammengesetzt. 


*)  Ich  darf  wohl  in  dieser  Beziehung  auf  die  Auseinander- 
setzungen auf  S.  351  f.  meiner  physiol.  Psychologie  verweisen. 


352  W.  Wundt: 

• 

4)DieLehre  von  der  individugellen  Autonomie 
und  Gleichartigkeit  der  den  Organismus  consti- 
tuirenden  Factoren  nöthige  zu  der  Annahme  des  einen 
und  gleichartigen  Ursprungs  und  Entwickelungsganges  für  alle 
seelischen  Qualitäten;  eine  specielle  Anwendung  hiervon  sei 
die  Lehre  von  der  Homologie  der  Sinnesempfindungen  und  Ge» 
meingefühle.  Dieses  vierte  Theorem  gehört,  so  weit  es  sich  auf 
den  gleichartigen  Ursprung  bezieht,  eigentlich  unter  3,  da  man, 
wie  wir  sahen,  den  gleichartigen  Ausgangspunkt  als  eiüe  Folge- 
rung aus  der  functionellen  Indifferenz  betrachten  kann.  Bass 
aber  auch  der  Entwickelungsgang  wahrscheinhcher  Weise  ein 
^einer  und  gleichartiger*'  sei,  muss  ich  leugnen,  da  verschie- 
dene Producte  aus  einem  gleichartigen  Ursprung  eben  nur  dann 
hervorgehen  können,  wenn  der  Entwickelungsgang  ein  ver- 
schiedener ist.  Was  die  Sinnesempfindungen  und  Gemein- 
geföhle  betrifft,  so  wird  daher  ihre  Beurtheilung  davon  ab- 
hängen, ob  man  sie  für  elementare  und  unentwickelte  oder 
für  zusammengesetzte  und  entwickelte  psychische  Gebilde  hält 
Da  wir  nun  schwerlich  erwarten  dürfen,  dass  die  einfachsten 
psychischen  Zustände  im  entwickelten  menschlichen  Bewusst- 
sein  noch  anzutreffen  sind,  so  wird  man  wohl  berechtigt  sein, 
sie  für  relativ  einfach,  aber  immerhin  bereits  differenzirt 
nach  verschiedener  Richtung  zu  halten.  Damit  stimmt  in  der 
That  die  gewöhnliche  Ansicht  überein,  nach  welcher  in  der 
Sinnesempfindung  und  in  der  Gemeinempfindung  eine  be- 
stimmte Empfindungsqualität  und  ein  Lust-  oder  Unlustgefühl 
verbunden  sind,  wobei  in  der  ersteren  jene,  in  der  letzteren 
dieses  überwiegt.  Ein  Schluss  auf  die  Priorität  des  Gefühls 
kann  hieraus  in  keiner  Weise  gezogen  werden,  sondern  es 
würde  im  Gegentheil,  wenn  überhaupt  auf  so  unsicherer  Grund- 
lage ein  Schluss  zulässig  wäre,  wohl  eher  gefolgert  werden 
können,  dass  das  Quäle  der  Empfindung  und  das  Lust-  oder 
Unlustgefühl,  die  wii*  in  Sinnesempfindung  und  Gemeingefühl 
als  zu  einem  gewissen  Grade  einseitig  ausgebildet  finden,  in 
den  ursprüngUchen  Elementen  der  psychischen  Entwickelung 
noch  ungetrennt  enthalten  seien. 


\ 


Psychologische  Thatsachen  und  Hypothesen.  353 

Hiernach  kann,  wie  ich  glaube,  der  Lehre  von  der  Priori- 
tät des  Gefühls  auch  der  Charakter  einer  zunächst  aus  physio- 
logischen Sätzen  gefolgerten  Hypothese,  welche  man  zur  Aus- 
bildung einer  psychologischen  Theorie  benutzt  hat,  nicht  zu- 
erkannt werden.  Auch  würde  dem  die  Rolle,  welche  jene 
Lehre  in  den  psychologischen  Einzeluntersuchungen  des  Herrn 
Horwicz  spielt,  widersprechen :  überall  wird  hier  auf  die  Priori- 
tät des  Gefühls  als  auf  eine  Thatsache  der  inneren  Wahr- 
nehmung hingewiesen,  ohne  dass  eine  eigentliche  Erklärung 
der  sonstigen  Thatsachen  des  Bewusstseins  aus  dieser  Annahme 
daran  geknüpft  würde,  wie  denn  überhaupt  die  Analysen  des 
Herrn  Horwicz  nicht  sowohl  den  Chai^akter  einer  Theorie  der 
inneren  Erfahrung  als  denjenigeo  einer  sorgfaltigen  Beschrei- 
bung besitzen.  Darin  besteht  meines  Erachtens  gerade  ihr 
Vorzug.  Eine  Schilderung,  die  in  die  einzelnen  Erscheinungen 
des  inneren  Geschehens  sich  vertiefl,  wird  bei  dem  heutigen 
Stand  unseres  psychologischen  Wissens  durchaus  nur  einen 
descriptiven  Standpunkt  einnehmen  können.  Es  ist,  wie  ich 
glaube^  allein  dies  zu  bedauern,  dass  sich  Herr  Horwicz  bei 
seinen  sorgfaltigen  Beschreibungen  durch  das  Yorurtheil  ypn 
der  Priorität  des  Gefühls  dann  und  wann  den  Blick  hat  trüben 
lassen.  Gerne  aber  erkenne  ich  an^  dass  auch  diesem  einseitigen 
Hervorheben  der  Bedeutung  der  Gefühle  für  das  Seelenleben 
ein  gewisses  Verdienst  zukommt.  Man  hatte  sich;  namentlich 
unter  dem  Einfluss  der  Herbart'schen  Schule,  allzu  sehr  daran 
gewöhnt  y  die  Gefühle  als  blosse  Producte  des  Yorstellungs- 
mechanismus  zu  betrachten.  Es  ist  darum  ganz  angemessen, 
wenn  Jemand  kommt  und  nun  einmal  diese  Anschauung  ganz 
auf  den  Kopf  stellt.  Darum  ist  das  so  gewonnene  Bild  frei- 
lich nicht  minder  einseitig  und  thut  nicht  minder  der  inneren 
Wahrnehmung  Gewalt  an. 

Ich  habe  nachzuweisen  versucht,  dass  die  Lehre  des  Herrn 
Horwicz  weder  eine  nachgewiesene  Thatsache,  noch  eine  legi- 
time wissenschaftliche  Hypothese  ist,  deren  Function  darin  be- 
stände, einen  Zusammenhang  zwischen  den  Thatsachen  her- 
zustellen.    Sie   ist;   wie   ich   glaube,  ein   Mittelding  zwischen 

YierteljahrBschrift  f.  inssenschttfi;!.  Philosophie.  IH.  3.  23 


354  W.  Wundt: 

beiden  and  gehört  dadurch  einer  Classe  von  Sätzen  an,  die  in 
der  gegenwärtigen  Psychologie  noch  eine  ausserordentlich  grosse 
Rolle  spielen^  und  auf  deren  Gefährlichkeit  aufmerksam  zu 
machen  der  Hauptzweck  dieser  Zeilen  ist:  sie  ist  eine  hypo- 
thetische oder  vielmehr  problematische  Thatsache.  In  Ge- 
bieten^ auf  denen  die  Beobachtung  der  Thatsachen  mit  noch 
nicht  überwundenen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen  hat,  wo  über- 
dies legitime  Hypothesen  zur  Erklärung  der  Thatsachen  nur  in 
sehr  geringem  Umfange  möglich  sind,  ist  es  eine  ganz  gewöhn- 
liche Erscheinung,  dass  man,  um  einen  leitenden  Faden  für  die 
Aneinanderreihung  der  Erscheinungen  zu  finden,  diesen  in 
irgend  einer  der  einzelnen  Thatsachen  selbst  zu  gewinnen  sucht, 
welche  man  nun  in  allen  complexen  Erscheinungen  wiederzu- 
entdecken  glaubt.  Ich  erinnere  an  die  älteren  Schulmeinungen 
der  Physiologie,  von  denen  die  eine  in  der  mechanischen 
Wirkung  der  Körpertheile,  eine  andere  in>  dem  Gegensatz  von 
Säure  und  Alkali  in  den  Körpersäften^  eine  dritte  in  der  Irri- 
tabilität das  Vehikel  aller  Lebenserscheinungen  zu  sehen  meinte. 
Derartige  Einheitsbestrebungen^  welche  an  die  Stelle  einer  lei- 
tenden Hypothese  die  unberechtigte  Verallgemeinerung  einer 
Thatsache  setzen,  kommen  selbst  in  den  fortgeschritteneren 
Entwickelungsstadien  der  Wissenschaft  vor,  wie  sollte  die  Psy- 
chologie davon  verschont  bleiben?  Aber  sie  hat  den  Vortheil, 
dass  ihr,  da  sie  spät  kommt,  warnende  Beispiele  aus  der  Ge- 
schichte anderer  Wissenschaften  vor  Augen  stehen,  und  dass 
dem  Psychologen  durch  den  Kreis  seiner  Beschäftigungen  mehr 
als  dem  Forscher  auf  anderen  Gebieten  die  Prüfung  der  Frage 
nahe  gelegt  wird,  was  thatsächlich  gewiss,  was  eine  zur  Er- 
klärung brauchbare  Hypothese ,  und  was  keines  von  beiden^ 
sondern  eine  problematisch  angenommene  Thatsache  sei,  deren 
gleichförmiges  Vorkommen  in  einem  Erfahrungsgebiet  voraus- 
gesetzt wird,  um  eine  äussere  Verbindung  des  Mannigfaltigen 
herzustellen,  ohne  dass  diese  Thatsache  darum  einen  Erklärungs- 
grund des  Geschehens  enthielte. 

Solchen  Bestrebungen  gegenüber,  die  aus  dem  der  wissen- 
schaftlichen Forschung  stets  innewohnenden,  im  gegenwärtigen 


Psychologische  Thatsachen  und  Hypothesen.  3Ö5 

Fall  aber  doch  in  unrichtiger  Weise  sich  äussernden  Einheits* 
bedürfniss  hervorgegangen  sind^  glaubte  ich  nun  die  innige  Ver- 
bindung jener  inneren  Zustande,  die  wir  auf  der  einen  Seite 
als  Vorstellungen,  auf  der  anderen  als  Gefühle,  Begehrungen, 
Willensregungen  bezeichnen,  als  dasjenige  bezeichnen  zu  dürfen, 
was  uns  zunächst  in  unserer  inneren  Wahrnehmung  thatsäch- 
lich  gegeben  ist.  Herr  Horwicz  versichert  zwar,  eine  That- 
Sache,  „die  vor  jeder  psychologischen  Untersuchung  sich  uns 
aufdrängt*',  flösse  ihm  nicht  den  mindesten  Respect  ein.  Ich 
kann  aber  hier  diesen  geringen  Respect  vor  Wahrnehmungen, 
die  der  wissenschaftlichen  „Prüfung,  Sichtung  und  Ordnung" 
vorangehen,  nicht  theilen.  Die  Wissenschaft  hat  zunächst  aus- 
zugehen von  denjenigen  Wahrnehmungen,  die  ihr  zur  Prüfung 
übergeben  werden,  und  sie  hat,  sobald  sie  diese  Wahrnehmungen 
corrigirt,  das  Bedürfniss  und  die  Berechtigung  hierzu  nachzu- 
weisen. Sie  hat  dies  vor  allem  dann  nicht  zu  versäumen, 
wenn,  wie  es  in  der  Psychologie  geschieht,  die  „Sichtung  und 
Ordnung^  der  Thatsachen  so  leioht  die  Gefahr  mit  sich  führt, 
dass  dieselben  aus  ihrer  wirklichen  Ordnung  in  eine  künst- 
liche übergeführt  werden.  Wenn  Herr  Horwicz  auf  das  Trüge- 
rische der  inneren  Wahrnehmung  hinweist,  so  unterschreibe 
ich  dies  vöUig;  ich  mache  ihn  aber  darauf  aufmerksam,  dass 
die  Täuschungen  der  inneren  Wahrnehmung  vor  allem  da  be- 
ginnen, wo  sich  dieselbe  zu  einer  angeblichen  „inneren  Be- 
obachtung" zu  erheben  sucht,  die,  obgleich  sie  gar  keine  an- 
deren Hülfsmittel  zu  verwenden  weiss  als  das  gewöhnliche  Be- 
wusstsein,  doch  mit  ihrer  „Sichtung  und  Ordnung"  oft  ziem- 
lich willkürlich  die  Thatsachen  des  Bewusstseins  zu  gruppiren 
sucht. 

Freilich  bedarf  dieses  gewöhnliche  Bewusstsein  einer  sehr 
scharfen  Controle,  wenn  die  Gefahr  vermieden  werden  soll, 
dass  sich  aus  demselben  irreleitende  Vorstellungen  in  die 
Wissenschaft  einschleichen.  Diese  Controle  besteht  aber  meines 
Erachtens  weniger  darin,  dass  man  den  Thatbestand  der  un- 
mittelbaren Wahrnehmung  „sichtet  und  ordnet",  —  das  hat  in 
nur  allzu   gründlicher  Weise  dereinst  die  Wolff'sche  Psycho- 

23* 


356  W.  Wundt: 

logie  gethan,  —  sondern  vielmehr  darin,  dass  man  ihn  von 
den  gänzlich  irreleitenden  Abstractionsproducten  befreit,  welche 
aus  ihm  die  vorwissenschaftliche  Reflexion  gebildet  hat.  Durch 
jene  natürliche  Abstraction,  welche  Verstand  und  Willen,  Vor- 
stellen und  Fühlen  und  dergl.  als  fest  abgegrenzte  Thatsachen 
der  inneren  Erfahrung  einander  gegenüberstellt,  ist  ebenfaUs 
eine  Sichtung  und  Ordnung  der  letzteren  zu  Stande  gekommen. 
Es  ist  Herbart's  grösstes  Verdienst  um  die  Psychologie,  gezeigt 
zu  haben,  wie  jene  Abstractionsproducte  des  gemeinen  Bewusst- 
seins  in  der  herrschenden  „Theorie  der  Seelenvermögen'*  eine 
die  wirkliche  Untersuchung  hindernde  oberflächliche  Classifica- 
tion der  inneren  Erfahrungen  hervorbrachten. 

Ich  habe  nun  in  meinem  von  Herrn  Horwicz  besprochenen 
Aufsatze  darauf  hingewiesen^  dass  wir,  ebenso  wenig  wie  wir 
heute  noch  Verstand,  Gedächtniss,  Vl^ille  u.  s.  w.  für  geson- 
derte Kräfte  halten,  uns  durch  die  in  den  Bezeichnungen  der 
Sprache  fixirten  Abstractionsproducte  des  gemeinen  Bewusst- 
seins  dürfen  verführen  lassen,  zu  glauben,  das  Vorstellen,  Fühlen 
und  Wollen  seien  vollständig  isolirbare  innere  Vorgänge,  welche 
sich  nur  gelegentlich  mit  einander  verbinden  können.  Ich 
wollte  damit  wahrlich  nicht  sagen,  dass  wir  uns  künftig  diese 
Ausdrücke  versagen  sollen,  um  die  verschiedenen  Richtungen 
unserer  inneren  Wahrnehmung  zu  bezeichnen.  Noch  weniger 
dachte  ich  daran,  jene  Elemente  unserer  inneren  Erfahrung  als 
„coordinirte  Theilerscheinungen  eines  unbekanntenDritten** 
aufzufassen,  wie  Herr  Horwicz  sich  ausdrückt  Ich  wäre  be- 
gierig, von  Herrn  Horwicz  zu  erfahren,  vermöge  welcher  Ideen- 
verbindungen er  dieses  „unbekannte  Dritte**  in  meine  Aus- 
einandersetzungen hineingelesen  hat.  Was  ich  als  thatsäch- 
lichen  Inhalt  des  Bewusstseins  anerkenne,  ist  lediglich  dasjenige 
Vorstellen,  Fühlen  und  Wollen,  das  wir  Alle  anerkennen,  kein 
metaphysisches  „Ding  an  sich**,  an  das  Herr  Horwicz  in  Folge 
einer   unbestimmten   Erinnerung   an  Kantische  Philosophie  zu 

denken  scheint.  Was  ich  aber  leugne,  wenigstens  für  eine  un- 

• 

erweisbare,  in   einzelnen  Fällen  sogar  direct  widerlegbare  Be- 
hauptung  halte,  ist  dies,  dass  Gefühle   durchweg  den   übrigen 


s 


Psychologische  Thatsachen  und  Hypothesen.  357 

psychischen  Processen  vorangehen,  und  dass  demnach  Gefühle 
isolirt  Yorkommen  können  in  unserem  Bewusstsein.  Weiterhin 
bemerkte  ich,  dass  diejenigen  Processe,  die  wir  allgemein  auf  das 
Gefühlsleben  beziehen^  also  das  Fühlen,  Begehren,  Wollen,  in 
Wirklichkeit  nicht  in  der  Sonderung  aufzutreten  pflegen,  wie 
wir  es,  durch  die  Abstractionen  der  Sprache  verführt,  zu 
glauben  geneigt  sind,  sondern  dass  dem  Gefühl  ebensowohl  ein 
Begehren  wie  dem  Wollen  ein  Gefühl  beigesellt  zu  sein  pflegt. 
Eben  darum  gelingt  es  nun  der  psychologischen  Reflexion  ver- 
hältnissmässig  leicht,  einen  dieser  Vorgänge  als  den  ursprüng- 
lichen betrachten  und  die  anderen  aus  ihm  abzuleiten,  entweder 
aus  dem  Gefühl  das  Wollen  oder  aus  dem  Wollen  das  Gefühl. 
Ich  kann  allerdings  für  diese  Bemerkung  nur,  wie  sich  Herr 
Horwicz  ausdrückt,  „die  Selbstwahrnehmung  als  Trumpf  ins 
Gefecht  führen**.  Ich  halte,  wie  ich  mehrfach  ausgeführt  habe, 
die  Selbstwahrnehmung  für  ein  sehr  trügerisches  Werkzeug. 
Gleichwohl  begreife  ich  nicht,  wo  wir  die  fundamentalen  That- 
sachen des  Fühlens,  Begehrens  und  Wollens  und  ihrer  wechsel- 
seitigen Beziehung  anders  hernehmen  sollen  als  aus  der  Selbst- 
wahrnehmung. Auch  Herr  Horwicz  hat  für  seine  eigene  An- 
sicht schliesslich  keine  andere  Instanz  als  die  Selbstwahr- 
nehmung. Er  behauptet  zwar,  dass  sich  jene  Ansicht  auch  aus 
den  vier  oben  besprochenen  physiologischen  Theoremen  ergebe. 
Dass  dieselben  jedoch  einen  solchen  Schluss  nicht  zulassen, 
glaube  ich  gezeigt  zu  haben.  Auch  halte  ich  es  für  nicht  wahr- 
scheinlich, dass  jemals  aus  physiologischen  Sätzen  rein  psycho- 
logische Lehren,  seien  es  nun  Thatsachen  oder  Hypothesen, 
gefolgert  werden  können.  Eher  könnte  auf  diesem  Wege  das- 
jenige entstehen,  was  zwischen  beiden  in  der  Mitte  liegt^  aber 
in  wissenschaftlichen  Untersuchungen  so  viel  als  möglich  ver- 
mieden werden   sollte,  eine  problematische  Thatsache. 

Leipzig.  W.  Wundt. 


358 


Becensionen. 


Lexis,  W.,  Zur  Theorie  der  Massenerscheinungen 
in  der  menschlichen  Gesellschaft.  Freiburg i.Br. 
(Fr.  Wagner'sche  Buchhdlg.)  1877.  (III  u.  95  S.  gr.  8,) 
2  M.  40  Pf. 

Diese  kleine  Schrift  darf  als  eine  vorzügliche  Leistung  der 
methodologischen  Literatur  der  Socialwissenschaft  bezeichnet 
werden.  Sie  behandelt  in  vier  Abschnitten  ,,Die  allgemeine 
Eintheilung  der  Massenerscheinungen^S  ^^Die  Theorie  der  Massen- 
erscheinungen und  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung^^^  „Die  abso- 
luten typischen  Grössen^^  endlich  „Die  typischen  Wahrscheinlich- 
keitsgrössen^^  Nach  Ansicht  des  Eeferenten  enthält  das  kleine 
Buch  das  Beste  und  Ueberzeugendste ,  was  über  f^statistische 
Gesetze^'  und  über  den  Wahrscheinlichkeitswerth  der  grossen 
statistischen  Zahlen  bündig  gesagt  und  nachgewiesen  werden 
kann.  Höchst  belehrend  sind  die  mit  mathematisch  sicherer 
Hand  durchgeführten  Specialuntersuchungen  über  die  einzig 
nachweisbaren  typischen  Massenwerthe  normaler  Dispersion, 
die  des  Normalalters  und  des  Geschlechtsverhältnisses  der  Ge- 
borenen. Den  typischen  stellt  Lexis  die  symptomatischen  Eeihen 
gegenüber.  Die  Grundansicht  des  Verfassers  hierüber  geht 
dahin,  dass  die  menschlichen  Massenerscheinungen  ganz  über- 
wiegend ^^symptomatische  Eeihen^  ergeben,  d.  h.  Eeihen^ 
;,welche  einen  mehr  oder  weniger  veränderlichen  gesell- 
schaftlichen Zustand  durch  gewisse  numerische  Symptome 
charakterisiren'^ 

Zur  Erklärung  dieser  Thatsache  sagt  Lexis  am  Schluss 
(S.  91  f.):  „Man  kann  schon  jetzt  mit  Bestimmtheit  behaupten, 
dass  die  menschlichen  Massen erscheinungen  ganz  überwiegend 
zu  Eeihen  dieser  Art  führen.  Die  Verkettung  der  mensch- 
lichen Dinge  wirkt  ihrer  Natur  nach  meistens  auf  Verände- 
rungen in  einem  bestimmten  Sinne  hin ;  der  Zustand  des  vor- 
hergehenden Jahres  ist  mitbedingend  und  mitbestimmend  für 
den  neuen  Zustand  des  folgenden ,  und  daher  sind  auch  die 
Zahlenverhältnisse ,  welche  die  zeitlich  aufeinanderfolgenden 
Zustände  einer  gewissen  Art  mehr  oder  weniger  charakterisiren. 
Dicht  unabhängig  von  einander  ^  wie  zufällige  Modificationen 
einer  festen  Wahrscheinlichkeitsgrösse^  sondern  jedes  vorher- 
gehende bildet  im  Allgemeinen  den  Ausgang  für  die  Verände- 
rung   des    folgenden Beharrung   ist  im  Leben    der 


RecensioaeD.  359 

Menschheit  nur  die  Ausnahme  ^  die  Eegel  ist  Evolution  in 
aufsteigender  oder  absteigender  Eichtuhg;  die  menschliche 
Gesellschaft  ist  fortwährend  in  Thätigkeit,  um  aus  eigener 
Kraft  und  mit  eigener  Verantwortlichkeit  die  Grundlagen  des 
Zustandes  zu  ändern,  der  übrigens;  auch  wenn  er  bestehen 
bliebe,  für  das  Individuum  nicht  ein  zwingendes  Gesetz, 
sondern  nur  Bedingungen  seines  Handelns  aufstellen 
würde." 

Dieses  Ergebniss  der  Lexis'schen  Untersuchung  ^  welchem 
£.ef^ent  vollständig  beipflichtet,  ist  in  zweifacher  Hinsicht 
besonders  beachtenswerth.  Einmal  wendet  es  sich  gegen  den 
aus  dem  angeblichen  ,,Gesetz  der  grossen  Zahl'^  abgeleiteten 
Schluss  auf  die  blinde  Nothwendigkeit  menschlicher  Hand- 
lungen. Sodann  dämpft  es  die  überschwänglichen  Erwartungen 
jener  social  wissenschaftlichen  Schriftsteller,  welche  eben  noch 
von  der  Statistik  die  Entdeckung  der  „socialen  Gesetze''  er- 
wartet haben.  Der  Hauptwerth  der  Statistik  besteht  nun  auch 
nach  Lezis  in  der  sicheren,  exacten  Aufdeckung  der  Sym- 
ptome des  Ganges  der  socialen  Entwickelung.  Kefe- 
rent  hat  schon  im  I.  Band  seines  Werkes  ,,Bau  und  Leben,  des 
socialen  Eörpers^^  den  so  zu  sagen  evolutions-symptomatischen 
Werth  der  Statistik  in  die  erste  Linie  gestellt  und  freut  sich 
nun  der  Bestätigung  dieser  Auffassung  durch  einen  so  gewiegten 
und  exacten  Statistiker,  wie  Lexis  es  anerkannteimassen  ist. 

Stuttgart.  A.  Schaeffle. 

Spencer,  Herbert,    Die  Principien  der  Sociologie. 
Autorisirte  deutsche  Ausgabe  von  Dr.  B.  Vetter.  1.  Bd. 
(System  der  synthetischen  Philosophie,  6.  Bd.)    Stuttgart, 
Schweizerbart.   1877.    (VH!  u.  570  S.  gr.  8.)    12  M. 
Li  durchaus  zufriedenstellender  Uebersetzung  erscheint  hier 
endlich    der    erste  Theil    der   Spencer'schen  Sociologie.      Die 
„Sociology*'  ist  für  den  Verfasser,  wie  für  A.  Comte,  die  Spitze 
der  wissenschaftlichen  Pyramide,   die  Krönung  eines  natürlich 
au%ebauten  Systems  der  positiven  Disciplinen.     Erst  nachdem 
die  Grundsätze  der  Biologie  ausgearbeitet  und  in  dem  Tabellen- 
werk der  ,^descriptive  sociology^^  die  Materialien  für  eine  »,posi- 
tive''  Socialwissenschaft  aufgestellt  waren,  konnte  der  Verfasser 
„die  Principien  der  Sociologie^'  dem  Publikum  darbieten.    Der 
vorliegende  Bftnd  wurde  so  zum  ersten  Theil  der  letzten  Serie 
von  „Principles",  die  der  positivistische  Philosoph  in  der  Ency- 
clopädie  seiner  Werke  ausarbeitet. 

Spencer  skizzirt  am  Schlüsse  des  Bandes,  was  die  weiteren 


360  Recensionen. 

Bände  der  „Sociology''  bringen  sollen.  Danach  haben  wir  gene- 
tische Erkläning  der  Tatsachen  des  Familienlebens^  des  Staats- 
lebenSy  des  kirchlichen  Lebens,  des  Geremoniells,  der  Productdon, 
der  Sprache,  der  Intelligenz,  der  Sittengesetze,  des  ,,emotio- 
nellen''  Seelenlebens,  der  ästhetischen  Gefühle  zu  erwarten. 
Und  zwar  verspricht  der  Verfasser,  die  Entwickelongsreihen 
aller  dieser  Seiten  des  Gesellschaftslebens  nicht  isolirt  für  sich^ 
sondern  in  ihrer  allseitigen  „Wechselbedingtheit''  nachzuweisen. 
Hiemach  steht  ein  universeller,  vom  Standpunkt  der  Ent- 
wickelungstheorie  entworfener  Grundriss  der  ganzen  ^cial- 
wissenschaft  in  Aussicht.  Wir  heissen  ihn  voraus  willkommen. 
Die  Bruchstücke  einer  Entwickelungsgeschichte  des  Geremoniells, 
welche  der  Verfasser  im  letzten  Jahrgang  des  ^yKosmos'^  zu 
veröffentlichen  begonnen  hat,  lassen  erwarten,  dass  die  in  Aus- 
sicht stehenden  Bände  nach  Form  und  Inhalt  Bedeutendes 
bringen  werden. 

Vorläufig  haben  wir  es  nur  mit  dem  ersten  Bande  zu  thun. 
Hier  untersucht  der  Verfasser,  nachdem  er  kurz  den  „überorgani- 
schen^^  Charakter  der  menschlichen  Gesellschaft  hervorgehoben 
hat,  die  Entwickelungseinflüsse ,  die  den  primitiven  Menschen 
(die  „Einheit''  des  ältesten  Gesellschaftszustandes)  physisch, 
„emotionell"  und  „intellectuell"  beherrscht  haben;  S.  19 — 116 
ist  hierüber  viel  interessantes  Material  in  fesselnder  Form  und 
in  mehrfach  überzeugenden  Schlussfolgerungen  beigebracht. 

Der  übrige  Theil  des  Bandes  ist  der  genetischen  Erklä- 
rung der  „primitiven  Ideen",  genau  genommen  nur  der 
Psychogenese  der  Eeligionsanschauungen  des  Urmenschen 
gewidmet.  Die  erste  Ausbildung  der  religiösen  Seite  des 
menschlichen  Geistes,  das  erste  Stadium  unserer  religiösen  Ver- 
geistigung ist  der  Gegenstand,  welchem  mehr  als  300  Seiten 
spannender  Beweisführung  zugewendet  werden.  Niemand  wird 
diese  Erörterungen,  in  welchen  der  Verfasser  als  Kenner  der 
vergleichenden  Archäologie  und  Ethnographie  sich  den  Tylor, 
Lubbock  und  anderen  Neueren  gewachsen  erweist,  aus  der 
Hand  legen,  ohne  die  vielseitigste  Anregung  erhalten  zu  haben. 
Von  einem  hervorragenden  Geiste  ist  hier  die  religiöse  Psycho- 
genese angefasst,  das  empfindet  wohl  jeder  Leser.  Wir  zweifeln 
freilich,  ob  der  Herr  Verfasser,  auch  nur  die  Hälfte  seiner 
Leser  davon  überzeugen  wird,  dass  das  primitive  Eeligions^ 
leben  ganz  und  gar  —  selbst  die  Pflanzenverehrung  ein- 
geschlossen —  aus  dem  Ahnen  dienst  hervorgegangen  sei,  dass 
„Furcht  vor  den  Todten  als  die  alleinige  Wurzel  der  religiösen 
Gesetze^^  angesehen   werden   müsse,  wie   die   Furcht   vor  den 


Selbstanzeigen.  361 

Lebenden  als  die  alleinige  Wurzel  der  bürgerlichen  Gesetze 
(S.  521).  Dieser  Schluss  ergiebt  sich  unseres  Dafürhaltens  aus 
den  eigenen  Prämissen  der  Spencer'schen  Beweisführung  nicht 
mit  zwingender  Nothwendigkeit^  denn  ans  diesen  geht  blos 
hervor,  dass  die  —  nach  Spencer  aus  den  Erfahrungen  der  Natur- 
metamorphosen,  der  Träume,  Besessenheitszustände  ji.  s.  w. 
hervorgegangene  —  Annahme  von  und  Furcht  vor  guten  und 
bösen  Geistern  (nicht  nothwendig  Ahnengeistern)  als  Wurzel 
des  ältesten  Glaubens  und  Aberglaubens  anzusehen  ist.  Die 
ünumstösslichkeit  dieser  Geistertheorie  selbst  kann  hier  un- 
erörtert  bleiben.  Wir  erwähnen  nur,  dass  die  von  Spencer 
nachgewiesene  Yergötterung  von  Lebenden  ebenfalls  der  aus- 
schliessenden  Zurückführung primitiver Beligion  auf  Ahnen- 
cultuB  entgegensteht. 

Inzwischen  sollen  diese  Bedenken  nicht  weiter  ausgeführt 
werden.  Wir  empfehlen  dem  Leser,  die  Quelle  selbst  aufzu- 
< suchen  und  selbst  zu  urtheilen.  In  §  206  giebt  der  Verfasser 
ein  vollständiges  Besumd  seiner  Untersuchungsergebnisse. 

Stuttgart.  A.  Schaeffle. 


Selltetaiizelgen. 

(Die  nSelbsUaieineii**  schli«Men  «ine  Seoension  dar  betreffmden  Werk»  in  dieser  Zeit- 
schrift nicht  ans.) 

Berg,  H.;  Die  Lust  an  der  Musik.  Nebst  einem  An- 
hang: Die  Lust  an  den  Farben^  den  Formen  und  der 
körperlichen  Schönheit  Berlin,  B.  Behr.  1879.  (58  S. 
kl.  8^)    1  Mk. 

Der  Verfasser  8ucht  die  Lust  an  der  Musik  zu  erklären, 
indem  er  mit  Darwin  annimmt,  dass  die  Letztere  ursprüng- 
lich aus  den  Liebes-  und  Lockrufen  der  anthropoiden  Vorfahren 
des  Menschengeschlechts  hervorgegangen  sei.  Die  weitere 
Entwicklung  der  Musik  leitet  er  aus  dem  Principe  ab,  dass  im 
Allgemeinen  solche  Töne  und  Tonreihen  bevorzugt  wurden, 
welche  dem  Hörnerv  und  auffassenden  Gehör  das  geringste 
Mass  von  Ermüdung  und  Anstrengung  verursachten.  —  In  einem 
Anhange  ist  der  Versuch  gemacht,  den  Ursprung  der  Freude 
an  den  Farben,  gewissen  Formen  und  der  körperlichen  Schön- 
heit nachzuweisen,  hauptsächlich  durch  eine  Verbindung  dar- 
winistischer  und  physiologischer  Lehren. 
Brooher  de  la  Flachere,  H.,  Les  R^volutions  du 
droit,   ätudes  historiques  destinöes  k  faciliter  Tintelli- 


/ 

I 


362  Selbstanzeigen. 

gence  des  institutions  sociales.  Tome  1^' :  Introduction 
philoBophique.  Paris;  Neufchätel  et  Gen&ve,  J.Sandoz 
(en  8%  VI  et  242  pages). 

Par  un  concours  de  circonstances  diverses^  le  droit  a  cess^ 
d'^tre  iine  application  du  sentiment  pcpulaire  pour  prendre  an 
caractere  conventionnel  et  singulier.  Un  tel  i^tat  de  choses 
presente  de  graves  dangers.  Pour  y  remddier  il  faut  des  livres 
conQus  de  mani^re  a  servir  tout  ä  la  fois  de  compl^ment  ä 
r^ucation  du  grand  public  et  de  point  de  d^part  aux  etudes 
speciales  des  jurisconsultes  de  profession.  G'est  pour  atteindre 
ce  but  que  Tauteur  se  propose  de  publier,  en  une  s^rie  d'^tudes 
d^tach^es,  lliistoire  philosophique  des  diverses  institutions 
juridiques.  II  s'attachera  moins  ä  präsenter  des  solutions 
nouvelles  qa^k  r^sumer  les  travaux  des  hommes  sp^ciaux  de 
maniere  ä  mettre  en  ^yidence  les  donn^es  d*intdret  g^neral  et 
pratique  qu'ils  renfennent. 

Le  premier  yolume  expose  la  philosophie  de  l'auteur,  lequel 
se  rattache  a  la  mdthode  expdrimentale  et   ä  l'äcole   de   Her- 
bart.    L'idde  fondamentale  de  ce  yolume  est  la  deünition    da 
principe  d'autorite,   principe   qu'on  a   d^naturd    en    le   faisant 
passer   du  domaine  juridique,  auquel  il  est  destin^,  au  domaine 
religieux.     Quand  on  se  fera  une  id^e  juste  du  principe  d'auto- 
Tii4y  de  sa  nature  et  de  ses  limites,  il  sera  possible  de  r^soudre 
le  Probleme  qui  s^mpose  a  Pdpoque  actuelle,   o'est   ä  dire   de 
concilier  Tordre  mate'riel  et  la  libertä  de  conscience. 
Caspar!,  O.,  Die  Grund  prob  lerne  derErkenntniss- 
thätigkeit  beleuchtet  vom  psychologischen  und  kriti- 
schen Gesichtspunkte.     Als  Einleitung  in  das  Studium 
der  Naturwissenschaften.     2  Bde.   Mit  Holzschn.  Berlin^ 
Th.  Grieben,   1876—79.    (XVIII  u.  251  S.;  XXXH  u. 
364  S.  gr.  8^) 

Es  wird  versucht^  die. sog.  „reine^^  Metaphysik  ebensosehr 
zu  widerlegen  wie  den  Skepticismus.  Die  Methode  und  Be- 
weisführung ist  die  ,,kritische".  Yerf.  zeigt,  wie  sich  dieselbe 
unterscheidet  von  der  metaphysisch-logischen  und  dialektischen 
(der  Fichte,  Schelling,  Hegel)  und  der  ontologisch-mathemati- 
schen  (Descartes  und  Spinoza).  Die  krit.  Methode  der  Unter- 
suchung wurde  angebahnt  durch  Hume  und  Kant.  Der  Verf. 
zeigt,  dass  den  Leitfaden  zu  dieser  Art  von  objectiv  wissensch« 
Beweisführung  ebensowohl  die  Natur  des  Intellects  (des  sog. 
Apriori)  wie  andererseits  die  Thatsachen  der  Erfahrung  (durch 
welche  sich  die  Apriorität  restringirt)  abgeben  müssen.  Um 
aber  der   consequent  krit.   Methode  Baum   zu   schaffen,  wird 


\ 


Selbstanzeigen.  363 

der  reine  und  extretne  Apriorismus  ebenso  wie  der  reine  Em« 
pirismus  beortheilt  und  in's  rechte  Lieht  gesetzt.  £b  wird 
erkennbar  gemacht;  dass  die  Art  wie  Kant  die  Urtheils- 
funotion  als  Grundfunction  des  Intellects  mit  dem  Zeitschema 
in  Beziehung  setzt,  bemerken  lässt ,  dass  er  von  der  sog.  On- 
tologie  und  der  raum-zeitL  Substanzlehre  sich  nicht  losmacht. 
Es  wird  dargethan,  dass  wenn  Kant  in  der  transc.  Analytik  die 
Zeit  schematisch  als  starre  continuirllche  in  sich  identische 
Beihe  und  gerade  Linie^  und  die  Eelation  als  substanziell  feste 
und  ontologische  Ordnung  concipirt,  solche  Bestimmungen  den 
negativen  Instanzen  und  Thatsachen  gegenüber  nicht  empirisch, 
sondern  überempirisch  und  dogmatisch-metaph.  sind  im  Sinne 
der  von  ihm  selbst  widerlegten  Ontologie.  Mit  Hülfe  dieser 
Hindeutungen  wird  gegen  Kant  dargethan,  wie  das  in's  Metaph. 
hinüberspielende  reine  Apriori  die  Vermittlung  mit  Empirie 
und  Thatsachen  einbüsste.  Es  wird  ferner  gezeigt,  wie  Eant's 
Lehre  von  Schematismus  zwar  ein  nothwendiger  und  richtiger 
Gedanke  -war,  der  indessen  bei  dem  rein  apriorischen  Stand- 
punkte nicht  zur  Geltung  kommen  konnte.  Sollte  das  sog. 
transc.  Schema  und  der  Schematismus  überhaupt  daher  nicht 
etwas  Erlogenes  (Fingirtes)  sein,  so  musste  die  Lehre  hierüber 
im  consequent  kritischen  Sinne  corrigirt  und  das  Schema  im 
Hinblick  auf  die  Instanzen  der  ErfSahrung  und  auf  die  Natur  des 
Intellects  (als  Apriori)  richtig  gestellt  werden.  Um  diese  Höhe 
der  Kritik  zu  gewinnen  ist  der  1.  Bd.  der  Untersuchung 
und  Becognoscirung  der  Natur  des  Intellects  gewidmet.  Der 
Leser  findet  hier  die  Frage  behandelt:  ob  das  Bing  an  sich 
als  ein  metaphysisch-ontologisches  Urwesen,  oder  als  die  feste 
Substanz  einer  sog.  reinen  (überempirischen)  Idee,  oder  aber 
nur  als  sog.  regulativer  Grenzbegriff  zu  concipiren  ist,  der  in 
seiner  Anwendung  hinweise  auf  die  Geltendmachung  des  In- 
tellects innerhalb  seiner  normalen  Grenzen.  Der  2.  Bd.  bringt 
das  Problem  der  Causalität  zur  Darstellung.  Die  krit.  Methode 
der  Beweisführung  gewahrt  hier  dem  Leser  einen  Einblick 
über  die  Stellung  und  Principien  der  Parteien  zu  einander 
und  gegenüber  der  Natur  des  Intellects,  als  Grundlage  des 
Erkenn  ens.  . 
Frohsohammer ,  J.^    1.    Die   Phantasie   als    Grund- 

princip    des     Weltprocesses.     München^   Theod. 

Ackermann  1877.     (XXV,  575  S.) 

2.  Monaden  und  Weltphantasie.  München,  Theod. 

Ackermann  1879     (X,  181  S.) 

Es  ist  in  diesen  Werken  der  Versuch  gemacht;  den  Welt- 


364  SellMtaiizeigen. 

process  mit  seinen  äossem  und  inneren  Bildungen,  die  Menschen- 
natnr  mit  eingescbl.,  ans  einem  Grondprincip  zu  erklären,  das 
als  Phantasie  bezeichnet  wird.  Selbstrerständlich  ist  damit 
nicht  die  gemeine  Phantasie  im  gewöhnl.  popul.  Sinne  gemeint, 
sondern  es  will  mit  dieser  Bezeichnung  nur  ansgedrückt  werden, 
dass  man  sich  das  wirkende  immanente  Weltprincip  am  ent- 
sprechendsten dadurch  yerständlich  machen  könne,  wenn  man 
sich  dasselbe  als  synthetische  Macht  denke  nach  Art  der  Ein- 
bildungskraft oder  Phantasie  des  Mensehen.  Dabei  handelt  es 
sich  nicht  darum,  ein  System  a  priori  aus  diesem  Ghrundprincip 
zu  construiren,  sondern  es  wird  von  Erfahrungsthatsachen  aus- 
gegangen und  an  solche  allenthalben  angeknüpft.  Die  „Phan- 
tasie^'  wird  zunächst  als  Qrundpotenz  des  subjectiyen  Geistes 
betrachtet.  Sie  erweist  sich  als  die  Fähigkeit,  das  Aeusserliche 
innerlich  zu  gestalten  und  dadurch  zum  Bewusstsein  und  Yer- 
ständniss  zu  bringen;  hinwiederum  für  Geistiges  innere  Bilder 
zu  schaffen  und  dadurch  dasselbe  zur  Offenbarung  zu  befähigen. 
Von  dieser  Grundfahigkeit  sind  alle  psychischen  oder  geistigen 
Thätigkeiten,  auch  die  höchsten  oder  abstractesten  bedingt  und 
alle  Functionen  des  Geistes,  das  Erkennen,  Wollen  und  selbst 
das  Gefühl  sind  davon  abhängig.  —  Es  wird  dann  der  Nach- 
weis versucht,  dass  diese  synth.  Macht  des  Mensohengeistes, 
deren  teleologisch-plastische  Bethätigung  zugleich  ein  Moment 
der  Freiheit  d.  h.  der  bestimmenden  oder  individuell  und  sub- 
jectiv  normirenden  Macht  den  physikal.  Gesetzen  gegenüber 
kund  gibt  —  nicht  ein  nur  abgeleitetes  Product  sei,  sondern 
einen  principiellen  Charakter  habe  und  auch  als  objectives, 
reales  Princip  aufgefasst  werden  könne.  —  Im  2.  der  drei 
Bücher  des  Werkes  handelt  es  sich  um  den  Nachweis,  dass 
und  wie  das  Organische  und  Lebendige  aus  dem  Zusammen- 
wirken des  Physikalischen  und  der  synthetischen  Macht  der 
(objectiven)  Phantasie  hervorgegangen  —  wodurch  sich  eine 
Verbindung  mit  der  Descendenzlehre  ergibt.  Dabei  handelt  es 
sich  aber  insbesondere  um  die  Genesis  des  Psychischen,  das 
nicht  aus  dem  Stoffe  abgeleitet  wird,  sondern  aus  der  Gesetz- 
mässigkeit oder  dem  objectiven,  realen  Verstände  in  Verbindung 
mit  dem  teleologisch-plastischen  Wirken  der  allgemeinen  G«- 
staltungsmacht.  Es  tritt  zuerst  als  Empfindung  auf  und  als 
dunkles  Bewusstsein,  in  welchem  die  Weltvemunft  sich  selbst 
findet  und  ■  ihr  ideales  Wesen  erfährt  und  woraus  die  übrigen' 
psychischen  Fähigkeiten  sich  entwickeln.  Aus  dem  grossen 
Naturprocess  geht  also  durch  die  objective  Phantasie  das  Seelische 
selbst   hervor   und  zuletzt   auch   der  menschl.  Geist   mit  der 


k 


Selbstanzeigen.  365 

freien  Bubjectiven  Phantasie.  Das  3.  Buch  ist  der  Genesis  des 
letzteren  gewidmet.  Das  allgemeine  Bildungsprincip  erringt 
immer  concretere,  subjectiv  selbständigere  Producte^  in  denen  es 
sich  selbst  potenzirt  und  endlich  concret  und  frei  erscheint 
und  wirken  kann.  Durch  diese  subjectiv  und  frei  gewordene 
Phantasie  ist  nun  die  Bildung  eines  psychischen  Organismus 
über  dem  physischen  möglich ,  der  sich  in  die  Grundvermögen 
des  Geistes  differenzirt:  Erkenntnisskraft,  Wille  und  Gemüth« 
Diese  werden  als  abgeleitete  Fähigkeiten  dargestellt;  daher 
keines  von  ihnen,  nicht  Vernunft,  Verstand^  "Wille  u.  s.  w, 
als  Grundprincip  des  Weltprocesses  betrachtet  werden  kann, 
denn  sie  entstehen  als  subjective  Geisteskräfte  erst  in  diesem 
und  durch  denselben.  So  besteht  die  Genesis  des  subjectiven 
Verstandes  insbesondere  darin,  dassdie  objective  Gesetzmässigkeit 
durch  die  bildende  Phantasie  (als  Generationspotenz)  concrete, 
subjective  Lebendigkeit  erhält;  und  die  Selbständigkeit  des 
Willens  beruht  auf  dem  Moment  der  Freiheit  im  allgemeinen 
Weltprincip.  —  Die  zweite  Schrift  enthält  im  1.  Theile  eine 
kurze  übersichtliche  Darstellung  des  Hauptinhaltes  der  ersten, 
um  das  Verständniss  derselben  zu  erleichtern  und  Missver- 
ständnissen  zu  begegnen;  der  2.  Theil  verfolgt  dasselbe  Ziel 
dadurch,  dass  er  das  Verhältniss  dieser  Welterklärung  durch 
eine  Weltphantasie  zu  der  Monadenhypothese  in  ihren  ver- 
schiedenen Formen  von  Leibniz,  Herbart  u.  s.  w.  bis  zu 
den  Versuchen  neuerer  Naturforscher  darstellt  und  kritisch 
beleuchtet. 

Hohlfeld,  Paul,  Die  Erause'sche  Philosophie  in 
ihrem  geschichtlichen  Zusammenhange  und  in  ihrer  Be- 
deutung für  das  Geistesleben  der  Gegenwart  dargestellt. 
Gekrönte  Preisschrift.  Jena,  H.  Costenoble,  1879.  (XIV 
u.  146  S.  gr.  8«.  —  4  Mk.) 

Der  Verf.  giebt  auf  Grund  16jähriger  Forschung  die 
erste  Darstellung  von  der  allmählichen  Entwickelung  der 
Erause'schen.  Philosophie.  Hierauf  wird  das  Verhältniss  Er. 's 
zu  andern  etwa  gleichzeitigen  Denkern  nachgewiesen.  Wider- 
legt wird  der  Irrthum,  als  ob  Kr.  von  Fichte  oder  von  Schel- 
ling  ausgegangen  wäre ,  oder  eine  Verbindung  der  Lehren  der 
beiden  Philosophen  beabsichtigt  hätte.  Es  wird  vielmehr 
gezeigt,  dass  Kr.  von  Kant  ausgegangen  ist,  dessen  Kategorien- 
lehre er  bereits  als  Knabe  kennen  lernte ,  und  sich  als  Nach- 
folger,  Fortsetzer  und  Vollender  der  Lehre  Kant's  betrachtet 
wissen  will.  Den  Schluss  bilden  Andeutungen  über  die  Be- 
deutung der  „Wesenlehre"  für  die  Gegenwart.  —  Es  sind  nicht 


866  Selbstanzeigen. 

nut  die  mathem.  und  freimaurer.  Druckschriften,  sondern  auch 
die  ausserordentlich  umfangreichen  Handschriften  Er/s  mit- 
benutzt worden.  Der  nächste  Zweck  der  Schrift  ist,  einen 
Beitrag  zur  Geschichte  der  neueren  deutschen  Philosophie  zvl 
liefern,  der  letzte  Zweck  dagegen,  eine  eingehende  Prüfung 
der  Wesenlehre  zu  veranlassen,  von  weicher  bisher  nur  die 
Eechts-  und  Staatslehre  allgemein  anerkannt  ist. 

Janitsch,  JuliuB,  Kants  Urteile  über  Berkeley. 
Ein  Beitrag  zur  Kantphilologie.  iStrassburg  i.  £.,  I.  Ast- 
mann 1879.    (IV  u.  57.  S.) 

Dass  Kants  heftige  Ausfälle  gegen  Berkeley  von  grossem 
Missverständniss  der  Lehre  des  Letzteren  zeugen ,  ist  nichts 
Neues.  Wenn  trotzdem  sogar  die  Worte,  in  die  er  seine 
verkehrte  Ansicht  formulirte,  in  unserer  modernen  philosophi- 
schen Literatur  fort  und  fort  reproducirt  werden,  so  war  es 
nicht  überflüssig,  einmal  den  Quellen  nachzuforschen^  aus 
denen  er  jene  Vorstellung  von  der  Lehre  des  vermeinten  Geg- 
ners hatte  schöpfen  können.  Das  Ergebniss  der  vorliegenden 
kleinen  Schrift  ist  folgendes:  unter  dem  Banne  des  allgemeinen 
Vorurteils  gegen  Berkeley  hatte  sich  Kant  aus  subjectiven 
Nachklängen  aus  der  Zeit  seines  früheren  Kampfes  mit  dem 
Idealismus  und  flüchtiger  Kenntnissnahme  gewisser  sekundärer 
Berichte  ein  Willkürgebilde  geschaffen,  das  er  den  schwärme- 
rischen und  mystischen  Idealismus  B.'s  taufte  und  als  solchen 
bekämpfte.  Eine  Kenntniss  der  B/schen  Schriften  selbst  musste 
dagegen  bei  ihm  in  Abrede  gestellt  werden. 

Kelirba.ch,  K.y  Kritik   der  praktischen  Vernunft  von  Im. 
Kant.    Text  der  Ausgabe  1788  (Ä)  unter  Berücksich- 
tigung der    2.  Ausgabe   1792   (B)   und  der  4.  Ausgabe 
1797  (D).    Leipzig,  Ph.  ßeclam.  XIV,  196  S.  —  40  Pf. 
Die  unbedeutenden  Varianten  der   2.  u.  4.  Ausgabe  (eine 
3.    hat    wahrscheinlich     nicht     existirt)    sind    sämmtlich    an- 
gemerkt.    Die   Veränderungen,   welche   der  Herausgeber   mit 
dem    Originaltext   vorgenommen    hat,    sind    unter    strengster 
Schonung    des    K.'schen    Sprachgebrauchs   erfolgt.     Ein    über- 
sichtliches Verzeichniss  derselben,  sowie  ein  Verzeichniss  über 
orthographische  und  interpunktioneile  ist   in  der   Vorrede  des 
Herausgebers  enthalten.  —  Auf  jeder  Seite  vorliegender  Aus- 
gabe   ist  die    Paginirung    der    übrigen    (5)    Ausgaben    der 
Kritik  der  praktischen  Vernunft  angegeben. 

Eehrbach,  K.,  Kritik  der  reinen  Vernunft  von  Im.  Kant. 
Text  der  Ausgabe  1781  mit  Beifügung  sämmtlicher  Ab- 


\ 


Selbstanzeigen.  367 

weichungen  der  Ausgabe  1787.  Zweite  verbesserte  Auf- 
lage. Leipzig,  Ph.RecTam.  (XXVI,  702  (H)  S.  Kl.  8«.  1  Mk.) 
Ausser  der  Verbesserung  der  Druckfehler,  die  in  einem 
„Druckfehlerverzeichnisse'  in  der  1.  Auflage  angezeigt  werden 
sollten,  enthält  die  vorliegende  Ausgabe  noch  einige  Emenda- 
tionen,  die  namentlich  angeführt  werden  und  so  beschaffen  sind, 
dass  die  Integrität  des  K.'schen  Sprachgebrauchs  völlig  ge- 
wahrt bleibt.  —  Auf  jeder  Seite  vorliegender  Ausgabe  ist  die 
Paginirang  der  übrigen  (7)  Ausgaben  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  angegeben  worden. 

Ledair,  Anton  v.,  Der  Realismus   der  modernen   Natur- 
wifisenschafi:  im  Lichte  der  von  Berkeley  und  Kant  an- 

febahnten  Erkenntnisskritik.  Kritische  Streifzüge.  Prag, 
\  Tempsky.  (gr.  8^,  ca.  15  Bogen.) 
Von  einer  ganz  speciellen  Frage  der  Sinnesphysiologie 
ausgehend  unternimmt  der  Verf.  den  Nachweis,  dass  die  von 
der  modernen  Naturwissenschaft  selbst  anerkannten  principiellen 
Schranken  des  Naturerkennens  nur  für  den  Standpmikt  jenes 
erkenntnisstheoretischen  Bealismus  bestehen,  der,  ohne  Anstoss 
za  nehmen  an  dem  Begriffe  transcendenten  Seins ,  auch  die 
ausschliessliche  Fhänomenalität  des  Naturseins  und  Natur- 
geschehens nicht  anerkennt;  der  Verf.  sucht  zu  zeigen,  dass 
in  einem  ganz  wesentlichen  Punkte,  nämlich  in  der  Frage  bezügl. 
der  dem  denknothw.  Ding-an-sich,  abgesehen  von  dem 
Gedachtwerden,  zukommenden  Seinsfonh,  —  jedoch  nicht 
etwa  mit  dogmatischem  Eückfall  nach  Fichte's  Beispiel  — 
noch  über  Kant  hinausgegangen  werden  muss,  wenn 
anders  man  sich,  sei  es  nun  in  der  Naturwissenschaft  oder 
Philos'ophie,  principiell  vor  der  Selbsttäuschung  eines  metaph. 
Dogmatismus  bewahren  will.  Durch  das  so  gewonnene,  auf 
den  Satz  des  Widerspruches  sich  stützende  Erkenntnissprincip 
(wonach  jegliches  durch  das  Denken  mit  dem  Merkmal  der 
transcendenten  Seinsform  ausgestattete  Beale  nichtsdestoweniger 
auf  keine  andere  Bealität  Anspruch  hat,  als  die  durch  den 
Denkact  gesetzte  und  in  dem  Denkact  beschlossene  und  somit 
selbst  die  dürftigste  Erkenntniss  eines  sog.  transcendenten  Seins 
auf  der  Selbsttäuschung  beruht,  als  könne  man  jemals  über 
den  stets  sich  nur  erweiternden  Bereich  mentaler  Positionen 
hinausdringen)  werden  die  stets  wiederholten  Versuche  der 
Vergangenheit  und  Gegenwart,  das  Weltphänomen,  sei  es  im 
Sinne  eines  metaphysischen  Bealismus  oder  Idealismus  zu  „er- 
klären'',  auf  ihre  wahre  Bedeutung  zurückgeführt.  Ganz 
besondere  Sorgfalt  wird  dem  Nachweise  zugewendet,  dass  die 


368  SelbBtanzeigen. 

Sinnesphysiologie  durch  ihre  eigenen  Consequenzen  direct  dem 
obersten  Kesultate  vorliegender  Untersuchung  entgegengefuhrt 
wird,  zu  dessen  Anerkennung  die  Naturwissenschaft  überhaupt 
durch  die  für  ihren  Standpunkt  unvermeidlichen  Aporien  sich 
indirect genöthigt sieht :  dassnämlich,  wie  die  Erkennt- 
nissselbsty  so  auch  jegliches  Object  der  Erkennt- 
niss  die  Action  eines  Bewusstseins  (Jntellects) 
voraussetzt. 

Badestook,  P.,  SchlafundTraum.  Eine  physiologisch- 
psychologische  Untersuchung.  Leipzig,  Breitkopf  & 
Härtel,  1879.    (XH,  330  S.  gr.  8».) 

Es  werden  sowohl  die  physiologischen  als  die  psy- 
chologischen Eigenthümlichkeiten  des  Schlafes  und  Traumes 
geschildert;  die  Aehnlichkeit  derselben  mit  den  einzelnen  Er- 
scheinungen des  Wahnsinns  einerseits,  sowie  manchen  Zu- 
ständen des  Wachens  andrerseits  wird  dargelegt  und  gezeigt, 
dass  die  normalen  und  anormalen  geistigen  Thätigkeiten  in 
ihren  verschiedenen  Erscheinungen  keine  qualitativen,  sondern 
nur  quantitative  Unterschiede  darbieten,  in  feinen  Gradationen 
in  einander  übergehen  und  theilweise  in  einander  übergreifen, 
so  dass  sich  theilweises  Wachen  im  Schlaf,  Träumerei  im 
Wachen,  Lichtblicke  der  höheren  Geistesthätigkeiten  im 
Wahnsinn  und  intermittirendes  Irresein  im  gesunden  Zustande 
finden.  Besonders  aber  weist  der  Verf.  auf  die  völker- 
psyohologische  Wichtigkeit  der  Traumvorstellungen  hin; 
er  benutzt  dazu  die  in  den  Werken  Tylors  u.  A.  angeführten 
ethnographischen  Details  und  ergänzt  dieselben  durch  Stellen 
der  classischen  Literatur,  die  er  mit  Hülfe  eigener  philologischer 
Studien  sammelte.  Die  physiologische  und  empirisch-psycho- 
logische Forschung  versucht  er  mit  der  historisch-philologischen 
zu  vereinigen.  Die  Anmerkungen  bieten  dem  Fachmann  Angabe 
der  Quellen  und  weitere  Ausführungen  in  Betreff  der  Physiologie 
des  Schlafes,  sowie  der  Hauptgebiete  der  gesammten  Psycho- 
logie dar.  In  einem  Anhang  werden  die  neueren  Theorien 
über  die  näheren  Ursachen  des  Schlafes  behandelt. 


Philosophische  Zeitschriften. 

Philosophische  Monatshefte. 

Band  15,  Heft  1  und  2:  A.  Lassen:  Ueber  Gegenstand 
und  Behandlungsart  der  Beligionsphilosophie.  —  J.  Freuden- 
thal:    Ein  ungedruckter  Brief  Kant's  und   eine  verschollene 


\ 


Philosophische  Zeitschriften.  369 

Schrift  desselben  wider  Hamann.  —  K.  Gh.  Planck,  logisches 
Causalgesetz  etc.;  bespr.  von  A.  Eicht  er.  —  J.  Neuhäusery 
Aristoteles'  Lehre  von  dem  sinnl.  Erkenntnissvermögen  etc.; 
bespr.  von  C.  S.  Bar  ach.  —  Litteraturbericht :  Döring.  — 
Shields.  —  Rosenkrantz.  —  Stranss.  —  Jodl.  —  Schmick.  — 
Elrohn.  —  Funcke.  —  Jacobson.  —  Bibliographie  von  F. 
Ascherson.  —  Vorlesungen.  —  Eecenbionen- Verzeichniss.  — 
Ans  Zeitschriften.  —  J.  Sengler's  Nekrolog  von  L.  Weis.  — 
Miscelle. 

Band  15,  Heft  3:  Imelmann:  Stanley  Jevons  über 
J.  St.  Mill.  —  R.  V.  Ihering,  Der  Zweck  im  Recht;  bespr.: 
von  Lassen.  •—  A.  Wiessner,  Yom  Funkt  zum  Geiste  I  Und : 
Die  wesenhafte  oder  absolute  Realität  des  Raumes;  bespr.  von 
L.  Weis.  —  Kant's  Kr.  d.  r.  V.,  hrsg.  von  B.  Erdmann. 
Und:  Erdmann,  Eant's  Eriticismus  etc.;  bespr.  von  Fr.  Hoff - 
mann.  —  R.  Eucken,  Oesch.  der  philos.  Terminologie;  bespr. 
von  C.  Schaarschmidt.  —  A.  Fouillee,  L'idee  moderne  du 
droit  etc.;  bespr.  v.  Jodl.  —  J.  Bemays,  Lucian  und  die 
Kyniker;  angez.  von  C.  Schaarschmidt.  —  Koack^  Philo- 
sophie-geschichtl.  Lexicon;  angez.  von  demselben.  —  Biblio- 
graphie von  F.  Ascherson.  —  Recensionen-Yerzeichniss.  — 
Aus  Zeitschriften. 

Zeitsohriffc  f&r  Philosophie  und  philOBophische  Kritik. 

Band  74,  Heft  2:  H.  Sommer:  Die  Lehre  Spinoza's  und 
der  Materialismus  (2.  Hälfte).  —  H.  Ulrici:  Der  sog.  Spiri- 
tismus eine  wissenschaftliche  Frage.  (Mit  Beziehung  auf  die 
Schriften  von  1)  Fr.  Zöllner,  Wissenschaf tl.  Abhandlungen, 
Tbl.  1  u.  11;  2)  V.Fichte,  Der  neuere  Spiritualismus  etc.)  — 
Recensionen:  J.  Rehmke:  Glossen  zu  E.  v.  Hartmann's 
Phänomenologie  des  sittl.  Bewusstseins.  —  H.  Ulrici:  Li 
Sachen  der  wissenschaftl.  Philosophie.  Antwort  auf  den  Ar- 
tikel des  Herrn  Avenarius  im  4.  Heft  des  2.  Jahrg.  dex  Yiertelj. 
f.  w.  Ph.  —  V.  Baerenbach,  Gedanken  über  die  Teleologie 
in  der  Natur;  von  H.  Ulrici.  —  L.  Weis:  J.  Sengler.  Eine 
Skizze  seines  Lebens  und  seiner  Gottesidee.  (1.  Hälfte.)  — 
V.  Yambühler,  acht  Aufsätze  zur  Apologie  der  menschl.  Yer-^ 
nunft;  von  Rehmke.  —  Erauth,  a  Yocabulary  of  the  Philos. 
Sciences;  von  H.  Ulrici.  —  Engels,  Herrn  E,  Dühring's  Um- 
wälzung der  Wissenschaft;  von  demselben.  —  Arnoldt,  Eant's 
Prolegomena  nicht  doppelt  redigirt;  von  demselben.  —  Biblio- 
graphie. 

Yierteljahrssehriffc  f.  wüsentchaftl.  Philosophie,    m.  8.  24 


370  Philosophische  Zeitschriften. 

Bevue  Philosophique  de  la  Franoe  et  de  l*]&tranger. 

Jahrg.  4«  Heft  1 :  P.  J  a  n  e  t :  La  Perception  visuelle  de 
la  distance.  —  A.  Espinas:  La  Philosophie  exp^rimentale 
en  Italie.  J.  R.  Ardigo.  —  C.-S.  Peirce:  La  Logique  de 
la  science  (2™*  art.).  —  Notes  et  documents:  Le  D^r- 
minisme  m^canique  et  la  Libert^^  par  M.  Boussinesq.  — 
Analyses  et  comptes  rendos:  Spinoza,  Dien,  THomme  etc.,  trad. 
par  P.  Janet.  —  Girard  de  Rialle^  Mythologie  compar^e,  tome 
l.  —  Espinas,  Les  Societ^s  animales  (2™*  ddit.).  —  Byck,  Die 
Physiologie  des  Schönen.  —  Pessimisten-BreTier.  —  Bevue 
des  P^riodiqnes  dtrangers.  —  Gorrespondance :  Les  Analyses 
psy chologiques :  Horwicz  et  Reinach.  —  K6crologie :  G.-H. 
Lowes. 

Heft  2:  P.  Tannery:  La  Theorie  de  la  connaissance 
mathematiqne.  —  A.  Espinas:  La  Philosophie  ezp^rimentale 
en  Italie  (fin.)  —  A.  Penjon:  La  M^taphysique  phdnom^niste 
en  Angleterre.  Shadworth  Hodgson  (fin).  —  Analyses  et  comptes 
rendus  :  Chauffard ,  La  vie  etc.  —  Caro ,  Le  Pessimisme  au 
XIX*  sifccle.  —  Erdmann,  Kantus  Prolegomena.  —  Beyue  des 
P^riodiques. 

Heft  3:  J.  St.  Mill:  Fragments  in6dits  sur  le  socia- 
lisme  ( P'  art.).  —  E.  Naville:  La  Physiqüe  et  la  Morale.  — 
A.  Dastre:  Le  Probleme  physiol.  de  la  vie  (suite).  — 
Guyau:  H.  Spencer  et  l'H^redite  morale.  —  Analyses  et 
comptes  rendus:  Lamson,  the  life  and  education  of  Laura 
Bridgman.  —  Taine,  de  rintelligence  (3*  ^dit.)  —  Penjon,  Ber- 
keley. —  Lessewitch,  Pisma  o  nautchnoi*  filosofii.  —  Dühring, 
krit.  Geschichte  der  Philosophie.  —  Revue  des  P^riodiques 
^trangers. 

Heft  4  :  A.  He  rzen :  La  loi  physiqüe  de  la  conscience.  — 
J.  St.  Mill:  Fragments  in^dits  sur  le  socialisme  (fin).  — 
Th.  Reinach:  Le  nouveau  li vre  de  Hartmann  sur  la  Morale 
(1*"^  art.).  —  Dastre:  Le  probleme  physiol.  de  la  vie  (fin). — 
P.  Regnau4.:  £tudes  de  philosophie  indienne.  —  Analyses 
et  comptes  rendus:  Liard,  la  m^taphysique  et  la  science  po- 
sitive. —  A.  Leffevre,  la  philosophie.  —  Giner,  Calderon  et 
Soler,  Lecciones  sumarias  de  psicologia.  —  Glogau,  SteinthaPs 
psychol.  Formeln.  —  Notices  bibliographiques :  Schuppe.  — 
M.  Martin.  —  Waldstein.  —  Trezza.  —  Revue  des  P^riodiques 
^trangers.  —  Gorrespondance.  —  Livres  nouveaux. 

La  Philosophie  Positive. 

Jahrg.  1 1,  Heft  4  :    £.  L  i  1 1  r  6 :    Casuistique  historique.  — 


Philosophische  Zeitschriften.  371 

O.  Wyrouboff:  La  philosophie  matdrialiste  et  la  Philoso- 
phie positive.  —  H.  Stupuy:  Notice  sur  la  vie  et  les  oeuvres 
de  Sophie  Oermain.  —  X.:  Les  missions  laiques.  —  Gl. 
Boy  er:  De  la  nature  du  beaiL  —  Mercier:  Le  clergd 
dans  rancienne  France. —^  H.  BoSns:  Allopi^thie  et  Homoeo- 
pathie.  —  G.  Wyrouboff:  Necrologie:  G.-H.  Lewes.  — 
£.  Littr^:    Varietes.  —  Bibliographie. 

Heft  5:  £.  Littre:  L'hypoth^se  de  la  gen^ration  spon- 
tan ^e  et  Celle  du  transformisme  doivent-elles  ^tre  incorpor^es 
k  la  partie  biologique  de  la  philosophie  positive?  —  E. 
L  e  s  i  g  n  e :  Du  r61e  de  l'ezpdrience  dans  les  anciennes  con- 
ceptions  du  monde. —  Cl.  Roy  er:  De  la  nature  du  beau. — 
H.  Boens:  L'enseignement  primaire  en  Belgique.  —  Gh. 
M i s m e r :  Organisation  militaire.  —  Marc  Rdgis:  Gonsidd- 
rations  g^n^rales  sur  Faction  scientifique  des  Arabes  au  moyen 
age.  —  L.  Arreat:  La  conscience  dans  le  drame.  —  H. 
Stupuy:  Question  d'esth6tique.  —  £.  Littre:  Question 
de  Bociologie  pratique.  —  Ndcrologie :     E.  Bourdet.  —  Varietes, 

Heft  6:  £.  Littr^:  Distribution  future  des  langues  et 
des  nationalites  sur  le  globe  terrestre.  —  A.  Bitti:  ün  his- 
torien  du  positivisme.  —  L.  Arreat:  La  conscience  dans 
le  drame  (suite).  —  £.  Littr^:  De  la  th^ologie  consideree 
comme  science  positive  et  de  sa  place  dans  l'enseignement  laique, 
par  M.  Vemes.  —  G.  Wyrouboff:  Bemarques  sur  la  phi- 
losophie critique  en  AUemagne.  —  G.  S.:  La  rose.  £tude 
esthetique.  —  H.  Stupuy:  DW  abus  du  mot  „r^latif".  — 
E.  Noel:  Lettre  ä  Mr.  Littr^.  —  Ad.  F.  de  Fontpertuis: 
La  Charit^  legale  et  l'assistance  publique  en  Europe.  —  £• 
Littrd:  Gomparaison  de  la  chambre  de  1871  et  de  la  chambre 
de  1877.  —  Varietes.  —  Bibliographie. 

Mind. 

Heft  14:  G.  Stanley  Hall:  Laura  Bridgman.  —  J. 
Sully:  Harmony  of  Golours. —  B.  Hartley:  The  Stanhope 
Demonstrator.  —  Bain:  J.  St.  Mill  (L).  —  A.  Sidgwick: 
Definition  De  Jure  and  De  Facto.  —  L.  S.  Bevington:  The 
Personal  Aspect  of  Besponsibility.  —  Notes  and  Discussions : 
Mr.  Le\ees'  Doctrine  of  Sensibility,  by  E.  Hamilton;  Prof. 
Glerk  Maxwell  on  the  Belativity  of  Motion,  by  J.  K.  Thacker; 
Mr.  G.  S.  Hall  on  the  Perception  of  Golour,  by  Grant  Allen; 
Prof.  Herzen  on  „The  Physical  Law  of  Consciousness".  — 
Gritical  Notices:  Huxley's  Hume,  by  Bobertson;  Murph/s 
Habit    and   Intelligen ce,  by    Grant    Allen;   v.  HartmannV 

24* 


372  PhilosophiBche  Zeitschriften. 

Phänomenologie  des  sittl.  Bew.,  by  W.  G.  Coupland;  Jack- 
son's  Fifth  Book  of  the  Nicomach.  Ethics,  by  J.  A.  Ste- 
wart. —  New  Books.  —  Miscellaneous. 

La  Filosofla  delle  Souole  Italiane. 

Band  19,  Heftl:  T.  Mamiani:  AI  prof.  L.  Ferri, 
intomo  al  suo  dettato  L'Idea.  —  B.  Bobba:  La  dottrina 
della  libertä  secondo  Spencer  in  rapporto  colla  morale.  —  F. 
Bamorino:  Piatone  filosofo^  artista  e  scrittore.  —  T.  Ma- 
miani: Filosofia  della  realitä.  —  Di  Giovanni:  Sopra 
una  sentenza  di  Giordano  Bruno.  —  Bibliografia :  L.  Ferri.  — 
P.  Siciliani.  —  H,  Taine.  —  Ad.  Franck.  —  Fr.  Harms.  — 
L.  Caranzetti.  —  Periodici  di  filosofia.  —  Notizie.  —  Becenti 
pubblicazioni. 

Heft  2:  L.  Ferri:  L'Assoluto  e  la  mente,  letteraal 
Conte  Mamiani.  —  A.  Tagliaferri:  Filosofia  della  Beli- 
gione ;  il  filosofo  nelle  sue  relazioni  col  dogmatismo  religiöse.  — 
T.  Mamiani:  Breve  nota  all'  articolo  precedente.  —  B. 
Bobba:  La  dottrina  della  libertJk  secondo  Spencer  in  rap- 
porto colla  morale.  —  G.  Fontana:  Süll'  Idea,  analisi  de^ 
suoi  caratteri.  —  L.  Ferri:  Breve  nota  all'  articolo  prece- 
dente. —  Bibliografia:  Th.  Bibot;  P.  B.  Schuster;  D.  Bo- 
surgi;  A.  Herzen;  V.  Di  Giovanni.  —  Periodici  di  filosofia. — 
Notizie.  —  Becenti  pubblicazioni. 


Bibliographische  Mittheilnngen. 


Aristotle's  Nicomachean  Ethios.  Book  V.  Edited  by  Henry 
Jackson,  M.A.     8vo.     6s. 

Aristoteles'  Werke.     Griechisch  u.  deutsch  m.  sacherklär.  Anmerkgn. 

6.  u.  7.  Bd.  8.  Leipzigs  EDgelmann.  15  M.  (1-7.:  40  M.  75  Pf.) 
Inhalt:  6.  Politik.  Griechisch  u.  deutsch  hrsg.  v.  Prof.  Dr.  Frz. 
Suse  ml  hl.     1.  Thl.   Text  u.   Uebersetzg.   (XXVII,   801    S.)  10  M. 

7.  2.  Thl.  Inhaltsübersicht  u.  Anmerkgn.  (LXXVI,  888  S.)  5  M. 

Amoldt,  Emil^  Kant's  Prolegomena  nicht  doppelt  redigirt. 
Widerlegung  der  Benno  Erdmann'schen  Hypothese,  gr.  8.  (78  S.) 
Berlin,  Liepmannssohn.     1  M. 

Bahnsen,  Dr.  Jnl.,  Philosophie  und  IVationalitat.  Rede  zur 
Feier  d.  Sedantages  am  2.  Septbr.  1876  geh.  gr.  8.  (17  S.)  Lauen- 
burg i.  P.,  Feriey.     1878.    40  Pf. 

Becker,  Dr.  Th.,  Flato's  Charmides  inhaltlich  erläutert,  gr.  8. 
(106  S.)    Halle,  Pfeffer.    2  M.  40  Pf. 


V 


Bibliographische  Mittheilongen.  373 

Berg,  H«5  Die  Lust  an  der  Musik  erklärt.  Nebst  einem  Anh.: 
Die  Lnst  an  den  Farben,  den  Formen  und  der  körperl.  Schönheit, 
gr.  8.    (58  S.)     Berlin,  Behr.     1  M. 

Bei^eley^s  IPrinciples  of  haman  knowledge.  With  Introduction, 
&c.    By  CoUyns  Simon,  LL.D.     Cr.  8vo.  Ss. 

Bemays,  Jae.,  Xiucian  und  die  Kyniker.  Mit  e.  Uebersetzg.  der 
Schrift  Lucians  über  das  Lebensende  d.  Peregrinos.  gr.  8.  (111  S.) 
Berlin,  Hertz.     3  M.  20  Pf. 

Bibliotibek)  philosophiscliey  od.  Sammlung  der  Hauptwerke 
der  Philosophie  alter  u.  neuer  Zeit.  Unter  Mitwirkung  nam- 
hafter Gelehrten  hrsg.,  beziehungsweise  übers.,  erläutert  u.  m.  Lebens- 
beschreibungen versehen  von  J.  H.  V.  Kirchmann.  gr.  8.  Leipzig, 
Koschny.  k  50  Pf.  268—274.  Leibniz,  Theodicee.  3.-9.  Hft. 
(XV  u.  S.  129—533  m.  2  Tab.)  —  275.  276.  Erläuterungen  zur 
Theodicee  v.  Leibniz..    Von  J.  H.  v.  Kirchmann.     (162  S.) 

Bibliothek  für  Wissenschaft  und  Literatur.  1.  Bd.  2.  Thl. 
gr.  8.  Berlin,  Grieben.  7  M.  Inhalt:  [Philosoph.  Abth.  1.  Bd. 
2.  Thl.]  Die  Grundprobleme  der  Erkenntnissthätigkeit  beleuchtet  vom 
psychologischen  und  kritischen  Gesichtspunkte.  Als  Einleitung  in  d. 
Studium  der  Naturwissenschaften.  2.  Bd.  Die  Natur  d.  Intellects  im 
Hinblick  auf  die  Grundantinomie  d.  wissenschaftl.  Denkens.  Mit  6 
in  den  Text  gedr.  Holzschn.  u.  e.  illustr.  Taf.  Von  Prof.  Otto 
<3asparL     (XXXII,  364  S.)    cplt.:  12  M. 

Cohen,  Dr.  Herm.,  Flaton's  Ideenlehre  und  die  Mathematik, 
gr.  4.     (31  S.)     Marburg,  Elwert*8  Verl.     1  M.  20  Pf. 

Bieterici,  Prof.  Dr.  Fr«,  Die  Philosophie  der  Araber  im  X. 
Jahrh.  n.  Chr.  2.  Thl.  Mikrokosmus,  gr.  8.  (VIII,  204  S.) 
Leipzig,  Hinrichs*  Verl.    7  M.   60  Pf.  (8  Thle.  cplt.:  51  M.  40  Pf.) 

English  Men  of  Xietters.  Edited  by  John  Morley:  —  Hume.  By 
Professor  Huxley.     Cr.  8vo.  2  s.  6  d. 

Fischer,  Dr.  Wilh«,  Bechts-  und  Staats-Fhilosophie.  8.  (IV, 
196  S.)     Leipzig,  Verlag  f.  moderne  Sprachen  u.  Literatur.     4  M. 

Frege,  Privatdoc.  Dr.  Glob«,  BegrifPiisehrift,  e.  der  arithmeti- 
schen nachgebildete  Formelsprache  d.  reinen  Denkens, 
gr.  8.     (X,  88  S.)     Halle,  Nebert.     3  M. 

Guttmann,  Landrabb.  Dr.  J.,  Die  Beligionsphilosophie  d.  Abra- 
ham ibn  Daud  aus  Toledo.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der 
jüd.  Beligionsphilosophie  u.  der  Philosophie  der  Araber.  gr.  8. 
(Vin,  240  S.)    Göttingen,  Vandenhoeck  &  Ruprecht     4  M. 

Hagemann,  Doc.  Dr.  Georg,  Elemente  der  Philosophie.  I.  A. 
u.  d.  T.:  Logik  u.  Noetik.  Ein  Leitfaden  f.  akadem.  Vorlesgn.,  so- 
wie zum  Selbstunterrichte.  4.  Aufl.  gr.  8.  (XI,  206  S.)  i^eiburg 
i.  Br.,  Herder.    2  M.  25  Pf. 

Härtung,  Ernst  Bruno,  Grundlinien  e.  Ethik*  bei  Giordano 
Bruno,  besonders  nach  dessen  Schrift.:  Xio  spaccio  de  la 
bestia  trionfante.  Eine  Abhandig.  gr.  8.  (VI,  60  8.)  Leipzig, 
1878  (Kdssling).     50  Pf. 

Herder,  Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte  der  Mensch- 
heit. Nach  den  besten  Quellen  rev.  Ausg.  Hrsg.  u.  m.  Anmerkgn. 
begleitet  v.  Heinr.  Düntzer.  4  Thle.  gr.  16.  (200,  182,  208  u. 
101  S.)   Berlin,  Hempel.     In  1  Bd.  geb.     2  M.  50  Pf. 


374  Bibliographische  Mittheilungen. 

Jacobson,  Dr.  Moses,  Versuch  e.  Psychologie  d.  Talmud. 
Inaaguralschrift.     gr.  8.     (107  S.)    Hamburg  1S7S.     2  M. 

Jäger,  Prof.  Dr.  Gnst«,  Die  Entdeckung  der  Seele.  [Aus  ,yEos- 
mos".]     Lex.-8.    (34  S.)     Leipzig,   1878.     E.    Günther.    75  Pf. 

Janet^s  (Paul)  Final  causes.  Translated  by  William  Affleck.  Pre- 
face  by  Bobt.  Hunt,  D.D.,  LL.D.    8vo.     12  s. 

JoTons^  (W.  Stanley)  Elementary  leseTons  in  Logic,  Deductive 
and  Inductive.     7th.  Edition.    Fcp.  4  s.  6  d. 

Kriegsmann,  Qymn.-Lehr.  Georg,  Die  Bechts-  und  Staatstheorie 

d.  Benedict  v.   Spinoza.    Inangural-Dissertation.    gr.  4.     (IH  S.) 
Wandsbeck   1878.    (Göttingen,  Vandenhoeck  &  Bnprecht.)     80  Pf. 

Lange's  (F.  A.)  History  of  Materialism,  and  Criticism  of  its 
Present  Importance.  2nd  Edit.    (3  vols.)    Vol.  1.    Svo.  lös.  6d. 

Lassen,  A*.  lieber  Gegenstand  und  Behandlungsart  der  Beli- 
gionsphUosophie.  [Ans:  „Philos.  Monatshefte".]  gr.  8.  (55  S.) 
Leipzig,  Koschny.     1  M.  20  Pf. 

Last,  E«,  Mehr  Ijicht !  Die  Hauptsätze  Kant's  n.  Schopenhaner^s  in 
allgemein   verständl.   Darleg.     8.     (V,  302  S.)  Berlin,  Grieben.   5  M. 

Lessing's  philosophische  Schriften.  Hrsg.  n.  m.  Anmerkgn.  be- 
gleitet y.  Chrn.  Gross,  gr.  16.  (3S4  S.)  Berlin,  Hempel.  geb. 
2  M.  50  Pf. 

Liard  (L.)*  —  La  Science  positive  et  la  metaphysique.  In-8. 
Ouvrage  cour.  par  TAcad^mie   des  sciences  mor.  et  pol.  7  fr.  50  cts. 

Lotze,  Herrn«,  System  der  Philosophie.  2.  Thl.  Metaphysik. 
Drei  Bücher  der  Ontologie,  Kosmologie  u.  Psychologie,  gr.  8.  (Vllf 
604  S.)     Leipzig,  Hirzel.    9  M. 

Miehelis,  Prof.  Dr.  Fr«,  Ist  die  Annahme  e.  Baumes  m.  mehr 
als  drei  Dimensionen  wissenschaftlich  berechtigt?  Eine  an 
die  Adresse  des  Hm.  Prof.  Dr.  Zöllner  zu  Leipzig  gerichtete  Frage. 

gr.  8.     (48  S.)    Freiburg  i.  Br.,  Wagner.     1  M. 
Xathan,  Jnl«,  Kant's  logische  Ansichten  und  Xieistungen.    In- 
angural-Diss.    gr.  8.    (134  S.)    Jena  18,78  (Neaenhahn).    2  M.  70  Pf. 

Noaek,  Prof.  Dr.  Lndw«,  BOstorisch-biographisches  Handwörter- 
buch zur  Geschichte  der  Philosophie.  10—12.  (Schluss-)Lfg. 
Lex.-8.     (XX  n.  S.  721—936.)     Leipzig,  Koschny.     k  1  M.  50  Pf. 

Petz,  Frz.  S.,  Philosophie  der  Beligion,  oder  Studien  üb.  Gott 
n.  das  Göttliche,  m.  steter  Bücksicht  auf  die  Lehren  der  grössten 
Philosophen  aller  Zeiten,    gr.  8.  (IV,  160  S.)    Mainz,  Kirchheim.   2  M. 

Pfleiderer,  Prof.   Dr.  Edm«,   Die  Philosophie  und  das  Leben. 

Akademische  Antrittsrede,  geh.  zu  Tübingen  am  6.  Juni  1878.  gr.  8. 

(36  S.)     Tübingen  1878,  Fues.     70  Pf. 
SauT^  (Henry).  —  De  l'Union  substantielle  de  Päme   et  du 

Corps.    B^pome  au  B.  P.  Bottala.    In-8. 
Schuster,  weil.  Prof.  Paul  Bob«,  Gibt  es  unbewusste  u.  vererbte 

Vorstellungen?     Akademische   Antrittsvorlesg..   geh.   am  5.  März 

1877.     Nach  dem  Tode  d.  Verf.  m.  seinem  Bildniss  (in  Stahlst)  und 

e.  Vorrede   hrsg.    v.  Prof.    Frdr.    Zöllner,    gr.  8.     (XLIL    83  S.) 
Leipzig,  Staackmann.     3  M. 

Shields'  (Dr.  Chas.  W«)  The  final  Phüosophy  of  the  System 
of  perfectible  knowledge  &c«    8yo.    18  s. 


Bibliographische  Mittheilungen.  375 

Speneer's  (Herbert)  Edacation:  Intellectaal,  Moral,  and  Physical. 
Cheap  Edition.     Cr.  8to.     2  s.  6  d. 

Spir^  A«9  neber  Idealismus  und  Pessimiamas.  Zwei  populäre 
Aufsätze,     gr.  S.    (35  S.)     Leipzig,  Findel.     60  Ff. 

Steekelmachery  Dr.  Mor.y  Die  formale  Xiogik  Kant's  in  ihren 
Beziehungen  zur  transcendentalen.  Eine  von  der  philosoph. 
Facultät  der  Universität  Breslau  gekrönte  Preisschrift,  gr.  8.  (V, 
105  S.)     Breslau,  Eoebner.     2  M.  80  Ff. 

Taine  (H.)*  — De  rintelligence.    3.  Edition,  aug.    2  volin-t2.    7  fr. 

ünlTersal-Bibliothek.  gr.  16.  Leipzig,  Ph.  Reclam  jun.  Inhalt: 
851 — 855.  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Von  Imman.  Kant.  Text 
der  Ausg.  1781  m.  Beifügung  sämmtlicher  Abweichgn.  der  Ausgabe 
1787.  Hrsg.  v.  Dr.  Karl  Kehrbach.  2.  verb.  Aufl.  (XXVI,  703  S.) 
geb.  1  M.  50  Pf. 

Yerhandlungen  der  philosophischen  Gesellschaft  zu  Berlin. 
12.  Hft.  gr.  8.  Leipzig,  Koschny.  ä  1  M.  20  Pf.  Inhalt:  Ueber 
Anschaulichkeit  in  den  Sinnen  und  Anschaulichkeit  im  Denken. 
Vortrag,  gehalten  v.  Privatdoc.  Dr.  J.  H.  Witte.     (60  S.) 

Yoit,  Prof.  Dr.  Carl  t.^  Ueber  die  Entwicklung  der  Srkenntniss. 
Bede  an  die  Studirenden  beim  Antritte  d.  Rektorates  der  Ludwig- 
Maximilians-Universität  geh.  am  2S.  Novbr.  187$.  gr.  8.  (29  S.) 
München,  Bieger.     1   M. 

Wirth,  Mor.,  Herrn  Prof.  Zollner's  Hypothese  intelligenter 
vierdimensionaler  Wesen  u.  seine  Experimente  mit  dem 
amerikanischen  Medium  Herrn  Slade.  Ein  Vortrag,  geh.  im 
akademisch-philosoph.  Verein  zu  Leipzig.  2.,  durchgeseh.  Aufl.  gr.  8. 
(VT,  65  S.)     Leipzig,    Mutze.     1  M. 

Zeit-  und  Streit-Fragen,  deutsche*  Flugschriften  zur  Kennt- 
niss  der  Gegenwart.  Hrsg.  von  Frz.  v.  Holtzendorff.  113. 
Heft.  [8.  Jahrg.  1.  Hft]  gr.  8.  Berlin,  Habel.  1  M.  40  Pf.  In- 
halt: Ueber  materialistische  u.  idealistische  Weltanschauung.  Von 
Dr.  Max  Schasler.     (56  S.) 

Zeller,  Dr.  Ed«^  Die  l^hüosophie  der  Griechen  in  ihrer  ge- 
schichtlichen Entwicklung  dargestellt.  2.  Tbl.  2.  Abth. 
Aristoteles  u.  die  alten  Peripatetiker.  3.  Aufl.  gr.  8.  (X,  948  S.) 
Leipzig,  Fues.     18  M. 

ZVekler,  Prof.  Dr.  O.^  Geschichte  der  Beziehungen  zwischen 
Theologie  u.  Katurwissenschaft ,  mit  bes.  Bücksicht  auf 
Schöpfungsgeschichte.  2.  Abth. :  Von  Newton  u.  Leibniz  bis  zur 
Gegenwart,  gr.  8.  (XII,  835  S.)  Gütersloh,  Bertelsmann.  15  M. 
(cplt.:  27  M.) 


Entgegnnng. 


Es  steht  dem  Herrn  Professor  Ulrici  wahrhaftig  sehr  wohl  an,  dass 
er  auf  die  Vertheidigung,  zu  welcher  er  mich  durch  seine  gegen  mich 
gerichteten  ganz  grundlosen  und  gehässigen  Insinuationen  undinvectiven 
genöthigt  hat,  mir  in  dem  jüngsten  Heft  seiner  Zeitschrift  —  und  zwar 


376  Entgegnung.    Notizen.    Bitte. 

Ton  oben  hemnter  in  einem  Tone,  als  ob  das  Recht  zweifSellos  anf  sei- 
ner Seite  wäre  —  mit  einem  Fnsstritt  antwortet  Dass  trotz  der  dabei 
▼on  ihm  an  den  Tag  gelegten  hardiease  alles  Das ,  was  ich  seiner  so 
betitelten  Recension  entgegenhalten  mosste,  wohl  begründet,  nnd  damit 
die  Unentschnldbarkeit  seiner  an  mir  verübten  Rechtsverletzung  con- 
Btatirt  worden  ist,  davon  kann  derjenige  sich  überzeugen,  der  sich  mit 
der  Leetüre  der  beiderseitigen  Aufsfttze  unter  Vergleichung  mit  meinem 
in  Rede  stehenden  Buche  befassen  mag.  Hiemach  begreife  ich  es  recht 
wohl,  wenn  Herr  Ulrici  keine  Lust  gehabt  hat,  auf  das,  was  ich  ihm 
vorhfklten  musste,  in  eingehender  sachlicher  Weise  zu  repliciren. 

Dr.  A«  Steudel. 


Notizen. 


1)  Herr  Dr.  K*  Kehrbaeh  in  Halle  a.  d.  S.  bittet  alle  Diejenigen, 
welche  in  der  Lage  sind,  Auskunft  über  das  Schicksal  Herbart'scher 
Manuscripte  zu  ertheilen ,  ihm  die  bezüglichen  Mittheilungen  zukommen 
zu  lassen  (Adresse:  Universitätsbibliothek).  An  die  Redactionen  betr. 
Zeitschriften  ergeht  das  höfliche  Ersuchen  um  Verbreitung  dieser  Notiz. 

2)  Herr  Dr.  W*  Schlötel  erklärt  in  einer  neuen  der  Redaction 
zugesandten  „Berichtigung'* :  er  habe  nie  daran  gedacht,  dasjenige,  was 
er  selbst  1870  eine  „Lappalie*'  nannte,  1878  durch  Prioritätswahrung 
zu  schützen,  sondern  nur  dagegen  protestiren  wollen,  dass  eine  Anfangs 
„vielleicht  durch  culposen  Vertrauensmissbrauch*'  gegen  einen  Studenten 
ergänzte  und  nicht  vollständig  abgeschlossene  Leistung  zu  einem  Ver- 
dienst gestempelt  werde;  hierdurch  scheine  ihm  die  wissenschaftl.  Mo- 
ral degradirt  zu  werden;  dass  der  irrthümlich  zur  Frioritätswahrung  ge- 
wordene Protest  unabhängig  von  Besprechung  der  Sigwart^schen  Logik 
zur  Sprache  gekommen,  sei  ohne  sein  Zuthun  geschehen. 


Bitte 

betreffend  die  „Selbstanzeigen**. 


Die  Redaction  richtet  an  die  Herren  Autoren,  welche  die  Ver- 
öffentlichung einer  „Selbstanzeige**  wünschen,  das  dringende  Ersuchen: 
die  „Selbstanzeigen'*  in  dem  Charakter  halten  zu  wollen,  welcher  als 
der  allein  zweckentsprechende  in  dieser  Zeitschrift,  Heft  I,  S.  119  f. 
dieses  Jahrg.,  ausführlicher  dargelegt  worden  ist.  Ebenso  dringend  wird 
die  Bitte  wiederholt:  den  Raum  von  Vs — Vs  Druckseite  nicht  zu  über- 
schreiten und,  da  den  Herren  Autoren  Abzüge  zur  Revision  nicht  vor- 
gelegt werden  können,  sowohl  die  Titelangabe  als  den  Text  der  „Selbst- 
anzeige" in  deutlich  lesbarer  Handschrift  einzusenden. 


Pierer*scho  Hofbnelidniclrereu    Stephan  Geibel  A  Co.  in  Altenbarg. 


Zur  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutschland, 

mit  besonderer  Racksicht  auf 

Riboty    Th«:     La     Psychologie     allemande    contemporaine. 

Paris,  Germer  Bailliere  et  Cie.     1S79. 


Es  ist  ein  charakteristisches  Kennzeichen  unserer  unfertigen 
Zeit,  dass  man  aller  Orten  auf  philosophischem  Gebiet  das  Be- 
dürfniss  empfindet,  sich  aber  das,  was  man  besitzt,  sowie  über 
das,  was  man  etwa  Aussicht  hat  zu  erreichen,  näher  zu  orien- 
tiren.  Weder  in  den  Perioden^  die  eine  metaphysisch  abge- 
schlossene Weltauffassung  in  die  Ergebnisse  der  Einzelforschung 
hineinzuarbeiten  haben,  wie  etwa  das  Zeitalter  Wolffs  war^  noch 
in  denjenigen,  die  sich  dem  letzten  Ziel  einer  solchen  Weltauf- 
fassung nahe  glauben,  wie  etwa  das  Zeitalter  Hegels  dies  wähnte, 
wird  jene  Neigung  sich  regen.  Belege  für  die  Stärke  derselben 
in  der  Gegenwart  bieten  zunächst  die  mannigfachen  Abhand- 
lungen über  Inhalt  und  Ziel  der  zeitgenössischen  philosophischen 
Arbeiten  in  den  einzelnen  Ländern,  die  sich  z.  B.  in  den  letz- 
ten Jahrgängen  hervorragender  französischer  und  englischer 
Fachzeitschriften  finden.  Andere  Belege  enthalten  die  weit  zer- 
streuten kleinen  Arbeiten^  die  den  Umkreis  der  philosophischen 
Probleme  gegen  die  Aufgaben  der  anderen  Wissenschaften  ab- 
zugrenzen versuchen.  Eben  hierher  gehören  endlich  auch  die 
Abhandlungen  und  Schriften,  die  den  gegenwärtigen  Besitzstand 
einer  einzelnen  philosophischen  Disciplin  nach  seinem  inneren 
Zusammenhange  darlegen  wollen. 

Eine  solche  Arbeit  ist  die  \)ben  genannte  Schrifl  Ribots, 
dessen  wertvolles  Werk  über  die  Erblichkeit  uns  vor  wenigen 

Yierteljahrsschrift  f.  Wissenschaft.  Philosophie.    III.  4.  25 


378  B*  Erdmann: 

Jahren  durch  eine  deutsche  Uebersetzung  näher  zugänglich  ge- 
macht worden  ist.  Das  vorliegende  Werk  ist  nicht  das  erste 
dieser  Art,  das  wir  Ribot  verdanken.  Er  hat  sich  bekanntlich 
durch  eine  frühere,  1875  in  zweiter  Auflage  erschienene  Arbeit 
aber  die  englische  Psychologie  der  Gegenwart  das  Verdienst 
erworben,  seinen  Landsleuten  die  wesentlichen  Methoden  und 
Ergebnisse  der  Associationspsychologie  klar  und  eindringlich 
vorzufuhren.  Dieselbe  hat,  wie  jeder  Jahrgang  der  von  Ribot 
herausgegebenen,  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  wolbekannten 
Revue  philosophique  zeigt,  den  erfreulichen  Erfolg  errungen, 
dass  jene  Methoden  und  Resultate  seitdem  ein  kräftiges  Fer- 
ment in  der  Entwicklung  der  wissenschafllichen  Psychologie 
Frankreichs  geworden  sind.  Das  Werk  bat  seine  Wirkung  sogar 
auch  auf  Deutschland  erstreckt.  Schon  Stumpf,  Wundt  und 
Brentano^  die  ersten^  die  bei  uns  näher  auf  die  herrschenden 
psychologischen  Theorien  in  England  eingingen,  mögen  Ribot 
manche  Anregung  zu  danken  haben.  Sicher  ist,  dass  der  Zu- 
wachs an  Einfluss,  der  den  .letzteren  seitdem  bei  uns  zu  Teil 
geworden  ist,  in  mehr  als  einem  Fall  auf  ihn  zurückgeführt 
werden  muss. 

Sofern  der  Erfolg  der  vorliegenden  Arbeit  Ribots  in  Frank- 
reich lediglich  durch  die  klaren,  wissenschaftlich  durchaus  unbe- 
fangenen und  gründlichen  Darlegungen  derselben  bedingt  sein 
wird,  wird  sie  in  dem  gleichen  Masse  dazu  führen,  der  deut- 
schen Psychologie,  die  bisher  daselbst  nur  in  geringem  Masse 
und  nur  in  vereinzelten  Fällen  zur  Wirksamkeit  gekommen  ist, 
Eingang  zu  verschaffen.  Sie  wird  überdies  wol  auch  den  Erfolg 
haben,  die  Ergebnisse  unserer  psychologischen  Forschung  mehr 
noch  als  bisher  der  Fall  gewesen  ist  in  England  einzubürgern. 

Wir  haben  •  in  diesem  Falle  Ribot  jedoch  nicht  bloss  für 
die  Wirksamkeit  zu  danken,  die  er  den  Resultaten  unserer 
wissenschaftlichen  Arbeit  eröffnet;  wir  müssen  auch  zugleich 
erfreut  und  beschämt  sein,  über  seine  wertvolle  Zusammen- 
fassung dessen,  was  bei  uns  auf  psychologischem  Gebiete 
innerhalb  der  letzten  Jahrzehnte  Brauchbares  zu  Tage  ge- 
fördert ist. 


'     Zur  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutschland.         379 

Der  Plan  des  Buches  ist  allerdings  nicht  auf  unsere  ganze 
zeitgenössische  psychologische  Bewegung  gerichtet.  Es  behan- 
delt nur  diejenigen  Autoren,  die  sich  in  die  „ecole  experimen» 
lale"  zusammenfassen  lassen;  die  Vertreter  der  „ecole  spiri- 
tuaiiste^^  schliesst  es  aus.  Der  Grund  dieser  Ausschliessung  wird 
klar  aus  der  Bestimmung  des  Verhältnisses  beider  Richtungen, 
die  Ribot  in  der  einleitenden  sowie  in  der  Schlussbetrachtung 
giebt.  Der  „alten  Psychologie",  wie  der  Verfasser  sie  auch 
nennt,  oder  der  metaphysischen  Psychologie,  wie  wir  sie  viel- 
leicht am  treffendsten  bezeichnen  können,  gehören  demnach 
diejenigen  an,  welche  die  Psychologie  ihrem  Inhalte  nach  auf 
der  Metaphysik  basiren  und  ihrer  Methode  nach  ausschliesslich 
auf  innere  Beobachtung  stützen,  den  Ergebnissen  der  mechanisch- 
biologischen Disciplinen  daher  sie  entweder  ganz  verschliessen 
oder  nur  obenhin  öffnen.  Bei  ihnen  erscheint  die  Wissenschaft 
deshalb  in  jedem  einzelnen  Fall  äusserUch  systematisch  abge- 
schlossen ;  innerlich  dagegen  ist  sie  ein  unfertiges  Gemisch  von 
Talsachen,  Analysen  und  heterogenen  metaphysischen  Hypo- 
thesen (III,  XIII  f.,  XVI  f.,  350).  Die  „neue"  oder  experi- 
mentelle Psychologie  dagegen  kennzeichnet  sich  vor  allem  durch 
ihre  Loslösung  der  psychologischen  Probleme  von  der  Herr- 
schaft der  Metaphysik.  Es  ist  allerdings,  wie  Ribot  andeutet, 
für  jede  Psychologie,  selbst  für  die  experimentelle  unerlässlich, 
von  einer  metaphysischen  Hypothese  (über  das  Verhältniss  der 
psychischen  zu  den  mechanischen  Vorgängen)  auszugehen,  jedoch 
sie  verträgt  nicht  mehr  jene  ausschliessliche  und  specielle  Basi- 
rung,  die  z.  B.  den  Ausgang  von  einer  substantiellen  Seele  not- 
wendig gemacht  hat.  Sie  hat  ihr  Ziel  vielmehr  auf  das  Studium 
der  psychischen  Phänomene  zu  beschränken  geieitit;  kurz,  sie 
ist  eine  „Psychologie  ohne  Seele"  geworden.  Ihr  Gegenstand 
wird  somit  durch  die  Nervenprocesse  gegeben,  sofern  sie  von 
Bewusstsein  begleitet  werden  können.  Man  kann  also  formuliren : 
der  Nervenprocess  als  mechanischer  Vorgang  büdet  eins  der  Objecte 
der  Physiologie ;  ebenderselbe  als  mechanischer  und  psychischer 
Vorgang  bildet  das  Object  der  Psychologie.  Daraus  aber  folgt 
weiter,  dass   für  ihre  Arbeit  die   Ergebnisse   der  biologischen 

25* 


380  B.  Erdmanu: 

Disciplinen  die  Hilfsmittel  bieten,  deren  sie  an  keinem  Punkte 
entraten  darf.  Eine  allgemeine  metaphysische  Hypothese  bleibt 
hiernach  bestehen, —  es  ist  für  Ribot  die  absolutistische  Annahme 
eines  durchgängigen  ParaUelismus  der  mechanischen  und  psy- 
chischen Vorgänge  — ;  ihre  Stellung  jedoch  zum  Aufbau  der 
Psychologie  ist  eine  wesentlich  andere  geworden.  Bildet  sie 
dort  die  Annahme,  welche  die  Entwicklung  der  einzelnen  Theo- 
reme beherrscht,  so  wird  sie  hier  zu  einer  möglichen  letzten 
Ansicht,  welche  die  Bearbeitung  der  besonderen  Tatsachen  nicht 
tangiren  soll,  und  nur  soweit  als  berechtigt  anerkannt  wird,  als 
sie  durch  die  speciellen  Ergebnisse  getragen  werden  kann. 

Hieraus  ergiebt  sich  denn  auch,  dass  der  Ausschluss  jener 
metaphysischen  Psychologie  kein  vollständiger  ist.  Er  trifft  nur 
diejenigen,  deren  Lehren  von  den  eben  angeführten  Gesichts- 
punkten so  wenig  beeinflusst  sind,  dass  die  exacte  Psychologie 
keine  Früchte  von  ihnen  gewonnen  hat  Ribot  rechnet  hierher 
deshalb  nur  die  Arbeiten  der  sogenannten  positiven  Philosophen, 
der  Gruppe  Fichte-Ulrici  und  ihrer  Geistesverwandten,  Herbart 
dagegen  und  seine  Schule  sowie  Lotze  werden  eingehend  ge- 
würdigt Der  erstere  beansprucht  eine  solche  Darstellung  schon 
durch  seine  Kritik  der  Yermögenstheorien ,  obgleich  dieselbe 
durch  seine  Folgerungen  aus  der  metaphysischen  Bestimmung 
des  Wesens  der  Seele  in  das  entgegengesetzte  Extrem  hinein- 
getrieben ist  Er  darf  sie  aber  auch  fordern  auf  Grund  seiner 
allgemeinen  Auffassung  und  Verwertung  der  Methode  psycho- 
logischer Analyse,  wennschon  dieselbe  sowol  durch  die  un- 
verhältnissmässige  Betonung  der  mathematischen  Bestimmung 
gegenüber  der  experimentellen  Bewährung,  als  auch  durch  die 
unzulässige  Fundirung  seiner  Statik  und  Mechanik  der  Vor- 
stellungen getrübt  ist  Lotze  andrerseits  hat,  wie  Ribot  haupt- 
sächlich an  ihm  betont,  durch  seine  Theorie  der  Localzeichen 
einen  der  nachhaltigsten  Anstösse  zur  Ausbildung  der  empi- 
ristischen Raumtheorie  gegeben.  Beider  Lehren  bilden  daher 
den  Uebergang  in  die  exacte  Psychologie  der  Gegenwart  — 

Dass  Ribot  in  seinen  Angaben  über  die  letztere  die  charak- 
teristischen Züge   clerselben   getroffen   habe,   werden  die  Leser 


_i 


Zur  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutscliland.        381 

dieser  Zeitschrift  ihm  mit  dem  Referenten  bereitwillig  zu- 
gestehen. Wir  werden  mit  dem  Autor  sogar  behaupten  dürfen, 
dass  diese  Merkmale  den  neueren  Forschungen  den  Stempel 
einer  neuen  Periode  aufgedrückt  haben,  obgleich  jedes  derselben, 
sowol  die  Beschränkung  auf  den  gesetzlichen  Zusammenhang 
der  psychischen  Vorgänge  als  auch  die  principielle  Verwertung 
der  physiologischen  Ergebnisse  zur  Zeil  bei  uns  von  hervor- 
ragenden Seiten  noch  umstritten  ist.  Denn  die  Resultate ,  die 
in  der  kurzen  Zeit  der  letzten  Jahrzehnte  auf  diesem  Wege 
tatsächlich  erreicht  sind,  sprechen  zu  eindringlich,  als  dass  es 
den  Einwürfen,  die  z.  B.  neuerdings  wieder  von  Lotze  gegen 
den  ersten,  und  kürzhch  auch  von  Brentano  gegen  den 
zweiten  Punkt  erhoben  sind,  gelingen  könnte,  sich  ernstlich 
Gehör  zu  verschaffen.  Es  wird  jedoch  nicht  überflüssig  sein, 
dies  gegenüber  so  gewichtigen  Urteilen  noch  etwas  näher  zu 
begründen. 

Lotze  erinnert  in  seiner  neu  erschienenen  Metaphysik 
zunächst  daran,  dass  die  Psychologie  so  wenig  jedenfalls  wie 
die  physikalische  Forschung  Hypothesen  entbehren  könne,  „zu 
deren  Entscheidung  künftige  Erfahrung  vielleicht  immer  noch 
viel,  aber  gewiss  nicht  alles  wird  beitragen  können'';  und  es 
wird  gegenwärtig  selbst  unter  den  vorsichtigsten  Naturforschern 
sich  niemand  mehr  finden,  der  ihm  dies  bestritte.  Selbst  das 
Weitere  werden  wir  ihm  bereitwillig  zugeben,  und  Ribot  tut  es 
wie  angedeutet  mit  uns,  dass  es  unumgänglich  für  die  Psy- 
chologie bleibe,  über  die  Verbindung  psychischer  und  mecha- 
nischer Vorgänge  eine  Hypothese  zu  Grunde  zu  legen,  dass 
wir  ferner  die  Auswahl  der  möglichen  Annahmen  wiederum 
„durch  Rückgang  auf  die  allgemeinsten  Vorstellungen"  be- 
stimmen werden,  „die  uns  über  alles  Sein  und  Wirken  not- 
wendig sind''.  Der  Streit  beginnt  erst,  wenn  es  sich  um  die 
Auslegung  dieses  Verfahrens  im  einzelnen  handelt.  Lotze  be- 
nutzt dasselbe  bekanntlich,  um  aus  der  Tatsache  der  Einheit 
des  Selbstbewusstseins  die  Existenz  einer  für  sich  seienden 
einheitlichen  Seelensubstanz  zu  eruiren,  der  die  psychischen 
Functionen  des  Gedächtnisses,  des  Vorstellungsveriaufs  u.  s.  w. 


382  B.  Erdmann: 

als  Aeusserungen  ihrer  eigenen  Natur  beigelegt  werden.  Da- 
durch aber  gerät  er,  so  weit  ich  sehe,  auf  einen  Weg,  der  von 
der  Art  der  Benutzung  der  Hypothesen  auf  naturwissenschaft* 
liebem  Gebiet  weit  abliegt,  der  überdies  durch  die  eigenartige 
Beschaffenheit  der  psychischen  Vorgänge  keineswegs  gefordert 
ist.  Die  Physiker  verfahren  gegenwärtig  zwar  ähnUch  mit  dem 
Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft;  aber  es  geschieht  dies 
doch  erst,  seitdem  auf  empirischem  Wege  gefunden  ist,  dass 
dasselbe  für  jedes  Gebiet  der  bekannten  Molecularvorgänge  gilt. 
Lotze  dagegen  hat  es  auch  in  seinen  neuesten  hierher  gehörigen 
Auseinandersetzungen  durchaus  verschmäht,  seine  Annahme 
einer  substantiellen,  für  sich  seienden  Seeleneinheit  den  schwer- 
wiegenden Bedenken  gegenüber  zu  rechtfertigen,  die  ihr  aus 
den  neueren  Theorien  der  Functionen  des  Gehirns  erwachsen. 
Und  doch  ist  eine  solche  Erörterung  durch  seine  früheren  Aus- 
lassungen über  die  Wertlosigkeit  differenzirter  Centralorgane  für 
die  einzelnen  Formen  der  psychischen  Vorgänge  gewiss  nicht 
überflüssfg  gemacht.  Ich  brauche  kaum  daran  zu  erinnern^ 
dass  die  Ergebnisse  der  Untersuchungen  z.  B.  von  Nothnagel, 
Hitzig,  Ferrier,  Goltz  u.  a.  trotz  manches  Widerspruchs  der- 
selben unter  einander  und  trotz  mancher  gerechten  Einwürfe, 
die  sie  alle  erfahren  haben,  trotz  ihrer  Unbestimmtheit  endlich 
im  einzelnen  doch  mehrfache  Resultate  aufzeigen  können, 
welche  genügen,  der  Theorie  der  Seelensubstanz  unüberwind- 
liche Schwierigkeiten  zu  bereiten.  Dahin  rechne  ich  die  GUe- 
derung  der  Grosshirnhemisphären  in  eine  motorische  und  eine 
sensorische  Region,  sowie  die  Gliederung  dieser  selbst  in  spe- 
zielle Centren  für  die  Contraction  besonderer  Muskelgruppen 
und  für  die  Empfindungen  der  einzelnen  Sinne.  Eben  liierher 
gehört  auch  vor  allen  der  bekannte  Nachweis  Brocas,  dass  „die 
Unversehrtheit  der  dritten  linken  Stirnwindung,  und  vielleicht 
der  zweiten,  unerlässlich  für  die  Ausbildung  des  arücuhrten 
Sprach  Vermögens^  sei,  den  Kussmaul  durch  seine  eingehende 
und  scharfsinnige  Discussion  der  mannigfach  zerstreuten,  be- 
zügüchen  Daten  noch  um  vieles  gekräftigt  und  näher  bestimmt 
hat.    Mag  man  diese  und  die  ähnlichen  Resultate  der  Gehirn-^ 


Zur  zeitgenössischeD  Psychologie  in  Deutschland.  383 

forschung  so  skeptisch  interpretiren  als  man  wolle:  wie  sie 
ohne  die  künstlichsten  Hilfshypothesen  in  die  Lehre  einer  ein- 
heitlichen, substantiellen  Seele  eingefugt  werden  sollen,  vermag 
ich  nicht  einzusehen.  Denn  alle  jene  Behauptungen  einer  bloss 
mitbedingenden  Wirksamkeit  der  mechanischen  Vorgänge  in 
diesen  Centren  sind  solche  Hilfshypothesen,  die  in  dem  Masse 
complicirter  werden  müssen,  als  die  Psychologie  des  Gehirns 
auf  dem  Jetzt  eingeschlagenen  Wege  fortschreitet.  Es  ist  also 
gewiss  eine  dem  naturwissenschaftlichen  Gebrauch  der  Hypo- 
thesen wenig  analoge  Art  trotz  all  solcher  Tatsachen  schlecht- 
weg auf  dem  Beweis  der  Seelensubstanz  aus  der  Tatsache  der 
Einheit  des  Selbstbewusstseins,  der  ganz  und  gar  speculativ  ist, 
zu  beharren. 

Aber  wir  dürfen  noch  mehr  behaupten:  Die  Hypothese 
einer  substantiellen  Seele  entspricht  schon  an  sich  nicht  den 
Anforderungen,  die  wir  an  eine  naturwissenschaftliche  Hypothese 
zu  stellen  mit  Recht  uns  gewohnt  haben.  Ich  sehe  nicht,  dass 
sie  mehr  leistet^  als  jede  Hypostasirung  angeborener  Vermögen 
für  verwickelte  psychische  Vorgänge,  als  etwa  die  Annahme 
einer  angeborenen  Nötigung  zur  Ausbildung  der  Raumvorstellung 
als  solcher  (nach  Inhalt  und  Form  im  Sinne  der  Helmholtzischen 
Unterscheidung),  oder  der  Localisation  der  Empfindungen  in 
dem  Raum.  Es  ist  der  Verzicht  auf  jede  Erklärung  hier  wie 
dort;  denn  begreiflicher  wird  uns  die  Tatsache  der  Einheit  des 
Selbstbewusstseins  dadurch  nur  in  dem  Sinne,  dass  wir  eine 
Substanz  für  dieselbe  hypostasiren ,  das  Problem  also  nicht 
lösen,  ja  selbst  nicht  klären,  sondern  zurückschieben.  Dass 
wir  auf  solche  Hypothesen  zuletzt  immer  angewiesen  sind, 
ist  zweifellos;  aber  eine  einfache  Tatsache,  wie  z.  B.  die  ein- 
fachen Gefühle  u.  a.  uns  solche  liefern,  ist  die  Einheit  des 
Selbstbewusstseins  doch  gewiss  nicht.  Ich  brauche  hier  kein 
Missversländniss  zu  befürchten;  denn  ich  bestreite  gar  nicht, 
dass  die  Setzung  einer  solchen  Seele  an  Folgen  sehr  reich 
sein  kann.  Ist  sie  doch  der  Grundstein  jedes  Spiritualismus. 
An  Leistungen   aber  für   die  Erklärung   des  Selbstbewusstseins 


384  B.  £rdmann: 

Steht  sie  trotzdem  hinter  den  ähnlichen  Annahmen  angeborener. 
Vermögen  um  nichts  zurück. 

Ein  Umstand  allerdings  kommt  Lotze  zu  gute.  Keiner  der 
mannigfach  verschiedenen  entgegenstehenden  Ansichten,  müssen 
wir  zugeben,  ist  es  bis  jetzt  gelungen,  jene  Einheit  von  der 
Annahme  aus  erklärlich  zu  machen,  dass  die  psychischen  Vor- 
gänge örtlich  bestimmt  sind,  d.  h.  einer  an  bestimmte  Centren 
verteilten  Molecularbewegung  parallel  laufen.  Daraus  folgt 
jedoch  gerade  im  Sinne  der  von  Lotze  angezogenen  natur- 
wissenschaftlichen Hypothesenbildung  nur,  dass  jene  Tatsache 
bisher  auf  dem  Wege  nicht  erklärlich  geworden  ist,  der  eine 
grosse  Zahl  minder  complicirter  Vorgänge  der  Erklärung  um 
vieles  näher  geführt  hat.  Vi^ir  dürfen  überdies  aber  um  so 
sicherer  hoffen,  dass  eine  solche  Ableitung  sich  noch  finden 
lassen  werde,  als  das  Theorem  einer  Seelensubstanz  durch  jeden 
Schritt,  der  in  den  letzten  Jahrzehnten  durch  die  Gehirnforschung 
vorwärts  getan  ist,  an  Boden  verloren  hat. 

Ebenso  wenig  aber,  als  hiernach  ein  so  competenter  Sach- 
walter wie  Lotze  der  Psychologie  ohne  Seele  ihr  Recht  streitig 
machen  kann,  möchte  es  Brentano  gelungen  sein  oder  ge- 
lingen können,  den  Schluss  gegen  die  physiologische 
Basirung  der  Psychologie  glaubhaft  zu  machen,  den  er 
aus  seiner  umsichtigen  und  eindringenden  Kritik  mancher 
Irrtümer  von  Horwicz  und  Maudsley  zieht.  Brentano  erkennt 
bekanntlich  nicht  nur  an,  was  schon  Mill  behauptet  hat,  dass 
es  ein  sehr  grosser  Irrtum  im  Prinzip  und  ein  sehr  ernstlicher 
Irrtum  in  der  Praxis  sei,  die  Psychologie  auf  Daten  zu  gründen, 
wie  sie  die  Physiologie  bis  jetzt  darbietet;  er  behauptet  sogar 
überdies,  dass  selbst  die  Beimischung  der  physiologischen  Unter- 
suchung zur  psychologischen  in  bedeutendem  Umfange  wenig 
rätlich  erscheine,  da  es  bis  zur  Stunde  nur  wenige  gesicherte 
Daten  der  Physiologie  gebe ,  die  auf  die  psychischen  Vorgänge 
Licht  werfen  könnten.  Dieses  Urteil  ist  leider,  wol  der  Natur 
der  Sache  nach,  etwas  unbestimmt,  so  dass  wir  das  Ausbleiben 
des  zweiten  Bandes  des  Brentanoschen  Werkes  bedauern  möch- 
ten, in  dem  uns  jedenfalls  an  der  Behandlung  speziellerer  Probleme 


Zur  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutschland.         §§5 

gezeigt  werden  würde,  wie  der  Verfasser  die  Bewährung  des- 
selben im  einzelnen  zutreffend  gefunden  hat.  Jedoch  die  Be- 
hauptung ist  immerhin  bestimmt  genug,  um  vorläuOg  den  ent- 
schiedensten Widerspruch  herauszufordern. 

Ich  muss  mich  fast  scheuen,  zunächst  daran  zu  erinnern, 
dass  eine  psychologische  Theorie  der  Wahrnehmung  gegen- 
wärtig geradezu  ausser  Stande  sein  würde,  nicht  auf  Schritt 
und  Tritt  physiologische  Data  zu  verwerten,  selbst  wenn  sie 
sich  jedes  Versuchs  enthält,  entwicklungsgeschichtliche  Gesichts- 
punkte in  ihre  Discussion  hinein  zu  ziehen.  Es  liegt  jedoch 
überdies  kein  Grund  mehr  vor,  sich  eine  solche  Entsagung 
gegenwärtig  noch  aufzuerlegen.  Einige  kurze  Andeutungen 
mögen  dies  erhärten.  Obgleich  die  Ergebnisse  der  vergleichend 
sinnesphysiologischen  Forschung  besonders  nach  Seiten  ihrer 
psychologischen  Interpretation  noch  sehr  unsicher  sind,  so  lässt 
sich  aus  ihrer  Gesammtheit  doch  wol  mit  grosser  Wahrschein- 
lichkeit, jedenfalls  aber  als  eine  disculirbare  Hypothese  die  An- 
sicht schliessen,  die  bereits  mehrfach  erörtert  ist,  dass  unsere 
speciellen  Sinnesempfindungen  als  differenzirte  Tastempfindungen 
anzusehen  sind.  Genauer  werden  wir  anzunehmen  haben,  dass 
in  denjenigen  Organismen,  die  nur  über  das  ganze  Inlegument 
verbreitete  Tastorgane  besitzen,  Tast-  und  Wärmempfindungen 
allein  (in  entsprechender  qualitativer  und  quantitativer  Unbe- 
stimmtheit natürlich)  vorhanden  sind.  Aus  der  Art  der  Ent- 
wicklung der  Endorgane,  sowie  aus  Reflexionen  über  die  psy- 
chische Selbständigkeit  der  Wärmeempfindungen  dürfen  wir 
dann  weiter  schliessen,  dass  die  Gehörs-,  Geschmacks-  und 
Geruchsempfindungen  sich  aus  denen  des  Tastsinns  im  engeren 
Sinne,  die  Lichtempfindungen  dagegen  aus  denen  der  (strah- 
lenden) Wärme  entwickelt  haben.  Für  den  allmählichen  Ueber- 
gang  der  Tastorgane  in  Gehörorgane  haben  wir  in  einem  Falle 
sogar  ein  sicher  constatirtes  Beispiel.  Ist  dies  aber  auch  nur 
dem  allgemeinen  Gedanken  nach  zutreffend,  so  scheint  mir, 
müssen  wir  noch  einen  Schritt  weiter  gehen.  Einmal  nämlich 
sind  wir  doch  gezwungen,  wollen  wir  nicht  eine  psychische 
Kluft  statuiren,  wo  organisch-mechanische  Uehergänge  vorhanden 


386  B.  Erdmann: 

sind,  auch  denjenigen  thierischen  Organismen  psychisches  Leben 
zuzuschreiben,  die  noch  kein  differenzirtes  Muskel-  und  Nerven- 
gewebe besitzen.  Andrerseits  aber  haben  wir  kein  Recht,  den- 
selben Empfindungen  und  damit  Vorgänge  des  Intellects  zu- 
zuerkennen. Das  psychische  Leben  dieser  niedersten  Organismen 
muss  daher  auf  die  Vorgänge  des  Fühlens  und  der  Bewegungs- 
innervationen  beschränkt  sein.  Dieses  Erfcebniss  aber  besagt, 
dass  alle  unsere  Empfindungen  ihrer  Qualität  nach  nichts 
als  differenzirte  Gefühle  sind,  differenzirt,  sofern  sie  bestimmten 
Reizen  angepasst  und  dadurch  zu  Zeichen  für  diese  Reize  ge- 
worden sind  ^).  Für  dasselbe  spricht  unter  anderem,  dass  die- 
jenigen Endorgane  zuerst  auftreten,  die  den  gröbsten,  häufigsten 
und  daher  die  Erhaltung  des  Organismus  am  leichtesten  ge- 
fährdenden Reizen  entsprechen;  dann  auch,  dass  der  Gefühls- 
inhalt der  Empfindungen  in  dem  Masse  abnimmt,  als  sie  ihrer 
neuen  Aufgabe,  Zeichen  für  die  Beschaiffenheit  der  Reize  zu 
sein,  durch  Feinheit  der  Unterscheidung  und  Schärfe  der 
Localisation  sich   gewachsen   zeigen.    Die  Gehörsempfindungen 


')  Es  ist  wol  kaum  notwendig,  dass  ich  ausdrücklich  erwähne, 
wie  weit  diese  Theorie  sich  von  der  Annahme  Horwicz^  unterscheidet, 
der  alle  seelischen  Processe  auf  die  Gefühle  der  Lust  und  Unlust 
als  die  letzten,  einfachsten,  in  allen  Formen  und  Pro- 
cessen als  Grund  typuswiederkehrendenSeelen  demente 
zurückzuführen  sucht.  Denn  es  handelt  sich  einmal  nicht  um  alle 
psychischen  Vorgänge,  sondern  lediglich  um  die  Qualität  der  Em- 
pfindungen. Sodann  ist  nicht  behauptet,  dass  die  Gefühle  in  dem 
tatsächlichen  Bestände  unseres  psychischen  Lebens  diejenige  Bolle 
spielen,  die  Horwicz  ihnen  nach  dem  Angedeuteten  zuweist.  Materiell 
genommen  ist  allerdings  die  oben  vertretene  Ansicht  in  den  Theo- 
remen von  Horwicz  enthalten.  Dieselbe  macht  die  Gefühlsvorgänge 
überdies  zu  einem  spezifischeren  Rennzeichen  des  Psychischen,  als 
aus  dem  oben  Entwickelten  hervorgeht.  Denn  die  auch  von  Bren- 
tano eingehend  motivirte  Annahme,  dass  die  Willensvorgänge  als 
solche  nicht  durch  ein  dem  Fühlen  oder  Vorstellen  coordinirtes  Be- 
standstück des  Bewusstseins  gegeben  sind,  dass  ihr  Bewusstseins- 
gehalt  somit  nur  durch  die  Innervationsgetühle  u.  s.  w.  repräsentirt 
wird,  scheint  mir  aliein  den  psychischen  Tatsachen  gerecht  zu 
werden. 


Zur  zeitgenössichen  Psychologie  in  Deutschland.  387 

bilden  hier  nur  eine  scheinbare  Ausnahme.  Einmal  sind  sie 
künstlich  gezüchtet;  dann  ist  die  Feinheit  ihrer  Localisation 
dem  Reichtum  ihrer  qualitativen  Differenzen  nicht  proportional. 
Nur  liinweisen  endlich  will  ich  noch  auf  die  Umbildung,  die 
von  hier  aus  dem  Gesetz  der  spezifischen  Sinnesenergien  zu 
Teil  werden  rauss,  eine  Umbildung  übrigens,  die  den  Gedanken 
J.  Müllers  nicht  aufhebt,  sondern  nur  neben  der  unmittelbaren 
Beziehung  auf  den  psychophysischen  Vorgang  noch  eine  mittel- 
bare, allerdings  ursprünglichere,  den  psychophysischen  Vorgang 
selbst  bestimmende  Beziehung  auf  den  Reiz  hinzufügt. 

Es  würde  hier  zu  weit  führen,  diese  Gesichtspunkte  ins 
einzelne  zu  verfolgen;  sie  genügen  jedoch  für  sich,  wie  ich 
glaube,  um  zu  zeigen,  dass  die  Theorie  der  Wahrnehmung  nicht 
bloss  das  Recht,  sondern  auch  die  Pflicht  hat,  sich  sogar  über 
die  Fragen  nach  dem  tatsächlichen  Bestand  unserer  Wahr- 
nehmung hinaus  bei  jedem  Schritt  auf  die  Ergebnisse  der 
mechanisch  biologischen  Disciplinen  zu  stützen.  Ganz  Ent- 
sprechendes gilt  ferner  vom  Gedächtnjss.  Es  genügt  für  das- 
selbe, auf  die  Untersuchungen  z.  B.  von  Bain,  Hering,  Ribot, 
Kussmaul,  Hensen  u.  a.  hinzuweisen.  Dieselben  sind  sich,  darin 
gleich  und  treffen  darin  das  Rechte,  dass  sie  das  Gedächtniss 
als  einen  Process  kennzeichnen,  der  den  mechanischen  Vor- 
gängen im  Nervensystem  überhaupt,  so  anhaftet,  dass  er  aJs 
eine  allgemeine  Function  derselben  angesehen  werden  kann. 
Das  mechanische  Aequivalent,  wenn  man  so  sagen  darf,  der 
psychischen  Tatsache  bilden  nämlich  teils  die  Gleichartigkeit  der 
Reize  und  der  ihnen  entsprechenden  MolecuJarvorgänge ,  teils 
die  Tatsachen  der  Trägheit  und  der  Einübung  durch  Gewohn- 
heit. Eine  Function  der  Nervenprocesse  aber  ist  es  natürlich 
nur  in  dem  Sinne  der  Unbestimmtheit  der  unabhängigen 
Variabein,  in  dem  wir  von  empirisch -psychologischem  Stand- 
punkt aus  bis  jetzt  allein  functionelle  Beziehungen  zwischen 
Psychischem  und  Mechanischem  annehmen  dürfen. 

Damit  aber  sind  endlich  Data  genug  gewonnen,  um  die 
physiologischen  Theorien  auch  für  die  Discussion  des  Asso- 
ciationsprocesses  verwertbar  zu  machen,  den  wir  gelernt  haben 


388  B.  Erdmann: 

auf  die  Gesetze  der  Verschmelzung  und  Verflechtuhg,  der  Re- 
produciion  und  Association  im  engeren  Sinne  und  damit  der 
ApperceptionsYoi^änge  zurückzufuhren.  Selbst  an  mechanischen 
Aequivalenten  fehlt  es  hier  nicht  mehr  ganz,  da  uns  einerseits 
die  Theorie  des  Gedächtnisses,  andererseits  die  Theorien  der 
Localisatiott  der  psychischen  Functionen  im  Gehirn  Hilfsmittel 
genug  geben,  wenigstens  allgemeine  Vorstellungen  über  die  ent- 
sprechenden Molecularvorgänge  zu  bilden.  Die  Annahme  aller- 
dings muss  bei  alF  solchen  Versuchen  festgehalten  werden,  dass 
es  abgeschmackt  ist,  die  psychischen  Processe  schlechtweg  nach 
Analogie  der  parallellaufenden  mechanischen,  etwa  der  elektri- 
schen oder  chemischen  zu  erklären.  Nur  auf  einen  Punkt 
möchte  ich  aufmerksam  machen.  Das  Gesetz  der  Causalität  ist 
ein  rein  intellectuelles ;  es  kommt  daher  nicht  dem  psychischen 
Leben  als  solchem  zu,  sondern  nur  denjenigen  Entwicklungs- 
stufen desselben,  in  denen  Gefühle  zu  Empfindungen  diffe- 
renzirt  sind.  Nun  ist  dasselbe  in*  ursprünglichstem  und  all- 
gemeinstem Sinne  das  Gesjetz  der  Localisation  der  Empfindungen. 
Sofern  wir  nämlich  unsere  Empfindungen  als  Eigenschaf- 
ten der  Dinge  objecüviren,  setzen  wir  sie  als  Ursachen  eben 
dieser  Empfindungen  als  Vorstellungen.  V^ir  yerlegen 
den  Ausgangspunkt  der  Wirkung  an  denjenigen  Ort  des  Raums, 
auf  den  wir  die  Empfindung  projiciren.  Die  empirischen  Be- 
dingungen der  Difi'erenzirung  der  Gefühle  zu  Empfindungen^ 
die  als  subjective  zugleich  apriorisch  sind,  d.  i.  von  den  eigen- 
artigen Gesetzen  des  Psychischen  abhängen,  sind  zugleich  und 
in  entsprechendem  Sinne  die  empirischen  Bedingungen  der  Ent- 
wicklung des  Causalgesetzes,  und  damit  auch  des  Substanzbegrifis. 

Somit  giebt  es  in  der  Tat,  was  gegen  Brentano  zu  erweisen 
war,  kein  allgemeineres  psychologisches  Problem ,  das  gegen- 
wärtig noch  die  Hilfe  der  biologischen  Disciplinen  entbehren 
könnte,  ohne  seine  Lösung  zu  gefährden.  Dadurch  aber  haben 
wir  uns  das  Recht  gesichert,  der  Charakteristik  Ribots  auch  in 
diesem  Punkte  zuzustimmen« 

Nicht  ebenso  können  wir  allen  den  Argumenten  bei- 
pflichten, durch  die  Ribot  seine  Auffassung  des  Verhältnisses 


Zar  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutschland.         389 

der  Psychologie  zur  Physiologie  motivirt.  Es  ist  zwar  eine 
nicht  selten  gehrauchte  Wendung,  dass  der  Uebergang  der  an- 
organischen zu  den  organischen  Vorgängen  nicht  weniger  un- 
erklärlich sei,  als  der  Uebergang  der  mechanischen  Lebens- 
Vorgänge  zu  denen  des  Bewusstseins,  dass  also  die  Schwierigkeit 
in  beiden  die  gleiche  sei.  Das  Argument  hat  jedoch  durch  die 
mehrfache  Variation,  die  ihm  zu  Teil  geworden  ist,  an  Beweis- 
kraft nichts  gewonnen.  Denn  dort  handelt  es  sich  um  die 
Transformation  von  Bewegungsvorgängen ,  deren  allgemeine 
Gesetze  in  beiden  Gliedern  die  gleichen  sind^  hier  dagegen  um 
den  Uebergang  von  Bewegungsvorgängen  in  solche,  deren  Zu- 
sammenhang nach  seinem  psychischen  Bestände  jeden  Vergleich 
mit  den  ersteren  ausschliesst  Mir  scheint  sogar,  Ribot  müsse 
diese  Doppelheit  des  Mittelbegrilfs  selbst  zugeben;  denn  der 
Gedanke,  dass  Psychisches  und  Mechanisches  nur  die  beiden 
Erscheinungsseiten  des  Wirklichen  sind,  dem  er  im  metaphy- 
sischen Gedankenhintergrunde  zustimmt,  ist  nur  unter  dieser 
Voraussetzung  berechtigt 

Ebenso  zutreffend  endlich,  wie  die  bisher  erörterte  Charak- 
teristik der  modernen,  ist  Ribots  Analyse  der  metaphysischen 
Psychologie.  Und  gewiss  kann  ihm  kein  Vorwurf  daraus  ent- 
springen, dass  er  ähnlich  wie  in  seinem  Werk  über  die  eng- 
lische Psychologie  die  Arbeiten  der  zeitgenössischen  Vertreter 
derselben,  die  für  die  neue  Bewegung  keine  Triebkräfte  ge- 
liefert haben,  von  seiner  Betrachtung  ausschliesst.  Denn  er 
betont  selbst,  dass  es  ihm  nicht  um  eine  historische  Darstellung 
des  gegenwärtigen  Zustandes  der  deutschen  Psychologie  zu  tun 
ist,  die  eine  solche  Rücksichtnahme  nicht  wol  entbehren  könnte, 
sondern  um  eine  sachliche  Darstellung  derjenigen  Forschungen, 
denen  er  eine  grössere  Wirksamkeit  in  seinem  Vaterlande 
wünscht. 

In  dem  Bisherigen  sind  nur  die  Kennzeichen  besprochen, 
die  nach  Ribot  die  exacte  Psychologie  unserer  Zeit  überhaupt 
bestimmen.  Der  Verfasser  erörtert  ferner  den  Unterschied,  der 
die  psychologische  Arbeit  in  England  von  der  unsrigen 
scheidet.    Die  erstere,  die   in   continuirlicher  Tradition  durch 


390  B.  Erdxnann: 

James  Mill,  Hartley,  Hume  und  Berkeley  bis  auf  Locke  zurück 
geht,  lässt  sich,  wie  Ribot  findet,  im  weitesten  und  besten 
Sinne  als  eine  descriptive  bezeichnen,  da  sie  es  vor  allem 
zu  ihrer  Aufgabe  gemacht  hat,  die  psychischen  Phänomene  zu 
analysiren  und  nach  ihren  allgemeinsten  Gattungsbegriffen  zu 
ordnen.  In  Folge  dessen  gehen  denn  auch  die  allgemeinen 
Resultate  bei  den  beiden  Hills,  bei  Spencer,  Bain,  Lewes,  Bai- 
ley  u.  a.  nur  wenig  auseinander:  das  Associationsgesetz  nach 
Contiguität  und  Aehnlichkeit  bildet  für  sie  alle  das  wesentliche 
Instrument  der  Bearbeitung  der  psychologischen  Begriffe  (XVIII, 
XXX,  358  f.;  vgl.  Psych,  angl.  contemp.  40  f.,  422  f.). 

Der  deutschen  Psychologie  dagegen  fehlt  zunächst  die 
Uebereinstimmung  in  den  grundlegenden  Fragen,  denn  sie  be- 
sitzt weder  eine  continuirliche  Tradition  noch  geschlossene 
Schulen;  alles  Hierhergehörige  ist  neu.  (XXX  f.)  Diese  neuen 
Untersuchungen  enthalten  ferner  nur  zum  kleinsten  Teil  de- 
scriptive Analysen;  sie  sind  vielmehr,  wie  Ribot  hervorhebt, 
im  eigentlichsten  Sinne  physiologischen  Charakters,  sofern 
ihre  Urheber,  zum  grossen  Teil  Physiologen  von  Fach,  von 
denen  bestimmte  einzelne  Gebiete  bearbeitet  worden  sind,  das 
physiologische  Experiment  zuerst  in  der  Psychologie  heimisch 
gemacht  haben.  Ihr  Gebiet  ist  daher  nach  Ribots  Urteil  ein 
beschränkteres  geblieben.  Nur  die  beiden  Endprocesse,  die 
Sensation  und  der  Bewegungsact ,  sind  eingehender  discutirt, 
im  einzelnen  also  „die  Reflexbewegungen  und  die  Instincte,  die 
sinnlichen  Empfindungen  und  die  Vorstellungen  von  Raum  und 
Zeit,  die  Bewegungen  überhaupt,  die  Ausdrucksbewegungen  und 
die  Sprache,  die  Bedingungen  des  Willens  und  der  Aufmerk- 
samkeit, endlich  die  einfacheren  Formen  des  Gefühls".  Ver- 
nachlässigt dagegen  findet  Ribot  die  centralen  Acte,  d.  i.  wie 
wir  sagen  wurden  den  Apperceptionsprocess.  Ihre  hauptsäch- 
lichen Ergebnisse  liegen  daher  seiner  Darstellung  nach  in  der 
experimentellen  Ergründung  der  scheinbar  einfachsten  Bewusst- 
seinstatsachen ,  in  den  Messungen  des  Verhältnisses  zwischen 
Reiz  und  Empfindung   sowie  der  Dauer  der  psychischen  Acte, 


Zur  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutschland.         391 

in  der  Entwicklung  endlich   der  Localisationstheorie  der  sinn- 
lichen Wahrnehmung. 

Der  Vergleich,  der  hiernach  zwischen  den  beiden  Richtungen 
der  modernen  Psychologie ,  der  physiologischen  im  engeren 
Sinne  und  der  descriptiven  möglich  ist,  fällt,  wie  Ribot  an- 
erkennt, im  ganzen  zu  Gunsten  der  deutschen  Wissenschaft 
aus.  Denn  dieselbe  zeigt  bei  dem  gleichen  Ziel  eine  stärkere 
Tendenz  zur  Exactheit,  wie  dies  sich  auch  äusserlich  daran 
erkennen  lässt,  dass  sie  sich  mehr  in  der  Form  der  Erörterung 
einzelner  und  einzelnster  Fragen  entwickelt  Ribot  betrachtet 
es  daher  als  einen  Vorzug  der  Sache,  dass  er  in  dem  vor- 
liegenden Werk  nicht  wie  bei  seiner  Analyse  der  enghschen 
Psychologie  gezwungen  war,  die  Darstellung  lediglich  der  zeit- 
lichen Aufeinanderfolge  und  der  dadurch  gegebenen  causalen 
Abhängigkeit  der  einzelnen  psychologischen  Autoren  anzupassen, 
sondern  diese  Ordnung  durch  eine  solche  nach  systematischen 
Gesichtspunkten  durchbrechen  konnte.  Historisch  geordnet 
sind  die  Abschnitte  über  Herbart  (1 — 35),  die  her  bar- 
tische Schule,  speziell  Waitz,  Lazarus  und  Steinthal 
(35-59),  Beneke  (59—67),  Lotze  (67—103),  Fechner 
und  seine  Kriüker  (155-215)  und  Wundt  (215—299),  dem 
das  umfangreichste  Capitel  gewidmet  ist«  Zwischen  Lotze  und 
Fechner  aber  ist  eingeschoben  der  Streit  des  Empirismus 
und  des  Nativismus  über  den  Ursprung  der  Raum  Vor- 
stellung und  der  räumlichen  Locahsation  (103 — 155);  nach 
Wundt  fernei*  werden  die  Untersuchungen  über  die  Dauer  der 
psychischen  Acte  behandelt  (299 — 339);  den  Schluss  end- 
Uch  bildet,  abgesehen  von  einer  kurzen  Zusammenfassung  der 
hauptsächUchen  Resultate,  eine  systematisch  angelegte  Skizzirung 
der  Arbeiten  von  Brentano  und  Horwicz  (339—365). 

Auch  mit  diesen  Ausführungen  Ribots  über  das  Verhältniss 
der  neueren  psychologischen  Richtungen  dürfen  wir  uns  im 
ganzen  einverstanden  erklären.  Die  Kennzeichnung  der  deutschen 
Psychologie  als  einer  im  engeren  Sinne  physiologischen  trifft 
in  der  That  den  Schwerpunkt  unserer  zeitläufigen  Arbeit 

Trotzdem    jedoch    möchte    diese    Charakteristik    für    das 


392  B.  Erdmann: 

Ganze  unserer  zeitgenössischen  Psychologie  nicht  so  zutreiTend 
sein,  als  es  nach  Ribots  Darstellung  der  Fall  sein  müsste.  Zum 
Teil  hat  der  Verfasser  dies  selbst  erkannt  und  durch  nähere 
Bestimmung  berichtigt.  Bei  der  Besprechung  nämlich  der  ein- 
ander fast  diametral  entgegengesetzten  Methoden  von  Horwicz 
und  Brentano  trennt  er  unsere  physiologische  Psychologie 
wieder  in  zwei  spezieller  bedingte  Richtungen,  in  die  ideologische 
und  die  physiologische  in  eigentlichstem  Sinne.  Die  erstere 
aber,  in  die  ausser  Brentano  etwa  noch  Herbart  und  seine 
Schule  sowie  Beneke  und  Lotze  hineingehören,  tritt  offenbar 
aus  dem  Rahmen  der  Zeichnung  heraus,  selbst  wenn  man  hiuzu- 
nimmt,  dass  die  Genannten  ausser  Brentano  der  metaphysischen 
Psychologie  beizurechnen  sind. 

Dazu  kommt,  dass  Ribot  nach  zwei  Seiten  hin  das  Gewicht 
der  rein  psychologischen  Arbeiten  etwas  unterschätzt  haben 
möchte.  Einmal  nämlich  besitzen  wir  eine  nicht  ganz  geringe 
moderne  Literatur  zur  Theorie  der  Aifecte  u.  s.  w.,  die  ihre 
erste  ursprünglichere  Wurzel  in  Schopenhauers  bezüglichen  An- 
sichten, eine  spätere  schwächere  sodann  in  Darwins  Lehre  hat. 
Hierher  gehört  z.  B.  Dubocs  Psychologie  der  Liebe,  eine  Schrift, 
die  ein  wertvolles  Beispiel  einer  klaren  psychologischen  Analyse 
giebt.  Ebendahin  möchte  ich  die  Arbeit  von  Paul  Ree  über 
den  Ursprung  der  moralischen  Empfindungen  rechnen,  der, 
man  mag  über  die  Berechtigung  seiner  Auffassung  der  ethischen 
Wertschätzung  denken,  wie  man  will,  die  Anerkennung  einer 
sehr  scharfsinnigen,  psychologisch  fein  entwickelten  Analyse 
der  tatsächlichen  Motive  unseres  Handelns  nicht  versagt  werden 
kann.  Es  sind  spezielle,  von  der  allgemeinen  Arbeit  der  Psy- 
chologen nur  gelegentlich  in  Angriff  genommene  Schachte,  die 
hier  ausgegraben  werden,  und  die  Antriebe  zu  ihrer  Bearbeitung 
liegen  durchaus,  polemisch  oder  zustimmend,  auf  ethischem  Ge- 
biet; aber  was  die  Arbeiter  zu  Tage  gefördert  haben,  trägt  die 
Merkmale  der  modernen  Art  metaphysisch  unabhängiger  psycho- 
logischer Forschung. 

Auffallender  jedoch  ist  ein  zweiter  Punkt.  Ribot  behandelt 
Steinthal  nur  in  Beziehung  zu   der  von  ihm   und  Lazarus 


Zur  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutschland.         393 

begründeten  Abzweigung  des  psychologisch  -  historischen  For- 
schungsgebiet3  der  Völkerpsychologie,  [n  Zusammenhang  hier- 
mit mag  es  stehen,  dass  er  unter  den  Werken  desselben  die 
„Einleitung  ^  in  die  Psychologie  und  Sprachwissenschaft'^  nicht 
nennt.  Er  urteilt  nämlich,  Steinthal  sei  bekannt  durch  sprach- 
wissenschaftliche Arbeiten,  denen  man  metaphysische  Tendenzen 
vorwerfe,  durch  Schritten  nämlich  „über  den  Ursprung,  die 
Entwicklung  und  die  Klassifikation  der  Sprachen,  sowie  über 
das  Verhältniss  der  Grammatik  zur  Psychologie  und  Logik/' 
Demnach  möchte  er  in  der  letzteren  Andeutung  nicht  das 
eben  genannte  Werk  vor  Augen  gehabt  haben,  sondern  den 
Inhalt  der  1864  veröffentlichten  Abhandlung  über  Philologie 
Geschichte  und  Sprachwissenschaft.  Denn  an  diese  werden  wir 
zunächst  erinnert,  und  andrerseits  würde  jene  Bezeichnung 
doch  keine  zutreffende  Charakteristik  dieses  Hauptwerkes  von 
Steinthal  geben.  Durch  eine  solche  enge  Kennzeichnung  nun 
gelangt  Steinthal  nach  seinen  hauptsächlichen  psychologischen 
Verdiensten  nicht  2ur  Anerkennung.  Ich  halte  sogar  dafür,  dass 
jenes  Werk  die  gehaltvollste  Leistung  auf  rein  psychologischem 
Gebiete  ist,  die  uns  in  dem  letzten  Jahrzehnt  geboten  wurde. 
Eine  Bestätigung  dafür  bietet  die  Tatsache,  dass  Steinthal  allein 
unter  allen  schulenbildend  gewirkt  hat;  aus  mehr  als  einem 
Kennzeichen  folgt  überdies^  dass  seine  Wirksamkeit  sich  auf 
weitaus  die  meisten  jüngeren  Autoren  erstreckt,  die  psycho- 
logische Fragen  bei  uns  discutirt  haben.  Vor  allem  seine  ein- 
gehend entwickelte  Theorie  der  Appercepüon  giebt  eine  so  ein- 
schneidende und  zutreffende  Fortbildung  der  herbartischen 
Theorie,  dass  sie  für  die  nächste  Zukunft  ohne  Zweifel  die 
Basis  für  aUe  hierhergehörigen  Untersuchungen  bilden  wird. 
Aehnliches  gilt  im  Ganzen  auch  von  seiner  Auffassung  der 
psychologischen  Entwicklung  der  Menschen  zur  Sprache,  ob- 
gleich hier  seine  Betonung  der  Beflextatigkeit  wol  über  das 
Ziel  hinausschiesst.  Ich  sehe  wenigstens  nicht,  wie  die  Vor- 
stellung, auf  die  er  folgerichtig  geführt  wird,  „dass  der  Ur- 
mensch in  grösster  Lebhaftigkeit  alle  Wahrnehmungen,  alle 
Anschauungen,    die  seine    Seele    empfing,    mit   leiblichen  Be- 

'nerteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  Philosophie,  in.  4.  26 


394  B-  Erdmann: 

wegungen,  mimischen  Stellungen,  Gebärden  und  besonders 
Tönen,  ja  sogar  articulirten  Tönen  begleitete''^  mit  denjenigen 
immerhin  minder  abstracten  Folgerungen  vereinbar  sei,  die 
wir  aus  entwicklungsgeschichtlichen  Prämissen  über  die  phy- 
sische Reizbarkeit  des  Urmenschen  abzuleiten  haben.  Doch 
ich  kann  nicht  versuchen,  in  die  Discussion  hierüber  ein- 
zutreten. 

Auf  seine  Theorie  der  Apperception  dagegen  möchte  ich 
mir  erlauben  abzuschweifen,  um  an  einer  Probe  zu  zeigen,  in 
welchem  Masse  selbst  die  Fortbildung^  so  weit  sich  bis  jetzt 
urleilen  lässt,  an  den  durch  Steinthal  erreichten  Besitzstand 
gebunden  isL  Steinthal  unterscheidet,  wie  den  Lesern  dieser 
Zeitschrift  bekannt  sein  wird,  die  identificirende,  subsumirende, 
'  harmonisirende  und  schöpferische  Apperception.  Dass  die  dritte 
derselben,  die  harmonisirende,  den  anderen  nicht  coordinirt 
sei,  gesteht  er  selbst  zu.  Mir  scheint,  sie  hat  bei  Steinthal  ihre 
selbständige  Stellung  nur  dadurch  e;rhalten,  dass  er  die  Sub- 
sumtion nach  dem  Schema  der  formalen  Logik  schlechtweg  als 
ein  Yerhältniss  des  Umfangs  fasst,  während  sie  doch,  sofern 
sie  durch  Verschmelzung  bedingt  ist,  ebenso  auf  einer  Beziehung 
des  Inhalts  beruht.  In  jedem  subsumirenden  Urteil,  z.  B.  Cajus 
ist  ein  Mensch,  ist  der  Grund  der  Bildung  ebenso  wie  in  jedem 
identificirenden  bedingt  durch  die  Verschmelzung  der  in  der 
Perception  enthaltenen  Merkmale  mit  denen  der  appercipirenden 
Vorstellung,  sodann  durch  die  unbewusst  eintretende  Repro- 
<luction  der  in  der  letzteren  associirten  Vorstellungselemente. 
Dass  die  Begriffe  „auch  ihrem  Inhalte  nach  einander  entgegen- 
gesetzt, widersprechend  oder  mit  einander  übereinstimmend 
oder  indifferent  gegen  einander''  sind,  beruht  demnach  auf 
keinem  eigenartigen  Apperceptionsprocess  .neben  dem  idenüfi- 
«irenden  oder  subsumirenden.  Doch  nicht  dies  war  es,  was 
ich  hervorheben  möchte.  Es  lässt  sich  nämlich  unschwer 
zeigen,  dass  Steinthal  in  seiner  Aufzählung  eine  durchaus  co- 
ordinirte  Art  übergangen  hat,  d.  i.  die  d e ter min ir ende 
Apperception.  Durch  diese  denken  wir  überall ,  wo  uns  die 
percipirten  Massen    in   der  Form  von  Allgemeinvorstellungen, 


Zur  zeitgeDössischen  Psychologie  in  Deutschland.         395 

also  durch  Worte  gegeben  werden.  So  beim  Lesen,  im  Ge- 
spräch u.  s.  w.  Die  Verschmelzung,  etwa  beim  Lesen  der 
Schilderung  einer  nicht  namentlich  genannten^  uns  aber  be- 
kannten Landschaft,  tritt  dann  durch  die  allmähliche  gegenseitige 
Determination  der  Worte  ein,  die  je  zahlreicher  und  passender 
sie  sind,  um  so  bestimmter  aus  den  verschiedenen  gegebenen 
Apperceptionsmassen  die  richtige  reproduciren.  Eben  in  diese 
Klasse  gehört  auch  das  Raten  von  Rätseln,  deren  Lösung  die 
entsprechenden  Apperceptionsmassen  als  vorher  schon  gegeben 
voraussetzt. 

Kehren  wir  nunmehr  zu  Ribots  Urteil  über  Steinthal  zu 
rück,  so  ist  noch  hervorzuheben,  dass  gerade  das  besprochene 
Werk  unseres  Psychologen  am  wenigsten  dazu  angetan  ist,  ihm 
mit  Recht  den  Vorwurf  einer  grösseren  Abhängigkeit  von  der 
Metaphysik  zu  machen,  als  die  Sache  fordert  und  verträgt.  An 
ausdrücklichen  Abweisungen  der  Metaphysik  hat  es  Steinthal 
wenigstens  nicht  fehlen  lassen.  So  erklärt  er  gelegentlich :  „die 
Psychologie  ist  durchaus  Erfahrungswissenschaft  und  ihre  Auf- 
gabe kann  nicht  weiter  reichen  als  bis  dahin,  die  Bedingungen 
festzustellen^  unter  denen  erfahrungsmässig  ein  bestimmter  Er- 
folg eintritt.  Weiter  reicht  auch  die  empirische  Naturwissen- 
schaft nicht,  und  jeder  Schritt  weiter  nach  causaler  oder  teleo- 
logischer Richtung  gehört  in  die  Metaphysik  und  in  die 
Religionsphilosophie**.  Diesem  leitenden  Grundsatz  entsprechen 
denn  auch  die  einzelnen  Ausführungen  vollständig  genug.  Ja, 
man  könnte  sogar  behaupten,  Steinthal  gebe  hier  der  Meta- 
physik weniger  als  ihr  gebührt.  Wenn  er  die  Behauptung  des 
modernen  Materialismus,  die  seelischen  Vorgänge  seien  etwa 
„eine  Auslösung  der  Elektricität  ganz  ebenso,  wie  alle  mecha- 
nischen Vorgänge  einander  auslösen**,  für  eine  blosse,  durch 
Experiment  und  Rechnung  noch  zu  bestätigende  Vermutung 
erklärt,  so  scheint  mir  ein  Gedanke  als  möglich  festgehalten^ 
den  schon  die  Tatsachen  des  Bewusstseins  selbst  auszu- 
schliessen  geeignet  sind,  der  aber  gegenwärtig  gewiss  jedem 
Versuch  eingehenderer  metaphysischer  Orientirung  zum  Opfer 
fallen  muss. 

26* 


396  B.  Erdmann: 

Id  diesem  Uebergehen  Steinlhals,  dessen  Unzulässigkeit  bei 
uns  keinem   ernsten  Zweifel  begegnen  möchte^  findet  sich  die 
einzige    wesentliche  Lacke  des   Ribofschen   Werks.     Vielleicht 
wird   dieselbe    dadurch    erklärlich,    dass    diejenigen   Probleme, 
welche   die  Sprachwissenschaft    der   Psychologie    darbietet,   in 
Ribots  Darstellung  überhaupt  fast  vollständig  zurücktreten.     So 
ist  auch  das  Werk  von  Kussmaul  nicht  näher  gewürdigt,   das 
gewiss  allen  Anspruch  darauf  hat,  als  ein  Beispiel  für  die  Lei- 
stungen  behandelt  zu   werden,   die   der  Psychologie  aus  den 
Händen  eines  ebenso  scharfsinnigen   wie   sorgsamen  und  psy- 
chologisch   wol    orientirten    Physiologen    dargeboten    werden. 
Diese  Lücke  ist  nun  allerdings  derart,  dass  ihre  Ausfüllung  das 
Bild    der    zeitgenössischen    deutschen  Psychologie   etwas   ver- 
schiebt und  zwar  zu  Gunsten   derjenigen  Probleme,   die  Ribot 
gegenüber   der   Untersuchung    der    beiden    psychischen    End- 
processe,   der  Wahrnehmung  und  der  Willensinnervation  ver- 
nachlässigt findet.     Ribot  hat  sich  dadurch  zugleich  eine  dank- 
bare  Gelegenheit  entgehen  lassen  müssen,   den   Vergleich   der 
deutschen  mit  der  englischen  Psychologie  weiter  zu  verfolgen. 
Gerade  in   der  uns  seit  Herbarts  Vorgang  gewohnten  Betrach- 
tung des  Apperceptionsvorganges  liegt  der   eigentlich   bezeich- 
nende Gegensatz   der  beiden  psychologischen  Richtungen.    Die 
Associationsgesetze  der  AehnUchkeil  und  der  Contiguität  gelten 
uns  von  diesem  Gesichtspunkt  aus^   —   und   derselbe  ist  dem 
Humes,    des    eigentlichen   Urhebers   jener   Gesetze,    um   vieles 
überlegen  —  nur  als  abgeleitete  Gesetze.     Sie  sind  sogar  nicht 
mehr  als  Denkgewohnheiten  der  Association,   von   denen   wir 
uns  durch  unseren  Willen  in   der  verschiedensten  Weise  frei 
machen  können.     Das   allgemeinste   psychische  Gesetz  ist  viel- 
mehr das  der   Identität,    das  zuletzt,    wie  schon   Fichte  klar 
erkannt  hatte,  auf  der  Einheit  des  Bewusstseins  beruht;  ihm 
ist  jeder  psychische  Vorgang  als  solcher  unterworfen.    Diesem 
zur  Seite   tritt   für   das  Gebiet  des   Intellects   das  Gesetz    der 
CausaUtät,  das,  wie  ebenfalls  schon  Kant,  nicht  erst  Schopen- 
hauer gesehen  hat,  aller  Objectivirung  der  Empfindungscomplexe 
zu  Gegenständen  zu  Grunde  hegt,  also   gewiss   nicht   aus  der 


.._j 


Zur  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutschland.  397 

Wahrnehmung  der  gleichförmigen  Succession  von  Gegenständen 
hergeleitet  sein  kann. 

Uebrigens  ist  jene  Verschiebung  des  Bildes  zu  Gunsten 
der  ideologischen  Richtung ,  wie  wir  sie  mit  Ribot  nennen 
wollen,  doch  nicht  ganz  so  gross^  als  es  nach  dem  Bisherigen 
den  Anschein  haben  muss.  Denn  andrerseits  hat  Ribot  auch 
eins  der  meistbearbeiteten  Capitel  der  physiologischen  Psycho- 
logie, die  oben  schon  berührte  Frage  nämlich  nach  der  Art 
und  dem  Sinn  der  Localisation  der  psychischen  Vorgänge  in 
den  Centralorganen  nicht  näher  dargestellt.  Hier  liegt  jedoch 
eine  offenbar  absichtliche  Unterlassung  vor,  da  Ribot  die  hier- 
hergehörigen Arbeiten  wol  kennt.  Er  scheint  dabei  von  der 
Ueberzeugung  geleitet  zu  sein,  dass  aus  diesen  Untersuchungen, 
deren  vielfach  gegensätzliche  Ergebnisse  noch  deutlicl^  genug 
das  Anfangsstadium  verraten,  für  die  eigentlich  psychologischen 
Probleme  noch  nichts  zu  gewinnen  sei.  Es  lässt  sich  dies 
daraus  schliessen,  dass  Ribot  bei  Besprechung  des  Hauptwerks 
von  Wundt  über  die  hierhergehörigen  einleitenden  Erörterungen 
als  „zur  Nervenphysiologie  gehörigen"  ganz  kurz  hinweggeht. 
Denn  es  sind  diese  Untersuchungen  an  sich  doch  gerade  in 
dem  von  Ribot  angenommenen  Sinne  psychologisch,  da  sie 
überall  zugleich  mit  der  psycliischen  Seite  des  Nervenprocesses 
operiren  müssen ,  die  jeder  ihrer  Interpretationen  zur  Basis 
dient.  Principiell  genommen  gehören  sie  somit  in  den  Plan 
des  vorliegenden  Werkes  hinein.  Es  möchten  überdies  aus 
dem  oben  gegen  Lotze  und  Brentano  Erwähnten  hinreichende 
Gründe  folgen,  sie  auch  auf  Grund  ihrer  tatsächUchen  Leistungen 
hineinzunehmen.  Aber  Ribots  Auffassung,  dass  das  wirklich 
bisher  Erreichte  zu  unbestimmt  und  geringfügig  sei,  um  spe- 
ziellere Rücksichtnahme  zu  verdienen,  ist  auch  bei  uns  so  weit 
verbreitet,  dass  es  unbilUg  wäre,  hier  mit  ihm  zu  rechten. 

Hatten  wir  eben  einiges  hervorzuheben,  was  wir  in  Ribots 
Arbeit  ungern  vermissen,  so  dürfen  wir  jetzt  um  so  vollständiger 
dem  Anerkennung  zollen,  was  uns  tatsächlich  in  demselben  geboten 
wird.  Die  Analysen  sind  überall  so  klar  und  scharf,  als  die 
Gedankenreihen,  die  reproducirt  werden  sollen,  nur  irgend  zu- 


398  B.  Erdmann: 

lassen,  selbst  da,  wo  abstract  metaphysische  Speculalioiien  \\ie- 
dergegeben  werden,  wie  etwa  die  metaphysischen  Voraus* 
Setzungen  der  herbartischen  Psychologie.  Gelegentlich  ist  seine 
Darstellung  sogar  klarer  als  die  in  den  Originalwerken  selbst. 
z.  B.  Wundts,  in  denen  nach  meinem  Gefühl  im  Yerhältniss 
zu  den  leitenden  Gedanken  etwas  zu  viel  Stoff  geboten  wird.  Die 
stilistische  Einkleidung  ferner  ist  so  glatt  und  geschickt,  wie 
wir  sie  bei  deutschen  philosophischen  Autoren  noch  immer 
sehr  ungewohnt  sind  zu  finden,  dagegen  bei  französischen  Phi- 
losophen nicht  selten  auch  dann  bewundern  müssen,  wenn  die 
Klarheit  der  Gedanken  selbst  hinter  der  Eleganz  ihrer  Aus- 
führung weit  zurückbleibt. 

Nur  zu  wenigen  einzelnen  sowie  zu  einer  allgemeinen 
Frage  möchte  ich  mir  noch  einige  Bemerkungen  erlauben. 

Die  letztere  folge  zuerst  Es  liegt,  wie  angedeutet,  aus- 
gesprochener Weise  nur  in  der  Absicht  des  Verfassers,  einen 
Ueberblick  über  den  Inhalt  der  gegenwärtigen  psychologischen 
Arbeit  bei  uns  zu  geben ;  er  will  nicht  auch  die  Kräfte  im  ein- 
zelnen aufzeigen,  welche  die  historische  Entwicklung  derselben 
bedingen.  Ribot  geht  auf  die  letztere  daher  nur  gelegentlich 
ein,  so  S.  XXX  f.  und  S.  358  f.;  und  wir  haben  kein  Rechte 
ihm  deswegen  irgend  einen  Vorwurf  zu  machen.  Für  die  sach- 
liche Wirksamkeit  der  Gedanken  ist  die  Einführung  in  ihren 
historischen  Zusammenhang  nicht  unbedingt  erforderlich;  sie 
wird  es  erst^  wenn  in  dem  Bewusstsein  derer,  auf  welche  die 
Wirksamkeit  berechnet  ist,  hinreichende  Apperceptionsmassen 
für  die  unbefangene  Würdigung  fehlen,  oder  wenn  es  gilt^ 
überlieferte  resp.  neu  auftauchende  Irrtümer  abzuschütteln» 
Das  aber  ist  der  Sache  nach  hier  nicht  der  Fall.  Eine  Ge- 
fahr allerdings  wird  mit  diesem.  Zurücktreten  des  geschicht- 
lichen Moments  stets  verbunden  sein,  die  nämlich,  dass  man 
hin  und  wieder  gegen  die  geschichtliche  Gerechtigkeit  verstösst, 
selbst  wenn  die  hauptsächlichen  Kräfte  der  Entwicklung  richtig 
gefunden  sind.  Das  letztere  nun  ist  Ribot  durchaus  gelungen« 
Mit  Recht  erkennt  er  in  Job.  Müller  denjenigen,  auf  den  die 
ganze  neue  Bewegung,  wenn  es  notwendig  wäre,  ihr  einen  be- 


^ 


Zur  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutschland.         399 

stimmten  Anfang  zu  geben,  zurückgeleitet  werden  müsste;  mit 
Recht  weist  er  andrerseits  auf  Herbart  als  den  philosophischen 
Begründer  des  exacten  Geistes  der  Psychologie  hin.  Auf  das 
nicht  wenig  complicirte  historische  Gewebe  des  weiteren  Ver- 
laufs der  Wechselwirkung  zwischen  diesen  beiden  Ausgangs- 
reihen^  zu  denen  sich. besonders  seit  Anfang  des  yorigen  Jahr- 
zehnts die  Einflüsse  des  kantischen  Kriticismus  und  seit  Anfang 
dieses  Jahrzehnts  mehrfach  auch  Einwirkungen  der  Associations- 
psychologie  gesellen^  geht  Ribot  nicht  näher  ein.  Jedoch  seine 
Darstellung  der  sachlichen  Ergebnisse  zeigt,  dass  ihm  nichts 
wesentliches  entgangen  ist  Die  historische  Gerechtigkeit  da* 
gegen,  die  in  der  richtigen  Verteilung  des  Lichts  zwischen  den 
zusammenarbeitenden  Gedankenreihen  liegt ,  scheint  mir  nicht 
immer  gewahrt. 

Nicht  genügend  betont  zunächst  sind  nach  meinem  Dafür- 
halten die  Arbeiten  von  E.  H.  Weber  und  von  Helmhoitz. 
Der  erstere  wird  zwar  mehrfach  genannt ,  bei  der  Erörterung 
der  Theorien  des  Tastraums  wie  bei  der  Discussion  des  psy- 
chologischen Gesetzes.  Aber  es  sind  beide  Male  nur  kurze 
Worte,  die  ihm  gewidmet  werden,  so  dass  der  nicht  vorher 
schon  orientirte  Leser,  da  ihm  keine  festen  Handhaben  ge- 
boten werden,  seine  Bedeutung  schwerlich  recht  zu  würdigen 
im  Stande  ist.  Und  doch  sind  jene  beiden  angedeuteten  Ar- 
beitsreihen von  ihm  in  bestimmender  Weise,  die  eine  beson- 
ders bei  Wundt,  die  andere  in  dem  ganzen  Gebiete  der 
Psychophysik  bis  auf  die  Gegenwart  wirksam  geblieben. 
Dazu  kommt,  dass  er  der  einflussreichste  Vertreter  der  beson- 
ders unter  den  Physiologen  weit  verbreiteten  Ansicht  ist,  dass 
die  körperlichen  Gemeingefühle  nur  mangelhaft  localisirte  Tast- 
empfindungen seien,  eine  Ansicht,  in  der  die  wesentliche  Be- 
ziehung zwischen  Gefühl  und  Empfindung  richtig  getroffen, 
allerdings  aber  in  irrtümlichem  Sinne  zwischen  beiden  Glie- 
dern verteilt  ist.  Die  Gefühle  sind  nicht  mangelhaft  localisirte 
Empfindungen,  sondern  die  Empfindungen  sind  diflerenzirte, 
das  ist  auf  bestimmte  Reize  bezogene  und  allmählich  locali- 
sirte Gefühle. 


400  B.  Erdmann: 

Aehnliches  gilt  von  Helmholtz.  Ribot  weiss  die  ein- 
schneidende  Bedeutung  seiner  sinnesphysiologischen  Arbeiten 
zwar  wol  zu  schätzen;  aber  sie  werden  dem  Leser  nicht  hin- 
reichend vorgeführt,  um  das  Urteil  desselben  zu  sichern.  Die 
Lehre  von  den  Tonempfindungen ^  die  doch,  ganz  abgesehen 
von  ihrem  sonstigen  Wert,  stets  ein  klassisches  Beispiel  dafür 
bieten  wird,  dass  der  Bewusstseinsinhalt  der  Empfindungen,  ja 
allgemein  der  psychischen  Vorgänge,  keinen  Massstab  für  ihre 
Einfachheit  abgeben  kann,  wird  auch  nach  dieser  rein  psycho- 
logischen Rücksicht  hin  nicht  genauer  dargelegt.  Helmholtz  ist 
ferner  durch  seine  nicht  wenigen  klassischen  Abhandlungen 
*  über  die  Schnelligkeit  des  Stroms  in  den  motorischen  Nerven 
der  eigentliche  Begründer  der  seitdem  durch  Beiträge  aller  Art 
so  reich  gewordenen  Lehre  von  der  Dauer  der  psychischen 
Vorgänge.  Und  auch  hier  würde  ihm  die  historische  Gerech- 
tigkeit mehr  zu  vindiciren  haben,  als  in  den  kurzen  Worten 
Ribots  (S.  303  f.)  enthalten  ist.  Unsere  deutschen  Physiologen 
wenigstens  pflegen  diesen  Arbeiten  mit  Recht  ein  ungleich 
grösseres  Gewicht  beizulegen.  Noch  auf  einen  dritten  Punkt 
weist  Ribots  Darstellung  hin,  nämlich  auf  Helmholtz*  vielfach, 
meist  allerdings  abweisend  besprochene  Lehre  von  den  un- 
bewussten  Schlüssen.  Mir  scheint,  auch  sie  hätte  zum  min- 
desten eine  allgemeine  Skizze  verdient,  und  das  um  so  mehr, 
als  die  Vermutung  wol  nicht  irrig  ist,  dass  Wundts  besonders 
in  seinen  früheren  Schriften  entwickelte  Ansicht  über  die  func- 
tionelle  Bedeutung  des  Syllogismus,  die  Ribot  eingehend  repro- 
ducirt,  historisch  aus  Helmholtz'  Theorie  entwickelt  ist.  Zudem 
lässt  sich  zeigen,  dass  der  lebhafte  Widerspruch,  den  Helmholtz* 
Ausführungen  hier  gefunden  haben,  zum  grössten  Teile  auf 
einer  irrigen  Interpretation  derselben  beruht.  Dadurch  näm- 
lich wirken  dieselben  leicht  fremdartig,  dass  in  ihnen  der 
psychische  Process,  um  den  es  sich  handelt,  in  logischer  For- 
mulirung  erscheint.  Psychologisch  genommen  besteht  jede 
Wahrnehmung  aus  Apperceptionsprocessen ;  aber  auch  jeder 
Syllogismus  und  jeder  Inductionsschluss  lässt  sich  auf  Apper- 
ceptionsprocesse  zurückführen.    Nehmen   wir  als   Beispiel  die 


\ 


Zur  zeitgenössischen  Psychologie  in  Deutschland.         401 

bekannte  Tatsache,  dass  Anschauungsobjecte,  etwa  Gebirgs- 
massen,  uns  bei  klarer  Luft  näher  erscheinen.  Hier  reprodu- 
cirt  die  gegebene  Anschauung  zunächst  die  Apperceptionsmasse, 
die  aus  der  Verschmelzung  u.  s.  w.  früherer  Anschauungen 
als  eine  unbewusst  gebildete  Allgemeinvorstellung  in  unserem 
Intellect  enthalten  ist.  Die  Verschmelzung  ist  jedoch  in  dem 
neuen  Fall  keine  vollständige.  Es  hegt  eine  Differenz  vor 
zwischen  den  sonst  verschwommenen  und  den  gegenwärtig 
klaren  Contouren.  Die  dadurch  bedingte  Hemmung  nun  wird 
aufgehoben  durch  einen  neuen  Apperceptionsprocess.  Die  ge- 
gebene Differenz  wird  zu  einer  Perceptionsmasse,  welche  ähn- 
Uche  Differenzen  reproducirt,  die  durch  die  Wahrnehmung 
eines  und  desselben  Objects  in  verschiedenen  Entfernungen 
gegeben  waren.  Diese  Vorstellungsreihen  bilden  die  neue  Apper- 
ceptionsmasse,  die^  indem  sie  die  Hemmung  überwindet,  zu  der 
Vorstellung  der  Jetzt  grosseren  Nähe  der  Gebirgsmassen  führt. 
Es  bedarf  nur  der  Hindeutung,  dass  diese  sich  einschiebende 
Apperception  wiederum  in  verschiedene  einzelne  zerfallbar  ist. 
Für  unseren  vorliegenden  Zweck  ist  das  irrelevant;  für  diesen 
genügt  der  Nachweis^  dass  diese  beiden  Processe  logisch  ge- 
nommen als  Syllogismen  anzusehen  sind.  Die  Apperceptions- 
massen  bilden  die  Obersätze^  die  als  AUgemei.nvorstellungen  die 
Perceptionsmassen  als  Untersätze  in  sich  enthalten,  sofern  eine 
Verschmelzung  eintreten  kann.  Der  erste  Schlusssatz  erkennt 
das  Object  als  das  früher  schon  wahrgenommene  Gebirge^  der 
zweite  nimmt  es  als  jetzt  näher  an.  Es  mag  zweifelhaft  sein, 
ob  diese  logische  Formuhrung  des  Apperceptionsprocesses  als 
unbewussten  Syllogismus  resp.  Inductionsschluss  glücklich  ist; 
aber  es  ist  gar  nicht  zweifelhaft;  dass  sie  richtig  verstanden 
nichts  besagt,  was  der  psychologischen  Theorie  widerspricht. 
Der  Streit  ist  also  ein  Streit  um  Worte.  Denn  ganz  irrelevant 
ist  es  endlich,  dass  wir  im  psychologischen  Process  von  Vor- 
stellungen, bei  der  logischen  Analyse  dagegen  von  Urteilen 
handeln.  Die  formale  Einkleidung  des  ersteren  durch  Trennung 
der  einzelnen  Elemente  der  Perceptions-   und  Apperceptions- 


402  B.  Erdmann: 

massen   macht  die  Gliederung  in  Subject   und   Prädicat  not- 
wendig. 

Aehnlicb  nun  wie  diese  zuletzt  besprochenen  kleinen  histo- 
rischen Ungerechtigkeiten  der  Zurücksetzung  liegen  auch  andere 
der  Begünstigung  in  der  Natur  des  an  sich  durchaus  berech- 
tigten Verfahrens  von  Ribot.  Der  Verfasser  nämlich  ist  von 
seinem  Gesichtspunkt  aus  vor  allem  angewiesen  auf  die  Analyse 
der  Werke  der  einzelnen  hervorragenden  Autoren.  Es  wird 
daher  der  Schwerpunkt  seiner  Darstellung  notwendig  dahin 
fallen  müssen,  wo  die  umfassendste  Arbeit  vorhegt.  Dabei  aber 
ist  es  unvermeidlich,  dass  manches  dieser  zu  gute  kommt,  was 
historisch  genommen  nicht  ihr  zugeschrieben  werden  würde, 
dass  ferner  manches  weniger  Wesentliche  zu  Gunsten  des 
Zusammenhangs  ausführUcher  entwickelt  wird.  Mir  ist  dies 
beides  in  einigem  Masse  bei  Ribots  Analyse  der  Arbeiten  Wundts 
aufgefallen.  Ich  denke,  meine  Ansicht  kann  nicht  mis&verstanden 
werden,  Wundts  zusammenfassendes  Werk  ist  ohne  Zweifel 
weitaus  die  hervorragendste  Leistung  auf  diesem  engeren  Ge- 
biet, die  uns  das  letzte  Jahrzehnt  gebracht  hat;  und  Wundt 
selbst  hat  durch  eingehende  historische  Nachweisungen  im 
ganzen  vollauf  dafür  gesorgt,  dass  jedem  geschehe,  was  ihm 
zukommt.  In  Ribots  zusammenfassender  Analyse  aber  treten 
diese  historischen  Beziehungen  naturgemäss  zurück;  und  so 
wird  der  unbefangene  Sachverständige  mit  dem  Referenten 
mehrfach  das  Gefühl  haben,  als  sei  manches  im  Vergleich  zu 
der  kurzen  Darstellung  der  Theorien  anderer,  z.  B.  von 
E.  H.  Weber  und  Helmholtz,  zu  ausführlich  behandelt  und 
manches  als  dem  Standpunkte  Wundts  eigentümlich  charak- 
terisirt,  was  sich  schon  bei  anderen,  z.  B.  bei  Lotze,  ebenso 
oder  ähnlich  findet. 

Doch  diese  Punkte  sind  so  unwesentlich  und  so  leicht 
kenntlich,  dass  ich  keinen  Anlass  finde,  ins  einzelne  zu  gehen. 
Auf  einen  anderen  Umstand  darf  ich  dagegen  hinweisen.  Ribot 
legt  seiner  Darstellung  der  Wundfschen  Theorie  neben  der 
physiologischen  Psychologie  auch  die  Vorlesungen  über  Menschen- 
und  Thierseele  zu  Grunde,  und  zwar  so,   dass  ein  nicht  ge- 


Zur  zeitgenössiflclien  Psychologie  in  Deutschland.         40S 

ringer  Teil  derselben  sich  hauptsächlich  oder  allein  auf  da» 
letztere  Werk  stützt  Nun  ist  der  Wert  dieser  beiden  Schriften 
—  und  Wundt  wird  der  erste  sein,  dies  zuzugeben  —  doch 
ein  recht  ungleich  grosser.  Das  frühere  verrät  durch  manchen 
Mangel  an  Klarheit  der  Gesichtspunkte;  an  Schärfe  der  Ana- 
lyse und  an  Durchdringung  der  psychologischen  und  überhaupt 
philosophischen  Vorarbeiten,  dass  Wunüt  damals  des  Stoffe» 
weitaus  weniger  Herr  war,  als  in  dem  neueren  Werk.  Vieles 
daher,  was  jenem  angehört,  und  darunter  manches,  was  in 
Ribots  DarsteUung  eingeflossen  ist,  wird  Wundt  selbst  nicht 
mehr  als  seine  Ueberzeugung  anerkennen.  So  die  Zurück- 
führung  der  Gefühle  auf  Schlüsse  (Ribot  S.  262  f. ;  vgl  Wundt 
Phys.  Psych.  S.  460),  und  überhaupt  die  Fundation  aller  psy- 
chischen Vorgänge  auf  unbewusste  Schlüsse,  durch  die  Wundt 
früher  die  logische  Interpretation  des  Apperceptionsprocesse& 
durch  Helmholtz  weit  über  das  zulässige  Mass  ausgedehnt  hat» 
So  auch  gewiss  vieles  aus  seiner  früheren  Auffassung  der  ethno- 
logischen Thatsachen  (S.  273  f.). 

Während  Wundt  hiernach  vielleicht  wünschen  möchte,  seine 
bisher  veröffentlichten  Arbeiten  etwas  weniger  ausführlich  dar- 
gestellt zu  sehen,  darf  Lotze  gewiss  ähnlich  wie  Weber  und 
Helmholtz  beanspruchen,  dass  seiner  psychologischen  Lehre 
etwas  mehr  Raum  gegeben  wäre.  Lotze  hat  auf  den  gegen- 
wärtigen Stand  der  Forschung  nicht  bloss  durch  seine  Theorie 
der  Localzeichen  eingewirkt;  nicht  weniger  wertvoll  sind  seine 
Arbeiten  gewesen  durch  die  in  vieler  Hinsicht  meisterhafte 
Klärung  der  psychologischen  Gesichtspunkte.  Ribot  hebt  mit 
Nachdruck  Lotzes  metaphysische  Neigungen  hervor;  und  ich 
kann  nicht  umhin,  mit  ihm  zu  bedauern,  dass  derselbe  nie  den 
Trieb  gefühlt  hat,  ausser  auf  den  Wahrnehmungsprocess  auch 
auf  die  anderen  empirisch  -  psychologischen  Probleme  im  ein- 
zelnen einzugehen.  Jene  metaphysischen  Neigungen  sind  jedoch 
nicht  bloss  seiner  Psychologie  schädlich  gewesen;  sie  haben 
zugleich  durch  die  Form  ihrer  Ausführung  befreiend  gewirkt 
Denn  wie  überall,  so  bewegt  sich  auch  hier  Lotzes  Discussion 
in   der  Form   der  Ausschliessung   möglicher  Hypothesen,   und 


404  B.  £rdmaiiii: 

wie  überall  bei  ihm,  so  wird  auch  hier  den  verschiedenen 
Annahmen  die  feinsinnigste  Zergliederung  zu  Teil,  eine  Zer- 
gliederung, deren  wertyolle  Folgen  weit  über  den  nicht  mehr 
geringen  Kreis  seiner  Schüler  hinaus  gewirkt  haben. 

Lotze  hat  sodann  im  speziellen  noch  das  Verdienst,  Her- 
barts Reaction  gegen  die  überlieferten  Yermögenstheorien  von 
den  metaphysischen  Einseitigkeiten  befreit  zu  haben,  die  ihr 
die  Annahme  eines  absolut  einfachen  Seelenrealen  hat  zu  Teil 
werden  lassen.  Seine  Rettung  des  Gefühls  und  des  Willens 
hat  deshalb  nur  ganz  vereinzelt  bisher  Widerspruch  bei  uns 
erfahren.  Allerdings  ist  seine  Wiederherstellung;  der  Co- 
ordination  von  Vorstellen,  Fühlen  und  Wollen  sicher  nicht  das 
letzte  Wort  der  Psychologie.  Sie  mochte  vielmehr  in  der 
nächsten  Zukunft  ein  mustergiltiges  Beispiel  dafür  werden,  wie 
notwendig  die  blosse  Analyse  des  Bewusstseinsbestandes ,  die 
jede  Hilfe  der  Entwicklungstheorie  dauernd  verschmäht,  zu 
Irrtümern  führen  muss.  Ohne  diese  Hilfe  möchte  seine  überaus 
klare  Entwicklung  des  Unterschiedes  jener  drei  Vorgangsreihen 
unwiderleglich  geblieben  sein;  mit  derselben  fallt  sie  jener 
Zersetzung  anheim,  die  oben  angedeutet  wurde.  Das  Einfache 
des  Bewusstseinsbestandes  ist  nicht  auch  das  Einfache  der 
psychischen  Entwicklung.  Die  Abstractionen  einer  bloss  vor- 
stellenden und  bloss  fühlenden  Seele,  mit  denen  Lotze  operirt, 
fallen  zusammen^  sobald  sich  zeigt,  dass  sie  den  Tatsachen  der 
Entwicklung  ihr  Recht  rauben;  es  sind  entwicklungsgeschichtUch 
falsche  Fictionen. 

Nur  zwei  Bemerkungen  bleiben  mir  noch  übrig.  Zu  den 
gelungensten  Abschnitten  des  Ribotschen  Werks  gehört  die 
Darstellung  des  Streites  um  das  psychophysische  Gesetz,  für 
die  Fechner  selbst  einen  musterhaften  Unterbau  geliefert  hat 
Nur  der  neuesten  Phase  desselben,  die  allerdings  erst  ganz 
kürzlich  begonnen  hat,  fehlt  die  genügende  Würdigung.  Die 
höchst  anerkennenswerte  kritische  Studie  G.  E.  Hüllers  nämUch 
wird  nur  ganz  kurz  berührt.  Und  doch  möchte  sie  durch 
ihre  sorgsame  und  scharfsinnige  Scheidung  der  Tatsachen  von 
den  mannigfach  verschlungenen  Interpretationen  derselben  an- 


Zur  zeitgenössisclien  Psychologie  in  Deutschland.         405 

regender  und  klärender  gewirkt  haben,  als  irgend  einer  der 
früheren  Angriffe.  Allerdings  trifift  Ribot  hierbei  kein  Vorwurf. 
Denn  auch  bei  uns  fehlt  es  noch  ganz  an  einer  Auseinander- 
setzung, die  dem  Buche  gerecht  wird.  Wir  sind  eben  nicht 
gewohnt,  uns  mit  der  Anerkennung  der  Leistung'en  deutscher 
Fachgenossen  zu  beeilen. 

Auch  aus  dem  letzten  Umstand,  den  ich  zu  berühren  habe, 
haben  wir  kein  Recht,  ein  missbilligendes  Urteil  über  das  Werk 
Ribots  abzuleiten.  Denn  auch  fast  alle  unsere  Auseinander- 
setzungen über  die  mannigfachen  noch  möglichen  Raumtheorien 
trennen  die  verschiedenartigen  Probleme,  die  hier  zusammen- 
kommen, nicht  so  scharf,  als  im  Interesse  der  Verständigung 
wünschenswert  wäre.  Ribots  Discussion  ist  sogar  nicht  wenigen 
der  unsrigen  darin  überlegen,  dass  er  die  Erörterung  des 
Tastraumes  von  der  des  Sehraumes,  so  weit  der  Sache  nach 
möglich,  abtrennt.  Nicht  ebenso  aber  ist  eine  zweite  Quelle 
der  Unklarheiten  verstopft,  die  sich  in  dieser  schwierigen 
Frage  breit  machen.  Schärfer  nämlich  noch  als  jene  beiden 
Probleme  sind  die  Fragen  nach  dem  Ursprung  der  Raumvor- 
Stellung  überhaupt  und  nach  den  Bedingungen  der  Localisation 
der  Empfindungen  im  Raum  von  einander  zu  trennen.  Streng 
ausgesprochen  ist  diese  Scheidung  in  den  Untersuchungen  von 
Lotze  und  von  Helmholtz,  allerdings  in  sehr  ungleichem  Sinne. 
Für  Lotze  liegt  in  der  allgemeinen  Frage  kein  Problem  mehr, 
da  er  die  Entwicklung  der  Raumvorstellung  als  solcher  auf  die 
angeborene  Gesetzmässigkeit  der  Seele  zurückführt.  Für  Helm- 
holtz dagegen  beginnen  hier  weitere  Fragen.,  die  allerdings 
weder  in  seiner  physiologischen  Optik  noch  in  der  kleineren 
Abhandlung  aus  seinen  populären  Schriften  berührt  werden. 
Erst  in  den  neueren  Arbeiten,  vor  allem  in  dem  gedanken- 
schweren Aufsatz  über  die  Tatsachen  in  der  Wahrnehmung, 
den  Ribot  leider  nicht  mehr  hat  benutzen  können^  werden 
dieselben  näher  präcisirt  und  zu  beantworten  unternommen. 
Der  enge  Zusammenhang,  in  dem  sie  nach  Fragestellung  und 
Lösung  mit  den  mathematischen  Untersuchungen  über  die 
Axiome  der  Geometiie  stehen,  legt  deshalb  den  Schiuss  nahe, 


406  B-  Erdmann: 

<lass  sie  erst  auf  Grund  der  eindringenden  psychologischen 
Ausführung  dieser  Gesichtspunkte,  die  wir  ebenfalls  fast  aus- 
schliesslich Helmholtz  verdanken,  die  gegenwärtig  erreichte 
Klarheit  bei  dem  Urheber  selbst  gewonnen  haben.  Wie  un- 
abhängig beide  Fragen  zur  Zeit  noch  von  einander  gehalten 
werden  können,  beweist  die  durch  Lotzes  Theorie  gegebene 
Tatsache,  dass  man  in  der  Frage  nach  den  Bedingungen  der 
Localisation  Empirist,  in  der  eigentlich  psychologischen  Frage 
dagegen  nach  dem  Ursprung  der  Raumvorstellung  Nativist  sein 
kann.  Ribot  geht  auf  das  allgemeine  Problem,  gemäss  dem 
bisherigen  tatsächlichen  Gang  der  neueren  Forschungen,  viel 
weniger  ein,  als  auf  die  abhängige  Frage  nach  der  Entwick- 
lung der  Localisation.  Wir  möchten  deshalb  um  so  mehr 
wünschen,  dass  er  diese  Trennung  seiner  sonst  so  sorgsamen 
Darstellung  gerade  dieses  Streites  zu  Grunde  gelegt  hätte, 
denn  wir  würden  dann  sicher  die  Freude  haben,  das  all- 
gemeinste Problem  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  dessen 
neueste,  aus  der  deutschen  Arbeit  allein  entsprossene  Behand- 
lung den  früheren  Theorien  von  Herbart  und  von  Bain,  trotz 
der  Gleichartigkeit  der  leitenden  Gedankenreihen,  ungemein 
überlegen  ist,  in  so  klärender  Form,  wie  wir  nur  wünschen 
können,  ausgeführt  zu  finden. 

Specieller  auf  dasselbe  bei  dem  vorliegenden  Anlass  ein- 
zugehen, habe  ich  um  so  weniger  ein  Recht,  als  das  eigentlich 
bestimmende  Material  hierfür  erst  in  der  erwähnten  neuesten 
sinnesphysiologischen  Arbeit  von  Helmholtz  enthalten  ist,  die 
Ribot  noch  nicht  vorlag.  Ich  habe  vielmehr  nur  noch  zu 
bitten,  dass  der  Wert  des  Ribot'schen  Werkes  nicht  sowol  nach 
den  einzelnen  Ausstellungen  beurteilt  werden  möge,  die  ich 
zu  machen  hatte,  als  nach  der  eingehenderen  Vermittlung  für 
die  Leser  dieser  Zeitschrift,  die  ich  auf  Grund  der  Leistung 
des  Autors  zu  Gunsten  der  Sache  für  wünschenswert  halten 
durfte.  Es  liegt  bedauerlicher  Weise  in  dem  Wesen  einer  ein- 
gehenderen Besprechung,  dass  das  Einzelne,  was  Bedenken  erregt, 
weil  es  bestimmter  zu  motiviren  ist,  viel  lebhafter  hervortreten 


Zur  zeitgenÖBsiscIien  Psychologie  in  Deutschland.         407 

muss,  als  der  Ausdruck  der  Belehrung  und  Förderung,  die  dem 
Referenten  aus  dem  Studium  des  Werks  entsprungen  ist. 

Ich  höre,  dass  der  Arbeit  Ribots,  wie  wir  im  Inter- 
esse unserer  Wissenschaft  nur  wünschen  können,  bald  eine 
deutsche  Uebersetzung  zu  Teil  werden  wird.  Möge  der  Autor 
in  dem  Einen  oder  Anderen  der  angedeuteten  Bedenken  und 
Wünsche  einen  sachlichen  Anlass  finden,  einzelne  Teile  seiner 
Darstellung  bei  dieser  Gelegenheit  zu  verändern. 

Kiel.  B.  Erdmann. 


n 


Die  Emeuenmg  der  Atomistik  in  Deutschland 

durch  Daniel  Sennert 

uud    sein    Zusammenhang     mit    Asklepiades    von 

Bithynien. 


Die  erste  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts,  welche  über  Deutsch- 
land das  namenlose  Elend  des  furchtbarsten  Krieges  brachte» 
bildet  auch  in  der  Geschichte  der  Wissenschaften  für  unser 
Vaterland  einen  wenig  erfreulichen  Abschnitt.  Aber  während 
im  AUgemeinen  die  geistige  Bewegung  bei  den  deutschen  Ge- 
lehrten jener  Zeit  noch  unter  dem  Drucke  der  scholastischen 
Tradition  stockt,  erhebt  sich  in  einem  beschränkten  Gebiete  ein 
Mann  von  grossem  Ansehen  unter  seinen  Zeitgenossen  zu  einer 
freien  und  vorurtheilslosen  Meinungsäusserung.  Inmitten  der 
Schrecken  des  dreissigjährigen  Krieges  und  der  drohenden 
Pest,  welcher  er  selbst  alsbald  zum  Opfer  fallen  sollte,  ver- 
öffentlicht ein  weitberühmter,  ohne  Unterlass  in  Anspruch  ge- 
nommener  Arzt  seine  in  dreissigjährigem  Nachdenken  allmählich 
herangereiften  Ansichten  über  gewisse  Fragen  der  Physik  und 
legt  damit  den  Grund  zur  Erneuerung  einer  Theorie  der  Ma- 
terie, welche  für  die  Geschichte  der  Philosophie  wie  der  Natur- 
wissenschaften von  grösster  Bedeutung  wurde. 

Die  Atomistik  Daniel  Sennert's,  wie  er  sie  in  seiner  „Epi- 
tome  scientiae  naturalis" ')  bereits  andeutete  und  dann  in  den 


^)  Zuerst  Wittenberg  1618.  Opera  omnia,  Paris  1633,  1645. 
Venet.  1641,  1645,  1651.  Lugd.  1650,  1657,  1666,  1676.  Sämmtlich 
fol.    Ich  citire  nach  der  letzten  in  6  Bänden. 


Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland.  4Q9 

„Physica  Hypomnemata^  ^)  ausführlich  darlegte  und  bekannte, 
ist  noch  nicht  ihrem  Verdienste  nach  gewürdigt  worden. 
F.  A.  Lange  ^)  bezieht  sich  sogar  nur  auf  die  £pitome  und 
scheint  die  Hypomnemata  gar  nicht  gekannt  zu  haben,  so  dass 
sein  Urlheil  über  Sennerf s  Atomistik  schon  darum  unzureichend 
ausfallen  mussle.  Es  wird  nun  beabsichtigt,  im  Nachstehenden 
die  Aufmerksamkeit  auf  die  Bedeutung  der  Senne)*t'schen 
Atomenlehre  zu  lenken  und  zu  zeigen,  dass  diese  deutsche 
Atomistik,  oder  richtiger  Corpusculartheorie,  auf  einen  eigen- 
artigen, von  dem  Entwickelungsgange  der  Philosophie  verhält- 
nissmässig  unabhängigen  Zusammenhang  mit  der  antiken 
Atomistik  hinweist,  nämlich  auf  eine  Yermittelung  durch  die 
Geschichte  der  Medizin. 

Daniel  Sennert*)  wurde  am  25.  November  1572  in 
Breslau  geboren.  Sein  Vater,  ein  geachteter  Breslauer  Bürger, 
seines  Zeichens  ein  Schuhmacher,  starb  bereits  1585,  so  dass 
die  Erziehung  des  dreizehnjährigen  Knaben  nunmehr  in  die 
Hand  seiner  Mutter  Catharina,  geb.  Helmann  (sie  stammte  aus 
Zobten  in  Schlesien)  gelegt  war,  die  sich  derselben  mit  grosser 
Sorgfalt  annahm.  Der  Jüngling  hatte  den  Wunsch,  sich  dem 
Lehrfache  in  seiner  Vaterstadt  zu  widmen  und  bezog  daher  auf 
den  Bath  seiner  Lehrer  1593  die  Universität  Wittenberg,  wo 
er  zunächst  hauptsächlich  philosophische  Studien  trieb.  Bald 
aber  mehr  auf  die  Medizin  hingewiesen,  .besuchte  er  auch 
Leipzig,  Jena,  Frankfurt  a.  0.  und  hielt  sich  1601  in  Berlin 
behufs  praktischer  Uebungen  auf.  Von  hier  gedachte  er  sich 
nach  Basel  zu  begeben,  um  daselbst  zu  promoviren;  während 
der  Vorbereitungen  hierzu  wurde  ihm  jedoch  angeboten,  sich  der 
Promotion  in  Wittenberg  zu  unterziehen,  und  er  beschloss  auf 
den   Bath    seines   Freundes   Jo.   Georg  Magnus   („Wer   weiss. 


1)  Zuerst  Wittenberg  1836.  —  Opp.  Tom.  L 

*)  Geschichte  des  Materialismus.  Iserlohn  1876.  2.  A.  II. 
S.  316  u.  413. 

*)  Buchner,  Orationes  Panegyricae,  Orat.  XII.  Wittenberg 
1669,  p.  333  ff.  Daselbst  auch  Buchner^s  Kede  an  Sennert's  Grabe, 
p.  432.  —  Vita  Dan.  Sennerti  in  Opp.  Lugd.  1676. 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenscliaftl  Philosophie,   m.  4.  27 


410  K-  La88witz: 

wozu  es  gut  sein  möcht")  nach  Wittenberg  zu  gehen,  wo  er 
noch  in  demselben  Jahre  die  Doctorwürde  erlangte.  Hier  ge- 
fiel er  so,  dass  er  schon  im  folgenden  Jahre  an  Joh.  Jessenins' 
Stelle  und  auf  dessen  eigene  Empfehlung  zum  Professor  an 
der  Universität  gewählt  und  bestätigt  wurde.  Bald  wuchs 
sein  grosser  Ruf  als  Arzt  weit  über  Deutschlands  Grenzen 
hinaus  Und  führte  ihm  von  allen  Seiten,  auch  aus  fernen  Län- 
dern und  den  einflussreichsten  Kreisen,  Hilfesuchende  zu.  Der 
Kurfürst  Johann  Georg  von  Sachsen  ernannte  ihn  zum  Leibarzt 
mit  der  Erlaubniss,  seinen  Wohnsitz  in  Wittenberg  beizubehalten. 
Bei  all  der  überaus  reichen  Beschäftigung,  welche  die  Zeit  des 
berühmten  Mannes  in  Anspruch  nahm,  blieb  er  doch  ipmer 
in  jeder  Noth  zu  helfen  bereit;  so  auch  während  der  häufig 
in  Wittenberg  herrschenden  Pestepidemien.  Im  Jahre  1637 
ergriff  ihn  selbst  die  schreckUche  Krankheit;  er  starb  am 
21.  Juü  1637. 

Nicht  seine  Verdienste  um  die  Heilkunde  sind  es,  welche 
uns  hier  beschäftigen;  diese  bestanden  vornehmlich  darin,  dass 
er  zuerst  das  Studium  der  Chemie  als  einen  Theil  des  medi- 
zinischen Studiums  einführte  und  zur  Anerkennung  der  Ver- 
dienste der  Paracelsisten  um  die  Chemie  und  die  Bereitung  der 
Heilmittel  wesentlich  beitrug.  Nur  die  atomistischen  Lehren 
Sennerfs  sollen  im  Nachstehenden  dargelegt  werden. 

Sennert's  naturwissenschaftliches  Hauptwerk  „Epitome 
sdentiae  naturalis^^  unterscheidet  sich  zwar  seiner  ganzen  .An- 
ordnung nach  im  Allgemeinen  nicht  von  den  Compendien  der 
Physik,  wie  wir  sie  das  ganze  16.  und  17.  Jahrhundert  hin- 
durch in  steter  Eintönigkeit  finden.  Doch  enthält  es  bereits 
vollständig  die  Keime  seiner  atomistischen  Theorie  und  ist  wohl 
geeignet,  erkennen  zu  lassen^  wie  allmählich  der  atomistische 
Gedanke  in  Sennert  sich  zu  immer  grösserer  Klarheit  und 
Reife  entwickelt  hat  Die  ersten  Spuren  davon  finden  sich  ge- 
legentUch  der  Besprechung  der  Frage  ^  ob  das  Continuum  bis 
ins  Unendliche   theilbar   sei   oder   nicht.    Hier^)  setzt  Sennert 


^)  Epitome  Phys.  Lab.  1.  cap.  5.  p.  11. 


i 


Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland.  411 

auseinander,  dass  man  durchaus  die  Theilung  des  Conlinuums 
ins  Unendliche  im  mathematischen  Sinne  von  der  reellen 
physischen  Theilung  unterscheiden  müsse.  Die  erstere  existire 
unbedingt  im  Sinne  eines  successiven  Fortschreitens  bis  ins 
Unendhche  (p.  12);  doch  habe  Aristoteles  Unrecht,  wenn  er 
•die  für  den  mathematischen  Körper  geltenden  Betrachtungen 
auf  den  physischen  anwende,  und  begehe  damit  selbst  den  Fehler, 
um  dessentwillen  er  Piaton  getadelt  und  Demokritos,  der  ihn 
vermieden,  gelobt  habe.  Sicher  hätten  doch  Demokrit  und 
andere  vor  Aristoteles,  wenn  sie  von  Untheilbarem  sprechen, 
nicht  das  mathematische  Continuum,  sondern  nur  den  phy- 
iiischen,  naturlichen  Körper  gemeint.  Nur  um  die  Frage,  ob 
der  natürliche  Körper  thatsächlich  aus  untheilbaren  Partikeln 
bestehe,  könne  es  sich  handeln,  und  diese  sei  von  jenen  Philo* 
sophen  dahin  beantwortet  worden^  dass  die  Körper  aus  un- 
Iheiibaren  Körperchen  entstehen^  bestehen  und  wieder  in  sie 
aufgelöst  werden,  und  dass  die  Elemente,  oder  was  man  sonst 
als  Erstes  der  Mischung  ansehen  wolle ,  in  die  kleinsten  Theil* 
€hen,  zu  welchen  die  Physik  bei  der  Erzeugung  und  Zerlegung 
der  Körper  gelangen  könne;  aufgelöst  werden,  aus  deren  Zu- 
sammentreten wiederum  die  zusammengesetzten  Körper  ent- 
stehen. Dabei  sehe  er  nicht  ein,  wieso  in  dieser  Meinung  eine 
Absurdität  liegen  solle;  vielmehr  folgten  derselben  sowohl 
Galen  als  alle  diejenigen  Philosophen  und  Aerzte,  welche 
annahmen,  dass  die  Elemente  in  den  Mischungen  unverändert 
beharren.  Da  nämlich  eine  bestimmte  Begrenzung  und  Ge- 
stalt zum  Begriff  des  Körpers  gehöre,  so  sei  jöder  Körper 
uothwendiger  Weise  endlich  und  an  gewisse  bestimmte  Grenzen 
der  Grösse  oder  Kleinheit  gebunden.  In  der  Gesammtheit  der 
Welt  wie  in  jeder  Species  der  Naturdinge  gebe  es  in  Wirklich- 
keit (actu)  ein  Grösstes  und  Kleinstes.  Doch  stammt  die  be- 
schränkte Grösse  der  Elemente  nicht  aus  deren  Natur  selbst, 
sondern  ist  eine  Folge  der  Einwirkungen  der  äusseren  Körper, 
welche  die  Ausdehnung  der  Elemente  bestimmt.  Wie  die  Ele- 
mente nicht  ins  Unendliclie  vermehrt  werden  können,  so  können 
sie  auch  nicht  ins  Unendliche  getheilt  werden,  sondern  indem 

27* 


412  K.  LasB.witz: 

sie  sich  untereinander  mischen,  werden  sie  in  Ofii^goTara  ^ogca^ 
wie  Galen  (De  elemenüs,  1.  I,  cap.  ult.)  sagt,  d.  h.  in  sehr 
kleine  Theilchen  zerlegt,  so  dass  die  Körper  von  Natur  in 
noch  kleinere  Theile  nicht  getheilt  werden  können,  wesshalb 
die  Alten  jene  Theilchen  Atome  nannten. 

Dies  sind  die  ersten,  allerdings  noch  sehr  schwachen 
Spuren  einer  Wiederaufnahme  der  Atomistik  oder,  besser  ge- 
sagt, der  Aufstellung  einer  modificirten  Corpusculartheorie.  In 
der  Epitome  selbst  freilich  macht  Sennert  noch  keinen  Ver- 
such, die  Naturerscheinungen  atomistisch  zu  erklären,  sondern 
er  beschränkt  sich  darauf^  den  Vorgang  der  „Mischung^*  auf  dem  an* 
gegebenen  Wege  anschaulicher  zu  machen.  Aber  schon  in  der 
Schrift  „De  consensu  et  dissensu  Galenicorum  et  Peripateticorum 
cum  Chymicis^,  cap.  XII;  p.  230  u.  231,  tritt  der  atomistische  Er* 
klärungsversuch  chemischer  Vorgänge  entschiedener  auf,  und  über- 
all zeigt  sich,  dass  der  anfangs  nur  schüchtern  angedeutete  Ge- 
danke in  Sennert  selbst  lebendig  war  und  weiterreifte,  bis  er 
am  Ende  seines  Lebens  auch  seinen  angemessenen  Aus- 
druck fand. 

Es  waren  namentlich  zwei  Punkte ,  in  denen  Sennert  von 
der  traditioneUen  Aristotelischen  Physik  abwich,  indem  er  näm- 
lich lehrte^),  1)  dass  die  Formen  aus  der  Materie  entständen» 
und  2)  dass  bei  jeder  Mischung  neue  Formen  entständen  und 
dass,  während  die  früheren  Grade  bestehen  bleiben,  andere 
hinzukommen  und  mit  diesen  immer  neue  Qualitäten  erzengen« 
Diese  Neuerungen,  insbesondere  aber  seine  Paracelsistischen 
Neigungen  *)  und  seine  Behauptung  der  Urzeugung,  zogen  ihm 
von  seinen  Gegnern,  unter  denen  sich  Freitag  in  Groningen 
und  Zeisold  in  Jena  besonders  hervorthaten,  masslose  Angriffe 
zu,  so  dass  er  selbst  schwankend  wurde,  ob  er  seine  in  Vor- 
bereitung begriffenen  Hypomnemata  pbysica  herausgeben  sollte  ^). 

^)  Hypomnemata.    Praefatio. 

^)  De  Chymicoram  cum  Aristotelicis  et  Galenicis  consensu  et 
dissensu.    Opp.  Tom.  I. 

^)  Epistolarum  Centur.  II.  £p.  87.  Brief  an  Döring  vom 
31.  Dec.  1635. 


Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland.  413 

Doch  entschliesst  er  sich  zu  der  Herausgabe,  weil  er  die  Noth- 
wendigkeit  einsieht;  seine  Ansichten,  welche  von  Anderen  falsch 
berichtet  und  verdreht  worden  sind,  öffentlich  zu  declariren 
und  zu  vertheidigen*).  Denn  er  werde  falschlich  ein  Neuerer 
und  Gründer  einerneuen  „Sennert-Paracelsischen"  Secte^)  ge- 
nannt,  weil  es  berühmte  Professoren  gäbe,  die  mit  Paracelsus 
«durchaus  keine  Gemeinschaft  hätten  und  doch  mit  seinen 
{Sennerfs)  Behauptungen  übereinstimmten.  Und  muthig  weist 
er  die  Berufung  auf  die  unbedingte  Autorität  des  Aristoteles 
zurück.  „Yeritas  enim  est  adaequatio  notionum,  quae  sunt 
in  intellectu,  non  cum  alterius  hominis  notionibus,  sed 
cum  rebus." 

Gleichzeitig  hatte  er,  da  ihn  Freitag  der  Ketzerei  und 
<]^otteslästerung  verdächtigt  hatte,  von  acht  theologischen  Facul- 
täten  ein  Gutachten  eingefordert,  ob  es  Ketzerei  und  Blas- 
f)hemie  sei;  zu  behaupten,  dass  die  Seelen  derThiere  von  Gott 
■aus  nichts  geschaffen  seien,  und  ob  aus  Genesis  I,  24  sich  die 
von  Freitag  gezogene  Folgerung  ergebe,  dass  die  Seelen  der 
Thiere  aus  der  Materie  hervorgegangen  seien*).  Beide  Fragen 
wurden  im  Laufe  der  Jahre  1635  bis  1637  von  sämmtlichen 
Facultäten  im  Sinne  Sennert's  entschieden. 

So  war  Sennert's  Name  in  Aller  Munde;  bei  Freund  und 
Feind  durfte  man  auf  seine  neue  Veröffentlichung  gespannt  sein, 
4ie  überall  einen  grossen  und  interessirten  Leserkreis  fand. 
In  derselben  legte  er  die  Gedanken  dar,  welche  er  bei  sorgfal- 
tigerer Erwägung  einiger  streitiger  Capitel  der  Physik  gefasst  hatte. 
Zwar  hätte  er,  wie  er  sagt  *),  diese  Ueberlegungen  vor  ungefähr 
<1reissig  Jahren  schon  begonnen  und  später  in  seiner  Epitome 
veröffentlicht,   aber   die   Leetüre   anderer  Autoren,   namentlich 


*)  Hypomn.  Praefatio. 

')  Job.  Freitag.  Novae  seetae  Sennerto-Paracelsicae  ....  de- 
tectio  et  solida  refutatio.    Amst.  1636. 

')  De  origine  et  natura  animarum  in  brutis  sententiae  dar. 
virorum  in  aliquot  Grermaniae  academicis  etc.  —  Opp.  Tom.  I. 
p.  285  ff.  

^)  Hypomn.  physicorum  Prooemium.  ... 


414  ^*  LasBwitz: 


er 


die  derjenigen  Aerzte,  welche  die  Physik  besonders  sorgfälti 
bebandelt  haben  und  darum  auch  schlechthin  Physiker  heissen, 
ferner  die  Betrachtung  der  Natur  selbst,  die  Beschäftigung  mit 
chemischen  Versuchen  und,  mit  einem  Worte,  die  Berück- 
sichtigung einer  reichen  Erfahrung  haben  ihn  einsehen  lassen,, 
dass  er  das,  was  er  zu  wissen  glaubte,  noch  keineswegs 
wisse.  Dennoch  glaube  er,  dass  das  Meiste,  was  er  in  jener 
Schrift  gegeben  habe,  mit  der  Natur  übereinstimme ^  Einiges 
aber  auch  entweder  richtiger,  oder  deutlicher  gesagt  wei'den 
könne.  , 

Von  diesen  ausdrücklichen  Verbesserungen  seines  ersten 
physikalischen  Werkes  gehe  ich  nun  auf  die  Darstellung  der 
Atomenlehre  näher  ein,  welcher  er  in  Hypomnema  III  ein  be- 
sonderes Capitel  widmet^). 

Es  muss  nothwendiger  Weise  gewisse  einfache  Körper  be- 
sonderer Art  geben,  aus  welchen  die  zusammengesetzten  Körper 
entstehen  und  in  welche  sie  sich  wieder  auflösen.  Diese  ,iEin- 
facben**  sind  natürliche,  d.  h.  physische,  nicht  mathematische^ 
Minima,  minima  naturae,  atomi,  atoma  corpuscula,  adficna 
adiaigeraf  corpora  indivisibilia  und  so  klein,  dass  sie  mit  den 
Sinnen  nicht  wahrnehmbar  sind.  Ihnen  gegenüber  sind  die 
Sonnenstäubchen  schon  zusammengesetzte  Körper,  Sie  repräsen- 
tiren  den  höchsten  Grad  der  Theilung,  über  welchen  di& 
Natur  nicht  hinausgehen  kann^  und  sind  andrerseits  wieder  der 
Anfang  aller  Nalurkörper  (p.  116). 

Es  müssen  jedoch  Atome  verschiedener  Art,  und  zwar  in 
einer  doppelten  Beziehung,  unterschieden  werden ;  erstens  nämlich 
nach  den  Elementen  und  zweitens  nach  den  zusammengesetzten 


*)  Opp.  Tom.  L  p.  115  ff.  —  Dass  „die  von  Demokrit,  Epikur, 
Lucrez  und  später  auch  andern  Philosophen  und  Aerzten  angenom- 
menen Atome  keineswegs  zu  läugnen  seien'',  wird  auch  ausgesprochen 
in  dem  6.  Buche  Practicae  Medicinae,  das  1635  herausgegeben  wurde. 
Opp.  Tom.  VL  p.  211.  Pract  üb.  VL  Ps.  IL  Cp.  1.  Dann  heisst 
es  weiter:  Hae  atomi  et  minima  corpuscula  a  corporibus,  a  quibus 
fluunt,  nonnisi  magnitudine  differunt  et  eandem  essentiam,  qualitatea 
et  vires  cum  üs  habent. 


Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland.  415 

Körpern.  Gemäss  der  Yersohiedenheit  der  Elemente  giebt  es 
vier  Arten  von  Elementaratomen,  atomi  igneae,  aereae^  aqueae, 
terreae. 

Die  zweite  Art  der  Atome  kann  man  als  „prima  mixta^ 
bezeichnen  ^) ;  es  sind  dies  diejenigen,  in  welche  die  zusammen- 
gesetzten Körper  bei  der  Auflösung  und  Mischung  zertheilt 
werden  und  durch  deren  gegenseitige  Verbindung  wieder  neue 
Körper  sich  bilden.  Bei  allen  Gährungen^  Scheidungen  und 
Kochungen,  sowohl  bei  den  natürlichen  als  bei  den  künst- 
lichen, findet  nichts  anderes  statt,  als  dass  die  Körper  bis 
auf  ihre  kleinsten  Theile  gebracht  und  diese  •  wieder  aufs  in- 
nigste mit  einander  verbunden  werden. 

Alle  Atome  haben  von  der  Natur  ihre  bestimmten  Gesetze, 
je  nach  ihrer  Eigenart;  so  sind  zweifelsohne  die  Feueralome 
bedeutend  feiner  als  die  Erdatome^  obwohl  diese  von  uns  nicht 
gesehen  werden  können.  Die  Formen,  welche  die  Species  der 
Dinge  bestimmen,  bleiben  unverändert  auch  in  ihren  kleinsten 
Theilen,  in  den  Atomen.  Wenn  Silber  und  Gold  legirt  werden, 
so  vereinen  sich  ihre  Atome  aufs  innigste,  aber  jedes  behält 
seine  bestimmte  Form^  d.  h.  Gold  bleibt  Gold  und  Silber  bleibt 
Silber^  was  man  daraus  erkennt,  dass  beim  Zusatz  von  Salpeter- 
säure das  Silber  aufgelöst  wird,  das  Gold  aber  in  Pulverform 
zurückbleibt  (p.  119).  Die  „Form*^  besitzt  nämlich  an  sich 
weder  Grösse  noch  Theiibarkeit ;  sie  ist  ihrem  Wesen  nach 
gleich  vollkommen  in  der  kleinsten  wie  in  der  grössten  Masse; 
nin  minima  atomo  ignis  vel  aquae,  forma  ignis  vel  aquae  aeque 
perfecta  est  ac  in  magna  eorundem  mole^.  Sie  füllt  ihre  Materie 
vollkommen  aus^  d.  h.  sie  richtet  sich  nach  ihrer  Ausdehnung ; 
sie  ist  zwar  nicht  divisibilis,  aber  multipUcativa,  d.  h.  bei  der 
Theilung  des  Körpers,  an  welchen  sie  gebunden  ist,  verviel- 
fältigt sie  sich  mit 'der  Zahl  der  Theile^). 

Es   können   nunmehr   durch    das   Zusammenströmen   der 


^)  p.  118.  Sunt  seeundo  alteria8/pra,eter  elementares,  generis 
atomi  (quas  si  quis  prima  mizta  appellare  velit,  suo  sensu  utatur), 
in  quae,  ut  similaria,  alia  corpora  composita  resolvuntur. 

')  Hypomn.  L  cap.  3.  p.  107. 


416  K.  Lasswitz: 

Atome  die  scheinbar  verschiedeDsten  Körper  entstehen  ^).  Das 
Feuer  kann  verschiedene  Namen  annehmen,  z.  B.  als  Licht, 
und  doch  bleibt  es  an  sich  eins;  es  bleiben  immer  dieselben 
Feueratome.  Alle  Veränderungen  der  Körper  entstehen  da- 
durch, dass  die  Atome  eines  fremden  Körpers  sich  betheiligen; 
so  ist  die  Erwärmung  des  Wassers  die  Folge  des  Zuströmens 
der  Feueratome.  Es  werden  somit  alle  Veränderungen  der 
Qualitäten  zuräckgeführl  auf  eine  Ortsveränderung,  eine  Be- 
wegung der  Atome.  Denn  die  Atome  der  Elemente  diffundiren 
nicht  nur  und  treten  in  andere  Körper  ein,  sondern  sie  bilden 
auch  Mischungen  unter  einander  (Berufung  auf  Lucrez  üb.  2). 
Aber  nicht  nur  die  chemischen  Vorgänge,  auch  die  Aggregat- 
zustände erklären  sich  atomistisch.  Die  Exhalationen  und 
Dämpfe  bestehen  aus  Atomen.  Die  Wolken  sind,  ebenso  wie 
der  Rauch,  nicht  continuirUche  Körper,  sondern  bestehen  aus 
Tausenden  von  Myriaden  von  Atomen,  die  sich  erst  bei  der 
Bildung  des  Regens  und  Schnees  wieder  vereinigen.  Die  Con- 
densation  beruht  also  auf  der  Wiedervereinigung  der  aus- 
einander getretenen  Atome.  Denn  wenn  das  Wasser  verdampft, 
so  verwandelt  es  sich  nicht  etwa  in  Luft,  sondern  es  sondert 
eigene  Dämpfe  aus,  ebenso  wie  der  Weingeist  Weingeistdämpfe, 
das  Quecksilber  Quecksilberdämpfe  aussendet. 

Wie  man  sieht,  stellt  hier  Sennert  eine  höchst  fortgeschrit- 
tene Ansicht  über  den  Zusammenhang  der  Aggregatzustände 
auf,  wie  sie  in  der  Regel  erst  van  Helmont  oder  Gassendi  zu- 
geschrieben wird  und  von  der  z.  B.  bei  Bacon  noch  keine 
Spur  vorhanden  ist.  Sennert's  oben  angeführten  Sätze  von 
der  Erhaltung  der  Formen  in  den  Theilchen  der  Materie  führ- 
ten ihn  wohl  auf  diesen  richtigeren  Weg  in  der  allgemeinen 
Physik. 

Was  nun  die  Ursache  des  Zusammenströmens  und  der 
Vereinigung  der  Atome  zu  den  Körpern  betrifft,  so  weicht 
Sennert  im  Anschluss  an  Aristoteles  wesentlich  von  Demokrit 
ab,   indem    er   annimmt,   dass  nicht  der  Zusammenfluss   der 


*)  Hjpomn.  III.  p.  117. 


Die  EraeueruDg  der  Atomistik  in  Deutschland.  417 

Elemente  an  sich,  sondern  der  Einfluss  ihrer  Formen  die  Ver- 
einigung hervorruft.  Je  nachdem  es  in  der  Natur  der  Formen 
liegt,  ziehen  die  Elemente  sich  an;  es  ist  nur  nöthig,  dass  die 
Formen  der  kleinsten  Atome  zusammentreten.  Die  Mischungen 
hängen  von  der  specifischen  Form  der  Körper  als  erster  Ur- 
sachC;  in  gewisser  Hinsicht  jedoch  auch  von  der  Uebereinstim- 
mung  der  Atome  ab.  Gott  hat  die  Formen  so  eingerichtet, 
dass  sie  die  Elemente  passend  in  den  Verbindungen  ordnen  ^). 
Damit  hängt  zusammen,  dass  sich  Sennert  aufs  entschiedenste 
gegen  den  Materialismus  der  Atomisten  wendet  und  es  für  einen 
Wahnsinn  erklärt,  die  herrliche  Welt  aus  dem  blinden  Con- 
fluxus  der  Atome  hervorgehen  lassen  zu  wollen^). 

Endlich  nimmt  Sennert  auch  Atome  an,  aus  welchen  die 
lebenden  Wesen  bestehen;  ja  es  ist  möglich,  dass  sich  in 
solchen  kleinsten  Atomen  die  Seele  voll  und  ganz  erhält^);  es 
giebt  also  beseelte  Atome^  und  auf  ihre  Annahme  hat  sogar 
Fortuninus  Licetus  seine  Theorie  der  Urzeugung  gegründet 
Als  solche  Atome  betrachtet  Sennert  den  Samen  ^).' 

Käme  es  darauf  an,  aber  den  wissenschafdichen  WertJi 
der  Sennert'schen  Atomistik,  welche  ich  hier  dargestellt  habe, 
ein  Urtheil  abzugeben,  so  dürfte  dies  freilich  wenig  glänzend 
ausfallen.  Denn  noch  haben  wir  es  mit  einem  ersten  Versuch 
zu  thun,  das  Vertrauen  zu  der  Atomistik  der  Alten  wieder  zu 
beleben  und  diese  so  fruchtbare  Hypothese  an  geeigneter  Stelle 
zur  Erklärung  zu  verwerthen.  Es  ist  ein  Versöhnungsversuch 
zwischen  Demokrit  und  der  scholastischen  Physik,  so  wie  das 
ganze  Wirken  Sennert's  als  Akademiker  als  ein  Versöhnungs- 
versuch zwischen  Galen  und  Paracelsus  aufgefasst  werden 
kann.  Sennert  war  eine  eklektische  Natur.  Eine  consequente 
Durchführung  der  Atomistik  durch  das  gesammte  Gebiet  der 
Physik  können   wir  bei  ihm  nicht  finden.    Zur  Erklärung  der 


*)  Hypomn.  III.  Cap.  2.  p.  121. 
*)  Epitome  Physicae  IIb.  II.  cap.  1,  p.  19. 
^)  Hypomn.  III.  op.  1.  p.  119:  ipsa  anima  interdum   in  talibus 
minimis  corpusculis  integra  latere  et  sese  conservare  potest. 
*)  Hypomn.  V.  cap.  7.  p.  160. 


418  K-  Lasswitz: 

Erscheinungen  bedarf  er  seiner  minima  corpuscula,  welche  ihre 
ganz  bestimmten  Eigenschaften  besitzen  und  bewahren ;  es  sind 
qualitative  Atome,  oder  besser  Corpuskeln,  um  nicht  durch  jene 
Bezeichnung  immer  an    die  Atome  des  Demokrit  zu  erinnern, 
welche  durchaus  etwas  Anderes  sind.    Sennert's  Atome  unter- 
scheiden  sich  lediglich   durch  ihre   Grösse  von  den  Körpern, 
von   denen  si^  stammen,    und   haben  sonst  alle  Eigenschaften 
mit  ihnen  gemeinsam^).    Daher  können  sie  natürlich  nur  sehr 
wenig  erklaren.    Die  Vorstellungen  über  ihre  Grundeigenschaflen 
sind   nicht  immer  so  klar,  als  es  wünschenswerth  wäre,   aber 
sie  sind  in  höchstem  Grade  anregend,  und  das  ist  das  Wich- 
tigste.    So  ist  es  z.  B.  schwer  zu  sagen,   in  welchem  Yerhäit- 
niss   die  Elementaratome   zu   den   Corpuskeln   der   zusammen- 
gesetzten Körp«r  stehen.    Sennert  lässt  es  dahingestellt,  ob  man 
diese   Theilchen    der   zusammengesetzten  Körper   prima   mixta 
nennen  solle,   d.  h.  ob  man  sie  aus  den  Elementaratomen  zu- 
sammengesetzt denken  solle.     Doch  da  die  Elemente  immer  das 
Ursprüngliche  bleiben ,  so  wird  man  wohl  das  Richtige  treffen, 
wenn  man  sich  diese  prima  mixta  als  Molekel,  die  aus  Elemen- 
taratomen  bestehen,  vorstellL    Darauf  weist  auch  die  Bemer- 
kung hin,  dass  diese  Körperchen  zwar  minima  genannt  werden, 
es  aber  absolut  genommen  nicht  sind,  sondern  nur  sui  ge- 
neris  minima,  d.h.  solche,  aus  welchen  die  Körper  zunächst 
bestehen  und  in  welche  sie  aufgelöst  werden,  ohne  in  die  Ele- 
mente selbst  zu  zerfallen  ^).     Demnach  ist  hier  eine  Vorstellung 
gebildet,  welche  in   mancher  Hinsicht  dem  Begriffe  des  Mole- 
küls in  der  modernen  Chemie  entspricht.     Die  Atome  der  Ele- 
mente vereinigen  sich  zu  Molekeln,  die  ihrerseits  den  physischen 
Körper  bilden.    Dass  diese  Elemente  die  vier  Grundkräfle  der 
Alten  sind,    kann   der  Bedeutung  dieser  Sennert'schen  Einsicht 
natürlich  keinen  Abbruch  thun.     lieber  die  Existenz  eines  leeren 
Raumes  zwischen  den  Theilchen  spricht  sich  Sennert  nicht  aus. 


*)   Pract.   Lib.    VI.   Ps.   II.    c.    1.    Opp.   Tom.   VI,    p.   211. 
S.  Anm.  1,  S.  414. 

>)  Hypomn.  III.  cap.  2.  p.  122. 


J 


Die  ErneueruDg  der  Atomistik  in  Deutschland.       '    419 

Er  nahm  einen  solchen  wohl  kaum  an,  vielmehr  lässt  er  nach 
der  Vereinigung  det*  Atome  ein  Continuum  entstehen;  er  denkt 
sich  Atom  dicht  an  Atom  gelagert. 

Man  sieht  aber  auclf ,  dass  eine  blosse  Verwechselung  der 
Atome  des  Demokrit  mit  den  Corpuskeln  bei  Sennert  keines- 
wegs vorliegt  (wie  sie  Brucker^)  ihm  vorwirft),  sondern  das» 
Sennert  die  zusammengesetzten  Corpuskeln  von  den  Elementar- 
atomen wohl  unterscheidet.  Nur  kommt  es  ihm  viel  weniger 
auf  die  absoluten  Atome  und  deren  Bewegung  an  (weil  er  ja 
überhaupt  der  rein  materialistischen  und  mechanistischen  Welt- 
anschauung des  Demokrit  und  Epikur  fern  steht),  sondern  auf 
die  relativen  Minima  der  Theilung,  auf  die  Molekel,  die  er  zur 
Erklärung  der  chemischen  Vorgänge  braucht.  Daher  bedarf  es 
auch  keiner  weiteren  Diskussion  der  Atomistik  Sennert's  in 
Bezug  auf  ihren  philosophischen  Werth;  vielmehr  liegt  die 
Bedeutung  derselben  auf  Seiten  der  Geschichte  der  theoretischen 
Physik  und  Chemie.  Die  Corpusculartheorie  Sennert's 
ist  ein  massgebender  Wendepunkt  in  der  Entwickelung  der 
theoretischen  Naturwissenschaft;  ihre  Wirkungen  erstrecken 
sich  durch  ein  ganzes  Jahrhundert,  bis  die  Nachfolger  New- 
ton's  es  vorzogen,  von  der  natürlichen  Anschaulichkeit  zu  einer 
mystischen  Kraft  überzugehen  und  eine  mathematische  Fiction 
zu  hypostasiren.  Die  sogenannte  Corpuscularphilosophie  muss 
auf  Sennert  als  ihren  Urheber  zurückgeführt  werden.  Dass 
Sennert  der  geeignete  Mann  war,  einen  so  grossen  Einfluss 
zu  gewinnen,  werde  ich  am  Schluss  noch  erörtern.  Zunächst 
soll  es  noch  meine  Aufgabe  sein  nachzuweisen,  wodurch  Sen- 
nert seinem  Gedankengange  nach  auf  seine  Corpusculartheorie 
geführt  wurde  und  wie  dieselbe  historisch  für  ihn  ver- 
mittelt ist. 

Bereits  oben  wurde  angedeutet,  dass  die  Corpuscular- 
theorie Sennert's  aus  dem  Bedürfniss  hervorgegangen  ist,  die 
„Mistio"  zu  erklären.  Der  Process  derselben  bildet  eine  alte 
Streitfrage    der    scholastischen    Naturphilosophie,    welche    mit 


*)  Historia  eritica  philos.    Lips.  1766.    Tom.  IV.  p.  503. 


420    '  ^*  Lasswitz: 

mistio  jene  Art  der  Entstehung  eines  neuen  Körpers  bezeich- 
net, die  wir  gegenwärtig  eine  chemische  Verbindung  nennen. 
£s  handelt  sich  nämlich  darum,  ob  die  Theile  in  der  Verbin- 
dung ihre  Eigenschaften  behalten  oder  nicht.  Aristoteles  ^)  ist 
der  Ansicht,  dass  die  Theile  in  der  Mischung  (ßl^ig)  ihre 
Eigenschaften  verlieren.  Die  entgegengesetzte  Ansicht  hatte  da- 
her von  jeher  einen  ketzerischen  Anstrich.  Doch  beruft  sich 
Sennert  seinerseits  auf  Hippokrates,  Scaliger,  Philoponus,  Alber- 
tus, Aureolus,  Avicenna,  Fernehus. 

Auch  diejenigen  Physiker,  welche  annehmen,  dass  die 
Elemente  in  den  Verbindungen  ihre  Eigenschaften  verlieren, 
geben  doch  alle  zu,  dass  die  in  die  Verbindung  eintretenden 
Körper  bei  dieser  Gelegenheit  in  sehr  kleine  Theile  getheilt 
werden*).  Ebenso,  wie  die  Vorstellung  einer  Theilung  der 
Materie  in  minimale  Partikel,  war  auch  die  Annahme  allgemein 
verbreitet,  dass  die  Theilchen  sich  bis  zur  wechselseitigen  Be* 
rührung  nähern  müssten.  So  sagt  Scaliger  %  der  übrigens  auch 
von  den  Gegnern  für  sich  angezogen  wird  %  die  mistio  sei  motus 
corporum  minimorum  ad  mutuum  contactum,  ut  fiat  unio. 
Bis  zur  Theilung  und  Berührung  der  Theilchen  sind  alle  einig. 
Fraglich  ist  es  nun,  ob  diese  Theilchen  ihre  Selbständigkeit  be- 
halten. Wird  diese  Frage,  abweichend  von  Aristoteles,  be- 
jaht, wie  es  bei  Sennert  geschieht,  so  ist  damit  der  wichtigste 
Schritt  zur  corpuscularen  Theorie  der  Materie  gethan.  Indem 
sich  nun  Sennert  nach  Autoritäten  für  die  Constanz  der  Kör- 
pertheilchen   umsieht,  geräth   er  auf  die  Atomisten  des  Alter- 


^)  Il€Qi  yEviaetag  tcai  (p^oQag,  I,  1]0.  M£^cg  itnl  rdiv  [Atjnöiv 
akloiod-^yTtov  %vtaaig, 

2)  Dies  ergeben  alle  Lehrbücher  jener  Zeit,  so  z.  B.  Gilberti 
Jacchaei  Institutiones  phys.  ed.  Job.  Zeisold.  Jena  1646.  Lib.  6. 
cap.  2.  p.  495. 

°)  Exotericarum  exercitationum  lib.  XV.  De  subtilitate  ad 
Hier.  Cardanum.  Franc.  1582.  Exerc.  101.  p.  345.  Das  vielbenutzte 
Schulbuch  von  Reyher,  Margarita  philosophica ,  3.  A.  Gotha  1654, 
sagt  p.  117:  Requisita  mixtionis  sunt  1)  contactus,  2)  actio  et  passio, 
3)  alteratio,  4)  generatio  et  corruptio. 

*)  £xerc.  16,  wogegen  eben  Sennert  Exerc.  101  zu  Felde  führt. 


\ 


Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland.  421 

thums  und  wird  zum  Erneuerer  der  Atomistik.  Ja  er  wun* 
dert  sich,  dass  man  die  letztere  als  eine  neue  Lehre  ansehen 
will,  da  sie  doch  schon  von  so  vielen  Philosophen  vor  Aristo- 
teles gelehrt  wurde,  ja  seihst  schon  von  dem  Phönicier  Mochus 
vor  dem  Trojanischen  Kriege  vorgetragen  worden  sein  soll. 

Dies  ist  offenbar  der  einfache  Gedankengang,  welcher 
Sennert  zum  Nachsinnen  über  die  Atome  gefuhrt  hat^).  Dass 
aber  gerade  er  für  die  Atome  sich  erwärmen  konnte,  dafür 
liegt  noch  ein  besonderer  Grund  vor  in  seiner  Eigenschaft  als 
Arzt  und  genauer  Kenner  der  medizinischen  Schriften.  Denn 
gerade  bei  den  Medizinern  hatte  sich  die  atomistische  Tradition 
in  einer  besonderen  Form  lebendiger  erhalten  und  war  nie  so 
vollständig  verloren  gegangen,  wie  bei  den  Philosophen. 

Schon  im  Epitome^)  beruft  sich  Sennert  auf  Avicenna 
(„cujus  sententia  a  plerisque  medicis  doctissimis  approbatur**), 
welcher  der  Ansicht  gewesen  sei,  dass  die  Elemente  in  den 
Verbindungen  ihre  Formen  beibehalten^).    Bedenkt  man^   dass 


^)  Es  lässt  sich  das  am  besten  erkennen  aus:  De  cons.  et  diss. 
chymicorum  etc.  cap.  12.  p.  230,  231,  grössten  Theiis  wiederholt  in 
Epitomes  physicae  auctuarium  cap.  3.  p.  99. 

»)  p.  36. 

')  Von  Atomen  ist  bei  Ibn-Sina  nirgends  die  Hede,  jedoch 
hat  die  Atomistik  bemerkenswerther  Weise  bei  den  arabischen 
Scholastikern  eine  Stätte  gefunden.  Die  Seote  der  Mutakallim*8 
nahm  Atome  und  ein  Yacuum  an.  Ich  gebe  hierüber  den  Bericht  des 
Maimonidesim  „More  Nevochim**, vorbehaltlich  einer  Vergleichung 
mit  der  französischen  Ausgabe  von  Munk,  nach  der  lateinischen 
Uebersetzung  von  Buxtorf  (Basel,  1629),  welche  allerdings  ihrerseits 
erst  aus  dem  Hebräischen  des  Samuel  Aben  Tybbon  stammt.  Dem- 
nach sahen  die  Mutakallim  alle  Körper  als  aus  Atomen  entstanden 
an,  welche  ihrer  ausserordentlichen^  Kleinheit  wegen  weder  eine 
Theilung  zulassen  noch  Grösse  besitzen;  sondern  wenn  viele  von 
ihnen  in  Eins  zusammentreten  und  sich  gegenseitig  vereinen,  dann 
wird  dieses  Compositum  ein  Quantum  und  das  Atom  selbst  ein 
Körper,  so  dass,  wenn  nur  zwei  derartige  Atome  sich  verbinden, 
jedes  von  ihnen  ein  Körper  wird.  Die  Atome  sind  sämmtlich  ähn- 
lich und  gleich  und  besitzen'  keinerlei  Unterschiede.  Alle  Körper 
sind  aus  diesen  Einzeltheilchen  zusammengesetzt  durch  Verbindung 
(nicht  durch  Veränderung  oder  Mischung,  sondern  durch  Verbindung 


422  K.  Lasswitz: 

Avicenna  Jahrhunderte  hindurch  die  unbedingte  Herrschaft 
unter  den  Jüngern  der  Arzneikunst  behauptet  hat,  so  ist  es 
erklärlich,  dass  gerade  die  Mediziner  geneigt  waren ,  in  dieser 
Frage  Aristoteles  Opposition  zu  machen.  So  vertheidigt  der 
berühmte  französische  Arzt  Fernelius^)  (t  1558),  auf  wel- 
chen sich  Sennert^)  demnächst  stützt,  die  Ansicht  von  der 
Integrität  der  Elemente  und  ihrer  Formen  in  den 
Verbindungen  so  lebhaft,  dass  er  die  entgegengesetzte  Meinung 
für  kindisch  und  nichtig  erklärt.  Aber  Fernel  giebt  uns  an 
einer  anderen  Stelle^),  wo  er  über  Demokrit  spricht,  zugleich 
einen  weiteren  Hinweis.  Er  sagt,  Demokrifs  Secte  habe  nicht 
nur  in  der  Philosophie,  sondern  auch  in  der  Medizin  bis 
heutigen  Tages  berühmte  Nachahmer  und  Anhänger  ge- 
funden. Anhänger  der  Atome  seien  diejenigen  Aerzte,  welche 
sich  methodici  nennen.  Demokrit  würde  uns  auslachen,  wenn 
er  unsere  Ansichten  über  die  Elemente  hörte. 

Nächst  FerneUus  ist  die  zweite  medizinische  Autorität,  auf 


oder  Zusammenlagerung ,  so  dass  sie  ihre  Formen  behalten).  Ent- 
stehen ist  also  lediglich  Zusammentreten  und  Vergehen  Trennung 
der  Theilchen.  Endlich  nehmen  sie  nicht  an,  dass  jene  Partikel 
von  Ewigkeit  her  existiren,  wie  dies  Epikur  und  andere  Anhänger 
•der  Atomen  lehre  thun ,  sondern  Grott  schaffe  sie  immer  aufs  neue, 
wann  es  ihm  beliebt,  und  beraube  sie  auch  wieder  ihres  Seins  und 
verwandle  sie  in  nichts.  Einen  leeren  Raum  nehmen  sie  an,  weil 
Bewegung  sonst  nicht  möglich  wäre.  —  Höchst  eigenthümlich  ist  es, 
dass  die  Mutakallim^s  auch  die  Zeit  und  die  Bewegung  atomistisch 
d.  h.  discontinuirlich  fassen.  Die  Zeit  besteht  nach  ihnen  aus  ein- 
zelnen Momenten  und  die  Bewegung  ist  eine  ruckweise;  verschieden 
schnelle  Bewegungen  unterscheiden  sich  nur  durch  die  Zahl  der 
zwischen  den  Bewegungsimpulsen  liegenden  Ruhepausen.  (More 
Nevochim,  1.  Theil,  Cap.  73,  p.  148,  149.) 

*    ^)  Physiol.  cap.  6.  lib.  2.    Univ.  med.  ed.   Plant.  Lutet*  1567, 
fol.  p.  78. 

«)  Epitome  p.  36. 

')  De  abditis  rerum  causis.  Paris  1560.  praef.  lib.  2.  p.  195. 
Atomos  amplexati  sunt,  qui  se  methodicos  medicos  appellarunt; 
terram,  aquam,  aerem  et  ignem  dogmatici.  Utrique  sua  principia 
tam  arcte  tenent  tamque  accurate  defendunt,  nihil  ut  gigni  fierive 
putent,  quod  non  statim  causis  illis  acceptum  ferant. 


Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland.  423 

welche  Sennert  als  einen  ausdrucklichen  Anhänger  der  Corpus- 
culartheorie  sich  stützt^),  Hieronymus  Fracastorius,  eben» 
falls  ein  berähmter  Arzt^  der  1485  bis  1553  lebte  und  zu 
Verona  wirkte.  Gelegentlich  der  Untersuchung,  wie  bei  der 
Bildung  der  Körper  die  Vereinigung  des  Aehnlichen,  d.  h.  die 
Ordnung  der  zusammengehörigen  Theilchen  zu  Stande  kommt, 
stellt  Fracastorius  die  Ansicht  auf,  dass  die  Corpuskeln,  so  lange 
si^  den  ihnen  zukommenden  Platz  nicht  gefunden  haben,  in 
lebhaftester  Bewegung  umherirren.  Man  könne  also  den  Grund 
der  Anziehung  des  AehnUchen  in  der  Bewegung  der  Theil- 
chen im  Ganzen  suchen  ^).  Der  dritte  Gewährsmann  Sen- 
nert's  ^)  endlich  ist  der  Jesuit  Franciscus  A  q  u  i  1  o  n  i  u  s  (1566  bis 
1617),  welcher  sich  in  seinem  Buche  über  die  Optik  für  die  An- 
nahme gewisser  Minima  der  Grösse  erklärt  ^).    Er  Ihut  dies  bei 


*)  Pract.  lib.  6.  ps«  2.  cap.  1.  p.  211.  An  dieser  schon  oben 
citirten  Stelle  unterscheidet  Sennert  die  Atome  von  gewissen  species 
spiritales,  welche  von  den  Körpern  ausströmen  und  eigenthümliche 
Wirkungen  hervorbringen,  zu  denen  vielleicht  die  sog.  magnetischen 
gehören. 

^)  Fracastorius.  Opp.  omnia.  Venet  1555.  p.  81.  82.  De  sym- 
pathia  et  antipathia  cap.  5:  Antiqui  quidem,  utDemocritus  etEpicu- 
rus,  qoios  e  nostris  Lucretius  secutns  est,  effluziones  corporum,  quas 
Atomos  appellabant,  principium  ejus  attractionis  ponebant;  quae 
quidem  effluxiones  ne  neganda  quidem  sunt  (ut  moz  ostendemus), 
modus  autem,  quem  ipsi  tradebant,  sat  rudis  et  ineptus  erat:  quem 
quoniam  tum  Alezander  Aphrodisiensis,  tum  et  Galenus  satis  aperte 
reprobant,  a  nobis  praetermittetur . .  .  dicimus,  ab  uno  ad  aliud  re- 
ciproce  transmitti  ea  corpuscula,  e  quibus  totum  quoddam  sit  atque 
unum,  verum  difforme  in  partibus. 

»)  Hypomn.  p.  116  u.  119. 

^)  Aquilonius.  Optica.  Antw.  1613.  Lib.  5.  praepos.  8:  Cor* 
porum  naturalinm  minima  dantur,  quae  nimirum,  si  amplius  diri- 
dantur,  formam  essentiamque  deperdunt  Uti  namque  corpora  ad 
naturalem  subsistentiam  nonnuUam  ezposcnnt  quantitatis  molem, 
cum  ipsa  nil  aliud  sit,  quam  ipsius  substantiae  cororpeae  modulus, 
ita  et  quantitates,  nisi  aliquo  ezcellentiae  gradu  praeditae  sint, 
sponte  depereunt.  —  Am  Ende  des  Buches  sagt  Aquilonius ,  dass 
die  Wärme  sich,  wie  die  Grerüche,  durch  die  Luft  als  materielle 
Ausströmung  fortpflanze. 


424  ^*  Lasswitz: 

Gelegenheit  der  Frage  nach  der  Abnahme  des  Lichtes  mit  der 
Entfernung,  indem  er  den  Einwurf  zu  entkräften  sucht,  dass 
bei  einer  allmählichen  Abnahme  des  Lichtes  mit  der  Entfernung 
dasselbe  niemals  verschwinden  könne.  Es  gäbe  nämlich  einen 
gewissen  kleinsten  Grad,  unterhalb  desselben  die  Körper  ihrem 
Wesen  nach  nicht  bestehen  könnten. 

Das  sind  diejenigen  Quellen,  welche  Sennert  unter  den 
Neuerern  als  Empfehlung  für  die  Atomistik  zu  Gebote  standAi. 
Bei  seinem  eifrigen  Bestreben,  Autoritäten  für  jede  neue 
Ansicht  anzuführen,  hätte  es  Sennert  sicherlich  nicht  unter- 
lassen, seinen  Gewährsmann  zu  nennen,  wenn  ihm  noch  irgend 
eine  atomistisch  angehauchte  Stelle  in  einem  Schriftsteller  be- 
kannt gewesen  wäre.  Bezieht^)  er  sich  doch  sogar  auf  Titel- 
mann (t  1550  od.  1553),  welcher  sich  gegen  die  Integrität 
der  Formen  in  den  Mistis  erklärt,  weil  derselbe  die  Bemerkung 
macht,  dass  uns  die  Ansichten  der  Alten  über  die  Atome, 
wenn  wir  sie  richtig  verstünden,  vielleicht  nicht  so  unbillig 
erscheinen  würden*),  und  auf  Pererius,  weil  dieser  den 
Aristoteles  für  nicht  immer  ganz  gerecht  hält  und  meint,  dass 
ein  so  gescheuter  und  im  übrigen  von  Aristoteles  so  gelobter 
Mann  wie  Demokrit  doch  keinen  offenbaren  Unsinn  vorbringen 
dürfte^).  Es  ist  sicher,  dass  Sennert  weder  die  Monadologie 
Bruno's  von  Nola  gekannt  hat;  noch  die  sich  widersprechenden 
Bemerkungen  des  Bacon  von  Yerulam  ^)  über  die  Atome,  noch 


^)  Hypomn.  p.  115. 

^)  Titelmann.  Compendium  philos.  natur.  Libri  XII.  Lugd. 
1574.   lib.  5.   cap.  15.  p.  134. 

*)  Pererius,  Compend.  de  rer.  nat.  prineip.  lib.  4.  cap.  16.  — 
Physic.  lib.  4.  cap.  4.    (Dieses  Citat  nach  Sennert.) 

^)  Im.Novum  Organum  will  Bacon  zwar  eine  praktische 
Corpusculartheorie  für  physikalische  Erklärungen  gelten  lassen,  er- 
klärt sich  aber  ausdrücklich  gegen  die  Atomistik  Demokrit's,  ins- 
besondere gegen  die  mechanische  Naturansicht,  sowie  gegen  das 
Vacuum  und  für  eine  vollkommene  Plicabilität  der  Materie  (Lib.  2. 
Art.  8.  Art.  48.)*  Uebrigens  solle  man  mit  der  atomistischen  und 
anderen  Betrachtungsweisen  wechseln  (lib.  I    Art.  57). 

In  den  Cogitationes  de  natura  rerum  kommt  er  diesem 


Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland.  425 

die  von  Sebastian  Basso  ')  aufgestellte  Atomistik,  welche  übri- 
gens ins  Jahr  1621  tallt  und  also  jünger  als  die  ersten  Schriften 
Sennert's,  wenn  auch  älter  als  die  Hypomnemata  ist  Während 
Basso's  Werk  höchstwahrscheinlich  Gassendi  die  Anregung  zu 
seinem  Studium  des  Epikur  gegeben  hat,  finden  wir  Sennert 
allein  gestützt  auf  die  Quellen  aus  dem  Alterthum,  Aristoteles 
und  Lucrez,  und  die  sparsamen  Notizen,  welche  sich  bei  Pli- 
nius  und  einzelnen  Kirchenvätern  über  Demokrit  oder  die  alte 
Atomistik  finden;  ausserdem  aber  auf  die  Schriften  der  Medi- 
ziner,  insbesondei*e  Galen,  der  freUich  selbst  ein  Gegner  der 
Atomistik  ist  Aber  die  Nachrichten  des  Aristoteles  über  die 
Atome  standen  ja  aller  Welt  zur  Verfügung ;  wenn  nun  Sennert 
darauf  verfiel,  gerade  hier  gegen  Aristoteles  Fronte  zu  machen, 
so  hatte  dies  seinen  Grund  in  der  Kenntniss  Sennert^s  von  den 
Theorieen  der  Mediziner,  nämlich  der  Methodiker.  Wir  finden 
hier  einen  Boden,  der  für  das  Gedeihen  des  atomisüschen  Ge- 
dankens besonders  geeignet  war. 

Die  methodische  Schule,  als  deren  eigentlicher  Stifter 
Themison  gilt,  schreibt  sich  der  Theorie  nach  bereits  von 
Asklepiades  aus  Prusa  in  Bithynien  her,  dem  berühmten  Zeit- 
genossen des  Cicero  und  Pompejus.  Asklepiades  ist  der  Ver- 
treter einer  eigenthümlichen  Atoraenlehre,  deren  Ursprung  we- 
niger bei  Epikur  als  bei  Heraklides  von  Pontus,  vielleicht  schon 

Wahlspruche  nach  und  spricht  sich  für  die  Atome  aus  (Vol.  UI. 
cap.  I).  Sie  sollen  jedoch  nicht  unveränderlich  sein.  Er  erklärt 
zwei  Auffassungen  des  Begriffs  „Atom'*  für  zulässig,  je  nachdem 
man  die  Atome  als  die  kleinsten  Theile  der  Körper  betrachtet, 
welche  die  Grenze  der  Theilung  darstellen,  oder  als  dasjenige,  was 
keinen  leeren  Raum  mehr  enthält.  Einen  untermischten  leeren 
Baum  müsse  man  annehmen,  da  man  sonst  nicht  begreifen  könne, 
dass  die  Materie  bald  einen  grösseren,  bald  einen  kleineren  Raum 
einnehme;  denn  eine  gewisse  natürliche  Verdichtung  oder  Verdün- 
nung sei  unverständlich.  —  Dies  steht  in  directem  Widerspruch 
zu  Nov.  Organ,  lib.  2.  art.  48.  —  Näheres  darüber  bei  anderer  Ge- 
legenheit. —  Die  erste  ausführliche  Ausgabe  des  Novum  Organon 
stammt  aus  dem  Jahre  1620,  ist  also  ebenfalle  jünger  als  Sennert's 
erste  Schriften. 

*)  8.  Brucker,  Hist  crit.  philos.    Tom.  4.  p.  467  u.  513. 

Vierteljahrsschrift  f.  Wissenschaft!.  Philosophie.  III.    4.  28 


426  ^  LasBwitz: 

bei  Ekptiantos  zu  suchen  ist^ ).  Er  ging  in  der  Heilkunde 
davon  aus,  dass  der  Körper  aus  unzähligen,  durch  die  Ver- 
bindung der  Atome  gebildeten,  mit  Empfindung  versehenen 
Kanälen  (TtoQOt)  bestehe,  auf  deren  normaler  Weite  mit  Bezug 
auf  die  normale  Grösse,  Menge,  Anordnung  und  Bewegung  der 
Atome  die  Gesundheit  beruhe.  Asklepiades  nannte  seine  Atome 
oyxoi^  und  verstand  darunter  etwas  Anderes  als  Demokrit; 
doch  ist  es  schwer,  sich  ein  klares  Bild  von  dem  Wesen  dieser 
oyKOc  zu  machen,  da  die  Quellen  darüber  sehr  spärlich  fliessen 
und  bis  auf  eine  einzige  nur  ganz  kurze  Erwähnungen  geben  *). 
Nach  Asklepiades  sind  die  Atome  oder  Corpuskeln  (joyxoi)  — 
Cälius  AureUanus  gebraucht  beide  Ausdrucke  nebeneinander  — 
an  und  für  sich  beti-achtet;    d.  h.  so  lange  sie  noch  nicht  zur 


^)  Vgl.  hierüber  Zeller,  Philosophie  der  Griechen  II,  a,  686. 
III,  a,  352. 

*)  Folgendes  sind  die  Stellen,  welche  ich  ermitteln  konnte: 
DionysiuB  Alexandrinas  Episcopus,  bei  Euseb.  praepar.  evang. 
lib.  14.  cap.  23.  p.  773:  ^Ovofia  dk  avrolg  (xatg  ajofioig)  aXXo  *HQaxXMrig 
&ifi€Vog,  lxdXe<T€v  oyxove^  nuQ*  ov  xal  HoicXrintaSfis  6  iar^os  ixXtjQO' 
vofifiae  t6  ovofia. 

Seztus  Empiricus,  Ez  recens.  Beckeri.  Berlin  1842.  p.  126 
(Fyrrh.  Hypoth.  III,  32.)  ^HQaxXBCSrig  Ji  6  Hovrixog  xal  IdaxXrjnidSfig 
o  Bi&vvos  uvd^iJLovg  oyxovg;  p.  462.  (adv.  phys.  I,  363)  dasselbe; 
p.  540  (adv.  phys.  II,  318):  *0  fikv  ^Ava^yo^ag  li  ofioCtov  roTg 
yBvvtofAivoig^  ol  6k  n^Qi  töv  drifjLQX^vxov  xal  ^EnCxov^ov  ü  dvofAoloyv 
re  xal  dnad-^v^  tovriari,  räv  drofAtav^  ol  6k  ns^l  rov  Üovtixöv 
^HqaxX^lSriv  xal  ldaxXrjnid6riV  i$  dvofjLoCtov  fikv  nadTirdiv  <fe,  xad-d- 
7i€Q  Tüiv  dvdQfjuav  oyxtov ;  p.  335  (adv.  dogm»  II,  220) :  [Gewisse  kör- 
perliche Zustände  erscheinen]  yiaxXijTtid^y  <»g  ivordaewg  votitcÜv  oyxtov 
iv  vorjToTg  dQaitofiaaiv]  adv.  matbem.  5.  p.  698.* .  ort  ndvro&ev  vygot 
fiäQfi  xal  nvevfiatog  ix  Xoytp  d-eoD^riTcHv  oyxtov  avvriQdviarat  6i  aitSvog 
dvriqEfxr^XbiV, 

S.  Clementis  Becognit.  Patres  Apostollci  ed.  Coteler,  Ant- 
werpen 1698.  Tom.  I.  p.  562.  Asclepiades  oncos,  quod  nos  tumores 
vel  elationes  possumus  dicere. 

Galenus.  De  theriac.  ad  Pisonem  cap.  9,  ed.  Kühn  3d.  XIY, 
p.  250.  (ed.  Bas.  T.  IV,  p.  463);  Introductio  seu  medicus,  ed.  K.  XIV, 
698  (ed.  Bas.  IV,  375) :  Kard  6k  tov  uiaxXrjntd6fiv  aroi/eia  dvd-Qfanov 
oyxot  &QttvOTol  xa\  noQoi,    De  historia  philos.  K.  XIX,   244   (Bas. 


Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland.  427 

Bildung  der  Körpei*welt  zusammengetreten-  sind,  ohne  jede  sinn- 
liche Qualität,  nur  vom  Verstände  zu  erkennen  {yovjfvoi)^  nur 
nach  ihrer  Grösde  und  Gestalt  von  einander  verschieden  {avo^ 
fiotOL)  und  nur  in  Bezug  auf  diese  veränderlich  {rtad^tfcol^ 
^gavaTol).  Diese  Körperchen  passen  in  ihrer  Anordnung 
bei  ihrer  gegenseitigen  Aneinanderlagerung  nicht  zu  einander 
(avaq^oi)  und  zersplittern  sich  daher,  da  sie  in  ewiger  Bewe- 
gung begriffen  sind  (dC  alwvog  avrjQeiirjfcpi)  durch  ihre  wechsel- 
seitigen Stösse  in  zahllose  Bruchstücke  {d^Qavaiiaxaj  ^r^Y(ji(nä). 
Diese  nach  Gestalt  und  Grösse  verschiedenen  Splitter  bilden 
nun  durch  ihr  Zusammenströmen  und  Aneinanderhaften  ^e  nach 
ihrer  Menge  und  Ordnung  diejenigen  Körper,  welche  durch  die 
Sinne  walirnehmbar  sind. 

Hieraus  ergiebt  sich,  dass  die  Urkörper  des  Asklepiades 
von  den  Demokritischen  Atomen  sich  zwar  dadurch  unter- 
scheiden, dass  sie  nicht  untheilbar  sind,  weshalb  sie  auch  oyY.oi 

IV,  428),  wo  für  avaQfjLoarovg  zu  lesen  ist  avixQf^ovg.  Daselbst  p.  257 : 
SQavajLiccTa  ßQttxi^Tttxa  ri  xißriyfjLOJa,  —  De  elementis  K.  I,  416  (Bas. 
I,  47)  avagfxtt  üxo$x^ia,  —  De  morborum  diff.  K.  VI,  p.  839 
<Bas.  199). 

Endlich  CaeliusAurelianus.  De  morbis  aeutis  et  chronicis 
libri  VIII.    Ed.  Amman.  Amstelod.  1755.  Üb.  1.  cap.  14,  p.  41: 

Primordia  corporis  primo  constituerat  atomos,  corpuscula  in- 
tellectu  sensa,  sine  ulla  qualifate  solita,  atque  ex  initio  comitata, 
aetemum  se  moventia,  quae  suo  ineursu  offensa  mutuis  ictibus  in  in- 
^nita  partium  fragmenta  solvantur,  magnitudine  atque  schemate 
difPerentia,  quae  rursum  eundo,  sibi  adjecta,  vel  conjuncta,  omnia 
faciant  sensibilia,  vim  in  semet  mutationis  habentia,  aut  per  magni- 
tudinem  sui  aut  per  multitudinem  aut  per  schema  aut  per  ordiuem. 
Nee,  inquit,  ratione  carere  videatur,  quod  nullius  faciant  qualitatis 
Corpora.  Aliud  enim  partes,  aliud  universitatem  sequitur;  argentum 
denique  album  est,  sed  ejus  affricatio  nigra ;  caprinum  comu  nigrum, 
£ed  ejus  alba  serrago. 

Vgl.  ferner;  Chr,  G.  Gumpert.  Asclepiadis  Bithyni  fragmenta. 
Vinariae  1794. 

Sprengel,  Versuch  einer  pragmatischen  Geschichte  der  Arzney- 
kunde.    2.  Th.    Halle  1823.    8.  10  ff. 

Zell  er,  Die  Philosophie  der  Griechen.  3.Th.  I,  S.  352.  2.  A. 
Leipzig  1865. 

28* 


428  ^*  Lasswitz: 

und  nicht  aroiioi  heisseU;  dass  sie  aber  im  Uebrigen  ebenso 
eigenschaftslos  sind  wie  die  des  Demokrit  und  Epikur.  Sie 
besitzen  keine  sinnlichen  Qualitäten.  Dass  sie  avof^otov  und 
Tta&rjTot  genannt  werden,  bezieht  sich  nicht  auf  qualitative 
Unterschiede  und  Veränderungen,  sondern  ledigUch  auf  die  Ver- 
schiedenheit ihrer  Gestalt  und  Grösse  und  ihre  Brüchigkeit^ 
da  ja  Sext.  Emp.  phys.  II,  318  die  Demokritischen  Atome  auch 
ävofioia  nennt.  Es  ist  mir  daher  unverständlich,  warum  Zeller 
die  Angabe  des  Cälius  Aureliänus,  dass  die  oyiioc  qualitätslos 
seien,  für  irrthümlich  hält,  zumal  jene  Stelle  des  Cälius  Aure- 
liänus die  einzige  Quelle  ist,  welche  uns  im  Zusammenhang 
über  die  sonst  nur  in  vereinzelter  Anführung  vorkommenden 
griechischen  Bezeichnungen  belehrt,  und  da  Galen  (ed.  Kühn  I,. 
416)  ausdrücklich  das  Recht,  die  atomistischen  Theorieen  gleich- 
massig  zu  behandeln,  daraus  herleitet,  dass  alle  das  erste  Ele- 
ment als  qualitätslos  annehmen.  Aus  dieser  Stelle  bei  Galen 
ergiebt  sich  auch,  dass  der  Vorwurf,  Galen  habe  die  oynov 
avaqijiov  von  den  axoiiov  nicht  zur  Genüge  unterschieden  ^\ 
nicht  gerecht  ist.  Galen  macht  diesen  Unterschied  in  der 
Nebeneinanderstellung  überall  und  nennt  in  der  von  Sprengel 
angezogenen  Stelle^)  die  avaqiJLOi  nicht  unveränderlich,  aber 
er  hebt  hervor,  dass  er  die  Unterschiede  der  atomistischen 
Systeme  von  seinem  Standpunkt  aus  und  für  seine  Zwecke  der 
Untersuchung  für  unwesentlich  hält;  wenn  man  Alles,  sagt  er^)^ 
was  jene  Secten  gemeinsam  haben,  herausnehme,  so  sei  es 
nicht  nöthig,  ihre  Unterschiede  gesondert  weiter  zu  verfolgen. 
In  der  That  unterscheidet  sich,  wie  gesagt,  Asklepiades 
von  Epikur  in  Bezug  auf  seine  Urkörper  nur  dadurch,  dass 
er  sie  in  Bruchstücke  sich  zersplittern  lässt  Da  diese  That- 
Sache  der  Brüchigkeit  feststeht,  so  kann  ich  mich  auch 
mit    der   von    Zeller    gegebenen    Uebersetzung    von    avag^og 


*)  Sprengel,  a.  a.  0.    S.  13. 

8)  So  De  morb.  diff.  ed.  Kühn  VI,  p.  839 :   sl  fih  i$  avaQfiioVy 
r  SXios  l|  dna&d)V  Ttvtov  avyxeiTat,  — 
^)  Ed.  Kühn,  I,  416.    De  elementis. 


Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland.  429 

nicht  befreunden.  Zeller  sagt  0»  OLvaqiiog  beisse  ,,unzusanimen- 
gefugt,  aus  keinen  Theilen  bestebend**.  Das  ist  freilieb  etymo- 
logisch richtig,  aber  etymologisch  lässt  das  Wort  auch  noch 
andere  Auffassungen  zu;  hier  kann  nur  der  Sprachgebrauch 
entscheiden,  über  diesen  aber  wissen  wir  fast  gar  nichts  und 
sind  allein  auf  die  lateinische  Stelle  von  Cälius  Aurelianus  an- 
gewiesen. Nun  findet  sich  hier  aber  kein  Ausdruck,  welcHer 
sich  als  Uebersetzung  von  avaQfxog  in  dem  Sinne  von  Zeller 
deuten  Hesse,  es  ist  nichts  davon  gesagt,  dass  die  corpuscula 
aus  keinen  Theilen  bestanden;  vielmehr  widerspricht  diese 
Uebersetzung  gerade  der  wesentlichen  Eigenschaft  der  oynoc, 
im  Gegensatz  zu  den  aro^ov  theilbar  und  brüchig  zu  sein. 
Sprengel  übersetzt  „formlos**,  was  doch  nur  heissen  könnte, 
dass  den  Theilchen  keine  bestimmte  Form  zukommt  und  dem- 
nach mit  avoiJLOioq  in  eine  Linie  zu  stellen  wäre.  Kühn  über- 
setzt „incompactus^ ,  also  nicht  fest  zusammengefügt, 
locker,  ebenso  wie  das  bei  Anderen  sich  findende  incompactilis. 
Gegen  diese  AufTassung  lasst  sich  nichts  einwenden,  da  aller- 
dings die  Leichtigkeit  der  Zersplitterung  das  Unterscheidungs- 
merkmal von  den  absolut  harten  und  festen  Atomen  ist.  Ich 
würde  also  die  avaqixoi  oynoc  als  „lockere  Urkörperchen**  be- 
zeichnen, wenn  nicht  noch  eine  zweite  Auffassung  möglich 
wäre,  welche  ebenfalls  viel  für  sich  hat.  Die  Eigenschaft 
avaQfxog,  die  „lose  Zusammenfügung**  kann  sich  auch  statt  auf 
die  Natur  der  einzelnen  Theilchen  auf  ihren  Zusammenhang 
und  ihre  Anordnung  beziehen,  so  dass  avagfxog  die  Bedeutung 
hätte:  nicht  zu  einander  passend,  nicht  in  Ordnung  befindlich 
(so  bei  Jakobitz  und  Seiler).  Damit  stimmt  auch  die  ebenfalls 
vorkommende  Uebersetzung  „incompositus**,  was  nicht  „un- 
zusammengesetzt" heisst,  sondern  „nicht  wohlgeordnet,  nicht  in 
geschlossener  Ordnung'^  So  nennt  Le  Giere  ^)  die  oyxov 
„Clements  detaches,  ou,  qui  ne  s^accordent  pas".  Die  avag/^ov 
oynoL  wären  also  Körperchen,  welche  oh'ne  Ordnung,  nicht 
an   einander  geschlossen,   im   Räume  vertheilt  sind   und 


^)  Philosophie  der  Griechen,  2.  A.  II,  A.    S.  686. 

')  Histoire  de  M^decine.    II,  3,  5.    (Bei  Gumpert,  a.  a.  0.) 


430  K*  Lasswitz: 

sich  daher  bei  ihrer  ewigen  Bewegung  an  einander  abreiben. 
Dies  stimmt  vorznglich  zu  den  Worten  des  Cälius:  „ex  initia 
comitata,  aeternum  se  moyentia,  suo  incursu  offensa'^;  wobei 
man  das  „ex  initio  comitata'*  auf  eine  ursprünglich  regelmässige, 
aber  durch  die  Bewegung  gestörte  Anordnung  (daher  avagfiogy 
beziehen  könnte.  Es  ist  klar,  dass  diese  Vorstellung  genau  die 
des  Descartes  von  der  Zersplitterung  seiner  ursprünglich  den 
Raum  gleichmässig  ausfällenden  Theilchen  der  „zweiten  Ma- 
terie" wäre.  . 

Ob  man  nun  die  ovaQfxoi  opLOi  des  Asklepiades  als  leicht 
zerreibliche,  lockere,  oder  als  unzureichend  angeordnete  fasst, 
jedenfalls  hat  man  hier  eine  Form  der  Atomistik,  welche  einen 
deutlichen  Uebergang  zwischen  der  consequenten  Atomistik  de» 
Demokrit  und  der  Corpuscularphilosophie  des  17.  Jahrhunderts 
mit  ihren  yeränderlichen  Atomen  bildet.  Es  kommt  hier  nicht 
darauf  an,  den  philosophischen  Wert  der  Heraklidisch-Askle- 
piadeischen  Corpusculartheorie  zu  kritisiren,  sondern  nur  ihre 
historische  Bedeutung  hervorzuheben.  Und  diese  Hegt  klar  in 
dem  Umstände  vor  Augen,  dass  die  Atomistik  von  der  Medizin 
aufgegriffen  wurde  und  so  auf  einem  Nebenwege  in  der  Ge- 
schichte der  Wissenschaften  ungestört  fortwandeln  konnte,  wäh- 
rend ihr  Aristoteles  die  grosse  Heerstrasse  der  Philosophie  ver- 
sperrt hatte. 

Denn  wenn  wir  bedenken,  dass  Caelius  Aurelianus,  der- 
jenige Methodiker,  welchem  wir  die  einzige  ausführliche  Nach- 
richt über  das  System  und  die  Atomistik  des  Asklepiades  ver- 
danken, ein  ausführliches  Lehrbuch  hinterlassen  hat,  welches 
das  ganze  Mittelalter  hindurch  im  Gebrauch  und  neben  dem 
Herbarium  des  Dioskorides  und  den  Werken  des  Hippokrates 
und  Galen  den  Mönchen  besonders  empfohlen  war^),  so  liegt 
hier  eine  stete  Tradition  atomistischer  Lehren  vor,  welche  für 
die  Mediziner  als  theoretische  Grundlage  eine  Autorität  besass» 
die  der  von  Aristoteles  verworfenen   philosophischen  Atomistik 


^)  Cassiodorus  delnstit  divin.  liter.  cap.  31.  Opp.  ed.  Garetus. 
1679.  Tom.  II,  p.  556:  Legite  Hippoeratem  atque  Galenum  Latina 
lingua  conrersoB  ....  deinde  Aiurelii  Coelii  de  medicina  .  .  . 


Die  Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland.  4g  1 

vollständig  abging.  Spricht  doch  auch  Galen  ^  obwohl  er  ein 
Gegner  der  Atomistik  ist  und  hauptsächlich  die  Körperlichkeit 
der  Qualitäten  bei  den  Stoikern  bekämpft  ^);  soviel  von  den 
Atomen,  dass  die  Aufmerksamkeit  der  Aerzte  immer  wieder 
auf  dieselben  gelenkt  werden  musste,  zumal  sein  aus  dem  Hippo- 
krates  entnommener  Hauptgrund,  den  er  gegen  die  Atome  an- 
fuhrt,  vielmehr  auf  das  Eleatische  Sein  als  auf  die  Atome  passt 
und  leicht  zu  widerlegen  ist.  Er  behauptet  nämlich,  dass  der 
Mensch  nie  krank  werden  könnte,  wenn  er  wirklich  ^^ins^^ 
wäre,  d.  h.  nur  aus  einer  Substanz,  wie  die  Atome,  bestände^), 
Sennert  sagt  sogar  von  Galen,  dass  er  die  Atome  nicht  ganz 
habe  verwerfen  können^).  Ueberhaupt  waren  die  Lehren  der 
Methodiker  auch  den  Aerzten  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 
wohl  bekannt.  Leonhard  Fuchs  in  Ingolstadt  und  Tubingen 
(t  1565),  auch  als  Botaniker  bekannt,  trug  viel  dazu  bei,  unter. 
Discreditirung  der  Araber  die  Principien  der  älteren  griechischen 
Aerzle  wieder  zur  Anerkennung  zu  bringen ;  er  erwähnt  häufig 
die  Methodici  und  erörtert  ihre  Grundsätze^),  ja  er  braucht 
gelegentlich  eine  ganze  Seite,  um  ihre  Lehre  von  den  Atomen 
zurückzuweisen^)  durch  denselben  Grund  (dass  der  Mensch 
nämlich,  wenn  er  aus  Atomep  bestände^  keinen  Schmerz  empfin- 
den könnte),  welchen  schon  Galen  dem  Hippokrates  verdankt. 
Er  legt  also  der  Atomenlehre  doch  Bedeutung  bei,  während 
sein  Zeitgenosse  FerneH)   derselben   sogar  zustimmte  zu  einer 


^)  Sprengel,  Beiträge  z.  Geschichte  der  Medizin.    Halle  1794. 

«)  De  morb.  diff.  (Kühn  VI,  839) 5  De  constit.  artis  med.  ad 
Patrophilum  lib.  (K.  I,  37),  und  an  anderen  Stellen. 

*)  Epitomes  physicae  auctuarium.  Opp.  p.  98.  „Neque  mini- 
mas  particulas  Galenus  ipse  rejicit;  etsi  enim  1. 1.  de  elementis  cap.  2. 
contra  Democritam  disputet  ac,  si  ea  mens  foit  Democriti,  quam  ibi 
proponit  Galenus,  a  Galeni  partibus  contra  Democritum  libenter 
stemus;  tamen  Atomos  simpliciter  rejicere  non  potest.  (Folgt  Be- 
rufung auf  1.  I,  de  elem.,  cap.  ultimum.) 

*)  Institutiones  medicinae  etc.  libri  V.  Basel.  Vorrede  datirt 
V.  1.  Juni  1565.  p.  47. 

'^)  A.  a.  O.  lib.  1,  sect.  2,  p.  57. 

«)  S.  A.  1.    S.  422. 


432  K*  Lasswitz: 

Zeit,  wo  wir  nach  atomistischen  Regungen  in  der  Philosophie 
noch  vergebens  suchen. 

Es  soll  nun  nicht  behauptet  werden,  dass  Sennert  die 
Atomistik  des  Asklepiades  selbst  genauer  gekannt  habe;  aber 
es  ist  ganz  sicher,  dass  die  medicinische  Tradition  ihn  befähigte, 
der  Frage  nach  den  Atomen  unbefangener  gegenüberzustehen, 
ja  dass  er  in  der  atomistischen  Neigung  der  methodischen 
Schule  seinen  wichtigsten  Stützpunkt  fand.  Und  somit  haben 
wir  in  der  That  in  Asklepiades  ein  noch  nicht  beachtetes  Mittel- 
glied zwischen  der  alten  Atomistik  und  der  Corpusculartheorie, 
deren  Erneuerung  Sennert's  zweifelloses  Verdienst  ist. 

Es  darf  nicht  unterschätzt  werden,  dass  gerade  Sennert 
es  wagte,  zuerst  die  Atomistik  öffentlich  yorzutragen,  mag 
auch  ihre  theoretische  Bedeutung  bei  ihm  noch  eine  geringe 
sein.  Denn  Sennert  war  ein  Mann,  dessen  Ansehen,  wie  aus 
den  Zeugnissen  ^)  seiner  Zeitgenossen  hervorgeht,  ein  ausser- 
ordentliches war.  Hochgeachtet  wegen  der  Festigkeit  seines 
Charakters^  beliebt  wegen  der  Milde  seiner  Gesinnung,  weit- 
bekannt als  Lehrer  und  Gelehrter  und  weltberühmt  durch  seine 
Geschicklichkeit  als  Arzt  besass  er  eine  gewichtige  Autorität. 
Patin  ^)  sagt,  dass  von  allen  neueren  Aerzten  der  einzige 
Fernelius  ihm  zu  vergleichen  sei.  Büchner^)  rühmt  von  Sen- 
nert; dass  der  Ruf  seines  Namens  durch  die  ganze  gebildete 
Welt  gedrungen  sei ;  nicht  nur  das  gesammte  Deutschland,  auch 
Belgien  und  England  haben  ihn  geehrt,  vor  allem  aber  Frank- 
reich und  Italien.  Man  erzählt,  dass  die  Italiener  bei  Nennung 
seines  Namens  den  Hut  abzogen^),  und  sicher  ist,  dass  die 
Aerzte  von  Padua  auf  die  Anfrage  des  Grafen  Sapieha,  Gross- 
fähnrich von  Litthauen;  erwiderten,  dass  Sennert  in  Wittenberg 
der  einzige  sei,    der  ihm   helfen   könne.     Wenn  ein  solcher 


^)  Judicia  virorum  aliquot  clarissimorum.  Vorgedruckt  den 
Opp.  1666  und  1676.  Vergl.  ferner:  Thomas  Pope-Blount:  Censura 
celebriorum  authorum.    Genev.  1696.  p.  921. 

*)  Nach  Zedler's  Universallexicon.    Leipzig  und  Halle  1743. 

^)  Orationes  Panegyr.    Anm.  3.    S.  409. 

*)  Zedier,  a.  a.  0. 


Die  ErneueruDg  der  Atomistik  in  Deutschland.  433 

Mann  eine  unbeachtete  oder  als  verboten  angesehene  Lehre  er« 
neuerte,  so  musste  dies  naturgemässjeinen  bedeutenden  Eindruck 
hervorbringen  und  die  Aufmerksamkeit  auf  dieselbe  iii  un- 
gewöhnlichem Grade  lenken.  Damit  ist  der  Atomistik  Bahn 
gebrochen  und  bald  entstehen  Nachfolger  dem  ersten  Bekenner. 
Sennert's  eifrigster  Schüler  ist  Johannes  Sperling,  Professor 
der  Medizin  zu  Wittenberg,  der  in  seinen  Institutiones  physicae, 
die  zuerst  1653,  dann  in  vielen  neuen  Auflagen  zu  Wittenberg 
erschienen ,  den  Atomen  das  2.  Gapitel  des  fünften  Buches  ^) 
widmet  und  damit  die  Atomenlehre  zuerst  in  ein 
Lehrbuch  derPhysik  einführt.  Dieses  Lehrbuch  war  aber, 
wie  schon  aus  der  grossen  Anzahl  seiner  Auflagen  hervorgeht, 
ausserordentlich  verbreitet  und  wurde  in  den  meisten  Schulen 
Deutschlands  den  Vorlesungen  zu  Grunde  gelegt^).  Seine 
Gründe  für  die  Atomistik  bieten  allerdings  nichts  Neues ;  son^ 
dern  sind  durchweg  aus  Sennert  entlehnt  (den  er  übrigens  in 
kräftigster  Weise  gegen  Freitag  vertheidigt  hatte)  ^),  aber  wichtig 
ist  die  Verbreitung,  welche  auf  diese  Weise  Sennert's  Lehre  in 
Deutschland  unter  der  studirenden  Jugend  gewann.  So  fest- 
gewurzelt waren  die  peripatetischen  Vorurtheile  in  den  Schulen, 
dass  es  der  wackeren  Arbeit  dieser  Männer  bedurfte,  um  der 
wiederauflebenden  Naturwissenschaft  den  Boden  ihres  Gedeihens 
zu  bereiten.  Aber  ihre  Früchte  machten  sich  auch  bald  in 
den  Ansichten  der  deutschen  Physiker,  so  z.  B.  bei  dem  be- 
rühmten Bürgermeister  von  Magdeburg,  Otto  von  Guericke^), 
geltend,  der  sichtlich  von  Sennert  beeinflusst  ist.  Freilich  hatte 
schon  im  Anfang  des  Jahrhunderts  in  Itahen  der  grosse  Galilei 
den  Weg  der  Erfahrung  praktisch  betreten,  den  —  unter  eigen- 


1)  Inst.  phys.   6.  A.  Wittenb.  1672.  p.  714  ff. 

')  Chr.  Vatör,  Physiol.  prooem.  p.  3,  angeführt  bei  Brucker, 
Hist  crit.  phil.  V,  p.  619. 

')  Defensio  Tractatus  de  origine  formarum  pro  Daniele  Sennerto 
et  contra  Job.  Freitag.  Wittenbergae  1638.  lieber  die  Atome  s.  p.  432. 
lieber  die  Kräftigkeit  des  persönlichen  Angriffes  lassen  die  Zart- 
heiten der  Vorrede  keinen  Zweifel.    Man  vergl.  z.  B.  den  Scbluss. 

^)  Ezperimenta  nova  Magdeburgica  de  vacuo  spatio.  Amstel. 
1672.    Lib.  n.  cap.  12.  p.  70. 


434      K*  Lasswitz:    Die  Erneuerung  der  Atomistik  etc. 

tfaumlicher  Yerkennang  von  Galilei's  Verdiensten  —  Bacon  in 
England  von  allgemeinstem- Gesichtspunkte  aus  lehrte;  freilich 
gewann  Gassendi  fast  gleichzeitig  mit  Sennert  in  Frankreich 
grösseren  Ruhm  durch  ähnliche  Bestrebungen  ImAnschluss  an 
Epikur  und  unmittelbar  darauf  bricht  der  gewaltige  Geist  eines 
Descartes  der  Philosophie  völlig  neue  Bahnen.  Trotzdem  kann 
wenigstens  die  deutsche  Physik  sich  rühmen,  in  Bezug  auf  die 
Theorie  der  Materie  den  Weg  der  Erneuerung  durchaus  selbst- 
standig  eingeschlagen  und  die  Periode  der  Corpuscularphilosophie 
eröffnet  zu  haben. 

Aber  auch  auf  weitere  Kreise  hat  Sennert  anregend  ge- 
wirkt. Boyle,  den  manr:  mit  Recht  als  den  ersten  Physiker  und 
Chemiker  im  modernen  Sinne  betrachtet,  beweist  durch  seine 
lebhafte  Polemik  gegen  Sennert,  dass  dessen  Einfluss  ein  all- 
gemein anerkannter  war.  Und  dies  gilt  besonders  auch  von 
Italien.  Der  Umstand,  dass  Sennert  die  Atome  nicht  im  Sinne 
Demokrit^s^  sondern  nur  als  physikalische  Minima,  als  Corpuskeln 
(s.  übrigens  hierüber  S.  419,  420)  eingeführt  habe,  veranlasste 
den  Italiener  Jo.  Chrysostomus  Magnenus  ^),  in  einem  besonderen 
Werke  eine  erneute  Darstellung  der  Atomistik  zu  geben ,  in 
welcher  er  das  Demokritische  System  in  angemessener  Weise 
modificirte.  An  dieser  Stelle  kann  auf  die  Atomistik  des  Mag- 
nenus nicht  näher  eingegangen  werden. 

Gegenüber  diesen  Ausfuhrungen,  welche  die  Bedeutung 
Sennert's  als  Schöpfer  der  Corpuscularphilosophie  darlegen,  ist 
offenbar  das  anfangs  angeführte  abföllige  Urtheil  Lange's  nicht 
aufrechtzuerhalten;  vielmehr  zeigt  sich,  dass  Zeller ^)  Recht  hat, 
bei  der  Erwähnung  von  Sennert  das  Urtheil  des  Leibniz^)  für 
seine  Bedeutung  anzuführen,  nach  welchem  die  Corpuscular- 
philosophie wesentlich  zur  Schwächung  der  peripatetischen  Lehre 
beigetragen  habe. 

Gotha.  K.  Lasswitz. 


^)  Democritus  reviviscens.    Hagae  Comit.  1658.    (In  der  Wid- 
mung an  den  Senat  von  Mailand.) 

^)  Geschichte  der  Philosophie  seit  Leibniz.    Münch.  1873.  S.  74. 
^)  Th^odic^e.    Discours  de  la  Conformit^  etc.    §  12. 


Drei  Grundfragen  des  Idealismus. 


Erster  ArtikeL 

I.    Beweis  des  Idealismns. 

1.    Vorbemerkungen. 

Funfsig  Jahre  lang^  von  Kant  bis  Hegel,  bat  in  Deutsch- 
land auf  philosophischem  Gebiete  angeblich  der  Idealismus  ge- 
herrscht. Das  war  allerdings  ein  unechter  Idealismus,  welcher 
nicht  auf  einer  Erforschung  der  Thatsachen,  sondern  auf  An- 
nahmen a  priori  beruhte.  Nichtsdestoweniger  kann  es  Einen 
Wunder  nehmen,  wenn  man  sieht,  dass  die  idealistische  Tradition 
so  vollständig  ausgestorben  ist,  dass  gegenwärtig  selbst  manchen 
philosophisch  Gebildeten  die  idealistische  Lehre  fast  als  eine  Ver- 
rücktheit erscheint.  Bedenkt  man  überhaupt,  dass  schon 
Descartes  es  gewusst  und  gesagt  hat,  dass  aus  den  Thatsachen 
der  Erfahrung  kein  gültiger  Schluss  auf  das  Dasein  wirklicher 
Körper  ausser  uns  gezogen  werden  kann  —  Descartes  gründete 
seinen  Glauben  an  die  Realität  der  Körper  lediglich  auf  die 
Wahrhaftigkeit  Gottes  —  und  dass  sodann  Berkeley  vor  hun- 
dertfünfzig Jahren  schon  die  idealistische  Lehre  zur  allgemeinen 
Y  Kenntniss  gebracht  hat  und  dieselbe  seitdem  ein  stehender 
Gegenstand  der  Controverse  geblieben  ist,  —  so  muss  man 
sich  wundern,  dass  der  Streit  zwischen  dem  Idealismus  und 
dem  Realismus  immer  noch  nicht  beendet  ist.  Denn  es  han- 
delt sich  hier  nicht  um  abstracte  Principien,  deren  Verständniss, 


436  A.  Spir: 

noch  um  yerborgene  Naturvermögen,  deren  Ergründung  schwer 
wäre,  sondern  bloss  um  Thatsachen  und  Inductionen  aus  That- 
Sachen,  deren  Constaürung  keine  Schwierigkeit  bietet.  Ganze 
Bibliotheken  fast  sind  über  die  Methoden  des  richtigen  Den- 
kens geschrieben  worden  und  es  ist  dennoch  bis  jetzt  nicht 
entschieden,  was  in  einer  so  einfachen  und  uns  so  nahe  liegen- 
den Fra^e  das  Richtige  sei! 

Um  diesem  Uebelstand  nach  Kräften  abzuhelfen,  will  ich 
hier  versuchen ,  den  Beweis  des  Idealismus  so  klar  und  präcis 
zu  führen,  dass  mit  Leichtigkeit  und  voUkomm^er  Gewissheit 
entschieden  werden  kann,  auf  welcher  Seite  die  Wahrheit  liegt. 
Dabei  werde  ich  jedes  überflüssige  Wort  möglichst  vermeiden, 
denn  in  solchen  Fällen  kommt  es  nicht  auf  die  Menge  der 
Worte,  sondern  bloss  auf  das  Gewicht  der  Gründe  an. 

Unter  der  Aussenwelt  kann  zweierlei  verstanden  werden: 

1)  Entweder  die  Körper,  die  wir  selbst  thatsächlich  wahr- 
nehmen, nämlich  sehen,  betasten  u.  s.  w. 

2)  Oder  Aussendinge,  welche  nicht  selbst  wahrgenommen 
werden,  also  von  jenen  factisch  wahrgenommenen  durchaus 
verschieden  und  an  sich  unerkennbar  sind ,  aber]  nach  der 
Voraussetzung  unsere  Empfindungen  bevrirken. 

Der  hauptsächlichste  Grund  der  Aterwirrung  in  unserer 
Frage  ist  der,  dass  man  eine  bloss  vorausgesetzte  oder  gedachte 
Aussenwelt  von  der  thatsächlich  wahrgenommenen  nicht  unter- 
scheidet, obgleich  man  im  Allgemeinen  bereitwilh'g  zugiebt,  dass 
eine  wirkliche  Aussenwelt  nicht  wahrgenommen  werden  kann. 
Es  wird  sich  nun  aber  zeigen,  dass  dies  zwei  durchaus  ver- 
schiedene Dinge  sind,  und  der  Beweis ]muss  darum  in  zwei 
Theile  zerfallen,  nämUch: 

1)  In  den  Beweis,  dass  die  factisch  von  uns  wahrgenom- 
menen Körper  aus  nichts  Anderem  als  unseren  eignen  Sinnes- 
empfindungen bestehen,  und 

2)  in  den  Beweis,  dass  es  auch  keine  unbekannte  Aussen- 
dinge als  Ursachen  unserer  Empfindungen  giebt. 


Beweis  des  Idealismus.  437 

2.   Beweis,  dass  unsere  Sinnesempfindungen  selbst 
dasjenige   sind,   was   wir    als    Körper   ausser    uns 

wahrnehmen. 

a)   Der  experimentelle  Beweis. 

1)  Thatsache:  Wenn  wir  mit  einem  Auge  z.  B.  ein 
Haus  betrachten  und  das  Auge  von  der  Seite  mit  dem  Finger 
drücken,  so  wird  dadurch  das  gesehene  Haus  zur  Seite  ver- 
schoben. Druckt  man  das  Auge  von  der  rechten  Seite,  so  ver- 
schiebt sich  das  Haus  nach  rechts  hin;  druckt  man  das  Auge 
von  der  linken  Seite,  so  verschiebt  sich  das  Haus  nach 
links  hin. 

Inductiver  Schluss  daraus:  Dasjenige,  was  wir  al» 
ein  Haus  sehen,  ist  nichts  Anderes^  als  unsere  eignen  Farben- 
empfindungen. Unsere  Farbenempfindungen  scheinen  uns  selbst 
ausser  uns,  im  Räume  zu  liegen. 

2)  Thatsache:  Wenn  wir  eine  kleine  Kugel  mit  ge- 
kreuzten Fingern  berühren,  so  fühlen  wir  zwei  Kugeln  unter 
den  Fingern. 

Inductiver  Schluss  daraus:  Dasjenige,  was  wir  al& 
zwei  Kugeln  fühlen,  ist  nichts  Anderes,  als  unsere  Tast- 
und  Muskelempfindungen. 

Somit  ist  experimentell  bewiesen,  dass  die  Körper,  die 
wir  factisch  sehen  und  betasten^  aus  unseren  Farben-,  Tast- 
und  Muskelempfindungen  bestehen. 

Hier  werden  dem  Leser  sofort  tausendfaltige  Einwendungen 
einfallen,  tausend  Gründe  zum  Beweis,  dass  das  gesehene  Haus 
und  die  betastete  Kugel  doch  ja  etwas  von  unseren  Empfin- 
dungen durchaus  Verschiedenes  seien.  Allein  ich  bitte  Folgen- 
des zu  bedenken:  Die  Entscheidung  darüber,  welcher  Schluss 
aus  den  Thatsachen  der  richtige  sei,  ist  nur  dann  mögUch^ 
wenn  man  zu  allererst  die  Thatsachen  selbst  genau,  wie  sie 
sind,  constatirt  Die  genaue  Constatirung  der  Thatsachen  lehrt 
aber,  wie  eben  gezeigt  worden,  dass  unsere  Farben-  und 
Tastempfindungen   selbst   dasjenige  sind,    was  wir  als  Körper 


438  A.  Spir: 

ausser  uns  sehen  und  fühlen.  Welche  Schlüsse  sich  daraus 
ergeben,  das  werden  wir  weiter  unten  prüfen^). 

Nun  lässt  es  sich  noch  ferner  experimentell  beweisen,  dass 
in  unserer  Körperwahrnehmung  gar  nichts  Anderes  als  unsere 
Sinnesempfindungen  gegeben  und  enthalten  sein  kann. 

Wenn  wir  äussere  Gegenstände  selbst  wahrnehmen  könnten, 
so  müssten  diejenigen  unter  denselben  Gegenstände  unserer 
unmittelbaren  Wahrnehmung  sein,  welche  uns  am  nächsten 
liegen  und  unsere  Wahrnehmung  unmittelbar  bedingen.  Die 
uns  am  nächsten  liegenden  und  uns  allein  unmittelbar  afficiren- 
den  äusseren  Gegenstände  sind  nun  unsere  Nerven  und  unser 
Gehirn.  Allein  wir  sind  so  weit  entfernt,  etwas  von  diesen 
nächstliegenden  Gegenständen  unmittelbar  wahrzunehmen,  dass 
wir  vielmehr  das  Dasein  derselben  nur  aus  äusseren  Erfahrungen 
erschliessen  können.  Was  wir  unmittelbar  wahrnehmen,  sind 
nicht  unsere  Nerven  und  unser  Gehirn,  sondern  Körper,  welche 
ausser  unserem  Leibe  liegen.  Aber  wirkUche  ausser  un- 
serem Leibe  liegende  Gegenstände  können  nicht  selbst  wahr- 
genommen werden,  weil  zwischen  denselben  und  unserer 
Wahrnehmung  die  Sinnesorgane  in  der  Mitte  stehen.  Damit 
ist  also  experimentell  bewiesen,  dass  was  wir  ausser  uns  als 
Körper  wahrnehmen,  nicht  wirkliche  äussere  Dinge,  sondern 
nur  unsere  eignen  Sinnesempfindungen  sein  können. 

ß)    Der  analytische  Beweis. 

Nunmehr  will  ich  den  umgekehrten  Beweis  führen,  dass 
wenn  man  aus  den  von  uns  wahrgenommenen  Körpern  Alles 
das  abzieht  oder  abstrahirt,  was  unsere  eigne  Empfindung  ist, 
in  denselben  gar  nichts  Wirkliches  mehr  übrig  bleibt. 

Hier  werde  ich  mir  erlauben,  eine  kurze  Stelle  aus  meinem 
Werke  „Denken  und  Wirklichkeit"  anzuführen,  weil  ich  das 
dort  Gesagte  nicht  besser  mit  anderen  Worten  zu  sagen  weiss. 

,,Da  die  Körper  ihrem  Begriffe    nach  Substanzen,  äussere 


^)  Die  oben  angeführten  zwei  inductiven  Schlüsse  dienen  bloss 
dazu,  den  wahren  Thatbestand  selbst  zu  constatiren. 


Beweis  des  Idealismus.  439 

und  Yon  uns  unabhängige  Gegenstände,  also  von  unseren 
Empfindungen  durchaus  verschieden  sind,  so  ist  die  erste 
Forderung  des  logischen  Denkens  die,  den  Körpern  an  sich 
keine  Qualität  beizulegen,  welche  in  unseren  Empfindungen  ge- 
geben ist.  Das  ist  denn  auch  die  erste  Berichtigung,  welche 
die  wissenschaftUche  Theorie  in  unserer  Vorstellung  der  Körper 
vornimmt.  Die  Körper  können  demnach  an  sich  weder  farbig 
noch  leuchtend,  weder  warm  noch  kalt,  weder  süss  noch  sauer 
sein,  überhaupt  gar  keine  empfundene  Qualität  besitzen.  Da  aber 
alle  realen  Qualitäten  in  unseren  Empfindungen  gegeben  sind, 
so  sind  also  die  Körper  an  sich  qualitätlos.  Als  ihre  einzige 
Eigenschaft  bleibt  das  Dasein  im  Räume,  die  Erfüllung  des 
Raumes  und  die  Einwirkung  auf  einander  übrig''  (II,  91). 

Aber  die  Eigenschaft  eines  Dinges,  einen  Raum  zu  erfüllen, 
räumlich  ausgedehnt  zu  sein,  ist  logisch  widersprechend.  Denn 
das  Ausgedehnte  ist  zusammengesetzt  und  doch  aus  nichts  zu- 
sammengesetzt, da  alle  seine  Bestandtheile ,  man  mag  sie  so 
klein  denken,  wie  man  will,  selbst  ausgedehnt  und  ins  Unend- 
liche theilbar,  also  wiederum  zusammengesetzt  sind.  Der  Wider- 
spruch in  dem  Wesen  des  Ausgedehnten  ist  übrigens  schon 
von  Anderen  so  oft  nachgewiesen  worden,  dass  ich  ihn  nicht 
weiter  zu  beleuchten  brauche.  Die  Erfüllung  des  Raumes,  diese 
Grundeigenschaft  der  Körper,  ist  somit  keine  reale  Qualität^). 
Aber  ein  Ding,  welches  keine  reale  Qualität  besitzt,  ist  gar  kein 
wirkliches  Ding,  sondern  ein  blosser  Gedanke,  eine  Abstraction. 
Die  Körper  unserer  Erfahrung  sind  also,  allen  Empfindungs- 
inhalt abgerechnet,  blosse  Vorstellungen  in  uns. 

„Allein  die  Körper  wirken  ja,*'  wird  man  sofort  einwen- 
den, „und  wenn  wir  auch  nicht  wissen,  wie  sie  an  sich,  in 
ihrer   nichtwahrnehmbaren  Qualität  beschaffen   sein  mögen,  so 


^)  Ausserdem  ist  es  unmittelbar  klar,  dass  die  blosse  Eigen- 
schaft eines  Dinges,  einen  Raum  zu  erfüllen,  keine  reale  Qualität 
ist.  Denn  dieselbe  besagt  bloss,  dass  etwas  einen  Raum  erfülle, 
enthält  aber  keine  Andeutung  darüber,  was  dieses  Raum- 
erfüllende sei. 


440  A.  Spir: 

erfahren   wir  doch  ihre  Wirkungen    und  diese  lassen  keinen 
Zweifel  an  ihrer  Realität  aufkommen.'^ 

Hier  bitte  ich,  die  schon  erwähnte  Verwechselung  der  yon 
uns  factisch  wahrgenommenen  Körper  mit  irgend  einer  bloss 
vorausgesetzten,  unbekannten  Aussenwelt  nicht  zu  begehen.  Ob 
unsere  Wahrnehmung  eine  Wirkung  vieler  unbekannten  Aussen- 
dinge sei  oder  nicht,  das  ist  eine  Frage,  welche  erst  in  dem 
nächsten  Abschnitt  erörtert  wird.  Was  aber  die  factisch  von 
uns  erkannten  Körper  betrifft;  so  wissen  wir,  dass  dieselben 
keine,  weder  eine  wahrnehmbare  noch  eine  nicht  wahrnehm- 
bare, Qualität  besitzen,  also  bloss  Vorstellungen  in  uns  sind. 
Sagej;  dass  wir  die  Körper  erkennen  und  zugleich  nicht  wissen^ 
wie  sie  an  sich  beschafibn  sind,  heisst  sagen,  dass  wir  die 
Körper  zugleich  erkennen  und  nicht  erkennen,  was  wider- 
sprechend ist.  Denn  das  Ansich  eines  Dinges  ist  eben  das 
Ding  selbst,  das  eigne  Wesen  desselben.  Giebt  man  zu,  dass 
wir  die  äusseren  Dinge  nicht,  wie  sie  an  sich  sind,  erkennen^ 
so  giebt  man  eben  damit  zu,  dass  wir  die  äusseren  Dinge 
selbst  gar  nicht,  sondern  etwas  yon  denselben  durchaus 
Verschiedenes  erkennen,  nämlich  ihre  Wirkungen  in  uns.  Aber 
wir  glauben  in  unserer  gewöhnlichen  Erfahrung  nicht  blosse 
Wirkungen  der  Körper,  sondern  die  Körper  selbst  wahrzu- 
nehmen, während  uns  factisch  nichts  als  Wirkungen  (richtiger 
Empfmdungen)  gegeben  sind,  und  so  stellt  es  sich  wieder 
heraus,  dass  wir,  wie  es  schon  oben  experimentell  bewiesen 
worden  ist,  nicht  wirkUche  Körper,  sondern  den  Inhalt  unserer 
Empfindungen  als  Körper  wahrnehmen  und  erkennen. 

y)   Das  Resultat. 

Durch  das  Vorhergehende  ist  der  Reweis  erbracht  worden, 
dass  dasjenige,  was  wir  factisch  als  eine  Körperwelt  wahrnehmen, 
aus  nichts  Anderem  als  unseren  Sinnesempfindungen  besteht 
Wenn  man  also  eine  wirkliche  Aussenwelt  annimmt,  so  muss 
man  darunter  eine  Welt  ganz  unbekannter,  von  den  Körpern 
unserer  Erfahrung  verschiedener  Gegenstände  verstehen,  von 
denen  wir  nicht  wissen^  was  sie  sind,  noch  wo  sie  sind,  noch 


Beweis  des  Idealismus.  44| 

wie  sie  wirken.  Damit  wird  aber  die  Frage  aus  dem  Gebiete 
der  Erfahrung  in  das  Gebiet  der  Metaphysik  verlegt  Die 
Frage,  ob  eine  unbekannte  Aussenwelt  existire  oder  nicht,  ist 
für  die  Erfahrung  und  die  Naturwissenschaft  vollkommen  gleich- 
gültig. Denn  ob  man  diese  Frage  bejahen  oder  verneinen 
muss,  die  Thatsachen  bleiben  davon  unberührt,  werden  dadurch 
in  keiner  Weise  aflicirt.  So  lange  unsere  Empfindungen  nur 
in  derselben  Ordnung  und  nach  denselben  Gesetzen  auftreten, 
wie  jetzt,  werden  sie  auch  factisch  als  dieselbe  Körperwelt,  wie 
jetzt,  wahrgenommen,  die  Ursache  der  Empfindungen  mag  sein, 
welche  sie  will. 

Das  ist  es  jedoch  gerade,  was  man  im  Grunde  nie  ein- 
sieht. Man  glaubt  vielmehr  immer!,  dass,  wenn  keine  wirk- 
lichen Körper  vorhanden  wären,  auch  keine  Körperwahr- 
nehmung wie  die  unsere  möglich  gewesen  wäre.  Allein  dieser 
Glaube  wird,  wie  oben  gezeigt  worden,  durch  die  Thatsachen 
vollständig  widerlegt.  Man  braucht  nur  zu  bedenken,  dass 
Alles,  was  wir  durch  die  fünf  Sinne  wahrnehmen,  ja  aus  nichts 
Anderem  als  unseren  Sinneseindrücken  besteht  und  bestehen 
kann,  —  so  wird  klar,  dass,  um  unsere  Körperwahrnehmung 
zu  ermöglichen,  es  durchaus  nicht  nöthig  ist,  dass  wirkliche 
derselben  entsprechende  Körper  vorhanden  seien,  sondern  bloss^ 
dass  unsere  Sinnesempfindungen  genau  in  derselben  Ordnung 
und  Succession  auftreten  wie  jetzt.  In  der  That,  wie  könnten 
wir  die  Körper  vermissen,  so  lange  wir  genau  dieselben  Sinnes- 
eindrücke  haben,  wie  wenn  wirkliche  Körper  vorhanden  wären, 
oder  richtiger  gesagt,  wie  bei  unserer  gewöhnlichen  Körper- 
wahrnehmung? Liefern  doch  Träume,  Hallucinationen  und 
Sinnestäuschungen  den  unwiderleglichen  factischen  Beweis  da- 
für, dass  der  Schein  der  Körperwahrnehmung  in  Abwesenheit 
wirklicher  Körper  sehr  wohl  möglich  ist»  dass  also  der  Inhalt 
der  Körperwahrnehmung  stets  derselbe  ist,  gleichviel  ob  wirk- 
liche Körper  ausser  uns  vorhanden  sind  oder  nicht.  Die  in 
den  Träumen  und  Hullucinationen  liegende  Täuschung  würde 
ja  offenbar  gar  nicht  möghch  sein,  wenn  der  Inhalt  der  Wahr- 

VierteljabTSScbrift  f.  wisseiiBclittftl  Flulosophie.  m.  4.  29 


442  ^  Spir: 

nehmung  bei  denselben  ein  anderer  wäre  als  im  normalen  und 
wachen  Zustande  des  Geistes. 

Das  ist  also  eine  fundamentale  und  keinem  Zweifel  unter- 
liegende Thatsache,  dass  unsere  Körperwahrnehmung 
(objectiv)  lediglich  durch  die  Ordnung  und  Gesetz- 
mässigkeit unserer  Empfindungen  bedingt  ist. 

Diese  Thatsache  kann  nicht  mehr  in  Frage  stehen,  nach- 
dem der  doppelte,  experimentelle  und  analytische,  Beweis  ge- 
liefert worden  ist,  dass  unsere  Sinnesempfindungen  selbst  das- 
jenige sind,  was  wir  als  Körper  ausser  uns  wahrnehmen.  In 
dem  Streit  zwischen  dem  Idealismus  und  dem  Realismus  kann 
es  sich  also  nicht  mehr  um  diesen  Punkt  handeln;  der  Streit 
dreht  sich  nunmehr  um  eine  ganz  andere  Frage^  nämlich  die 
folgende : 

Ob  die  gegebene  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit  unserer 
Empfindungen  selbst  lediglich  durch  die  Einwirkung  von  Dingen 
ausser  uns  erkläit  werden  könne,  eine  Vielheit  wirklicher 
Aussendinge  nothwendig  voraussetze  oder  nicht? 

Mit  dieser  Frage  wollen  wir  uns  jetzt  beschätligen. 

3.  Beweis,  dass  es  keine  unbekannten  Aussen- 
dinge als  Ursachen  unserer  Empfindungen  giebt. 

o)    Der  metaphysische  Beweis. 

Damit  auch  nur  der  Versuch  gemacht  werden  kann,  die 
obige  Frage  im  Sinne  des  Realismus  zu  beantworten,  muss  man 
die  vorausgesetzten  unbekannten  äusseren  Dinge  nach  Analogie 
der  Körper  unserer  Erfahrung  denken.  Denn  wenn  man  diese 
Analogie  als  ungültig  abweisen  wollte,  dann  würde  uns  jeglicher 
Grund  und  Anlass  fehlen^  von  den  vorausgesetzten  Aussendingen 
und  deren  Vl^irksamkeit  überhaupt  irgend  etwas  zu  behaupten. 
Um  aber  beweisen  zu  können^  dass  die  Ordnung  und  Gesetz- 
mässigkeit unserer  Empfindungen  durch  die  Einwirkung  von 
Körpern  entstehe,  muss  man  in  erster  Linie  zeigen,  wie  es 
überhaupt  zu  denken  ist,  dass  Körper  auf  ein  empfindendes 
Wesen  einwirken,  Empfindungen  hervorbringen  können.     Die 


Beweis  des  Idealismus.  443 

Körper  wirken  durch  Stoss  und  Drück^  kann  ein  empfindendes 
Wesen  gestossen  oder  gedrückt  werden? 

Man  sieht,  was  auf  den  ersten  Blick  das  Allernächste  und 
Aliereinfachste  zu  sein  scheint,  nämlich  unsere  Körperwahr- 
nehmung oder  die  sie  bedingende  Ordnung  und  Gesetzmässig- 
keit der  Empfindungen  durch  die  Einwirkung  von  Körpern 
ausser  uns  zu  erklären,  ist  in  der  That  das  Unbegreiflichste  von 
Allem.  Selbst  zwischen  Körpern  ist  die  einfachste  mechanische 
Wirkung  durch  Stoss  und  Druck  nicht  denkbar  ohne  eine  Vermitt- 
lung, ohne  eine  Anpassung  derselben  an  einander,  welche  so 
weit  entfernt  ist,  in  ihrem  individuellen  Wesen  selbst  zu  liegen, 
dass  sie  vielmehr  ihrem  Begriffe  widerspricht  ^).  Noch  weniger 
sind  aus  dem  individuellen  Wesen  der  Körper  oder  Körper- 
atome solche  Wirkungen  zu  erklären,  wie  sie  die  organische 
Natur  bietet.  Vollends  aber,  wenn  es  sich  um  die  Frage  han- 
delt, wie  ein  Körper  Empfindungen  in  uns,  oder  wie  umgekehrt 
ein  Gefühl  oder  ein  Willensentschluss  in  uns  Bewegungen  in 
den  Körpern  bewirken  könne,  wird  es  klar,  dass  dies 
schlechterdings  nicht  denkbar  und  möglich  ist  ohne  ein  ver- 
mittelndes einheitliches  Princip,  welches  die  Welt  der  Körper 
(genauer  der  Aussendinge,  wenn  nämlich  solche  existiren)  und 
die  der  Geister,  die  ihrer  Natur  nach  in  keine  unmittelbare 
Berührung  kommen  können,  untereinander  verbindet  Auch 
sehen  wir  ja  factisch,  dass  unsere  Beziehungen,  zur  Aussenwelt 
durch  einen  sehr  kunstvoll  organisirten  Leib  vermittelt  w^deu, 
was  die  Rolle  eines  einheitlichen  wirkenden  Princips  bei  diesen 
Beziehungen  ausser  Frage  stellt.  Dieses  einheitliche  Princip  — 
man  nenne  dasselbe  Kraft,  Weltgeist  oder  wie  immer  sonst  — 


^)  Dass  das  Gesetz  des  Stosses  eine  innere  Rücksicht  oder 
Anpassung  der  Körper  aneinander  implicirt  und  dass  alle  innere 
Rücksicht  und  Verbindung  der  Körper  untereinander  ihrem  Begriffe 
widerspricht,  kann  ich  hier  natürlich  nicht  beweisen.  Beide  Beweise 
habe  ich  jedoch  in  dem  2.  Bande  meines  Werkes  Denken  und 
WirkL  gegeben,  den  ersteren  auf  S.  127—28,  den  letzteren  auf 
S.  1 1 8  (der  2.  Aufl.). 

29* 


444  A.  Spir: 

ist  also  dasjenige,   was  die  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit  un- 
serer Empfindungen  unmittelbar  bewirkt. 

ß)    Der  indnctive  Beweis. 

Aber  das  Resultat^  welches  wir  soeben  auf  dem  Umwege 
der  metaphysischen  Betrachtung  erreicht  haben,  wird  auch 
durch  directe  Induction  aus  den  Thatsachen  festgestellt. 

Thatsache  ist,  wie  bewiesen  worden,  dass  wir  den  Inhalt  un- 
serer Sinnesempfindungen  selbst  als  Körper  ausser  uns  wahr- 
nehmen und  dass  unsere  Körperwahrnehmung  darum  (objectiv) 
lediglich  durch  die  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit  der  Empfin- 
dungen bedingt  ist.  Dies  impHcirt  aber  offenbar,  dass  auch  umge- 
kehrt die  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit  unserer  Empfindungen 
ihrer  Erkenntniss  als  Körper  ausser  uns  angepasst  und  conform 
ist.  Wir  könnten  doch  offenbar  den  Inhalt  unserer  Empfin- 
dungen nicht  als  Körper  ausser  uns  erkennen^  wenn  dieselben 
nicht  von  Natur  so  organisirt  wären,  um  dieser  Erkenntniss 
factisch  zu  entsprechen.  Auf  dieser  Natureinrichtung  der 
Empfindungen  beruht  denn  auch  die  (empirische)  Wahrheit  und 
Gültigkeit  unserer  Körperwahmehmung. 

Indessen  so  klar  dies  im  Allgemeinen  ist,  so  will  ich  es^ 
doch  an  einem  besonderen  Fall  erläutern.  Es  ist  oben  ex- 
perimentell bewiesen  worden,  dass  dasjenige,  was  wir  als  Körper 
ausser  uns  sehen,  unsere  eignen  Farbenempfindungen  sind. 
Denn  die  gesehenen  Gegenstände  werden,  wie  erwähnt,  durch 
den  Druck  des  Fingers  auf  das  Auge  hin  und  her  bewegt. 
Nun  wird  niemand  behaupten,  dass  unsere  Farbenempfindungen 
selbst  räumlich  ausgedehnt  seien,  dass  man  dieselben  mit  dem 
Metermaass  messen  oder  von  einem  Ort  zum  anderen  schieben 
könnte.  Wie  könnten  wir  also  unsere  Farbenempfindungen  als 
ausgedehnte  Körper  ausser  uns  sehen,  wenn  dieselben  nicht 
yon  Natur  zu  dieser  Art  der  Wahrnehmung  geeignet  wären? 
Man  wird  hier  leicht  versucht,  diese  Organisation  der  Gesichts- 
empfindungen durch  die  Structur  des  Auges  zu  erklären.  Aber 
ich  bitte  dieses  zu  bedenken:  Der  Act  des  Sehens  kommt  nicht 
im  Auge  zu  Stande;  die  Structur  des  Auges  mag  sein,  welche 


Beweis  des  Idealismus.  445 

sie  will,  Thatsache  ist,  dass  wir  Yon  Innen  nicht  das  Mindeste 
dayon  sehen  und  erkennen  können.  Die  Structur  des  Auges 
und  die  Vorgänge  in  demselben  kann  man  nur  von  Aussen 
erkennen,  wenn  man  ein  lebendes  Auge  vermittelst  des  Augen- 
spiegel» beschaut  oder  ein  herausgenommenes  Auge  in  seine 
Theile  zerlegt  Von  Innen  ist  uns  nichts  gegeben  als  unsere 
Farbenempfindungen  und  die  Thatsache^  dass  dieselben  dazu 
geeignet  sind,  als  Körper  im  Raume*wahrgenommen  zu  werden^ 
während  andere  Empfindungen^  z.  B.  die  des  Schalls,  dazu  nicht 
geeignet  sind.  Die  Versuche,  unser  Sehen  durch  die  Structur 
des  Auges  zu  erklären,  beruhen  eben  auf  der  Verkennung  des 
Umstandes,  dass  wir  nicht  die  Vorgänge  im  Auge,  sondern  die 
ausser  dem  Auge  liegenden  Gegenstände  selbst  sehen,  oder 
richtiger  —  da  wirkliche  äussere  Gegenstände  nicht  unmittelbar 
gesehen  werden  können  —  unsere  eignen  Farbenempfindungen 
als  Körper  ausser  uns  sehen.  Der  Umstand,  dass  wir  die  ge- 
sehenen Körper  auch  betasten  können,  bedeutet  ebenfalls,  dass 
die  Gesetze,  nach  welchen  der  Zusammenhang  zwischen  unseren 
Gesichts-  und  Tastempfindungen  geregelt  ist,  durch  die  Rück- 
sicht auf  die  Wahrnehmung  der  Empfindungen  als  Körper 
ausser  uns  bedingt  sind. 

Die  Thatsache,  dass  wir  den  Inhalt  unserer  Sinnes- 
empfindungen als  eine  Körperwelt  wahrnehmen,  implicirt  also 
zwei  innere  Facta,  welche  sich  gegenseitig  bedingen.  Unsere 
Körperwahrnehmung  ist  lediglich  durch  die  Ordnung  und  Ge- 
setzmässigkeit unserer  Empfindungen  bedingt  und  eben  darum 
ist  auch  umgekehrt  die  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit  der 
Empfindungen  durch  die  Rucksicht  auf  die  Wahrnehmung  der- 
selben als  Körper  bedingt. 

Nunmehr  könnte  ich  es  getrost  dem  Leser  selbst  über- 
lassen, zu  entscheiden,  welcher  Schluss  aus  diesen  Facten  in- 
ductiv  sich  ergiebt.  Alle  Induction  ist  das  Schliessen  aus  dem 
beständigen  Zusammenvorkommen  von  Thatsachen  und  Er- 
scheinungen auf  eine  Verbindung  derselben  untereinander.  Nun 
haben  wir  zwei  innere  Facta  constatirt,  welche  sich  gegenseitig 
mit  Nothwendigkeit  bedingen.    Also    kann    die  Induction    aus 


446  A.  Spir: 

diesen  Facten  nichts  Anderes  ergeben,  als  eine  innere  Verbin- 
dung derselben,  d.  h.  einen  einheitlichen  Naturgrund» 
ein  allgemeines  wirkendes  Princip,  das  die  Sinnesempfindungen 
jedes  einzelnen  Subjects  nicht  nur,  sondern  auch  die  erken- 
nenden Subjecte  alle  unter  einander  yerbindet  und  die  Gesetz- 
mässigkeit und  Uebereinstimmung  ihrer  Wahrnehmungen  erzeugt 
Denn  wir  nehmen  Alle  in  unseren  resp.  Sinneseindrücken  eine 
und  dieselbe  allen  gemeinsame  Aussenwelt  wahr.  Dieses  Prin- 
cip  ist  also  dasjenige,  was  in  Wahrheit  alle  die  Wirkungen 
hervorbringt,  welche  uns  von  Körpern  herzurühren  scheinen. 

Dagegen  stehen  die  Thatsachen  einem  Schluss  auf  eine 
Vielheit  Ton  Aussendingen  als  Ursachen  unserer  Empfindungen 
durchaus  entgegen.  Selbst  wer  annehmen  möchte,  dass 
äussere  Dinge  die  Ursachen  unserer  Empfindungen  sind,  wird 
nicht  behaupten,  die  äusseren  Dinge  seien  auch  Ursache  davon, 
dass  wir  den  Inhalt  unserer  Empfindungen  selbst  als  eine 
Körperwelt  ausser  uns  wahrnehmen.  Allein  die  Ordnung  und 
Gesetzmässigkeit  der  Empfindungen  ist,  wie  erwähnt  worden, 
gerade  dieser  Erkenntniss  angepasst  und  conform,  weil  ja 
sonst  die  besagte  Erkenntniss  factisch  unmöglich  sein  würde. 
Also  können  viele  äussere  [Dinge  ebenso  wenig  die  Ordnung 
und  Gesetzmässigkeit  unserer  Empfindungen  bewirken,  als  sie 
unsere  Wahrnehmung  selbst  bewirken,  oder  anstatt  unserer 
wahrnehmen  können. 

y)  Das  Schlussergebniss. 

So  stehen  nunmehr  die  folgenden  drei  Cardinalsätze  des 
Idealismus  fest: 

1)  Den  realen  Inhalt  der  Erfahrung  bilden  unsere  Sinnes- 
empfindungen; unsere  Sinnesempfindungen  sind  selbst  dasjenige, 
was  wir  als  Körper  ausser  uns  wahrnehmen  (sehen,  be- 
tasten u.  s.  w.). 

2)  Unsere  Körperwahrnehmung  ist  (objectiv)  lediglich  durch 
die  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit  unserer  Sinnesempfindungen 
bedingt 


Beweis  des  Idealismus.  447 

3)  Die  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit  unserer  Empfin- 
dungen wird  ihrerseits  nicht  durch  viele  äussere  Dinge ,  son- 
dern durch  einen  einheitlichen  Naturgrund  bewirkt,  welcher 
die  erkennenden  Subjecte  und  deren  Empfindungen  untereinander 
verbindet 

Diese  Sätze  stehen  in  jedem  Falle  fest,  gleichviel  ob  es 
wirkliche  Dinge  ausser  uns  giebt  oder  nicht  Aus  denselben 
wird  ersichtlich,  dass  wirkliche  äussere  Dinge  mit  unserer 
Körperwahrnehmung  nichts  zu  thun  haben,  zu  deren  Erklärung 
vollkommen  unnöthig  sind,  und  dass  mithin  nichts,  was  in  unserer 
Erfahrung  vorkommt,  das  Dasein  wirklicher  Dinge  ausser  uns 
beweisen  kann. 

3.    Erläuternde  Bemerkungen. 

Durch  die  gegebene  Begründung  der  obigen  drei  Sätze  ist 
der  Streit  zwischen  Idealismus  und  Realismus  ein  für  allemal 
entschieden.  Nachdem  gezeigt  worden  ist,  dass  die  Annahme 
einer  wirklichen  Aussenwelt  erstens  nie  bewiesen  werden  und 
zweitens  zur  Erklärung  der  Tbatsachen  der  Erfahrung  nichts 
beitragen  kann,  muss  Jedermann  einsehen,  dass  diese  Annahme 
eine  müssige  ist  Doch  wird  die  wahre  Einsicht  trotz  aller 
inneren  Evidenz  wenig  einleuchten,  wenn  man  nicht  zeigt,  wo- 
durch dieselbe  für  das  Bewusstsein  verdeckt  und  so  zu  sagen 
maskirt  wird. 

Maskirt  wird  hier  die  wahre  Einsicht  eben  durcl^  die 
Natur  der  Erkenntniss,  um  deren  Erklärung  es  sich  handelt 
Der  Inhalt  unserer  Sinnesempfindungen  wird  von  uns  selbst  als 
eine  Welt  von  Körpern,  d.  h.  von  Substanzen  erkannt  Nun 
liegt  es  in  dem  Begriffe  einer  Substanz,  erstens,  dass  dieselbe 
unentstanden  und  unvergänglich  ist  Die  vorhandene  Summe 
der  Substanzen  muss  also  unvermehrbar  und  unverminderbar 
sein.  Eine  Vielheit  von  Substanzen  muss  ferner,  wenn  an- 
schaulich vorgestellt,   im  Räume ^)  vorgestellt  werden,   mithin 


^)  ,,Da  Substanzen,  d.  i.  selbstexistirende ,    unbedingte  Wesen 
in  keinem  ursprünglichen  Zusammenhang  untereinander  stehen  und 


448  A.  Spir: 

solchen  Gesetzen  unterthan  sein,  nach  welchen  räumliche  Elemente, 
wie  Lage,  Entfernung,  Richtung,  Geschwindigkeit,  Hasse  u.  a. 
das  Bestimmende  sind.  Soll  also  unsere  Körperwahrnehmung 
möglich  sein,  so  müssen  unsere  Empfindungen  in  solcher  Ord- 
nung und  Succession  auftreten,  dass  sie  uns  ohne  factischen 
Widerspruch  als  eine  Welt  erscheinen,  welche  mechanischen 
und  physikalischen  Gesetzen  unterthan  ist.  Aber  wir,  die  er- 
kennenden Subjecte  sind  selbst  innerlich  nicht  den  mecha- 
nischen und  physikalischen  Gesetzen  unterthan;  auf  uns  sind 
räumliche  Bestimmungen,  wie  Figur,  Masse,  Entfernung  u.  s.  w. 
nicht  anwendbar.  Damit  wir  in  die  Gesetzmässigkeit  der  er- 
scheinenden räumlichen  Welt  aufgenommen  und  eingereiht  wer- 
den können,  mässen  wir  also  in  einer  besonderen  Verbindung 
mit  einem  besonderen  Körper  erscheinen,  welcher  unsere  Be- 
ziehungen zu  der  äbrigen  Körperwelt  vermittelt.  Diese  Rolle 
spielt  unser  Leib,  dessen  Zusammenhang  mit  unseren  inneren 
Zuständen  nach  besonderen,  von  den  physikalischen  verschie- 
denen Gesetzen  geregelt  ist,  nach  denen  jede  Affection  des 
Leibes  eine  Empfindung  in  uns,  sowie  auch  umgekehrt  ein 
Gefühl  oder  ein  Willensentschluss  in  uns  Bewegungen  im  Leibe 
zur  Folge  hat,  was  Alles  mechanisch  und  physikalisch  gar  nicht 
erklärt  werden  kann.  So  muss  es  uns  scheinen,  dass  wir  die 
Körper  zugleich  unmittelbar  wahrnehmen  und  aus  deren  Ein- 
wirkungen auf  unseren  Leib  mittelbar  erschliessen.  So  kommt 
es,  dass  wir  von  der  Körperwelt  jederzeit  so  viel  sehen,  als  die 


deren  Verhältnisse  also  nach  keiner  Seite  hin  vorausbestimmt  und 
unabänderlich  festgesetzt  sind,  so  muss  eine  Mehrheit  von  Sub- 
stanzen in  einem  Medium  vorgestellt  werden ,  welches  die  Möglich- 
keit aller  äusseren  Verhältnisse  zulässt,  also  die  Totalität  aller 
möglichen  Richtungen  enthält'^  (Denken  und  Wirkl.,  U,  20). 
Diese  Eigenschaft  des  Raumes,  die  Totalität  aller  möglichen  Rich- 
tungen zu  enthalten,  bewirkt,  dass  jeder  Körper  nach  allen  Seiten 
hin  durch  den  Raum  von  anderen  Dingen  getrennt  ist,  was  dessen 
Selbständigkeit  denselben^  gegenüber  begründet.  Was  die  anderen 
geometrischen  Eigenschaften  des  Raumes  betrifft,  so  gehören  die- 
selben zu  der  Natureinrichtung,  zu  der  „Form**  unserer  Anschauung, 
welche  nicht  weiter  erklärt  werden  kann. 


Beweis  des  Idealismus.  449 

Sehkraft  unserer  Augen  reicht  und  der  Umfang  unseres  Seh- 
feldes fasst;  soTiel  betasten,  als  unsere  Hände  greifen,  so  viel 
durchlaufen,  als  unsere  Pässe  tragen  können  u.  s.  w.  Es  muss 
uns  scheinen,  dass  unsere  Empfindungen  nicht,  wie  es  in  Wahr- 
heit der  Fall  ist,  durch  einen  einheitlichen  nicht  wahrnehmbaren 
Naturgrund,  sondern  durch  die  vielen  wahrgenommenen  Kör- 
per bewirkt  werden,  deren  Gruppirung  um  uns  her  nach  Zeit 
und  Ort  wechselt.  Es  müssen  also  in  unserer  Erfahrung  Wir- 
kungen eintreten  können,  die  uns  bei  Unkenntniss  der  Um- 
stände oder  der  Naturgesetze  in  ihrem  ganzen  Umfang  uner- 
wartet und  überraschend  sind,  jedoch  bei  näherer  Untersuchung 
sich  aus  diesen  erklären  lassen.  Dies  verbürgt  die  (empirische) 
Gültigkeit  nicht  allein  der  physikalischen  Naturgesetze,  sondern 
auch  der  Theorieen,  welche  zur  Erklärung  derselben  dienen, 
wenn  diese  Theorieen  —  wie  z.  B.  die  mechanische  Wärme- 
theorie —  den  Ergebnissen  der  Wahrnehmung  und  dem  Be- 
griffe der  Körper  conform  sind. 

Diese  folgerichtige  Organisation  des  Scheins  ist  es  nun, 
was  dessen  für  die  Meisten  unüberwindliche  Gewalt  ausmacht. 
Selbst  diejenigen,  welche  einsehen,  dass  unsere  Körperwahr- 
nehmung an  sich  ein  blosser  Schein  ist,  d.  h.  ohne  directe, 
innere  Beziehung  zu  einer  wirklichen  Körperwelt  steht,  nehmen 
doch  infolge  davon  gerne  an,  dass  die  Wirklichkeit  diesem 
Schein  entspreche,  dass  unsere  Wahrnehmung,  wie  es  ein  Schrift- 
steller ausgedrückt  hat,  „durch  einen  Kunstgriff  der  Natur  derart 
organisirt  ist,  um  (äusseren)  Objecten  zu  entsprechen^  ^).  Man 
bedenkt  nicht,  dass  ohne  diese  folgerichtige  Organisation  des 
Scheins  derselbe  gar  nicht  möglich  gewesen  wäre,  die  Täuschung 
gar   nicht   entstehen  und  btötehen  könnte,  welche  uns  in  un- 


^)  „Ni  la  perception  ezt($rieure,  ni  les  autres  prises  de  connais- 
sance  ne  sont  des  actions  simples  qui  s'appliquent  et  se  terminent 
ä  des  objets  diff^rents  d'elles-m^mes.  Ce  sont  des  simulacres,  des 
fantdmes,  oa  semblants  de  ces  objets,  des  hallacinations  le  plus 
sonvent  vraies,  et,  par  an  artifice  de  la  nature,  arrangöes 
de  fa^on  k  correspondre  aux  objets. *'  Taine,  De  Tln- 
telligence.  1870,  I,  413—14. 


450  A.  Spir: 

seren  Sinnesempfindungen  eine  Welt  von  Körpern  zeigt.  Diese 
falgerichtige  Organisation  des  Scheins  ist  so  weit  entfernt ,  eine 
nothwendige  Beziehung  auf  eine  entsprechende  wirUiche  Aussen- 
weit  vorauszusetzen,  dass  sie  dieselbe  vielmehr,  wie  im  vorher- 
gehenden Abschnitt  gezeigt  worden,  ausschliesst  Die  Voraus- 
setzung, dass  dem  Schein  die  Wirklichkeit  entspreche,  dass 
jederzeit  an  dem  Orte,  wo  uns  ein  Körper  zu  liegen  scheint, 
ein  wirkliches,  obgleich  unerkennbares  Aussending  sich  befinden, 
und  dass  jede  wahrgenommene  Bewegung  der  scheinbaren 
Körper  von  einer  nicht  wahrgenommenen  Bewegung  der  wirk- 
lichen Aussendinge  begleitet  werden  müsse,  ist  ein  gar  curioses 
Widerspiel  der  gewöhnlichen  Anschauungsweise.  Nach  der  ge- 
wöhnlichen Ansicht  sind  die  wirklichen  Aussendinge  und  die 
Vorgänge  in  denselben  die  Ursachen  unserer  Wahrnehmungen ; 
nach  jener  Voraussetzung  dagegen  müssten  unsere  Wahr- 
nehmungen die  eigentliche  raison  d^etre  der  Aussendinge 
und  der  Vorgänge  in  denselben  sein.  Darnach  müsste  eine 
uns  unbekannte  Aussenwelt  existiren  und  hin  und  her  bewegt 
werden  ledigUch  aus  purer  Gewissenhaftigkeit,  damit  ja  unsere 
Wahrnehmungen  nicht  ohne  entsprechende  Gegenstände  in  der 
Wirklichkeit  bleiben,  obgleich  zwischen  beiden  keine  directe 
Beziehung  besteht.  Diese  Annahme  zu  widerlegen,  ist  offenbar 
unnötbig;  dieselbe  beweist  bloss,  dass  selbst  diejenigen,  welche 
den  natürlichen  Schein  zum  Theil  durchschaut  haben,  sich 
nicht  immer  von  demselben  zu  befreien  vermögen.  Allerdings 
ist  die  Natur  Meisterin  in  der  Täuschung,  aber  das  ist  doch 
kein  Grund^  un^  von  ihr  in  alle  Ewigkeit  dupiren  zu  lassen. 

Wenn  indessen  unsere  Körperwahrnehmung  in  dem  Sinne 
ein  blosser  Schein  ist,  dass  derselben  keine  wirklichen  im 
Räume  existirenden  Substanzen  entsprechen,  so  ist  sie  doch 
nicht  ein  blosser  Schein  in  dem  Sinne,  dass  ihr  gar  keine 
Objecte  in  der  WirkUchkeit  entsprächen.  Unsere  Wahrnehmung 
hat  vielmehr  wirkliche  entsprechende  Objecte,  nämlich  unsere 
Sinnesempfindungen.  Einer  der  Hauptgründe  des  gewöhnlichen 
realistischen  Glaubens  ist  die  Neigung,  nur  Körperliches  als  real, 
unsere  Empfindungen  dagegen  als  etwas  Unreales  anzusehen. 


Beweis  des  Idealismus.  451 

Man  hält  es  für  einerlei,  ob  etwas  als  Empfindung  in  uns  oder 
bloss  in  unserer  Vorstellung  existirt  Nun  sind  die  Sinnes- 
empiindungen  freilich  nicl^t  real  in  dem  Sinne  unseres  Be- 
griffs Ton  dem  Realen;  dieselben  sind  keine  unbedingten  und 
beharrlichen  Dinge ^  keine  Substanzen,  —  aber  sie  haben  die 
gleiche  Art  der  Realität,  welche  auch  uns  selbst  und  überhaupt 
allen  Objecten  der  Erfahrung  eigen  ist,  nämlich  Realität  als 
Phänomena,  als  empirische  Objecte,  welche  von  unserer  blossen 
Vorstellung  derselben  verschieden  sind.  Auch  ein  Schmerz- 
gefühl in  uns  ist  keine  Substanz,  aber  wird  deshalb  Jemand 
dasselbe  für  unreal  halten?  Ist  es  etwa  einerlei^  ob  wir  einen 
Schmerz  selbst  fühlen  oder  an  einen  solchen  bloss  denken? 
Aber  die  gleiche  Art  und  Natur  von  Realität,  wie  ein  Schmerz- 
gefühl, hat  auch  eine  Empfindung  der  Farbe,  des  Tons,  des 
Geschmacks  und  andere.  Die  Neigung,  diese  Art  von  Realität 
gleich  nichts  zu  achten^  hat  eben  denselben  inneren  Grund^ 
kraft  dessen  wir  auch  in  unseren  Sinnesempfindungen  eine 
Welt  von  Substanzen  (von  Körpern)  erkennen,  nämUch  den, 
dass  wir  der  Natur  und  dem  Grundgesetze  unseres  Denkens 
gemäss  nur  die  normale  Art  der  Existenz,  d.  h.  nur  das  Sein 
einer  beharrlichen,  sich  selbst  gleichen  Substanz  zu  begreifen 
vermögen  und  zu  allen  blossen  Erscheinungen  und  Successio- 
nen  daher  Substanzen  als  deren  Träger  hinzudenken.  Daher 
kommt  es^  dass  wir  auch  unser  inneres  Wesen^  unser  Ich  oder 
Selbst  als  eine  Substanz  erkennen,  wie  wir  die  Empfindungen 
der  äusseren  Sinne  (welche  einen  uns  fremden  Inhalt  dar- 
bieten) als  eine  Welt  uns  fremder,  äusserer  Substanzen  er- 
kennen. In  Wahrheit  ist  aber  weder  in  der  inneren  noch  in 
der  äusseren  Erfahrung  eine  wirkliche  Substanz  anzutreffen, 
sondern  bloss  Empfindungen,  Gefühle^  Vorstellungen  und  ähn- 
Ucbe  Phänomena,  welche  stets  kommen  und  gehen.  Alles  in 
der  Welt  der  Erfahrung  ist  ein  blosses  Schweben  und  Ge- 
schehen, obgleich  allerdings  der  Inhalt  der  Erfahrung  so  orga- 
nisirt  ist,  dass  wir  in  demselben  beharrliche  Substanzen  zu  er- 
kennen glauben. 

Es  ist  freilich  unbegreiflich,  dass  die  Natur  systematisch 


452  ^'  Spir:  Beweis  des  Idealismus. 

auf  Täuschung  eingerichtet  ist,  dass  wir  mit  Naturnoth- 
wendigkeit  Dinge  zu  sehen,  zu  betasten  und  zu  bewegen 
scheinen ,  welche  in  Wahrheit  nicht,  so,  wie  wir  sie  Yorstellen, 
existiren.  Aber  eine  Unbekanntschaft  mit  dem  Wesen  der  uns 
umgebenden  Wirklichkeit  zeigt  sich  eben  in  der  Voraussetzung 
(welche  den  eigentlichen,  tief»*en  Grund  des  Realismus  bildet), 
dass  die  gegebene  Wirklichkeit  begreiflich  sein  müsse  und  dass 
dieselbe  gar  durch  die  Annahme  von  Dingen  ausser  uns  er- 
klärt werden  könne.  Wie  wenig  dies  der  Fall  ist,  haben  die 
vorhergehenden  Erörterungen  gezeigt.  Durch  die  Annahme 
wirklicher  Aussendinge  werden  die  Thatsachen  nicht  erklärt, 
sondern  zu  der  yorhandenen  factischen  Unbegreiflichkeit  eine 
neue  ersonnene  Unbegreiflichkeit  hinzugefügt,  welche  ausser 
ihrer  Nutz-  und  Grundlosigkeit  noch  den  schweren  Nachtheil 
hat,  logische  Widersprüche  zu  impliciren.  In  einem  folgenden 
Artikel  werde  ich  zeigen,  dass  die  empirische  Natur  der  Dinge 
überhaupt  eine  abnorme  und  darum  keiner  endgültigen  Er- 
klärung fähig  ist. 

Stuttgart  A.  Spin 


Anmerkungen  über  die  Philosophie  des  Hobbes. 

Erster  Artikel. 


l.ThomasHobbesist  einer  yon  den  Philosophen,  welche 
den  Bestrebungen  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  ihre  Wege  ge- 
wiesen haben.  Der  Kern  dieser  Bestrebungen  ist  ihre  Feind- 
schaft gegen  das  Mittelalter  und  gegen  die  geistige  Macht,  welche 
dasselbe  beherrscht  hatte,  die  katholische  Kirche;  ihr  Ziel,  auf 
der  neuen  Grundlage  wissenschaftlicher  Erkenntniss  eine  neue 
geistige  Macht  zu  schaffen,  welche  jene  nicht  nur  zu  yernichten^ 
sondern  auch  zu  ersetzen  stark  sein  sollte.  Demgemäss  kann 
die  Geschichte  der  neueren  Philosophie  als  ein  Kampf  theils 
gegen  den  Inhalt,  theils  gegen  die  Formen  der  kirchlichen 
Philosophie,  der  Scholastik  und  als  eine  allmähliche  Eroberung 
des  Gebietes  derselben  angesehen  werden.  Von  der  Tiefe  dieses 
principiellen  Gegensatzes  hat  gerade  Hobbes  ein  sehr  starkes 
Bewusstsein  und  er  bestimmt  sich  nach  demselben  den  Umfang 
und  das  Ziel  seiner  Aufgabe. 

2.  Das  Wesen  jener  kirchlichen  Philosophie  lässt  sich 
zum  Behuf  dieser  Erörterung  genügend  bezeichnen  in  einigen 
Ausdrücken  ihres  Meisters,  des  heil.  Thomas  von  Aquino^)» 
Er  sagt:  'die  heilige  Wissenschaft,  welche  behandle  was  höher 
sei  als  die  Vernunft,  könne  zwar  einiges  annehmen  von  den 


^)  Welche  ich  dem  Buche  des  Katholiken  K.  Werner  'd.  heil. 
Thomas  von  Aquino'  (3  Bde.    Regensb.  1858  f.)  entnehme. 


454  F.  Tönnies: 

philosophischen  Disciplinen^  jedoch  nicht  als  ob  sie  nothwendig 
ihrer  bedürfe,  sondern  zur  grösseren  Verdeutlichung  dessen, 
was  in  ihr  selber  geboten  werde;  denn  sie  empfange  nicht 
ihre  Principien  von  den  andern  Wissenschaften,  sondern  un- 
mittelbar von  Gott  durch  Offenbarung;  und  folglich  en)it)fange 
sie  nicht  von  den  andern  Wissenschaften  als  von  Ueberlegenen, 
sondern  benutze  sie  als  Untergebene  und  als  Mägde;  wie  die 
Architektonik  Handlanger  benutze  und  die  Staatskunst  Soldaten  . . . 
Von  jener  alleinherrlichen  Offenbarungs Wissenschaft  aber  heisst  es 
ein  andermal ,  es  könnten  wohl  einige  wahrscheinliche  Grunde  auf 
die  Verdeutlichung  ihrer  Wahrheit  fähren,  zur  Uebung  und 
zum  Tröste  der  Gläubigen,  aber  nicht  zur  Widerlegung 
der  Gegner;  weil  eben  die  Unzulänglichkeit  der  Gründe  sie 
mehr  in  ihrem  Irrthume  bestärken  würde,  sofern  sie  dächten, 
dass  wir  um  so  schwächlicher  Gründe  willen  der  Wahrheit  des 
Glaubens  zustimmen  .  .  .  /  Gar  keine  wissenschaftliche,  son- 
dern eher  eine  Art  von  künstlerischer  Absicht  lag  jener  Wort- 
architektonik zu  Grunde :  es  war  die  Philosophie  eines  Lebens, 
welches  keine  Wissenschaft  brauchte,  auf  den  stetigen  und  ge- 
schlossenen Formen  von  Ackerbau  und  Handwerk  und  auf  fest 
organisirten  Herrschaftsverhältnissen  beruhend. 

3.  Die  neue  Zeit,  welche  die  Bedürfnisse  wachsender  Be- 
völkerung durch  Verbesserung  der  Productionsinstrumente  und 
durch  Ausdehnung  des  Handelsverkehres  zu  befriedigen  genöthigt 
war  und  dadurch  die  Grundlagen  der  mittelalterlichen  Cultur 
erschütterte,  konnte  zu  ihren  Zwecken  die  Producte  klöster- 
licher Beschaulichkeit  oder  akademischer  Disputirkunst  nicht 
benutzen,  sondern  bedurfte  praktischer  d.  h.  die  wirklichen 
irdischen  Dinge  und  das  wirkliche  irdische  Geschehen  genau 
darstellender  Wissenschaft.  Aus  diesem  Verlangen  und  nicht 
aus  den  Ansprüchen  häretischer  Logik  und  Metaphysik  gingen 
die  kräftigsten  unter  den  zahlreichen  Angriffen  hervor,  welche 
während  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  wider  das  System  der 
Schulweisheit  gerichtet  wurden.  Diese  Angiiffe  verbreiteten 
eine  misstrauische    und    feindselige  Stimmung,   jedoch  ist  zu 


Anmerkungen  über  die  Philosophie  des  Hobbes.  455 

vermutlien,  dass  die  grossartige  katholische  Reaction,  weiche 
sich  verkörperte  im  Jesuitismus,  derselben  theils  durch  Cod- 
cessionen,  theils  durch  Zwangsmittel  völlig  Herr  geworden 
wäre,  wenn  nicht  alsbald  die  positiven  Wissenschaften,  und 
zwei  vor  allen  andern,  starker  geröstet  sich  vorgeschoben 
hätten. 

4.  Von  der  ersten,  der  Astronomie,  ist  es  überflüssig, 
hier  zu  reden;  da  ihre  mächtige  Wirkung  auf  die  Zer^öm- 
merung  der  mittelalterlichen  Weltbetrachtung  und  auf  die  Aus- 
bildung der  neuen  Gedanken  immer  hervorgehoben  wird.  In 
verzerrter  Gestait,  als  Astrologie^  genügte  sie  den  mittelalter- 
lichen Bedürfhissen,  als  welche  nicht  auf  stetige  rationale  Be* 
herrschung,  sondern  auf  gelegentliche  zaubernde  Bestechung 
der  Natur  gerichtet  waren;  ihr  ernsteres  Studium  entsprang 
aus  den  Interessen  der  immer  grössere  Lebenskreise  bewegen- 
den Seefahrt.  Die  damit  eng  verbundene  Entwicklung  der 
Manufactur,  weiche  Einzelwerkzeuge  in  Massenwerkzeuge  oder 
Haschinen  umzuwandeln  trachtete,  gab  Anregung  und  Förderung 
für  die  andere  Wissenschaft,  die  Mechanik.  Wie  die  Maschine 
zur  ökonomischen,  so  war  die  Mechanik,  ihre  Darstellerin,  zur 
wissenschaftlichen  Weltherrschaft  berufen.  Sie  wurde  zuerst 
mit  Eifer  und  Verstandniss  gepflegt  in  den  wirthschafllich  am 
weitesten  entwickelten  italischen  Städten.  Aber  früh  auch 
blähte  sie  auf  in  den  Niederlanden,  in  Frankreich  und  in 
England.  So  finden  wir  schon  im  16.,  jedoch  besonders  zu 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  in  diesen  Ländern,  zuerst  für  die 
Probleme  der  Statik,  dann  auch  für  die  dynamischen,  ein 
erstaunlich  lebhaftes  Interesse  und  eine  geradezu  musterhafte 
sachliche  Hingebung.  Und  wie  jede  grosse  Bestrebung  ein 
schöpferisches  Genie  hervorzubringen  pflegt,  so  geschah  es 
auch  hier.  Die  neue  Wissenschaft  wurde  epochemachend  durch 
Galilei.     Sie  wurde  durch  Galilei  philosophisch. 

5.  Die  traditioneile  Historiographie  der  Philosophie  hat 
Galilei  unter  den  Tisch  geschoben;  ein  künftiger  Geschichts- 
schreiber dieser  Historiographie  mag  untersuchen  wesshalb.  Es 
werden  ja  an  den  Namen  der  Philosophie  die  manm'gfaltigsten 


456  F-  Tönnies: 

Begriffe  angeknüpft;  in  verschiedenen  Ländern  yerschiedene, 
in  jedem  Lande  zu  andern  Zeiten  andere.  Der  Geschichts- 
forscher aber  muss  sich  einen  deutlichen  und  strengen  Begriff 
bilden,  dem  Torherrschenden  sprachlichen  Gebrauche  der  Zeiten 
und  der  Länder  gemäss,  von  denen  er  handelt.  Er  wird  fin- 
den, dass  die  scholastische  Periode  mit  ihrer  Gegnerin ,  der 
Aufklärung,  über  das  formale  Bereich  jenes  Begriffes  im  We- 
sentlichen einig  gewesen  sei;  wonach  er  den  Complex  bezeich- 
nete aller  Wissenschaften^  welche  allgemeine  und  nothwendige 
Wahrheiten  hervorbrächten.  Will  man  nun,  um  die  Geschichte 
der  Philosophie  nicht  in  eine  Geschichte  der  Einzelwissenschaften 
aufzulösen,  mit  diesem  Inhalte  die  bei  uns  überwiegende  Vor- 
stellung verbinden,  so  kann  man  von  philosophischer  Behand- 
lung einer  Wissenschaft  sprechen  und  darunter  solche  ver- 
stehen, welche  ihr  eigenes  Gebiet  auf  seinen  Zusammenhang 
hin  mit  einem  aus  den  Erzeugnissen  aller  gestalteten  Universal- 
bilde betrachtet  und  es  für  die  Vervollkommnung  desselben 
fruchtbar  zu  machen  bemüht  ist.  Ja,  man  wird  auch  garnichts 
einwenden  dürfen,  wenn  ein  Geschichtsschreiber  der  Philosophie 
die  Einzelwissenschaften  nur  darstellt,  insoweit  sie  an  einem 
solchen  Weltbilde  mitgearbeitet  haben^  und  etwa  nur  noch  die- 
jenigen Wissenschaften  als  ganz  und  gar  philosophische  ansieht, 
welche  noch  nicht  einen  selbständigen  Platz  eingenommen  und 
darum  auch  noch  nicht  einen  für  die  Gesammtanschauung 
gleichgültigen  oder  minder  wichtigen  Inhalt  gewonnen  haben. 
Nun  ist  es  sichere  historische  Thatsache,  dass  wenigstens  bis 
zum  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  Physik  für  eine  philo- 
sophische Wissenschaft  ist  erachtet  worden;  ferner  dass  seit 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  jeder  Versuch,  eine  wissenschaft- 
liche Weltanschauung  auszubilden,  mit  den  Ergebnissen  und 
Hypothesen  der  neuen  Lehre  von  der  Bewegung  der  Körper 
so  oder  so  sich  hat  auseinandersetzen  müssen;  endlich  dass 
der  Urheber  dieser  Lehre  nach  ihren  Hauptumrissen,  und  der 
zugleich  die  vorher  über  ihren  Gegenstand  herrschenden  Mei- 
nungen von  Grund  aus  zerstörte,  Galilei  gewesen  ist. 


Anmerkungen  über  die  Philosophie  des  Hobbes.  457 

6.  Galilei  vernichtete  die  Physik  der  Schulen.  Gar  viele 
hatten  vor  ihm  einzelne  Theoreme  derselben  mit  Leidenschaft 
bekämpft,  aber  den  meisten  blieben  doch  ihre  Grundbegriffe 
als  denknoth wendig  feststehen.  Auch  waren  diese  ja  durch 
Disputationen  ebensogut  zu  behaupten  als  zu  bestreiten  —  wer 
hatte  denn  Thatsachen  gezeigt  und  mit  andern  Mitteln  erklärt, 
welche  jene  durch  Alterthum  und  durch  metaphysische  Brauch- 
barkeit geheiligte  Welterklärung  unmöglich  machten?  Und  es 
war  doch  ein  grosses  und  für  Menschen  sehr  bestechendes 
Princip  mit  allseitiger  Consequenz  darin  durchgeführt;  nämlich 
der  Begriff  des  Zweckes.  Er  hatte  für  das  christliche  Mittel- 
alter seinen  inneren  Ursprung  aus  dem  jüdischen  Theismus; 
äusserlich  aber  stammte  er  aus  der  griechischen  Philosophie. 
Das  Wort,  welches  Aristoteles  von  seinem  Vorgänger  Anaxagoras 
sagt,  der  sei  mit  jenem  Begriff  unter  die  hellenischen  Denker 
wie  ein  Nüchterner  unter  Trunkene  getreten,  gewinnt,  von  hier 
aus  gesehen,  eine  universalhistorische  Beleuchtung.  In  der 
neuen  Zeit  ist  der  gegenständliche  Vorgang  der  umgekehrte, 
aber  auch  der  Gegensatz  ist  ein  anderer:  Galilei  trat  unter  die 
Gelehrten,  wie  ein  Wissender  unter  Unwissende.  Sein  Fall- 
gesetz und  sein  Wurfgesetz  zeigten^  dass  die  für  selbstverständ- 
lich und  unerlässlich  gehaltenen  Eintheilungen  der  Körper  in 
schwere  oder  erdige,  und  leichte  oder  feurige;  der  Bewegungen 
in  natürliche  und  gezwungene,  unbrauchbar,  indem  die  angeb- 
lichen Unterschiede,  darauf  sie  sich  gründeten,  in  Wirklichkeit 
nicht  vorhanden  seien.  Galilei  stellte  sich  den  Erscheinungen 
gleichsam  sprachlos  gegenüber.  Er  dachte  und  sagte,  dass 
Mas  wahre  Buch  der  Philosophie  das  Buch  der  Natur  sei, 
welches  immer  aufgeschlagen  vor  unsern  Augen  liege,  es  sei 
aber  in  andern  Lettern  geschrieben  als  in  denen  unseres 
Alphabets ;  die  Lettern  seien  Triangel,  Quadrate,  Kreise,  Kugeln, 
Kegel,  Pyramiden  und  andere  mathematische  Figuren'  ^).  Darum 
kann   man    das   Buch   nur    lesen    mit   Hülfe    der   Mathematik 


^)  Opere  ed.   Alberi  VII,  354  f.    Ich  citire  nach:   H.   Martin, 
Galil^e,  habe  aber  die  Stellen  selbst  verglichen. 

Vierteljahrsschrift  f.  wissanschaftl.  Philosophie.    III.  4.  30 


458  F.  Tönnies: 

(Opere  XI,  21)  und  Piaton  ist  zu  loben  wegen  seines  Aus- 
spruchs, dass  das  Studium  der  Mathematik  den  philosophischen 
Studien  vorangehen  müsse  (XIII,  93).  So  wurde  mittelbar  die 
Mathematik  die  eigenthch  revolutionäre  Wissenschaft;  wie  auch 
Spinoza  sagt:  die  Wahrheit  wäre  dem  Menschengeschlecht  in 
Ewigkeit  verborgen  geblieben  ^  wenn  nicht  die  Mathematik/ 
welche  nicht  mit  Zwecken,  sondern  nur  mit  den  Begriffen  und 
Eigenschaften  der  Figuren  sich  beschäftigt,  eine  andere  Norm 
der  Wahrheit  den  Menschen  gezeigt  hätte  (Eth.  I,  36  appendix). 
Galilei  hat  die  Anwendung  der  Mathematik  auf  Physik  nicht 
erfunden;  man  hatte  längst  gepflogen,  nach  dem  Vorgänge  der 
Alten,  zumal  des  Archimedes,  statische  Probleme  an  geome- 
trischen Figuren  sich  zu  verdeutlichen  und  daran  zu  lösen* 
Aber  ihrer  Anwendung  auf  die  Lehre  von  den  Bewegungen  hat 
Galilei  zuerst  einen  festen  Boden  gegeben  und  ebendamit  diese 
Lehre  neugeschaffen.  Und  zwar  geschah  dies  durch  zwei 
grosse  und  glückliche  Abstractionen ,  welche  für  den  Philo- 
sophen  schon  im  Anfange  seiner  Laufbahn  zu  Axiomen 
geworden  waren.  Durch  die  erste  wird  gesetzt,  dass  die  Wir- 
kung jeder  einfachen  Kraft  eine  Bewegung  in  gerader  Linie, 
mithin  jede  Curvenbewegung  das  Resultat  zusammengesetzter 
Kräfte  sei.  Die  andere  ist  das  Gesetz,  dass,  wie  ein  ruhender 
Körper  in  seinem  Zustande,  so  auch  ein  bewegter  in  gerad- 
liniger Bewegung,  mit  gleichmässiger  Geschwindigkeit  zu  be- 
harren tendire,  und  dass  diese  Tendenz  nur  durch  äussere 
Kraft  aufgehoben  werden  könne.  Dieser  Fundamentalsatz  der 
Mechanik  ist  von  Galilei  schon  in  der  gegen  1590  geschriebenen, 
aber  nicht  gedruckten  Abhandlung  de  motu  gravium  aufgestellt, 
dann  aber  1632  in  dem  Dialog  über  die  Weltsysteme  und  1638 
in  den  Dialoghi  delle  nuove  scienze  der  Gelehrtenwelt  öffentlich 
vorgelegt  worden  ^).  Vergleicht  man  das  Princip  mit  der  scho- 
lastischen vis  inertiae,  welche  jeden  Körper  seinem  Elemente, 
d.  i.  dem  Zustande  der  Ruhe  zustreben  lässt,  so  sieht  man  den 
mechanistischen    Grundcharakter    der    neuen    gegenüber    dem 


^)  8.  Martin,  Gallige  p.  316. 


AnmerkuDgen  über  die  Philosophie  des  Hobbes.  459 

teleologischen  der  alten  Physik  in  hellem  Lichte.  Diese  will 
Qualitäten  classificiren ,  jene  Quantitäten  vergleichen;  ^messen 
alles  was  messbar  ist,  und  versuchen  messbar  zu  machen  was 
€s  noch  nicht  ist',  mit  diesen  Worten  bezeichnet  Galilei  die 
Autgabe  seiner  Wissenschaft  (Martin,  Galilee,*p.  282). 

7.  Ich  habe  die  bisherigen  Anmerkungen  für  nöthig  ge- 
halten, um  in  die  folgenden  einzuführen.  Denn  gerade  in 
jener  neuen  Wissenschaft,  durch  deren  Begründung  Galilei  die 
scholastische  Physik  überwand,  hat  auch  das  gesamrate  Denken 
des  Hobbes  seine  Wurzeln.  Die  Richtigkeit  dieser  Behauptung 
wird  gezeigt  werden.  Die  Geschichtsbücher  freilich,  zumal  die  aus 
diesem  Jahrhundert,  bringen  Hobbes  in  einen  anderen  Zusam- 
menhang. Er  soll  ein  Schuler  des  Bacon  von  Yerulam  gewesen 
sein,  dessen  ^Empirismus'  er  fortgebildet,  den  er  durch  poli- 
tische Philosophie  ergänzt  habe,  u.  dgl.  m.  Dies  ist  eine  selt- 
same und  gänzlich  unwahre  Fabel.  Sie  hat  ihren  Ursprung 
in  zwei  Umständen :  1)  Bacon  und  Hobbes  waren  beide  Eng- 
länder und  noch  einigermaassen  Zeitgenossen;  2)  aus  der  vita 
Hobbesii  hat  sich  von  Glied  zu  Glied  (oft  mit  heftigen  Aus* 
schmückungen)  die  Notiz  vererbt,  dass  Hobbes  dem  Bacon 
beim  Uebersetzen  einiger  Schriften  geholfen,  und  dass  dieser 
von  jenem  gesagt  habe,  er  fasse  seine  Gedanken  mit  einer 
Leichtigkeit  auf  wie  kein  anderer.  «  Ueber  die  Quelle  und  den 
Werth  dieser  Nachricht  will  ich  mich  hier  nicht  verbreiten; 
dass  auf  sie  und  auf  den  ersten  Umstand  hin  behauptet  wird, 
der  eine  sei  in  seinem  Denken  von  dem  andern  abhängig,  ja 
sein  Schüler  gewesen,  das  ist  offenbar  nicht  zu  billigen.  In- 
dessen es  hat  noch  eine  andere  Sache  dazu  mitgewirkt,  näm- 
lich die,  dass  überhaupt  über  die  Bedeutung  Bacons  für  die 
Naturwissenschaft  und  für  die  gesammte  Philosophie  sehr  wenig 
begründete  Vorstellungen  in  Umlauf  gekommen  sind;  zuerst 
durch  die  Schuld  der  philosophisch  recht  kurzsichtigen  Mit- 
glieder der  Royal  Society  in  England,  welche  den  natur- 
forschenden  Grosskanzler  gleichsam  als  ihren  Schutzheiligen  ver- 
ehrten; dann  aber  durch  die  französische  Encyklopädie,  dieses 
Agitationswerk  einer  durch   und    durch  unhistorischen  Geistes- 

30* 


460  F.  Tönnies: 

richtang;  der  es  aber  doch  nimmermehr  eingefallen  wäre,  als 
ein  Anhängsel  Bacon's  Thomas  Hobbes  zu  behandeln.  Schon 
Hume  nahm  Gelegenheit,  jene  falsche  Schätzung  Bacon's  zu 
berichtigen  und  Galilei  als  den  Vater  der  modernen  Natur- 
wissenschaft hervorzuheben.  Hobbes  und  seine  Denkgenossen 
scheinen  den  Lord-Kanzler  wegen  seiner  belletristischen  Schrift- 
stellerei  (in  den  Essays^  dem  Wisdom  of  Ihe  Ancients  u.  s.  w.) 
als  einen  Mann  von  aufgeklärfen  und  zum  Theil  originellen 
Meinungen  hoch  genug  geschätzt  zu  haben ;  aber  Wissenschaft- 
liches von  ihm  zu  lernen,  konnten  nur  die  Zurückgebliebenen 
geneigt  sein.  Das  Beste  was  er  geleistet  hat,  der  wenn  auch 
schwächliche  Versuch,  eine  Theorie  der  inductiven  Methode  auf- 
zustellen^ konnte  garnicht  in  eine  ungünstigere  Periode  fallen 
als  in  diese  Blüthezeit  der  mathematischen  Deduction,  in  der 
man  aber  über  die  Nothwendigkeit  planmässige  Beobachtungen 
und  Experimente  zu  machen,  längst  einig  war  und  beides  treff- 
lich verstand ;  für  die  logische  Theorie  dieser  Praxis  sich  je- 
doch so  wenig  interessirte,  als  es  die  Naturforscher  während 
der  beiden  folgenden  Jahrhunderte  gethan  haben.  In  einer 
Kritik,  welche  ein  berufener  Vertreter  der  mathematisch-physi- 
kaUschen  Studien  kurz  nach  dem  Erscheinen  des  Novum  Or- 
ganum über  dieses  Buch  geschrieben  hat  ^),  heisst  es,  der  Autor 
„hätte  die  Gelehrten  der  verschiedenen  Nationen  um  Rath  an- 
gehen sollen,  ehe  er  eine  Masse  von  Regeln^  von  Ermahnungen 
und  von  Instanzen  vorlegte,  für  die  kein  Bedürfniss  vorhanden 
ist,  entweder  weil  sie  schon  in  Uebung  sind  unter  den  Ge- 
lehrten, oder  weil  sie  unnütz  sind  —  dies  ist  die  Ursache  ge- 
wesen, dass  sehr  viele  aus  seinem  Buche  über  den  Fortschritt 


*)  Nämlich  der  unermüdliche  Vermittler  zwischen  den  Forschern 
jener  Zeit,  und  spätere  intime  Freund  des  Hobbes,  Marin  Mersenne, 
vom  Orden  der  fratres  minimi,  im  16.  Kapitel  seines  Buches  ^La 
y^rit^  des  Sciences,  contre  les  Sceptiques  ou  Pyrrhoniens' ;  Paris 
1625.  Dieses  Buch  ist,  wie  alle  Schriften  Mersenne's,  überaus  selten 
und  soviel  ich  sehe,  ganz  unbekannt;  ich  benutzte  das  Exemplar 
der  Bodleiana  zu  Oxford.  Was  noch  weiteres  darin  über  Bacon  ge- 
sagt wird,  ist  gleichfalls  sehr  scharf  und  treffend. 


AnmerkuDgen  über  die  Philosophie  Mes  Hobbes.  461 

der  Wissenschaften  sich  garnichts  gemacht  haben".  Bacon 
£tebt  eben  als  Nichtmathemaüker  gänzlich  ausserhalb  der  philo- 
sophischen Bewegung  jener  Zeit;  erst  als  deren  mächtiges  An- 
wachsen es  erschwert  hatte,  ihre  Entwicklung  zu  übersehen, 
konnte  man  wähnen,  dass  er  ein  Bahnbrecher  oder  Wegweiser  für 
dieselbe  gewesen  sei.  Insonderheit  ist  es  auch  falsch,  ihn  als  Ur- 
heber der  erapiristischen  Erkenntnisstheorie  zu  bezeichnen,  in 
welcher  dann  Hobbes,  Locke,  Hume  ihm  sollen  gefolgt  sein  — 
Bacon  kennt  noch  gar  kein  erkenntnisstheoretisches  Problem, 
wenigstens  bleibt  es  bei  ihm  gänzlich  in  Dämmerung;  wenn  er 
von  Erfahrungen  zu  Axiomen  hinauf-  anstatt  yon  Axiomen  zu 
Folgerungen  hinabsteigen  will,  so  hatte  er  gut  reden,  der  sich  um 
Geometrie  nicht  kümmerte;  ob  und  wie  Wissenschaft  möglich 
sei,  welche  der  aus  Definitionen  und  Axiomen  demonstrirenden 
Geometrie  an  Gewissheit  gleichkomme?  das  ist  doch  die  Central- 
frage  der  Erkenntnisstheorie  gewesen.  Thomas  Hobbes  war 
einer  der  ersten  in  der  neuen  Epoche,  welche  um  ihre  Lösung 
sich  bemühten. 

8.  Hobbes  war  schon  in  jungen  Jahren  über  die  Verkehrt- 
heit der  scholastischen  Philosophie,  die  er  vorher  mit  grossem 
Eifer  studirt  hatte,  ins  Klare  gekommen.  Er  wandte  sich  dann 
historischen  und  politischen  Studien  zu,  deren  erste  Frucht 
seine  Uebersetzung  des  Thukydides  war.  Erst  im  Jahre  1628, 
40  Jahre  alt,  lernte  er  die  Elemente  des  Euklid  kennen;  dieses 
Ereigniss  scheint  er  selber  als  einen  Wendepunkt  seines  Lebens 
angesehen  zu  haben.  Indessen  sind  sichere  Spuren  vorhanden, 
dass  er  schon  früher  Mathematik  betrieben  hatte;  auch  ist 
Grund  zu  der  Vermuthung,  dass  er  mit  dem  Charakter  und 
mit  den  Ergebnissen  der  neuen  Astronomie  und  Physik  bereits 
bekannt  war;  zu  einem  überaus  eifrigen  Gelehrten  auf  diesem 
Gebiete,  der  mit  den  ersten  Forschern  aller  Länder  brieflichen 
Verkehr  hatte,  dem  Baronet  Charles  Cavendish,  stand  er  in 
nahen  persönlichen  Beziehungen;  das  Studium  des  Euklid  be- 
.deutet,  dass  er  nunmehr  diesen  Disciplinen,  an  denen  er  alle 
freidenkenden  Männer  seines  Zeitalters  theilnehmen  sah,  auch 
selber  mit  aller  Energie  sich  zuwandte.    Er   gewann   damals 


462  F.  Tönnies: 

wohl  gleich  die  Ueberzeugung,  dass  die  wissenschaftliche  F  o  r  m^ 
wie  sie  in  den  euklidischen  Elementen  vorliege,  nämlich  De- 
monstration durch  syllogistische  Verbindung  von  Deßnitionen 
und  etwa  noch  anderen  principiellen  Sätzen,  als  einzig  mög-^ 
liehe  auf  alle  Gegenstande  des  Erkennens  auszudehnen  sei» 
Insbesondere  würden  sich  Moral  und  Politik  (darauf  sein  In- 
teresse am  intensivsten  gerichtet  war),  bislang  die  Schauplätze 
leidenschaftlicher,  rhetorischer  Urtbeile,  durch  strenge  Anwen- 
dung jener  Methode  zur  Gewissheit  erheben  lassen.  Wie  er 
sich  damals  diese  Aufgabe  ferner  klar  gemacht,  insbesondere 
wie  er  rieh  die  Unterschiede  dieser  Methode  von  jener  de» 
scholastischen  Philosophirens  vorgestellt  habe,  lässt  sich  nicht 
sagen.  Sachlich  war  sein  Denken,  wie  es  scheint,  von 
Untersuchung  der  Begriife  'gut'  und  'schlecht'  auf  Begriife 
überhaupt,  von  da  auf  die  Natur  der  Sinnesqualitäten ,  und 
also  auf  die  der  Wahrnehmung  geführt  worden.  Nun  bildete 
er  sich  um  die  Mitte  des  4.  Jahrzehnts  den  Plan,  seine  Ge- 
danken über  diese  Gegenstände  in  den  Zusammenhang  eine» 
einheitlichen,  demonstrirten  Systems  der  Wissenschaft  zu  setzen.. 
Dass  dieses  möglich  sei,  sagte  ihm  die  Ueberzeugung,  welche 
schon  im  Jahre  1684  'tief  in  seiner  Seele  sich  befestigt  hatte: 
dass  in  der  Natur  alles  mechanisch  geschehe'  (viL 
Hobb.  auct.  p.  27),  d.  h.  dass,  während  nach  Aristoteles  immer 
viererlei  Veränderungen :  der  Substanz,  der  Qualität,  der  Quan- 
tität und  des  Ortes  als  ebensoviele  verschiedene  Arten  der  Be- 
wegung waren  betrachtet  worden,  vielmehr  alle  Veränderung 
auf  eine  einzige,  nämlich  die  örtliche  Bewegung  als  die  allein 
der  sinnlichen  Erfahrung  bekannte  Form  sich  müsse  zurück- 
führen lassen.  Zur  Erforschung  der  Natur  dieser  Bewegung^^ 
hatte  GalUei  die  neuen  Wege  gewiesen;  den  bis  dahin  gültigen 
Unterschied  zwischen  natürlichem  und  gewaltsamem  Ursprung 
derselben  hatte  er  aufgehoben,  indem  er  jenen  auch  auf  von 
aussen  bewegende  Kräfte  zurückführte.  Als  solche  Kräfte  aber 
sind  aus  intimer  Erfahrung  nur  die  des  menschlichen  Körpers 
bekannt;  dieser  aber  muss,  um  einen  fremden  (leblosen  — 
nur    mit   diesen    beschäftigt    sich  ja   zunächst  die  Mechanik) 


Anmerkungen  über  die  Philosophie  des  Hobbes.  463 

Körper  zu  bewegen,  in  Berührung  mit  demselben  treten. 
In  diesem  Umstände  ist  die  psychologische  Erklärung 
zu  suchen  y  dass  man  bei  Verallgemeinerung  der  mecha- 
nischen Principien  auch  diese  Vorstellung  von  nothwendiger 
Berührung  verallgemeinerte  und  als  denknothwendig  betrachtete. 
Dass  aber  für  Hobbes  gerade  in  dem  Einflüsse  Galilei's  —  den 
er  übrigens  im  Jahre  1636  persönlich  besuchte  —  das  ent- 
scheidende Moment  zur  Gestaltung  seiner  Weltanschauung  lag, 
dies  hat  er  selber  deutlich  genug  kundgegeben,  was  in  einer  mit 
dergleichen  Bekenntnissen  so  wortkargen  Zeit  um  so  mehr  von 
Gewicht  ist  Sehr  häufig  wird  man  in  seinen  Werken  betont 
finden,  dass  alles  auf  die  Natur  der  Bewegung  ankomme,  wer 
die  nicht  yerstehe,  verstehe  nichts  von  Physik,  und  Physik  be- 
deutet für  ihn  eigentlich  die  ganze  Wissenschaft  Nun  aber  an 
bedeutender  Stelle  (de  corp.  ep.  dedic.)  sagt  er  nachdrücklich: 
Mer  uns  zuerst  die  Eingangspforte  der  gesammten  Physik  er- 
schlossen hat,  nämlich  das  Wesen  der  Bewegung,  war  in  un- 
^  Sern  Tagen  Galilei;   so   dass   man  nach   meiner  Meinung   vor 

sein  Auftreten  den  Beginn  des  Zeitalters  der  Physik  nicht  an- 
setzen darf  (vgl.  exam.  et  emend.  math.  hod.  p.  56  ed.  1668). 
In  diesem  Zusammenhange,  wo  er  sonst  noch  Copernicus, 
Harvey,  Mersenne  und  Gassendi  als  seine  Vorgänger  nennt, 
sagt  er,  wie  mir  deucht,  auch  über  sein  Verhältniss  zu  Bacon 
durch  sein  Schweigen  genug. 

9.  Hobbes  war  nun  zunächst  hauptsächlich  bemüht  zu 
erforschen,  'was  für  eine  Bewegung  es  sein  möchte,  welche  die 
Wahrnehmung;  den  Verstand,  die  Phantasmen  und  andere 
Eigenthümlichkeiten  der  lebendigen  Wesen  bewirke'  (vita  p.  4). 
Innerhalb  dieser  Untersuchungen,  aber  noch  ehe  die  mecha- 
nistische Tendenz  zu  völliger  Entschiedenheit  gekommen  war, 
fallt  ein  kleiner  ungedruckter  Tractat  ^),  eingetheilt  in  drei 
Sectionen,  deren  jede  wieder  aus  Trinciples'  und  'Conclusions', 


^)  Enthalten^  in  einem  Manuscript -  Bande,  bezeichnet  Thilo- 
sophical  Tracts,  coUected  bj  7?homas  Hobbes*,  den  ich  im  British 
Museum  fand   (Harl.  6796);  das  hier  bedeutete  Stück  trägt   keine 


464  F.  Tönnies; 

meist  in  kurzen  Sätzen,  besteht  Hier  ist  noch  die  scholastische 
Theorie  der  Species  zur  Erklärung  der  Sinneswahrnehmung 
beibehalten;  aber  der  Act  der  Wahrnehmung  selber,  sowie  der 
Act  des  Yerstehens  sollen  als  Bewegungen  der  animalischen 
Geister  erwiesen  werden,  und  diese  werden  als  räumlich  be- 
wegt, d.  i.  empfangene  Bewegung  mittheilend  bezeichnet;  und 
die  Gegenstände  der  Wahrnehmung,  als  Licht,  Farbe,  Wärme 
seien  nichts  als  die  verschiedenen  Wirkungen  äusserer  Dinge 
auf  die  animalischen  Geister,  durch  verschiedene  Organe;  was 
in  der  eigenthümllchen  Weise  begründet  wird,  dass  wenn  sie 
den  Species  inhärente  Qualitäten  wären,  Wärme  auch  gesehen 
werden,  Licht  auch  gefühlt  werden  müsste.  Es  ist  unmöglich, 
das  Jahr  zu  bestimmen,  in  welchem  dieser  Tractat  verfasst 
wurde;  er  ist  jedenfalls  die  früheste  philosophische  Arbeit  des 
Hobbes;  er  hat  später  behauptet,  schon  im  Jahre  1630  dem 
Grafen  Wilhelm  von  Newcastle  gegenüber  „Licht  für  eine  Ein- 
bildung im  Geiste'*  erklärt  zu  haben,  ^verursacht  durch  Bewe- 
gung im  Gehirn,  welche  Bewegung  wiederum  verursacht  sei 
durch  die  Bewegung  der  Körper,  welche  wir  leuchtende  nen- 
nen' (Engl.  Works  ed.  Molesw.VlI,  p.  468:  er  ruft  jenen  Edel- 
mann selber  zum  Zeugen  dafür  an).  Im  Verfolge  dieser  Ge- 
danken gab  sich  dann  Hobbes  im  Laufe  der  dreissiger  Jahre 
eifrigen  Bemühungen  um  die  mechanistische  Behandlung  der 
Optik  hin;  welche  eine  lebhafte  Förderung  erhielten  durch  das 
Erscheinen  der  Descartes'schen  Dioptrique  (1637).  Hier  fand 
Hobbes  auch  eine  der  seinigen  verwandte  Ansicht  über  die 
sinnlichen  Qualitäten ;  mit  einer  Polemik  gegen  die  scholastische 
Doctnn;  vielleicht  hat  er  erst  nach  diesem  Vorgänge  den  Be- 
griff und  Ausdruck  Species  fahren  lassen  und  erst  von  nun 
an  die  Propagatipn  der  Bewegung  vom  Object  durch  ein 
Medium  zum  Sinnesorgan  als  alleinige  Ursache  der  Wahrneh- 
mung angenommen.    Uebrigens  aber  fühlte  er  sich  zu  einer 


besondere  Signatur;  dass  es  aber  von  Hobbes  «tamme,  geht,  — 
abgesehen  von  dem  Titel  des  ganzen  Bandes  —  für  mich  aus  dem 
Inhalte  und  aus  der  Handschrift:  hervor. 


Anmerkungen  über  die  Philosophie  des  Hobbes.  465 

Bekämpfung  vieler  einzelner  Punkte  jenes  Werkes  veranlasst; 
Descartes  erhielt  seine  Einv^ürfe  durch  Vermittlung  Mersenne's 
und  beantwortete  sie  in  dem  hochfahrenden  Tone,  der  ihm 
eigen  war,  sobald  er  etwas  wie  Rivalen  witterte;  man  findet 
die  Briefe,  die  sich  hauptsächlich  auf  technisch-mathematische 
Fragen  beziehen,  in  den  Ausgaben  der  Descartes^schen  Correspon- 
denz  und  im  Y.  Bande  der  Opera  latina  Hobbesii  ed.  Molesworth. 
Aber  in  weitläufiger  Ausfuhrung  überliefert  die  Polemik  des 
Hobbes  gegen  die  Descartes'sche  Dioptrik  ein  zweiter  un- 
gedruckter Tractat,  welcher  in  lateinischer  Sprache  das  ganze 
Gebiet  der  Optik  behandelt^);  von  Interesse  ist  daraus  etwa 
Folgendes:  er  stellt  hier  seine  eigene  Theorie  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  der  Descartes'scben  scharf  gegenüber,  da  diese 
den  Gegenständen,  z.  B.  den  leuchtenden  Körpern  nicht  eine 
Bewegung,  sondern  nur  eine  Action  oder  eine  Neigung  zur 
Bewegung  zuschreibe;  dies  sei  ohne  Sinn,  da  mit  dem  Aus- 
drucke sich  keine  Art  von  sinnlicher  Vorstellung  verbinden 
lasse;  und  eine  Tendenz  zur  Bewegung  (conatus)  sei  nicht 
anders  denkbar  denn  als  Theil  der  Bewegung  selber,  wenn 
auch  noch  so  geringen  Quantums;  Bewegung  ohne  bestimmte 
Richtung  gebe  es  nicht  Hier  steht  Hobbes  offenbar  als  con- 
sequenter  Vertreter  des  mechanistischen  Gedankens  gegen  den 
Rest  des  scholastischen  Begriffs  von  potentiell  Seiendem  bei 
Descartes.  Es  ist  wiederum  nicht  zu  sagen,  in  welches  Jahr 
dieses  Manuscript  zu  setzen  sei;  ziemlich  sicher  aber  doch  vor 
1644,  da  die  Citate  aus  Descartes  in  einer  lateinischen  Ueber- 
setzung  gegeben  sind ,  die  mit  der  in  jenem  Jahre  publicirten 
gar  nicht  übereinstimmt  Uebrigens  hat  Hobbes  auch  später 
noch  hervorgehoben,  dass  seine  Wahrnehmungstheorie  eben 
wegen  dieses  Punktes  von  der  Descartes'schen  verschieden  sei 
(Engl.  Works  VH,  p.  340). 

10.  Die  Ereignisse  der  Zeit  veranlassten,  dass  Hobbes  kurz 
vor  dem  Jahre  1640  an  eine  Ausarbeitung   seiner  moralischen 


^)  Enthalten  in  demselben  Manuscript-Bande ,   wie  der  vorhin 
genannte. 


466    F.  Tod  nies:  Anmerkungen  üb.  d.  Philosophie  des  Hobbes. 

und  politischen  Theorie,  deren  Grundzüge  ihm  wahrseheinlich 
langst  feststanden,  heranging;  er  vollendete  die  Arbeit  im  Mai 
jenes  Jahres  und  nannte  sie:  Elements  of  law,  natural  and 
politic  ^). 

(Fortsetzung  im  nächsten  Heft.) 

^)  Sie  wurde  in  vielen  Abschriften  verbreitet  und  10  Jahre 
später  Hessen  einige  Verehrer  des  Verfassers  ohne  dessen  Ein- 
willigung die  ersten  la  Kapitel  des  ersten  Theiles  unter  dem  Titel 
^Human  Natura',  den  Best  des  Werkes  bald  darauf  u.  d.  T.  'De 
corpore  politico*  im  Buchhandel  erscheinen;  so  getrennt  befinden 
sich  jetzt  beide  Schriften  in  der  Sammlung  *T.  H.'s  moral  and 
political  works',  London  1750,  und  in  der  Gesammtausgabe  *£nglish 
works  ed.  Molesworth*,  London  1835  ff.  Vol.  IV.  Die  erste  ist  je- 
doch, wie  mir  eine  OoUation  mehrerer  Manuscripte  des  ganzen  Werkes, 
welche  sich  im  British  Museum  befinden,  ergeben  hat,  nach  einem  sehr 
fehlerhaften,  zum  Theil  verstümmelten  Exemplar  gedruckt;  der  Text 
der  zweiten  ist  besser,  aber  doch  gleichfalls  an  vielen  Stellen  cor- 
rupt.  Diese  letztere  hat  im  Wesentlichen  denselben  Lihalt,  der  zu- 
erst im  Jahre  1642  zu  Paris  lateinisch  als  „dritter  Abschnitt  der 
Elemente  der  Philosophie:  über  den  Bürger^'  erschien. 

Husum.  F.  Tönnies. 


Bergmann's  „Reine  Logik''  und  die  ,,Erkenntniss- 
fheoretisciie  Logik''  mit  ihrem  angeblichen 

Idealismus. 


Es  wird  psychologisch  erklärlich  scheinen^  dass  ich,  je 
mehr  Bergmann  mit  mir  in  wichtigen  Fragen  übereinstimmt 
und  je  mehr  Anerkennung  mir  sein  Werk  zu  verdienen  scheint, 
desto  mehr  Gewicht  auf  die  Bifferenzponkte  lege  und  den 
Wunsch  habe,  auch  diese,  wo  möglich,  zu  beseitigen.  Hinzu- 
kommt die  Eigentbümlichkeit  dieser  Differenzen.  Was  er 
nämlich  abweichend  von  mir  behauptet,  will  sich  nach  meinem 
Dafürhalten  mit  dem^  was  wir  gemeinschaftlich  lehren ,  nicht 
vertragen,  und  so  hätten  wir  in  diesem  beide  Unrecht,  wenn 
er  in  jenem  Eecht  hätte.  Daher  meine  Kampflust.  Die  fol- 
genden Erörterungen  wollen  also  nicht  als  Eecension  der  Berg- 
männischen Logik  gelten,  sondern  ausschliesslich  als  Angriff 
resp.  Yertheidigung  gegen  einen  solchen  ^  nur  freilich  als  ein 
Angriff^  welcher  sich  nicht  nur  mit  Hochschätzung  des  Geg- 
ners verträgt  y  sondern  aus  ihr  entspringt.  Üebrigens  habe 
ich  in  der  Yertheidigung  und  Erläuterung  meiner  Ansichten 
Bemerkungen  nicht  unterdrücken  können,  die  nicht  B. ,  son- 
dern im  Allgemeinen  die  principiellen  Gegner  meines  Stand- 
punktes treffen  y  zu  welchen  ich  B.  nicht  rechnen  kann.  Sie 
sind  leicht  herauszuerkennen. 

B.'s  Logik  steht  ganz  auf  metaphysischen  Voraussetzungen. 
S.  171  lehrt  offen  diese  Abhängigkeit;  S.  189  spricht  von 
„den  metaphysischen  Wurzeln  der  Bejahung  nnd  Yemeinung'^ 
und  von  „einer  Natur  der  Dinge,  welche  den  Grund  für  den 
Gegensatz  der  Gültigkeit  und  Ungültigkeit  der  Yorstellungen 
enthält'';  und  ähnlich  S.  212,  216  f.  u.  a.  v.  0.  Ich  wende 
mich  nicht  gegen  diese  Ansichten  selbst,  sondern  behaupte  nur^ 
dass   ihre  Verwendung  in  B.'s  Logik  im  Widerspruch  steht  mit 


468  W.  Schuppe: 

dem  Grundprincip ,  welches  ei  anerkennt,  indem  er,  überein- 
Btimmend  mit  mir^  den  Grandbegriff  der  Existenz  imBewusstsein 
findet.  Dass  alles  Sein,  welches  nur  für  den  Anschauenden 
ist,  von  ihm  für  Schein  erklärt  wird ,  während  ich  von  jenem 
ersten  Begriffe  der  Existenz  einen  zweiten  unterscheide,  den 
des  blossen  Objectseins,  sei  an  dieser  Stelle  als  minder 
wesentlich  ausser  Acht  gelassen.  Ich  frage  nur,  welchen 
Sinn  hat  es,  im  Begriffe  der  Existenz  diesen  ersten  absolut 
sichern  Anhalts-  und  Ausgangspunkt  zu  finden?  überhaupt 
einen  solchen  zu  suchen?  und  zwar  auf  dem  Gebiete  des- 
jenigen, was  zwar  nicht  mit  Händen  greifbar  ist,  aber  doch 
unmittelbar  erfahren  wird?  und  was  besagt  die  Gonsequenz, 
welche  B.  anerkennt,  däss  in  diesem  eigentlichen  Sinne 
Existenz  nur  solches  haben  kann,  was  in  gleicher  Weise  wie 
wir  sich  selbst  anschaut,  d.  h.  Bewusstsein  hat?  Das  ist  nicht 
Metaphysik,  sondern  Erkenntnisstheorie.  Es  sei  mir  gestattet, 
den  einzig  vorhandenen  Grund  für  dieses  Verfahren  in  Erin- 
nerung zu  bringen.  Wer  es  verschmäht,  den  lieben  Gott  oder 
das  Absolute  oder  die  Materie  zur  Voraussetzung  zu  machen 
und  sich  in  erster  Linie  nach  einem  Begriffe  der  Existenz 
umsiebt,  hat  schon  im  Princip  die  Erkenntnisstheorie  als  Fun- 
dament anerkannt  Aus  ihr  ergiebt  sich  sogleich,  dass  es  ab- 
solut sinnlos  wäre,  in  abstracto  nach  den  Merkmalen  des 
Existenzbegriffes  zu  suchen,  um  nachträglich  darunter  zu  sub- 
fiumiren,  was  diese  Merkmale  an  sich  erkennen  Hesse.  Die 
Existenz  ist  kein  den  anderen  Merkmalen  der  Dinge  coordinir- 
bares,  kein  gleich  ihnen  wahrnehmbares  und  inhaltliches  Prä- 
dicat,  und  da  sie  nicht  einer  von  den  gegebenen  Wabr- 
nehmungsinbalten  ist,  so  kann  der  Inhalt  des  Existenzbegriffes 
nur  eine  bestimmte  Relation  der  Wahrnehmungsinhalte  zum 
Subjecte  sein.  Das  weiss  B.  Cf.  S.  158 — 161.  Die  Existenz  eines 
Gegenstandes  ist  ihm  S.  42  sein  Verknüpftsein  mit  dem  vor- 
stellenden Ich  in  der  Einheit  der  Welt.  Wie  ganz  anders 
seine  Wort«  auch  lauten,  es  kommt  doch  in  der  Sache  darauf 
hinaus,  dass  Existenz  Bewusstsein  und  seinen  Inhalt  bedeutet. 
Die  eigne  Existenz  hat  unnöthige  Schwierigkeiten  gemacht. 
Man  meinte,  wenn  ich  nur  insofern  bin,  als  ich  mich  eben  in 
meinem  Bewusstsein  finde  und  habe,  so  sei  das  defijiiendum  in 
dem  Possessivum  vorausgesetzt  und  das  seiende  Subject  sei  in 
infinitum  immer  wieder  seinem  Bewusstseinsinhalte ,  in  wel- 
chem seine  Existenz  liegen  solle,  gegenübergestellt  und  somit 
ausserhalb    desselben.     S.    89    argumentirt    B«    ganz    ebenso. 


Bergmann*8  Reine  Logik  etc.  469 

„Wenn  wir  nichts^  sagt  er,  was  ein  anderes  Dasein  als  das- 
jenige eines  Gebildes  (diese  Bezeichnung  hat  Nebenbedeutungen^ 
weiche  nicht  in  meinem  Gedankengange  liegen)  unseres  Be- 
wusstseins  führe,  ohne  Widerspruch  denken  hönnen,  so  darf 
auch  unser  Bewusstsein  selbst  nur  als  Inhalt  unseres 
Bewusstseins  gedacht  werden  und  ebenso  un^er  Bewusstsein 
von  unserem  Bewusstsein  u.  s.  f.  in  inf.  Benn  wenn  wir 
diese  Beihe  mit  einem  uubewussten  Bewusstsein  beschlössen, 
so  verwickelten  wir  uns  in  den  Widerspruch,  dass  wir  von 
einem  Bewusstsein,  über  welches  wir  dächten  und  welches  wir 
als  Object  unseres  Denkens  in  unserem  Bewusstsein  hätten, 
prädicirten,  es  sei  nicht  darin."  Das  wäre  nun  freilich  ein 
Widerspruch,  aber  ich  verwickle  mich  nicht  in  ihn  und  be- 
streite andererseits  auch,  dass  der  von  B.  aus  meiner  Voraus- 
setzung gefolgerte  Rückgang  in  inf.  die  deductio  ad  absurdum 
ist,  für  welche  er  ihn  hält.  Auch  das  bekannte  Herbart'sche 
Kunststück  beruht  auf  solchem  Rückgange  in  inf.  und  B. 
beseitigt  dasselbe  in  einer  meines  Erachtens  nicht  stichhaltigen 
Weise.  Wenden  wir  uns  zuerst  zu  diesem.  Ich  bemerke  im 
Voraus,  es  handelt  sich  um  die  principielle  Frage,  woher  wir 
ein  Kriterium  für  Denkbarkeit  und  TJndenkbarkeit  haben,  also 
um  das  Fundament  der  Erkenntnisstheorie,  und  verweise 
(ausser  a.  St.)  auf  S.  697 — 699  meiner  Erk.  Logik.  „Man  be- 
achtet nicht,  heisst  es  S.  697,  dass  auch  das  bewusste  Ich 
als  Subject,  ohne  seinen  Bewusstseinsinhalt  gedacht,  nur  ein 
Abstractnm  ist,  sondern  denkt  es  sich,  auch  unter  Abstrac- 
tion  von  dem  Bewusstseinsinhalte  (ich  muss  hier  hinzusetzen, 
„und  von  sich  als  dem  Objecte,  als  welches  es  sich  in  und 
mit  seinen  Bestimmungen  findet'^  ^^^  ^in  selbständig  subsisti- 
rendes  concretes  Einzelding.  Man  lässt  nicht  von  der  Nei- 
gung, dem  Bewusstsein  Vorschriften  zu  machen  und  es  sich 
ganz  und  gar  nach  Analogie  der  körperlichen  Dinge,  welche 
es  in  seinem  Inhalte  vorfindet,  resp.  aus  gegebenen  Sinnes- 
eindrücken denkend  schafft,  vorzustellen.  Nach  diesen  soll  es 
sich  richten.  Dann  werden  die  Objecte  als  wirklich  existi- 
rende  Dinge  (und  in  unserem  Falle  auch  das  Ich  als  sein 
eigenes  Object)  auf  die  eine  Seite  gestellt  und  das  Bewusst- 
sein (resp.  das  Ich  als  Subject)  auf  die  andere,  so  dass  sie, 
wie  etwa  zwei  Steine  oder  zwei  Bäume  neben  einander  stehen 
und  sich  räumlich  gegen  einander  abschliessen.*'  Es  ist  ab- 
solut dieselbe  Auffassung,  welche  die  unlösbare  Schwierigkeit 
wie  das  Denken  aus  sich  heraus  zu  den  Dingen  kommen  und 
sie,  gewissermassen  in  seinen  Bereich  ziehend,  zu  seinen  Ob- 


470  W.  Schuppe: 

jecten  machen  könne,  missyerständlich  geschaffen  hat,  nnd 
welche  (von  dem  ^,räumlich^^  am  Schlüsse  der  citirten  Worte 
sehe  ich  natürlich  ab)  den  Widerspruch  im  Ichbegriffe  ge- 
funden hat.  Dass  das  Bewusstsein  das  Ich  als  Subject  und 
als  Object  zeigt,  soll  nothwendig  machen,  dass  jenes  Subject 
um  denkbar  zu  sein,  durch  ein  Object  und  jenes  Object  durch  ein 
Subject  ergänzt  werde,  was  natürlich  in  inf.  so  fortgehen 
müsste,  wenn  die  erste  Forderung  der  Ergänzung  überhaupt 
richtig  wäre.  Nachdem  B.  diesem  Subject-Object  m.  E.  irr- 
thümlich  den  Begriff  der  causa  sui,  als  derselben  Beurtheilung 
unterliegend,  zur  Seite  gestellt  hat,  föhrt  er  Seite  80  fort: 
„Wollte  jemand  sagen,  dem  zuerst  gesetzten  Subject-Objecte 
sei  weder  ein  Subject  vor-  noch  ein  Object  nachzusetzen,  indem 
das  Subject,  auf  welches  das  zuerst  gesetzte  Object  zu  be- 
ziehen sei,  eben  mit  diesem  identisch  sei,  und  ebenso  das  Ob- 
ject, auf  welches  das  zuerst  gesetzte  Subject  zu  beziehen  sei^ 
identisch  mit  diesem,  so  würde  er  damit  Unmögliches  zu 
denken  zumuthen.  Ebenso  wenig  wie  ich  einen  zugleich 
tragenden  und  getragenen  Stein  zu  denken  im  Stande  bin, 
ohne  ihn  auf  etwas  zu  beziehen,  was  er  trägt,  und  auf  etwas, 
wovon  er  getragen  wird,  kann  ich  es  umgehen,  über  die 
Setzung,  die  ich  zuerst  im  Begriffe  von  Ich  ffnde,  nach  beiden 
Seiten  hin  hinauszugehen.*'  Nach  diesen  beiden  Citaten  wird 
man  wenigstens  zugeben  müssen,  dass  ich  die  Ansicht  meiner 
Oegner  im  Voraus  richtig,  selbst  bis  auf  den  gewählten  Ver- 
gleich richtig,  gekennzeichnet  habe.  Die  vermeintliche  Denk- 
unmöglichkeit, und  die  Nothwendigkeit  jener  Ergänzung  ist  nur 
vorhanden,  wenn  man  das  Ich  als  Subject  und  das  Ich  als 
Object  einander  als  concreto  Existenzen  gegenüberstellt,  wie 
zwei  Steine.  Aber  es  ist  das  nun  einmal  die  Art  des  Be- 
wusstseins,  dieses  mit  nichts  anderem  Vergleichbaren,  des 
grössten,  des  einzigen  Wunders,  dass  es  Momente  in  sich 
zeigt,  welche  sich  durchaus  gegenseitig  fordern  und  ihrem 
Begriffe  nach  einschliessen.  Ob  das  möglich  ist  oder  nicht, 
wonach  will  man  das  beurtheilen?  Wenn  Bewusstsein  that- 
sächlich  vorhanden  ist,  so  ist  es  möglich,  und  es  heisst  die 
Erkenntnisstheorie  umkehren,  wenn  man,  was  ihm  möglich 
sein  soll,  danach  bemessen  will,  was  den  Steinen  möglich  ist. 
Wer  diesen  Massstab  zum  principiellen  macht,  kommt  über- 
haupt nicht  zum  Bewusstsein,  sondern  muss  nach  Art  der 
Materialisten  dabei  verharren ,  unser  Denken  mit  räumlichen 
Bewegungen ;  das  Bewusstsein  mit  einer  vermutheten  in  sich 
zurückkehrenden    Bewegung,    das  Ich    mit    seinem  Leibe  zu 


Bergmannes  Reine  Logik  etc.  471 

identificiren.  Ist  denn  B.  consequent,  wenn  er  die  Beseitigung 
jenes  Widerspruches  S.  82  darin  findet,  ,,da8s  das  Object, 
welches  zum  Subject  gehört,  und  ebenso  das  Subjeot,  welches 
zum  Objecte  gehört,  ohne  Aufhebung  der  Identität  beider 
mittelst  des  Zeitbegriffes  geschieden  sind?''  Ich  will  mich  auf 
eine  specielle  Polemik  gegen  diesen  Gedanken  nicht  einlassen, 
nur  das  betone  ich^  dass  diese  Möglichkeit  doch  gewiss  auch 
nicht  den  körperlichen  Bingen  abgesehen  ist.  Sie  ist  gegen- 
über dem  Verhalten  dieser  letzteren  gerade  so  undenkbar,  wie 
die^  dass  das  Subject,  im  Acte  des  Bewusstseins  sich  mit  allen 
Bestimmtheiten  in  seinen  Zuständen  als  Object  findend,  mit  die* 
sem  Objecte  identisch  ist,  und  dass  das  Subject  die  Ergänzung 
durch  ein  Object,  welche  es  seinem  Begriffe  nach  verlangt, 
eben  in  diesem  Objecte  findet,  welches  es  selbst  ist,  und  um- 
gekehrt. Gegen  die  Logik  verstösst  dieses  wunderbare  Ver- 
hältniss  erst  dann,  wenn  man  das  Ich  als  Subject  und  das 
Ich  als  Object  wie  selbständige  Dinge  denkt,  welche,  jedes 
für  sieh  in  den  Bewusstseinsinhalt  aufgenommen  und  wohl  unter- 
schieden, hinterdrein  identificirt  werden  sollten.  Sie  werden 
aber  von  vornherein  schon  mit  der  Bestimmung  aufgenommen 
und  fixirt,  dass  jedes  ohne  das  andere  undenkbar  ist,  dass 
dieses  unterschiedene  Subject  und  Object  nur  abstracte 
Momente  des  einen  untrennbaren  Ganzen  sind,  dass  dieses 
Subject,  um  zu  sein,  was  es  ist,  nicht  nach  dem  allgemeinen 
Begriffe  eines  Subjectes,  eben  blos  ein  Object,  und  das  Object 
ein  Subject  verlangte,  so  dass  es  genügte,  wenn  man  jenes 
durch  den  allgemeinen  Gedanken  eines  Objectes,  dieses  durch 
den  eines  Subjectes  ergänzt,  sondern  dass  dieses*  Subject  eben 
sich  selbst  als  Object  verlangt  und  dieses  Object  sich  selbst 
als  Subject.  Logik  wird  durch  dieses  Grundfactum  eben  erst 
möglich.  —  Es  ist  offenbar  eine  Consequenz  derselben  Grund- 
auffasBung^  wenn  B.,  wovon  wir  oben  ausgingen^  S.  89  gegen 
die  Lehre,  dass,  was  wir  denken,  eo  ipso  Object  und  somit 
innerhalb,  nicht  ausserhalb  des  Bewusstseins  sei,  den  Einwand 
erhob,  dass  ja  dann  unser  Bewusstsein  selbst  nur  als  Inhalt 
unseres  Bewusstseins  gedacht  werden  dürfe  u.  s.  f.  in  inf., 
was  eine  richtige  deductio  ad  absurdum  sei.  Dem  gegenüber 
erlaube  ich  mir  nur  die  hierauf  bezüglichen  Worte  aus  meiner 
Erk.  Logik  S.  697  herzustellen.  „Wenn  also  die  Annahme 
wirklicher  Existenz  anderer  Ich  durchaus  einen  Transscensus 
involviren  soll,  so  kann  der  Grund  hiervon  doch  nur  die  An- 
sicht sein,  dass  wirkliche  Existenz  es  ihrem  Begriffe  nach  in 
sich  schliesse,  ausserhalb  der  Erscheinungen  und  des  Gedachten, 


472  W.  Schuppe: 

d.  h.  also  überhaupt  ausserhalb  unseres  Bewusstseinsinhaltes 
zu  sein.  Ich  will  nun  nicht  aufs  Neue  darauf  hinweisen^  dass 
diese  Bestimmung  die  Existenz  principiell  zu  einem  Laute  ohne 
Sinn  und  Inhalt  macht,  und  femer  darauf,  dass  dann  auch 
wohl  eines  jeden  eigene  Existenz,  die  doch  nur  in  seinem  Be- 
wusstsein  besteht  oder  von  der  er  doch  nur  durch  und  in  sei- 
nem Bewusstsein  weiss,  eine  „blos"  gedachte,  aber  keine  wirk- 
liche Existenz  ist,  sondern  die  Grundvoraussetzung  aufdecken, 
Ton  welcher  jene  Bestimmung  nur  die  unvermeidliche  Conse- 
quenz  ist,'*  worauf  die  oben  schon  citirten  Worte  folgen.  Aber 
es  ist  so  wenig  nöthig,  unser  Bewusstsein  selbst  immer  wieder 
nur  als  Inhalt  unseres  Bewusstseins  zu  denken,  als  das  Fac- 
tum des  Bewusstseins,  oder,  um  mit  B.  zu  reden,  der  Selbst- 
anschauung den  unerträglichen  Widerspruch  in  sich  schliesst, 
welcher  in  dem  Auseinander  treten  der  beiden  Momente  dessel- 
ben, des  Subjectes  und  des  Objectes,  und  ihrer  Identität  ge- 
funden worden  ist,  und  nur  von  demjenigen  Standpunkte  aus 
gefunden  werden  kann,  welcher  das  Bewusstsein  principiell 
nicht  als  Urthatsache,  als  Fundament  und  Ausgangspunkt  an- 
erkennt, sondern  —  von  unser n  Erfahrungen  an  den  äusseren 
Dingen  ausgeht  und  diesen  Massstab  dann  an  die  unbegreif- 
liche Erscheinung  des  Bewusstseins  anlegt,  um  sie  natürlich 
unbegriffen  zu  lassen.  B.  aber  rechne  ich  es  als  Inconsequenz 
an,  letzteres  principiell  zu  verneinen  und  doch  die  Conse- 
quenzen  des  verneinten  Standpunktes  zu  acceptiren.  B.  argu- 
mentirt,  was  real  sein  solle,  könne  nicht  Bewusstseinsinhalt 
sein,  denn  sonst  wäre  ja  das  Ding  von  allersicherster  Realität, 
nämlich  unser  eigenes  Bewusstsein  Bewusstseinsinhalt,  und 
ich,  die  Meinung,  welche  Realität  nur  ausserhalb  des  Bewusst- 
seins denken  lässt,  erweise  sich  schon  dadurch  als  unhaltbar, 
dass  ja  sonst  unser  Bewusstsein  selbst,  von  dem  wir  doch, 
laut  einfachstem  Sinne  des  Wortes,  nur  durch  es  selbst  wissen, 
indem  wir  uns  wissen  und  anschauen  und  in  dem  unsere 
Existenz  besteht,  nicht  die  verlangte  Realität  hätte.  Ich  stütze 
mich  auf  das  unläugbare  Factum,  um  diejenige  Ansicht,  nach 
welcher  es  nicht  bestehen  könnte,  als  unhaltbar  zu  kenn- 
zeichnen, B.  stützt  seine  Ansicht  darauf,  dass  ja  sonst  jenes 
Factum,  in  welchem  er  eine  Absurdität  findet,  zugestanden 
werden  müsste.  Nun  könnte  ich  zu  der  Untersuchung  über 
den  Existenzbegriff  zurückkehren,  welche  ich  um  des  erörter- 
ten Einwandes  willen  abbrechen  musste.  Aber  ich  will  erst 
noch  B.'s  Polemik  gegen  meinen  angeblichen  Idealismus,  der 
zum   Solipsismus  führe,  und   seine  Yermeidung   des   letzteren^ 


Bergmann's  Reine  Logik  etc.  473 

welche  mit  jenem  Einwände  im  engsten  Zusammenhange  steht, 
prüfen. 

Dass    nach    dem   überlieferten   Sinne    des   Wortes    meine 
Lehre  nicht  als  Idealismus  bezeichnet  werden  kann^  kann  ich 
hier  unmöglich   aufs   Neue   ausführen.     Es  hängt   eben   Alles 
an  den  Begriffen  subjectiv  und  objectiv,    ideal  und  real,  wel- 
chen ich  festen  Sinn  zu  geben  versucht  habe.     Das  Ergebniss 
ist,  dass  wenigstens  nach  meiner  ausführlich  begründeten  Auf- 
fassung   der   Sache    die   Begriffe   Bewusstseinsinhalt  -  sein   und 
Eealität   sich   nicht  ausschliessen.     Bewusstsein  habe   ich  mit 
Denken  im  A.llgemeinen  identificirt   und  die  besonderen  Arten 
und  Bestimmungen   des  Denkens   können   somit   bei  mir  nicht 
aus    diesem    ihrem    allgemeinen    Charakter    heraustreten.      Es 
kann  also  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  ich  Alles,  was  Ob- 
ject  des  Denkens  ist,  eo  ipso  zum  Bewuestseinsinhalte  rechne. 
B.  heftet  seine  Polemik  an  dieses  Wort.     Aber  auch  wenn  ich 
es  Preis  gäbe^  so  bliebe  doch  auch  das  AUerrealste  und  Selb- 
ständigste,   wovon    er    spricht   und   was   ich    mit  ihm  denke, 
immer  noch  Object  unseres  Denkens.    Und  wenn  aus  der  blossen 
Bestimmung    Bewusstseinsinhalt    Solipsismus    gefolgert   werden 
kann,  so   kann  er  sicher  ebenso  gut  aus  dem  Objektcharakter 
gefolgert  werden.    Seine  Unterscheidung  leistet  meines  Erachtens 
nicht,   was   er   von   ihr  .erwartet,    aber   sie   braucht    es    auch 
glücklicher  Weise   nicht  zu   thun.     Denn  wenn   er   auf  meine 
Begriffsbestimmungen  und  Unterscheidungen  eingeht,   so   wird 
er  die  Befürchtung    des  Solipsismus,   gleich  mir,   für  gänzlich 
ungerechtfertigt  halten.     Die    gemeinhin  behauptete  Unverein- 
barkeit der  Begriffe  Bewusstseinsinhalt  (in  meinem  Sinne)  und 
Eeales  kommt  nur  daher,   dass   man  meinem  Begriffe   des  Be- 
wusstseins,    ohne  es  zu  merken,   den  überlieferten  Begriff  der 
Seele  substituirt,   wobei   alles   Das,   was  ich    eifrig  direct  be- 
kämpfe,  stillschweigend  wieder  wie  unerschütterliche  Prämisse 
behandelt   wird ,    nämlich   dass    „innerhalb    des   Bewusstseins^' 
gleich  sei  „innerhalb  der  Seelenmonas^'  und  so  subjectiv,  etwa 
wie  ein  blosses  Gefühl,  alles  wirklich  Existirende  aber  eo  ipso 
ausserhalb   der  Seele,   in  welcher  natürlich  niemals  wirkliche 
Dinge,    sondern   blos    luftige  Abbilder  oder  Zeichen  von  ihnen 
Platz  haben.     Zum  Yerständniss  meiner  Ansicht  ist  vor  Allem 
nöthig,  sich  mit  dem  Gedanken  vertraut  zu  machen,  dass  das 
Ganze  des  Bewusstseins  unmöglich  und  undenkbar  wäre,  wenn 
es  keinen  Inhalt  hätte,   d.  h.   also   wenn   das  Ich   als  Object 
wieder  nur  das  leere  Ich  wäre,  als  welches  das  abstracto  Be- 
griffsmoment des  Ich  als  Subject  zu  denken  ist,  dass  also  das 

Vierteljahrssclrnft  f.   wiasenscbaftl.  Philosophie.     III.  4.  31 


474  W.  Schuppe: 

Ich  seiner  nur  hewusst  werden,  d.  h.  sich  selbst  finden  kann 
in  seinen  Zuständen  und  Bestimmungen,  in  seinem  Leibe  in 
der  räumlich  und  zeitlich  ausgedehnten  Welt.  Diese  partici- 
pirt  daher  an  der  Bealität,  welche  ich  (und  im  Princip  auch 
B.)  im  Bewusstsein  finde,  weil  sie  conditio  sine  qua  non, 
gradezu  ein ,  Begriffsmoment  desselben  ist.  Und  nun  ist  zu 
unterscheiden.  Bei  der  unendlichen  Yerschiedenartigkeit  der 
Bewusstseinsinhalte ,  trotz  welcher  unaufhörlich  die  Identität 
des  Ich,  als  welches  das  Ich  (als  Subjeot)  sich  in  ihnen  findet, 
festgehalten  wird,  tritt  diese  Identität  natürlich  als  das  wesent- 
liche Charakteristicum  hervor,  und  so  wird  der  Begriff  des 
Bewusstseins  gefasst,  bei  welchem  zwar  nicht  die  Bestimmung 
getroffen  wird,  dass  jeder  Inhalt  weggedacht  werde,  wol  aber 
an  den  Inhalt  gar  nicht  gedacht  wird,  sondern  ausschliesslich 
das  blosse  Sich -wissen  ins  Auge  gefasst  wird.  Dass  dieses 
aber  wieder  ein  abstractes  Moment  ist,  kann  den  landläufigen 
Miss  Verständnissen  gegenüber  gar  nicht  genug  betont  werden. 
Dieses  blosse  Sich -wissen  oder  Seiner -bewusst- sein  ist,  ohne 
Bewusstseinsinhalt  gedacht,  grade  so  unreal  und  abstract,  wie 
das  blosse  Wissen  ohno  Object.  Das  Bewusstsein  in  diesem 
Sinne  lässt  als  Inhalt  seines  Begriffes  nur  den  formalen  leeren 
Ichbegriff  erkennen  und  ^wird  somit  eigentlich  zu  dem  ab- 
stracten  Momente  des  Ich  als  Subject  (dem  Subject  xorr 
€^o%ijv).  So  kommt  es,  dass  dem  Ich  begreiflicher  Weise  ein 
Nichtich,  dem  Bewusstsein  ein  Ausserhalb  des  Bewusstseins 
gegenübergestellt  wird.  Aber  wer  kann  denn  verhindern,  dass 
wir  den  Blick  von  jener  allerdings  sehr  nahe  liegenden  und 
deshalb  jedem  sehr  geläufigen  Abstraction  zu  dem  thatsäch- 
lichen  Ganzen  hinwenden  und  verstehen,  dass  Alles,  was  wir 
in  und  um  uns  finden,  als  Inhalt  des  Bewusstseins,  als  be- 
griffliches Moment  desselben  zum  Ich  gehört?  Weil  die  ein- 
zelnen Inhalte  wechseln  und  so  verschieden  sind,  deshalb, 
meint  man,  ist  jeder  eben  zum  Begriff  des  Bewusstseins  un- 
wesentlich, da  es  auch  ohne  ihn  existiren  kann.  Aber  doch 
nur  die  specifischen  Differenzen  dieser  Inhalte  sind  für  den 
abstracten  Allgemeinbegriff  Bewusstsein  unwesentlich,  nicht 
aber  das  allgemeine  Moment  des  Inhaltes  überhaupt,  und  auch 
nicht  die  specifischen  Bestimmtheiten  für  das  bestimmte  Indi- 
viduum (Erk.  Log.  S.  221.  82  u.  83.  568).  Und  warum  will 
man  ferner  nicht  auf  die  in  diesem  so  grell  hervortretenden 
Unterschiede  achten,  um  sogleich  zu  finden,  dass  der  Schein 
eines  Ausserhalb  des  Bewusstseins,  welches  doch  gewusst  würde, 
eben  nur   auf  einige   dieser  Unterschiede  zurückzuführen  ist? 


Bergmann'8  Beine  Logik  etc.  475 

Da  lässt  sich  das  Fühlen  und  Wollen  und  das  Denken  als 
solches  von  seinen  Objecten  unterscheiden  ^  ohne  dass  diese 
dadurch  aufhörten  Bewusstseinsinhalt  zu  sein^  und  ebenso  lässt 
sich  in  diesem  jegliches  nach  seiner  Abhängigkeit  oder  Un- 
abhängigkeit von  jeglichem  Anderen  bestimmen,  so  können  wir 
<die  Denkinhalte  unabhängig  finden  von  •  unserem  Fühlen  und 
Wollen  und  von  allen  unseren  individuellen  Eigenthümlich- 
keiten,  so  unterscheiden  wir  den  eignen  Leib  von  Allem,  was 
ihn  umgiebt;  und  so  auch  die  blosse  Baumerfülluzig  eines  an- 
deren Menschenleibes  von  dem^  was  wir  als  ein  Ich;  welches 
«ich  in  ihm  finde,  erschliessen.  Dieses  ist  vollste  Bealität^  — 
es  wird  ja  als  das,  was  wir  selbst  sind,  erschlossen,  —  und 
doch  im  Inhalte  des  Bewusstseins  des  Schliessenden ,  nicht 
ausserhalb.  Ich  bin  £.  dankbar,  dass  er  mir  Gelegenheit  ge- 
geben hat,  hier,  nach  seiner  Anleitung,  eine  üngenauigkeit 
meiner  Darstellung  in  der  £rk.  Log.  zu  verbessern.  Dort  be- 
tone ich  immer  nur  das  Object-sein,  welches  =  Bewusstseins- 
inhalt-sein  sei,  und  erwecke  somit  den  Schein,  als  müsse,  auch 
nach  meiner  Voraussetzung  ^  was  als  zugleich  Subject-sein  zu 
dem  Object-sein  hinzugedacht  wird,  mit  der  Bestimmung, 
ausserhalb  des  Bewusstseins  versehen  sein.  .  Allein  dieses  zu- 
gleich Subject-sein  ist  auch  gedacht,  Object  meines  Denkens 
und  deshalb  in  meinem  Sinne  des  Wortes  Bewusstseinsinhalt. 
Es  bedarf  also  der  ausdrücklicheren^  bestimmteren  Unterschei- 
dung der  Bewusstseinsinhalte.  Es  handelt  sich  um  den  Begriff 
der  Existenz  und  dem  entsprechend  um  den  bestimmten  Sinn 
der  Abhängigkeit  und  Unabhängigkeit.  Die  Sinneseindrücke 
(darunter  verstehe  ich  die  schon  localisirten  Empfindungen), 
welche  als  unmittelbar  Gegebenes,  als  Empfindungsinhalt  auf- 
treten, können,  wenn  wir  von  dem  Bewusstsein  gänzlich  ab- 
strahiren,  dessen  Inhalt  sie  sind,  so  wenig  gedacht  werden,  als 
das  Specifische  einer  Farbe,  z.  B.  des  Eothen ,  noch  denkbar 
ist,  wenn  wir  Dasjenige,  was  das  generische  Moment  der 
Farbe  ausmacht,  nicht  mitdenken  dürfen.  Der  Begriff  der 
Existenz  dieser  Data  ist  ohne  das  empfindende  Subject  ein 
inhaltsloser  Laut.  Wenn  ich  aber  nach  erfahrungsmässig  con« 
statirtem  Causalzusammenhange  aus  solchen  Daten  auf  ein 
Etwas  schliesse,  dessen  Begriff  auch  in  einer  Erfahrung,  näm- 
lich in  meinem  Bewusstsein  gegeben  ist,  nämlich  auf  ein  Ich, 
welches  ganz,  wie  ich,  sich  in  seinem  Leibe  und  in  dieser 
Welt  findet,  welche  deshalb  in  derselben  Weise  Inhalt  seines 
Bewusstseins  sind,  so  verliert  der  Begriff  seiner  Existenz  eben 
deshalb  noch  nicht  seinen  Inhalt,  wenn   ich   auch  davon   ab- 

31* 


476  W.  Schuppe: 

strahire,  dass  ich  es  erschlosseii  habe.  Ich  würde  zwar  nichts 
von  ihm  wissen^  wenn  ich  es  nicht  erschlossen  hätte,  und 
wenn  ich  die  klare  Fiction  durchführen  will;  dass  ich  es  nicht 
erschlossen  habe,  so  kann  ich  auch  nicht  mehr  festhalten,  das» 
ich  von  seiner  Existenz  weiss,  aber  sein  Begriff  hat  doch  auch 
dann  immer  noch  einen  Inhalt.  Natürlich  muss  ich  diesen 
Inhalt  denken,  um  yon  dieser  Existenz  sprechen,  um  sie  be- 
haupten zu  können,  aber  das  ist  ganz  so  wie  die  Abhängig- 
keit meiner  eignen  Existenz  Ton  meinem  Mich -selbst -denken. 
Darum  handelt  es  sich  nicht,  sondern  nur  um  den  wichtigen 
Unterschied  zwischen  diesen  Existenzen  und  den  Sinnes- 
eindrücken, dass,  nicht  zwar  die  thatsächliche  Anerkennung 
dieser  Existenzen,  wohl  aber  der  Inhalt  dieses  Begriffes  von 
der  subjectiven  Thätigkeit  meines  Schliessens  auf  ihn  un- 
abhängig ist,  während  der  Begriff  der  Sinneseindrücke  zugleich 
mit  der  Abstraction  von  dem  Subjecte,  dessen  Bestimmtheiten 
sie  sind,  seinen  ganzen  Inhalt  verliert,  also  so  undenkbar 
wird,  wie  das  Specifische  ohne  das  Qenerische.  Ihr  Begriff 
ist  also  inhaltlich  abhängig  von  dem  des  Empfindens,  in  wel- 
chem ihre  Existenz  besteht,  während  die  erschlossenen  Ich 
der  Nebenmenschen  nicht  in  ihrem  begrifflichen  Inhalte,  son- 
dern nur  thatsächlich  von  dem  Erschlieesen  abhängen.  That- 
sächlich  existiren  also  können  meine  Nebenmenschen  allerdings 
nicht  ohne  mich.  Das  erläutere  ich  durch  B.'s  eigene  Worte 
S.  88,  weil  „zur  Ichheit  das  Verknüpf tsein  mit  anderen  Wesen 
zu  einer  höheren  Einheit,  der  Einheit  der  Welt  gehört/',  ein 
Gedanke,  welchen  ich  mehrfach  ausgesprochen  hab^,  der  übri- 
gens wohl  von  Niemandem  für  ganz  neu  gehalten  werden  wird 
und  der,  —  worauf  ich  Gewicht  lege  —  nicht  etwa  nur  aua 
meiner  erkenntnisstheoretischen  Ansicht  sich  als  ein  Postulat 
ergiebt,  sondern  ganz  unabhängig  von  dieser  auch  von  anderen 
Seiten  sich  darbietet  und  ihr  zu  Hilfe  kommt.  Die  erschlos- 
senen anderen  Ich  gehören  also,  als  mein  Bewusstseinsinhalt, 
zu  mir  und  sind  mir  grundwesentlich,  so  wie  ich  zu  ihnen. 
Dasselbe  ergiebt  sich  auch  in  einer  den  gefürchteten  Solip- 
sismus ausschliessenden  Weise  aus  dem  Begriffe  der  Noth- 
wendigkeit,  welche  allen  Bewusstseinsinhalt  beherrscht,  worüber 
ich  das  Oapitel  in  meiner  Erk.  Log.  zu  vergleichen  bitten 
muss.  Es  kommt  schliesslich  darauf  hinaus,  dass  ich,  nicht 
von  metaphysischen,  sondern,  —  was  überaus  wichtig  ist  — 
von  erkenntnisstheoretisch  -  logischen  Voraussetzungen  aus,  die 
Welt  durchaus  nur  als  ein  Ganzes  auffassen  kann  (Erk.  Log» 
§151.     S.  78).   —  Der   erörterte  Unterschied   im  Objectsein 


Bergmannes  Keine  Logik  etc.  477 

nnd  somit  im  Abhängigkeitsyerhältniss  hat  auch  schon  über 
die  Bedeutuijig  der  B/schen  Begründung  entschieden. 

Ich  hatte  erklärt,  dass  die  Begriffe  Bewusstseinsinhalt  und 
Realität  einander  nicht  ausschliessen,  B.  erklärt,  dass  sie  ein- 
ander doch  ausschliessen  und  zwar,  weil  er  Realität  mit  Selb- 
ständigkeit, Bewusstseinsinhalt-sein  mit  Unselbständigkeit  gleich- 
setzt, und  zu  dieser  Qleichsetzung  kommt  er,  weil  er  unter 
Bewusstseinsinhalt  nur  die  Objecto  der  Anschauung  versteht^ 
nicht  die  des  Denkens ,  und  jene  S.  91  ausdrücklich  so  be- 
stimmt, „ein  innerhalb  des- Bewusstseins  sei  eben  ein  Gebilde 
des  Bewusstseins,  von  welchem  nichts  übrig  bleibt ,  wenn  man 
Ton  der  Form^  die  ihm  das  Bewusstsein  gegeben  hat,  ab- 
fitrahirt". 

Hier  zeigt  sich,  dass  6.  zu  der  Consequenz  meines  Solip- 
sismus nicht  von  meinen,  sondern  von  seinen  Voraussetzungen 
aus  gekommen  ist.  Die  Einschränkung  4es  Bewusstseinsinhalts 
auf  die  angegebenen  „Gebilde^'  ist  mit  !N^ichts  bewiesen,  aber 
diese  Bestimmung  ist  auch  in  sich  selbst  sehr  anfechtbar.  Sie 
lässt  sich  ja  nicht  einmal  auf  die  Sinnebeindrücke  anwenden, 
Yon  deren  Unselbständigkeit  6.  doch  überzeugt  ist.  Diese 
sind  doch  gewiss  nicht  eine  Form^  welche  das  Bewusstsein 
irgend  einem  Stoffe  gegeben  hat.  Die  Verwandlung  von  An- 
regungen, welche  die  Seele  empfängt,  in  localisirte  Sinnes- 
empfindungen ^  setzt  ganz  und  gar  den  überkommenen 
Seelenbegriff  voraus,  welchen  6.  mit  mir  bekämpft,  und  hat 
mit  dem  Bewusstsein  nichts  zu  thun.  Sehen  wir  uns  nach 
Formen  um,  welche  das  Bewusstsein  einem  Stoffe  giebt^  so 
bietet  sich  nur  die  Einheit,  zu  welcher  es  die  Sinnesdata  zu- 
sammenfasst,  in  welchen  Zusammenfassungen  die  Dinge  von 
empirischer  Realität  bestehen.  Es  scheint  mir  aber  nicht 
richtig,  dass  von  diesen  nichts  übrig  bleibe,  wenn  man  von 
dieser  Form  abstrahirt,  und  ebenso  wenig,  dass,  auch  wenn  es 
so  wäre,  hieraus  die  Unrealität  derselben  folge.  Jedenfalls 
bleiben  die  blossen  Sinneseindrücke  als  der  Stoff  übrig,  aus 
welchem  die  Dinge  geformt  waren,  und  wenn  auch  von  den 
Dingen  als  solchen  nichts  übrig  bleibt,  d.  h.  eben  keine  Dinge 
mehr  da  sind,  so  überlege  man  doch,  was  das  heisst,  ^,wenn 
man  abstrahirt^M  Bei  B.  ist  die  Dingheit  das  Werk  der  ge- 
heimnissvollen Anschauung,  bei  mir  ist  sie  das  Ergebniss  einer 
Reihe  von  Denkoperationen  auf  Grund  des  Oausalitätsprincipes. 
Diese  Denkacte  vollziehen  sich  mit  absoluter  ITothwendigkeit 
und  sind  deshalb  objectiv  gültig^  und  „wenn  man  von  ihnen 
abstrahirt^S   so  kann   es  doch  nur  geschehen   mit  dem  klaren 


478  W.  Schuppe: 

BewuBstsein ,  dass  man  als  nicht  seiend  oder  nicht  geschehen 
fingirty  was  unmöglich  nicht  sein  oder  nicht  geschehen  kann. 
Dasselbe  gilt  von  den  Schlüssen  auf  die  Existenz  anderer 
Ich.  Wenn  die  Einbeziehung  dieser  in  den  Bewusstseinsinhalt 
Bedenken  an  ihrer  Bealität  hervorzurufen  geeignet  wäre,  sp- 
müsste  nach  meiner  Auffassung  der  Sache  dasselbe  Bedenkeii 
auch  die  Dinge  von  empirischer  Eealität  treffen,  und  wenn 
B.  nur  an  jenem  Anstoss  nimmt,  so  würde  ich  von  meinem 
Standpunkte  aus  auch  an  diesem  in  gleichem  Grade  Anstoss 
nehmen.  Ich  veranschauliche  meinen  Begriff  vom  Bewusst- 
seinsinhalte  und  der  Realität  des  darin  Enthaltenen  folgender* 
massen.  Man  denke  sich  in  der  Mitte  einer  Linie  ein  Zeichen 
für  das  Subject,  welches  nach  der  gemeinen  Auffassung  als 
Seele  gedacht  wird,  bestehend  in  einem  stark  hervortretenden 
schwarzen  senkrechten  Strich,  welcher  das  Bewusstsein  be- 
deutet. Dieses  ist,  nach  meiner  Darstellung,  ohne  die  Welt 
seiner  Objecte,  ein  Abstractum,  der  Begriff  des  Subject-Objects^ 
während  die  gemeine  Auffassung  bei  seiner  sog.  substantiellen 
Verschiedenheit  von  den  Objecten  es  auch  ohne  diese  wie 
eine  concreto  Existenz  darstellt.  Von  diesem  senkrechten 
Striche  aus  gehen  nach  beiden  Seiten  feiner  gezeichnete  Halb- 
kreise, welche  als  der  Inhalt  des  Bewusstseins  Dasjenige  um- 
fassen, was  Zugestandenermassen  nur  psychische  Eegung  ist^ 
die  Gedanken,  Gefühle  und  Willensacte.  Zur  Bezeichnung  der 
Eealität  der  Aussenwelt  werden  nun  irgend  welche  Gestalten 
als  die  Welt  der  Dinge  und  Mitmenschen  rechts  und  links 
neben  diesen  Kreis  gestellt.  Der  Idealismus,  welchen  ich  ab- 
lehne, streicht  diese  aus,  indem  er  diese  Dinge  für  blosse  Ge- 
bilde der  Seele  erklärt,  und  setzt  irgend  welche  Andeutungen 
derselben  in  den  zuerst  beschriebenen  Kreis  hinein.  Ich  hin- 
gegen lasse  sie  in  ihrer  Stellung  unberührt,  ändere  auch 
nichts  an  der  Bedeutung  derselben,  sondern  bekämpfe  den 
Seelenbegriff,  hebe  die  Halbkreise  auf,  welche  die  Abgeschlossen- 
heit der  Seele  als  einer  Substanz  darstellen  sollten  und  lasse 
nach  beiden  Seiten  hin  die  ganze  Fülle  von  Objecten,  er- 
schauten und  erschlossenen,  durch  Linien,  welche  von  den 
Endpunkten  der  Senkrechten  ausgehen,  umfasst  sein.  Die 
Verschiedenheit  der  Stellung  und  Bedeutung  dieser  Inhalte 
graphisch  daxzustellen,  dazu  will  ich  meine  Phantasie  nicht 
anstrengen.  Nur  andeuten  will  ich,  dass  innerhalb  dieses 
Ganzen  die  Verbindung  und  Zugehörigkeit  der  Sinnesdaten  zum 
Bewusstsein  in  anderer  Weise  als  die  kategoriale  Function, 
wodurch  sie  zu  Dingen  werden,  und  wieder  in  anderer  Weise 


Bergmannes  Reine  Logik  etc.  479 

die  reproducirten  Yorstellungen ,  die  abstracten  Begriffe,  und 
die  Gefühle  und  Willensregungen  veranschaulicht  werden  könn- 
ten. Jedes  erschlossene  Ich  im  Inhalte  des  Bewusstseins  ist 
natürlich  ein  gleiches  Centrum  und  umfasst  alles  Andere  in 
derselben  Weise.  Diese  Darstellung  hat  natürlich  nur  den 
Zweck  und  nur  den  Werth,  meine  Auffassung  gegen  den  Vor- 
wurf des  Idealismus  und  mit  ihm  des  Solipsismus  zu  sichern. 
Sie  basirt  nur  auf  den  erkenntnisstheoretischen  Begriffen  des 
Subjectes  und  des  Objectes  und  ihrer  absoluten  Zusammen- 
gehörigkeit und  hat  auch  nur  den  Werth,  die  erkenntnisstheo- 
retische Grundfrage  nicht  eigentlich  zu  lösen ,  sondern  durch 
Aufdeckung  des  Missyerständnisses,  welches  ihr  zu  Grunde 
liegt,  zu  beseitigen.  Metaphysische  Einsicht  soll  und  kann  sie 
nicht  gewähren,  aber  sie  könnte  als  die  gesicherte  Grundlage 
für  metaphysisch  -  speculative  Versuche  benutzt  werden.  Es 
kümmert  mich  also  auch  gar  nicht,  ob  sie  sonst  noch  von  ir- 
gend welcher  Verwendbarkeit  ist,  und  ich  bitte  meine  Gegner, 
nur  die  Fragen  zu  unterscheiden,  1)  ob  sie  an  sich  wahr  ist 
und  2)  ob  sie  fruchtbar  ist.  Gegenwärtig  habe  ich  nur  ein 
Interesse,  ihre  Wahrheit  zu  behaupten,  gebe  sie  gar  nicht  als 
eine  Erklärung  aus,  sondern  nur  als  präcisen  unab weislichen 
Ausdruck  für  den  factischen  Sachverhalt.  Ob  es  nützlich  ist, 
diesen  anzuerkennen,  will  ich  nicht  erörtern  und  verweise  auf 
die  ausführlicheren  Erwägungen  und  die  Zurückweisung  der 
vermutheten  Einwände  in  meinem  Buche. 

Ich  kehre  nun  zu  meinem  ursprünglichen  Gedankengange 
zurück,  welchen  ich  durch  die  Beseitigung  von  Einwänden 
unterbrechen  musste.  Es  handelte  sich  um  die  Bedeutung  und 
Consequenz  davon,  dass  B.  im  Existenzbegriff  einen  festen 
und  klaren  Anhalts-  und  Ausgangspunkt  suchte  und  denselben 
im  Bewusstsein,  d.  i.  in  der  eignen  Existenz  fand.  Eine  kurze 
Erwägung  des  Existenzbegriffes  selbst  sollte  uns  zeigen,  welche 
Voraussetzungen  diesem  Verfahren  nothwendig  zu  Grunde 
liegen,  und  jene  Erwägung  hatte  uns  so  weit  geführt,  dass 
alle  Existenz  in  einer  Belation  zum  Ich  bestehe.  Die  eigne 
Existenz  haben  wir  nur  im  Bewusstsein,  d.  i.  in  der  Selbst- 
anschauung, d.  i.  in  dem  Sich-selbst-ünden ,  sich  selbst  Object 
sein,  —  einem  mit  nichts  Anderem  vei^leichbaren  und  erklär- 
baren Vorgang.  Die  Existenz  aller  andern  Dinge  aber  ist 
ganz  klar  auch  in  B.'s  Sinne  eine  Relation  auf  das  Ich,  wie 
es  sich  in  seinen  Zuständen ,  mit  seinen  Bestimmungen  als 
seinem  Bewusstsein sinhalte  findet.  Demnach  ist»  evident,  dass 
die  blosse  „Eelation^^  unmöglich  für  sich  allein  den  Inhalt  des 


480  W.  Schuppe: 

ExieteBzbegriffes  ausmachen  kann^  so  wie  ja  anch  die  blosse 
Existenz  nicht  existirt,  d.  h.  ein  ganz  leerer  Begriff  ist,  son- 
dern dass  nur  irgendwie  Beschaffenes  existirt  und  dass  somit 
auch  der  Begriff  der  Relation  der  allgemeinsten  Vorstellung 
und  Andeutung  des  Eelatums  nicht  entbehren  kann.  Mit  an- 
dern Worten:  Eine  eigentliche  Definition  von  Existiren  iat 
unmöglich,  an  Stelle  der  Definition  tritt  sofort  die  Angabe  der 
Arten  mit  ihren  charakteristischen  Unterschieden,  und  zwar 
sind  es  die  obersten,  welche  eine  vollkommene  Eintheilung 
darstellen,  mit  der  absoluten  Gewissheit ^  dass  nichts  ausge- 
lassen ist,  wenn  wir  Existenz  nur  als  Bewusstsein  und  Be- 
wusstseinsinhalt  (natürlich  in  meinem,  nicht  in  B's  Sinne)  auf- 
fassen, und  letzteren  sofort  in  das  erschlossene  fremde  Be- 
wusstsein und  das  unmittelbar  Gegebene  der  Sinne  eintheilen. 
Das  heisst  aber  nichts  Anderes^  als  im  Interesse  er- 
kenntnisstheoretischer Grundlegung  sich  an  die 
TJrthatsachen  der  innersten  Erfahrung  halten 
und  diese  anerkennen.  "Wenn  nun  auch  B.  über  die 
Bedeutung  des  Wortes  Bewusstseinsinhalt  und  über  Anschauung 
und  Denken  anderes  lehrt^  als  ich,  so  steht  er  doch  schon  da- 
durch, dass  er  keine  Existenz  kennt,  die  weder  Object  noch 
Subject  wäre,  sondern  nur  Bewusstsein  und  solches,  was  in 
ihm  ist,  ganz  und  gar  auf  dem  dargelegten  Standpunkte  und 
hat  ihn,  ganz  so  wie  ich  ihn  als  den  einzigen  Rechtsgrund 
für  seine  Annahme  erörtert  habe^  vorausgesetzt.  Erkennte  er 
ihn  nicht  as,  so  wäre  letztere  Annahme  willkürlich,  so  wäre 
sie  Dogma  und  unbeschadet  ihrer  materiellen  Wahrheit  in 
Hinsicht  auf  die  Methode  grade  so  viel  werth,  als  wenn  jemand 
sein  Philosophiren  mit  der  Mittheilung  eröffnete:  ,,Es  giebt 
einen  Gott,  welcher  Himmel  und  Erde  geschaffen  hat",  oder:  „Es 
giebt  unräumliche  Reale  von  absoluter  Einfachheit!"  u.  dergl. 
Ich  zweifle  demnach  nicht  daran,  dass  B.  in  der  That  jenen 
Standpunkt  principiell  anerkennt,  mache  ihm  nun  aber  den 
Vorwurf,  dass  er  ihn  nicht  consequent  festhält. 

Die  oben  verhandelten  Einwände ,  deren  Erledigung  un- 
sere Erörterungen  unterbrach,  enthalten  schon  diese  Inconse- 
quenz.  Vor  Allem  aber  ist  der  Antheil,  welchen  die  Meta- 
physik an  seiner  Logik  hat,  meines  Erachtens  ganz  und  gar  auf  ihre 
Rechnung  zu  setzen.  Alles  Dasjenige  ^  um  dessen  willen  es 
sich  eigentlich  allein  verlohnt,  Logik  zu  treiben,  d.  i.  die  Er- 
klärung des  Begriffes  des  Dinges  mit  seinen  Eigenschaften 
und,  was  es  heisse,  ein  Prädicat  auf  ein  Subject  beziehen,  wird 
der    Metaphysik    überwiesen.      Gleich    der    erste    Schritt    ist 


Bergmann's  Reine  Logik  etc.  481 

charakteristisch.  Jener  Standpunkt  Hess  aus  dem  nach- 
gewiesenen Grunde  nur  Bewusstsein  als  Existenz  setzen. 
Yerträgt  es  sich  aber  mit  ihm^  wenn  es  nicht  der  Erfahrung 
bedarf,  nicht  des  nur  erfahrungsmässig  constatirbaren  Zusammen- 
hanges;  um  bewusste  Existenzen  anzunehmen?  Die  Phänomene 
sind  B.  eo  ipsa  nicht  reale  Existenzen,  aber  sie  werden  in  Zu- 
sammenhang gebracht  mit  metaphysischen  Wesen,  denen  Be- 
wusstsein zugesprochen  wird,  ohne  dass  irgend  ein  erfahrungs- 
mässiges  Symptom  eines  solchen  vorhanden  ist,  und  dann  wird 
dieses  ihr  Bewusstseiui  damit  es  uns  nicht  allzusehr  befremde, 
so  herabgedrückt,  dass  wir  kein  Kriterium  mehr  für  sein 
Vorhandensein  haben,  mir  eigentlich  der  Begriff  desselben 
wieder  zu  zerrinnen  scheint.  Ich  will  über  diese  Monaden 
selbst  hier  nicht  streiten.  Wenn  irgend  eine  Erwägung  uns 
die  Annahme  derselben  logisch  unabweislich  erscheinen  lassen 
könnte;  so  wäre  auch  ihre  Unfruchtbarkeit  nicht  mehr  ein 
zulässiger  Einwand.  Hier  aber  werden  sie  um  ihrer  vermeint- 
lichen Leistungen  willen  eingeführt,  welche  ich  nicht  anerkennen 
kann.  Wären  es  noch  die  directen  Einwirkungen  der  andern 
Monaden  auf  die  Seelenmonas,  welche  diese  zur  Erzeugung  des 
Weltbildes  veranlassten!  Nicht  etwa  auf  die  den  Leib  aus- 
machenden Atome  würden  dann  Monaden  einwirken,  denn  jene 
gehören  schon  zu  dem  von  der  Seele  Erzeugten  (wenn  nicht 
etwa  das  Atom  selbst  zur  Monade  werden  soll),  sondern  der  ge- 
setzliche Zusammenhang  zwischen  den  äusseren  Reizen  und  den 
Bewegungen  der  Nervenmoleküle  in  unserem  Leibe^  von  welchen 
die  bewusste  localisirte  Empfindung  abhängt,  wäre  gesetzlicher 
Zusammenhang  unter  den  Phänomenen,  aber  er  wäre  begründet, 
so  wie  sie  selbst;  durch  die  im  Jenseits  vor  sich  gehenden 
directen  Einwirkungen  von  Monaden  auf  die  Seele.  Hier  ist 
der  Begriff  der  Seele  unentbehrlich  und  er  wird  auch  conse- 
quenter  Weise  von  Lotze  festgehalten.  Aber  bei  6.  sind  die 
Sinnesdata,  aus  welchen  die  Körper  bestehen ^  auch  als  rein 
subjective  Empfindungen  gefasst,  und  doch  läugnet  er  diese 
SeelC;  indem  er,  mit  mir,  Seele  und  bewusstes  Ich  gleichsetzt^  — 
wie  mir  scheinen  will,  wiederum  eine  Inconsequenz.  Mit 
dieser  Monadenlehre  —  (wenn  ich  von  dem  bekämpften  Begriffe 
der  Monaden  selbst  absehe)  verträgt  sich  meine  Logik.  Jene 
dienen  dem  rein  metaphysischen  Interesse  und  meine  Logik 
bemüht  sich,  den  Begriff  der  phänomenalen  Dinge  und  Ereig- 
nisse klar  zu  machen^  welcher  ja  in  keinem  Falle  entbehrlich 
ist.  Ob  jemand  einmal  den  stringenten  Beweis  finden  wird  für 
jene  Existenzen,  welche   den   letzten  Grund   für   die  von  der 


482  W.  Schuppe: 

Seele  erzeugte  Welt  der  Erscheinungen  und  damit  natürlich 
auch  für  diejenigen  Einheiten^  zu  welchen  das  Denken  aus  sich 
selbst  diese  Erscheinungen  yerbindet,  abgeben  sollen,  kann  ich 
von  meinem  Standpunkte  aus  mit  Euhe  abwarten;  die  Ergeb- 
nisse meiner  Urtheils-  und  Begriffslehre  werden  davon  nicht 
berührt  und  bleiben  in  ihrer  Geltung  für  die  wahrnehmbare 
Welt  ganz  dieselben,  ob  ein  solcher  letzter  Grund  für  diese 
angenommen  wird,  oder  nicht.  Bei  B.  ist  das  anders.  Solche 
Einwirkungen  lehrt  er  nicht,  und  doch  soll  jedes  Atom  Zeichen 
eines  solchen  metaphysischen  Wesens  sein.  Das  Hesse  sich 
allenfalls  noch  verstehen ^  wenn  er  meinte,  jedes  einzelnen 
kleinsten  Theilchens  Yorstellung  in  uns  käme  auf  Bechnung 
der  Einwirkung  je  einer  bestimmten  Monade  auf  die  Seele^ 
und  die  Erscheinungswelt  setze  sich  wirklich  aus  solchen 
Stückwirkungen  zusammen.  Aber  das  meint  er  nicht.  S.  165 
heisst  es :  „Wir  verknüpfen  die  Merkmale  dadurch  ^  dass  wir 
ein  sie  verknüpfendes  Object  setzen.^^  Dieses  Object  sind  nicht 
die  phänomenalen  Dinge ,  die  Körper,  denn  diese  können  das 
nicht,  sondern  die  realen,  d.  h.  die  Monaden.  Diese  (S.  166) 
verknüpfen  die  Vielheit  ihrer  Merkmale  zur  Einheit  durch 
Selbstanschauung  y  in  der  Weise,  welche  in  unserem  Ich  offen 
vor  uns  liegt.  Aber^  frage  ich,  was  haben  denn  diese  Monaden 
für  Merkmale?  Es  könnten  doch  nur  innere  Zustände  sein, 
unserem  Denken^  Fühlen  und  Wollen  analog.  Mögen  sie  diese 
in  sich  zur  Einheit  verknüpfen,  was  hat  das  mit  der  Einheit 
zu  thun,  zu  welcher  die  sinnlich  wahrnehmbaren  Merkmale 
verknüpft  sind?  Auch  dass  wir  unsere  Empfindungen  als 
unsre  Zustände  zur  Einheit  im  Ich  verknüpfen,  hat  nichts  da^ 
mit  zu  thun,  denn  es  handelt  sich  um  die  Einheiten,  welche 
je  ein  Comp  lex  der  localisirten  Empfindungen,  einer  neben 
dem  andern,  ausmacht,  das  Haus  hier  und  neben  ihm  ein  Baum 
und  vor  ihm  ein  Hund  u.  s.  f.;  jedes  eine  Einheit.  Die 
zur  Einheit  verknüpften  Merkmale  der  Monaden,  d.  h.  ihre 
inneren  Zustände  sind  doch  nicht  identisch  mit  unsern  sub* 
jectiven  Empfindungen,  aus  welchen  wir  die  Einheiten  der 
phänomenalen  Dinge  machen.  Möglich,  beinahe  wahrscheinlich 
ist  es  mir,  dass  ich  B.  missverstehe,  aber  mir  scheint  dies 
alles  vorgetragen  zu  werden,  um  den  Sinn  der  Prädicirung, 
^jene  Einheit  in  der  Vielheit,  jene  Identität  im  Unter- 
schiede der  •  Merkmale ,  welche  wir  als  die  Bedeutung  des 
Etwas-Seins  gefunden  haben^',  zu  erklären,  Cf.  S.  155  f.  159 
und  schon  119  (das  „objeotiv  bestimmt").  Ich  verstehe  nicht, 
wie  dies  „dem  Interesse  der  Logik^  den  Gegensatz  von  Wahr- 


Bergmannes  Beine  Logik  etc.  483 

heit  und  Irrthum  zu  begreirai^^  ( —  welcher  ja  auch  für  mich 
das  Problem  ist,  dessen  Lösung  eigentlich  das  ganze  System 
der  Logik  gewidmet  ist  — )  genügen  soll,  wenn  nicht  vorher 
und  unabhängig  yon  aller  Metaphysik  der  logische  Begriff  der 
Zusammengehörigkeit  von  Phänomenen  festgestellt  ist,  was  aber 
S.  143  gradezu  ausgeschlossen  wird.  Die  metaphysische  An- 
nahme soll  also  den  logischen  Begriff  der  Einheit  der  phäno- 
menalen Dinge  ersetzen.  Die  Prädicirung  wird  als  Iden- 
tificirung  des  S,  welches  das  constituirende  Merkmal  C  hat^ 
mit  dem  S,  welches  das  ergänzende  Merkmal  P  hat,  gedeutet; 
wobei  der  Begriff  des  Merkmale -Habens  natürlich  unerklärt 
vorausgesetzt  ist.  Aber  wir  würden  B.  Unrecht  thun,  wenn 
wir  ihn  eines  so  groben  logischen  Fehlers  beschuldigten. 
Denn  die  logische  Erklärung  hält  er  offenbar  für  unmöglich 
und  schiebt  das  ganze  Geheimniss  des  Merkmale-Habens  in  die 
Metaphysik.  Die  besprochene  „Identität  im  Unterschiede  der 
Merkmale*'  ist  ihm  S.  131  sofort  „ein  metaphysisches  Verhält- 
nisses welches,  „weit  entfernt,  undenkbar  zu  sein,  vielmehr  die 
Bedingung  aller  Vor  stellbarkeit  und  Denkbarkeit  ist*'.  Die 
Identität  wird  gar  nicht  als  logische  Kategorie  eingeführt,  denn 
in  diesem  Sinne  ergäbe  sich  ja  nur  die  Aussage,  dass  S  zwei 
Merkmale,  G  und  P,  habe.  Das  causale  Verhältniss  unter  ihnen 
deutet  B.  durch  die  Ausdrücke  „nachgezogen  werden  und  mit- 
gesetzt  sein'*  an,  ohne  des  Rechtes  und  Sinnes  solcher  Ver- 
knüpfung Erwähnung  zu  thun.  Aber  er  scheint  mir  auch  gar 
nicht  gewillt  zu  sein^  den  inductiv  feststellbaren  Zusammen- 
hang geltend  zu  machen,  sondern  will  diese  Zusammengehörig- 
keit sogleich  durch  die  metaphysische  Identität  im  Unterschiede 
erledigt  sehen.  Aber  dann  muss  doch  wohl  auch  „der  Gegen- 
stand*' (S.  129)  schon  das  ens  metaphysicum  sein  und  dann 
begreife  ich  nicht ,  wie  die  sinnlich  wahrnehmbaren  C  und  P 
Merkmale  desselben  sein  können. 

Mit  dieser  eigenthümlicheu  Auffassung  der  Aufgabe  und 
Stellung  der  Logik  hängt  es  offenbar  zusammen,  dass  B.  es 
unterlässt,  die  einfachsten  logischen  Functionen  vorher  darzu- 
stellen, ehe  er  an  die  Erklärung  der  complicirteren  Erscheinungen 
geht,  so  dass  mehrfach  im  Laufe  der  Untersuchung  —  nach 
meiner  Auffassung  wenigstens  —  plötzlich  neue  unlegitimirte 
Begriffe  auftauchen.  Schon  das  häufige  „Setzen"  ist  mir  zum 
Anstoss,  da  ich  nicht  klar  sehen  kann,  in  welchem  Verhält- 
nisse dasselbe  zu  den  Thätigkeiten  des  Sy nthetirens ,  Ana- 
lysirens  und  eigentlichen  Urtheilens  steht.  Auch  wurde  oben 
schon    erwähnt,  wie  zur  Erklärung  des  Prädicirens  die  Iden- 


484  W.  Schuppe: 


tität  in  einer  Weise  verwendet  wird,  welche  den  rein  logischen 
Sinn  derselben  voraussetzt.  Von  meinem  Standpunkte  aus 
muss  ich  sogleich  fragen:  wie  wird  aber  Identität  ausgesagt? 
Ist  die  Identifioirung,  als  welche  die  Prädicirung  gedeutet 
wird,  nicht  auch  eine  Prädicirung,  welche  Subjeot  und  Prädicat 
hat?  Wäre  B.  hierauf  eingegangen,  so  wäre  es  ihm  unmöglich 
geworden,  seine  Gründe  für  die  Qualitätslosigkeit  der  Prädi- 
cirung vorzubringen.  Bei  mir  wird  die  Bedeutung  und  Stel- 
lung der  ^Negation  aus  der  Grundauffassung  des  ürtheils  und 
des  Identitätsprincipes  in  einer  Weise  klar,  welche  mir  seine 
Bedenken  auszuschliessen  scheint.  Erst  S.  252  beginnt  eine 
Erörterung  der  Principien  der  Identität  und  des  Widerspruchs ; 
,,die  XJebereinstimmung  einer  Vorstellung  mit  sich  selbst,  heisst 
es  da,  soll  Identität,  ihr  Widerstreit  mit  sich  selbst  Wider- 
spruch genannt  werden.*^  Aber  hier  ist  der  logische  Begriff 
der  Identität  vorausgesetzt^  um  das  sog.  Identitätsprincip  auf 
einen  der  möglichen  Fälle  seiner  Anwendung  einzuschränken. 
Aber  auch  das  Ziel  wird  dabei  nicht  erreicht,  denn  ich  Wenig- 
stens muss  bestreiten,  dass  die  Richtigkeit  der  Vorstellung, 
wenn  wir  sie  als  ihre  Uebereinstimmung  mit  sich  selbst  fassen, 
zu  einer  „inneren  Eigenschaft'^  derselben  würde.  Letztere 
besteht  nur  in  dem,  was  Andere  causalen  Zusammenhang  und 
Zusammengehörigkeit  der  Merkmale  nennen. 

Gleiches  passirt  bei  der  Unterscheidung  von  Prädiciren 
und  ürtheilen.  Die  „Anschauung'^  geht  diesen  Functionen 
vorher  als  „die  Auffassung  eines  Gegenstandes  als  eines  seien- 
den oder  etwas  seienden,  irgend  wie  beschaffenen'^  wobei  offen- 
bar grade  das,  dessen  Erklärung  das  Ziel  meiner  Logik  ist, 
und  von  dessen  Erklärung  das  richtige  Verständniss  aller  über 
Dinge  und  ihre  Eigenschaften  handelnden  ürtheile  und  Schlüsse 
abhängt,  vorausgesetzt  ist.  Die  Vorstellung,  d.  i.  die  Prädi- 
cirung, analysirt  diese  Synthese,  bemerkt,  findet,  hebt  ein  Merk- 
mal hervor.  Aber  das  soll  noch  nicht  ürtheilen  sein.  Dieses 
Prädiciren  oder  Beziehen  eines  Prädicates  auf  sein  Subject  ist 
weder  bejahend  noch  verneinend;  erst  das  Urtheil  im  eigent- 
lichen Sinne  bringt  die  Qualität  in  irgend  einer  Modalität 
hinzu,  indem  es  aus  einem  „kritischen  Verhalten^'  über  Gültig- 
keit oder  Ungültigkeit  entscheidet,  diese  Prädicirung  bestätigt 
oder  verwirft.  Aber  was  ist  Entscheiden  ?  was  Bestätigen  und 
Verwerfen?  worin  besteht  das  „kritische  Verhalten"?  was  ist 
Synthesiren  und  Analysiren?  Das  sind  alles  im  gemeinen 
Sinne  des  Wortes  schon  Ürtheile.  Was  ist  aber  das  Urtheil 
bei  B.  ?     Nicht  etwa,  worauf  man  entgegnend  verfallen  könnte, 


Bergmannes  Reine  Logik  etc. 


485 


die  FrädiciruDg  des  Gültig  oder  Ungültig  von  einer  andern 
Prädicirung,  der  einer  Eigenschaft  nämlich  oder  des  Existenz* 
prädicates  von  einem  Dinge.  B.tnv^eiss  genau  ^  wie  unhaltbar 
diese  Definition  wäre.  Er  definirt  es  also  als  jene  noch 
qualitätslose  Prädicirung,  aber  „verbunden'^  mit  dem 
kritischen  Verhalten,  welches  sich  als  Bestätigung  oder  Ver- 
werfung,  Bejahung  oder  Verneinung  ausdrücke.  Aber  was 
heisst  „verbunden'^?  Worin  besteht  denn  die  neue  Einheit, 
welche  nun  das  kritische  Verhalten  mit  der  Prädicirung  ein* 
geht?  Ich  fürchte,  sie  ist  weiter  nichts,  als  der  Ausdruck  für 
das  Ganze,  welches  in  abstracto  Momente  zerlegt  worden  war, 
welche  missverständlicher  Weise  wie  concreto  Existenzen  be- 
handelt wurden.  Demnach  ist  die  B.'sche  Prädicirung  nur 
das  abstracto  Moment  des  Materials,  bestehend  im  Subjects- 
und  Prädicatsbegriffe ,  der  dem  bejahenden  und  verneinenden 
Urtheile  gemeinsame  Bestandtheil,  und  hinzukommt  das  andere 
für  sich  allein  ebenfalls  nur  abstracto  Moment  der  Bejahung 
und  Verneinung,  d.  h.  desjenigen,  worin  nun  die  XJrtheils- 
beziehung  eigentlich  erst  besteht.  B.  wird  gegen  diese  Auf- 
fassung protestiren,  aber  ich  erwarte  Belehrung  und  spreche 
meine  Ansicht  vorläufig  dahin  aus :  entweder  ist  seine  Prädicirung 
in  Wirklichkeit  noch  nicht  Prädicirung,  oder  seinUrtheil  ist  doch 
eine  Prädicirung  über  eine  Prädicirung.  Soll  das  Bestätigen  und 
Verwerfen  im  gewöhnlichen  Sinne  genommen  werden,  so  kann 
Bestätigtes  und  Verworfenes  auch  nur  ein  echtes  Urtheil,  d.  i. 
eine  Prädicirung  mit  Qualität,  sein.  Denn  eine  blosse  Vor- 
stellung (im  gewöhnlichen  Sinne)  kann  man  weder  bejahen, 
noch  verneinen,  es  sei  denn,  dass  sie  heimlich  nur  als  abge- 
kürzter Ausdruck  für  ein  echtes  Urtheil  angesehen  wird.  Die 
Beziehung  des  Prädicates  aufs  Subject  will  in  ihrem  Sinne 
verstanden  sein,  ehe  sie  bestätigt  oder  verworfen  werden  kann. 
Aber  das  blosse  „Sichbegegnen^'  von  Vorstellungen  (im  ge- 
wöhnlichen Sinne),  ihr  blosses  Nebeneinandertreten  nach 
Associationsgesetzen  wäre  nur  der  psychologische  Anlass  dazu, 
dass  jemand  im  bestimmten  Augenblicke  ein  Urtheil  gerade 
über  diese  und  nicht  über  andere  Dinge  fällt,  einem  Subjecte 
gerade  dieses  und  nicht  ein  anderes  Prädicat,  welches  ihm 
auch  zukommt,  zuspricht.  In  diesem  blossen  Zusammengerathen 
von  Vorstellungen  liegt  noch  nicht  das  Mindeste,  wodurch  die 
eine  den  Charakter  als  Subject  der  andern  und  die  andere 
den  als  Prädicat  der  ersten  erhielte.  Subject  und  Prädicat 
sind  Begriffe,  welche  nur  aus  dem  Ganzen  des  (echten)  Ur- 
theils  verstanden  werden  können.     Sollte  also  die  Prädicirung 


486  W.  Schuppe:  Bergmann's  Beine  Logik  etc. 

bejaht  oder  verneint  werden  können,  so  müsste  sie  als  nur 
vorläufige,  mehr  yermuthungsweise  Verbindung  gelten,  aber 
diese  wäre  in  meinen  Augen  «ine  psychologische  Dichtung,  wenn 
sie  nicht  gleich  für  echtes  Fragen,  Zweifeln  und  Bedenken  er- 
klärt wird.  Dass  aber  letztere  das  ürtheil,  d.  h.  Prädicirung 
mit  Qualität  einschliessen,  brauche  ich  wohl  nicht  auszufuhren. 
Und  endlich :  was  meint  denn  dieses  Bestätigen  oder  Verwerfen 
der  Prädicirung?  etwa  dass  sie  die  Anschauung  richtig  oder 
unrichtig  analysirt  hat?  dass  in  der  Anschauung  wirklich  das 
hervorgehobene  Merkmal  war  oder  nicht?  Gewiss  nicht.  Es 
entscheidet^  ob  die  Anschauung  selbst  gültig  ist  oder  nicht,  in 
einem  ganz  neuen  Sinne  des  Wortes,  und  bekommt  somit  in 
der  Beziehung  auf  das  wirkliche  Sein  ein  ganz  neues  Object, 
wobei  der  Sinn  des  Urtheils  in  logischer  Beziehung  voraus- 
gesetzt ist.  Ich  bestreite  nun  gar  nicht,  dass  der  Anspruch, 
Wirklichkeit  auszusagen,  zum  Sinne  des  Urtheiles  gehört  (cf. 
£rk.  Log.  XXI  bes.  §  151),  nur  gehört  dieser  Anspruch  so 
wesentlich  schon  zur  Beziehung  des  Prädicats  auf  das  Subject, 
dass  ich  mir  letztere  ohne  jenen  nicht  denken  kann.  Doch  mit 
dieser  Behauptung  ist  auch  mein  Begriff  von  Wirklichkeit  und 
die  ganze  Bedeutung  des  Causalitätsprincipes  in  der  Logik  zur 
Verhandlung  gestellt,  und  da  diese  Auseinandersetzung  ohne 
dies  schon  einen  zu  grossen  Umfang  gewonnen  hat,  so  sei 
hiermit  geschlossen.  Sollte  ich  B.  missverstanden  haben,  so 
entschuldige  mich  sowohl,  wie  ihn,  wenn  seine  Darstellung 
einen  Theil  der  Schuld  tragen  sollte,  die  Schwierigkeit  der 
Sache.  Die  zu  erwartende  Aufklärung  wird  nicht  nur  mir, 
sondern  vielleicht  noch  manchem  Leser  seines  Buches,  und  — 
was  die  Hauptsache  ist  —  den  verhandelten  Fragen  selbst 
zu  Gute  kommen. 

Greifswald.  W.  Schuppe. 


Becensionen. 


Ueberhorst,  Dr.  Karl :  Eant^s  Lehre  von  dem  Verhältniss  der 
Kategorien  zur  Erfahrung.  Göttingen  1878.  Deuer- 
lich'sche  Buchhandlung  (8.  1,60.). 

Diese  Schrift  von  56  Seiten,  aber  reich  an  Inhalt,  ver- 
sucht die  noch  immer  nicht  ausgetragene  Frage  der  Kantischen 
Kategorienlehre,  durch  „genaue  Darstellung  der  berühmten 
Theorie"   zu  fördern.     Doch  scheint  die  Darstellung  grade  in 


Reeensionen/  487 

den  Cardinalpunkten  auf  Irrthum  zu  beruhen.  Leider  ^at  der 
Yerfasser  auch  die  in  Bezug  auf  das  VerBtändniBs  des  Grund« 
Problems  werthvollen  Hinweise  Cohen's  und  F.  A.  Lange's  bei 
Seite  liegen  lassen.  "Wir  beabsichtigen  hier  nur  eine  berich- 
tigende Darstellung  dessen,  was  uns  als  der  Hauptpunkt  er- 
scheinty  zu  geben  und  verweisen  im  Uebrigen  auf  die  in  dieser 
Zeitschrift  erschienene  Selbstanzeige  ^)  und  das  Schriftchen  selbst. 

Das  Problem  Xant's  besteht  nach  dem  Yerfasser  darin, 
„die  Erkenntniss  der  Dinge  an  sich  selbst  aufzugeben,  und 
zur  Entstehung  der  Erfahrungswelt  nicht  blos  die  Empfindung, 
die  Zeit  und  den  Baum,  sondern  auch  die  reinen  Yerstandes- 
begriffe  mit  beitragen  zu  lassen  **.  Bei  dieser  Fassung  tritt 
die  transcendentale  Frage  nicht  genügend  hervor.  „Entstehung 
der  Erfahrungswelt"  ist  ein  missverständlicher  Ausdruck.  Kant 
will  ja  ganz  einseitig  die  apriorischen  Formen,  durch  welche 
Erfahrung  erst  möglich  ist,  aufsuchen  und  ableiten^  nicht  aber 
„die  Erfahrung;  worin  sie  angetroffen  werden"  *),  entwickeln  ®). 

Hier  ist  bereits  ein  Missverständniss  versteckt,  das  bei 
der  Definition  der  Kategorien  genau  hervortritt.  Es  ist  die 
falsche,  oder  doch  einseitige  Fassung  des  Wortes  „Begriff '^ 
S.  5  wirft  Yerfasser  Kant  einen  Grundirrthum  in  Bezug  auf 
Hume  vor,  und  sagt  er  substituire  diesem  fälschlich  die  Mei- 
nung ^  „dass  der  Begriff  der  Ursache  und  Wirkung  keine 
von  aller  Erfahrung  unabhängige  objective  Giltigkeit  besitze, 
dass  derselbe  daher  nicht  dem  reinen  Denken  entstamme". 
Hume  sagt  dieses  indess  in  der  That,  nur  in  umgekehrter 
Folge,  wie  Kant  auch. 

Kant  hat  unter  „Begriff"  ein  Doppeltes  verstanden,  zu- 
gleich: a)  die  zur  Bildung  eines  Objects  meiner  Erkenntniss 
nöthige  Form  des  Denkens,  d.  i.  der  Thätigkeit  selbst,  b)  die 
Yorstellung,  die  ich  abstrahirend  mir  von  dieser  Form  der  in 
mir  stattfindenden  Thätigkeit  mache.  Ad  a).  „Eeiner  Begriff 
ist  allein  die  Form  des  Denkens  eines  Gegenstandes  über- 
haupt" (Kr.  II,  75),  also  die  Form  des  Denkens,  nicht  des 
gedachten  Gegenstandes.  Ob  sie  nicht  auch  Form  des  letzteren 
sei,   berührt  uns   hier  nicht.     Ebenso  II,  93:   „Der  Yerstand 


»)  II.  Jahrg.  III.  H.  S.  369. 

«)  Krit.  d.  r.  Yern.  IL  Aufl.  S.  128. 

^)  Ueberh.  S.  50  meint  dagegen,  „dass  strenge  genommen  aus 
den  Kantischen  Principien  folgt,  dass  die  Kategorien  erst  am  Stoff 
unserer  Sinne  zur  Entwicklung  kommen*^  Diesen  Satz  stellt  sich 
Kant  gar  nicht  als  Problem,  sondern  setzt  ihn  mit  dem  ersten  Satz 
der  Kritik  IL  Aufl.  als  etwas  Selbstverständliches  voraus. 


488  Becensionen. 

urtheilt  durch  Begriffe^^  aber  b)  bo,  y,da8s  er  sie  auf  eine  Yor- 
Btellung  von  dem  Oegenstand  bezieht,  sie  sei  Anschauung  oder 
selbst  schon  Begriff^^  Hier  ist  Begriff  bereits  die  fertige 
Vorstellung,  nicht  blos  die  Form  der  Thätigkeit  der  Synthesis. 
Nachdem  ich  aber  diese  blosse  Form  der  Thätigkeit,  die  Arten 
wie  ich  denken  muss,  wie  auch  das  Kind  bereits  denkt,  ohne 
dass  es  dies  weiss,  selbständig  erkannt  habe  und  nunmehr 
bewusst  mit  ihnen  operire,  denke  ich  im  Kantischen  Sinn 
durch  Begriffe.  Hier  fallen  also  a)  und  b)  zusammen.  Weil 
aber  Kant^  seiner  Aufgabe  gemäss,  von  dem  bewussten  Denken 
redet,  so  entsteht  der  Schein,  als  denke  er  sich  unter  Begriff 
blos  die  fertige  Vorstellung.  So  entstände  freilich  ein  unhalt- 
barer „Kationalismus^',  und  es  wäre  eine  neue  Kritik  der  rei- 
nen Vernunft  von  Nöthen,  welche  die  Formen  der  lebendigen 
Thätigkeit  aufwiese,  durch  die  jene  todten  Begriffe  verknüpft 
sind.  Nun  können  wir  uns  diese  freilich  nie  an  der  Thätig- 
keit selbst  vorstellen,  so  wenig  wie  die  Bewegung  eines.  Ge- 
schosses. Wie  wir  uns  hier  nur  die  Linie,  die  es  beschreibt, 
vorstellen,  so  dort  nur  eine  fertige  Vorstellung,  einen  Begriff. 
Aber  dieser  starre  Begriff  ist  doch  nur  Ausdruck  für  die  Form 
des  Beweglichen,  was  in  mir  vorausgeht  und  die  gleiche 
Thätigkeit,  an  der  er  ursprünglich  Form  ist,  bringt  ihn  selber 
als  Begriff  erst  zu  Stande.  So  kann  ich  von  Begriffen  reden, 
indem  ich,  und  das  ist  grade  ihre  „transcendentale'*  Bedeutung, 
nicht  die  fertige  Vorstellung,  sondern  die  Form  der  Thätigkeit 
meine,  die  durch  jene  Vorstellung  ausgedrückt  ist«  „Die  reine 
Synthesis,  allgemein  vorgestellt,  giebt  den  reinen  Verstandes- 
begriff" (II,  104).  „Der  Verstand  aber  bringt  durch  Hand- 
lungen^' (II,  105)  i.  e.  durch  Thätigkeiten  etwas  zu  Stand. 
„Die  Synthesis  findet  nach  Begriffen^^  statt  (II,  195),  d.  h« 
offenbar:  gemäss  den  Thätigkeiten,  die  eine  Erkenntniss  „des 
Gegenstandes  überhaupt^'  ermöglichen.  , 

Darum  ist  die  Kategorien  -  Deünition  des  Verfassers,  nach 
der  die  Kategorien  „die  Begriffe  von  den  allgemeinsten  for- 
malen Unterschieden  der  Dinge  sind'',  unhaltbar.  Bei  dieser 
Definition  bleibt  die  obige  transcendentale  Fassung  des  Wortes 
„Begriff *'  ganz  ausser  Acht,  und  damit  das  Fundament  des 
Kantischen  Systems  unverstanden.  Es  handelt  sich  um  den 
Ursprung  der  reinen  Verstandesbegriffe.  Nach  diesem  Ge- 
sichtspunkte sind  die  Kategorien  Begriffe  von  den  Formen  der 
allgemeinsten  Thätigkeiten  des  Verstandes,  durch  welche  erst 
Dinge  als  Gegenstände  unserer  Erkenntniss  zu  Stande  kom- 
men.    Die  von  Dr.  Ueberhorst  angeführten  Beispiele  beweisen 


Becensioneo.  489 

grade  für  uns^  vorausgesetzt|  dass  man  sich  nicht  durch  falsche 
Deatung  der  Worte:  ,, Dinge  überhaupt ^^  ^Gegenstände 
überhaupt^,  irre  gemacht  hat,  und  an  concreto  Einzeldinge 
statt  an  die  Bedingungen  der  Dinge  denkt,  sofern  sie  erkannt 
werden  sollen.  Kant  umschreibt  selbst^)  den  Ausdruck  „Ob- 
jecto überhaupt*'  mit  ,36dingungen,  Urtheile  als  objectiv  giltig 
zu  bestimmen".  Eiehl's,  von  Ueberhorst  mit  Eecht  verworfene 
Auffassung,  kommt  wenigstens  in  diesem  Stücke  der  Wahrheit 
etwas  näher.  „Die  logische  Function  wird"  nach  EiehP) 
„zur  Kategorie,  wenn  sie  statt  auf  Begriffe,  auf  Gegenstände 
der  Anschauung  angewendet  wird".  Sie  sind  doch  hier  we- 
nigstens etwas,  was  angewendet  wird.  Indess  sind  sie 
thatsächlich  auch  vorhanden,  wenn  sie  auf  blosse  Begriffe  und 
Ideen  angewandt  werden.  Hier  vermengt  Eiehl  zwei  Fragen, 
die  nach  dem  Ursprung  und  die  nach  der  objectiven  Giltigkeit. 
Sodann  aber  wird  weder  die  logische  Function  zur  Kategorie^ 
wie  Eiehl  meint,  noch  sind  die  Kategorien  in  des  Verfassers 
Sinn  die  verschiedenen  Arten  der  psychischen  Function  des 
Yerstandes  (S.  15),  so  nahe  sie  sich  auch  damit  berühren^). 
Das  fertige  Urtheil  ist  etwas  Gegenständliches,  aber  eben  nur 
die  Darstellung  von  etwas  Beweglichem,  wodurch  es  zu  Stande 
kommt.  Hierzu  gehört  die  urtheilende  Handlung,  das  Urtheilen. 
Diese  vollzieht  sich  aber  nicht  als  Sprung.  Sie  bedarf  einer 
verknüpfenden  Sjnthesis ;  sie  bedarf  ferner,  dass  diese  Synthesis 
bewusst  sei.  Was  verknüpft  nun  in  dem  Urtheil:  Alle  A 
sind  B?  Doch  wohl  dasjenige,  was  in  A  und  B  gemeinsam 
gedacht  wird,  worin  beide  ihre  Einheit  finden.  Einheit  ist 
also  die  diesem  Urtheil  zu  Grunde  liegende  Kategorie.  Wo- 
durch ist  das  Urtheil  „A  ist  B"  verknüpft?  Durch  den  Ge- 
danken  eines  Etwas,   das   einem    andern   inhärirt,    also  durch 


^)  Prolegomena  1783.    S.  120  §  39. 

^)  Der  philosophische  Kriticismus,  I.    Leipzig  1876.  222. 

°j  Es  ist  übrigens  nicht  ganz  ersichtlich,  was  Verf.  darunter 
versteht.  Krit  II,  143  heisst  es :  die  Kategorien  seien  „die  logischen 
Functionen  zu  urtheilen,  sofern"  etc.,  psychisch  ist  aber  nicht  ohne 
weiteres  =  logisch;  das  Bewusstsein  kann  fehlen.  Auf  S.  13  ist 
Verf.  dem  Bichtigen  sehr  nahe,  verliert  es  aber  wieder  durch  den 
Gedanken,  dass  ihnen  die  Bedeutung  zukomme,  „vorhandene 
Synthesen  begrifflich  wiederzugeben**.  Es  handelt  sich  ja  grade 
um  die  Frage  bewusster  Erkenntniss :  Wie  sind  synthetische  Urtheile 
a  priori  möglich?  Damit,  dass  bereits  vorhandene  Zusammenhänge 
begrifflich  werden,  ist  wenig  gethan.  Wir  wollen  neue  Zusammen- 
hänge machen,  d.  1.  synthetisch  urtheUen. 

VieTteljahrsschrift  f.  wissenschaftl.  PMlosophie.    III.  4.  32 


490  Recensionen. 

die  Kategorie  von  Substanz  und  Accidens.  Die  Ableitung 
springt  in  die  Augen. 

Wir  resümiren:  Das,  was  als  Verknüpfungsform  auftritt, 
ist  =39  Kategorie,  sofern  es  bewusst  ist.  Das  verknüpfende 
Handeln  ist  XJrtheilen,  sofern  es  bewusst  ist.  Die  bewusste 
Form  ist  Begri£P,  durch  weilchen  geurtheilt  wird.  'Das  lo- 
gische Ürtheil  ist  nichts  als  der  bewusste  Ausdruck  für  die 
Thätigkeit  der  ohne  dasselbe  blinden  „Function  der  Seele". 
So  ißt  es  dieselbe  Handlung,  welche  in  der  „blinden  Function" 
und  im  bewussten  Urtheil  zu  Grunde  liegt.  Darum  ist  es 
auch  ^^dieselbe  Function,  welche  den  verschiedenen  Vorstellungen 
in  einem  XJrtheile",  und  „der  blossen  Synthesis  verschiedener 
Vorstellungen  in  einer  Anschauung"  Einheit  giebt*). 

Damit  fallt  des  Verfassers  Bekämpfung  des  eben  an- 
geführten Satzes  (S.  22,  24  f.).  Der  in  der  Kritik  (H,  105) 
diesem  folgende  Satz  beweist  dies  direct.  Der  Sinn  desselben 
ist,  dass  dieselben  Thätigkeitsarten,  die  sich  logisch  im  ana- 
lytischen Ürtheil  projiciren,  auch  den  „transcendentalen  In- 
halt", d.  i.  die  „Beziehungen"  (Cohen),  die  Begriffe,  durch 
welche  geurtheilt  wird,  herstellen.  Sie  bringen  also  die  Vor- 
stellungen der  (transcendentalen)  Formen  zu  Stande;  und  auf 
Grund  dieser  Formen  ist  jene  analytische  Thätigkeit  erst 
möglich. 

Dieses  zu  Grunde  liegende  synthetische  Ürtheil  ist  aber 
sowohl  Erkenntnissgrund  als  Kealgrund.  Der  Verfasser  wirft 
(S.  26)  Kant  vor,  er  habe  in  der  zweiten  Auflage  der  Kritik 
beide  fälschlich  vermengt.  Nun  ist  aber  jenes  synthetische 
ürtheil  nur  auf  Grund  der  Einheit  der  Apperception  möglich, 
und  „macht"  so  in  Wahrheit  einen  Zusammenhang  nach 
Gesetzen.  Würde  es  diese  nicht  machen,  also  nicht,  formal 
betrachtet,  Bealgrund  unserer  Erkenntniss  sein,  so  möchten 
uns  wohl  Erscheinungen  gegeben  sein,  aber  es  wäre  uns  nicht 


^)  n.  A.  S.  105.  L  A.  S.  79.  Der  Satz  lautet  weiter  dahin, 
dasB  aiese  Einheit  „allgemein  ausgedrückt  der  reine  Verstandes- 
begriff'' heisse.  Also :  Function  =  Einheit  der  Handlung  (U,  93).  Die 
Einheit,  welche  daraus  resultirt,  allgemein  ausgedrückt,  d.  i.  be- 
wusst geworden  =  Kategorie.  Man  vergleiche  dazu  die  Ausfuhrun- 
fen  Conen's  (Kant's  Theorie  d.  Erfahr.  S.  136):  „Die  Kategorien 
ilden  also  die  Beziehung  der  Einheit  der  Apperception  und  der 
Synthesis  der  Einbildungskraft.  In  ihr  recosnoscirt  die  Apper- 
ception die  Identität  der  durch  alle  die  vornergenannten  Formen 
der  Synthesis  gebildeten  Vorstellungen."  Das  ist,  mit  anderen 
Worten  ausgedrückt,  unser  Resultat 


Beoendonen.  491 

möglich,  irgend  welche  Beziehungen  zwischen  denselben  zu 
finden^  da  diese  ja'  in  ihnen  selbst  nicht  vorhanden  sind. 
Dinge  wären  dann  für  uns  nicht  vorhanden»  sondern  nur  ein 
verwirrender  Wechsel  aller  möglichen  Empfindungsbilder.  Wir 
mögen  uns  sträuben,  wie  wir  wollen;  wenn  wir  mit  den  bis- 
herigen erkenntnisstheoretischen  Mitteln  gegen  Kant  äussern, 
eine  solche  selbst  gemachte  Objectivität  sei  doch  keine  „wirk- 
liche" Objectivität,  sondern  etwas  Subjectives,  das  uns  nur  Ob- 
jecto vorspiegle,  so  erhebt  sich  sofort  die  Gegenfrage:  Wie 
will  ich  von  etwas,  was  nicht  in  mir  ist,  etwas  erkennen? 
Ist  aber  nur  das  mir  Gegebene  erkennbar,  so  ist  es  auch  nur 
nach  den  Gesetzen  erkennbar,  unter  denen  das  Subject  zu  er- 
kennen vermag,  die  es  also  in  das  Object  hineinlegen  muss, 
damit  es  ihm  Object  werde.  Diese  haben  daher  für  meinen 
Erkenntnissgegenstand  objective  Giltigkeit,  und  der  Erkenntniss- 
grund ist  formal  betrachtet  Bealgrund.  Kur  diesen  Eealgrund, 
nicht  aber  denjenigen,  der  das  Dasein  der  Materie  der  Er- 
kenntniss  verbürgt,  will  Kant  hier  untersuchen.  Ob  er  damit 
recht  gethan,  ist  freilich  eine  andere  Frage. 

Nun  werden  wir  leicht  verstehen,  wie  es  kommt,  dass 
der  Yerfasser  Kant  ein  Missverständniss  Hume's  vorwerfen 
kann.  Hume  sagt^):  ^,Ich  wage  es  als  einen  ausnahmslosen 
Satz  hinzustellen,  dass  die  Kenntniss  dieser  Beziehung  (von 
Ursache  und  Wirkung)  in  keinem  Falle  durch  ein  Denken  a 
priori  erreicht  wird,  sondern  dass  sie  lediglich  aus  der  Er- 
fahrung stammt/f  Wäre  die  „Xenntniss  dieser  Beziehung'' 
durch's  Denken  erreicht,  so  wäre  diese,  wie  aus  dem  Ausdruck 
einleuchtet,  reiner  Begriff  im  Eantischen  Sinn^  Dieser  Begriff 
wird  nun  nach  Hume  nicht  durch  das  Denken  erreicht >  son- 
dern „der  wahre  und  richtige  Name"  für  das,  wodurch  er  er- 
reicht wird,  „ist  der  Glaube"  (Unters.  S.  47).  Dieser  unter- 
scheidet sich  nach  Hume  von  der  Einbildungskraft  dadurch, 
dass  er  den  Aussagen  des  Urtheils  grössere  Stärke  als  diese 
giebt.  Dies  grössere  Gewicht  rührt  daher,  dass  „der  Fortschritt 
der  Gedanken"  „mit  einem  den  Sinnen  gegenwärtigen  Gegen- 
stande beginnt^'  (Unters.  S.  51).  Das  heisst  in  Eant's  Sprache: 
Der  Begriff  ist  ^,ein  Bastard  der  Einbildungskraft,  die  durch 
Erfahrung  geschwängert"  ist^).  Man  hat  sich,  sagt  Hume 
weiter,   „gewöhnt",  die  Vorstellung   des  gegenwärtigen  Gegen- 


^)  Untersuchungen  über  den  menschlichen   Verst,  übers,  von 
Kirchmann,  S.  27. 

«)  Prolegomena,  Riga  1783.  Einl.  S.  8. 

32* 


492  Recensionen. 

Standes  mit  der  »^eines  andern  Gegenstandes^'  „zu  verbinden'^ 
(UnterSi  8.  51  u.).  Kant  sagt:  „gewisse  Vorstellungen"  wer- 
den „unter  das  Gesetz  der  Association  gebracht"  (1.  c).  „So 
gebt  (nach  Hume)  der  Fortschritt  von  der  Ursache  zur  Wir- 
kung nicht  von  der  Vernunft  aus,  sondern  beruht  gänzlich  auf 
Gewohnheit  und  Erfahrung^'  (1.  c.)>  Bann  aber  besagt  der 
Satz  Kant's  nicht  im  Mindesten  mehr,  als  Hume  sagen  will. 
Er  drückt  den  Gedanken  genauer  aus,  als  des  Verfassers  Para- 
phrase (S.  53),  die  das  Verhältniss  der  Association  der  blossen 
Einbildung  und  der  des  Glaubens  gar  nicht  berührt.  Bass 
dieser  aber  in  der  Fassung  Eant's  subjective  Zuthaten  zu 
Hume  erblickt,  liegt  darin^  dass  er  den  Verstandesbegriff  Kant's 
zum  formalen  Unterschied  der  Binge  macht.  Bann  wäre  er 
freilich  etwas  ganz  andres  als  „Beziehung"  und  deren  ^^Kennt- 
niss^^^  und  die  neue  Frage  Kantus  nach  dem  Ursprung  dieses 
Begriffs  bliebe  unverstanden.  Auf  dieser  Verkennung  der 
transoendentalen  Frage  beruht  denn  auch  die  falsche  Beutung 
der  Schemata.  Eine  Besprechung  derselben  würde  aber  hier 
zu  weit  fuhren. 

Bie  Arbeit  des  Verfassers  kann  danach  ^  ein  so  redliches 
Bemühen  sie  auch  bekundet,  nach  unserem  Bafürhalten  zu 
einer  positiven  Förderung  des  Verständnisses  für  Kant  nicht 
dienen.  Eine  positive  Förderung  lässt  sich,  wie  wir  glauben, 
nur  dann  erhoffen,  wenn  man  auf  dem  Weg,  den  Cohen  an- 
gebahnt hat,  durch  genaue  Untersuchung  der  Bedeutung  ein- 
zelner Begriffsbestimmungen  bei  Kant  weiterschreitet.  Besu- 
mirende  Zusammenfassungen  werden  sich  dann  von  selbst  er- 
geben^  und  mehr  Gewähr  für  Richtigkeit  haben,  als  wenn  man 
von  vorn  herein,  wie  der  Verfasser,  ganze  Gedankengruppen 
darstellen  will. 

Worms  a/Bh.  F.  Staudinger. 

O  Fositivismo.  Bevista  de  philosophia  dirigida  por  Theo- 
philo  Braga  e  Julio  de  Mattos.  Primeiro  Anno. 
No  !•    Porto  1878. 

„Bie  Principien  einer  Philosophie,  welcher  die  geistige 
Führung  der  neuen  Generation  vorbehalten  ist,  populär  zu 
machen,  zu  entwickeln  und  auf  alle  wissenschaftliche  Fragen 
der  Zeit  anzuwenden,^^  ist  der  Zweck  dieser  neuen  Zeitschrift, 
deren  erstes  Heft  uns  vorliegt.  Bie  darin  gegebenen  Artikel 
rühren  von  Schriftstellern  her,  die  nicht  nur  in  ihrem  eignen 
Lande,  sondern  theilweise  auch  in  der  Fremde  wohlbekannt 
sind.     Sie    sind   nicht    ausschliesslich  philosophischen  Inhalts, 


Becensionen.  493 

denn  es  findet  sich  auch  eine  philologische  Abhandlung  über 
eine  Episode  des  Bämayäna^  eine  kunsthistorische  über  den 
Maler  Gräo-Yasco ,  und  eine  ethnologische  über  den  Ursprung 
und  die  Verbreitung  der  Volksmärchen.  Die  rein  philosophischen 
Aufsätze  werden  eröffnet  durch  den  Einfdhrungsartikel : 
Disciplina  mental  (p.  1 — 15),  wahrscheinlich  von  Herrn 
de  Mattos  herrührend,  in  welchem  Artikel  Stellung  und  Auf- 
gabe der  Philosophie,  d.  h.  der  Philosophie  Auguste  Gomte's, 
discutirt  werden.  Der  philosophische  Fortschritt  besteht  in 
der  Elimination  der  philosophischen  Systeme  oder  Schulen,  die 
im  Laufe  der  geschichtlichen  Entwickelung  sich  gebildet  haben 
durch  eine  übereilte  und  willkürliche  Synthesis  der  Erkennt- 
nisselemente.  Durch  den  Schein  eines  logischen  Zusammen- 
hangs erhielten  sich  diese  Schöpfungen  einer  grübelnden 
Imagination  und  wurden  so  umfangreich  und  complicirt,  wie 
die  alten  Epen,  welche  durch  die  Tradition  aus  dem  indischen 
Mythus  hervorgingen.  Die  Bildung  solcher  Systeme  entspricht 
einem  Bedürfnisse  der  menschlichen  Intelligenz,  sie  repräsentirt 
den  beständig  wiederholten  Versuch,  die  Erkenntniss  durch 
Vereinfachung  zu  concentriren ,  durch  Auffindung  der  Einheit 
in  der  Mannigfaltigkeit.  Mit  den  Wissenschaften  hatten  jene 
Speculationen  nichts  zu  thun,  und  doch  konnten  einzig  diese 
die  Basis  zu  einer  haltbaren  Synthesis  des  Universums  bilden, 
welche  zu  Stande  kommt  durch  die  gleichzeitigen  Processe  der 
Deduction^  in  der  ,,Mesologie",  und  der  Induction,  in  der  Psycho- 
logie, von  denen  jene  mit  der  Erkenntniss  der  objectiven  Welt, 
diese  mit  der  der  subjectiven  Welt  zu  thun  hat.  Die  Tren^ 
nung  zwischen  diesen  beiden  Gebieten  ist  eine  durchaus  künst- 
liche^ das  Ich  ist  keine  abstracte  Wesenheit  oder  Essenz,  die 
durch  Speculation  zu  ergründen  ist^  sondern  die  Erkenntniss 
der  subjectiven  Welt  kann  nur  geschehen  durch  Deduction  aus 
der  Erkenntniss  der  objectiven  Welt;  daher  ist  dieselbe  erst 
möglich  geworden  durch  den  Ausbau  der  Einzel  Wissenschaften^ 
welcher  für  unser  Jahrhundert  charakteristisch  ist.  Sie  ist 
möglich  geworden  einmal,  weil  das  Ich  in  unlösbaren  Be- 
ziehungen zu  der  Katur  steht,  die  den  Gegenstand  der 
Wissenschaften  bildet;  sodann,  weil  der  dogmatische  Theil 
der  Wissenschaften  in  vollständigster  Weise  alle  Phasen 
des  menschlichen  Denkens  zur  Darstellung  bringt  (eaempüßca 
iodos  08  recursos  da  racioncdidade)^  endlich,  weil  die 
gewaltigen  Deductionen  der  Wissenschaften  sich  auf  die 
Inductionen  ganzer  Jahrhunderte  gründen ;  wie  sie  das  Leben 
eines  Einzelnen  nie  ansammeln  konnte ;  weil  sie  also  bedingt  sind 


494  Recensionen. 

durch  die  Solidarität  zwischen  dem  Individaum  und  der  Gat> 
tung,  zwischen  dem  individuellen  oder  psychologischen  Ich, 
und  dem  collectiven  Ich.  Die  Anlagen  des  Individuums  sind 
beschränkt,  die  der  Gattung  eines  Wachsthums  ins  Unbestimmte 
fähig,  und  nur  durch  die  Entwickelung  der  letzteren  konnten 
geistige  Schöpfungen ,  wie  die  der  Sprache,  des  Mythus,  der 
Kunst,  des  Bechts,  zu  Stande  kommen,  Erscheinungen,  welche 
die  alten  Metaphysiker  dem  einzelnen  Ich  zuschrieben  und  aus 
den  allgemeinen  Frincipien  des  Wahren,  Schönen,  Guten  u.  s.  w. 
zu  erklären  suchten.  Die  dynamischen  Erscheinungen,  in  denen 
das  collective  Ich  sich  manifestirt,  werden  gesammelt  von  der 
Geschichte,  während  die  Biologie  es  mit  den  statischen  Er- 
scheinungen zu  thun  hat.  Die  von  diesen  beiden  Wissen* 
Schäften  aufgefundenen  Gesetze  werden  dazu  beitragen,  die 
Vergötterung  der  grossen  Persönlichkeiten  (o  feiichismo  das 
aitds  indimduoMdadea)  zu  beseitigen,  und  damit  die  Gesellschaft 
zu  befreien  von  dem  störenden  Einflüsse  solcher  Männer  wie 
der  Napoleons  u.  a.  Auch  im  Leben  der  Völker  ist  alles  lang* 
same  Entwickelung,  Nur  treten  im  Leben  des  collectiven  Ich 
nicht  minder  als  beim  individuellen  Ich  zeitweilig  Störungen 
ein,  Hallucinationen.  Diese  bilden ,  wie  besonders  Littre  her- 
vorgehoben hat,  einen  Factor,  mit  dem  die  Geschichte  rechnen 
lernen  muss,  um  gewisse  abnorme  Erscheinungen  in  der  Ent* 
Wickelung  der  Gesellschaft  (Flagellanten,  Hexenwesen  u.  dgl.) 
erklären  zu  können.  —  Alle  biologischen  Erscheinungen  sind 
aber  im  Grunde  nur  Functionen  von  Bewegungen.  Die  Modifi- 
cationen  der  Bewegung  bilden  das  gemeinsame  Princip  für  die 
Erklärung  aller  Erscheinungen;  darin  ist  die  philosophische 
Einheit  gegeben,  die  zugleich  den  nothwendigen  Zusammenhang 
der  Einzelwissenschaften  begründet.  Die  abstracten  und  all- 
gemeinen Gesetze  der  Bewegung  untersucht  die  Mathematik; 
das  Princip  der  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegenwirkung^ 
das  der  Coexistenz  und  Unabhängigkeit  der  Bewegungen  hat 
die  Astronomie  bestätigt;  die  Physik  fand  schon  frühzeitig  die 
Thatsache  der  Undurchdringlichkeit,  wenn  auch  viel  später  erst 
das  Gesetz  der  Unzerstörbarkeit  der  Materie,  das  die  Chemie 
durch  die  Analyse  bestätigt  und  durch  das  Gesetz  der  Ver- 
theilung  der  Kräfte  vermehrt;  die  Biologie  gewinnt  aus  den 
Erscheinungen  der  organischen  Transformation  die  Deduction 
der  Bewegung  im  Sinne  des  kleinsten  Widerstandes,  wodurch 
wiederum  die  Specification  der  Functionen  erklärt  wird,  die 
Sociologie  entdeckt  durch  historische  Betrachtung  die  Verviel- 
fiiltigung  der  Wirkungen,  oder  wie  Spencer  es  ausdrückt,  den 


Recensionen.  495 

XJebergang  von  der  Homogenie  zur  Heterogenie,  und  findet 
daraus  die  Thatsache  des  Fortschrittes.  Dieser  Summe  Ton 
inductiven  Grundlagen  gegenüber  begreift  man  die  Nothwendig- 
keit  des  philosophischen  Processes,  der  in  dieser  Mannigfaltig- 
keit die  Einheit  zu  suchen  hat.  Die  philosophische  Synthesis 
wird  erst  definitiv ,  wenn  sieh  bei  ihren  Deductionen  der 
Kaum  durch  die  Zeit  ersetzen  lässt,  wie  bei  der  Untersuchung 
der  verschiedenen  Gleichgewichtszustände  der  Materie,  oder 
die  Zeit  durch  den  Eaum,  wie  bei  der  Eeconstruction  der  or- 
ganischen Entwickelung.  Aus  dieser  Relativität  der  Begriffe 
entspringt  eine  tiefgehende  geistige  Disciplin:  der  subjective 
Begriff  des  Baumes  tritt  unter  den  positiven  Begriff  des  Mit- 
tels^ der  subjective  Begriff  der  Zeit  erhält  einen  philosophischen 
Charakter  in  der  Idee  der  Entwickelung,  und  der  positive 
Begriff  des  Determinismus  ermöglicht  die  Klarheit  der  dyna- 
mischen Weltansicht,  womit  die  traditionellen  Abstractionen 
der  Causalität,  der  Zweckmässigkeit,  des  Zufalls  und  des  Ver- 
hängnisses als  phantastisch  abgewiesen  werden. 

An  dem  soeben  skizzirten  Artikel  erscheint  uns,  abgesehen 
von  mancherlei  ^Nachlässigkeiten  in  Bezug  auf  Schärfe  und 
Durchsichtigkeit  des  Ausdrucks,  die  zuversichtliche  Art  auf- 
fällig, mit  welcher  dem  Dogmatismus  der  alten  philosophischen 
Systeme  gegenüber  Sätze  aufgestellt  werden,  die  ihrerseits 
nicht  minder  den  Charakter  des  Dogmas  tragen.  Es  mag  dies 
daher  kommen,  dass  der  beschränkte  Umfang  einer  solchen 
einleitenden  Abhandlung  die  Begründung  dieser  Sätze  unmög- 
lich machte;  ohne  Zweifel  hängt  es  aber  auch  mit  dem  Cha- 
rakter des  „Positivismus"  zusammen.  Behauptungen,  wie  über 
die  unbegründete  Verehrung  grosser  Männer,  als  abnormer 
Elemente  in  der  Entwickelung  der  Gesellschaft,  können  wohl 
nur  cum  grano  salis  genommen  werden.  Derselbe  Gedanke 
wiederholt  sich  übrigens  in  dem  kleinen  Aufsatze  von  Con- 
siglieri  Pedroso :  „Das  Zufällige  in  der  Geschichte"  (p.  16 — 19): 
Der  Einfluss  socialer  Perturbationen  auf  die  Geschichte  der 
Gesellschaft  sei  nur  oberflächlicher  Natur;  es  werde  dadurch 
die  menschliche  Entwickelung  zwar  verzögert,  manchmal  wohl 
auch  beschleunigt,  aber  doch  nicht  wesentlich  abgelenkt  oder 
umgekehrt.  Ueber  den  „Determinismus  in  der  Psychologie" 
handelt  J.  de  Mattos  p.  20 — 40 :  Nach  einer  kurzen  Dar- 
stellung der  Physiologie  der  Nerven,  im  Anschluss  an  Luys, 
Etudes  de  physiologie  et  pathologie  cSrSbrales,  wird  die  Ansicht 
begründet,  dass  der  Willensact  seinem  Wesen  nach  nur  ein 
complicirter  Eeflez  sei,   daher   wie  alle  Befleze  abhängig  von 


496  Erwiderung. 

den  Sensationen^  daher  bedingt  sei,  also  eine  aatomatische 
Gmndlage  habe.  Damit  erscheint  der  Determinismus  als  eine 
unbestreitbare  Wahrheit,  welcher  nnr  das  Yorurtheil,  die  Un- 
möglichkeit, in  allen  Fällen  den  Complex  der  bedingenden 
Einflüsse  zu  erkennen,  und  der  Schein,  als  ob  verschiedene 
Individuen  unter  gleichen  Einflüssen  zu  verschiedenen,  ja  ent- 
gegengesetzten Willensacten  veranlasst  würden,  sich  entgegen- 
stellen. Für  diesen  Determinismus  (nicht  Fatalismus)  trägt 
nun  auch  die  Strafe  nicht  mehr  den  theologisch-metaphysischen 
Charakter  der  Züchtigung,  sondern  sie  erhält  die  Bestimmung, 
die  bei  einem  Menschen  entweder  durch  Vererbung  oder  durch 
jeweilige  äussere  Umstände  gegebenen  Antriebe  zum  Handeln 
entweder  zu  hindern,  so  lange  sie  nur  virtuell  sind,  oder  zu 
bekämpfen,  wenn  sie  bereits  eflectiv  sind:  sociale  Hygieine 
und  Therapie.  —  Derselbe  Verfasser  giebt  endlich,  p.  64 — 73, 
in  dem  Aufsatze  „Die  Beligion  der  Zukunft''  eine  Kritik  des 
gleichnamigen  Hartmann'schen  Buches.  Den  Fantheismus  H.*8 
könne  die  Zukunft  nicht  annehmen,  weil  diese  Beligionsform, 
wie  Littr^  sagt,  sobald  sie  aus  ihrer  Unbestimmtheit  heraustritt^ 
zu  einer  Art  Fetischismus  führen  würde,  ohne  irgend  eine  der 
Gompensationen  zu  besitzen,  wie  die  älteren  Formen  desselben. 
Da  überhaupt  die  Eeligionen  künftig  nicht  mehr  auf  die  geistigen 
Fähigkeiten  werden  einwirken  können  und  diese  Eolle  den 
Wissenschaften  überlassen  müssen,  so  bliebe  der  Beligion  der 
Zukunft  die  ausschliessliche  Mission,  die  Gefühle  zu  leiten 
(mbordinar)  und  altruistische  Gesinnungen  zu  pflegen;  das 
kann  aber  nur  die  auch  von  St.  Mill  verkündete  Beligion  der 
Humanität. 

So  weit  das  1.  Heft  der  neuen  portugiesischen  philo- 
sophischen Zeitschrift ;  wie  man  aus  dem  Beferat  ersieht,  bringt 
sie  in  der  That,  was  ihr  Titel  verspricht:  „positive  Philo- 
sophie*',  aber  freilich  nur  in  dem  Sinne,  den  A.  Gomte  diesem 
Begriffe  gegeben  hat. 

Weimar.  H.  Wernekke. 


Erwidernng 

auf  eine  «Becension^  des  Prof.  ülrici, 


Das  ungehörige  Verfahren,   die  Besprechung    eines  oder 
einzelner  nach    Willkür  aus   einer  wissenschaftlichen   Arbeit 


Erwiderung.  497 

herausgegriffener  Punkte  ohne  Eücksicht  auf  ihre  Stellung  in 
dem  Plane  des  Ganzen  der  Welt  als  Becension  dieser  Arbeit 
anzubieten  y  ist  aus  der  Praxis  des  Recensentengewerbes  nur 
zu  bekannt.  Es  ist  auch  bekannt,  dass  Prof.  Ulrici  sich  nicht 
scheut^  dieses  ungehörige  Verfahren  zu  dem  seinigen  zu 
machen. 

Der  74.  Band  der  Zeitschrift  für  Philosophie  und  philo- 
sophische Kritik  kündigt  eine  Becension  meiner  Schrift  über 
die  Beziehungen  zwischen  Kategorien  und  Urtheilsformen  an. 
Es  war  meine  Absicht  gewesen  zu  zeigen,  dass  eine  Congruenz 
zwischen  Kategorien  und  Urtheilsformen  weder  principiell  zu 
erweisen  sei,  noch  in  der  That  bestehe,  und  dass  deshalb  das 
Princip  der  metaphysischen  Deduction  der  Kategorien  hinfallig, 
die  Deduction  selbst  unzureichend  und  falsch  sei.  Um  die 
Bedeutung  der  Kategorie  für  Bildung  der  Anschauung  zu  er- 
weisen, hatte  ich  in  der  Einleitung  eine  kurze  Darstellung  der 
Lehre  von  der  Objectivirung  der  Empfindung  gegeben  und  mich 
dabei  nach  meiner  ausdrücklichen  Erklärung  (S.  29  m.  S.)  im 
Wesentlichen  den  Ausführungen  Lotze's  angeschlossen,  welche 
den  Process  der  Objectivirung  als  einen  aus  mehreren  Yer- 
standesacten  bestehenden  erweisen.  Als  ein  Beispiel  dafür,  bis 
zu  welchen  Ausschreitungen  die  einseitige  Betonung  eines 
dieser  Yerstandesacte  auf  Kosten  der  anderen  führen  könne, 
hatte  ich  die  Ulri einsehe  Lehre  von  der  unterscheidenden 
Denkthätigkeit  angeführt,  und  es  wird  sich  sogleich  heraus- 
stellen, mit  welchem  Rechte. 

Hier  knüpft  die  „Recension"  in  der  Zeitschrift  für  Philo- 
sophie an.  Sie  führt  aus,  dass  ich  die  Lotze'schen  Anschauungen 
etwas  schlechter  als  Lotze  selbst  dargestellt,  dass  „die  Ver- 
kennung  eines  positiven  Moments  im  Begriff  des  Unterschiedes 
das  TtqÜTOv  xpevdog  in  Lotze's  Logik  und  Erkenntnisstheorie 
sei'',  dass  aber  „trotz  dieses  Fehlers  Lotze  und  sonach  auch  der 
Verfasser  (i.  e.  meiner  Abhandlung)  im  Grunde  mit  der  Ulrici'- 
schen  Auffassung  der  Art  und  Weise,  wie  unsere  Empfindungen 
objectivirt  und  damit  zu  Vorstellungen  werden,  übereinstimmen'^ : 
um  so  erstaunlicher  sei  es,  dass  ich  die  Ulrici'sche  Lehre  als 
übertrieben  und  einseitig  schlechthin  verwerfe.  Mit  der  Pole- 
mik gegen  meine  Beurtheilung  dieser  Lehre  schliesst  die 
9,Recension''.  Prof.  Ulrici  war  schon  nach  diesem  Wenigen  zu 
der  Ueberzeugung  gelangt,  dass  ich  keine  Beurtheilung  und 
Widerlegung  meiner  eigenen  Ansichten  verdiene.  Nur  dass 
damit  auch  der  Artikel  des  Prof.  Ulrici  in  der  Zeitschrift  für 
Philosophie^  der  meine  Arbeit    zum   Gegenstande  hatte;    das 


498  ErwiderUDg. 

Becht  verlor^  Recension  zu  heissec,  dass  eine  Abwehr  meiner 
Angriffe  das  Höohete  war,  dessen  ich  gewürdigt  werden  durfte, 
dies  hatte  der  Verfasser  der  „Eecension^'  in  seiner  Entrüstung 
übersehen. 

Ich  gehe  jetzt  auf  die  Gründe  ein,  um  derentwiUen  meine 
Ansichten  des  Vorzugs  verlustig  gegangen  sind,  von  Prof.  Ulrici 
widerlegt  zu  werden.  Es  heisst  darüber  (Zeitschr.  für  Philos.  etc. 
Bd.  74,  S.  199): 

^;Ein  Philosoph,  der  die  auf  Beweise  gestützten  Ansichten 
Anderer  so  ungenau  citirt,  so  falsch  auffasst  und  so  willkürlich 
bei  Seite  schiebt ,  verdient  keine  Beurtheilung  und  Wider- 
legung seiner  eigenen  Ansichten.  Es  ist  wenigstens  Niemandem 
zuzumuthen,  die  vielen  Gitate  des  Verf.  aus  Eant's  u.  A. 
Schriften,  von  deren  kritischer  Darlegung  aus  er  seine  Auf- 
fassung vom  Wesen  der  Kategorien  und  deren  Beziehungen 
zu  den  Urtheilsformen  entwickelt,  nachzuschlagen  und  sich  zu 
vergewissern^  ob  sie  genau  wiedergegeben  und  richtig  aufge- 
fasst  sind.'* 

Ich  kann  nicht  glauben,  dass  in  diesen  beiden  Sätzen 
die  verläumderische  Anschuldigung  enthalten  sein  *  solle  ^  ich 
habe  aus  Absicht  oder  Nachlässigkeit  den  Wortlaut  einer 
citirten  Stelle  geändert  oder  eine  auf  dieselbe  bezügliche 
falsche  Angabe  gemacht  —  ein  Sinn,  den  der  unbefangene 
Leser  leicht  deü  obenstehenden  Worten  geben  kann.  Es  kann 
damit  nur  gesagt  sein  sollen^  ich  habe  die  betreffende  Stelle 
wohl  richtig  und  genau  citirt,  aber  die  Wahl  dieser  Stelle  sei 
so  getroffen,  dass  sie  eine  von  Prof.  Ulrici  selbst  verlassene 
und  in  späteren  Schriften  verbesserte  Ansicht  desselben  ent- 
halte oder  dass  in  ihr  unbestimmt  bleibe,  was  an  anderen 
^Stellen  der  Ulrici'schen  Schriften  in  einem  bestimmten  Sinne 
gedeutet  werde.  Aber  auch  in  dieser  Weise  aufgefasst,  ent- 
hält die  Anschuldigung,  die  in  den  angeführten  Worten  der 
Becension  liegt^  nach  den  eigenen  Angaben  des  Prof.  Ulrici 
eine  Unwahrheit.  Es  handelt  sich  um  eine  von  mir  citirte 
Stelle  aus  einem  Vortrag,  den  Prof.  Ulrici  in  der  Philosophen- 
Versammlung  zu  Gotha  im  Jahre  1847  gehalten,  und  der  ab- 
gedruckt ist  in  der  Zeitschrift  für  Philosophie  etc.  Bd.  19. 
Ich  habe  dieselbe  in  meiner  Schrift  (S.  38  u.  39)  wörtlich  so 
wiedergegeben,  wie  sie  in  der  Zeitschrift  für  Philosophie  Bd.  19, 
S.  120  und  12  t  zu  lesen  ist,  wörtlich  so  wie  sie  Prof.  Ulrici 
selbst  hat  in  der  Becension  (S.  196)  wieder  abdrucken  lassen. 
Dieselbe  legt  nach  der  Aussage  der  „Becension*'  (S.  197)  in 
„kurzen,  scharf  pointirten  Sätzen^'  die  Ansicht  des  Prof.  Ulrici 


ErwlderuDg.  499 

dar,  und  eben  deshalb  war  sie  für  mich  von  Werth.  Denn 
da  es  mir  nicht  auf  eine  detaillirte  Darstellung  der  XJlrici'schen 
Erkenntnisstheorie,  sondern  nur  auf  den  Grundgedanken  der- 
selben ankam,  so  knüpfte  ich  an  eine  kurze ,  scharf  pointirte 
Fassung  dieses  Grundgedankens  seine  Besprechung  an.  Dass 
dieser  Grundgedanke  derselbe  ist,  der  auch  den  ausgeführten 
Entwicklungen  der  XJlrici'schen  Theorie  zu  Grunde  liegt,  be- 
weisen die  in  der  ,^Recension''  angezogenen  Schriften.  Auch 
habe  ich  mich  wohl  auf  den  Vortrag  aus  dem  Jahre  1847 
berufen,  ich  habe  mich  aber  nicht  auf  ihn  allein  be- 
rufen, sondern  um  die  XJebereinstimmung  der  in  ihm  ent- 
wickelten Anschauung  mit  anderen  Aeusserungen  des  Prof. 
TJlrici  zu  zeigen,  auch  auf  seine  Logik  S.  59  ff.  (vgl.  m.  S. 
S.  39  Anm.).  Ferner  ist  aber  gerade  aus  der  von  mir  ange- 
führten Stelle  dasjenige  zu  ersehen,  worauf  es  nach  des  Prof. 
TJlrici  Meinung  für  die  Auffassung  derselben  wesentlich  an- 
kommt, dass  nämlich  unter  „all  unser  Denken,  Wahrnehmen  etc." 
verstanden  sei :  „all  unser  bewusstes  Denken,  Wahrnehmen  etc.'' 
Was  die  aus  dem  „Grundprincip  der  Philosophie"  von  der 
„Eeoension^'  angeführte  Stelle  belegen  soll,  das  ergiebt  sich 
nach  den  Worten  der  „Recension"  (S.  197)  aus  der  von  mir 
citirten  Stelle  von  selbst,  dass  nämlich  „nicht  die  Empfindung 
als  solche ,  sondern  das  bewusste  Empfinden  und  Fühlen  von 
der  unterscheidenden  Thätigkeit  abhängig"  gemacht  werde.. 
Ich  habe  also  die  betreffende  Stelle  nicht  nur  vollkommen  ge- 
nau citirt,  sondern  auch  so  ausgewählt,  dass,  wie  die  „Hecen- 
sion"  sagt,  in  ihr  die  erkenntnisstheoretische  Grundansicht  des 
Prof.  Ulrici  in  einem  kurzen  scharf  pointirten  Satze  ausge- 
sprochen ist,  dass,  wie  ebenfalls  die  „Eecension''  sagt,  aus  ihr 
sich  von  selbst  ergiebt,  was  für  die  Auffassung  dieser  Stelle 
wesentlich  ist;  ich  habe  endlich  gezeigt,  dass  sie  mit  anderen 
Auslassungen  des  Prof.  Ulrici,  in  vollkommener  Uebereinstim- 
mung  sich  befindet. 

Die  Becension  behauptet  nun  weiter,  ich  habe  die  von 
mir  angezogene  Stelle  des  XJlrici'schen  Vortrags  falsch  aufge- 
fasst  und  zwar  deshalb,  weil,  obgleich  sich  aus  der  Stelle  von 
selbst  ergebe,  dass  unter  „alles  Empfinden"  ^,alles  bewusste 
Empfinden"  zu  verstehen  sei,  ich  dennoch  auch  das  unbewusste 
Empfinden  mit  darunter  begriffen  habe.  (S.  197.)  Ist  denn 
das  aber  wahr?  und  auf  welcher  Seite  ist  hier  das  Missver- 
ständniss?  Ich  habe  an  der  Behauptung,  dass  alles  Empfinden 
auf  der  unterscheidenden  Thätigkeit  des  Geistes  beruhe,  die 
Ausstellung  zu  machen  gehabt,  dass  in  ihr  eine  Verwechslung 


500  Erwiderung. 

zwischen  psychologischein  Bewusstsejn  und  Selbstbewusstsein 
enthalten  sei,  d.  h.  also,  dass  in  ihr  psychologisch  bewusste 
Empfindungen  mit  solchen  verwechselt  seien,  die  mit  Selbst- 
bewusstsein verbunden  sind,  ich  habe  also  überhaupt  nur  von 
bewussten  Empfindungen  gesprochen ,  nur  bewusste  Empfin- 
dungen in  den  Kreis  meiner  Erörterungen  gezogen,  ich  habe 
also  die  Stelle  aus  dem  Vortrage  des  Prof.  ülrici  genau  so 
aufgefasst,  wie  er  sie  selbst  aufgefasst,  und  dass  ich  sie  so 
aufgefassty  ergab  sich  aus  meiner  Kritik  dieser  Stelle  „von 
selbst". 

Und  nun  zu  dem  dritten  Vorwurfe  der  „Recension",  ich 
habe  eine  auf  Beweise  gestützte  Ansicht  des  Prof.  ülrici  will- 
kürlich bei  Seite  geschoben.  Gesetzt  das  wäre  wahr,  so  wäre 
ich  nach  den  Proben,  die  ich  eben  von  der  gewissenlosen 
Polemik  des  Prof.  ülrici  gegeben,  der  Verpflichtung  überhoben, 
ihm  deswegen  Rechenschaft  zu  geben:  scheut  er  es  ja  nicht, 
sich  der  Verleumdung  als  Waffe  zu  bedienen.  Aber  auch 
diese  dritte  Behauptung  der  „Eecension"  ist  eine  Unwahrheit. 
Denn  wenn  ich  hier  davon  absehe,  wie  es  um  die  ,,Beweise'' 
des  Prof.  ülrici  steht:  willkürlich  bei  Seite  geschoben  hätte 
ich  die  Ansicht  nur  dann,  wenn  ich  die  Gründe  nicht  angegeben 
hätte,  welche  mir  ihre  Unzulänglichkeit  darzuthun  scheinen, 
wenn  ich  sie  einfach  mit  unbegründeten  und  unbegründbaren 
Behauptungen  abgethan  hätte,  kurz,  wenn  ich  so  verfahren 
wäre,  wie  Prof.  ülrici  in  der  „Recension*'  verfährt.  Ich  habe 
aber  den  Grund  angegeben  für  die  behauptete  üntauglichkeit 
der  Ulrici'schen  Lehre  von  der  unterscheidenden  Denkthätig- 
keit,  und  dieser  Grund  ist,  dass  sie  das  psychologische  Be- 
wusstsein  mit  dem  Selbstbewusstsein  des  denkenden  Wesens 
vermischt.  Dagegen  führt  Prof.  ülrici  an,  er  habe  in  seiner 
Psychologie  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  ausdrücklich 
unterschieden.  Was  ist  aber  damit  gewonnen?  Es  können 
diese  Begriffe  in  der  ülrici'schen  Psychologie  wohl  formell 
unterschieden  sein,  und  trotzdem  können  sie  in  seinem  von 
mir  citirten  Vortrage,  sie  können  in  seinem  ganzen  System, 
sie  können  in  dieser  Psychologie  selbst  factisch  verw'eohselt 
und  vermengt  sein,  und  so  ist  es  in  der  That.  Denn  eben 
in  dieser  Psychologie  heisst  es  (1.  Aufl.  S.  320)^),  dass  das 
Bewusstsein  das  Selbstbewusstsein  involvire. 

Zum  Schluss  nur  noch  eine  kleine  Berichtigung  in  Bezug 
auf  eine  „ungenaue"  Angabe  des  Prof.  ülrici.     Die  „Recension" 


^)  Die  2.  Auflage  war  mir  nicht  zugänglich. 


Selbstanzeigen.  501 

fängt  mit  den  Worten  an :  ,,Der  Verfasser  dieser  Abhandlung 
schliesst  sich  an  H.  Lotze  an*'  und  in  dieser  Allgemeinheit  ist 
diese  Behauptung  ebenfalls  unwahr.  Vielmehr  stehen  all  meine 
Auseinandersetzungen  über  die  Beziehungen  zwischen  Katego- 
rien und  Urtheilsformen,  welche  den  grössten  und  wesentlichen 
Theil  meiner  Schrift  ausmachen,  ausser  jeder  Beziehung  zu 
Arbeiten  Lotze's  aus  dem  einfachen  Grunde ,  weil  mir  keine 
Untersuchungen  dieses  Forschers  über  den  gleichen  Gegenstand 
bekannt  sind.  Hält  man  die  ,,XJngenauigkeit"  dieser  Angabe 
zusammen  mit  der  Thatsache,  dass  meiner  Kritik  der  Ulrici*- 
sehen  Urtheilslehre ,  die  sich  am  Ende  meiner  Schrift  (S.  111 
bis  114)  findet,  in  der  „Recension"  mit  keinem  Worte  Er- 
wähnung geschieht,  während  doch  die  Kritik  der  Lehre  von 
der  unterscheidenden  Denkthätigkeit  zu  verblendeter  Leiden- 
schaftlichkeit gereizt  hatte,  so  gewinnt  die  Annahme  grosse 
Wahrscheinlichkeit^  dass  Prof.  Ulrici  meine  Schrift  nicht  nur 
nicht  beuitheilt  und  widerlegt,  sondern  nicht  einmal  gelesen 
habe.     »^N'icht  einmal  gelesen"  —  und  doch  „reoensirt." 

Göttingen.  J.  Jacobson, 


Selbstanzeigen. 

Baerenbach,  Fr.  von.    Herder  als  Vorgänger  Dar» 
win'e    und     der    modernen    Naturphilosophie. 
Beiträge    zur    Geschichte     der    Entwickelungslehre    im 
18.  Jahrhundert.    Berlin  1877.    Th.  Grieben. 
Der  Verfasser,  welcher  die  vorbereitende  und  bahnbrechende 
Bedeutung  Herder's    auf  einigen  bedeutungsvollen  Forschungs- 
gebieten eindringlich  erörtert,  unternimmt  es  mittels  vergleichen- 
der Zusammenstellung  markanter  Aussprüche  aus  den  Werken 
Herders,   wie  der  bedeutsamsten  Vertreter  der  modernen  Ent- 
wickelungstheorie   und  der  Darwin'sehen  Zuchtwahllehre  nach- 
zuweisen, dass  Herder  vornehmlich  in  seinen  „Ideen  zu  einer 
Philosophie  der  Geschichte  der  Menschheit^'  die  philosophischen 
Grundgedanken    jener    Theorien    (zum    Theile    wohl    angeregt 
durch  Kant  und  Goethe,   gewiss  aber  nicht  ohne  Originalität) 
anticipirt  hat. 

Baerenbach,  Pr.  von.  Gedanken  über  die  Teleo- 
logie  in  der  Natur.  Ein  Beitrag  zur  Philosophie  der 
Naturwissenschaften.     Berlin  1878.    Th,  Grieben. 

Die  gründlichere  erkenntnisstheoretische  Untersuchung  de» 


502  Selbstanzeigen. 

Zweckbegriffs  föbrt  den  Verfasser  zu  dem  Ergebniss,  dass  auch 
eine  wissenschaftliche  Philosophie,  welche  sich  die  Entwicke- 
lung  und  Lösung  immanenter  Probleme  zur  Aufgabe  gestellt 
hat,  sowohl  die  Teleologie  als  heuristische  Maxime  (Kant)  als 
auch  eine  objective  ^^den  Erscheinungscomplexen  immanente, 
natürliche  Teleologie^'  anzunehmen  veranlasst  sei.  Der  Ver- 
fasser kritisirt  die  Teleophobie  des  Materialismus  und  einiger 
Naturforscher  und  führt  zunächst  den  erkenntnisstheoretischen 
Nachweis^  dass  eben  die  Entwickelungslehre  und  insbesondere 
die  Zuchtwahltheorien  Darwin's  keineswegs  die  vermeintliche 
Theorie  der  Zwecklosigkeit,  sondern  in  unzweideutiger  Weise 
eine  Theorie  der  immanenten  natürlichen  Teleologie  enthalten, 
die  allerdings  von  den  traditionellen  teleologischen  Irrvorstellun- 
gen und  „Weltansichten**  toto  genere  verschieden  sei, 
Bilharz;  Alf.  Der  heliocentrische  Standpunkt 
der  Weltbetrach  tu  n^.  Grundlegungen  zu  einer 
wirklichen  Naturphilosophie.  Mit  13  Holzechn.  Stutt- 
gart, Cotta.    (XVI  und  326  S.  8».) 

Das  Sein  tritt  in  das  Bewasstsein  des  Erkennenden,  wel- 
cher am  Sein  participirt,  aber  nicht  das  ganze  Sein  ausfüllt, 
unmittelbar  oder  durch  innere  Erfahrung  als  partielles  Sein, 
als  individuelles  Sein,  als  umgrenztes  Sein,  als  gehemmtes 
Sein ,  daher  Drang  zu  Sein  oder  Wille  zum  Leben ,  kurz  als 
„Wille",  dem  ein  anderer  Drang  zu  Sein  oder  Wille  entgegen- 
steht. —  Ist  der  Individualwille  des  erkennenden  Subjects  = 
subjectiver  Wille,  weil  Wollen  und  Erkennen  im  Ich  oder  dem 
„Subjectpunct^*  identisch  vereinigt  sind,  so  ist  der  entgegen- 
stehende Wille  =  objectiver  Wille,  und  so  erhält  man  zwei 
ganz  verschiedene  Subject-Object-Relationen ,  von  denen  die 
eine  die  Welt  des  Bewusstseins,  die  andere  die  Welt  des 
Seins  ausmacht  und  welche  beide  in  dem  „Pivotbegriff"  des 
Subjects  zusammenstossen.  —  Die  Grenze  zwischen  subjectivem 
und  objectivem  Willen  ist  die  reale  Grundlage  des  Baumes, 
der  subjective  Eaum  also  die  nach  innen  gewendete  (negative) 
Hälfte  derselben.  Zeit  ist  der  reciproke  Werth  des  objec- 
tiven  Willens  oder  der  Kraft.  Beide  werden  im  Denkact,  der 
hierdurch  sich  mit  einem  Willensact  als  identisch  erweist, 
nach  auswärts  umgedreht,  und  so  wird  das  mit  dem  objectiven 
Willen  vollkommen  übereinstimmende  hüllenhafte ,  leere  Vor- 
stellungsgebilde hergestellt.  —  Hierdurch  erweist  sich  die 
Metaphysik  als  eine  der  Wissenschaft  der  sinnlichen  Erfah- 
rung vollkommen  ebenbürtige  —  mit  bestimmtem  Forschungs- 
feld  (dem  Subject),   mit  bestimmtem  Umfang  (ebendemselben, 


Selbstaozeigea.  503 

den  die  Welt  des  Binnlichen  Erkennens  hat),  einem  bestimm- 
ten Inhalt  (dem  Willen  und  dessen  Dependenzbegriffen)  und 
auch  mit  bestimmter  Denkform^  nämlich  der  des  logischen 
Widerspruchs  oder  der  contradictori sehen  Attribute. 
Denn  indem  die  für  äussere  Erfahrung  gültige  Causalität 
ebendesswegen  für  die  innere  nicht  gelten  kann,  wir  aber 
doch  die  gsinz  auf  Causalität  gebaute  Sprache  nicht  missen 
können  y  so  vermag  nur  die  Zulassung  des  contradictorischen 
Gegentheils  einer  Bestimmung  den  begangenen  unvermeidlichen 
Fehler  auszugleichen,  —  Indem  hier  der  Widerspruch  legitim 
gemacht  wird,  löst  sich  das  Problem  der  Willensfreiheit,  und 
in  dem  auf  den  immanenten  Gegensatz  im  metaphysischen 
Wesen  sich  gründenden  „ethophysi sehen"  Gesetz  der  Er- 
haltung des  Willens  ist  das  Fundament  der  Moral  ^  als  einer 
immanenten  Wissenschaft,  aufgefunden. 
JjBBSy  Ernst.  Idealismus  und  Positivismus.  Eine 
kritische  Auseinandersetzung.     Erster,   allgemeiner   und 

f  rundlegender  Theil.     Berlin,  Weidmännische  Buchhand- 
mg,  1879.    275  S. 

Unter  Anknüpfung  an  Piatons  Theaetet  und  den  in 
diesem  Dialog  dargestellten  Gegensatz  gegen  die  sensualisti- 
schen,  heraklitisirenden  imd  relativistischen  Leh- 
ren, welche  daselbst  mit  dem  Namen  des  Protagoras  be- 
zeichnet worden  sind,  werdender  platonische  „Idealis- 
mus** und  sein  Widerspiel  —  für  das  letztere  wird  der  Ter- 
minus „Positivismus"  verwerthet  —  in  ihren  ursprüng- 
lichen Gestalten  vorgeführt  und  in  die  hervorragendsten  und 
der  wissenschaftlichen  Berücksichtigung  werthesten  Entfaltungen 
und  Weiterbildungen  verfolgt,  welche  bisher  stattgefunden  haben. 
Die  Voraussetzung  ist,  dass  die  Geschichte  der  Philosophie 
keinen  fundamentaleren  Gegensatz  aufzuweisen  hat, 
als  den,  welcher  mit  diesen  beiden  Standpunkten  gegeben  ist. 
Es  wird  eine  kritische  Auseinandersetzung  zwischen 
ihnen  beabsichtigt.  Die  philologisch-historischen  Fra- 
gen, wie  z.  B.  die,  in  wie  weit  die  Lehren,  welche  Piaton  be- 
kämpft, wirklich  protagoreischen  Ursprungs  seien,  werden  nur 
80  weit  erörtert,  als  es  der  philosophischen  Aufgabe  dien- 
lich zu  sein  scheint.  Der  vorliegende  erste  Theil  hält 
sich,  nachdem  das  Thema  ausgesponnen  ist,  vorzugsweise  an 
die  allgemeinen  und  principiellen  Gharakterzüge  des 
aufgestellten  Gegensatzes.  Unter  den  Flatonikem  sind  an 
erster  Stelle  Aristoteles  und  Kant  berücksichtigt;  nächst 
ihnen  Descartes,   Leibnitz,   Fichte,  Schelling,  He- 


504  Philo8ophi8che  Zeitschriften. 

gel,  Cousin,  Hamilton  and  Andere.  Den  beiden  folgenden 
Theilen  ist  es  aufbehalten  ^  die  kritisohe  Auseinandersetzung 
zwischen  den  beiderseitigen  Principien  in  das  Gebiet  der  Ethik 
und  Wissenschaft  sichre  zu  verfolgen.  Doch  drängt 
schon  jetzt  die  Discussion  der  zu  Gunsten  des  Platonismua 
Torgebrachten  allgemeinen  Argumente^  sowie  die  Dar- 
legung der  hinter  ihm  treibenden  Gefühle  und  Bedürf- 
nisse und  der  sichtbar  gewordenen  praktischen  Folgen 
zu  dem  Ergebnisse  dass  der  platonische  Idealismus  zwar 
psychologisch  sehr  wohl  begreiflich  und  dem  mensch- 
lichen Gemüthe  in  hohem  Grade  sympathisch,  aber  auch 
wissenschaftlich  durchaus  unbegründbar  und  zu  nicht 
geringem  Theile  culturgefährlich  sei;  und  dass  anderer- 
seits kein  Grund  zu  finden  ist,  der  nöthigte,  den  Boden  des 
Positiyismus  zu  verlassen;  dass  insonderheit  keines  der  dem 
gebildeten  Menschengeiste  werthvollen  und  unentbehrlichen 
Ideale  in  Gefahr  geräth,  wenn  man  die  platonisch- 
romantische Flucht  in  ein  „höheres^',  unerfahr- 
bares  Sein  von  sich  fem  hält. 


Philosophische  Zeitschriften. 


Philosophische  Monatshefte. 

Band  15,  Heft  4  und  5:  H.  Hoff  ding:  Die  Philosophie 
in  Schweden.  —  E.  Wille:  Ueber  das  Nirgendssein  der 
Vorstellungen.  —  W.  Schuppe,  Erkenntnissth.  Logik;  bespr. 
von  J.  Witte.  —  M.  Kahler,  Das  Gewissen;  bespr.  von 
G.  Knauer.  —  F.  v.  Baerenbach,  Grundlegung  der  krit. 
Philosophie;  bespr.  von  A.  Richter.  —  Th.  Vogt,  J.  Kant 
über  Pädagogik;  bespr.  von  C.  S.  Bar  ach.  —  Litteratur- 
bericht:  Huber;  Spir;  Lyng;  Windelband;  Siebeck;  Sobczyk; 
Confucius,  deutsch  von  Plaenckner;  Vogel.  —  Bibliographie 
von  F.  Ascherson.  —  Vorlesungen.  —  Aus  Zeitschriften.  — 
J.  Huber's  Nekrolog  von  F.  Jodl.  —  Miscellen. 
Zeltschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik. 

Band  75,  Heft  1:  G.  Glogau:  üeber  die  psychische 
Mechanik.  —  K.  Falckenberg:  Ueber  den  intelligiblen 
Charakter.  —  L.  Weis:  J.  Sengler  (2te  Hälfte).  —  Eecen- 
sionen:  E.  Zeller,  Vorträge  und  Abhandlungen.  II.;  von  Fr. 
Hoffmann.    —    Fr.  v.   Baerenbach,    Prolegomena  zu  einer 


Philosophische  Zeitschriften.  505 

anthropologischen  Philosophie ;  von  demselben.  —  Schriften  zur 
Aesthetik:  S.  A.  Byk,  Die  Psychologie  des  Schönen;  K.  Eöst- 
lin,  lieber  den  Schönheitsbegriff;  S.  Eubinstein,  Psychologisch- 
ästhetische Essays;  C.  IN'eudecker;  Studien  zur  Geschichte  der 
deutschen  Aesthetik  seit  Kant;  von  M.  Carriere.  —  M.  La- 
zarus, Geist  und  Sprache;  von  G.  Glogau.  —  R.  Avenarius, 
Philosophie  als  Denken  der  Welt  etc.;  von  J.  Rehmke.  — 
Herder's  sämmtl.  Werke,  hrsg»  von  B.  Suphan,  Bd.  I  u.  II; 
von  Fr.  v.  Baerenbach.  —  V.  di  Giovanni,  H^tmann  e 
Miceli;  von  H.  XJlrici.  —  Kaufs  Kr.  d.  Urtheilskraft  und 
Kr.  der  prakt.  Vernunft,  hrsg.  von  K.  Kehrbach;  von  dem- 
selben. —  C.  Goebel,  Prof.  Helmholtz*  Rede  über  das  Denken 
in  der  Medicin  und  die  Aufgabe  der  Philosophie;  und  0.  Cas- 
pari,  Virchow  und  Haeckel  vor  dem  Forum  der  methodologischen 
Forschung;  von  demselben.  —  In  Sachen  der  wissenschaftlichen 
Philosophie.  Erklärung  von  H.  Ulrici.  —  Entgegnung  von 
Th.  V.  Varnbüler.  —  Notizen.  —  Bibliographie, 
Bevue  Philosophique  de  la  France  et  de  l'Etranger. 

Jahrgang  4,  Heft  5:  D.  Nolen":  Les  maitres  de  Kant.  I.  — 
Straszewski:  Herbart :  sa  vie  et  sa  philosophie  d'apräs  des 
publications  r^centes.  —  Th.  Beinach:  Le  nouveau  livre  de 
Hartmann  sur  la  morale  (2®  art.).  —  Analyses  et  comptes  ren- 
dus:  Helmholtz,  Die  Thatsachen  in  der  Wahrnehmung.  Spir, 
Denken  und  Wirklichkeit;  Dupont  White,  Fragments  philoso- 
phiques;  Herzen,  La  condizione  fisica  della  coscienza.  —  Eevue 
des  periodiques  etrangers. 

Heft  6:  G.  S^ailles:  La  science  et  la  beaut^:  Travaux 
r^cents  sur  l'esth^tique.  —  Th.  Bein  ach:  Le  nouveau  livre 
de  Hartmann  sur  la  morale  (fin).  —  Straszewski:  Her- 
bart (fin).  —  Notes  et  documents:  Histoire  de  la  Sensation 
^lectrique,  par  G.  Pouche t.  —  Analyses  et  comptes  rendus: 
Franck,  Philosophes  modernes;  Maillet,  L^essence  des  passions; 
Mac  Cosh,  The  laws  of  discursive  thought.  —  Correspondance : 
La  conscience  et  la  desintegration,  par  A.  H  e  r  z  e  n.  —  Revue 
des  periodiques.  —  Une  enquete  esthdtique:  Les  sons  et  les 
Couleurs. 

Heft  7:  A.  Fouill^e:  La  philosophie  des  idees-forces 
(1®^  art.),  —  L.  Liard:  Theorie  de  la  science  et  de  Tinduc- 
tion  d'apres  Whewell.  —  A.  Baudouin:  Histoire  critique  de 
Jules  Cdsar  Vanini  (1®' art).  —  F.  Paulhan:  L'erreur  et  la 
s^lection  (1^  art.).  —  Analyses  et  comptes  rendus :  E.  Egger^ 
Observations  et  rdflexions.  sur  le  d^veloppement  de  l'intelli- 
gence  et  du  langage  chez  les  enfants;  A.  Baiu;    Education  as 

VierteljahrsscliTift  f.  wissenschaftl.  Philosophie.    III.  4.  33 


506  Philosophische  Zeitschriften. 

a  Bcience;  Fr.  Harms ^  Die  Philosophie  in  ihrer  Geschichte; 
H.  Siebeck,  La  conscience  consid^r^e  comrae  limite  de  la  con- 
naissance  naturelle;  H.  Berg^  Le  plaisir  musical;  J.  Lnys,  Etüde 
Bur  le  d^doublement  des  Operations  cdr^brales  etc.  —  Notices 
bibliographiques :  Eunape;  Frege;  Jellinek;  Herzen. 

Heft  8:  D.  Nolen:  Les  maitres  de  Kant  IL  Newton.  — 
L.  Carrau:  Le  dualisme  de  Stuart  Mill.  —  A.  Baudouin: 
Histoire  critique  de  Vanini  (2®  art.).  —  F.  Paulhan:  L'erreur 
et  la  s^lection  (2  ®  art.).  —  Analyses  et  comptes  rendus :  Asti^, 
Melanges  de  th^ologie  et  de  philosophie;  Windelband ,  Ge- 
schichte der  neueren  Philosophie  (t.  I.) ;  G.  Martins,  Zur  Lehre 
vom  Urtheil;  Turbiglio,  Le  antitesi  tra  il  medioevo  e  Teta 
moderna.  —  Revue  des  periodiques  ^trangers. 
La  Philosophie  Positive. 

Jahrgang  12,  Heft  1:  H.  Stupuy:  Deux  mesures  oppor- 
tunes. —  £.  Littr^:  Gomment,  dans  deux  situations  histo- 
riques,  les  S^mites  entrerent  en  comp^tition  avec  les  Aryens 
pour  rh^g^monie  du  monde,  et  comment  ils  y  faillirent.  — 
R.  Jeudy:  Faits  psychometriques.  —  L.  Arr^at:  La  con- 
science dans  le  drame  (suite).  G.  S. :  La  rose.  Eltude  esthe- 
tique  (fin).  —  H.  Boens:  La  criminalit^  au  point  de  vue  so- 
cialogique.  —  E.  dePompery:  Un  cas  de  socialisme  pra- 
tique.  —  A.  Wilhem:  Les  deux  morales  de  Tetat.  —  P. 
Petroz:  Salon  de  1879.  —  ]fe.  Littr^:  Exp^rience  r^tro- 
spective  au  sujet  de  notre  plus  r^cente  histoire.  —  Biblio- 
graphie. 
Mind. 

Heft  15:  Grant  Allen:  The  Origin  of  the  Sense  of 
Symmetry.  —  W.  James:  The  Sentiment  of  Bationality.  — 
C.  Kead:  K.  Fischer  on  English  Philosophy.  —  J.  N,  Key- 
nes:  On  the  Position  of  Formal  Logic.  —  A.  Bain:  J.  St. 
Mill.  (n.)  —  F.  C.  Edgeworth:  The  Hedonical  Calculus. — 
Notes:  The  so-called  Idealism  of  Kant,  by  H.  Sidgwick; 
AUeged  Suicide  of  a  Dog,  by  H.  Maudsley;  Experiments 
with  Human  Beings,  by  G.  C.  Robertson.  —  Critical  No- 
tices:  Grant  Allen's  Colour-Sense,  by  J.  Sully;  Courtney*s  Meta- 
physics  of  J.  S.  Mill,  by  G.  C.Robertson;  Sigwart's  Logik, 
by  J.  Venu;  Lotsij's  Spinoza's  Wijsbegeerte,  by  F.  P  o  1 1  o  c  k.  — 
New  Books.  —  Miscellaneous. 
La  Filosofla  delle  Souole  Italiane. 

Band  19,  Heft  3:  T.  Mamiani:  Della  preghiera  religiosa 
e  come  e  quando  sia  efficace.  —  L.  Ferri:  ll  trattato  di 
Cicerone   sui  doveri.  —   Fr,  L.  Pull^:  Dei   sistemi  filosofici 


Bibliographische  Mittheilangen.  507 

deir  India.  —  B.  Bobba:  La  dottrina  della  libertä  secondo 
Spencer  in  rapporto  coUa  morale.  —  Bibliografia :  A.  L.  Kym ; 
C.  Cantoni;  G.  Barco;  A.  Conti  e  G.  Bossi;  E.  0.  Burman; 
L.  Polacco;  A.  Torre;  F.  v.  Baerenbach.  —  Periodici  di  filo- 
Bofia.  —  Notizie.  —  Becenti  pubblicazioni. 


Bibliographische  Mlttheilnngen. 


Alaax  (J. •£•).! — De  la  Metaphyedque  ooncdderee  comme  scienoe. 

In-8.     7  fr.  60. 

Aristote  —  M^tapbysique«  traduite  en  f^ancais,  aveo  des  notes 
perp^tuelles«  par  Barthelemy-Saint-Hilaire.  3  vol.  iii-8.  30  fr. 

Aristotelis  physica.  Reo.  Card.  Prantl.  8.  (VI,  211  S.)  Leipzig, 
Teubner.     1.  50. 

Bacon  (Francis).  —  Aocount  of  Life  and  Times  of.  Extracted 
trom  Occasional  Writings  bj  James  Spedding.  2  vols.  Cr.  8to.  11,  1  s. 

Bacon's  Essays.  Text  only,  with  Index.  Bj  Edwin  A.  Abbott, 
D.D.     ISmo.  28.  6(2. 

Bacon's  Essays,  XXXII— LYIIL  With  Introduotion  and  Notes 
by  Rev.  Henry  Lewis.    Fcp.  Is.  ßd,    Complete,  fcp.  2  s.  ßd, 

Bahnsch,  Dr.  Frdr.  des  Epicureers  Fhilodemus  Schrift  Ilegl 
arifXBCtov  xal  arifÄSuoaetov.  Eine  Darlegg.  ihres  Gedankengehalts, 
gr.  8.    (38  S.)  Lyck,  Wiebe.     1.  — 

Bain's  (Dr.  Alexander)  Education  as  a  Science.  Cr.  8yo.  5  s. 
(International   Scientific  Series.) 

Baltzer,  Ed.,  Empedocles*  Eine  Studie  zur  Philosophie  der 
Griechen,     gr.  8.     (III,  163  S.)    Leipzig,  Eigendorf.     2.  40. 

Bartels,  Dr.  Erich,  üb.  Systembildung.  Philosophische  Studie, 
gr.  8.    (63  S.)  Berlin,  Grieben.     1.  20. 

Bechtel,  Fritz,  üb.  die  Bezeichnungen  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmungen in  den  indogermanischen  Sprachen,  gr.  8.  (XX, 
168  S.)    Weimar,  Böhlau.     5.  — 

Bergmann,  Prof.  Dr.  J.,  allgemeine  Logik.  [In  2  Thln.]  1.  Tbl. 
A.  u.  d.  T.:  Keine  Logik,  gr.  8.  (VIII,  434  S.)  BerKn, 
Mittler  &  Sohn.     8.  — 

Berkeley's  Abhandlungen  üb.  die  Principien  der  menschlichen. 
Erkenntniss.  Ins  Deutsche  übers,  u.  m.  erläut.  u.  prüf.  Anmerkgn. 
versehen  v.  weil.  Prof.  Dr.  Frdr.  Ueberweg.  2.  Aufl.  8.  (XW, 
149  S.)    Leipzig,  Koschny.      1.  — 

Berkeley  —  Selections  from.  With  Introduction  and  Notes  by 
Alexander  Campbell  Fräser,  LL.D.  2nd  Edit  Cr.  Svo.  7  a.  6(2. 

Bianconi  (G.  Giuseppe).  La  teoria  darwiniana  e  la  creazione 
detta  indipendente«  seconda  edia.  riveduta»  con  21  tavole; 
in-8,  pag.  464.    Bologna  1879.    L.  10.  — 

33* 


508  Bibliographische  Mittheilungen. 

Billiarz,  Dr.  Alf.,  der  heliooentrlBche  Standpunkt  der  Welt- 
betrachtung. Grnndlegangen  zu  e.  wirkl.  Naturphilosophie.  Mit 
13  Holzscbn.     gr.  8.     (XVI,  326  S.)     Stuttgart,  Cotta.    6.  — 

Broehard,  Prof.  Tict«,  de  assensione  Stoici  quid  senserint  dis- 
quisivit.    gr.  8.    (53  S.)    Farisiis    (Nancy,  Berger-Levrault  &  Co.) 

1.  92. 

Carpenter's  (Dr.  William  B.)  Frinciplea  of  Mental  Fhysio- 
logy.     5th  Edition.     Cr.  8vb.  12  s. 

Carran  (L.)«  —  liltudes  sur  la  theorie  de  l'evolution  aux 
Points  de  vue  psychologique ,  religieux  et  moral.  In- 12. 
3  fr.  50. 

Class,  Prof.  Dr.  G«,  üb.  d.  Frage  nach  dem  ethischen  Werth 
der  Wissenschaft.  Akademische  Antrittsvorlesg.  gr.  8.  (16  S.) 
Erlangen,  Deichen.     —  30. 

Conrtney's  (W.  L.)  The  Metaphysics  of  John  Stuart  Mill. 
Cr.  8vo.  5  s.  6(2. 

Bahn,  Prof.  Dr.  Felix ,  die  Vernunft  im  Recht.  Grundlagen  der 
Bechtsphilosophie.     gr.  8.     (XII,  220  S.)    Berlin,  Janke.     4.  — 

Barwin's  (Charles)  The  Descent  of  Man.  2nd  Edition.  Cr. 
8vo,  9  s. 

Benls  (J*).  —  Histoire  des  theories  et  des  idees  morales  dans 
l'antiquite.     2e  Edition.     2  vol.  in-8.    10  fr. 

Espinas  Dr.  Alfr.»  die  thierischen  Oesellsohaften.  Eine  ver- 
gleichend-psycholog.  Untersuchg.  Nach  der  vielfach  erweit.  2.  Aufl. 
unter  Mitwirkg.  d.  Verf.  deutsch  hrsg.  v.  W.  Schlosser.  Autoris. 
Ausg.  gr.  8.    (Xni,  561  S.)     Braunschweig,  Vieweg  &  Sohn.    10.  — 

Feehner,  Gust*  Thdr«^  die  Tagesansicht  gegenüber  der  Nacht- 
EDSicht.     gr.  8.     (VI,  274  S.)     Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.     5.  50. 

Feuerbaeh^  Ludwig.  Ausspruche  aus  seinen  Werken,  gesammelt 
V.  Leonore  Feuerbach.     8.     (IX,    165  S.)    Leipzig,  O.  Wigand. 

2.  — 

Flint's  (Dr.  Bobert)  Anti-Theistic  Theories:  being  the  Baird 
Iiecture  for  1877.    Cr.  8va.  10  s.  6(2. 

Focke^  Bud.)  der  Causalitätsbegriff  bei  Fichte.  Inaugural-Disser- 
tation.    gr.  8.     (59  S.)    Königsberg  (Härtung).     1.  65. 

Franck  (Ad.)*  —  Fhilosophes  modernes  etrangers  et  fran9ai8. 
In-12.     3  fr.  50. 

Frantz^  Const«^  Schellings  positive  Philosophie,  nach  ihrem  In- 
halt, wie  nach  ihrer  Bedeutung  f.  den  allgemeinen  Umschwung  der 
bis  jetzt  noch  herrschenden  Denkweise,  f.  gebildete  Leser  dargestellt. 
1.  allgemeiner  Thl.  gr.  8.  (XVI,  275  S.)  Köthen,  SchetÜer's 
Verl.    5.  — 

Oermain  (Sophie).  —  Oeuvres  philosophiques,  suivies  de  pens^es 
et  de  lettres  in^dites,  et  d'une  notice  par  H.  Stupuy.     In-12.     4  fr. 

Gnyan.  —  La  morale  anglaise  oontemporaine.  Morale  de  Tuti- 
lit^  et  de  T^volution.    In-8.     7  fr.  50. 

Hellenbach ,  Lazar  B.^  die  Vorurtheile  der  Menschheit.  1.  Bd. 
gr.  8.    (VII,  364  S.)     Wien,  Bosner.     6.  — 


Bibliographische  Mittheilongen.  509 

Hennlngr,  Arendt  der  Sceptioismas  Montaigne's  u.  seine  ge- 
BChichtliche  Stellung.  Inaugural  -  Dissertation,  gr.  S.  (51  S.) 
Jena,  (Nenenhahn).     1.  — 

Holf^ann^  Prof.  Dr.  Frz«^  philosopbisohe  Schriften.  6.  Bd.  gr.  8. 
(VIT,  472  S.)     Erlangen,  Deichert.     6.    - 

Uohlfeld;  Dr.  Panl^  die  Krause'sche  Philosophie  in  ihrem  ge- 
schichtlichen Zusammenhange  u.  in  ihrer  Bedeutung  f.  das 
Geistesleben  der  Gegenwart.  Von  der  philosoph.  Facultät  der 
Universität  Jena  gekrönte  Freisschrift,  gr.  8.  (XIV,  146  S.)  Jena, 
Costenoble.    4.  — 

Jalfre  (le  B*  P«).  —  Cours  de  phüosophie  adapte  au  Pro- 
gramme du  baocalaur^at  ^s  lettres.    In-8.    7  fr. 

Janitsch^  Jul.^  Elant's  Urteile  über  Berkeley.    Ein  Beitrag  zur 

Kantphilologie,    gr.  8.  (57  S.)     Strassborg,  Astmann.     1.  20. 

Isnard  (\e  Dr.  F^lix).  —  Spijritualisme  et  materialisme.  In- 12. 
3  fr. 

Last)  £•)  Mehr  Iiioht!  Die  Hauptsätze  Kant's  n.  Schopenhaner's  in 
allgemein  yerständl.  Darlegg.  3.  Anfl.  8.  (304  S.)  Berlin,  Grieben. 
5.  — 

Le  Bon  (le  Dr.  Gnstaye)*  —  L'Homme  et  les  societ^s,  leurs 
origines  et  leur  histoire.  Premiere  partie.  Developpement  phy- 
siqne  et  intellectuel  de  Thomme.  Avec  87  gravures.  Liyr.  I.  Gr. 
in-8.     1  fr. 

LeibniZ)  Gottfr.  Wilh«,  philosophische  Schriften.  Hrsg.  von 
C.  J.  Gerhardt.     2.  Bd.     4.     (594  S.)    Berlin,  Weidmann.     18.  — 

Letoameau  (Ch.)«  —  Science  et  materialisme.  In- 12.  4  fr.  50. — 

Lowes'  (George  Henry)  Problems  of  Life  and  Mind.  3rd  Se- 
rieö.    Problem  the  First:  The  Study  of  Psyohology.    8vo.  7«.  6d 

Littr^  (£•)*  "  Conservation,  r^volution  et  positivisme.  2.  Edi- 
tion angment^e.     In- 12.    5  fr. 

Mandsley's  (Dr.  H.)  The  Pathology  of  Mind.  3rd.  Edition.  8yo. 
185. 

Maudsley  (Henry),  —  Physiologie  de  l'esprit.  Trad.  de  l'anglais 
par  Alexandre  Herzen.    In-8.    Cart.  10  fr. 

Melzer^  Dr.  Ernst,  die  Lehre  v.  der  Autonomie  der  Vernunft 
in  den  Systemen  Kant's  u.  Oünther's.  Nebst  e.  Anh.  üb. 
£.  y.  Hartmann*8  ,, Phänomenologie  d.  sittl.  Bewusstseins*^  gr.  8. 
(II,  105  S.)  Neise,  Gravenr's  Verl.     1.  — 

Möbias,  Prof.  Dr.  Karl,  üb.  die  Goethe* sehen  Worte:  „Leben  ist 
die  schönste  Erfindung  der  Natur  u.  der  Tod  ist  ihr  Kunst- 
griff viel  Leben  zu  haben".  Rede  beim  Antritt  d.  Rectorats  an 
der  kÖDigl.  Universität  zu  Kiel,  geh.  am  5.  März  1879.  4.  (16  S.) 
Kiel,  Universitäts-Buchhandlung.     1.  — 

Molesehott,  Jae.,  die  Einheit  der  Wissenschaft  aus  dem  G-e- 
siohtspunkte  der  Lehre  vom  Leben.  Antrittsrede  znr  Eröffng. 
seiner  Vorlesgn.  üb.  Physiologie  an  der  Sapienza  in  Born ,  geh.  am 
11.  Jan.  1879.   8.    (40  S.)    Giessen,  Roth.     1.  -^ 

Nietzsche»  Frdr.,  Menschliches,  Allzumenscblichee.     Ein  Buch 


' 


510  Bibliographische  Mittheilungen. 

f.   Areie  Geister.    Anhang:   Vermischte  Meingn.   n.  Spräche,     gr.  8. 
(163  S.)    Chemnitz,  Schmeitzner.    5.  — 

Noir^9  Lndw«,  Max  Müller  u.  die  Sprach-Philosophie.  Mit  dem 
(rad.)  Bilde  M.  MüUer's.  gr.  8.  (VII,  107  S.)  Mainz,  v.  Zabem.  2.  40. 

Peip^  weil.  Prof.  Dr.  Alb«^  Beligionsphilosophie.  Nach  dessen 
akadem.  Vorlesgn.  hrsg.  y.  Dr.  Thdr.  Hoppe,  gr.  8.  (XII,  464  S.) 
Gütersloh,  Bertelsmann.     8.  — 

Penjon  (A.).  —  O.  Berkeley,  6vSque  de  Cloyne,  sa  vie  et  ses 
Oeuvres.    In-8.     7  fr.  50. 

Perty^  Prof.  Dr.  Max,  Erinnerungen  aus  d.  Leben  e.  Natur-  u. 
Seelenforschers  d.  19.  Jahrh.  gr.  8.  (VIII,  486  S.  m.  Portr.  in 
Stahlst.)    Leipzig,  C.  F.  Winter.     7.  — 

Peschel)  Dr.  Max,  Aphorismen  zur  kantiechen  Philosophie. 

nebst  Andeutg.    e.   positiven  metaphys.  Standpunktes,    gr.  8.    (52  S.) 
Basel,  Schwabe.     1.  20. 

Pfleiderer,  Prof.  Dr.  Edm.,  zur  Ehrenrettung  d.  Eudämonis- 
mus.    gr.  4.    (32  S.)     Tübingen  (Fues).     1.'  20. 

Philp,  Bnd«,  Lebensphilosophie.  Vortrag.  8.  (31  S.)  Hermann- 
Stadt,  Michaelis.     —   70. 

Prenss,  Wilh.  H«,  die  psychische  Bedeutung  d.  Lebens  im 
Universum.  Besnltate  e.  philosoph.  Natnrforschg.  üb.  den  kosm. 
Ursprung  d.  Lebens,  d.  Entstehg.  d.  Menschen  u.  der  Arten  im  Thier- 
u.  Pflanzenreiche,    gr.  8.     (IV,  54  S.)     Oldenburg,  Schulze.     1.  — 

Proelss,  Bob«,  vom  Ursprung  der  menschlichen  Erkeimtniss. 

Eine    psychologische   Untersuchg.     gr.    8.     (XVI,    282    S.)     Leipzig, 

Schlicke.     8.  — 
Badestocjc,  Panl,  Schlaf  u.  Traum.    Eine  physiologisch-psycholog. 

Untersuchg.    gr.  8.    (XI,  330  S.)   Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.     7.  — 

Begnaud  (P.).  —  Mat^riaux  pour  servir  k  l'histoire  de  la 
Philosophie  de  l'Lide.    2«  partie.    In-8.     10  fr. 

Blbot  (Th.).  —  La  Psychologie  allemande  contemporaine 
(iicole  experimentale).    In-8.    7  fr.  50. 

Biehl,  Prof.  A*9  der  philosophische  Kriticismus  u.  seine  Be- 
deutung f.  die  positive  Wissenschaft.  2.  Bd.  1.  Tbl.  Die 
sinnl.  u.  log.  Grundlagen  der  Erkenntniss.  gr.  8.  (VII,  292  S.) 
Leipzig,  Engelmann.     7.  — 

Sammlung  physiologischer  Abhandlungen,  hrsg.  v.  W.  Preyer. 
2.  Serie.     5.  Hft.     gr.  8.     Jena,  Fischer.     1.  60. 

Inhalt:    Wie  orientiren  wir  uns  im  Baum  durch  den  Gesichtssinn?    Von 
Dr.  Aug.  Classen.     (46  S.  mit  1  Tab.) 

Sammlung  von  Vorträgen.  Hrsg.  v.  W.  Frommel  u.  Frdr.  Pf  äff. 
1.  Bd.    5.  Hft.    gr.  8.     Heidelberg,  C.  Winter. 

Inhalt:  Ueber  den  Werth  d.  Lebens.    Von  Prof.  Dr.  C.  Schaarschmidt. 
(24   S.)    —60. 

SeMeiermaelier's,  Fr«,  Beden  üb.  die  Beligion.  Erit.  Ausg.  Mit 
Zugrundelegg. d.  Textes d.  1.  Aufl. besorgt  v.  Dr.  G.  C  h.  B  e  r  n h.  P ü  n  j  er. 
gr.  8.    (XVI,   306  S.)    Braunschweig,     Schwetschke  &  Sohn.    4.  80. 

Sehmidy  ülr«  Bud.,  der  Streit  wider  den  unbewussten  Atheis- 
mus dieser  Zeit,  auf  Veranlassg.  y.  Otto  Pfleiderer's  neuester  Be- 


Bibliographische  Mittheilungen.  511 

ligionsphilosophie  n.  Vortrag  üb.  Christenthum  u.  Natarwissenschaft 
fortgesetzt.  2.  verm.  Ausg.  gr.  8.  (34  S.)  München,  Th.  Acker- 
mann.   —  40. 

Schwegler's  (Dr.  Albert)  Handbook  of  History  of  Philosophy. 
Translated  bj  J.  Hutchison  Stirling,  M.D.  7th.  Edit    Fcp.  6  s. 

Sosmini  Serbati's,  Antonio,  philosophisches  System.  Uebers.  aus 
dem  Ital.  nach  der  neuesten  Ausg.  gr.  8.  (IV,  136  S.)  Begensburg, 
Manz.     2.  — 

Sieiliani  (Pietro).  Socialismo,  Darwinismo  e  sociologia 
moderna;  in-16,  pag.  98.    Bologna  1879.    L.  1.  25. 

Siebeck,  Prof.  Dr.  Herrn.,  über  das  Bewusstsein  als  Schranke 
der  Natur-iEirkenntniss.    Programm  zur  Bectoratsfeier   der   Uni-    . 
versität  Basel,  ^gr.  4.    (28  S.)    Basel  1878.     (Gotha,  F.  A.  Perthes.) 

Sigwart,  Dr.  €hrph.,  der  Begriff  d.  WoUens  u.  sein  Verhält- 
niss  zum  Begriff  der  Ursache.    4.    (42  S.)    Tübingen   (Fues). 

1.  20. 

Sigwart,  Prof.  Dr.  Chrph«,  Beiträge  zur  Lehre  vom  hypothe- 
tischen Urtheile.     gr.  4.  (66  S.)     Tübingen,  Fues.    2.  — 

Strauss  u.  Tomey,  Tict.  t.,  Essays  zur  allgemeinen  Religions- 
wissenschaft,    gr.  8.   (224  S.)    Heidelberg,  C.  Winter.    6.  — 

Stricker,  Prof.  Dr.  S.,  Studien  üb.  das  Bewusstsein.  gr.  8. 
(VI,  99  S.)     Wien,  Braumüller.     2.  40. 

Susemihl,  Franc,  de  recognoscendis  ethicis  Nicomacheis  dis- 
sertatio  II.    4.   (19  S.)     Berlin,  Calvary  &  Co.     1.  20. 

TeiehmttUer,  Prof.  Dr.  Gust«,  neue  Studien  zur  G-esohiolite 
der  Begriffe.  3.  Heft.  Die  prakt.  Vernunft  bei  Aristoteles,  gr.  8. 
(XVn,  453  S.)    Gotha,  F.  A.  Perthes.    9.  - 

Teichmüller,    Prof.  G.,    über  die  Unsterblichkeit  der  Seele. 

2.  Aufl.  gr.  8.    (XVI,  244  S.)     Leipzig,  Duncker  &  Humblot    4.  40. 

TIberghien  (G.)   —   Psychologie   ^lementaire.     La    Science   de 

Täme  dans  les  limites  de  Tobservation.    3.  Edition.    In-8.    (Bruxelles.) 

6  fr. 
Tsehofen,  Joh.Mich«,  die  Philosophie  Arthur  Schopenhauer's 

in  ihrer  Relation   zur  Ethik,     gr.  8.    (77  S.)     München,  Th. 

Ackermann.     1.  40. 

Ulrici,  Prof.  Dr.  H.,  der  sogenannte  Spiritismus  e.  wissen- 
scbaftliche  Frage.  [Aus:  „Zeitschr.  f.  Philos.  u.  philos.  Kritik*^.] 
gr.  8.    (34  S.)     Halle,  Pfeffer.    —  80. 

Ulrici,  Prof.  Dr.  H«,  üb.  den  Spiritismus  als  wissenschaftliche 
Frage.  Antwortschreiben  auf  den  offenen  Brief  d.  Herrn  Prof. 
Dr.  W.  Wundt.    gr.  8.    (28  S.)     Halle,  Pfeffer.     —  60. 

Verhandlungen  der  philosophischen  Gesellschaft  zu  Berlin.  13.  u. 
14.  Heft.     gr.  8    Leipzig,  Koschny.     1.  20. 

Inhalt:  Ueber  die  neneste  Schrift  E.  v.  Hartmann^s:  Phänomenologie  d. 
sittlichen  Bewnsstseins.  Prolegomena  zu  jeder  künftigen  Ethik.  Ein  Vor- 
trag, geh.  am  10.  Noybr.  1878  in  der  „Philosoph.  Gesellschaft*'  zu  Berlin 
von  J.  H.  T.  Eirchmann.  Nebst  der  dabei  stattgefnndenen  Dis- 
cossion.     (79  S.) 


512  Bibliographische  MittheiluDgen* 

Toity  Prof.  Dr.  Carl  t«;  üb.  die  JSntwioklung  der  Erkenntniss. 
Kede  an  die  Studirenden  beim  Antritte  d.  Rectorates  der  Ludwig- 
Maximilians-UniTersität,  geh.  am  23.  Novbr.  1878.  gr.  8.  (29  S.) 
München,  Bieger.     1.  — 

Wegener^  Dr.  Ed«^  zum  Zusammenliang  v.  Sein  u.  Denken* 
Ein  Beitrag  zur  Theorie  e.  vierten  Hanmdimension.  gr.  8.  (23  S.) 
Leipzig,  Mutze.    50.  — 

Wegweiser  zur  Philosophie  Arthur  Schopenhauer's.  gr.  8.  (52  S.) 
Chemnitz,  Schmeitzner.     1.  — 

Wimmer^  J.^  zur  Frage  üb.  die  Abstammung  d.  Menschen. 

Erkenntnisstheoretisches  u«  Psychologisches,    gr.  8.    (14  S.)    Leipzig, 
O.  Wigand.     —50. 

Wnnder)  Herrn«  L.^  Annaeus  Seneca  quid  de  dis  senserit 
exponitur.     4.  (21  S.)    Grimma  (Gensei).    —  80. 

Wnndt^  Prof.  W«^  der  Spiritismus.  Eine  sogenannte  wissenschaftl. 
Frage.  Offener  Brief  an  Herrn  Dr.  Herm.  Ulrici  in  Halle,  gr.  8. 
(31  S.)     Leipzig,  Engelmann.     —  50. 

Zlmmermami^  Bob.^  Lambert,  der  Vorgänger  Kant's.  Ein  Bei- 
trag zur  Vorgeschichte  der  Kritik  der  reinen  Vernunft.  [Ans: 
„Denkschr.  d.  k.  Akad.  d.  Wiss."]  Imp.-4.  (78  S.)  Wien,  Gerold's 
Sohn.     3.  •— 


Der  frühe  redactionelle  Abschlnss  vorliegenden  Heftes  hat  verhin- 
dert, die  Erwiderung  des  Herrn  Ad.  Horwicz  auf  den  Artikel 
des  Herrn  W.  Wundt  „Psychol.  Thatsachen  und  Hypothesen"  unseren 
geehrten  Lesern  bereits  in  diesem  Hefte  mitzutheilen ;  die  Veröffent- 
lichung wird  nun  sofort  im  nächsten  Heft  erfolgen. 

Der  Herausgeber. 


Bitte 

betreffend  die  „Selbstanzeigen". 


Die  Bedaction  richtet  an  die  Herren  Autoren,  welche  die  Ver-' 
Öffentlichung  einer  „Selbstanzeige"  wünschen,  das  dringende  Ersuchen: 
die  „Selbstanzeigen"  in  dem  Charakter  halten  zu  wollen,  welcher  als 
der  allein  zwe(;kentsprechende  in  dieser  Zeitschrift,  Heft  I,  S.  119  f. 
dieses  Jahrg.,  ausführlicher  dargelegt  worden  ist  Ebenso  dringend  wird 
die  Bitte  wiederholt:  den  Baum  von  Vs — V2Sl^"^^'^s®**®  nicht  zu  über- 
schreiten und,  da  den  Herren  Autoren  Abzüge  zur  Revision  nicht  vor- 
gelegt werden  können,  sowohl  die  Titelangabe  als  den  Text  der  „Selbst- 
anzeige" in  deatlich  lesbarer  Handschrift  einzusenden. 


Pierer^Bche  Hofbuclidnickerei.    Stephan  Geibel  &  Co.  in  Altenbarg.