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Viertelj ahr sschrift
für
wissenschaftliche Philosophie
unter Mitwirkung von
C. Göring • M. Heinze • W. Wundt
herausgegeben
von
R. Avenarius.
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•• « ^ "
Dritter Jahrgang.
-«^H»^
Leipzig.
Fues's Verlag (R. Reisland).
1879.
^ ' ^' "^ '^ Inhaltsverzeichniss.
Die römischen Ziffern (I— lY) bezeichnen die Hefte die arabinchen die Seiten.
Nachruf an C. Göring: III, 257.
Artikel.
Avenarius, R., In Sachen der wissenschaftlichen Philosophie. Dritter
Artikel: I, 53.
Erdmann, B., Zur zeitgenössischen Psychologie in Deutschland, mit
besonderer Rücksicht auf Ribot, Th.: La Psychologie allemande con-
temporaine. IV, 377.
Göring, C, Zur philosophischen Methode. I, 1.
— , Ueber den Missbrauch der Mathematik in der Philosophie. Ein
nachgelassener Vortrag. III, 261.
Horwicz, A., Das Verhältniss der Gefühle zu den Vorstellungen und
die Frage nach dem psychischen Grund processe. III, 308.
Lasswitz, K., Ueber Wirbelatome und stetige Raumerfüllung. Erster
Artikel: II, 206. Zweiter Artikel (Schluss): III, 275.
— , Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland durch Daniel Sennert
und sein Zusammenhang mit Asklepiades von Bithynien. IV, 408.
Planck, K. Gh., Sinnesanschauung und logisches Causalgesetz. Eine
Entgegnung auf die neuesten Ausführungen von E. Zeller. Erster
Artikel: I, 17. Zweiter Artikel (Schluss): II, 15l
Schneider, G. H., Zur Entwickelung der Willeilsäusserungen im
Thierreich. Erster Artikel: II, 176. Zweiter Artikel (Schluss. Mit
einer Tafel in Holzschn.): III, 294.
Schuppe, W. , Bergmann's „Reine Logik^^ und die „Erkenutnisstheo-
retische Logik*' mit ihrem angeblichen Idealismus. IV, 467.
Spir, A., Drei Grundfragen des Idealismus. I. Beweis des Idealis-
mus. IV, 435.
Stendel, A., Zum ethischen Problem. II, 216.
Tobler, L., Ueber die Anwendung des Begriffes von Gesetzen auf die
Sprache. I, 30.
Tönnies, F., Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes. Erster
Artikel: IV, 453.
W u n d t , W., Ueb. das Verhältniss d. Gefühle zu den Vorstellungen. II, 1 29.
— , Psychologische Thatsachen und Hypothesen. Reflexionen aus An-
lass der Abhandlung von A. Horwicz über das Verhältniss der Ge-
fühle zu den Vorstellungen. III, 342.
Becensionen.
Brdmann^ S.f Kant*s Kriticismus in der ersten uud in der zweiten Auf-
lage der Kritik der reinen Vernunft; von Fr. Pauls en. I, 79.
Hortviczy A,f Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage.
Ein Versuch zur Neubegründung der Seelenlehre. Zweiter Theil. Zweite
Hälfte, Die Analyse der qualitativen Gefühle; von C. Göri ng. II, 235.
Zoos, Kj Kantus Analogien der Erfahrung. Eine kritische Studie über
die Grundlagen der theoretischen Philosophie; von M. Heinze. I, 82.
ZexiSf W,, Zur Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen
Gesellschaft; von A. Schäffle. III, 358.
Positivismo, O. Revista de philosophia dirigida por Th. Braga e J. de
Mottos. Primeiro Anno Nr. 1; von H. Wernekke. IV, 492.
Sehröder, K, Der Operationskreis des Logikcalculs ; von S.Günther. 1, 111.
Spencer, ZT., Die Principien der Sociologie. Autorisirte deutsche Aus-
gabe von B. Vetter. 1. Bd. (System der synthetischen Philosophie,
6. Bd.) ; von A. Schäffle. III, 359.
Sipir, A., Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung der
lY Inhaltsverzeichniss.
kritischen Philosophie. 1. Bd.: Das Unbedingte. 2. Bd.: Die Welt
der Erfahrung; von C. Görin g. I, 98.
TTeberhorst, JT. , Kantus Lehre von dem Yerhältniss der Kategorien zur
Erfahrung; von F. Staudinger. IV, 486.
Eiitgregrniingren und Berichti^ngen.
Jacobson, J., Erwiderung auf eine „Recension" des Prof. Ulrici. IV, 496.
Steudel, A., Entgegnung. III, 375.
Selbstanzeigren.
Baerenbach, Fr. von, Herder als Vorgänger Darwin's und der
modernen Naturphilosophie. IV, 501.
— , Gedanken über die Teleologie in der Natur. Ein Beitrag zur Philo-
sophie der Naturwissenschaften. IV, 501.
Berg, H., Die Lust an der Musik. Nebst einem Anhang: Die Lust
an den Farben etc. III, 361.
Bilharz, Alf., Der heliocentrische Standpunkt der Weltbetrachtung.
Grundlegungen zu einer wirklichen Naturphilosophie. IV, 502.
Brocher de la Flechere, H., Les Revolutions du droit, etudes
historiques destin^es a faciliter Tintelligence des institutions sociales.
Tome ler; Introduction philosophique. III, 361.
Byk, S. A., Die Physiologie des Schönen. I, 121.
C a p e s i u s , J. , Die* Metaphysik Herbart's in ihrer Entwickelungs-
geschichte und nach ihrer historischen Stellung. II, 245.
Gas pari, O., Die Grundprobleme der Erkenntnissthätigkeit beleuchtet
vom psychologischen und kritischen Gesichtspunkte. 2 Bde. III, 362.
Erdmann, B., Kant's Kritik der reinen Vernunft. Herausgegeben. I, 121.
— , Kantus Kriticismus in der ersten und zweiten Auflage der Kr. d. r. V.
Eine historische Untersuchung. I, 122.
Frohschammer, J., 1. Die Phantasie als Grundprincip des Welt-
' processes. 2. Monaden und Weltphantasie III, 363.
Ho^lfeld, P. , Die Krause'sche Philosophie in ihrem geschichtlichen
Zusammenhange und in ihrer Bedeutung für das Geistesleben der
Gegenwart dargestellt. III, 365.
Hoppe, J. I., Die Schein-Bewegungen. II, 246.
Janitschy J., Kant's Urteile über Berkeley. Ein Beitrag zur Kant-
philologie. III, 366.
Kehrbach, K., Kritik der praktischen Vernunft von Im. Kant.
Herausgegeben. III, 366.
— , Kritik der reinen Vernunft von Im. Kant. Herausgegeben. Zweite
verbesserte Auflage. III, 366.
Laas, E. , Idealismus und Positivismus. Eine kritische Auseinander-
setzung. Erster, allgemeiner und grundlegender Theil. IV, 503.
I^eclair, A. von, Der Realismus der modernen Naturwissenschaft im
Lichte der von Berkeley u. Kant angebahnten Erkenntnisskritik. III, 367.
Mühry, A., Ueber die exacte Natur-Philosophie. [I, 247.
Q u i ii o n e 8 , U. R., La Religion de la Ciencia. II, 248.
Radestock, P., Schlaf und Traum. Eine physiologisch-psychologische
Untersuchung. III, 368.
Read, C., On the Theory of Logic: an Essay. I, 123.
Philosophische Zeitschriften: I, 123. II, 248. III, 368. IV, 504.
Bibliographische Mittheilnngen : I, 126. 11,252. III, 372. IV, 507.
Notizen: II, 256. III, 376.
Erklärung betr. die Bestimmung der Selbstanzeigen: I, 119.
Zur philosophischen Methode.
Neuerdings ist oft hervorgehoben worden, dass die Special-
wissenschaften in einen sichern Gang gebracht worden und
stetig gewachsen sind, sobald sie sich der richtigen Methode
versichert hatten. Wenn demnach die Methode als dasjenige
erscheint, was wissenschaftliche Erkenntniss bewirkt, so liegt
die Nutzanwendung auf die Philosophie nahe, dass auch diese
sich vor Allem der richtigen Methode zu versichern habe, um
die Sicherheit der wissenschaftlichen Erkenntniss zu erreichen.
In der Tliat ist diese Einsicht gegenwärtig bei den meisten
Philosophen fast aller Richtungen vorhanden und führt zu leb-
haften Controversen über die richtige Methode zu philosophiren.
Die Empiriker glauben mit der wissenschaftlichen Behandlung
der Philosophie dadurch Ernst zu machen, dass sie die all-
gemein anerkannte Erkenntnissweise der Wissenschaften auch
auf die Bearbeitung der philosophischen Probleme anwenden
oder sich der allgemein wissenschaftliehen Methode bedienen;
ihre Gegner pflegen die Wissenschaftlichkeit ihrer eigenen Phi-
losophie eifrig zu veruchern, nehmen aber für diese eine be-
sondere Methode in Anspruch , da sie ihre besonderen Objecte
habe. In dieser Begründung des Anspruchs auf eine eigenar-
tige Methode zeigt sidi ein relativer Fortschritt des Denkens,
insofern der unzertrennliche Zusammenhang von Erkenntniss-
objekten und Methode erkannt und damit die Einsicht gewonnen
ist, dass nur durch die Verbindung von wirklichen, nicht
blossen Scheinobjekten und richtiger Methode wissenschaftliche
Erkenntniss erreicht werden kann. Hiermit ist zugleich impU-
Vierte\jahrs8clurift t wisseiucluiftL Philosophie, m. 1. 1
2 C. Göring:
cite ausgesprochen, dass ein methodisches Verfahren an und
für sich nur die sogenannte formale Wahrheit verbürgt, d. h.
die Uebereinstimmung der methodisch gewonnenen Resultate mit
den Voraussetzungen, aus welchen sie abgeleitet werden. Sind nun
diese Voraussetzungen falsch, so sind es begreiflicherweise auch
die aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen. Weiter ergiebt sich
aus der obigen Forderung der Satz, dass die Beschaffenheit der
Methode durch die Beschaffenheit der Objecte bedingt ist. Auf
Grund dieser Zugestandnisse dürfte es gelingen, den Streit über
die philosophische Methode zum Austrag zu bringen.
Ein neuerer Nichtempiriker^ Harms, sagt^ „Die Philosophie
in ihrer Geschichte^^ I. S. 31: „Jede Methode des Erkennens
ist ein Verfahren nach Grundsätzen, aus deren Anwendung Er-
kenntnisse entstehen sollen.'' Gegen diese Bestimmung wird
kaum von irgend einer Seite her ein Einwand erhoben werden,
weil mit dieser Definition der Kernpunkt des Streites noch gar
nicht berührt ist. Denn dieselbe principielle Verschiedenheit
der Meinungen, welche hinsichtlich der Methode besteht, kehrt
wieder, sobald es sich um die richtige und massgebende Auf-
fassung der Grundsätze handelt. Zwar werden alle Parteien
darin übereinstimmen, dass ein Grundsatz etwas allgemein
Gültiges sein soll, oder, worauf es hier allein ankommt, etwas
Allgemeines ist, aber über die Beschaffenheit des Allgemeinen,
näher über das Verhältniss des Allgemeinen zum Einzelnen
gehen die Ansichten nach entgegengesetzten Richtungen aus
einander. Es sind nun hier drei verschiedene Standpunkte
möglich: man kann nach der unverfälschten metaphysischen
Auffassung das Einzelne vom Allgemeinen, oder vom konse-
quenten Empirismus aus das Allgemeine vom Einzelnen ab-
hängig machen, drittens endlich das Allgemeine und das Einzelne
koordiniren, das letztere wenigstens in abstracto ; denn faktisch
wird von diesem Standpunkte aus, sobald es überhaupt zu
einem irgendwie methodischen Verfahren kommt, doch das Eine
vom Andern abhängig gemacht werden müssen, da ohne eine
solche Subordinirung kein Grundsatz und keine Methode fest-
gestellt werden kann. Es handelt sich also bei unserer Unter-
Zar philosophischen Methode.| 3
suchung nur um den Gegensatz zwischen Metaphysik und
Empirismus^ auf welche beiden Theorieen jeder philosophische
Standpunkt, insofern hierunter eine logisch verbundene und
systematisch geordnete Gedankenreihe verstanden wird^ un-
schwer zurückgeführt werden kann.
Harm^ welcher hier wohl als im Namen aller consequen-
ten Metaphysiker redend angeführt werden darf, kennt ein
Denken, welches ein „schlechthin Allgemeines'' denkt (S. 24);
dieses Denken ist nach ihm speculativ oder metaphysisch, da-
her auch die Grundsätze, nach welchen beim Erkennen ver-
fahren werden soll, „metaphysischer Art'' sind (S. 30). Inso-
fern also die Metaphysik oder speculative Philosophie methodisch
verfahrt, legt sie ein „schlechthin Allgemeines" zu Grunde,
d. h. nach Harms' Erklärung, nicht ein formales, sondern ein
„reales'^ Allgemeines. Leider hat Harms, wie freilich bisher
alle Metaphysiker, unterlassen anzugeben, was er sich unter
diesem schlechthin oder realen Allgemeinen denkt: und der
Empiriker kann darin keine andere , als die rein negative Be-
stimmung entdecken, dass es nichts blos Gedachtes, nicht die
Zusammenfassung des Einzelnen im Denken sein soll.
Dass nun ein derartiges Allgemeines existirt, wird von
den Metaphysikern ebensowenig bewiesen, als sein Inhalt von
ihnen präcisirt wird. Die Annahme desselben ist freihch sehr
ah und sehr oft in der Geschichte der Philosophie wiederholt,
aber auch als gänzlich unbegründet und unhaltbar erwiesen
worden ; so lange daher für die Existenz jenes Allgemeinen
keine Begründung beigebracht wird, ausser der, dass man be-
stimmte Allgemeinheiten, wie Absolutes, Ewiges, Unveränder-
liches u. s. w. dogmatisch annimmt und im Anschluss daran
weiter behauptet, es gebe ohne das schlechthin oder reale All-
gemeine keine Philosophie, d. h. keine speculative Philosophie
oder Metaphysik, keine Erkenntniss des „Ewigen, Absoluten,
Unveränderlichen" u. s, w., so lange ist man berechtigt^ es für
ein Phantasiegebilde zu halten^ mag es nun mit irgendwelchem
empirisch aufgenommenen, aber aus seinem objectiven Zu-
sammenhang gerissenen Inhalt erfüllt, oder, weil alles Inhalts
4 C Göring:
entbehrend, blosses Wort sein. Weil nun aber gerade dieses
AUgemeine das Object der specubtiven Philosophie, oder diese,
wie Harms sagt, die „ Wissenschaft^' dieses Allgemeinen ist,
deshalb zieht dieses ganz besondere Object auch eine besondere
Methode nach sich; denn begreiflicherweise kann es durch
4it Blethode der Wissenschaften nicht gewonnen, und ebenso-
wenig nachtragfich begründet werden. Da man dennoch an
ihm festhält und auch den Anspruch erhebt, es beweisen zu
können , so muss man zu diesem Zweck dne Methode an-
nehmen, deren Anwendung zu jenem Object fuhren oder doch
4ie Nothwendigkeit seiner Annahme irgendwie begründen solL
Die hierzu dienende Methode heisst nun zwar per abusam,
aber der Ueberüefemng gemäss gewöhnlich die deductive oder
Deduction; wozu sie angewandt wird, hat ebenfalls Harms mit
schatzenswerther Deutlichkeit angegeben: „Die Deduction strebt
aus dem Bleibenden das Veränderliche, aus dem Ewigen das
Eidliche, aus Gott die Welt zu begreifen." (Philosophische
Einleitung in die Encyklopädie der Physäi I. 190.) Dass
Harms weiterhin Deduction und Speculation ausdrücklich gleich-
setzt, kann hiernach nicht mehr befremden; es ist vielmehr
die einag richtige Auffassung.
Wozu diese „Methode^ dient, ist klar; nämlich ganz un-
begründete Voraussetzungen, PbanCasiegebilde , deren Inhalt
nicht in der Erfahrung angetroffen wird, nachträglich wenigstens
scheinbar dadurch zu stützen, dass man sie zum „Begreifen**
verwendet Ihre anscheinende Berechtigung gewinnen diese
Voraussetzungen also dadurch, dass man ohne sie nicht begreifen
würde, oder dass sie Mittel zum Zwecke des Begrrifens smd.
Hierauf bmiht ihre relative „Nothwendigkeit", durch welche
sie aber natürlich keineswegs irgendwie sachlich begründet
werden; denn dazu müsste vor Allem nachgewiesen werden,
dass der Zweck, dem jene Voraussetzungen als Mittel dienen,
ein wissenschaftlich berechtigter ist Hiervon findet aber das
directe Gegentheil statt ; denn die Art des „Begreifens^', welche
jene Phantasiegebilde zuerst naiv producirt hat und in ihrer
Verfeinerung bewusster Weise festzuhalten bemüht ist, erweist
Zur philosophiaehen Methode. 5
sich vor der wissenfichafllicheii Kriük als gänztich nnberect^igt
und irreleitend. Wenn sonach jene Objecte nicht eher ab
wiasenschafUich berechtigt anerkannt werden können, als bis
man sie irgendwie obJectiT begründet hat, so fallt mit ihnen
auch die ,Jiethode der Deduction oder Speculation^^ denn man
kann nicht vernünfliger Weise zwei unbegründete Voraus-
setzungen sich gegenseitig begründen lassen.
Die wissenschaftliche Methode dient nicht irgend welchen
beliebigen Zwecken und Absichten, sondern schhesst eben das
individuelle Belieben aus; dies igt ihr charakteristisches Merk-
mal. Jener Art der Deduction fehlt aber dieses Merkmal der
wissenschaftlichen Methode, logische Nothwendigkeit und da-
durch Ausschluss der Willkür zu bewirken; vielmehr ist sie
selbst ganz und gar willkürhch und wird daher richtiger als
,,Speculation^* bezeichnet. Wenn nicht die Gewohnheit so stark
wirkte, so würde, seitdem die wissenschafUiche Methode existirt,
jene speculative Methode überhaupt nicht mehr angewandt
werden, um Wissen zu erzeugen, am allerwenigsten aber, um
„aus dem Bleibenden das Yeränderhche u. s. w. zu begreifen.^'
Denn hierbei handelt es sich um nichts Geringeres, als einen
Gegensatz aus dem andern zu „begreifen'% woraus zunächst
sich die sehr nöthige Einsicht ergiebt, dass dieses Begreifen
etwas ganz Anderes ist als Wissen. Denn Gegensätze führen
zur Aufhebung des Wissens, wie auch die speculative Phi-
losophie frühei' sehr wohl wusste. FreiUch kann dies durch
die gewohnte Ideenassociation verdeckt, und die Gegensäfze
können scheinbar vermittelt werden, indem man sie in das ge-
wohnte Schema von Ursache und Wirkung bringt. Dass nun aber
die Wirkung aus der Ursache nicht rein logisch abgeleitet, also
nicht speculativ oder a priori deducirt werden kann, hat schon
Kant in seiner vorkritischen Periode, speciell auch an „Gott und
Welt", sehr deutlich gezeigt. Wie man aber einen Gegensatz aus
dem andern begreifen will, wenn nicht durch die blosse Gewohn-
heit häufiger Ideenassociation, dies mag angeben wer es kann;
wer es aber nicht kann, der mag auch nicht behaupten, dass eine
Methode dazu führe. Denn die blosse psychologische Noth-
g C. Gröring:
wendigkeit, in der gewohnten Ideenassociation zu verharren, oder
die Unfähigkeit, durch bewusstes Denken die letztere zu über-
winden, ist von jedem wirklich methodischen Verfahren soweit
als möglich entfernt. So lange man nun in der angegebenen
Weise speculirt, d. h. unbegründete Voraussetzungen zu-
philosophischen Objecten erhebt, so lange wird man freilich
auch den Anspruch auf eine eigenartige philosophische Methode
nicht aufgeben; es dürfte aber angemessen sein, von diesem
Verfahren abzugehen und der Philosophie nicht beliebige, son-
dern nur solche Objecte zuzutheilen, deren Existenz hinlänglich
bewiesen werden kann. Wenn so die Philosophie die all-
gemein wissenschaftliche Grundlage gewonnen hat, dann wird
sie auch die wissenschaftliche Methode nicht nur als aus-
reichend, sondern auch als einzig berechtigt für das Philo-
sophiren anerkennen.
Die Wissenschaft und die wissenschaftliche Philosophie
kennt kein schlechthin oder reales Allgemeines mit irgend-
welchem selbständigem, d. h. nicht aus Einzelobjecten entnom-
menen Inhalt; denn jeder Inhalt, er sei, welcher er wolle,
stammt vom Einzelnen. Wer diesen Satz nicht anerkennt, hat
irgend eine Gegeninstanz beizubringen, durch welchen seine
Gültigkeit aufgehoben wird, also ein Allgemeines aufzuzeigen,
dessen Inhalt nicht vom Einzelnen hergenommen ist.
Auf der Thatsache, dass das Allgemeine denselben Inhalt
hat wie das Einzelne, beruht die logische Nothwendigkeit und
mit ihr jedes wirklich methodische Verfahren. Denn Methode
ist Zugestandenermassen ein Verfahren nach Grundsätzen^ und
diese sind etwas Allgemeines; die logische Nothwendigkeit, der
Ausschluss alles individuellen Beliebens, als das specifische
Merkmal der wissenschaftlichen Methode liegt in dem Verhält-
niss des AUgemeinen zum Einzelnen. Nur da, wo beide gleichen
Inhalt haben^ findet ein innerer Zusammenhang zwischen ihnen
statt, der überhaupt erst dazu berechtigt, den Begriff des All-
gemeinen aufzustellen und die logische Nothwendigkeit anzu-
nehmen, mit der nunmehr vom einen auf das andere ge-
schlossen werden kann; denn die den Objecten rein ausser-
Zur philosophischen Methode. ^
liehe oder zufallige Verbindung in der Ideenassociation wird
wohl Niemand bei einiger Ueberlegung mit logischer Ver-
knüpfung verwechseln. Die letztere oder der innere Zusam-
menhang zwischen Allgemeinem und Einzelnem beruht nun eben
darauf und zwar allein darauf, dass beide denselben Inhalt
haben, dass das vom einzelnen Subjecte Prädicirte zum Prä-
dicat aller Subjecte derselben Gattung = des Allgemeinen, er-
hoben wird; wo diese Bedingung nicht erfüUt ist, findet keine
Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine statt , das All-
gemeine ist entweder ohne Inhalt, ein blosses Wort ohne Sinn
und Bedeutung, oder es hat einen andern Inhalt und gilt
dann von anderen einzelnen Objecten.
Diesen nothwendigen innern Zusammenhang, die Gleichheit
des Inhaltes des Allgemeinen und Einzelnen kann man nun
auf doppelte Weise herstellen ; erstens, indem man das Einzelne
dem AUgemeinen, und zweitens, indem man das Allgemeine
dem Einzelnen gleich macht. Das erstere ist das ,,deductiv-
speculative^' oder „apriorische'^ das zweite das „inductive'^ oder
„aposteriorische'* Verfahren; im ersteren Falle sollen sich die
Thatsaehen, im zweiten die Gedanken fügen. Wer es
nun noch für zulässig hält, dass man über Thatsaehen will-
kürlich verfügt, der wird natürlich kein Bedenken tragen, das
Einzelne dem Allgemeinen gleich zu machen, indem er dem
Einzelnen den Inhalt giebt, welchen nach seiner unbegründeten
Voraussetzung das Allgemeine hat; mit ihm ist nicht weiter zu
streiten, da die für einen Erfolg der Discussion^noth wendige
gemeinsame Grundlage zur Verständigung fehlt. Indessen wird
sich gegenwärtig ein Philosoph wohl nur noch aus Opposition
und ohne sorgfaltige Ueberlegung zu der Behauptung fortreissen
lassen, dass apriorischen Gedanken im Collisionsfalle mit empi-
rischen Thatsaehen die grössere Sicherheit zukomme; für wen
aber das Gegentheil feststeht, nämlich, dass eine Thatsache
unter allen Umständen ,,das Höchste ist, was wir erreichen
können'' (Baumann), der wird consequenterweise sich nun auch
dazu bekehren müssen, das Allgemeine, als blossen Gedanken,
dem Einzelnen gleich zu machen. Denn ein neben und ausser
8 C. Göring:
dem Einzelnen angenommenes Allgemeines wird man so lang«
für ein blosses Wort halten müssen^ auch wenn es als „reaP
oder „schlechthin^^ AUgemeines auftritt, als der Inhalt des-*
selben nicht klar und deutlich angegeben ist. Ein derartiges
Allgemeines mag 2ur Speculation nöthig und dienlich sein, für
ein methodisches Verfahren oder eine wissenschaftliche De-
duction ist es gänzlich unbrauchbar. Denn diese ist nur da-
durch möglich, dass eine logische Nothwendigkeit AUgemeines
und Einzelnes verknüpft Da nun erfehrungsmässig das Ein-
zelne^ die Thatsache, sieh nicht nach unserm Belieben, dem
willkürlich angenommenen Allgemeinen richtet, so bleibt dem-
nach nichts Anderes übrig, als unser Denken mit den That-
sachen, also das Allgemeine mit dem Einzelnen in Einklang zu
setzen. Wenn man auf diese Weise zu allgemeinen Sätzen
und Grundsätzen gelangt ist, hat man der wissenschafttichen
Methode die matenelle Grundlage gegeben; das Weitere, For-
male, ist Sache der logischen Consequenz.
Bei diesem Verfahren bilden die Thatsachen der Erfahrung
den festen Punkt und das Kriterium, an welchem die Richtig-
keit der Denkoperationen, wie die der Voraussetzungen ge-
messen wird, von denen sie ausgehen. Denn nur diese beiden
Factoren in Gemeinschaft bewirken wissenschaftliche Erkenntniss ;
vergl. WheweU, Geschichte der inductiven Wissenschaften I.
S. 20: „Die sti*engste schulgerechte Methode konnte ohne Er*-
fahrung keine Wissenschaft erzeugen*^ Streng methodisch ge-
langt man von richtigen Grundsätzen aus zu richtigen, von
falschen Grundsätzen aus zu falschen Resultaten. Dass man
durch unlogisches od^ unmethodisches Verfahren auch von
falschen Grundsätzen aus zu richtigen Resultaten gelangen und
so durch Gedankenspränge Wahrheit erreichen kann, kommt
natürlich hier nicht in Betracht, da es sich eben darum handdlt,
derartige Zufäle auszuschliessen und den sicheren Gang der
Wissenschaft zu begründen.
Die nachkantischen Dogmatiker legten mit Ausnahme
HegePs und seiner Schule wenig Gewicht auf die Methode des
Philosophirens; erst seitdem die Sicherheit der specialwissen«»
Zur philoiophiBehen Methode. 9
schaftlicbeii Resultate die Bedeutung der Methode in das redite
Licht -gesetzt faat^ wird ihre Nothwendigkeit auch Ton den Phi-
losophen aHgemein anerkannt Namentlich die neukantisehe
Schule pflegt gegenwärtig die Methode stark zu betonen und
bemüht sich, auch ihrem Heister nicht nur eine besondere,
sondern sogar die philosophisdie Methode y^m I^o^^f zu
yindiciren. Dies ist zunächst nur ein deutlidier Beweis dafür,
wie sehr in neuerer Zeit die Methode zum allgemeinen ¥rissen*
schafUichen Vorurthril geworden ist; denn im Kantischen
Sjritidsmus selbst tritt sie so wenig hervor, dass man Arüher
kaum etwas von Kant's Methode wusste.
Schopenhauer dürfte der Erste gewesen s^, welcher von
„Kant's Methode*^ geredet hat|; er lässt sie darin bestehen, dass
Kant „von der mittelbaren, reflectirten Erkenntniss ausging^^
Fr^ch soll dieser „Grundsatz seiner Methode Kant nur sehr
undeutlich voi^eschwebt haben, daher man denselben doch
erst noch zu errathen hat^^; aber dennoch „ist diese Methode
an glänzender Gedankens Die übrigen Philosophen waren ge-
wöhnlich im besten Falle der Ansicht, dass „die Methode Kant
nur sehr undeutlich vorgeschwebt'^ habe, daher sie nicht weiter
.davon redeten. Dies gilt auch von denen, welche im Uebrigen
auf die Methode besondere Rucksicht nehmen, wie z. B., um
zwei neuere Philosophen zu nennen, von Harms und Lowes.
Erst seitdem Cohen in seinem Buche „Kantus Theorie der Er-
fahrung^' ausführlicher über den Unterschied des kriticistischen
vom dogmatistischen Verfahren gehandelt hat, finden sich in
den Büchern über Kant's Philosophie besondere AbschniUe
über deren Methode, zu deren allgemeiner Charakteristik wir
das Urtheil dnes modernen Kantianers hier wiedergeben,
Jacobson^s (Uebm* die Beziehungen zwischen Kategorien und
Urthdlsformen S. 4): „Vielleieht ist kein Problem der KantV
sehen Philosophie dar Tummelplatz so widersprediender An*>
siebten, vor Allem so verkehrter Auffassungen Kant's geworden,
als das Grundproblem der Methode; um so nothwendiger ist
hier der Versuch, einen ebenen, ruhigen Weg durch das Ge^
tünmel des Widerstreits und der MissvM>ständnisse zu bahnen'\
10 C. Gering:
Am nothwendigsten erscheint jedoch die Vorfrage, ob überhaupt
von einer Methode Kant's geredet werden kann, d. h., ob Kant,
um zu seinen Resultaten zu gelangen, ein Verfahren angewandt
hat, an welchem die wesentlichen Merkmale der wissenschaft-
lichen Methode nachgewiesen werden können.
Cohen hat in seinem oben citirten Buche sehr klar aus-
einandergesetzt, was er unter „Kants Methode*' versteht: Trans-
scendental nennt Kant die Erkenntniss, welche sich mit unsern
Begriffen a priori von Gegenstanden beschäftigt; die transscen-
dentale Erkenntniss hat keine anderen Objecto, als die meta-
physische, aber der Methode, derArt nach ist sie von dieser
unterschieden: sie erweisst das a priori erst in seiner Möglich-
keit (S. 35, 36). Späterhin spricht er von dem metho-
dischen, formalen Werth des Begriffes transscendental
(S. 61) und von der »methodischen Richtung'' der Lehre: ,;Sie
fragt nach der Möglichkeit eines a priori überhaupt; durch
diesen einzigen Gedanken wird die Metaphysik zur Kritik'*
(S. 79). Man wird wohl den wesentlichen Inhalt dieser Sätze
Cohen's wiedergeben, wenn man sagt: für ihn besteht die Me-
thode der Kant'schen Philosophie darin, dass diese Transscen-
dentalphilosophie ist. Diese AufTassung wird bestätigt
durch die Terminologie Cohen^s in seinem neuesten Werke:
„Kantus Begründung der Ethik", wo er einfach von der ,^trans-
scendentalenMethode'' Kants spricht Demnach identificirt
er Inhalt und Methode: weil Kant im Gegensatz zum Dogma-
tismus ein formales a priori lehrte von transscendentaler, nicht
transcendenter Art, deshalb hat der Begriff transscendental
einen „methodischen, formalen" Werth, und deshalb ist die
transscendentale Erkenntniss der „Methode, der Art" nach
von der dogmatistischen unterschieden; es scheint somit die
Annahme gerechtfertigt, dass „methodisch und formal'*, ebenso
wie ,3Icthode und Art" hier etwa dasselbe ausdrücken sollen.
Es ist „ein einziger Gedanke, durch welchen die Metaphysik
zur Kritik wird", und in diesem einzigen Gedanken, die Mög-
lichkeit des a priori zu erweisen, besteht zugleich die Methode
des Kriticismus im Unterschied von der des Dogmatismus:
Zar philosophischen Methode. H
weil Kant zu andern Resultaten, dem „Transscendentalen'S
gelangt, deshalb soll er eine andere Methode, nämlich die „trans-
scendentale Methode^* haben.
Diese Terminologie entpricht dem Sprachgebrauche Kant's,
welcher in der „transscendentalen Methodenlehre'' ebenfalls
Inhalt oder Resultat und Methode identificirt, indem er von
„dogmatischer^' und „skeptischer'' Methode spricht. Zugleich
hat Kant dort noch ein unterscheidendes Merkmal seines Knti-
cismus angegeben, insofern er jede „dogmatische Methode für
unschicklich erklärt und seine Yernunftkritik als „warnende
Negativlehre" bezeichnet, da sie für das Wissen nur
„negative'' Ergebnisse habe: demgemäss würde man wohl
am Passendsten nach Kaufs Vorgang von seiner „negativen"
Methode reden, oder auch mit Rucksicht auf den „einzigen
Gedanken, durch welchen Metaphysik zur Kritik wird", von
seiner „möglichen" Methode. Wer diese Bezeichnungen
für unzulässig hält, mag seine Gründe dagegen mittheilen.
Wenn man weiss, in welchem Sinne Kant das Woit
Methode braucht, so wundert man sich nicht mehr darüber,
dass er die „Kritik der reinen speculativen Vernunft einen
Tractat von der Methode" nennt; denn diese Kritik ist als
„warnende Negativlehre" die Methode, das Wissen aufzuheben,
um für den Glauben Platz zu bekommen, lieber diese Me-
thode, das Glauben gegen alle Angriffe zu schützen, hat Kant
sich in der transscendentalen Methodenlehre ziemlich ausführlich
verbreitet; vergl. den I. Artikel des Verf.: Ueber den Begriff
der Erfahrung (I. Jahrgang HI. Heft dieser Zeitschrift). Mit
dieser Erörterung stimmt eine gelegentliche Aeusserung Kant's
vollkommen überein , in welcher er die Methode als ein „Ver-
fahren nach Principien der Vernunft" bezeichnet (IV, 275
ed. Hartenskin): bei der Vertheidigung des Glaubens muss man
„von den Principien der Vernunft, nicht von den zufalligen
Factis der Erfahrung" ausgehen, oder wie Kant an einigen
andern Stellen noch deutlicher sagt: Ueber das Dasein Gottes
und die künftige Welt muss die Vernunft zuerst sprechen,
sonst geräth man in „Atheisterei"; ferner: die Theologie ist der
12 C. Göring:
gemeinen Menschenvernunft ebenso begreiflich als den Philo-
sophen, ja diese müssen sich an jener orientiren.
Hieraus erhellt nun die nähere Beschaffenheit des Ver*
fahrens, welches Kant in seinen erkenntniss-theoretischen Unter-
suchungen anwandte; bevor er diese beginnt, kennt er bereits
das Ziel, bei welchem sie unter aUen Umständen anzulangen
haben. Dieses Ziel sind die „Vernunftideen'^ die „eigentlidien
Objecte aller Metaphysik'- , für deren Annahme das „zufallige
Factum'^ genügt, dass sie als Ideen bei einem Theile der
Menschen vorhanden sind. Um sie gegen den „Skepticismus^^
zu sichern, nimmt Kant zu den beiden Stämmen der Erkennt-
niss, Sinn und Verstand , mit denen er in seiner vorkritischen
Periode ausgereicht hatte, später noch die Vernunft als das
„Vermögen der Ideen'^ an, und theilt diese nun wieder ein in
die theoretische und praktische Vernunft; denn^ wie er selbst
nachdrücklich einschärft, es giebt zwar keinen theoretischen
wohl aber einen praktischen Glauben an das Uebersinnliche. Sinn
und Verstand müssen demgemäss so eingeschränkt werden,
dass sie über die „höchsten Angelegenheiten des Menschen-
geschlechts^^, die Vernunftwahrheiten, nicht mitreden können;
deshalb beziehen sich ihre Erkenntnisse nur auf Phäuomena,
weisen jedoch über diese auf die Neumena hinaus. Hierin
liegt der eigentliche „meUiodische Werth** des formalen oder
transscendentalen a priori, und die eigentliche „methodische
Richtung'^ dieser Lehre. Hiernach kann es nicht befremden,
dass, wie Cohen in der Vorrede zu „Kant's Begründung der
Ethik'^ sagt, ,4^1 den Männern der Wissenschaft transscendental
noch immer im Gerüche des Transscendenten steht'S oder,
um weiter in seiner Sprache zu reden, dass sie zwischen der
transscendenten Methode des Dogmatismus und der „transscen-
dentalen Methode^^ des Kriticismus keinen wesentlichen Unter^^
schied finden. Denn beide überschreiten die Erfahrung in
gleicher Weise; Kant hebt zwar das „nothwendige*' Wissen des
Dogmatismus auf und behalt nur den Inhalt dessdben als
„möglich^^ beiy aber auch bei ihm ist die Erfahrung dieser Mög-
lichkeit uDtei^eordnet, wie im Dogmatismus der Nothwendigkeit.
Zur philoeophischen Methode. 13
Dies ergiebt sich schon aos der ,,iniintf wiederkehrenden Ver-^
ttcberung der absdUiten Sicherheit und in Sonderheit der apo-
dictischen Gewistbeit^* des a priori (Jacobson a. a. 0. S. S).
Das« der Dogmatismus ein materiales, der Kritidsmus ein
formales a priori hat, kann in Besiehung auf die Metbode
nur für denjenigen einen Unterschied begründen ^ dem, wie
Cohen a. a O. S. lY. ,,der Satz der transscendentalen Methode
als wissenschalUiche Wahrheit von der gleichen Bedeutnng wie
einer der logischen Grundsätze gilt^', weil er nämlich in der
apriorischen Erfahrung*^ des Kriticismus die ganze philo-
sopUsche Wahrheit zu haben glaubt, welche als Ganzes für ihn
nieht weiter discutirbar au sein schont Wer dagegen für
Gründe überhaupt noch zugänglich ist, wird zwar die Auf-
hebung der dogmatischen Metaphysik durch Kant als epoche-
machend für die deutsche Phik)sopkie anerkenne» und dem
Gedanken einer Kritik oder kritischen Theorie der £rkenntms8
(freilich nicht des ErkeMUnissvermögens) grossen Werth
für die philosophische Entwickelung beilegen, aber er wird zu-
gleich zugestehen müssen, dass die Kantische Ausfährung dieses
Gedankens deshalb auch ihrer Methode nach dogmatistisch ist,
weil sie den Hauptzweck des Dogmatismus, wenn auch auf be-
sondere Weise, ebenfalls erreichen wollte. Daher wird man
die Behauptung Gohen's, dass durch den einzigen Gedankt
nach der Möglichkeit des a priori ^ fragen, Metaphysik zur
Kritik werde, dalun modificiren müssen, dass eine richtige Ant-
wort auf diese Frage die Unmöglichkeit des a priori ergeben
hatte, und dass durch ein wahrhaft methodisches Verfahren an
die Stelle der Metaphysik eine kritische „Theorie der Erfahrung^,
aber nicht einer „apriorischen Erfahrung^^ g^reten wäre. Statt
dessen mnaste Kant für seinen Zweck die apodictische Gewiss-
heit des a priori ron vornherein annehmen, und seine Ver-
nunftkritik wurde daher lediglich von dem Bestreben geleitet^
dieses a priori zu beweisen, nicht aber eine yoraussetzungslose
Untersuchung über die „Möglichkeit'' desselben anzustellen. Die
berühmte Frage: Wie sind synthetische Urtlieile a priori mög-
lich ? nebst der dem Inhalt nach gleichwerthigen : wie ist „Er-
14 . C. Göring:
fahrung*^ möglich, d. h. eine Erfahrung, weiche synthetische
Urtheile a priori enthält? erhält nur dann einen kritischen
Anstrich, wenn man vergisst, dass der Schwerpunkt ausschliess-
lich in dem ^^Wie'^ liegt, weil das dass von vornherein fest-
steht; orientirt man sich dagegen aus der Beantwortung über
die dogmatistischen Voraussetzungen, aus welchen die Frage
hervorgegangen ist; so findet man, dass die „transscendentale
Fragestellung^^ ganz ebenso dogmatistisch ist wie die „trans-
scendentale Methode^S
Das charakteristische Merkmal alles dogmatischen Philo-
sophirens ist das ^^Yerfahren nach Principien der Vernunft'',
oder weniger euphemistisch, dafür aber sachlicher ausgedrückt,
das Verfahren der Untersuchung, unbegründete Voraussetzungen
unwissenschaftlicher Art zu Grunde zu legen, welche als das
absolut oder apodiktisch Gewisse das A. und 0., den Ausgangs-
und Zielpunkt aller Erörterungen und Beweise bilden. Es
handelt sich dabei gar nicht darum, die Wahrheit zu finden
oder Gewissheit zu erreichen, sondern etwas vor aller metho-
dischen Untersuchung Feststehendes, irgendwie zu „beweisen^';
den nervus probandi bildet eine beliebige Annahme, welche
aber das einzig Feste und Respectirte der ganzen Theorie ist,
während man über alles Uebrige willkürlich verfügt, wobei die
entgegenstehenden Thatsachen ignorirt oder umgangen werden.
Ob nun dieses Verfahren transscendent oder transscendental
heisst, auf die Objecte oder auf die Erkenntniss der Objecte
sich richtet, macht keinen hier in Betracht kommenden Unter-
schied ; die transscendente Methode verwendet das vorausgesetzte
materiale a priori, noth wendige Existenzen, als „Principien'S
die transscendentale Methode die vorausgesetzten nothwendigen
Formen der Anschauung und des Denkens, das formale a priori^
das „apodictisch Gewisse", dessen „Möglichkeit'^ sie exst nach-
träglich aus faktischen Erkenntnissen zu erweisen sucht:
„Glücklicherweise trifft es sich, dass Mathematik und
reine Naturwissenschaft synthetische Urtheile a priori enthalten/^
(Proleg). Den Nachweis der Nothwendigkeit, bei Kant Mög-
lichkeit seiner Annahmen führt der Dogmatismus dadurch, dass
\
Zar philosophischen Methode. 15
er ihnen entsprechende ^^Vermögen^^ des Intellecls erfinde^
welche, obzwar selbst unbewiesen, doch die Richtigkeit jener
verbürgen sollen, wie dies bei Kantus »yVermögen der Ideen'',
der „Vernunft^' ganz besonders deutlich hervortritt. Die psy-
chologische Untersuchung entdeckt in ihrem methodischen Gange
nichts von einem solchen Vermögen; deshalb muss „Vernunft
zuerst sprechen*' und nun rückwärts wieder durch den prac-
tischen Glauben an ihren Ideen sich selbst sicher stellen —
der bekannte circulus vitiosus, nur noch gefährlicher durch das
Hineinziehen practischer Momente. Zugleich zeigt sich hierbei
recht deutlich, dass es von den Thatsachen so wenig einen
Zugang zu den „Vernunftprincipien^' Kant's giebt, wie um-
gekehrt von den letztern zu den erstem; denn sowie Kant
selbst die „zufalligen Facta" zurückdrängte, weil sie auf das
Gegentheil seiner feststehenden Absicht führen, ebenso blieben
die Resultate seiner von den ,,Vernunflprincipien'' beherrschten
Erkenntnisstheorie ausser allem Zusammenhang mit den psy-
chologischen und erkenntniss- theoretischen Thatsachen. Für
Kant selbst handelte es sich auch gar nicht darum, Thatsachen
und Wirklichkeit zu erreichen; er wollte in erster Linie die
Möglichkeit der drei Vernunftideen sicher stellen, und seine
auf die diesseitigen Objecte gerichtete Erkenntnisstheorie gipfelte
in seiner „möglichen Erfahrung*'. Dass zu diesem Zweck seine
apriorischen Formen nothwendig waren, dass sie auch möglich,
d. h. denkbar sind, kann man unbedenklich zugestehen; da-
durch werden sie aber noch nicht wirklich. Wer nun die
Möglichkeit über die Wirklichkeit stellt, der kann sich ja hier-
mit begnügen; thut er es nicht, so zeigt er eben damit, dass
ihm Wirklichkeit doch für gewisser gilt als Möglichkeit, und
hat den Roden des Kantischen Kriticismus verlassen. Denn
dieser geht von der Möglichkeit aus und gelangt auch ganz con-
sequent wieder zur Möglichkeit, wie man ja überhaupt a priori
rein logisch oder analytisch, um mit den vorkantischen Dogma-
tismus zu reden, nur von Gleichem zu Gleichem gelangen
kann. Diese Einsicht war der alten Metaphysik geläufig und
wurde von ihr mit guten Gründen vertheidigt; erst Kant hat
16 C. G5ring: Zar pMloMphischen Kethode.
durch die ^dem Kritidsmus unentbehrlichen^' synthetischeii
Urtheile a priori diese Grundbedingung alles wirklich metho-
dischen Verfahrens aufgehoben und dadurch in logischer und
methodischer Beziehung einen entschiedenen Rückschritt ein-
gelmtet, der freilich bei ihm selbst weniger deutlich als bd
seinen Nachfolgern sichtbar wurde.
Leipzig. C. Görlng.
Sumesansohauung und logisches Gausalgesetz-
Eine Entgregnungr auf die neuesten Ausfühnuigrett
Ton E. Zeller«
Erster Artikel.
Nachdem man in unsern Tagen vielfach das logische Causal-
geselz und dessen Durchführung geradezu mit einer bestimmten
Welt- und Naturansicht, nämlich derjenigen, welche nur me-
chanische Formen des Wirkens kennt, identificirt hat, war es
zur dringenden Aufgabe geworden, gegenüber von einem solchen
Dogmatismus das Causalgesetz (und mit ihm alle übrigen reinen
Denkformen) in erneuter und schärferer Weise, als es durch
Kant geschehen konnte, darauf anzusehen, was an ihm rein
logisch, und was dagegen bloss empirischen Ursprunges sei.
Demgemäss hatte Verf. dieses in seiner neuesten Schrift ^) den
eingehenden Nachweis unternommen, dass das logische Causal-
gesetz bis jetzt noch gar nicht in seiner Reinheit erkannt, son-
dern noch durchweg mit dem Verhältnisse des empirisch realen
Wirkens vermengt worden sei, und dass es jetzt erst gelte,
dasselbe (ebenso wie alle übrigen Denkformen) aus dieser em-
piristischen Veräusserlichung , in der es vor allem bei Kant
noch erscheint, zu befreien und es als eine blosse Form des
Identitätsgesetzes zu erkennen. Neuestens hat nun aucli
') Logisches Causalgesetz und natürliche Zweckthätigkeit. Zur
Kritik aller Kantischen und nachkantischen Begriffsverkehrung.
Nördüngen 1877.
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. III. 1. 2
18 K. Ch. Planck:
£. Zeller sowohl über das logische Causalgesetz, als auch über
dessen angebliches Yerhältniss zur Sinnesanschauung, in einer
Weise sich ausgesprochen^), die es nothwendig macht, auch nach
dieser Seite hin unsern Nachweis zu vervollständigen und ihn
nicht bloss durch eine noch genauere Fassung gegen Missver-
standnisse zu sichern, sondern auch über das Wesen der
Empfindung und Sinnesanschauung die wünschenswerthen Er-
gänzungen hinzuzufügen. ^Handelt es sich doch dabei um Fragen,
die mit den Grundlagen der gesammten Wissenschaft im tief-
greifendsten Zusammenhange stehen.
Wir stellen zuerst die Zeller'sche Auffassung des logischen
Causalgesetzes unserer eigenen gegenüber. Nach letzterer ist
der Gegensatz von Folge und Grund seinem rein logischen
Sinne und Ursprünge nach noch gar kein sachlicher und
realer^ sondern entspringt einfach daraus, dass alles, was
das denkende Subject als wirklich und thatsächlich betrachten
niuss, auch ebendamit (und ganz abgesehen von seinem In-
halte) als ein dem Gesetze der Identität gemäss in der
objectiven Wirklichkeit enthaltenes gedacht werden muss.
Der Gegensatz der Folge und ihres zureichenden Grundes führt
also einfach auf den von Subject und Object zurück, darauf
dass für alle subjective Setzung eines Wirklichen als gesetz-
massige Ergänzung jenes Identitätsverhältniss zur objectiven
Wirklichkeit gefordert werden muss. AUer sachliche und reale
Unterschied von Ursache und Wirkung dagegen gehört erst den
realen Verhältnissen an^ auf welche jenes formale Denkgesetz
angewendet wird. Mit diesem Obigen wollen wir nun aber
durchaus nicht sagen, dass auch schon das gewöhnliche
Denken in dem bestimmten empirischen Falle, in welchem es
aus einer Thatsache auf den ihr entsprechenden besonderen
Grund schliesst, in bewusster Weise jene allgemeine
Grundbedeutung des Gesetzes im Sinne habe, und also in aus-
') In den „Vorträgen und Abbandlungen philos. Inhalts^',
2. Samml. 1877, und zwar in den „Zusätzen" zu der früher schon
erschienenen Abhandlung „Ueber Bedeutung und Aufgabe der Er-
kenntnisstheorie^^
SinnesanschaauDg und logisches Causalgesetz. 19
dräcklicher Weise an das Verhältniss zur Wirklichkeit als
solcher denke. Diess ist vielmehr für gewöhnlich nicht der
Fall, sondern das Denken bleibt ganz innerhalb des bestimmten
empirischen Inhaltes und des für diesen geforderten besonderen
Grundes. Für die Nässe des Bodens z. B., diese erst von
aussen gekommene Wirkung, fordert es auch eine demgemässe
äussere und zeitlich vorausgegangene Ursache, den Regen oder
ein Schmelzen von Schnee u. s. w. Allein was ist denn nun
die rein logische Function und Gesetzmässigkeit, die sich
hierin vollzieht? Doch gewiss nichts Weiteres, als dass für jene
Thatsache ein mit ihrem bestimmten Wesen in Identität
stehendes Verhältniss der objectiven Wirklichkeit
gefordert wird. Alles Uebrige, dass es also im obigen Falle
jene äussere und zeitlich vorausgegangene Ursache ist, gehört
schon dem empirischen Inhalte an, nicht mehr dem
reinen Denkgesetze des zureichenden Grundes selbst Allein
weil das Denken für gewöhnlich schon in dem bestimmten
Inhalte sich bewegt, welcher einen realen Unterschied von Seiten
innerhalb des Wirkungsverhältnisses in sich schliesst, so hat
man übersehen / dass das reine Denkgesetz, das auf diese be-
stimmten Verhältnisse angewendet wird, doch nur eben jenes
oben bezeichnete formale Identitätsgesetz ist. Nach dieser rein
logischen Seite kommt also der bestimmte Inhalt der be-
treffenden Thatsache gar nicht in Betracht, sondern einfach für
die Thatsache als solche wird gefordert, dass sie dem Gesetze
der Identität gemäss in der Wirklichkeit enthalten sei. Jene
Nässe des Bodens wäre ein Widerspruch, wenn nicht 1) die
Wirklichkeit einen dieser Thatsache entsprechenden Inhalt in
sich schlösse, und wenn nicht derselbe 2) in der Natur der
Wirklichkeil als solcher läge. Diese letztere Seite ist dann
diejenige, zufolge welcher auch wieder für den Regen, für diese
empirische Ursache, ein zureichender Grund gefordert werden
muss u. s. f.
Diese Natur des logischen Causalgesetzes^ tritt daher auch
sogleich ganz klar hervor^ sobald es für sich, als allgemeiner
Grundsatz, gedacht wird: alles Wirkliche muss als solches
2*
20 K. Ch. Planck:
seinen zureichenden Realgrund haben. Hier bleibt dann für
den Sinn des zureichenden Realgrundes durchaus nichts mehr
übrig, als eben jenes dem Gesetze der Identität gemässe Ent-
haltensein in der Wirklichkeit als solcher. Und indem also
dieses Denkgesetz in bewusster philosophischer Weise
angewendet wird, so wird es zu der Forderung, dass alles
Wirkliche seinen wesentlichen Formen nach aus dem erst zu
erkennenden und richtig zu voUziehenden Begriffe der Wirk-
lichkeit als solcher sich ergebe (eine Forderung, deren einfache
und aus der Kritik der reinen Denkformen von selbst sich er-
gebende Durchfuhrung S. 17 ff. der oben genannten Schrift
bezeichnet ist). Erhebt sich nun auch das gewöhnliche Be-
wusstsein zu dieser bewussten und universellen Consequenz des
logischen Causalgesetzes nicht, so verehrt es doch auch dann,
wenn es nur von einer bestimmten und empirischen Folge auf
den entsprechenden besonderen Grund schhesst, sachlich und
unbewusst nach jenem reinen Denkgesetze, und die oben ge-
gebene Formulirung desselben spricht nur in bewusster Weise
sein rein logisches Wesen aus.
Zell er nun (S. 516 a. a. 0.) stimmt mit dem Obigen
scheinbar darin zusammen, dass auch er ein allgemein giltiges
Denkgesetz des Grundes unterscheidet, durch dessen An-
wendung auf die Erfahrung erst sich uns das „Causalitäts-
gesetz", d. h. das des realen Geschehens ergebe, üeber die
nähere Beschaffenheit dieses Causalzusammenhanges bestimme
ebendarum das Causalgesetz in seiner Allgemeinheit nichts, son-
dern nur an der Hand der Erfahrung seien die verschiedenen
Arten des Causalzusammenhanges festzustellen. Diese Unter-
scheidung eines allgemein giltigen Denk gesetzes und wiederum
der bestimmten empirischen (realen) Form 4es Causalzusammen-
hanges, die über jenes blosse Denkgesetz ganz hinausliege,
scheint nun ganz dem zu entsprechen, was auch Verf. dieses
will. Insbesondere würde sich so auch für die Willens-
freiheit dieselbe Consequenz ergeben, dass sie nämlich zur
bloss logischen Noth wendigkeit, zu jenem allgemein giltigen
Denkgesetze (als einem noch bloss formalen), keinen Gegen-
i
Sinnesanschauung und logisches Causalgesetz. 21
satz bilde, sondern dass erst die bestimmte reale Form, welche
das Causalverhällniss in der Willensfreiheit hat (der unsinnliche
Act der Selbstbestimmung)^ das unterscheidende Wesen der-
selben ausmache. Wir halten daher auch jedenfaUs dieses
Zugestandniss eines universell giltigen und von aller
empirischen Causalitätsf orm zu unterscheidenden D e n k -
gesetzes (oder einer allgemein logischen und hierin für
alles und jedes Wirkliche giltigen Nothwendigkeit) als
ein sehr werthvoUes fest, da es über die empiristische Kantische
Fassung des Gausalitätsgesetzes als eines nur für die Erscheinungs-
welt giltigen ganz hinausgeht und so viel bereits in sich schliesst,
dass logische Nothwendigkeit nicht mehr mit mechani-
schem Causalzusammenhang (auch nicht mit dem Kantischen
„Naturmechanismus'') identificirt werden darf.
Allein ganz anders gestaltet sich nun freilich diess alles,
sobald wir genauer sehen, wie Zeller jenes sogenannte Denk-
gesetz des Grundes seinerseits auffasst. Es besteht ihm darin,
dass „die Verknüpfung des Mannigfaltigen, in welcher das
Denken besteht, eine nothwendige ist, dass sie durch den In-
halt der zu verknüpfenden Vorstellungen gefordert ist; und
diess wird dann der Fall sein, wenn die eine von diesen Vor-
stellungen ohne die andere sich nicht vollziehen lässt, wenn
aus der einen die andere mit Nothwendigkeit hervorgebt, wenn
jene der Grund ist, diese die Folge''. Es kann kein Zweifel
sein, dass mit diesem Verhältnisse eine sachlichelnhalts-
verschi^denheit der betreffenden Vorstellungen gemeint ist,
bei welcher aus dem Inhalt der einen die andere mit logischer
Nothwendigkeit folgt. Wober aber haben wir solche Vor-
stellungen, woher jenes „Mannigfaltige'S das in solcher
Weise logisch verknüpft wird? Doch gewiss nur aus dem
Empirischen; nur der empirische Vorstellungsinhalt
begründet für das Denken diesen nothwendigen Fortgang von
der einen Vorstellung zu einer sachlich andern. Hiernach
haben wir in dieser Zeller'schen Auffassung jenes sogenannten
Denkgesetzes nicht nur eine ganz andere als unsere eigene,
sondern wir haben auch eben diejenige wieder, welche Verf.
22 K. Ch. Planck:
dieses in seiner ganzen Schrift bekämpft hat, jene, welche
den Gegensatz von Folge und Grund als eine sachliche
Inhalts Verschiedenheit fasst und vom Inhalt einer Vor-
stellung aus auf eine andere kommt, während nach unserer
Auffassung das Denkgesetz des zureichenden Realgrundes ganz
abgesehen vom Inhalte des betreffenden Objects einfach
daran sich knüpft, dass es als wirklich gesetzt wird. Und
dass wir auch in jener Zellep'schen Fassung wieder eine Ver-
mengung mit dem Empirischen haben, nicht aber ein
reines Denkgesetz, zeigt ja schon das Obige, und ergibt sich
noch bestimmter aus den weiteren Consequenzen.
Dass nämlich jenes angebliche reine Denkgesetz des Grundes,
von dem Zeller spricht, sich nur erst auf Vorstellungen,
auf ihre noth wendige Verknüpfung bezieht, während dann
hie von die Anwendung dieses Denkgesetzes auf die Dinge
und Vorgänge der Erfahrung unterschieden wird, welche den
Gegenstand des Denkens bilden, — diess ändert an dem oben
Gesagten durchaus nichts. Denn auch ein blosser Vorstellungs-
inhalt jener obigen 'Art muss doch eben aus dem Empirischen
entnommen sein. Durchaus nur diesem gehört ein solches
„Mannigfaltiges*' an, das einen nothwendigen Fortgang zu einem
sachlich Andern enthält. Es ist also mit jener Zeller'schen
Unterscheidung durchaus nichts gewonnen; das angebliche all-
gemeine Denkgesetz ist doch von vorn herein schon kein reines
Denkgesetz mehr, sondern ein an empirischem Inhalt wirksames
und auf diesen bezogenes, also selbst ein bereits angewendetes.
Und die Forderung, dass dieses Gesetz auch für die wirklichen
Dinge und Vorgänge der Erfahrung gelten müsse, diese so-
genannte „Anwendung'', macht für das Wesen und den Inhalt
dieses Gesetzes nichts mehr aus. Wenn also Zeller dennoch
mit Recht die bestimmte Form des Causalzusammenhanges von
dem allgemeinen Causalgesetze selbst unterscheidet, so hat er
hiebei unbewusst Widersprechendes neben einander gestellt, da
auch schon der Vorstellungsinhalt seines angeblichen allgemeinen
Denkgesetzes, dieses „Mannigfaltige", sachlich bqjreits empirische
Sinnesanschauung und logisches Causalgesetz. 23
und bestimmte Formen des Causalzusammenhanges in sich
schliessen muss.
Aber auch -gerade darin, dass jenes Zeller'sche Denkgesetz
schon für das Verhäitniss blosser Vorstellungen gilt,
liegt noch ein weiterer Beweis von der Unrichtigkeit dieser
Auffassung des logischen Causalgesetzes. Denn ein zureichender
Realgrund wird ja doch nur für dasjenige gefordert, was als
wirklich; als thatsächlich giltig zu betrachten ist. In- jenem
Zeller'schen Denfcgesetze dagegen handelt es sich bloss um den
nuthwendigen Fortgang von einer Vorstellung zu einer andern,
darum, dass die eine nicht ohne die andere zu denken ist.
Und dabei kommt noch das ViTeitere hinzu, dass dieser Fort-
gang ebenso gut von einem Grund zu einer Folge
fortführen kann,, als von einer Folge 7U deren Grunde.
Was hat denn aber jenes erstere Verhäitniss mit dem Denk-
gesetz des zureichenden Realgrundes zu schaffen? Dieses
Gesetz hat ja eben darin sein Wesen, dass es immer und
überall nur den zureichenden Grund fordert, alles Wirkhche
als Folge eines zureichenden Realgrundes fasst. Dagegen der
logische Fortgang von einem Grunde zu einer daraus sich er-
gebenden Folge gehört nicht melu* hieher, sondern dieser ist
nur eine bestimmte und schon durch ein empirisches Inhalts-
verhältniss bedingte Anwendung von dem Gesetze des logi-
schen Grundes, indem der vorausgesetzte Grund das Denken
so bestimmt, dass es auch dessen Folge damit verbinden muss,
mag nun darin ein blosses Verhäitniss von Vorstellungen oder
ein thatsächhch bestehendes ausgesagt sein. Immer ist es schon
ein bestimmtes Consequenzurtheil (dergleichen z. B. auch die
mathematischen sind), das schon irgend welches empirische
Inhalts verhäitniss zum Gegenstande hat. Es handelt sich
dabei zwar auch um eine Gesetzmässigkeit und Nothwendig-
keit, aber nicht mehr nur um jenes reine und allgemeine Denk-
gesetz, sondern schon um irgend ein bestimmtes empirisches
Verhäitniss eines Vorstellungsinhaltes.
Und so ist denn auch von hieraus wieder klar, dass der
rein logische Ursprung des Gegensatzes von Grund und
24 K. Ch. Planck:
Folge nicht, wie Zeller will, in jener nothwendigen Verknüpfung
eines „Mannigfaltigen'' und in dessen Inhalt liegen kann, da
diess vielmehr nur in die alte Kantische Vermengung mit
dem empirisch realen Gegensatze von Ursache und Wirkung
zurückführt. Sondern der wahre rein logische Ursprung jenes
Gegensatzes knüpft sich durchaus nur daran, dass alles, was das
Subjectals wirklich setzt, auch als ein dem Gesetze der
Identität gemäss in der objectiven Wirklichkeit ent-
haltenes gedacht werden muss. Nur so bleibt das logische
Causalgesetz(w.ornach jedes Wirkliche seinen zureichenden Grund
haben muss), ganz in derselben Weise ein rein formales Denk-
gesetz, wie der Satz A = A, und nur so ers<iheint es als die
volle und natürliche Parallele zu dem subjectiveren Gesetze des
logischen Grundes, wornach das Denken nichts als wirklich
denken und aussagen darf, was ihm nicht als objective That-
sache irgendwie gegeben ist. (Vgl. hierüber das Genauere a. a. 0.
S. 6 ff., 26 ff.) Dass wir diess alles auch gegenüber von Zeller
nochmals nachweisen mussten, mag allerdings damit zusammen-
hängen, dass unsere Auffassung des logischen Causalgesetzes^
ohne jene oben gegebene (wiewohl selbstverständliche) Erläute-
rung, gegenüber von der gewöhnUchen Anwendung jenes Ge-
setzes, die ganz innerhalb des empirisch Besonderen sich be-
wegt, als eine fremdartig abweichende und schon zu philosophisch
gefärbte erscheinen kann. Allein wie diess also nur ein falscher
Schein ist, so zeigt sich auch in dem Obigen nur, wie tief
gewurzelt in der bisherigen Auffassungsweise jener Grundfehler
ist, und wie selbst bei einem solchen Streben, das zwischen
dem allgemeinen Denkgesetze und den empirischen Formen des
Causalzusammenhanges scheiden will, doch noch die Gefahr
des Zurückfallens in jenen Grundfehler vorhanden ist.
Von dem allen haben wir nun auch die Anwendung zu
machen auf Zeller's Vertheidigung der Helmholtzischen und
Schopenhauer'schen Ansicht, dass die gegenständliche Sinnes-
anschauung auf einem durch das logische Gausalgesetz be-
stimmten „unmittelbaren Schlüsse^' (aus einer Einwirkung auf
deren Ursache^ beruhen soll.
Sinnesanschauang und logisches Causalgesetz. 25
Ist nämlich das rein logische Causalgesetz bis jetzt noch
durchweg verwechselt mit seiner Anwendung auf das empirisch
reale Wirkungsverhältniss, und wird hiebe! der logisch formale
Gegensatz von Folge und Grund vermengt mit der empirisch
sachlichen Inhalts Verschiedenheit von Ursache und Wirkung,
so ist auch ebendamit die Gefahr da, dass das un sinnlich
formale Gesetz, welches das Denken auf den empirischen
Gausalzusaramenhang anwendet, nicht mehr nach diesem seinem
specifischen Unterschiede festgehalten und erkannt wird. Es
kann dann um so eher das blosse sinnlich psychische
Innewerden einer gegenstandlichen Einwirkung (und darin ihrer
Ursache) verwechselt werden mit einem Yerstandesacte, der
aus einer gegebenen Einwirkung auf deren Ursache schliesst
Dass eine solche Verwechslung bei jener obigen Erklärung der
Sinnesanschauung, vor allem der des Gesichtssinnes, stattfinde,
diess ist schon in den betreffenden Abschnitten unserer Schrift
nachgewiesen (S. 98 If., 153 ff.)« und diess hat auch Zelier
durch die Art seiner Vertheidigung bestätigt.
S. 513 nämlich a. a. 0. wird gesagt: „Wenn wir unsere
Wahrnehmungen auf Dinge ausser uns beziehen, so kann diess
nur dadurch geschehen, dass wir sie als eine Wirkung dieser
Dinge betrachten/' Wir stimmen hiemit ganz überein, falls
jener Ausdruck, dass wir sie „auf Dinge ausser uns beziehen'^
richtig verstanden und. angewendet wird. Allein eben hier liegt,
wie wir sehen werden, eine Ungenauigkeit und Verwechslung
zu Grunde. „Denn", heisst es nun weiter, „da die Dinge selbst
ausser uns bleiben, da uns in den Vorstellungen, deren Stoff
die Empfindungen uns liefern, nicht die Dinge gegeben werden,
sondern nur ihr Bild, so lässt sich schlechterdings kein anderer
Weg denken, auf dem wir zur Anschauung der Dinge kommen
könnten: diese Anschauung entsteht uns, wie diess schon Hume
und Kant nachgewiesen haben, und unter den gegenwärtigen
Forschern namentlich Helmholtz mit Recht annimmt, durch
einen Schluss von der Wirkung auf die Ursache." Wir sehen
hier von der Behauptung, dass uns durchaus nicht die Dinge,
sondej'n nur deren Bild gegeben werde, vorerst noch ab, weil
26 K. Ch. Planck: /
wir ihr gleich weiter unten; vor allem hinsichtlich des Gesichts-
sinnes, werden entgegentreten müssen. Zunächst haben wir
den Zusammenhang zwischen dem letzten und dem voraus-
gehenden Satze Zeller's in das Auge zu fassen. In der Art
nämlich, wie der zweite jenen ersteren begründen soll, liegt
offenbar enthalten, dass die „Anschauung der Dinge'' ein
„Beziehen unserer Wahrnehmungen auf Dinge ausser
uns" in sich schliesse. Eben diess aber müssen wir von der
blossen Sinnesanschauung durchaus leugnen. Die Anschauung,
welche in unserer unmittelbaren Sehempfindung stattfindet, ent-
hält trotz ihrer eigenthümlichen Objectivität, durch welche sie
sich von andern SinnesaufTassungen unterscheidet^ dennoch noch
durchaus nichts von einer Vorstellung von' Dingen
ausser uns. Diese oder, wenn wir es anders ausdrücken
sollen, jenes „Bezieben auf Dinge ausser uns", ist durchaus erst
durch eine Setzung möglich, dass etwas ausser uns sei;
diese aber gehört erst dem Denken an, und nur eine solche
Setzung kann sich als ein Schluss, krall des logischen Causal-
gesetzes, vollziehen. In jener unmittelbaren Sinnesanschauung
dagegen ist von einer solchen Setzung noch gar nichts ent-
halten. Sie ist noch blosses Innewerden dieser sub-
jectiven Erscheinungsform eines gegenstandlich Herein-
scheinenden und insofern Hereinwirkenden (ein Verhältniss,
über dessen natürliche Begründung unten die Rede sein wird).
Dazu aber ist weder ein Schluss nöthig, noch kann überhaupt
diess auf einem Schlüsse beruhen, da es ja noch keinerlei
Setzung eines Dings ausser uns in sich enthält, sondern nur
eine in eigenthümlich objectiver Form erscheinende sub-
jective Bestimmtheit. Ein causalgesetzlicher Schluss jener
obigen Art dagegen würde durchaus die Setzung eines gegen-
ständlichen Grundes ausser uns in sich schliessen, was in
jener blossen Sinnesauffassung gar nicht enthalten ist. Diese
enthält im Gegensatze zu jener Setzung eines Dings ausser uns
psychisch noch nichts Weiteres, als jene subjective Empfindungs-
beslimmtheit, obgleich dieselbe im Unterschied von andern Sinnen
diesen eigenthümlich objectiven Erscheinungscharakter trägt
Sinnesanschauung und logisches Causalgesetz. 27
Und so wird also in jener Theorie die blosse subjective Er-
scheinungsform eines einwirkenden Gegenstandes, diess blosse
innewerden der eigenthürolichen Nervenbestimmtheit, mit der
logisch causalgesetzlichen Setzung eines Grundes ausser uns
verwechselt.
Sollte es freilich ein wirklicher, von der SinnesaufTassung
selbst zu unterscheidender Denkact sein, der damit gemeint
wäre, dann würde allerdings der obige Einwurf gegen ihn nicht
gelten. Allein es wäre dann auch nicht einzusehen, wie dieser
Denkact oder Schluss der von ihm ganz verschiedenen Sinnes-
auffassung jenen specifisch gegenständlichen Charakter sollte
geben können. Auch hat die Bezeichnung jener Schlüsse als
unmittelbarer und unbewusster ihren vollen und specifischen
Sinn doch nur, wenn sie gar nicht als eigentlicher (sei es auch
nur mit der Macht unmittelbarer Gewohnheit wirksamer) Denkact
aufgefasst werden, sondern überhaupt in ein gar nicht so be-
wusstes, niedereres Gebiet der psychischen Thätigkeit verlegt
werden. Soll nun aber, damit jene gegenständliche Gestaltung
der Sinnesanschauung erklärlich werde, jener unmittelbare
Schluss in die SinnesaufTassung als solche verlegt werden, so
erhalten wir eine ganz widersprechende Durcheinanderwirrung
vöUig verschiedener psychischer Thätigkeiten. Denn die Sinnes-
auffassung ist noch ein unmittelbares Unterscheiden eigenthüm-
lich besonderer Theilbestimmtheiten des eigenen Nervenlebens;
sie ist also noch unmittelbare empfangliche Beziehung auf eine
von ihr selbst unabhängige, aus dem Nervenzustand an sie
kommende Einwirkung. Der Schluss auf einen objectiven Real-
grund dagegen ist eine Thätigkeit, die, wie wir gesehen haben,
von einer Setzung aus, d. h. von der Unterscheidung eines
Objects als wirklichen und thatsächlichen, dem Gesetz der
Identität gemäss selbstthätig auf ein nicht Gegebenes
zurückgeht, nämlich eben darauf, dass jenes Object dem Gesetz
der Identität gemäss in der Wirklichkeit als solcher enthalten
sein müsse. Und diese logisch formale und unsinnliche Natur
des Schlusses wird, wie wir oben gesehen haben, durch seinen
empirisch besonderen Inhalt, wornach für eine gegenständliche
^
28 K. Ch. Planck:
Einwirkung auf das Subject (jenen ,,Reiz") eine entsprechende
einwirkende Ursache gefordert würde, durchaus nicht verändert
Wie nun jene obige vom unsinnlich formalen Identitatsgesetz
ausgehende Thätigkeit innerhalb der unmittelbaren Sinnesauf*
fassung und ihres Verhaltens sollte stattfinden können, ist
durchaus unverstandlich. Denn selbst die sinnliche Einbildungs-
kraft, diese schon ungleich selbständigere und innerlichere Thätig-
keity welche nicht mehr der unmittelbaren Sinnlichkeit, sondern
schon der Stufe des sinnlichen Bewussts eins angehört^ ent-
hält noch durchaus keine solche reine Unterscheidungsform,
welche ein nicht empirisch gegebenes Identitatsverhältniss der
betreffenden Einwirkung mit der objectiven Wirklichkeit fordern
könnte. Auch noch die sinnhche Einbildungskraft enthält vor-
erst keinerlei Setzung eines Wirklichen, sondern sie bleibt
noch unmittelbar in ihre besonderen sinnlichen Bilder (in diese
verinnerlichten Sinnesempfindungen) versenkt. Sie unterscheidet
ferner an ihren Bildern zwar auch Uebereinstimmung, Aehn-
lichkeit und Gegensatz, aber sie wird das Verhältniss der neuen
BesÜQimtheit zur früheren doch nur in der unmittelbar sach-
lichen Form inne, dass sie es eben an dem besonderen sinn-
lichen Bilde selbst empfindet; nicht aber kann sie gleich dem
Denken Identität oder Widerspruch als solche, als dieses
formaleVerhältniss, unterscheiden. Gilt diess aber noch
von der sinnlichen Einbildungskraft, so muss es noch mehr
von der unmittelbaren Sinnesauffassung und Sinnesanschauung
gelten. Statt der wirklichen, noch unmittelbar leidentllch auf
die Nervenbestimmtheiten bezogenen Sinnesauffassung muss da-
her erst etwas ganz Anderes^ eine idealistisch selbstthätige Unter-
scheidungsform, unterschoben werden, damit von einem der-
artigen causalgesetzlicheu (wenn auch „unbewussten^^ oder „un-
mittelbaren") Schlüsse überhaupt die Rede sein kann. Denn
der causalgesetzUche Schluss aus einer Einwirkung auf deren
objective Ursache schliesst durchaus schon eine solche Unter-
scheidungsform in sich; welche von aller unmittelbaren Rück-
beziehung auf jene Theilbestimmtheiten des Nervenlebens (auch
von einer solchen, wie in der sinnUchen Einbildungskraft) ge-
Sinnesanschauung und logisches Causalgesetz. 29
schieden und frei ist, also an sich selbst inhaltslos, unsinnlich
und formal ist. Nur eine solche Unterscheidungsform, die schon
die reinen inhaltslosen Formen des Objects überhaupt und
seiner Verhältnisse in sich schliesst (wie diess das Wesen der
Denkformen ist), ist sowohl jener Setzung eines Objects als
wirklichen, wie jener daran geknüpften causalgesetzlichen Forde-
rung fähig, mag auch gleich diese letztere in eine ganz be-
stimmte empirische Jnhaltsform eingehüllt sein.
Dass nun aber dennoch der unmittelbaren Sinnesanschauung
selbst eine mit ihr so unvereinbare logisch formale Selbstthätig-
keit unterschoben werden konnte, dazu hat freilich ausser jener
Vermengung des logischen Causalgesetzes mit dem empirischen
€ausalzusammenhang auch noch die jetzige Theorie der Sinnes-
auffassung selbst mitgewirkt. Denn diese bringt durch ihre
bloss mechanische Auffassung der Nervenwirkungen nothwendig
bis zu einem gewissen Punkte eine noch einseitig active und
idealistisch subjective Auffassung der psychischen Sinnesthätig-
keit mit sich ; und diese Seite kommt denn auch bei der Zeller'-
sehen Auffassung nothwendig mit in Betracht.
(Zweiter Artikel im nächsten Heft.)
Blaubeuren. R. Ch. Planck.
1
üeber die Anwendung des Begriffes von Gesetzen
auf die Sprache.
Wenn eine Hauptaufgabe wissenschaftlicher Philosophie
darin besteht, das Yerhältniss der einzelnen Wissenschaften zu
einander und zur Philosophie als ihrem Mittelpunkte zu über-
wachen, die Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und den
Theilen der Wissenschaft zu regeln und zu fördern, besonders
durch bestandige Kritik der gemeinsamen Grundbegriffe aller
oder mehrerer Disciplinen, so ist es wol zeitgemäss, unter
andern den Begriff des Gesetzes zum Gegenstand einer Unter-
suchung in der angegebenen Richtung zu machen. Es ist dies
auch schon geschehen^ zuerst von RümeUn in seiner Abhand-
lung „lieber den Begriff eines socialen Gesetzes^* (Zeitschr. f. d.
ges. Staatswissensch. 1868^ pag. 129 — 150), dann von Eucken
in seiner „Geschichte und Kritik der (?bundbegriffe der Gegen-
wart", 1878, pag. 115 ff. Beide fanden sich veranlasst^ vor
voreiliger Anwendung des Wortes „Gesetz" auf Wissensgebiete
zu warnen, welche, wenigstens gegenwärtig noch, die Aufstellung
von Gesetzen nicht mit Sicherheit zulassen. Alle Wissenschaften
streben wol nach Auffindung und Darstellung von Gesetzen,
aber nicht alle sind darin gleich weit vorgeruckt, und die Be-
deutung des Wortes ist in den einzelnen Wissenschaften, in
welchen es bereits üblich geworden ist^ jedenfalls in höherem
Maasse verschieden, als man gemeinhin zu bedenken scheint.
L. T 0 b 1 e r : lieber d. Anwend. d. Begr. v. Gesetzen a. d. Sprache. ;-) 1
Das die moderne Wissenschaft unverkennbar beseelende Be-
streben, die Scheidewand zwischen Natur und Menschen weit
auf möglichst vielen Punkten zu durchbrechen und das ge-
sammte Menschenwesen, also auch die Geschichte, als natür-
liche Entwicklung zu begreifen, hat dazu geführt, dass miui
Naturgesetze oder ein Analogon derselben auch da suchen will
oder bereits gefunden zu haben glaubt, wo man bisher nur
sitthche oder staatliche Gesetze gekannt hatte. Von dieser Sphäre
ist ja auch das Wort „Gesetz*' und die entsprechenden Wörter
der übrigen Cultursprachen ursprüngüch ausgegangen; und wenn
ein so einsichtiger und eifriger Vertreter der Naturwissenschatten
wie Huxley (Beden und Aufsätze, pag. 16 der Uebersetzung) die
Bildung des Wortes ,;Naturgesetz'^ ;,eine unglückliche Metapher''
genannt hat, so lohnt es sich wohl der Mühe, zunächst einmal
zu untersuchen, wie man überhaupt zu jener Uebertragung des
Wortes gelangen konnte.
In der That besteht ja zwischen Naturgesetzen und Sitten-
oder Staatsgesetzen nicht bloss der Unterschied, der eben in
den das Geltungsgebiet bezeichnenden Attributen ausgedrückt
ist, sondern durch diese ist auch der Begriff von Gesetz selbst
sehr verschieden bestimmt Zwar sind auch die sogenannten
Naturgesetze, wenn man sie noch so sehr als objective Mächte
hypostasirt; Producte menschlicher Thätigkeit, aber diese ist
hier die rein theoretische Erkenntniss, im Gebiete der Sittlich-
keit und Gesellschaft aber ist es eine praktische Thätigkeit des
Willens, von welcher und für welche Gesetze geschaffen sind.
Diese Gesetze sind Geglinstände besonderer Wissenschaften,
der Ethik, Jurisprudenz u. s. w., aber nicht Producte wissen-
schaftlicher Thätigkeit, und erst wenn es jenen Special Wissen-
schaften gelänge, die Thätigkeit der sittlichen und staatlichen
Gesetzgebung selbst wieder auf Gesetze zurückzuführen^
wären diese etwas Naturgesetzen Entsprechendes. (Vgl. Jahrg. 1,
pag. 552^ dieser Zeitschrift.) Wenn Proudhon sagt, Gesetze
werden weder von Fürsten noch von Völkern gegeben, son-
dern von der Wissenschaft gefunden und ausgesprochen, so
ist damit freilich der {^ewöhnUclie Begriff von Gesetzen ganz
32 L- Tobler:
aufgehoben und der von wissenschaftlichen Naturgesetzen, auch
für das menschliche Leben, als allein gültig aufgestellt; es liegt
also darin jenes Streben der modernen Wissenschaft nach
monistischer Welterklärung ausgesprochen , welches heute noch
nicht erfüllt werden kann ; aber der für einmal noch bestehende
Unterschied zwischen zwei Arten von Gesetzen ist durch den
zwischen geben und finden ganz richtig ausgedrückt und
damit hängt ja auch die verschiedene Art der Geltung zusammen.
Die Naturgesetze sprechen ein reales Sein oder Geschehen,
eigentlich nicht einmal ein Müssen aus, die ethischen und
politischen ein nur ideales Sein, aber umsomehr ein Sein-
So 11 en, und dieser Unterschied, so tief greifend er ist, be-
darf keiner weiteren Erörterung. Aber es muss doch auch
etwas Gemeinsames geben, sonst wäre die Uebertragung des
Wortes „Gesetz'* vom einen Gebiet auf das andere unbegreif-
lich, sie müsste denn auf der blossen Vorstellung einer gewissen
Aehnlichkeit beruhen, welche zwischen beiden Gebieten besteht,
insofern wir sie uns überhaupt von irgend einer Ordnung be-
herrscht denken, die im Menschen ein Gefühl von Sicherheit
und auch etwas von ästhetischem Wohlgefallen erweckt. Aber
in der That liegt eine tiefere Uebereinstimmung gerade dort,
wo der Unterschied am tiefsten zu gehen scheint. Die Natur-
gesetze erfahren keinerlei Widerstand oder Verletzung, sie
werden immer erfüllt, während die menschlichen Gesetze durch
den Willen oft genug durchbrochen oder umgangen werden:
aber es ist doch, so wesentlich es sonst sein mag, für den
Begriff eines menschlichen Gesetzes selbst etwas Zufälliges, ob
es im einzelnen Falle erfüllt werde oder nicht: seine Gültigkeit
oder sein Anspruch auf Geltung bleibt ebenso ungebrochen,
ausnahmslos, absolut wie die eines Naturgesetzes. Hier also, in
dieser Ausnahm slosigkeit der Forderung^ liegt der springende
Punkt der Uebereinstimmung und dieses eine Merkmal genügte,
um die Sprache zur Uebertragung des Wortes von dem ur-
sprünglichen Gebiete seiner Bedeutung auf das der Natur zu
veranlassen. Wenn die deutsche Sprache, bei ihrer nur allzu
grossen Leichtigkeit in Bildung von zusammengesetzten Wörtern,
Ueber die Anwendung d. BegrifiFes v. Gesetzen a. d. Sprache. 33
das Compositum „Naturgesetz'', zu bilden erlaubte, so ist der
mit der Worteinheit ^eugte Schein einer neuen Begriffseinheit
hier nicht trügerischer als bei manchen ähnlichen Wortbildungen,
dergleichen auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch vor-
kommen. Eine grosse Glasse der deutschen Nominalcomposita
ist so beschaffen , dass das ganze Wort eine Species des im
zweiten Theil enthaltenen Begriffes bezeichnet. Wo nun das
zweite Wort einen hinlänglich bekannten, meistens einfachen
und sinnlichen Gegenstand bezeichnet, dem durch das erste ein
specielles Merkmal zugeschrieben wird, ist der Begriff des
Ganzen meistens in der angegebenen Weise richtig gebildet.
Wo dagegen das zweite Wort einen abstracten oder complicirten
Gegenstand bezeichnet, dessen Begriff vielleicht selbst noch etwas
streitig ist, nimmt der durch die Composition entstehende Begriff
des Ganzen an der Unsicherheit des Grundbegriffes Theil und
es entstehen auf diesem Wege neue Begriffe, welche oft etwas
noch Problematisches, gleichsam nur Heuristisches an sich tragen.
Das hindert solche Begiiffe nicht, als wirksame Hebel gerade
bei fortschreitender wissenschaftlicher Forschung zu dienen, zu
welchem Zwecke Wörter jener Art oft wirklich erst geschaffen
werden; aber man darf nie vergessen, dass der so erzeugte
neue Begriff nur eine vorläufige, versuchsweise Geltung hat,
indem er als Exponent für einen Inhalt dienen soll, der noch
nicht empirisch vollständig gesammelt oder kritisch bereinigt
ist. Es kann sogar der Fall sein, dass die beiden TheUbegriffe
des Compositums einander fast widerstreiten und ausschliessen,
ohne dass man darum Anstand nimmt, den scheinbar sich selbst
widersprechenden oder den Grundbegriff aufhebenden Total-
begriff zu bilden und zu gebrauchen. Die Apperception , auf
der solche Wortbildungen beruhen, geschieht, wie alles Sprach-
hche, mehr durch die Phantasie als durch den logischen Ver-
stand ; sie haben daher etwas Poetisches, ohne darum zu wissen-
schaftlichem Gebrauche untauglich zu sein, so lange denselben
das Bewusstsein der ursprünglichen Tragweite und Bestimmung
des Wortes begleitet. Einige Beispiele, aus der gemeinen und
Vierteljahrssclirift f. wisBenschAftL Philosophie, in. 1. 3
34 ^ Tobler:
aas der wissenschafUichen Sprache, mögen hier folgen, um die
Möghchkeit und Leistungsfähigkeit solcher Begriffe ins Licht zu
setzen, zu denen eben auch der von Natur- und Sprachgesetzen
zu gehören scheint Wir wählen daher auch die Beispiele zum
Theil aus dem Begriffskreise von Staat und Sprache.
Bei T a u f e scheint uns wesentUch das Element des Wassers ;
aber trotzdem bilden wir das Compositum Feuertaufe, welches
seine prägnante Bedeutung gerade aus dem Contrast mit der
gewöhnhchen Vorstellung empfangt. — Bei Geld ist die Vor-
stellung von geprägtem Metall zwar nicht ursprünglich gegeben,
da das Wort eigentUch nur „Leistung'' und dann „Gegenwerth'S
„Vergeltung'' bedeutet ; aber wir haben uns doch längst gewöhnt,
zunächst an klingende Münze zu denken und das hält uns
nicht ab, den Gegensatz dazu ausdrücklich als Papiergeld
zu bezeichnen. — Als eine der ersten und zugleich höchsten
Culturschöpfungen, die den Menschen vom Thier unterscheide,
betrachten wir den Staat; aber wir können nicht umhin, den
Bienenstaat als eine in seiner Art ebenso vollkommene Ein-
richtung zu bewundern. — Ganz unverfangHch erscheinen uns
die Bezeichnungen Wort- und Sprachstamm, Sprach-
bau, Satzglied und ähnliche, weil wir uns der blossen Bild-
hchkeit in der Vergleichung der Sprache mit einer Pflanze
oder einem thierischen Körper deutlich bewusst bleiben; aber
bei Geberdensprache und Bilderschrift ist wieder
ein förmlicher Gegensatz im Spiele, da wir sonst bei Sprache
und Schrift ohne Weiteres an Laute als Elemente beider
denken. — Offenbar verfänglich und doch beliebt und, geläufig
sind Ausdrücke, wie Pflanzenseele, Natur- und Völker-
recht, Völkerpsychologie. „Pflanzenseele" klingt aller-
dings mehr mythologisch und poetisch als wissenschaftlich, aber
neuestens spricht man ja schon von Zellenseelen, welche viel-
leicht jene entbehrlich machen! — Vom Rechte wird wohl heute
ziemhch allgemein zugegeben, dass es nur als positives existirt;
aber der alte Name Naturrecht lässt sich doch nicht verdrängen.
Dass ein Völkerrecht nur als Ideal der Gelehrten und Menschen-
freunde existirt, erfahren wir jeden Tag; aber eben darum
Ueber^die Anwendung d. Begriffes v. Gesetzen a. d. Sprache. 35
kann der Ruf nach Herstellung einer internationalen Autorität
nicht verstummen, lieber den Namen Völkerpsychologie
hat man anfängUch die Achsel gezuckt, er bezeichnet ja auch
noch lange keine zu Recht bestehende Wissenschaft und würde
wohl besser mit Sociologie vertauscht; aber thatsächlich wird
er immer häufiger gebraucht und thut seine Dienste, um eine
Wissenschaft vorzubereiten, ohne welche kißine Philosophie der
Geschichte möghch werden wird.
Aehnlich nun wie die letztgenannten Wörter scheint auch
„Naturgesetz" gebildet, und da dieses Wort nun einmal ge-
bräuchlich geworden ist, so wäre es unfruchtbar^ dasselbe be-
kämpfen oder verdrängen zu wollen. Auch ist ja unsere ganze
Abhandlung nicht direct auf diesen Begriff gerichtet, sondern
wir mussten ihn nur in Betracht ziehen, weil die Sprachgesetze^
um die es sich für uns hauptsächlich handelt, als Naturgesetze
oder als Analoga von solchen gedacht werden. Bevor wir also
jene untersuchen, müssen wir genauer zusehen^ wie der Begriff
von Gesetzen, auf die Natur angewandt, sich gestaltet hat; erst
dann können wir die weitere Uebertragung desselben auf die
Sprache prüfen. Zum Voraus muss nur noch gesagt werden,
dass mit einer allgemeinen Versicherung, Naturgesetze und
Sprachgesetze seien natürlich „etwas ganz anderes" als Gesetze
im gewöhnlichen Sinne, d. h. sittliche oder staathche, und auch
in „Sprachgesetz" habe das Wort Gesetz wieder einen anderen
Sinn als in „Naturgesetz", die Sache nicht erledigt ist. Wer
diese Ansicht hegt, der mag alles Folgende ungelesen lassen:
wir schreiben unter der Voraussetzung^ dass ein leeres Spiel
mit Worten in der Wissenschaft nicht vorkomme, dass also
eine gewisse Continuität des Begriffes in den drei Gebieten
aUerdings zu Grunde liege; nur müssen eben Stufen desselben
unterschieden werden. Endhch wollen wir noch das mögliche
Missverständniss abwehren, als handle es sich um die Frage,
ob die ganze Natur und die ganze Sprache irgend welchen
Gesetzen gleichmässig unterworfen sei. Biese Frage kann aller-
dings nicht ganz unberührt bleiben, aber zunächst fragt es
sich weniger, in welchem Umfang der Begriff von Gesetzen
36 L- Tobler:
auf Natur und Sprache Anwendung finde , als in welchem
Sinne.
Man spricht von Gesetzen, die in der Natur walten, zu-
weilen in jenem etwas unbestimmten, allgemeinen Sinne, wobei
man nur an eine im grossen Ganzen herrschende Ordnung
denkt, welche sich allerdings der sittlichen und staatlichen
vergleichen lässt und etwa in den Goethe'schen Versen aus-
gesprochen ist:
Das Sein ist ewig, denn Gesetze
Bewahren die lebendigen Schätze,
Aus denen sich das All geschmückt.
Man mag in diesen Versen eine Ahnung des Gesetzes von
der Erhaltung der Kraft finden ^ aber eine Definition des Be-
griffes „Gesetz*' lasst sich aus denselben gewiss nicht ableiten.
Der wissenschaftliche Gebrauch des Wortes ist denn doch etwas
bestimmter, wenn auch immer noch schwankend. Nicht selten
versteht man unter Naturgesetzen gewisse mit Sicherheit er-
kannte und für den Bestand des Naturlebens sehr wichtige
Thatsachen von allgemeiner Bedeutung, welche eine Menge
specieller, sich wiederholender Erscheinungen unter einen Ge-
sichtspunkt zusammengefasst darstellen, aber nicht erklären.
Von dieser Art ist etwa die gegenseitige Ernährung der vege-
tabilischen und animalischen Natur durch den Umsatz von
Kohlensäure, aber auch die Bewegung der Planeten um die
Sonne, wenn nur die Thatsache, nicht die Art und Ursache
derselben ins Auge gefasst wird; ferner der Kreislauf des
Wassers in seinen Verwandlungen u. dgl. Sätze, wie die in
der älteren Naturwissenschaft beliebten, z. B. dass die Natur
sparsam sei, dass sie keine Sprünge mache u. dgl. würden,
auch wenn sie als durchaus richtig erwiesen wären, keine Gesetze
ausmachen, sondern eben höchstens nützliche und interessante
Wahrheiten bleiben. Der strengere und engere Sinn des Wortes
„Gesetzes auf den die Wissenschaft ihren Gebrauch desselben
einschränken sollte, bezieht sich nicht auf fertige allgemeine
Thatsachen, die einfach als solche hingestellt werden, sondern
auf Erklärung des lebendigen Geschehens aus der bestimmten
Ueber die Anwendang d. Begriffes v. Gesetzen a. d. Sprache. 37
Wirkungsweise von Kräften. Rumelin erklärt daher Gesetz
geradezu als die Definition von Kräften, und scheinbar um-
gekehrt, sachlich übereinstimmend, erklärt Helmholtz (Vorträge,
Heft 2, pag. 190) Kräfte als objectivirte Gesetze, wobei der
letztere Begriff naturlich auf seine ursprünglich subjective (er-
kenntnisstheoretische) Bedeutung reducirt ist. (Vgl. Jahrg. I,
pag. 565 dieser Zeitschrift.) Für die mehr subjective Fassung
oder Färbung des Begriffs besteht sonst eben ein anderer Aus-
druck, nämlich „Regel'', und die beiden Wörter dürfen jedenfalls
einander nicht leichthin gleichgesetzt oder promiscue gebraucht
werden; aber ihr Unterschied ist auch nicht leicht festzustellen
und die Naturforscher selbst scheinen über denselben nicht
ganz einig zu sein. Von dem Begriff „Regel'' gilt wie von
„Gesetz'S dass er auf dem Gebiete menschlichen Thuns er-
wachsen ist; neben dem Sittengesetz gibt es ja Sittenregeln,
Regeln des Anstandes, auch der blossen Klugheit u. s. w.^
während von Regeln der Natur selbst Niemand spricht^ sondern
nur von Regeln der Beobachtung und Behandlung der Natur.
Von Gesetz unterscheidet sich Regel auf dem Gebiete mensch-
lichen Handelns dadurch, dass das Gesetz «mehr allgemeine
Grundsätze ausspricht, die Regel mehr die Durchführung und
Ausführung derselben im Einzelnen betrifft. . Damit hängt dann
die im gemeinen Sprachgebrauch ziemlich herrschende Vor-
stellung zusammen, dass ein Gesetz keine Ausnahmen erleide
und ertrage, während der Satz „keine Regel ohne Ausnahme"
wenigstens sprichwörtliche Geltung hat Auf dem Gebiete der
Naturwissenschaft ist der Unterschied zwischen Gesetz und Regel
ziemlich entsprechend dem eben angegebenen, nur mit dem
Unterschiede, dass R.egel einen etwas weniger vorgerückten,
noch nicht bis zu allgemein gültigen Sätzen durchgedrungenen
Stand der Erkenntniss andeutet. Doch wird diese Unterscheidung
nicht immer gemacht und Lotze (Logik, pag. 382->83) findet,
die sogenannten Gesetze seien zuweilen nur die einfachsten
Regeln, welche die Vermuthung für sich haben, dem ob-
jectiven Verhalten am nächsten zu kommen. Noch weiter geht
in dieser Richtung Preyer (Ueber die Aufgabe der Naturwissen-
38 L. Tobler:
Schaft, pag. 25 fif.), indem er für Gesetze die Erkenntniss der
wirkenden Ursache verlangt. Wenn der Begriff des Gesetzes
so erhöht wird, rückt die Regel an die Stelle desselben und
so wird denn auch, entgegen dem gemeinen Sprachgebrauch,
geradezu gesagt , eine Regel mit Ausnahmen sei keine mehr.
Regel und Gesetz sollen sich unterscheiden wie Bedingtsein
und Bewirktsein, bloss functionelle Abhängigkeit und wirkliche
CausaUtat. Daraus folgt 'denn freihch, dass Gesetze, welche
man sonst gerade als classische Muster des Begriffs anzuführen
geneigt war, wie das Newton'sche, demselben nicht Genüge
leisten und dass den (bisher bekannten und so genannten)
Gesetzen zwar nicht Ausnahmen, aber Grenzen ihrer Gültigkeit
nach oben und unten beigelegt werden. Wir müssen die Er-
ledigung dieser Differenzen den Naturforschern überlassen, und
können es um so eher, da wir auf den Unterschied zwischen
Gesetz und Regel bei der Sprache zurückkommen werden. Hier
ist bloss noch die Frage zu erheben, ob der Begriff von Ge-
setzen, in seiner bei den Naturforschern vorherrschenden be-
scheideneren Bedeutung, auf dem ganzen Gebiet ihrer Wissen-
schaft gleichmässige Anwendung finde. Das kann allerdings
nicht verlangt werden und ist auch keineswegs der Fall. Die
meisten der hochgepriesenen Naturgesetze betreffen das Gebiet
der unorganischen Natur, also hauptsächlich der Physik und
Astronomie, zum Theil auch noch der Chemie und Mineralogie ;
ihre Sicherheit verdanken sie der Mitwirkung der Mathematik,
in deren Form sie auch meistens gefasst sind oder leicht ge-
bracht werden können; je höher man im Reich des Daseins
aufwärts steigt, um so mehr nimmt die Zahl oder die Sicher-
heit der Gesetze und darum auch schon der Gebrauch dieses
Wortes ab und um so weniger kann der aus der anorganischen
Natur und dem Makrokosmus gewonnene Begriff von Gesetzen
auf die Gestalten und Lebenserscheinungen der organischen
Wesen ohne Abbruch an Gehalt oder Genauigkeit angewandt
werden. Diese Ansicht kann hier allerdings nicht bewiesen
werden und der Nachweis ihrer Richtigkeit durch eine Ueber-
sicht des Besitzstandes der einzelnen Wissenschaften würde
Ueber die Anwendung d. Begriffes v. Gesetzen a. d. Sprache. 39
Specialkenntnisse voraussetzen, die wohl Niemand umfasst
TeichmüUer („Darwinismus und Philosophie*^) scheint eine Ab-
stufung ähnlicher Art anzunehmen, wenn er in der Natur
Daseinsformen unterscheidet, welche von unabänderlichen, aus-
nahmslosen Gesetzen beherrscht werden, und solche, wo dies
nur theilweise der Fall sei. Allerdings sucht die heutige Natur-
forschung den Unterschied zwischen unorganisch und organisch^
wie den zwischen Natur und Geist, fortschreitend aufzuheben,
also auch den Organismus auf Mechanismus zurückzuführen,
aber eben dabei stösst sie ja noch auf Sdhranken, welche jenen
Unterschied empfinden lassen. Dies ist natürlich noch mehr der
Fall, wo sich zu dem Physischen das Psychische gesellt, welches
wohl für einmal noch, und vielleicht für immer, als etwas
spedfisch Verschiedenes stehen bleiben wird. Damit ist nicht
ausgeschlossen, dass die Berührungen zwischen beiden Gebieten,
welche zunächst nur an der untersten Grenze des Psychischen,
bei den psychischen Elementarprocessen, zu suchen sind, auf
Gesetze und mathematische Formeln gebracht werden können,
und es haben ja auch Versuche auf dem Gebiet der Psycho-
physik bereits zu einigen Ergebnissen jener Art geführt. So-
gar wenn wir den Boden des rein Psychischen betreten (immer
unter der Voraussetzung, dass d«n psychischen Functionen
irgend welche, heute noch unbekannte, physische zu Grunde
liegen oder entsprechen), brauchen wir nicht auf die Entdeckung
von Gesetzen zu verzichten. Denn wenn auch Herbart^s Ver-
such; solche mathematisch zu formuliren, als verfrüht oder ganz
verfehlt zu betrachten ist, so lässt sich nicht leugnen, dass das,
was Herbart und seine Schule für die Lehre von der Ver-
schmelzung und Complexion, Association und Reproduction der
Vorstellungen, von der Entstehung herrschender Vorstellungs-
massen und von der Schwelle des Bewusstseins gelehrt haben,
an eine psychische Statik und Mechanik, die sich mit der
physischen vergleichen lässt, nahe heran reicht, und die Auf-
fassung der Vorstellungen als Kräfte, so gut wie Nervenreize
und ihnen entsprechende Elementarempfindungen, lässt für
Gesetze noch in dieser Sphäre Raum. Auch die mit Vor-
40 L- Tobler:
Stellungen verbundenen Gefühle werden nicht ganz unberechen-
bar bleiben und die Anfange einer inducliven Begründung der
elementaren Aesthetik dürfen nicht gering geschätzt werden;
denn wenn sie auch noch nicht zur Entdeckung eigentlicher
Gesetze geführt haben ^ so ist es doch schon ein bedeutender
Fortschritt, Gesetze der ästhetischen Gefühle auch nur zu
suchen, statt der hergebrachten Phrasen von Gesetzen des
Schönen und der Kunst, wobei das Wort „Gesetz*' nur jenen
ganz allgemeinen, unbestimmten Sinn hat, der sich aus der
Parallele mit den moralischen Gesetzen entnehmen lässt.
Hiemit aber haben wür das Gebiet eigentlicher Naturgesetze
bereits ziemlich weit überschritten und dasjenige beti*eten^ dem
jedenfalls auch die Sprache angehört, jenes Uebergangsgebiet
zwischen Natur und Geist, wo das Wort „Natur*' eine doppelte
Bedeutung hat, indem es einerseits noch die leibliche Natur
als einen Bestandtheil des Beiches der Organismen bezeichnet,
andererseits den Naturzustand des specifisch menschlichen Wesens
als eine Vorstufe der Geschichte. Bevor wir nun die Frage der
Sprachgesetze in Behandlung ziehen, müssen wir nur noch in
Kürze rückwärts blickend uns klar machen, was wir aus der
Betrachtung des Gebietes der reinen Naturgesetze für Fest-
stellung des Begriffes „Gesetz" überhaupt und eventuelle lieber*
tragung desselben auf die Sprache gewonnen haben. Das erste
Merkmal war die ausnahmslose Geltung^ welche einem Ge-
setze zukommt und durch welche es sich von einer Regel unter-
scheideL Das zweite war die Voraussetzung von Kräften,
deren Wirkungsweise das Gesetz angibt. Wir können hier noch
hinzufügen, dass die Kräfte, wenn sie nicht selbst als Wesen
gedacht werden, Wesen von mehr oder weniger Selbständig-
keit voraussetzen, in welchen sie ihren Bestand, ihren An-
griffs- oder Ausgangspunkt haben. Ein drittes Merkmal war
oben noch nicht ausdrücklich als solches genannt, es hängt aber
mit dem zweiten zusammen und besteht darin, dass Gesetze
die Form hypothetischer Urtheile haben. Daraus folgt, dass all-
gemeine Sätze, seien sie positiv oder negativ, nicht den Namen
von Gesetzen verdienen, wenn sie nicht bloss sprachliche Ver-
üeber die Anwendui^ d. Begriffes v. Gesetzen a. d. Sprache. 41
kürzuDgen hypothetischer Urtheilsform sind, deren Conditional«
satz eben das nothwendige Moment der Causalitat zur blossen
Thatsächlichkeit des Hauptsatzes hinzubringt. (Vgl. Lotze, a. a. 0.
pag. 381.)
Indem wir uns endlich der Hauptfrage zuwenden, ob der
von Naturgesetzen abstrahirte BegriflF von „Gesetz'' auf die
Sprache anwendbar sei, bedarf es kaum noch einer ausdrück-*
liehen Hinweisung darauf, dass diese Fragestellung wesentlich
verschieden ist von der Frage, ob überhaupt auch in der Sprache
von Gesetzen in irgend einem Sinne die Rede sei. Es ist be-
kannt genug, dass gegenwärtig jener Ausdruck beliebt ist, aber
es ist auch leicht zu erkenaen, dass das Wort „Gesetz'' dabei
oft nur wieder jene allgemeine Bedeutuhg hat, die von sitt-
lichen und staatlichen Gesetzen abstrahirt ist und gerade der
Sprachwissenschaft nicht genügen kann. Es werden damit oft
nur gewisse im Sprachgebrauch feststehende Thatsachen von
allgemeiner Bedeutung bezeichnet, ohne Rücksicht auf theo-
retische und insbesondere historische Ergründung jenes that-
sächlichen Bestandes. In diesem Sinne sagt man etwa, eine
Wortbildung oder Satzwendung, die ein Einzelner sich erlaubt,
Verstösse gegen die Gesetze der Sprache u. dgl., gerade wie
man im Gebiete der Kunst von Verstössen gegen die Gesetze
der Schönheit im Allgemeinen oder der Symmetrie etwa im
Besondern spricht, und wie man im Gebiete der Wissenschaft
oder des praktischen Lebens Beobachtung der allgemeinen Ge-
setze der Logik verlangt, welche zuletzt auf unbeweisbaren
Axiomen beruhen. Es handelt sich also dort um den prak-
tischen Gebrauch der Sprache, um die Correctheit des Stils.
Von diesem Sinne des Wortes müssen wir den unsrigen um
so sorgfältiger unterscheiden, da der erstere auch in wissen-
schafüichen Sprachgebrauch übergehen kann. So sagt Helm-
holtz (Vortr. 1, pag. 17): Die historischen und philologischen
Wissenschaften bringen es der Regel nach nicht bis zur Formu-
lirung streng gültiger allgemeiner Gesetze, mit Ausnahme der
Grammatik, deren Gesetze, durch menschlichen Willen (wenn
auch nicht gerade in bewusster Absicht und nach überdachtem
42 L. Tobler: \
Plane) festgestellt, Demjenigen, welcher die Sprache erlernt, als
Gebote gegenübertreten^ d. h. als durch fremde Autorität fest-
gestellte allgemeine Gesetze, me die in der Theologie und Juris-
prudenz behandelten. — Diese Darstellung mag im dortigen
Zusammenhang ihren Sinn haben, aber die dort so genannten
„Gesetze der Grammatik^' sind jedenfalls von dem, was die
Fachmänner heutzutage unter Gesetzen der Sprache verstehen,
sehr verschieden. Es ist nämlich gerade ein Hauptunterschied
der modernen Linguistik von der älteren Philologie, dass die
Sprache nicht nach Analogie menschlicher Satzungen ^ sondern
nach Analogie von Naturwesen betrachtet wird, nicht mit Rück-
sieht auf ihren litterarischen Gebrauch, sondern auf ihren Ur-
sprung und Bestand als solchen. Darum hat auch die Grammatik
statt ihres früheren präceptorischen Charakters, wie er noch in
der Auffassung von Helmholtz hervortritt, den descriptiven an-
genommen, wie ihn besonders J. Grimm in der Vorrede zum
ersten Band seines Hauptwerkes ausspricht; es gilt, die Gesetze
zu finden, denen die Sprache selbst bei ihrer Bildung folgte,
nicht die, welche sie dem Gebrauche vorschreibt oder welche
von eingebildeten Lehrmeistern ihr zeitweise aufgezwungen
wurden. Dass man bei der neuen Methode historisch verfahrt,
steht mit der Betrachtung der Sprache als eines Naturwesens
nicht in Widerspruch, seit die Naturwissenschaft auch eine all-
mähliche Entstehung und Umbildung des Planetensystems, der
Erdrinde und zuletzt der Organismen erkannt hat. Dagegen
steht die neue Ansicht im Gegensatz zu der älteren, welche in
der Sprache nur ein Product menschlicher Erfindung und
WiUkür sah, und freilich aus diesem Gesichtspunkt gerade die
der Natur am meisten zugekehrte Seite der Sprache, d. h. die
rein lautliche, am wenigsten zu begreifen vermochte. Diese
bisher vernachlässigte Aufgabe wurde nun in den Vordergrund
gerückt, und da ein Extrem immer das andere hervorruft, so
konnte es nicht ausbleiben, dass die Naturseite der Sprache
etwas einseitig herausgekehrt und am Ende die Sprachwissen-
schaft selbst zu den Naturwissenschaften gerechnet wurde. Sie
ist so wenig eine Naturwissenschaft als die Psychologie, mit
Ueber die Anwendung d. Begriffes v. Gesetzen a. d. Sprache. 43
der sie an bestimmtea Stellen zusammenlrifit, aber schon darum
nicht vereinigt bleiben kann^ weil der Vielheit und der Geschichte
der einzelnen Sprachen wenigstens im Gebiete der Individual-
Psychologie nichts entspricht. Wie aber die Psychologie ihren
Zusammenhang mit der Physiologie nicht aufgeben kann, am
wenigsten im unteren Theil ihres Gebietes , so muss auch die
Sprachwissenschaft, wo es sich um die Laute als solche handelt,
an die Physiologie anknüpfen, und da diese ihrerseits die Physik
voraussetzt und zum Theil nur auf höherem Boden fortsetzt,
so ist die Möghchkeit eröffnet, in der Sprache wirkliche Natur-
gesetze zu suchen. Doch muss die Erwartung, solche zu finden,
zum Voraus dadurch etwas herabgestimmt werden , dass wir
uns hier im Gebiete des Organischen und zwar der höchsten
Stufe desselben befinden, wo zufolge den obigen Bemerkungen
die Zahl und Sicherheit der Gesetze am geringsten sein wird.
Der Sprachlauty rein als Laut betrachtet, ist in seiner Erzeugung
etwas Physiologisches und als Gegenstand der Gehörwahrnehmung
etwas PhysikahscheS; wie ein beliebiger Naturlaut oder der kunst-
hch hervorgebrachte Ton eines Instrumentes; nur die mit arti-
kulierten Sprachlauten verbundene Bedeutung ist etwas specifisch
Menschliches und Geistige» und die Veränderungen der Laute
stehen mit denen der Bedeutung nicht in functionellem Ver-
hältniss. So bestände freilich innerhalb der Sprache, welche
doch ein in sich einstimmiges Ganzes zu sein scheint , ein
Dualismus des Wesens ihrer Bestandtheile^ indem die Laute als
solche reinen Naturgesetzen unterworfen wären, die Formen
und Bedeutungen aber den Gesetzen, welche das gesammte
geistige Leben beherrschen. Wir dürfen uns jedoch von solchen
Bedenken nicht präoccupiren lassen: es fragt sich einfach, ob
irgend welche Naturgesetze in der Sprache entdeckt worden-
seien. Darauf ist zu antworten, dass allerdings meistens nur
im Gebiet der reinen Laute von Gesetzen die Rede ist, dass
aber die sogenannten Lautgesetze von vielen Sprachforschern
wirkhchen Naturgesetzen gleichgestellt werden. Es ist also nur zu
prüfen, ob jene Lautgesetze dem strengeren Begriff von Natur-
gesetzen genügen, den wir oben zu diesem Zweck aufgestellt haben.
44 L. Tobler:
Einer der grössten Fortschritte, welche durch die historische
und vergleichende Sprachforschung erreicht worden sind, besteht
unstreitig in der Erkenntniss, dass die Laute, innerhalb einer
Sprache und zwischen mehreren verwandten, im Laufe der Zeit
nicht nach Willkür oder Zufall wechseln, sondern dass gewisse
durchgehende und beharrliche Richtungen und Neigungen den
Lautwandel beherrschen. Jede Sprache zeigt im Ganzen ihres
Lautbestandes schon in ihrer ältesten Gestalt bestimmte An-
lagen, charakteristische Bevorzugung einzelner Laute und Laut-
verbindungen^ und wenn die Geschichte jenen Bestand allmählich
verändert, so sind die Uebergänge zwischen den einzelnen Lauten
durch organische Verwandtschaften und Nachbarschaften der-
selben bedingt und vermittelt. Einige von jenen Uebergängen,
welche besonders nahe liegen, sind auch sehr häufig; andere
sind selten und weniger leicht zu begreifen, doch nicht uner-
klärlich; es gibt aber auch Laute, zwischen denen ein Ueber-
gang, wenigstens ein unmittelbarer, aus physiologischen Gründen
unbegreiflich wäre und factisch nie vorkommt. Der im letzten
Fall vorliegenden Unmöglichkeit entspricht nun aber selbst im
ersten Fall keine positive Nothwendigkeit des Ueberganges,
und noch weniger gilt dies vom zweiten Fall ; beidemal handelt
es sich nur um Grade von Möglichkeit und Wahrscheinlich-
keit, um grössere oder geringere Häufigkeit; man hat daher
auch ganz richtig angefangen, die thatsächlichen Lautverhält-
nisse nach statistischer Methode, d. h. mit Zahlen, anzugeben und
zu vergleichen: niemals aber hat ein Sprachforscher einen be-
stimmten Lautübergang, auch unter bestimmten Bedingungen,
im einzelnen Fall als absolut nothwendig nachgewiesen oder
gar vorhergesagt Das heisst mit anderen Worten: es gibt im
Reiche der Laute keine Gesetze im strengeren naturwissen-
schaftlichen Sinne dieses Wortes und es gibt auch keine Regeln,
denen nicht Ausnahmen bereits zur Seite standen oder bei
weiterer Forschung an die Seite treten könnten, wobei wir unter
Ausnahmen natürlich nur solche Einzelfälle verstehen, welche
nicht selbst wieder als Ausflüsse eines untergeordneten Special-
gesetzes zu erkennen sind.
Ueber die Anwendung d. Begriffes t. Gesetzen a. d. Sprache. 45
Gegenüber diesem Thatbestand, den wohl kein Sprach-
forscher unrichtig gezeichnet finden wird, verhalten sich die
einzelnen Vertreter des Faches in ihrem persönlichen Sprach-
gebrauch verschieden. Strenge Rechenschaft davon geben sich
wohl wenige, die meisten kommen über dem nächsten Interesse,
die Thatsachen festzustellen und zu erklären, nicht dazu, ihre
Terminologie zu reguhren; manchen fehlt auch wirklich das
allgemeinere wissenschaftliche Interesse für das Verhältniss ihres
Faches zur Philosophie und Naturwissenschaft. Einige begnügen
sich mit dem Ausdruck ,4legePS andere brauchen abwechselnd
und promiscue damit auch „Gesetz'', am weitesten gehen die-
jenigen, welche nur von „Gesetzen'* sprechen und ausnahms-
lose Geltung derselben, innerhalb zeitlich und räumhch gleicher
Grenzen, behaupten zu dürfen glauben (so z. B. Osthoff, Jen.
Lit. Zeit. 1878 No. 33, pag. 485). Am vorsichtigsten ist die
von so namhaften Vertretern des Faches wie Ascoli, Benfey
und Curtius mehr oder weniger ausdrückhch aufgestellte und
angewandte Unterscheidung zwischen regelmässigem und spo-
radischem Lautwandel, wobei unter „regelmässig" doch auch
nur Vorgänge zu verstehen sind, welche eben „in der Regel",
also nicht durchgängig , stattfinden. In der That hindert gar
nichts, mit Ascoh in manchen Fällen mehrere Möglichkeiten als
gleich berechtigt anzunehmen, sei es nun, dass dann von den-
selben nur eine verwirklicht wurde, oder dass durch gleich-
zeitiges Eintreten derselben aus einer Grundform mehrere sog.
Scheideformen entstanden, um deren Verwendung die Sprache
nie verlegen war. Jene Annahme verlässt ja den Boden der
Gesetzmässigkeit nicht und die Sprachforschung dürfte wohl
froh sein^ wenn sie nur in recht vielen Fällen es dahin brächte,
die unbestimmte MögUchkeit auf ein „entweder — oder, theUs
— theils, bald — bald" zu reduciren. Dass alle Lauterschei-
nungen irgend einer Sprache bereits auf Gesetze zurückgeführt
seien, behauptet natürlich Niemand, da die Unvollständigkeit
aller empirischen Forschung auch auf diesem Gebiet sich kund-
geben muss ; es wird also höchstens fortschreitende Annäherung
an jenes Ziel gefordert und erwartet; aber es ist eben die
46 L. Tobler:
Frage, ob jene Forderung und Erwartung berechtigt oder gar
nothwendig sei. Die sog. Lautgesetze bilden eine heilsame
Schranke gegen subjective Willkur, wie sich solche besonders
früher in zügellosem Etymologisiren äusserte, aber es ist ebenso
wohlthätig, dass auch sie selbst in der Natur der Sache Schranken
finden und dass dadurch dem übermächtigen Trieb nach geist-
loser Mechanisirung auf diesem Gebiet eine Schranke gesetzt
sei. Die Sprache behält auch so noch naturmässige Gebunden-
heit genug, durch die Unbewusstheit, mit der ihre Triebe in
den Individuen walten, und durch die Macht der Ueberlieferung,
mit der die Gesellschaft die Individuen beeinflusst.
Wir wollen uns aber nicht zu früh allgemeinen Betrach-
tungen überlassen, sondern die Frage nach der Beschaffenheit
und Tragweite der sog. Lautgesetze bestimmter und vollständiger
zu beantworten suchen. Bisher war eigentlich nur davon die
Rede, ob denselben ausnahmslose Geltung zukomme, was wir
verneinen mussten. Es hängt aber dieses Merkmal des strengeren
Begriffes von Naturgesetzen mit den zwei anderen oben auf-
gestellten mehr oder weniger zusammen.. Unter den sogenannten
Lautgesetzen sprechen gerade diejenigen, denen am ehesten
ausnahmslose Richtigkeit zuerkannt werden mag, einfache That-
sachen als solche aus, deren Kenntniss für den Sprachforscher
höchst wichtig, ja absolut nothwendig, aber mit keiner Ein-
sicht in den Grund oder auch nur in die genauere Art und
Weise des betreffenden Vorgangs verbunden ist Es sind Sätze
von der oben besprochenen allgemeinen Bedeutung, denen zur
Erfüllung des strengeren Begriffes von Naturgesetzen das Moment
der Causalität, das zweite der wesentlichen Merkmale, ganz oder
theilweise fehlt. Zwar tragen nicht wenige Lautgesetze die
hypothetische Form, indem sie einen Wandel der Laute als an
bestimmte Bedingungen ihrer Stellung und Umgebung geknüpft
darstellen, aber an „Definition von Kräften", deren Wirkungs-
weise in dem gesetzmässigen Sachverhalt zu Tage träte, ist dabei
nicht zu denken. Die Laute selbst sind offenbar keine Kräfte,
sondern das Product von solchen ; sie haben ja überhaupt kein
selbständiges Dasein, sondern existiren, wie physikalische Er-
Ueber die Anwendung d. Begriffes v. Gesetzen a. d. Sprache. 47
scheinungen, z. B. des Liehtes, nur im Moment ihrer jedes-
maligen Erzeugung, sie sind auch nicht etwa mit Atomen oder
Molecülen zu vergleichen, deren Annahme den Naturforschern
für die Aufstellung von Gesetzen so wichtige Dienste leistet
Die Kräfte, durch deren Wirksamkeit Sprachlaute hervorgebracht
werden, haben ihren Sitz theils in den eigentlichen localen
Sprachorganen, in deren einzelnen Theilen und ihrer Stellung
zu einander, theils im Centralorgan , von welchem die Impulse
zu den einzelnen Bewegungen der Sprachorgane ausgehen, zu-
letzt freilich in der Seele, deren Empfindungen einen Reiz zu
sprachlicher Aeusserung erwecken. Nun hat freilich die neuere
Sprachforschung angefangen, diesen Mechanismus an der Hand
der Physiologie zu studiren, sie weiss bereits ziemhch genau
anzugeben, durch welche Stellungen und Bewegungen einzelner
Theile des Sprachorgans bestimmte Laute erzeugt werden und
die Physik vermag ja auch Apparate herzustellen, durch welche
menschliche Laute einigermassen nachgeahmt und ^producirt
werden, aber die bei der originalen und spontanen Erzeugung
menschlicher Sprachlaute wirksamen lebendigen und seelenhaften
Anüiebe bleiben in Dunkel gehüllt, auch abgesehen von einer
irgendwie symbolischen Bedeutsamkeit der einzelnen Laute beim
Ursprung, d. h. in der Bildungsperiode der Sprache. Wenn
auf diesem Gebiete irgend etwas durch Vermuthung zu er-
reichen ist, so dürfen wir vielleicht sagen: die bei der Laut-
erzeugung resp. Lautveränderung in letzter Instanz wirksamen
Ki*äfte beruhen in unbewussten Vorstellungen und Gefühlen,
welche sich auf Bequemlichkeit (resp. Erleichterung) der Laut-
gebung durch fortschreitende Ausgleichung und Verkürzung der
Formen beziehen. Nun haben wir oben auch für Vorstellungen
und Gefühle die Auffassung als Kräfte zulässig gefunden, aber
die Kräfte, um die es sich hier handeln kann, scheinen mehr
von passiver als activer, mehr von negativer als positiver Art
zu sein, es handelt sich mehr um Zulassung oder Ablehnung
gewisser Laute und Lautverbindungen , als um schöpferische
Hervorbringung derselben; die Lautgebung beruht theils , von
Seite der Gesellschaft, auf vererbten Anlagen und mit der Zeit
48 L. Tobler:
zunehmenden Gewohnheiten, theils auf unberechenbaren persön-
lichen Neigungen und Stimmungen, mit welchen der Einzelne
gelegentUch seiner Umgebung und sogar sich selbst, in Folge
von Trägheit, Laune oder besonderen Antrieben widerspricht,
aber auch Andere anstecken kann. Eine constante Resultante
aus diesen verwickelten Dispositionen und Motiven zu ziehen
erscheint als unmöglich, als erreichbar nur ein mittleres Maass
von Wahrscheinlichkeit mit labOem Gleichgewicht, und damit«
sehen wir uns auf das Ergebniss der ersten Betrachtung zu-
rückgeführt.
Was endlich das dritte Merkmal betrifiPt, so muss erinnert
werden, dass ein beträchtUcher Theil der sog. Lautgesetze wirk-
lich nur aus negativen Sätzen besteht, welche für die nächsten
Zwecke der Wissenschaft vortreffliche Dienste thun und sogar
noch fester stehen können als die einfach positiven^ aber eben
auch wie diese, oder noch mehr, der höheren Würde von Ge-
setzen ei#ehren müssen. Dahin gehören z. B. die so wich-
tigen und verschiedenen Auslautgesetze der einzelnen Sprachen,
welche uns Handhaben zur Reconstruction älterer Formen dar-
bieten, aber an sich selbst eben über den Charakter unbegreif-
licher „Verbote" nicht hinausreichen.
Wir wollen zum Schlüsse an zwei Beispielen den wirk-
lichen Stand und Werth der angeblichen „Lautgesetze" zu be-
leuchten suchen. Eine der grossartigsten und merkwürdigsten
Erscheinungen in der Geschichte der Sprachen ist die sogenannte
Lautverschiebung, durch welche die germanischen Sprachen von
ihren Verwandten und ein kleinerer Theil des germanischen
Gebietes wieder von dem übrigen sich unterscheidet Das That-
sächliche muss hier als bekannt vorausgesetzt werden. Wenn
irgendwo, so scheint hier der Name „Gesetz" berechtigt zu sein.
Doch hat schon J. Grimm, indem er dasselbe entdeckte und
aussprach, nicht umhin können, neben der wunderbaren Conse-
quenz, mit welcher es im Grossen und Ganzen waltet, Ab-
weichungen im Einzelnen zu bemerken, indem die Laute am
einen Orte hinter der geforderten Verschiebung zurückbleiben^
an einem andern eine Stufe derselben überspringen u. s. w.
Ueber die Anwendung d. Begriffes y. Gesetzen a. d. Sprache. 49
Dass es sich nicht um eine streng kreisförmige Bewegung,
eine Wiederkehr genau derselben Laute an anderer Stelle handle^
konnte nur übersehen werden, so lange man todte Buchstaben
mit lebendigen Lauten verwechselte. Sobald man anfing nach
Gründen der Erscheinung zu fragen , mussten für die Ueber-
gänge der Laute Mittelstufen angenommen werden, wekhe in
der Schrift keine Bezeichnung finden und doch allein die ganze
Erscheinung einigermassen erklären. Diese verliert dadurch
nicht den Charakter einer grossen Regelmässigkeit, da auch ^die
Ausnahmen zum Theil durch neuere Entdeckungen beseitigt,
d. h. als Ausflüsse besonderer Bedingungen erkannt worden
sind, aber die Einfachheit, welche zur Form eines „Gesetzes''
gehört, ist in demselben Maasse geschwunden, und es ist frag-
lich, ob der Sachverhalt, so wie er nunmehr angesehen wird^
eine einfache Fassung überhaupt noch zulässt.
Man dürfte vermuthen, dass sprachhche Erscheinungen um
so eher sich auf wirkliche Gesetze bringen lassen, ja enger ihr
Gebiet sei. Wenn also die Lautverschiebung, weil sie das ganze
Gebiet der germanischen Sprachen betrifft, jene Bedingung nicht
erfüllen kann, so bietet vielleicht ein einzelner Dialect^ ein
Complex von Volksmundarten, die sich so recht naturgemäss
entwickelt und erhalten haben, reichere und reinere Proben
von Sprachgesetzen. Zwar muss man sich in Acht nehmen,
jene Erwartung zu einem Princip zu erheben, denn je enger
die Kreise werden, um so mehr nähern sie sich dem Indi-
viduellen, welches niemals von Gesetzen erschöpft werden kann,
und eine gewisse Weite der Geltung scheint zum Begriff eines
Gesetzes zu gehören ; aber da die Sprache überhaupt, also aucli
die einzelnen Sprachen, nur im Schoöss einer engeren Gemein-
schaft entstanden sein und ihre erste Ausbildung empfangen
haben können und auch heutzutage nur in solchem Kreis ein
natürliches, von den Conventionen der Schriftsprache mehr oder
weniger ungetrübtes Leben führen, so darf man wohl den Blick
auch nach dieser Seite richten. Die „Zeitschrift für deutsche
Mundarten" von Frommann hat in ihrem siebenten Bande eine
Abhandlung, betitelt „Ein schweizerisch - alemannisches Laut-
Vierteljahrssclirift f. Wissenschaft!. Philosopliie. III. 1. 4
50 L. Tobler:
gesetz", gebracht, welche in Absicht auf VoUständigkeit und
Gründlichkeit in der Sammlung und Bearbeitung des Materials
wohl musterhaft genannt werden darf. Die Richtigkeit der
Thatsachen steht ausser Zweifel, es kommt uns aber hier nicht
darauf an, sondern einzig auf die Terminologie, in welche der
Verfasser die Ergebnisse seiner trefflichen Forschungen gefasst,
auf welche er aber offenbar keinen Werth gesetzt hat. Es ist
nun bemerkenswerth , mit welcher Abwechslung er sich über
eine und dieselbe Sache ausdrückt. Neben dem Ausdruck
„Gesetz", der im Titel und noch mehrfach erscheint (pag. 20.
32. 34. 195. 197. 377. 388), gebraucht er den bescheideneren
„Regel" (31. 193. 375), beides combinirt „Regel- und Gesetz-
mässigkeit" (38), „regelrechtes Eintreten der Laute" neben
„Concinnitat und stramme Gesetzmässigkeit bis in alle Spitzen
hinaus" (388). Trotzdem ist nicht bloss von scheinbaren
Ausnahmen (pag. 349) die Rede, sondern pag. 362 wird unter
dem Titel ^Schranken des Gesetzes" eine lange Liste von Woltern
mitgetheilt, welche sich dem betreffenden Lautprocess (pag. 377)
entzogen haben (so dass die „Gesetzmässigkeit" sich nur auf
den Verlauf der Erscheinung beziehen kann, da, wo sie über-
haupt eintritt), und pag. 354 werden als „Schranken des
Gesetzes" angeführt „theils Geschmack und freie Wahl des
Individuums, theils mundartliche Sitte", und „innerhalb des all-
gemeinen Brauches besteht Latitüde für die Bildungsstufe, die
Willkür und Laune des Sprechenden'^ Endlich wird die ganze
Erscheinung gelegentlich (pag. 372. 388. 389) als ein blosses
„Spiel" betrachtet. — Der Verfasser hat mit den verschiedenen
Wendungen, die er gebraucht, unwillkürlich richtig die Factoren
und Motive bezeichnet, welche in der Geschichte der Laute zu-
sammenwirken, und es bleibe nur die Frage, ob alles dies unter
dem Begriff eines „Gesetzes" zusammengefasst werden oder ob
dieser Begriff neben jenen überhaupt noch bestehen könne.
Nach unserer Ansicht ist dies nur möglich, wenn derselbe in
seiner Anwendung auf sprachliche Dinge so abgeschwächt wird,
wie es unstreitig oft geschieht, aber zum Schaden für die
Sprachwissenschaft und für den allgemeinen wissenschaftlichen
Ueber die Anwendung d. Begriffes ▼. Gesetzen a. d. Sprache. 51
Sprachgebrauch; denn während man sich am einen Ort jene
Abschwächung-ohne Weiteres erlaubt, wird anderswo mit dem
Begriff doch wieder so operirt, als ob er streng genommen
wäre, und aus solchem Verfahren entstehen bekanntlich falsche
Schlüsse.
Zwischen dem Gebiete der Laute als solcher und dem der
Formen besteht keine Kluft, und es ist abermals eine Errungen-
schaft der neueren Sprachforschung, dass manche Erscheinungen
der Flexion und Wortbildung als Consequenzen der Lautlehre,
mit Inbegriff des Accentes, erkannt werden, ohne Annahme
eines specilischen Bildungsprincipes. Was aus jener Quelle
nicht abzuleiten ist, bedarf allerdings besonderer Erklärung,
aber die Manigfalügkeit, die sich auf diesem höheren Gebiete
aufthut, hat noch Niemand unter Gesetze zu bringen gesucht,
so wenig wie die Formen des Pflanzen- und Tliierreiches; es
walten hier ideale Grundtypen, welche sich aufsteigend aus-
gestalten und umformen, geleitet von Trieben der Analogie und
Symmetrie, welche fortwirken, so lange ihnen empfanglicher
Bildungstoff entgegenkommt. Die Paradigmen der Flexions-
formen, deren idealem Typus die wirklichen Wörter auch nie
ganz entsprechen, hat noch Niemand „Gesetze'^ genannt, sie
sind Gegenstände der Anschauung und können weder analytisch
noch synthetisch ganz begriffen werden. Von Gesetzen der
Syntax vollends kann nur in praktisch schulmässigem Sinne
gesprochen werden und die Forschung hat kaum erst angefangen,
auch dieses Gebiet nach historisch - vergleichender Methode zu
bearbeiten. — Ueber dem Wortlaute der Formen und auch
des Satzes schwebt, manigfach einwirkend auf die Formen und
ihre Bedeutung, der Accent, etwas durchaus Immaterielles,
Seelenhaftes ; wie die Bedeutungskraft, und doch vom Laute
noch weniger trennbar als diese. Die Einwirkung des Accentes
auf Laute und Formen erfolgt nach Gesetzen^ deren Kenntniss
so nothwendig ist wie die der reinen Lautgesetze, denen aber
auch nur dasselbe Maass von Gültigkeit beiwohnt. Zwar ist
das in einer Sprache einmal herrschend gewordene Accentprincip
innerhalb kürzerer Perioden constanter und stabiler, als irgend
4*
52 L. Tob 1er: Ueber d. Anw. d. Begr. v. Gesetzen a. d. Sprache.
welche Lautgesetze, weil es ja seiner Natur nach etwas yiel
Allgemeineres und weit geringerer Variation iahig ist; aber in
grösseren Zeiträumen kann es geschehen, dass eine Sprache
sogar ihr Accentprincip verändert, was aus tief liegenden Ur-
sachen erfolgen und von weitgreifenden Folgen begleitet sein muss.
Hiemit nun^ mit dem Gedanken an die Aenderung von
Gesetzen selbst im Laufe der Zeit, sind wir an der äussersten
Grenze unserer Betrachtungen angelangt und können vrir das
Gebiet der Sprache verlassen. Zum Begriffe von Naturgesetzen
scheint allerdings noch ein Merkmal zu gehören, welches wir
bisher unberührt liessen^ eben das der Unveränderlichkeit, welche
menschlichen Gesetzen bekanntlich nicht zukommt. Aber in der
That hindert uns nichts, auch Naturgesetze, nur nicht die all-
gemeinsten Eigenschaften der Naturkörper, uns als zeitlich ent-
standen zu denken, also auch ihre Aenderung resp. Aufhebung,
natürlich mit gleichzeitiger Aenderung des Bestandes und der
Bedingungen^ auf welche sie sich bezogen, als Möglichkeit ein-
zuräumen. Lotze (Mikrok. IIP, lö) nimmt dies von Natur-
gesetzen ausdrücklich an, während Lazarus (Leben der Seele,
II ^ 110) es nur vom geistigen Leben zuzugeben scheint. Wie
viel uns an der Erkenntniss von Gesetzen der Geschichte noch
fehlt, zeigt das kürzlich erschienene Buch von Rocholl „Die
Philosoplüe der Geschichte" (in welchem noch die Schrift von
Doergens „Aristoteles oder über das Gesetz der Geschichte",
Leipzig 1872, nachzutragen wäre). Die Sprache, zwischen Natur
und Geschichte gestellt^ doch mehr der letztern zugewandt^ vrird
an dem Loose der beiden Gebiete Theil nehmen; die Sprach-
wissenschaft kann sich also jedenfalls trösten, wenn sie nicht
lauter unverbrüchliche Gesetze findet, und wird auch die ge-
fundenen nicht überschätzen.
Zürich. L. Tobler.
In Sachen der wissenschaftlichen Philosophie«
Dritter Artikel.
Es ist also nicht meine Meinung, dass die Gesammtheit
jener im Einfährungsartikel angedeuteten Untersuchungsreihe,
welche die Principien alles Begreifens und Wissens^ alles Ge-
gebenseins und Erfahrens zu behandeln hätte, mit der „Logik''
und „Erkenntnisstheorie^* erschöpft sein könne. Es sind viel-
mehr zwei Untersuchungscombinationen, welche, wie mir scheint,
die Untersuchungen, die wir heute unter dem Namen der
„Logik^ und „Erkenntnisstheorie^^ befassen, zu ergänzen an-
gethan sind — vielleicht sogar für die philosophische Aufgabe,
vne sie der Einführungsartikel stellte, von noch wesentlicherer
Bedeutung sich erweisen möchten.
Die erste dieser zwei Untersuchungscombinationen, als
Ganzes vorgestellt, würde kurz zu bezeichnen sein als ,,PhUo-
sophisehe Entwlekelungrstheorie/^ Man darf diesen kurzen
Ausdruck ja nicht dahin missverstehen, als bedeute er irgend
eine naturwissenschaftliche Entwickelungstheorie in philo-
sophischer Deutung, „Vertiefung^ u. dgl. ; der kurze Ausdruck
soll besagen : eine entwickelungstheoretische Betrachtung der Philo-
sophie, insofern ihre Entwicklung als ein (historisch) Gegebenes
vorliegt. Der Begriff einer solchen ,,Entwickelungstheorie
der Philosophie^' deckt sich nicht so völlig mit demjenigen
einer „Entwickelungsge schichte" in dem Sinne, wie solche z.B.
ich selbst in Bezug auf Spinoza's Pantheismus 1869 versuchte,
Paulsen in Bezug auf Kant's Erkenntnisstheorie 1875, Windelband
in Bezug auf Kant's Lehre vom Ding-an-sich 1877 ausgeführt
haben. Die Entwickelungsgeschichte ist eine werthvolle
54 K- Avenarius:
Vorarbeit für die Enlwickelungstheorie — sie ist aber nicht
diese selbst: erstere giebt jede einzelne Entwickelung in ihrer
Besonderheit, letztere das Allgemeine der Entwickelungsprocesse.
Hierdurch ist das Nähere dieser Disciplin bestimmt: das Allge-
meine ist, was in den geschichthch vorliegenden, charak-
teristischen philosophischen Entwickelungsänderungen stetig
wiederkehrt Das stetig Wiederkehrende sind aber in den
charakteristischen Systembildungen nicht die bestimmten
philosophischen Lehrinhalte (welche sich wohl durch eine
„Schule^ hinziehen und auch wohl hin und wieder neu auf-
tauchen, aber ein genügendes Continuum deshalb nicht leiden,
weil sie sich in den verschiedenen Systemen widersprechen),
sondern das stetig Wiederkehrende sind bestimmte philosophische
Probleme .^ (gleichgültig, ob sie ausgesprochener- oder unaus-
gesprochenermaassen auftreten^ formuhrt oder nicht formuUrt,
bewusst oder mehr unbewusst behandelt werden). Es werden
also von der „Entwickelungstheorie" die bestimmten charak-
teristischen philosophischen Probleme als das Constante zu
betrachten sein; und die Problemlösungen, sofern sie eine be-
stimmte Lehrmeinung zum Inhalt haben, als das Variable.
So viel ich bis jetzt sehe, wird demnach eine „Entwicke-
lungstheorie der Philosophie^^ als Entwickelungstheorie
der philosophischen Probleme erscheinen müssen.
Hieraus ergiebt sich dann der weitere Charakter der angeführten
Untersuchungscombination. An jedem Probleme sind jiämlich
eine formale und eine materiale Seite unterscheidbar. Eine
formale Seite zunächst insofern als im Problem irgend ein Vor-
stellungsinhalt sich, wie es zu bezeichnen mir erlaubt sei, im
Zustand des „dubitativen" Denkens (im Gegensatz zum „certi-
tudinalen") befindet, welches in der speciellen Form des
„Problems" eine Tendenz auf die „Lösung" aufweist, d. h. auf die
Herstellung eines „certitudinalen'^ Denkens. Diese „Herstellung
eines certitudinalen Denkens*' ist aber^ genauer zugesehen,
eine Wiederherstellung des certitudinalen Denkens, welches
am Anfang des ganzen psychischen Processes, den wir
kurz „Problem" nennen^ stand ; sodass eben dieser Process sich
In Sachen der wissenBchaftlichen Philosophie. 55
darstellt als eine Umwandlung eines primären certitudinalen
Denkens (in Folge bestimmter Störungen) in ein dubitatives
Denken — mit der Tendenz der Rückwandlung in ein erneutes
certitudinales Denken (durch die Lösung). Da nun die Philo-
sophie, wie sie als ein (historisch) Gegebenes vorliegt, aus nichts
Anderem besteht, als aus einer Entwickelung von Problemen
und deren Lösungen, so müssen die Gesetze des certitudinalen
Denkens, die Störungsgesetze, die Gesetze der Umwandlung
eines certitudinalen in ein dubitatives Denken, die Gesetze der
Entstehung jener Lösungstendenz und endUch die Lösungsgesetze
selbst die Gesetze sein, welche das Allgemeine der philo-
sophischen Entwickelung überhaupt und somit den Inhalt jener
Entwickelungstheorie nach der einen Seite ausmachen. —
Grundlage nach dieser Seite ist die psychologische Erfahrung —
also die Erfahrung.
Das wäre also die Eine Aufgabe der Entwickelungstheorie ;
welche Aufgabe sich kurz als „das Problem desProblemes"
bezeichnen hesse: die andere Aufgabe würde sich dagegen auf
die materiale Seite der Probleme zu beziehen haben, insofern
den Problemen ein bestimmter Yorstellungsinhalt innewohnt
Dieser Yorstellungsinhalt, den die Probleme aufweisen, würde
jedoch, nach meinem Dafürhalten, erst von dem Punkte an-
fangen, Gegenstand einer Entwickelungstheorie zu werden,
wo er aufhört, Gegenstand der Entwickelungsge schichte der
Systeme, bez. der „Geschichte der Philosophie'* überhaupt ^
also der „Geschichte*' zu sein, sei es, dass der Stoff der Ge-
schichte, sei es, dass ihre Methode ihr Ende erreicht hat.
In erster Hinsicht glaube ich darauf hinweisen zu dürfen,
dass — soviel ich bemerke — die „Geschichte** die Entwicke-
lung der Vorstellungsinhalte, welche in die Probleme, bez. deren
Lösungen, eingehen, nur zurück verfolgt bis zu ihrem Auf-
treten in derjenigen Behandlungs weise , die wir „Philosophie**
nennen. Nun bestehen aber diese Inhalte gerade bei den
Problemen, deren Yorstellungsinhalte „nicht aus der Erfahrung**
stammen sollen, nachweisbar vor demjenigen Zeitpunkt, von
welchem an wir heut die Entwickelung der „Philosophie** zu
5(5 B. Avenariua:
datiren pflegen: das Auftreten in der Geschichte der Philo-
sophie ist ein Eintreten in die „Philosophie. '^ Es würde sich
also hier um eine Untersuchungscombination handeln, welche
nicht eigentlich der geschichtlichen Entwickelung, sondern
der vor-, bez. urgeschichtlichen Entstehung der philosophischen
Probleminhalte nachzugehen hätte — nicht den philosophischen
Auszweigungen der Probleminhalte, sondern den — um auch
einmal diesen Ausdruck anzuwenden — den Wurzeln der vor-
philosophischen Vorstellungen, welche philosophische Problem-
inhalte zu werden bestimmt waren. Namentlich würde inner-
halb dieses Untersuchungsgebietes die Frage nach einer
gemeinsamen Wurzel der betreffenden Inhalte zu behandeln
sein — also einer Muttervorstellung, aus welcher alle
Probleminhalte hervorgegangen sind.
Wenn nach der einen Seile die entwickelungstheoretische
Behandlung der Probleminhalte da begann, wo die „Geschichte
der Philosophie^ ihrent Stoff die Grenzen gezogen hat; so
beginnt, wie angedeutet, andrerseits die entwickelungstheoretische
Behandlung an der Stelle, wo zwar die Probleminhalte bereits
in die geschichthche „philosophische^ Entwickelung eingetreten
sind, bez. in ihr stehen, aber die M e t h o d e der rein geschicht-
hchen, bez. entwickelungsgeschichtlichen Bearbeitung für ihre
Behandlung aufgehört hat: das ist da der Fall, wo die Unter-
suchung sich richtet auf das Yerhältniss der durch das philo-
sophische Denken hindurchbeweglen Inhalte zu dem Formalen
der Denkbewegung selbst wie sie in den Umwandlungen des
certitudinalen und dubitativen Denkens ausgedrückt ist. Das
heisst: die entwickelungstheoretische Betrachtung der in der
„Geschichte" sich vollziehenden Weiterentwickelung der
Probleminhalte (sich vollziehend durch die Art, wie sie angefasst,
bez. aufgefasst und aufgelöst werden) würde die Aufgabe haben,
an den Inhalten dieser Weiterentwickelung wieder die allge-
meinen Gesetze nachzuweisen, die wir im formalen Theil
kennen gelernt haben würden.
Dies würde aber auch — wenigstens wie ich die gestellte
Gesammtaufgabe verstehe — das Charakteristische der Behand-
In Sachen der wissenschaftlichen Philosophie. 57
lung der vorhergehenden Frage nach der Vorgeschichte der
philosophischen Probleminhalte auszumachen haben; welches
Charakteristische also in dem gleichen Nachweis bestehen würde :
dass dieselben Gesetze, welche die Problem-Bildung und Lösung
beherrschen, auch die Erzeugung der Inhalte bestimmen,
welche in die Probleme eingehen.
Und hierin liegt ausgesprochen, worin die Einheit der drei
angegebenen Untersuchungen (des Problemprocesses , der vor-
philosoptiischen Entstehung und der philosophischen Weiterent-
wickelung der Inhalte) beruht, durch welche Einheit sie überhaupt
zu einer eigenen, relativ selbstständigen Disciphn, eben der ver-
langten Entwickelungstheorie, verbunden und erhoben werden —
ohne welche Einheit dagegen kaum eine dieser drei Untersuchungen
allein schon eine in sich geschlossene Entvnickelungstheorie be-
deuten würde : diese Einheit liegt in der einheitlichen Subsumtion
der drei Untersuchungsobjecte unter die gleichen allgemeinen
Gesetze. Diese drei Untersuchungsobjecte sind aber nichts als
die drei Momente des Einen Hauptgegenstandes: der philo-
sophischen Probleme, — welche drei Momente ich erhalte, je
nachdem ich auf die formale oder materiale Entwickelung der
Probleme und hinsichtUch der letzteren auf die vorphilosophische
oder die philosophische Entwickelung reflectire. Aber immer
unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Gesetze, welche für alle
drei Entwickelungen die gleichen sind. Das ungefähr wäre,
was ich unter einer „philosophischen Entwickelungstheorie^
verstehen und als nicht unwesentlich für die weitere Grund-
legung einer wissenschaftlichen Philosophie bezeichnen würde.
Dass mit dieser Grundlegung wieder nur die Erfahrung als
Grundlage verwendet worden sein würde, braucht kaum beson-
ders angemerkt zu werden : denn die erwähnten Untersuchungen
würden in der Eruirung und Verschmelzung von psycho-
logischen, völkerpsychologischen, bez. ethnologischen und
sprachwissenschaftUchen, bez. sprachphilosophischen Erfahrungen
bestehen — also wieder von Erfahrungen.
Es erübrigt nur noch, über die wissenschaftliche Leistung
einer solchen Entwickelungstheorie zwei Worte anzufügen;
58 ^ Avenarius:
gemäss der engeren Aufgabe dieser Bemerkungen überhaupt sehe
ich hierbei davon ab, welcher wissenschaftliche Werth an und
für sich der philosophischen Entwickelungstheorie nicht abge-
sprochen werden könne ^ und möchte nur darauf hinweisen,
welche Bedeutung für die Philosophie man dieser Dis-
ciplin zusprechen dürfe.
Die Function, welche eine Entwickelungstheorie in Bezug
auf die Philosophie zu übernehmen haben würde, resulürt aus
dem Umstand, dass in dieser Disciplin, wie sie in 'der oben
gegebenen Charakteristik gedacht ist, die philosophischen
Probleme, formal und material, im Mittelpunkt der Betrach-
tung stehen würden. Nun besteht aber die Philosophie selbst
dermalen weniger aus einer Kette von wissenschaftlich con-
statirten und controlirten „Thalsachenbestanden^, als vielmehr
aus einer Summe von Problemen. Und wer das vermöge
eines gewissen Optimismus bestreiten möchte, wird wohl kaum
seine Zustimmung verweigern, wenn ich wenigstens hervorhebe,
dass bei einer strengeren Auffassung die Philosophie jedenfalls
nur mit Problemen beginnt: und sogar Herrn Ulrici^s Ar-
tikel hat das Gute, hierfür als Beleg angeführt werden zu können.
Wenn es aber das philosophische Problem ist, welches (aus-
gesprochener- oder unausgesprochenermaassen) den Ausgangs-
punkt des philosophischen Systems bestimmt, so bestimmt auch
das Problem durch seinen eigenen Inhalt den Fortgang der
Systementvrickelung und damit wesentlich den Inhalt des
Systems selbst. Und ist nun gar der Probleminhalt (wie es
der Fall bei denjenigen Problemen sein soll, die man noch
heute für die x. i§ox. „philosophischen" zu halten geneigt
scheint) der Erfahrung weder entnommen noch durch sie er-
fassbar: so wird die Bildung des Systeminhaltes um so aus-
schliesslicher den subjectiven Triebkräften, welche dem Problem-
inhalt, seinem Yerhältniss zum gesammten Bewusstseinsstand
innewohnen» preisgegeben bleiben müssen, da andere Factoren,
als sie dem sich selbst überlassenen psychischen Mechanismus
bereits subjectiv zu Gebote stehen, nicht in Function
In Sachen der wissenschaftlichen Philosophie. 59
treten ^). Hier ist die Gestaltung des Yorstellungsinhaltes, der
aus einem dubitativen in ein certitudinales Denken übergeleitet
werden soll, vermöge seiner Gebundenheit an die Formen jenes
Ueberleitungsprocesses durch die allgemeinen Gesetze dieses
Processes bestimmt. Nehmen wir nun an (was bei Problem-
inhalten von bestimmten psychophysiologischen Eigenschaften
wirklich der Fall, hier aber auseinanderzusetzen und nach-
zuweisen nicht der Moment ist) — nehmen wir also an, dass
aus jenen Gesetzen erfolgte, dass der bewegte Yorstellungs-
inhalt sich im Wechsel seiner Zustande (im Uebergang aus
einem eventuell primären certitudinalen durch ein dubitatives
in ein erneutes certitudinales Denken) in möglich grösster
Uebereinstimmung mit sich selbst erhielte, also unter möglich
kleinster Abänderung in das philosophische System einträte, so
wurde durch den blossen Umstand, dass z. B. ein — wie
wir ihn schonend nennen wollen: erfahrungsfreier Yorsteliungs-
inhalt zum Problem erhoben worden ist, der Inhalt
eines Systems in seinem Charakter gesetzmässig bestimmt werden.
Es ist hier irrelevant, den Umfang des Einflusses, der
auf den Inhalt eines Systemes durch die Aufnahme eines
Probleminhaltes zum Ausgangspunkt seiner (des Systems) Ent-
wiekelung ausgeübt wird, in genaueren Maassen zu bestimmen ;
es genügt hervorzuheben, dass die Systembildung inhalt-
lich unter einem massgebenden Einflüsse über-
haupt jener Aufnahme steht.
Bezeichnet man den Act der Aufnahme oder Erbebung
eines Yorstellungsinhaltes zum Ausgangsproblem einer philo-
sophischen Systembildung als „Problematisation^: so er«
^) Bei Seite gelassen ist hierbei der Fall, wo das weiter-
blickende Forscherauge des Philosophie Treibenden nach Neben-
erfolgen schielt, die meist nichts weniger als theoretischer
Art sind. Gleichgültig wie selten etwa dieser Fall eingetreten sein
mag, die ausgeführte psychologische Betrachtung, welche die
Entwickelung der Philosophie auf ihre Gesammtmotive bin unter-
sucht, wird die Mitfunction solcher ausserhalb der rein theoretischen
Factoren belegenen „Nebenzweckursachen^' nicht völlig ausser Rech-
nung lassen können.
60 ^* AvenariuB:
giebt sich aus der Abhängigkeit, in welcher sich der System-
inhalt von der Problematisation befindet, auch die Abhängigkeit,
in welcher die wissenschaftliche Berechtigung des
Systeminhaltes von der wissenschaftlichen Be-
rechtigung des problematisirten Yorsteliungs-
inhaltes steht.
Hieraus folgt, dass bei der Forderung: es soUe der Inhalt
einer philosophischen Systembildung wissenschaftlich be-
rechtigt sein, die Voraussetzung erfüllt sein muss, dass der
zur Problematisation verwendete und somit die Systembildung be-
stimmende YorsteUungsinhalt wissenschaftlich berechtigt sei Und
hieraus ergiebt sich die methodologische Forderung selbst : b e h u f s
einer philosophischen Systembildung, welche für
ihren Inhalt wissenschaftliche Berechtigung ver-
langen soll, nur solche Yorstellungsinhalte zur
Problematisation zuzulassen, welche wissenschaft-
lich berechtigt sind. —
Erinnern wir uns jetzt, welche Aufgabe diese Erwägungen
hatten: es galt nachzuweisen, welche Bedeutung einer Ent-
wickelungstheorie (im angegebenen Sinne) für die Philo-
sophie zugesprochen werden dürfe. Wir sehen: die aller-
geringste für eine — wie wir sie nun nennen wollen:
naive Philosophie, deren eines Kennzeichen eben ist, dass sie
die historisch überlieferten Probleminhalte in naivem Glauben
an deren wissenschaftliche Problemberechtigung zur Proble-
matisation zulässt. Die Entwickelungstheorie dürfte dagegen
die allergrösste Bedeutung für jede wissenschaftliche
philosophische Entwickelung haben: ist doch wenn nicht das
einzige, so gewiss eines der wichtigsten Kriterien für die
wissenschaftliche Problemberechtigung eben die Entstehung —
die Abkunft der Probleminhalte.
Nun, über diese Abkunft der Probleminhalte wird, wenig-
stens wie heute die Sache liegt, in letzter Instanz eine Ent-
wickelungstheorie zu entscheiden haben, da die Entwickelungs-
geschichte so tief nicht hinabsteigt. Diese Entscheidung über
die Abkunft führt aber alsbald zu einer Unterscheidung hin-
In Sachen der wissenschaftlichen Philosophie. gl
sichtlich der Legitimität der Abkunft und somit der Legitimität
der Anspräche der Probleme. Diese letztere Unterscheidung
ist aber um deswillen wichtig und nöthig, weil zunächst
sämmtliche Problem] nhalte in völliger Naivität Anspruch auf die
Problematisation erheben. Dass es in der That aber Probleme
giebt, deren Ursprung in dem Sinne, welchen der Zusammen-
hang dieser Erwägungen ergiebt, als in wissenschaftlicher Hin-
sicht „illegitim" bezeichnet werden kann, dürfte nicht zu be-
zweifeln sein ; wenigstens glaube ich, selbst von den enragirtesten
Verfechtern erfahrungsfreier Systembildung nicht ernstlichen
Widerspruch befürchten zu müssen, wenn ich als „illegitim"
z. B. ein Problem bezeichne, dessen Inhalt nachweisbar einer
normalen oder anormalen Bewusstseinstäuschung oder
auch bewussten und unbewussten Fälschungen zu be-
stimmten Zwecken entstammt. £in solches Problem wird
also in der wissenschaftlichen Entwickelung nicht die Fähigkeit
haben können, berechtigte Ansprüche auf Problematisation zu
erheben. Durch diese Unterscheidung der naiven und der
wissenschaftlichen Probleminhalte und mitliin der naiven und
wissenschaftlichen Problematisation und der dadurch eingeleiteten
Beschränkung der Problematisation auf die legitimen Problem-
inhalte geht die philosophische Entwickelungstheorie in eine
„Kritik der philosophischen Probleme" über, um in
einer „Theorie der Grenzen der wissensehaffcliehen
Problematisation" zu enden. Und so ist die Entwicke-
lungstheorie die Grundlage einer — wie mr die Gesammtheit
der hierhergehörigen Untersuchungen nennen wollen: —
„Problematisatlonstheorie" .
Nach dem, was in der voraufgehenden kurzen Erörterung
gegeben worden ist, verhält es sich also mit der Problematisa-
tion nicht anders als es sich mit der j Erkenn tniss" verhält:
im Stand der Naivität tritt die Problematisation so unbe-
grenzt auf als das Phänomen der „Erkenntniss" — in der
wissenschaftlichen Entwickelung werden beiden Be-
wusstseinssituationen Grenzen gezogen. Und so ergänzt, wie
angekündigt, die Problematisationstheorie die Erkenntnisstheorie,
62 A* Avenarius:
welche letztere in ihrer modernen Ausbildung hier für berech-
tigt angenommen werden möge, obwohl das „Erkenntnissproblem"
bis heute noch nicht das „Rigorosum*' vor der Problematisations-
theorie bestanden, ja nur es verlangt zu haben scheint« Ich habe
an dieser Stelle noch auf eine weitere verwandte Entwickelung
hinzuweisen und wende mich nun mit diesem Hinweis zu der —
übrigens mit wenig Worten zu erledigenden — Charakterisirung
der zweiten Untersuchungscombination, welche nach meiner
oben (S. 53) geäusserten Ansicht die Leistungen der sog. Erkennt-
nisstheorie und auch der Logik zu ergänzen berufen sein dürfte.
Ebenso nämlich, wie Problematisation und „Erkenntniss**
im Stand der Naivität gleich unbegrenzt sind; kann auch im
selben Stand das „Begreifen" unbegrenzt sein. Wie die
philosophische Systembildung das philosophische Problem ^ so
setzt das philosophische Begreifen das philosophisch Unbegriffene
voraus. Abgesehen nun von aller — wenn ich den Ausdruck
wagen darf: Philosophicität des Inhaltes, so besteht in unserem
jetzt vorhegenden Falle einerseits ein Yorstellungsinhalt, welcher
sich in einem Zustand des Denkens befindet, der seine speci-
fische Färbung durch die Nuance des Unbegriflfenseins , ünbe-
kanntseins, einer Befremdung, einer Unklarheit u. s. f. erhält —
und andererseits besteht eine Tendenz, diesen Zustand aufzuheben
und angesichts des betreffenden Yorstellungsinhaltes ein Denken
mit der Eigenschaft der Klarheit, des Begriffenen, Bekannten,
Vertrauten u. s. f. vnederherzustellen. Soweit es nun zu unter-
suchen gilt, wie ein Vorstellungsinhalt aus einem vorhergehenden,
entgegengesetzt charakterisirten in ein Bewusstsein des Unbe-
griffenen, der Befremdung u. s. f. tritt und durch diesen Zustand
hindurchgehend sich in ein Bewusstsein des Begriffenen (des
Begriffenhabens) zurückleitet — soweit würde die Untersuchung
des Begreifens einen Theil der Lehre von der Bildung und
Lösung der Probleme ausmachen^ bez. eine Entvrickelung dar-
stellen, die sich von jener Lehre abzweigt.
Zu einer Ergänzung der „Logik und Erkenntnisstheorie"
wird die Lehre vom Begreifen durch die aus ihr resultirende,
heute übrigens wohl als allgemein bekannt vorauszusetzende
In Sachen der wissenschafitlichen Philosophie. 63
Einsicht, dass die Comprehensionalfunction — d. b.
diejenige Function einer Vorstellung: durch ihr Eingreifen den
Zustand des Unbegriffenseins in einen solchen des Begriffenseins
zurückzuwandeln — gar nicht auf objectiv-realen, sondern nur
auf subjectiv -psychologischen Werthen der betreffenden Vor-
stellung beruht; wie denn auch erfahrungsgemäss die allersub-
jectivsten und willkürlichsten Vorstellungen unter Umstanden
sich als vortrefflich verwendbar erzeigt haben, ein Begreifen
herbeizuführen. Da nun hierin ausgedrückt liegt, dass die
Thatsache der Begreiflichmachung an sich und als
solche weder zu Gunsten der objectiven Existenz des Unbe-
griffenen noch auch all dessen, durch dessen Vorstellung die
Erklärung geleistet wird, etwas beweist: so folgt, dass ein Vor-
slellungsinhalt nicht um desswegen blos in die wissenschaftliche
Erfassung des Seienden aufzunehmen sein kann, weil er die
Gesammtheit oder einen Theil des wirklich oder vermeintlich
Seienden begreiflich macht; dass es vielmehr wissenschaftlicher
sein muss, ein Begreifen abzulehnen, solange die begreiflich-
machende Vorstellung nichts Anderes für ihre objectiv-wissen-
schaftliche Gültigkeit beizubringen vermag, als die Ueberredun(j,
welche leicht in ihrer subjectiven Leistung — eben der Be-
greiflichmachung — liegt Das wissenschaftliche Be-
greifen hat demnach Grenzen und zwar werden ihm diese
durch dieselben Kriterien gezogen sein, welche die Berechtigung
der Ansprüche eines VorsteUungsinhaltes , wissenschaftlich als
gültig betrachtet zu werden ^ begrenzen — abgesehen von
der Function dieser Vorstellungen, einen anderen Vorstellungs-
inhalt eventuell begreiflich zu machen. Hierin ist der Unter-
schied zwischen einem wissenschaftlichen und dem naiven Be-
greifen begründet : das naive Begreifen verlangt von einer Vor-
stellung behufs Zulassung zur Begreiflichmachung theoretisch
nichts Anderes, als dass diese Vorstellung eben hierzu die sub-
jectiv-psychologische Tauglichkeit besitze; darum ward ja vom
naiven Begreifen gesagt; es könne unbegrenzt sein, weil die
menschliche Naivität eine unbegrenzte sein kann und innerhalb
dieser Naivität die unbegrenzten Mannichfaltigkeiten der Subjec-
34 R* Avenarius:
tivitatsentwickelung eine unbegrenzte Fülle subjectiver Erklärungen
(= Begreiflichmachungen) ermöglicht.
Mit dem Gesagten glaube ich den Charakter, vielleicht auch
die Nothwendigkeit einer solchen Comprehensionaltheorie, welche
eine „Kritik des Begreifens" und die „Theorie der
Grenzen des wissensehaftlichen Begreifens"^) enthalten
würde, genügend dargelegt zu haben — aber zugleich auch
die Breite der Grundlage, welche hier der wissenschaft-
lichen Philosophie zugedacht ist. Dass diese Grundlage
immer nur diejenige der Erfahrung — der äusseren wie
inneren — ist, geht wieder aus den Elementen hervor, aus denen
sich ebenso wie die philosophische Entwickelungstheorie die
Problematisations- und Comprehensionaltheorie auferbauen —
welche Elemente überall Erfahrungen sind, vorwiegend, aber
nicht ausschliessUch psychologischer Natur ^).
Herr Ulrici meinte (Schluss von Citat 12) es Hesse sich
nicht ohne Weiteres behaupten, dass die Erfahrung die „Grund-
lage" aller Wissenschaft und Philosophie sei; ich antworte also :
nicht aller Philosophie, wohl aber aller Wissenschaft — und
der Philosophie nur, insofern diese zugleich „Wissenschaft" ist;
und ich sage dies auch nicht „ohne Weiteres", sondern nach
Erwägungen, die vielleicht weiter gehen, als Herr Ulrici ver-
langte, und vielleicht über mehr Bichtungen sich verbreiten, als
er erwartete
*) Man sollte auch in dei: Erkenntnisstheorie nirgend von den
Grenzen des „Erkennens'* schlechthin, sondern nur von den Grenzen
des wissenschaftlichen „Erkennens" sprechen. Die hiermit ein-
geführte Präcision würde sich wissensehafitlich wohl lohnen!
*) Genaueres Material aus den charakterisirten Theorieen
kann an dieser Stelle nicht mitgetbeilt werden; ich habe dasselbe
zunächst in Vorlesungen niedergelegt, und hoffe, es in dem grösseren
Werke publiciren zu können, dessen Prolegomena ich bereits
veröffentlicht habe (Philosophie als Denken der Welt gemäss dem
Princip des kleinsten Kraftmasses. Prolegomena zu einer Kritik
der reinen Erfahrung. Leipzig, 1876). Auf diese Schrift, welche
jene Theorieen wenigstens in Andeutungen enthalt, muss ich auch
den Leser des Näheren willen einstweilen verweisen.
In Sachen der wissenschaftlichen Philosophie. 65
Ob nun endlich die JErgebnüse — nicht nur, wie Herr
Ulrid beansprucht (S. 235), der logischen und erkenntnüs-
theoretüehen — sondern wie wir hinzufügen, all der an-
gedeuteten Foraehmgen zu Gunsten des menschlichen Wissens^
triebe sprechen werden? Das wird davon abhängen, was zu
wissen es Einen treibt! Und da k^nn es wohl geschehen, dass
die Naivität ein Mehreres oder Anderes zu wissen verlangt, als
wenigstens die Wissenschaft zu gewähren vermag! Aber was
soll diese ungünstige Chance für den reinen Wissenstrieb be-
fürchten lassen? Dieser wird durch Wissen befriedigt —
und falls die Ergebnisse (nach Herrn Ulrici^s eigener Voraus-
setzung) wenigstens der „Logik und Erkenntnisstheorie^ wirk-
lich festgestellt und dadurch zu einem Wissen geworden sind:
so müssen sie zu Gunsten des Wissenstriebes als solchen
sprechen, denn wer in intellectueller Freiheit überhaupt nur zu
wissen verlangt, würde zum Mindesten jene Ergebnisse über-
liefert und durch sie seinen Wissenstrieb befriedigt erhalten.
Oder sind für Herrn Uhrid „Logik und Erkenntnisstheorie,"
von denen er so bedeutungsvoll spricht, überhaupt nicht
Wissenschaft? 'Die Frage, ob „Logik und Erkennt-
nisstheorie^* in ihren Ergebnissen überhaupt zu Gunsten des
Wissenstriebes sprechen, ist also — mild gesagt — ohne rechten
Sinn, da sie hiesse: kann ein Wissen zu Gunsten des Wissens-
iriebes sprechen? Sind aber die Ergebnisse der „Logik und
Erkenntnisstfaeorie'^ nicht festgestellt, so können sie, wie mir
scheint, auch nicht zu Ungunsten des menschlichen Wissens*-
triebes zeugen — und damit auch nichts gegen die Möglichkeit
einer wissenschaftlichen Philosophie ausmachen, zu deren Ver-
wirklichung beizutragen Aufgabe dieser Zeitschrift wurde« —
Die nächste Bemerkung des Herrn Ulrici gilt dem Passus
des Einführungsartikels (S. 13 f.): „Eine solche einheitliche
Wdtauffassung bezeichnet man gewöhnlich als Aufgabe speciell
der Philosophie — und nicht mit Unrecht: denn Philosophie ist
in letzter Instanz nichts Anderes, wie wir sehen, als das Resultat
der Zusammenwirkung der Spedalwissenschaften in einem all-
gemeinsten Begriff." Hierzu also bemerkt Herr Ulrici (S. 235 f.) :
Viexte^ahrssclirift f. wissenBchaftl. PhiloBophie. m. 1. 5
gg B. ATenarius:
13, yyAbgesehen davon y dass nickt wohl einzusehen ist^
tme neben den Spedcdvnasensehaften noch von Philosophie
die "Rede seyn kann, wenn sie nur das ^yüesultat^^ des (postu*
lirten) Zusammenwirkens jener isi^ müssen wir diese DefiMr
tion der Philosophie nicht nur nach Avenarius' eignen Prä-
missen für unbegründet erklären^ sondern sie auch des Wider^
Spruchs mit den Ergebnissen seiner eignen Erörterung
zeihen,^^
Die Begründung dieses Einwandes seitens des Herrn Ulrici
folge nun zugleich mit der Beantwortung unsererseits:
,yDenn nach ihm selbst (sc. dem Verfasser des Einführungs-
artikels) ßndet ja jenes Zusammenwirken der Specicdtvissen-
Schäften nicht statt^^ — der Einführungsartikel hatte im Gegen-
theil gerade (S, 7 f.) die Thatsache angeführt und zu Grunde
gelegt^ dass die Specialwissenschaften einem Punkte zustreben,
wo sie ihre specialwissenschaftliche Betrachtungsweise aufgeben
und ihre letzten Begriffe untereinander auszugleichen suchen —
y^und kann^ weil sie eben Specialwissenschaften sind, nicht
stattfinden^^ — der Einführungsartikel sagte gerade (S. 7 f.),
weil sie Specialwissenschaften sind, müssen sie, um sich als
Wissenschaft zu vollenden^ in jene Zusammenwirkung ein-
treten; das kann freilich nicht stattfinden^ solange sie nur
Specialwissenschaften im modernen Sinne des Wortes sind —
yysondem wird durch die Philosophie vermittelte^ — der Ein«^
führungsartikel machte geltend : dieses Zusammenwirken istPhilo^
Sophie und zwar Philosophie im weiteren Begriff^ wie S. 12
des Einführungsartikels deutlich zu lesen steht. In diesem
weiteren Begriff heissen die Untersuchungen, welche die Pnncipien
alles Wissens, Begreifens^ Erfahrens, bez. die Wissenschaftlichkeit
der Specialwissenschaften selbst betreffen, — „Philosophie".
Es ist nicht die Schuld des Einführungsartikels, wenn H^rr
inrici die daselbst gemachte Unterscheidung einer Philosophie
im weiteren und engeren Sinne in seinem Eifer übersieht oder
ignorirt; und so möge es denn auch nicht demEinführungs*
artikel zur Last gelegt werden, wenn Herr Ulrici zu dem
Schluss kommt, dass nach dem Inhalt des EinführungsartikeU
In Sachen der wissenschaftlichen Philosophie. Q^
selbst ^yFhüosophie nickt als blosses jRestdtat des Zusammen-
wirkens*^ der Specialwissenschaften bezeichnet werden könne:
zu diesem Schluss gelangt Herr Ulrici nur dadurch, dass er an
letzter Stelle eine Bestimmung verschweigt^ die er kurz vorher,
wo er den Einführungsartikel wörtlich zu citiren hatte, mitab-
drucken musste — die determinirende Bestimmung: „in
letzter Instanz^M Und zu dem, was die Philosophie in
letzter Instanz ist, ist sie in ihrem weiteren Begriff allerdings
yyBedingung und Basis**: aber es ist ja eben jenes im Ein-
führungsartikel skizzirte Zusammenwirken von Specialwissen-
schaften, welches die Philosophie im weiteren Sinne aus-
macht. —
14, yyleh beende meinerseits diese Bemerkungen mä dem
Hinweis^ dass die neue wissensehafüiche Philosophie conse-
quenter Weise nicht nur alle Metaphysik, sondern auch alle
Ethik aus dem Bereich der Philosophie verbannen muss.^
(S. 236).
Zunächst zwei Worte über die Zulässigkeit der Metaphysik. —
Die Metaphysik stellt in ihrem Resultat eine Yorstellungsmasse m
dar, welche eine andere Yorstellungsmasse /u, deren Inhalt ver-
gleichsweise unbestimmt ist, durch Apperception inhaltlich be-
stimmt. Diese inhaltliche Bestimmung wird wissenschaftlich
zulässig sein, wenn — abgesehen von den Eigenschaften, welche,
eventuell die Yorstellungsmasse ju besitzen muss — der Inhalt
der Yorstellungsmasse m wissenschaftlich zulässig ist: hierüber
entscheidet aber nicht, ob sich der Metaphysiker bei Yollziehung
seiner Apperceptionen wissenschaftlich gestimmt fühlt oder ob
ihm sonst so zuMuthe ist; sondern hierüber entscheidet die Ent-
wickelungs-, bez. Problematisationstheorie. Die dort gewonnenen
Ergebnisse könnten aber die Metaphysik nie und nimmermehr aus
dem ^^Bereich der Philosophie'* überhaupt, sondern nur aus dem
der wissenschaftlichen Philosophie bannen — dann nämlich, wenn
sich erweist, dass ein wesentlicher Inhalt der metaphysischen
Yorstellungsmasse m aus normalen oder anormalen Bewusstseins-
tauschungen, aus Scheinerfahrungen u. dgl. entstanden sei.
Aber muss nun nothwendig der Inhalt m aus solchen
6*
QIQ B. Avenarius:
wissenschaftlich unzulässigen Quellen herstammen? Es wird
das, wie mir scheint, Ischliesslich davon abhängen , was man
unter »^Metaphysik'' versteht Versteht man zum Beispiel
unter ^Jtfetaphysik'' ihrem Resultat nach die Apperception der
Weltvorstellung ^ durch eine Vorstellung m, welche — im
Gegensatz zu der sog. sinnhchen Anschauung, wie sie aus dem
heutigen Entwickelungsstand der Wahrnehmung des Erwachsenen
unmittelbar entnommen erscheint — alles das, was durch be-
zügUche eingreifende und übergreifende Mehrerfahrungen sich
als Hypostasen von höchstens Hülfsbegriffswerthen erwies, aus
sich ausgeschieden hat: so wii*d eine solche, von der heutigen,
dem Anscheine nach unmittelbar „sinnlich" erfassten Weltvor-
Stellung wesentlich abweichende und in dieser Abweichung
„Metaphysik '^ zu nennende, nach der Voraussetzung auch
„Metaphysik^ wirklich leistende Vorstellungsmasse m wissen-
schaftlich berechtigt sein. Denn ihr Inhalt wäre das
Resultat combinirter Apperceptionen , deren einzelne Inhalte
sämmtlich der Erfahrung entstammten. Es würde hieraus
hervorgehen, dass der Gegensatz, welcher auf dem Grunde einer
Psychologie, welche noch mangelhafter war, als die heutige ist,
entwickelt wurde, — dass, sage ich, der Gegensatz zwischen
Metaphysik und Erfahrung kein absoluter, sondern ein in einer
Weiterentwickelung eventuell auszugleichender sei.
Doch — wie dem auch sei, ich wiederhole: in keinem
Falle hat Herr Uliici Ursache, für die Zukunft der Metaphysik
besorgt zu sein — auch wenn sich die Inhalte der Vor-
stellungsmasse m nicht in der wissenschaftlichen Philosophie
erhalten könnten! Unsere Gesammtcultur ist noch lange nicht
so beschaffen, dass den metaphysischen, wissenschafLlich im
Denken der Welt nicht zu erhaltenden Vorstellungsinhalten von
unten der nährende Boden und von oben der pflegende Sonnen-
schein fehlen sollte! So viel zur Metaphysik ^) — das Bemerkte
') Nachträglich werde zur Ergänzung verwiesen auf den Ar-
tikel H. Sieb eck 's im II. Jahrg. dieser Zeitschrift (Heffc 1 u. 2):
„Die metaphysischen Systeme in ihrem gemeinsamen Verhältnisie
zur Erfahrung.'*
In Sachen der wissenscliaftlichen Philosophie. 69
wird genügen können, da Herrn Ubici's speciellere Begründung
(als Material die Beschrankung der Causalitätsgeltung auf die
Erfahrung gebrauchend) uns eine Lehrmeinung unterschiebt, die
sich im Einführungsartikel weder als Problemstellung noch als
Voraussetzung verwendet findet —
Besonders charakteristisch für das Verfahren des Herrn
Ulrici ist nun auch der Passus, mit welchem er seine Ansicht
Yon der in den Consequenzen der wissenschaftlichen Philosophie
liegenden „Verbannung^ der Ethik begründet (S. 236):
15a, yyUnd handelt es sich in der Ethik um das Seyn^
sollende^ — wer das leugnety hat erst nachzuweisen, dass das
allgemein menschliche Streben nach einer über das Gegebene
hinausgehenden VoUkommenkeit wie alles Pflicktge/ühl , alle
moralische Verbindlichkeit y auf blosser Selbsttäuschung und
Illusion beruhe, — so ist die Ethik keine ^^wissenschaftliche**
Disciplin.**
Mir scheint, man könne recht wohl der Ansicht sein (und
ich selbst und mit mir, soviel ich weiss, alle Mitarbeiter an
dieser Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie sind dieser
Ansicht), dass das von Herrn Ulrici sofort als „allgemein
menschlich" bezeichnete Streben nach Vollkommenheit, sowie
alles Pflichtgefülil und aUe moralische Verbindlichkeit nicht
„auf blosser Selbsttäuschung und Illusion" beruht — und
dennoch bliebe bestreitbar, dass es sich in der Ethik durchaus
um das Seinsollende handle; und umgekehrt, warum sollte nicht
Jemand meinen können, es beruhe all das Angegebene auf
Selbsttäuschung und Illusion, und doch zugleich zugeben, dass
eine Ethik als Wissenschaft vom Seinsollenden bestehen könne:
denn dass gewisse Dinge, Handlungen und Verhältnisse sein
sollen, das ist ja Thatsache — und warum sollte diese einer
Ethik als Wissenschaft nicht erfassbar sein?
Herrn Ulrici's im Citat reproducirte Nachweisforderung
beruht vermuthlich (und fast möchte ich sagen: hoffentlich)
weniger auf seiner Logik , auf die er uns bereits einmal aus-
drücklich verwies, sondern wohl mehr auf seiner speciellen
Ethik, auf die jene Forderung stillschweigend hindeutet. Denn
70 K« Avenarius:
die dichte Verbindung, in welcher hier das „Seinsollende'' mit
dem nicht auf Selbsttäuschung und lUusion beruhenden Streben
nach Vollkommenheit etc. gedacht wird, enthält schon nicht mehr
die blosse Aufgabe einer Wissenschaft, sondern schon eine
bestimmte Lösung.
Doch gleichviel! Was hat der Umstand, dass als
das Object der Ethik das Seinsollende zu gelten
habe, mit der behaupteten Nothwendigkeit ihrer
Verbannung aus dem Bereich der Philosophie und
selbst der wissenschaftlichen Philosophie zu
schaffen? Das ist eine sehr ernste Frage, denn das Interesse
an der Ethik ist ein sehr ernstes, sehr allgemeines und dabei nicht
bloss ein theoretisches; und wer öffentlich von einer Wissenschaft
behauptet, sie müsse consequenterweise die Ethik aus ihrem Be-
reiche bannen, ein Solcher hat mehr als Ein Mal zu überlegen,
aus was für Gründen und mit was für Mitteln intellectueller
Befahi^ng er an seine vielleicht weittragende Behauptung gehen
will! Wir verlangen also eine ernste Antwort fähiger
Ueberlegung — und wer, nachdem er die Frage aufgeworfen
hat, keine solche Antwort zu geben vermag^ der wird sich
gegen den Verdacht zu vertheidigen haben ^ dass es ihm an
Ernst oder an Fähigkeit gebreche. Herr Ulrici hat die Frage
aufgeworfen — was wird er antworten? Hören wir! Herr
Ukici schliesst (S. 236):
15 h, ^yDenn das Seynsoüende kann kein ErfahrungS"
object j kein ^yGegebenes^^ aeyn, da es ja nicht isty sondern
eben seyn soW^.
So geschrieben im Jahre 1877 und glaube ich kaum, dass
in diesem Jahre etwas — — Unqualificirbareres von einem
„Philosophen'' geschrieben worden ist!
Richtig ! das Seinsollende ist kein „Gegebenes"^ da es nicht
ist, sondern sein soll! Aber Erfahrungsobject und ge-
geben ist die thatsächliche Existenz sittlicher Verhältnisse,
Erfahrungsobject und gegeben ist eine Entwickelung
zur Verallgemeinerung und Vervollkommnung dieser sittlichen
Verhältnisse — ebenso wie es Erfahrungsobject und
In Sachen der wissenschaftlichen Philosophie. 71
gegeben ist, dass diese Entwickelung, weil sie erfahr ungs-
massig nothwendig ist, auf der einen Seite die Form des
Gewollt- und Angestrebtwerdens^ auf der andern — eben durch
ihre Nothwendigkeit — die Form des Seinsollens erfahrungs-
gemäss annimmt
Also: in der Erfahrung gegeben ist allerdings nicht das,
was nicht ist, weil es eben sein soä; wohl aber ist in der Er-
fahrung gegeben^ dass Etwas sein soll, weil es erfahrungs-
gemäss nothwendig ist zu bestimmten Zwecken. —
Herr Ulrici schliesst (S. 236):
16. ^f Diese Bemerkungen indess werden y hoffe ich^ ge-
nügen, um den Unbefangenen zu überzeugen j dass die neue
vdssenschaftliche Philosophie in Wahrheit der alte dogmatische
Empirismus ist^ nur modern aufgestutzt, auf das Dogma von
der AUeingüUigkeit und unantastbaren Autorität der naJhir"
wissenschaftlichen Forschung und ihrer Ergebnisse basirt, — **
Meine Gegenbemerkungen werden vielleicht genügt haben,
den Denkenden befürchten zu lassen, dass Herr Ulrici die
wissenschaftliche Philosophie mit so Etwas wie einem alten
Sensualismus, die Werthschätzung der naturwissenschaftUchen
Methoden mit der Basirung auf ein Dogma Ton der Alleingültig-
keit und unantastbaren Autorität der naturwissenschaftlichen
Forschung und Ergebnisse, und schliesslich die (vorwiegend auf
Grund der neueren Apperceptionslehre und Sprachphilosophie
erfolgte) Weiterentwickelung der Auffassung der Erfahrung mit
einer „Aufstutzung** eines vor oder abseits von den neueren
psychologischen Errungenschaften Steinthal^s, Geiger's, Wundes
u. A. liegenden Empirismus verwechselt habe. Wie das
Phänomen einer solchen hochgradigen Verwechslung psycho-
logisch möglich war — nun, das geht auf das Allergenügendste
hervor aus den einzelnen Punkten eben dieser hiermit beendeten
kritischen Gegenbemerkungen !
Nachdem ich in dem Yoraufgehenden Herrn Ulrici's Artikel :
,iUeber eine neue Species von Philosoptüe** in, wie ich glaube,
allen Punkten besprochen, habe ich einige Bemerkungen zur
72 fi- Ayenarius:
Replik, wekhe inzwischen auf meinen ersten Artikel erschienen
ist (Zeitschrift für Philosophie etc., N. F. Bd. 72, Heft 1,
S. 103—110); hinzuzufügen.
1. S. 104 meint und sagt Herr Ulrici wörtlich, dass die
„Yierteljahrsschrift für wiss. Philos.^ sich ihren Titel erst geben
durfte, nachdem sie nachgewiesen, dass die von ihr ver-
tretene Philosophie die allein wissenschaftliche sei. Eine etwas
originelle Zumuthung, dass eine Zeitschrift sich ihren Titel erst
so und so lange nach ihrem Erscheinen geben solle! Mir
scheint, man könne doch nur verlangen, dass die Philosophie,
welche die Zeitschrift von ihrem Erscheinen an vertritt, auch
wirklich, der Titelaussage gemäss, wissenschaftlich sei. Dieser
Titel sagt übrigens aber nicht aus, dass nur in dieser Zeit-
schrift wissenschaftliche Philosophie, sondern dass in dieser
Zeitschrift nur wissenschaftliche Philosophie getrieben
werde; ich wiederhole also, dass unser Titel nicht mehr oder
weniger zu leisten hat, als die Artikel unserer Zeitschrift an-
zukündigen (vergl. Jahrg. I, Heft 4, S. 559).
2. Auf derselben Seite erneuert Herr Ulrici seine Be-
hauptung: dass die „erkenntnisstheoretische Grund- und Ur-
frage^ sich nicht „auf Grundlage der Erfahrung** lösen lasse,
weil ihre Lösung über die Erfahrung hinausgehe. Ich meiner-
seits will gern meine Antwort wiederholen : dass das scheinbare
Hinausgehen über die Erfahrung (wenn anders es sich nicht
um Phantasmen einer „schwärmenden Vernunft** handelt) ledig-
lich in Gontrolirungen der Erfahrung durch Erfahrung, als In-
halt, bestehe und in Verallgemeinerungen, wie sie in der Er-
fahrung, als Act, liegen.
3. Auf S. 105 ist zunächst eine Stylbiume des Herrn
Ulrici anzumerken : meine Ausführung (Jahrg. I, S. 556 f.), die
an dieser Stelle sogar Herrn Ulrici^s Ausdruck „Schrulle** ab-
lehnte und wo sie schärfer gefasst erscheinen konnte, doch nur
Kant sprechen Hess, wird als — y^geifemde Gegenrede** bezeichnet
— Sachlich ist zur angezogenen Stelle zu bemerken , dass Herr
Ulrici allerdings einige Worte von mir wiederholte, aber mit
diesen dem Zusammenhang entnommenen Worten doch noch
In Sachen der wisflenschafüichen Philosophie. 78
nicht den Sinn der ganzen Ausfuhrung wiedergab: Herrn inriGi
gilt die Philosophie überhaupt (vgl. seinen 1. Artikel, S. 224 — 5)
als Wissenschaft, und als Grund, dass sie Wissenschaft sei, wird
angeführt, dass sie selbst sich dafür gehalten und Anderen
dafür gegolten habe , und daher wird ihm der Satz : die
Philosophie „will** Wissenschaft sein, zur Frage — nicht: wie
ist wissenschaftliche Philosophie, sondern: wie ist Philosophie
überhaupt möglich; während meinerseits die Unterscheidung
zwischen Philosophie überhaupt und wissenschaftlicher Philo-
sophie festgehalten blieb, da die Zeit für ein Aufgeben dieser
Unterscheidung noch nicht gekommen erschien.
4. S. 106 findet Herr Ulrici, dass ich die von mir ver-
tretene Philosophie durch den Titel meiner Zeitschrift „ohne
Weiteres^ für Wissenschaft erkläre. Man mag die Kriterien
der Wissenschaftlichkeit, die der Einführungsartikel aufstellte,
anfechten, bestreiten, widerlegen; aber es gehört viel Affect
dazu, angesichts dieser Kriterien zu behaupten, man habe
„ohneWeiteres** eine Philosophie für wissenschaftlich erklärt
5. Auf der gleichen Seite erklärt Herr Ulrici, meine
„weitläufige^ Darlegung der Entstehung der Erfahrungsbegriffe
enthalte „im Wesentlichen nichts Neues und erscheint d<Jier
in jeder Hinsicht überflüssig^'' In seinem ersten Artikel hatte
Herr Ulrici 8. 227, wie er auch selbst im zweiten Artikel S. 106
reproducirt, die Frage gestellt, ob und wie allgemeingültige Be-
griffe überhaupt und insbesondere, ob sie auf dem Wege der
Erfahrung zu gewinnen seien. Will Herr Ulrici jetzt zu ver-
stehen geben, dass es überhaupt überflüssig sei, ihm auf seine
Fragen — und gar eingehend! — zu antworten? Fast scheint
es so; denn meine Darlegung war eben die Antwort auf
seine Frage, und der Umstand, ilass die Antwort, wenn sie
nur sonst richtig und zutreffend war, nicht neu genug sei •-«
ein solcher Umstand kann doch selbst von Herrn Ulrici
nicht ernstlich zur Ueberflüssigkeitserklärung verwendet werden
sollen! So bedenklich dies Verfahren wäre — leider erregt
der Verlauf der neuen Entgegnung des Herrn Ulrici die Ver-
muthung, dass die Sache in Wahrheit noch um ein nicht
74 B« ATenarius:
Unbedeutendes bedenklicher liege. Nämlich: dass Herr Ulrid,
obwohl er in meiner Darlegung der Entstehung der Allgemein-
begriffe nur „im Wesentlichen nichts Neues^' zu finden aussagt,
dieselbe im Wesentlichen gar nicht verstanden habe. Herr Ulrici
bestreitet, dass die Erfahrungsbegriffe „Allgemein begriffe^* sind,
und dies bestreiten scheint ihm so viel zu heissen als bestreiten,
dass aus Erfahrungsbegriffen rein als solchen gefolgert werden
dürfe, dass die Einzelobjecte überhaupt, alle Einzelobjecte
„begrifilich gegliedert^' seien: das aber müsse die wissenschaft-
liche Philosophie annehmen, das nähme ich auch unwillkürlich
an (wie ,jeder von uns*') und diese von der Erfahrung nicht
hervorgerufene, sondern, soweit sie reiche, nur bestätigte Vor-
aussetzung sei „sonach im Grunde die „Grundlage'' der Wissen-
schaft, weil der Anlass und Ausgangspunkt der wissenschaft-
lichen Forschung/' aber „doch nur eine Voraussetzung", von
der die Wissenschaft „vor Allem" darzuthun hat, dass wir zu
derselben berechtigt seien — ein Nachweis, der sich von der
„Grundlage der Erfahrung^^ aus nicht führen lasse und den
die wissenschaftliche Philosophie nicht erbracht habe (S. 106
und 107 des zweiten Artikels).
Ich will mich nicht damit aufhalten, darzulegen, dass hier-
mit Herr Ulrici eine vierte erste Aufgabe gestellt hat (vgl.
meinen 1. Artikel, Jahrg. I, S. 578) — ein Zeichen, wie un-
sicher Herr Ulrici noch trotzalledem mit seinem Bewusstsein
von den „Grundlagen" der Wissenschaft sein müsse! — ich
will auch sonst nicht urgiren, welche Bedingungen die Wissen-
schaft nach Herrn Ulrici zu erfüllen hat, ehe sie ist; ich will
auch nicht discutiren, was in jener „unwillkürlichen Voraus-
setzung", von welcher Herr Ulrici spricht, etwa empirisch sein
möchte etc.; — ich willjiur darauf hinweisen, dass ich die
„Allgemeinheit" der Erfahrungs begriffe in meiner Darlegung
gar nirgend von der Voraussetzung einer begrifflichen Gliederung
aller Einzelobjecte abhängig gemacht habe. Nach meiner Dar-
legung gilt eOB ursprünglich von allen 0, aber nur von allen
bekannten 0; und das, was man philosophisch die „Allge-
meinheit" der Begriffsgeltung nennt, wurde nicht durch irgend
In Sachen der wissenschaftlicheil Philosophie. 75
eine Voraussetzung gewonnen, sondern durch die Umwandlung
des Satzes: „Jedes bekannte 0^ welches durch wN repräsentirt
wird, hat die Merkmale von (ist) eOB" in den Satz: ,^Jedes
unbekannte 0, welches durch wN repräsentirt wird, ist eOB." —
War es Herrn Ulrici darum zu thun, mich in seiner „Replik'*
zu widerlegen y so musste er die Berechtigung dieser Umwand-
lung aufheben; aber mit nichten durfte er mich wieder für
einen Gedankengang in Verantwortung ziehen, den ich (wenn
nicht alle Selbstcontrole tauscht) gar nicht vertreten habe. Wie
gesagt, ich vermuthe^ dass nicht deswegen, weil meine Dar-
legung nichts Neues enthalten hat, sie überflüssig — d. h. zu
Herrn Ulrichs Einsichts-Vermehrung nichts yermögend war!
6. Der nächste Punkt, auf welchen Herr Ulrici replicirt
(S. 107—108), betrifft den von mir angegebenen Begriff des
Gesetzes. In seinem ersten Artikel behauptete Herr Ulrici, von
Gesetz könne erat die Rede aetn^ nachdem die Kraft oder
Thätigkeit gefunden ist, von welcher die begrifflich verbun-
denen Vorgänge ausgehen, und nachdem dargethan isty
dass diese Kraft in einer bestimmten sich gleich bleibenden
(weil in ihrer Natur liegenden) Weise wirke. In seinem
zweiten Artikel spricht Herr Uhrici es S. 108 aus, dass von
Gesetzen nur die Rede sein könne, „wenn wir annehmen
(was wir allerdings gemeinhin thun), dass allgemeine Kräfte
in der Natur walten und in bestimmter gleichbleibender Weise
wirken." — Ich denke, der geehrte Leser wird ohne weiteren
Commentar den Unterschied von Herrn Ulrici's Forderung in
seinem ersten und in seinem zweiten Artikel übersehen und
durchschauen! Meinerseits soll nur wieder einmal gelegentlich
gefragt werden: auf welcher Seite liegt das ^^DogmcOische^^ das
Herr Ulrici von uns so prononcirt behauptet?
Nicht minder interessant ist nun auch zu beobachten,
wie Herr Ulrici unmittelbar fortlahrt: „Aber eben so klar
ist, dass' diese Annahme nicht aus der Erfahrung stammt
(wie schon Hume dargethan), sondern nur aus dem Satze der
Causalität sich rechtfertigen lässt" (also der „Gausalitätssatz"
rechtfertigt die „Annahme" anthropomorphistischer „Kräfte" — ■
76 R« Ayenarias:
rechtfertigt auch die „Annahme^S dass diese anthropomorphisti*
sehen „Kräfte'^ „in bestimmter gleichbleibender Weise^^ wirken !)
^,Und dass dieser Satz kein Erfahrungssatz, sondern ein aprio-
rischer Factor unsers Denkens ist, wird vielleicht selbst Hr. A*
nicht bestreiten/^ Gewissl warum sollte ich sofort bestreiten,
wo ich zunächst nur Gelegenheit habe, dankbar zu sein?!
Dankbar dafür, endlich einmal zu erfahren, worin — wie es
scheint, nach der Ansicht eines Apriorikers selbst — wenigstens
der eine „apriorische Factor unsers Denkens^* besteht: in einem
naiven Anthropomorphismus und in einer naiven Verallge*
meinerung (bez. Constanziirung) !
Dass Herr Ulrici in diesem Zusammenhang Hume für
sich anführte, erscheint mir etwas bedenklich; doch übergehe
ich diesen Punkt, da er für mich nur ein secundäres Inter-
esse bietet.
7. Auch auf den beiden letzten Seiten (109 und 110)
scheint Herr Ulrici wieder im Verstehen meiner Ausführungen
nicht eben glücklich gewesen zu sein. Wie war es sonst mög-
lich, dass Herr Uhrici die von ihm S. 109 reproducirte Be-
merkung auf einen Punkt bezieht, auf den ich gar nicht ant-
wortete, und dagegen trotz aller ihm durch genaues Citiren
und typographische Anordnung gebotenen Erleichterungen nicht
den Punkt bemerkt, auf den meine Bemerkung Antwort giebt? 1
Ich antworte auf Citat 6, welches der Erfahrung die Möglichkeit
begrifflicher Erfassung und Gliederung bestritt, mit einer Be-
sprechung des begrifflichen Charakters der Erfahrung — ohne
damit einen andern früher entwickelten Punkt oder einen Punkt,
den ich noch gar nicht entwickelt habe, „stützen^* zu wollen;
und Herr Ulrici meint, ich woUe seinem „Vorwurf' der unter-
lassenen Begründung der Unterscheidung von wirklicher und
Schein-Erfahrung begegnen mit einer Darlegung, wie „die
(wirkliche?) Erfahrung zu Stande komme/' Warum ich aber
gerade auf die Frage nach der Unterscheidung der wirklichen
und Schein-Erfahrung in meinem Artikel nicht antwortete —
das mag der Leser aus diesem selbst ersehen (S. 576 f.); hier
genügt mir, Herrn Ulrici's kritisches Verhalten zu constatiren.
In Sachen der wksenBchafUichen Philosophie. 77
Trotzdem Herr Ulrici meine Bemerkung auf einen andern
Punkt bezog, konnte ihm wenigstens nicht entgehen, dass in
derselben von dem begrifflichen Charakter der Erfah-
rung die Rede sei; um nun aber diesen nicht zuzugeben, be-
streitet Herr Ulrici die Gültigkeit des Princips der häufigsten
Rdzung; Herr Ulrici hat nun zwar nicht (was ich ihm gern
glaube) die „Absicht**, sich mit mir „auf die Discussion wissen-
schaftlicher Probleme einzulassen^ (S. 110), * gewärtigt aber
dennoch von mir den ,3eweis** des genannten Principes, und
fügt hinzu, dass wenn der Satz, der als aus demselben Princip
erfolgend von mir (S. 567) angegeben war, auch „unbestreitbar
richtig** wäre, er doch nur von den Gesichtswahrnehmungen,
nicht von denjenigen der übrigen Sinne gelten könne •— und
dass, wenn er überall gelte, doch daraus noch nicht folge, dass
„unsere Erfahruügsbegrifie** für die wissenschaftliche Philosophie
selbst verwendbar — ^^wirkliche Allgemeinbegrüfe'^ wären.
Da Herr Ulrici auf eine Discussion sich nicht „einlassen'^
will, begnüge ich mich: ihn hinsichtlich der Steigerung der
Erregbarkeit der Nerven durch Wiederholung der Reizung, bez.
durch „Uebung" auf W. Wundt's „Grundzüge der physio-
logischen Psychologie** zu verweisen, in deren Entwickelungen
zu verschiedenen Malen das angezogene Princip fungirt, wenn
selbst auch nicht unter der Benennung, die ich angewendet habe;
betreffs des zweiten Punktes aber daran zu erinnern, dass die
peripherischen Sinnesnervengebiete für keine Empfindungs-
gattung aus absolut nur Einer Endfaser bestehen, und dass,
wenn es sich selbst so verhalten sollte, die Empfindungs-
qualität noch immer durch die Qualität desjenigen Reizes be-
stimmt werden würde, die am häufigsten zur Reizung zugelassen
wurde. Und hinsichtlich des dritten Punktes endlich begnüge ich
mich, zu constatiren, dass ein eitel Wort, wie Erfahrungsbegriffe
seien keine „ti^triZ^cAen** Allgemeinbegriffe die Widerlegung meiner
Darstellung der Allgemeinheit ebensowenig zu leisten vermag,
wie vorher die Unterschiebung eines fremden Gedankens es
konnte; vielmehr lässt diese letzte Wendung wieder — wie so oft
'^Q B. Avenariua; In Sachen der wissenschaftl, Philosophie.
schon! — vermutheii, dass Herr Ulrici bekämpft, ohne recht
verstanden zu haben, um was es sich handelt.
Der Schlusspassus yon Herrn Ulrici's Replik, welcher Passus
sich auf denjenigen Tbeil meines Artikels bezieht, der —
nachdem das eine Heft der Yierteljahrsschrift Herrn Professor
Dr. H, Ulrici bereits 27 Seiten gewidmet hatte — , allerdings
„aus Mangel an Raum'* zurückgestellt blieb, dieser Passus darf
also nach der nunmehr erfolgten Veröffentlichung der zweiten
Hälfte meiner Gegenbemerkungen als vorläufig erledigt gelten.^)
^) Im zweiten Artikel bitte ich einen lästigen Druckfehler berich-
tigen zu wollen: es ist S. 475, Z. 12 v.o. „nur*' statt „und** zu lesen«
Zürich. R, Avenarius.
Becensionen.
Erdmaxm, Benno. Kants Kriticismas in der ersten
und in der zweitenAuflage der Kritik der reinen
Vernunft Leipzig, L. Voss, 1878. (XI u. 247 S. gr, 8.)
Die vorliegende Arbeit ist eigentlich eine Einleitung für
die von dem Verfasser gleichzeitig und für den gleichen Ver-
lag besorgte neue Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft.
Wegen ihres ümfangs ist sie äusserlich davon getrennt worden.
In der Herausgabe ist der Verfasser, um das hier zu erwähnen,
denselben Prineipien gefolgt, wie in seiner Ausgabe der Prole-
gomena. Die Sauberkeit der Ausführang verdient alles Lob.
Auch diese Einleitung steht auf dem Boden derselben Auf-
fassung, wie die im vorigen Heft von mir besprochene Ein-
leitung zu den Frolegomenen. — um die Langmuth des ver-
ehrten Herausgebers gegen die Kantphilologie nicht auf eine
zu harte Probe zu stellen, beschränke ich mich auf eine ganz
kurze Anzeige des wesentlichen Inhalts.
Das erste Gapitel giebt eine Darstellung des Inhalts der
Kritik der reinen Vernunft vom Jahre 178t. Erdmann geht
alle Teile der Beihe nach durch und findet in allen gleicher-
maassen als „Hauptzweck^' des Werks die „Ghrenzbestimmung^
gegen den transcendenten Gebrauch der Vernunft; der Stand-
punkt des Werkes sei demnach der empiristische und Kaufs
Vorgänger und nächster Verwandter Hume.
' Gapp. H — IV behandeln die Zeit, welche zwischen den
beiden Auflagen liegt. 11 resumirt die Entstehung der Prole-
gomena; HI giebt eine sehr dankenswerthe , aus dem Staub
der alten Journale gezogene actenmässige Darstellung der
literarischen Bewegung, welche bis 1787 durch das Werk
hervorgerufen wurde ; IV bezeichnet die Bückwirkungen dieser
Bewegung auf den Kantischen Gedankenkreis, wie sie in
80 Becensionen.
Schriften nnd Pl&nen desselben sich ausdrückten. Das letzte
Gapitel endlich handelt von der Fortbildung der Lehre in der
zweiten Auflage. Die Veränderungen treffen, nach Erdmann,
nicht den kritischen Hauptzweck, die eigentliche Aufgabe des
Werkes bleibt nach wie vor, zu beweisen, dass es keine trans-
cendente Erkenntniss der Dinge aus Vernunft geben könne.
Aber das Verhältniss der untergeordneten Seiten zu dem Haupt-
zweck ist durch die Eücksicht auf die Wirkung des Werks
verschoben: auf Kosten des Hauptzwecks wird die positive
und die realistische Seite hervorgekehrt. Die positive Bedeu-
tung «der Kritik ist, ausser der Platzmachung für den Glauben,
die Grundlegung fiir eine Metaphysik als Wissenschaft. Früher
war diese „selbstverständliche Gonsequenz^^ jetzt wird sie zu
einem „speciflschen Merkmal'' des Systems. Hieraus ist dann
jenes Missverständniss der Kritik; welches in ihr eine rationa-
listische Erkenntnisstheorie findet, entstanden. Aehnlich ist es
der realistischen Seite ergangen. Das Dasein von af&cirenden
Dingen war in der I.Auflage selbstverständliche Voraussetzung
des Systems; jetzt ist es ebenfalls zum speciflschen Merkmal
erhoben und wird sogar zum Gegenstand besonderer Beweise
gemacht. —
Dies der Inhalt der neuen Arbeit Erdmann's. Die Ver-
schiedenheit meiner Auffassung des Inhalts jenes vielerklärten
Buchs habe ich in dem erwähnten Artikel des vorigen Hefts
hinlänglich gekennzeichnet. Auch diesen neuen Ausführungen
Erdmann's gegenüber bin ich hartnäckig geni^, an dem „Miss-
verständniss^ festzuhalten : Kant's Erkenntnisstheorie sei ratio^
nalistisch; freilich mit einer besonderen Modiflcation durch den
hinzutretenden Phänomenalismus. — Hat denn Kant überhaupt
eine positive Theorie des Erkennens? — Nun, darüber sind wir
doch einig. — Diese positive Theorie, kann sie bestehen in
einer „Grenzbestimmung^^, also in einem negativen Satz: eine
gewisse Art von Erkenntniss (z. B. die Leibnizische Meta*
physik) ist nicht möglich. — Das ist nicht möglich; sondern
eine Theorie kann nur ausgedrückt werden in einem affirma-
tiven Satz: das Erkennen ist dies oder jenes, kommt so oder
so zu Stande. Und diese Affirmation Kant's lautet: Erkennen
jLommt dadurch zu Stande , dass der Intellect den formlosen
Stoff der Affectionen durch die Sinne (Empfindungen) zu An-
schauungen und Urteilen macht; oder, Eaum, Zeit und Gesetz-
mässigkeit wird durch den Geist in die Natur hineingetragen
und eben dadurch wird die Natur apriori erkennbar. — So
steht es in der Aesthetik und in der Analytik (ohne die beiden
Recenaionen. 81
Anhänge: n^®'^ ^^^ Grunde der Unterscheidung ete.*^ und
,,Ton der Amphibolie*')» ^Q^ Erdmann sagt dasselbe: Aufgabe
der Dedttction ist der Nachweis der objektiven Giltigkeit der
Kategorien (S. 29). — Nun, eine solche Theorie nenne ich
eine rationalistische. — Ob nun diese Theorie für Kant das
wichtigste Stück an seiner Kritik der reinen Vernunft gewesen
sei oder nicht^ ist eine weitere^ aber ftlr die Classificirung der
Theorie nebensächliche Frage. — Dagegen ist es für die philo-
logische Erklärung des systematischen Gedankenganges aller-
dings wesentlich» diesen Kern einer positiven Theorie, wie viel
oder wie wenig er seinem Urheber werth sein mochte^ formell
im Mittelpunkt stehen zu lassen. Ich meine, es ist wohl
möglich; die Dialektik als Anhang zur Aesthetik und Analytik
in ihren positiven Teilen aufzufassen, auch wenn der Anhang
wichtiger ist, als der Stützpunkt; dagegen ist es formell nicht
möglich, die positive Erkenntnisstheorie als Anhang, oder, wie
Erdmann sagt, als selbstverständliche Consequenz des ^,kritischen
Hauptzwecks'' zu verstehen. An die „Grenzbestimmung^' kann
sich nicht die Gewinnung eines Feldes als Consequenz knüpfen,
wohl aber umgekehrt.
Doch der Leser mag selbst zusehen , ^ auf welcher Seite
das Eichtige liegt. Beide Standpunkte sind, wie mir scheint,
mit hinlänglicher Klarheit dargelegt. — Bloss eine persönliche
Bemerkung sei mir noch gestattet. Erdmann meint, das „weit-
verbreitete Missverständniss^' knüpfe sich besonders an den
„scheinbaren Rationalismus'' der Vorrede zur 2. Aufl. Mir ist
es umgekehrt ergangen. Die zweite Auflage, in welcher ich
Kaut's Kritik zuerst und wiederholt gelesen habe, blieb mir
ein ganz unverständliches, schlechterdings nicht unter die
Einheit eines Gedankens zu bringendes Buch, eben deshalb»
weil darin der Bationalismus durch die Einmengung der Grenz-
bestimmung in die transcendentale Deduktion verdeckt wird.
Licht brachte mir erst das Studium der Kantischen Schriften
nach der zeitlichen Beihenfolge, besonders die zusammen-
hängende Leetüre der Dissertation von 1770 und der Kritik
von 1781. Von hier aus stellte sich mir dann auch die ver-
änderte Bearbeitung als verständlich dar.
Hoffentlich bringen Erdmann's Arbeiten durch die klare
Formulirung und Ausfuhrung einer möglichen Ansicht die
seeschlangenbafte Frage nach dem eigentlichen Wesen der
Kantischen Erkenntnisstheorie ihrer Entscheidung ein gut
Stück näher. Wenn mit der Entscheidung zugleich der Trieb
zur Auslegung der erkenntnisstheoretischen Bücher Kant's sich
ViarteUahratchrift t wiasenscbafU. Philosophie. IIL 1. 6
82 Recensionen.
yerminderte y so wäre dies wohl nicht als ein ungünstiger
Erfolg anzusehen. Nach meiner Ansicht besteht Eant's werth-
vollste Leistung durchaus nicht in der Hervorbringung jenes
Ansatzes zu einer rationalistischen £rkenntnisstheorie. Und
andererseits bedarf unsere Zeit kaum der Empfehlung der
metaphysischen Enthaltsamkeit durch Eant's grossen Namen.
Wir sind wohl viel weniger in Gefahr, die Grenze unseres
Wissens durch transcendente Speculation zu überschreiten, als
in verzetteltem Kleinbetrieb der Wisseuschaft Metaphysik und
Philosophie und Wissenschaft mit einander zu verlieren.
Berlin. Fr. Faulsen.
La.a43, Ernst. Kant's Analogien der Erfahrung.
Eine kritische Studie über die Grundlagen der theoretischen
Phüosophie. Berhn 1876. Vm, 363 S. 8.
Wenn es die Hauptaufgabe in Kantus Kritik der reinen
Vernunft ist, darzulegen, wie Erfahrung möglich sei, so werden
die Analogien der Erfahrung, d. h. die Gesetze, unter denen
jede Erfahrung 9 die überhaupt gemacht werden kann, wir
können auch sagen, die ganze Natur, steht, grosse Bedeutung
haben, jedenfalls wichtiger sein als die Sätze, welche für die
Anschauung, als die welche für die Wahrnehmung als reine
Grundsätze von Kant hingestellt werden, ganz abgesehen von
den Postulaten, die nur der Vollständigkeit der Vierzahl wegen
von Kant hinzugefügt zu sein scheinen. Es ist deshalb ein
glücklicher Griff von Laas, gerade diese Gesetze, die noch
nirgends eingehend behandelt sind, einer genaueren Prüfung
zu unterwerfen, ohne dass ich damit zugleich sagen wollte,
die Analogien bildeten geradezu das Centrum für die ganze
Kant'sche Erkenntnisslehre.
Ich will nicht in Abrede stellen, dass der Abschnitt von
diesen Gesetzen die reinen Verstandesbegriffe, ihre Beduction
und ihren Schematismus voraussetzt, dass dieser Schematismus
weiter zurückführt in die Erörterungen über die Zeit in der
transcendentalen Aesthetik, dass wiederum die Zeit nicht
bebandelt werden kann, ohne den parallel stehenden Eaum
mit herbeizuziehen. Es lässt sich nicht bestreiten, dass die
erste Analogie, die sich auf die Substanz als das Beharrliche
in dem Wechsel der Erscheinungen bezieht, schon hindeutet
auf die Faralogismen der Psychologie, und dass die zweite und
dritte Analogie, welche alle Veränderungen nach dem Gesetze
von Ursache und Wirkung vor sich gehen und alle Substanzen,
die im Eaum wahrgenommen werden können, in durchgängiger
Beceiwionen« 83
Wechselwirkung Btehen lassen, in die metaphysischen Anfangs-
gründe der Naturwissenschaften hineinführen, und ihnen so
die Teleologie, die Freiheitslehre, überhaupt die ganze Meta-
physik — man denke nur an die kosmologischen Antinomien —
nahe liegen. Aber alles dies ist auch der Fall, wenn wir als
den Mittelpunkt betrachten wollten die Kategorienlehre mit
den Deductionen^ welche ja in neuester Zeit wieder mehrfach
die Aufmerksamkeit und den Scharfsinn der Kantforscher in
Anspruch nimmt. Wir würden von hier aus gerade so gut
nach der transcendentalen Aesthetik wie nach der Metaphysik
gelangen. Schliesslich kommt es wohl darauf hinaus, dass
weder die Lehre von den Formen der Sinnlichkeit, noch die
von den reinen Yerdtandesbegriffen , noch die der davon ab-
geleiteten Grundsätze den eigentlichen Mittelpunkt der Kant'-
schen Lehre bilden — es ist der eine Theil ohne die anderen
nicht zu denken — , sondern die Hauptsache und hiermit das
Centrum der Transcendentalphilosophie ist das Apriori über-
haupt, mit dem zugleich die Allgemein giltigkeit und die Wissen-
schaft gesetzt ist. Das ist die eigentlich copemikanische That
Kant'sy nach der sich alles Andere richten muss.
Kann ich auch somit die Gentralstellung der Analogien
dem Verfasser nicht zugeben, so ist doch damit der Werth
des Buches in keiner Weise geschmälert. Es kommt auf diese
Stellungs- oder Bangfrage gar nichts an; genug, dass die
Analogien yon grosser Bedeutung sind und einer genaueren
Beachtung und Beurtheilung jedenfalls bedurften, und Laas hat
vollständige Berechtigung, von diesem selbstgewählten Haupt-
quartier aus nach rechts und links, nach rückwärts und vor-
wärts nicht blos Ausblicke zu thun, sondern genauer recog-
noscirende Ausflüge zu unternehmen.
Das Werk nennt sich eine „kritische Studie über die
Grundlagen der theoretischen Philosophie", und demnach soll,
so ausführlich auch die Analogien der Erfahrung darin behan-
delt werden, doch deren Erörterung und Besprechung, sowie
die ganze Kritik der Kant'schen Philosophie am letzten Ende
nur dazu dienen, eigene erkenntnisstheorelische und metaphy-
sische Ansichten vorzubereiten. Der eigene Standpunkt des
Verfassers ist demnach in dem Buche die Hauptsache. Freilich
tritt dieser, wie ich hier sogleich bemerken will, häuflg nur
unbestimmt und verschleiert hervor. Es sind die Ansichten,
auf die es hinausläuft, von dem Verfasser gleichsam nur ob-
jectiv in ihrer einseitigen Berechtigung entwickelt. Dafür
und dawider wird viel gesprochen, in den Anmerkungen wird
6*
84 Recenaionen.
eine grosse Gelehrsamkeit angehäuft, aber man hat den Ein*
druck, als ob sich Laas die letzten Möglichkeiten, die übrig
zu bleiben scheinen, doch fem von seinem eigenen Ich halten
wollte, als ob ihm selbst der Glaube fehlte, wiewohl eine
gewisse Wärme in der Behandlung der einzelnen Fragen oft
genug zu spüren ist. Das Pectus bricht häufig durch. Es
erfolgt selten entschiedene Anerkennung, eine Vorsicht, die
freilich eine befriedigende Wirkung auf den Suchenden nicht
hervorbringt, aber von der philosophischen Besonnenheit des
Verfassers und der Erwägung aller zu beachtenden Punkte das
deutlichste Zeugniss ablegt. Er will nicht in die Luft bauen,
was durch Andere leicht wieder eingerissen werden kann,
sondern in der sorgfältigsten Weise den Grund erforschen, auf
dem gebaut werden soll, und vielleicht einige Steine zum Bau
selbst herzutragen, selbst dann noch zweifelnd, ob sie zu
einem Gebäude dienen könnten, in dem sich Alle heimisch
fühlen möchten. — Doch geben wir auf den Inhalt des Buches
selbst über!
Nachdem Laas in der Einleitung die Kantstudien, die in
der Gegenwart immer mehr an Umfang zu gewinnen scheinen,
die Bedeutung der Erkenntnisstheorie für die Philosophie und
die der Kritik der reinen Vernunft für die Erkenn tnisstheorie
kurz berührt, geht er im ersten Theil seines Werkes auf
die Bedeutung, die Quellen und den Werth der Analogien ein
und äussert allgemeine Bedenken gegen dieselben. Im zweiten
Theil behandelt er dann die erste Analogie, im dritten die
zweite und dritte. Der Schluss, aus zwei längeren Paragraphen
bestehend, rechnet zwischen Empirismus und Apriorismus ab,
bespricht die Frage, ob Metaphysik überhaupt möglich sei,
giebt eine Ableitung der hauptsächlichsten Typen des Eealis-
mus und Ideal-Realismus und zieht ein Endergebniss.
Fragen wir nun hier schon, bevor wir näher auf diesen
kurz angegebenen Inhalt eingehen: Wie stellt sich Laas zu
Kant? Wie fasst er seine Aufgabe Kant gegenüber? Huldigt
er der Transcendentalphilosophie in strenger Observanz, wie
es solche treue Anhänger ja neuerdings auch giebt, oder steht
er wenigstens im Ganzen auf dem Boden des Kant'schen
Kriticismus, ohne doch dess(m einzelne Sätze und ihre Beweis-
führungen anzunehmen? Es ist keins von beiden der Fall.
Lässt sich auch nicht läugnen, dass der Kant'sche Einfluss auf
Laas sehr bemerklich ist, wie ja bestimmt behauptet werden
kann, dass heutigen Tages Niemand im Stande ist; mit irgend
welchem Erfolg zu philosophiren , ohne durch das läuternde
Becensionen. 8&
Feuer des Kriticismas gegangen zu sein, so ist der Standpunkt
Ton Laas Kant gegenüber doch als ein entschieden oppositio-
neller zu bezeichnen, bei aller Pietät, bei aller Anerkennung,
bei aller Schonung^ die dem grossen Manne zu Theil wird.
Was die Anerkennung betrifft, so will ich nur das Eine erwähnen,
dass sich nach Laas Kant mit Erfolg Mühe giebt, „in Beziehung
auf die zweite und dritte Analogie Kant's Principien mit fast
allen subtilsten und geklärtesten Vorstellungen der Gegenwart
in Einklang, mindestens in engsten Zusammenhang zu setzen '^^
Kur bisweilen tritt Laas zu scharf gegen Kant hervor und
urtheilt zu hart über ihn, z. B. wenn er ihm S. 270 Leicht-
sinn oder Uebertreibung oder böse Absicht vorwirft, oder wenn
er S. 204 von widernatürlichen Gonvulsionen redet , die wir
in den Beweisen für die Analogien der Erfahrung kennen
lernten (vgl. auch S. 175).
Im Ganzen können sogar die Kantianer über das vor-
liegende Werk Freude haben, da die betreffenden Partien
Kants mit einer Sorgfalt dargelegt und einer Genauigkeit
interpretirt worden, die von dem hingehendsten und getreuesten
Anhänger des Meisters kaum übertroffen werden dürften. Das
genauere Kantstudium und Kantverständniss hat durch das-
selbe eine sichtliche Förderung erfahren, obgleich es nach dem
vorher schon über die ganze Tendenz des Buches Bemerkten
falsch wäre, dasselbe in das Gebiet der neuerdings beliebten
9,Kantphilologie'' zu verweisen. Es will mehr und thut auch
mehr^ als Philologie treiben.
Um hier nur einen allgemeinen Punkt, der für das ganze
Ycrständniss Kantus von Werth ist, zu erwähnen, so weist
Laas sogleich S. 20 ff. irrthümliche Ansichten in Betreff des
Kant'schen Apriori zurück, irrthümliche Ansichten, die er in
falschen Auffassungen des Causalitätsaxioms aufzeigt. Da die
Analogien als Grundsätze von den Gegenständen nicht con-
stitutivy sondern nur regulativ gelten sollen, so fasst man das
öfter, auf die zweite Analogie angewandt, in der Art, dass es
ein ^^unabweisbares Bedürfniss des Verstandes sei, ja
ein nothwendiger Trieb jeder animalischen Existenz, für jede
Teränderung eine gesetzmässige Ursache anzunehmen und nach
dieser Maxime eine solche zu suchen", so dass man damit
nicht der Katur geradezu ein Gesetz vorschreibt. „Es betrifft
vielmehr nur unsere Reflexion über die Natur, es ist eine
Forschungsmaxime y ein Leitfaden'', vermöge deren man nur
den empirischen Gesetzen nachspürt. Laas stellt solchen
Modificationen der Kant'schen Analogie, die sich bei manchem
86 ReceDsionen.
findeDy der die Eant'sche Erkenntnisslehre zu bekennen glaubt^
das Gesetz der Specificatdon an die Seite, das sich als Hypo-
these von der Begreiflichkeit der Natur bezeichnen lasse, und
hebt dagegen mit Recht hervor, dass die Analogien sowie alle
synthetischen Sätze a priori bei Kant objectiv gültige, allge-
meine Naturgesetze sind^ Gesetze, welche der Verstand der
Natur vorschreibt, die also tiberall zu finden sein müssen;
weil sie die Natur oder die Erfahrung überhaupt erst möglieb
machen^ ohne dass dadurch ihr* Charakter als der subjectiver
Formen aufgehoben würde. Freilich , muss man zur Erklärung
solcher erwähnten verschobenen Auffassungen bemerken, sind
dieselben durch Kant selbst nahe gelegt, wenn er die Analogie
eine Eegel nennt, das vierte Glied einer Proportion in der
Erfahrung zu suchen, und ein Merkmal, es in derselben auf-
zufinden.
Die ADgriffsweise des Verfassers gegen Kant ist nun so
eiDgerichtet, dass in diesem genau durchforschten Centrum,
welches nach ihm die Analogien bilden, der Gegner getroffen
werden soll, und hier vernichtet die Waffen überhaupt strecken
müsste. — Die allgemeinen Bedenken zunächst richten sich
gegen die metaphysische Deduction der Analogien, sowie gegen
di^ Annahme Kant's, dass er diese reinen Sätze der Zahl nach
vollständig aufgefunden habe.
Was die metaphysische Deduction anlangt, so weist Laas
bei der ersten Analogie von der Beharrlichkeit der Substanz
bei allem Wechsel der Erscheinung zuerst mit Recht darauf
hin, dass dieser Satz nach Kant selbst eine reale Relation gar
nicht enthalte, da Kant zugiebt, dass in ihm eine reale Son-
derung nicht vorliege, sondern nur eine logische Abstraction.
Das kategorische ürtheil, aus dem die Analogie abgeleitet wird,
enthält aber ein Verhältniss, und so müsse man gegen die
Deduction sehr misstrauisch sein. Sodann mache gegen diese
Deduction unter Anderem noch bedenklich der zweideutige
Charakter der Copula im kategorischen ürtheil, da durch die-
selbe ja ebenso häufig Subsumtion als Inhärenz ausgedrückt
werde, ein zweifacher Gebrauch, wodurch ganz verschiedene
Verhältnisse zu Tage kommen.
Die Unmöglichkeit, die Kategorie der Wechselwirkung aus
dem disjunctiven Ürtheil abzuleiten, hat bekanntlich Schopen-
hauer treffend nachgewiesen, und so kann Laas über die dritte
Analogie in .dieser Beziehung kurz weggehen. Er meint nun,
nachdem die Ableitung der ersten und dritten Analogie von
den betreffenden Urtheilen als unglücklich bewiesen wäre.
Rocenrionen. 87
müsse man sich fragen, ob denn das hypothetische XTrtheil das
natürliche logische Analogen zu dem Gausalitätsgesetze , also
za der zweiten Analogie sei, und es lässt sich nicht läugneo,
dassy wenn wir nach einem solchen suchen, sich viel natür-
licher dazu hergiebt das Princip, dass jeder Satz seinen Grund
haben müsse, die ^^ontologische Seite'' des Leibniz'schen
principium rationis sufficientis, dessen ontologische Seite
nichts Anderes ist als das Axiom, dass jedes Ding seinen Grund
habe. Laas beruft sich hierfür auf Kant selbst, der diese
beiden Seiten des principium rationis sufficientis in Analogie
stelle (in der Schrift: Ueber eine Entdeckung, nach der alle
neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich
gemacht werden soll).
Auf diese Art sind die Analogien, diese Naturgesetze,
schon aus dem Zusammenhang des ganzen Systems gerissen,
und wenn sie auch noch Geltung haben sollen, yielieicht sogar
als transcen dentale Principien, so würde doch der Bau, auf
dessen Festigkeit Kant so grosses Vertrauen setzte, in einem
Theile auseinandergerissen, und auch die übrigen Theile würden
dadurch in ihrer Fügung erschüttert sein.
Eine besonders nahe Beziehung haben die Analogien zu
der Zeit, indem sie nichts weiter sein sollen, als die Grund-
sätze, das Dasein der Erscheinungen in der Zeit nach allen
drei Modis, Beharrlichkeit, Folge und Zugleiohsein za be-
stimmen , oder ein jedes in eine bestimmte Zeitstelle einzu-
ordnen. Hiergegen erhebt Laas zwei gewichtige Bedenken, die
mir als solche durchaus gerechtfertigt erscheinen. Er macht
erstens aufmerksam auf die parallele Stellung, welche der
Baum bei Kant zur Zeit einnimmt. Soll denn, fragt er nun,
auf parallele Weise unsere Vorstellung von den objectiven
Stellungen und Bewegungen der Dinge im Baume entstehen?
Hier giebt er die bestimmte Antwort, dass nicht etwa der
reine Verstand, sondern dass der Verstand auf Grund von
unmittelbaren Leibesgefühlen und nach den vielfachsten Ee-
productions- , Distinotions- und Associationsthätigkeiten zu
Raumvorstellungen und Localisationen gelangt. Es ist natür-
lich, dass nach einer derartigen Beantwortung in Bezug auf
den Raum auch nun die Frage gestellt wird, ob nicht der
Process, der es uns ermöglicht, aus dem wechselnden Rhythmus
und der Discontinuität singulärer Wahrnehmungs- und Vor-
stellungsreihen eine objeotive, allgemeiDgiltige, gleichmässig
fliessende Zeit, in der jedes seine feste Stelle bekommt, heraus
zu construiren, ein ganz ähnlicher ist. Und die Parallele,
-88 RecensioBen.
welche stets zwischen Baum und Zeit gezQi^en wird, müsste
für die Bejahung dieser Frage sprechen.
Das zweite Bedenken wird aus der Erwägung hergeholt,
dass die Materie nicht absolut indijfferent gegen die Form sein
kann, und dass wir in dem Geschäft, die Stelle eines be-
stimmten Ereignisses in der absoluten Zeit zu bestimmen, von
einer Nothwendigkeit uns mit abhängig fühlen, die ausserhalb
der Verfügungen unseres Verstandes liegt, die mit psychischem
vielmehr als mit logischem Zwange wirkt.
Eant will die vollständige Tafel der reinen Grundsätze
des Verstandes ebenso wie die der Begriffe geben. Auch
nach dieser Seite der Vollständigkeit hin unternimmt Laas
einen Angriff, indem nach ihm ein oder sogar mehrere Grund-
sätze hinzukommen müssten. Das principium identitatis et con-
tradictionis ist zunächst ein solches , das nicht nur logische,
sondern auch ontologische Bedeutung haben soll, wie Kant
selbst sagt, dass es gilt von Allem überhaupt, „was wir uns
denken mögen, es mag ein sinnlicher Gegenstand sein, und
ihm eine mögliche Anschauung zukommen, oder nicht, weil es
vom Denken überhaupt ohne Bücksicht auf ein Object gilt^.
Diese Lehre soll nach Laas für die Eant'sche Philosophie von
vitaler Bedeutung sein^ und Kant hätte ^ wie Laas will; auch
dieses Princip unter die Analogien der Erfahrung setzen und
für dasselbe als einen Grundsatz einen transcen dentalen Beweis
suchen müssen. Steht aber dies principium in einer Beihe
mit den Analogien, so ist das ganze System der Grundsätze
als ein unvollständiges gekennzeichnet, und auch die Ableitung
der übrigen Analogien von den logischen Formen ist eine
höchst verdächtige. Hier ist es mir nun sehr zweifelhaft, ob
dieses principium identitatis et contradictionis nach Kant
wirklich als Existentialsatz unter die Analogien zu stellen sei.
Der Satz wird von Kant als transcendentales Princip nicht
erwähnt, das über die Objecto und ihre Möglichkeit etwas a
priori bestimmte, wobei doch entschieden Bücksicht auf ein
Object genommen wird, sondern gilt eben ohne alle Bücksicht
auf ein Object. Weil es sich erstreckt auf Alles, was wir
unR überhaupt denken mögen, weil bei Verletzung desselben
nicht einmal ein Gedanke bestehen kann, bezieht es sich auch '
auf unsinnliche Dinge, die nicht in der Anschauung gegeben
sind, soweit man diese denkt ^ und unterscheidet sich dadurch
wesentlich von dem principium rationis sufficientis in dessen
transcendentaler Seite, mit dem es also auch nicht auf gleiche
Stufe gestellt werden kann. Laas sieht diesen Unterschied
Kecensionen. 89
natärHoh recht wohl, indem er sagt: Anstatt durch einen
transcendentalen Beweis habe Kant durchgängige empirische
Oiltigkeit dieses Princips durch das dictum de omni begründet :
Da der Satz des Widerspruchs von Allem gelte^ müsse er auch
Tom empirischen Sein gelten. Aber er übersieht dabei nach
meiner Ansicht, dass das Princip eben auch nur das Benken
betrifft und sich weder auf die Erscheinungswelt noch auf die
Yerstandeswelt anders bezieht, als insofern in einem Urtheil
über sie dasselbe nicht zugleich bejaht und verneint werden
darf (vgl. darüber Liebmann in seiner Besprechung des Laas*-
sehen Werkes, Ztschr. für Philos. und philos. Krit., Bd. 70,
1877). In ähnlicher Weise macht Laas Kant Vorwürfe über
seine Behandlung eines anderen Satzes der Wolfi'schen Meta-
physik, nämlich des Satzes: Essentiae rerum sunt immutabiles,
der sich sehr wohl zu einer Analogie der Erfahrung eigene,
aber von Kant als „armer identischer Satz" in die Logik ver-
wiesen werde. Gerade an ihn lassen sich eine Menge tief-
greifender Fragen knüpfen, die von Kant nicht beantwortet
eind. Z. B. stellt Laas die Fragen : Qiebt es in den Dingen
nichts Wesentliches, etwa in den Organismen? Keine forma
substantialis^ keine Schopenhauer'sche Idee? Was ist es,
das sie nicht zu eigentlichen Begriffen, sondern zu einheit-
lichen Dingen macht? Etwa die Form, und was ist denn
diese Form? Er beklagt sich darüber, dass auf solcherlei
Fragen die Antwort fehle. Freilich wäre man berechtigt^ Laas
gegenüber dieselben Klagen zu erheben.
I^ach diesen allgemeinen Bedenken, welche die ganze
Lehre der Analogien treffen, geht der Verfasser nun auf die
einzelnen Analogien ein, indem er deren Formulirung und Be-
weise einer genaueren Besprechung und Beurtheilung unter-
zieht. Was die Fassung der ersten Analogie anlangt, so
schwankt Kant in derselben, und Laas stellt mit philologischer
Genauigkeit die verschiedenen Formeln nebeneinander und
kommt zu dem Resultat, dass die genaueste, Kaufs Ansicht
am besten wiedergebende sein würde : „In allen Erscheinungen
im Felde der Erfahrung ist etwas Beharrliches. Wir nennen
es Substanz." Der Beweis für diese Thesis tun, da diese
ein synthetischer Satz ist, kann nicht aus Begriffen geführt
werden, sondern nur dadurch, dass dargethan wird, wie die
Beharrlichkeit eine nothwendige Bedingung ist, unter welcher
allein Erscheinungen als Dinge und Gegenstände in einer
möglichen Erfahrung bestimmbar sind. Freilich giebt Kant
nicht nur einen Beweis, sondern eigentlich drei, die vielfach
90 Recensionen.
unter einander verflochten sind, ao daes Laas Becht hat/voui
^eweisgestrüpp'' zu reden, das er in sehr Terdienstlicher
Weise auseinander gewirrt hat.
Der erste Beweis, auf den ich hier etwas näher eingehen-
will; lautet nach Laas etwafolgendermaassen : Alle Erscheinungen*
sind in der Zeit. Sie ist die heharrliche Form der inneren
Anschauung. Das Zugleichsein und die Folge kann in ihr
allein als dem Substrat vorgestellt werden. Sie bleibt und
wechselt nicht, kann aber doch für sich nicht wahrgenommen
werden. Deshalb muss etwas Beharrliches in den Erscheinungen
anzutreffen sein^ an dem aller Wechsel und alles Zugleichsein
durch das Verhältniss der Erscheinungen zu demselben wahr-
genommen werden kann. Es ist dies die Substanz. — Laa&
fragt nun zunächst mit Becht, was eigentlich das oonstitutive
Merkmal der Substanz sei, da die Beharrlichkeit derselben als
consecutives angesehen werden müsse. Nimmt man aber ein
solches Starres, etwa als Materie an^ was würde da-
durch für unsere Zeitbestimmungen gewonnen? Gar nichts;
denn um die Zeit Verhältnisse anzugeben, z. B. wie lange
etwas dauert, bedarf man nicht eines beharrlichen Seins, son*
dern einer Veränderung, die für alle controlierbar und
für alle zugänglich ist, einer Bewegung, welche gleich-
massig zu sein scheint und markierte Absätze zeigt. Die
Bewegung ist auch das Symbol der Zeit, wechselt^ fliesst
und bleibt nicht, wie Kant meint, und das, was Kant von der
Zeit als beharrliche Form verlangte, könnte sie nicht einmal
gewähren. Müsste übrigens für die Zeit ein Beharrliches als
Symbol gesucht werden, so würde sich .viel eher als die Materie
das sinnlich lebendige Ich darbieten. Wenn ich mich mit
den ersten Einwänden ganz einverstanden erkläre, so muss
ich doch mein Bedenken aussprechen in Betreff der Annahme
des Ich als des Constanten. Schon deshalb, weil wir uns einen
Anfang und ein Ende des Ich recht gut vorstellen können^
während dies bei der Materie viel schwieriger ist, würde sich
die letztere viel besser dazu eignen.
Der zweite Beweis geht davon aus^ dass unsere Appre-
hension des Mannigfaltigen der Erscheinung jederzeit successiv
sei, und dass wir demnach nie bestimmen könnten, ob dieses
Mannigfaltige als Gegenstand der Erfahrung zugleich sei oder
nach einander folge, wenn nicht etwas zu Grande liege, was
jederzeit sei, also etwas Beharrliches. Diesem Beweise gegen-
über wird es Laas zunächst leicht geltend zu machen, dass
unsere Wahrnehmung nicht in allen ihren Theilen successiv
Recensionen. 91
sei. Sodann führt er in gelungener Weise aus, dass, wenn
sogar unsere Wahrnehmung durchaus wechselnd wäre, einer-
seits man doch auch ohne den ^transcendentalen Ansatz eines
Beharrlichen durch blos psychischen Zwang und an der Hand
von verständigen Cooperationen und Distinctionen zu einer
Klarheit darüber gelangen würde ^, ob das Mannigfaltige zu-
gleich sei oder nachfolge, und andererseits das Beharrliche,
das zu Gbrunde liegen sollte, doch nicht ausreichen würde, das
Zugleichsein und die Aufeinanderfolge von einander zu unter-
scheiden, sondern dass dazu sogar von Kant realistische und
empiristische Elemente herangezogen werden. Bei der Folge
der Saccession ist nämlich die Folge der Wahrnehmungen in
der Apprehension bestimmt, und die Apprehension ist an diese
Folge gebunden, während objective Gleichgiltigkeit angesetzt
wird , wenn die Ordnung in der Synthesis der Apprehension
des Mannigfaltigen gleichgiltig ist, d. h. also A auf B oder
auch B auf A folgen kann. Ich stimme Laas durchaus bei,
wenn er sagt, dass hier bei Kant eine Ordnung ausser dem
Subject dazusein scheine, und dass es das Ansehen habe, als
ob nur gezeigt werden solle, wie das Subject, das diese Ord-
nung an sich natürlich nicht zu schauen vermag, sondern nur
die Wirkung erfahrt, doch hinter dieselben kommen könne. —
Der dritte Beweis trifft, wie Laas bemerkt, weniger die eigent-
liche Thesis, als einen Satz, der sich unmittelbar aus ihr
ergiebt, nämlich den, dass es kein Entstehen und keinen
Untergang von Substanzen geben könne. Obgleich der Grund-
satz durch denselben seine Beleuchtung erhält, will ich doch
über ihn hinweggehen, nachdem das Verfahren des Verfassers
im Allgemeinen durch das Vorhergehende klar gemacht und
seine Gründlichkeit und Schärfe in der Behandlung der Be-
weise gezeigt ist.
Ebenso will ich nur kurz berühren die Beweise für die
zweite und dritte Analogie, indem ich im Voraus hier be-
merke, dass Laas mit Recht den Satz von der Wechsel-
wirkung mit unter die Causalität stellt und als eine besondere
Manifestation des Satzes vom Grunde betrachtet. Es ist ja
schliesslich dasselbe Verhältniss, wenn ich mir zeitlich auf
einander Folgendes in der Belation von Ursache und Wirkung
denke oder räumlich Coexistentes , also gleichzeitig Existiren-
des als auf einander wirkend vorstelle. Wenn nun auch von
Laas nach Schopenhauer anerkannt wird, wie man dies wohl
allgemein zugiebt, dass die Ableitung der Wechselwirkung aus
dem disjunctiven Urtheil eine durchaus verfehlte, weil gewalt-
02 Reicensioneii.
same ist, so wird dem Grandsatz als einer Modalität des
Satses vom Grande doch sein Becht eingeräumt.
In dem Beweis für die zweite Analogie geht Kant Ton
dem Satze, dass die Apprehension eines Mannigfaltigen stets
sucoessiv sei» wieder aus, und zwar muss man nach ihm, damit
die Erscheinungen als bestimmt erkannt werden, das Yerhält-
niss der beiden Zustände so denken, dass dadurch als noth-
wendig angegeben wird, welcher derselben vorher, welcher
nachher zu setzen sei. Dieser Begriff, der Nothwendigkeit mit
sich führt, wird aber nur ein reiner Yerstandesbegriff sein^
und das ist hier eben das Yerfaältniss zwischen Ursache und
Wirkung, ohne welches Erfahrung nicht möglich ist. Die
Instanzen, welche Laas gegen diesen Beweis vorträgt ^ sind
schon vorher erwähnt: Einmal wird bestritten^ dass die
Apprehension des Mannigfaltigen stets sucoessiv sein müsse,
sodann dass das Material, welchem die objective Zeitordnung
gleichsam übergezogen würde, ein gegen dieselbe durchaus
indifferentes sei. Für die dritte Analogie werden von Laas
sogar vier Eant'sohe Beweise angeführt, von denen der erste
wieder von der successiven Apprehension alles Mannigfaltigen
ausgeht. Doch lassen wir diese vier, da sie selbst und ihre
Widerlegungen nichts besonders I^eues bieten!
Von grossem Werthe in dem Laas'schen Buche sind die
mancherlei ausführlichen Excurse — so kann ich wohl sagen — ,
welche Laas mitten in seinen Auseinandersetzungen über die
Analogien einfügt, ohne dass die behandelten Themata etwa
ausser Zusammenhang mit dem Hauptthema ständen. Es ist
oben schon gesagt, dass die Analogien allerdings als Aus-
gangspunkt für die verschiedensten Fragen der Kant'schen
Erkenntnisstbeorie genommen werden können. So handelt bei
Laas ein lesenswerther Abschnitt (§ 22) über die Kant'sche
-„objective" Welt der Erscheinung und zugleich über den
Existenzort und die Existenzart dieser objectiven Welt, und
Laas hat hier Manches zur Klärung und schärferen Fräcisirung
der Kant'schen Lehre beigetragen. Obgleich diese objective
Welt auch eine vorgestellte ist, so^ macht sie doch den An-
spruch auf allgemeine Giltigkeit, und eben weil sie für alle
gelten muss, dadurch wird sie zu der objectiven. Und zwar
beruht diese Allgemeingiltigkeit nicht auf der Wahrnehmung,
sondern auf den reinen Yerstandesbegriffen. Sie findet sich
als an ihrem Orte nicht in einem beliebigen nur individuellen
Bewusstsein, sondern in einem „Bewusstsein überhaupt^. Mit
diesem etwas räthselhaften Ausdruck (Prolegg. § 20) schiebt
RecensioneDi 9S
Kant die Welt auf einmal aoB den subjectiven Yorstellungs*
gebiiden nnd auB dem nur subjectiven Giltigkeit in das allge-
mein Angenommene hinüber. Es entbehrt dieses ^Bewusstsein
überhaupt^ freilich der genauen Bestimmung bei Kant^ und
auch Laas gelingt es nach meiner Ansicht nicht, es zur Tollen
Deutlichkeit zu erheben ; denn was ist damit gesagt, wenn es
jenes vorgestellte, reine Ich sein soll, das der vorgestellten
Zeit als nothwendiges Correlat gegenüber gestellt wird, oder
wenn es bezeichnet wird als das abstracte allgemein mensch-
liche Bewusstsein, wenn es als hypothetisches und ideales
BewuBstsein mit der absoluten Zeit und dem absoluten Baum
die nothwendige Unterlage bilden soll, auf der die mathe-
matisch-mechanische Naturerklärung stattfindet, so dassvorihmin
einem absoluten Baume die Materien oscilliercn? Es soll nach
Laas möglich sein, das eigene individuelle Selbst in der Vor*
Stellung zum Selbst der Menschheit zu erweitem und jenes
objective Selbstbewusstsein zu entfalten, durch das die allge-
meingiltigen Urtheile gebildet werden ; dies Weltbewusstsein soll
dann in der Vorstellung über Geburt und Tod hinaus per-
petuiert werden. Ich bezweifle einerseits, dass Laas mit dieser
Betonung und Bestimmung des Bewusstseins überhaupt die
Absicht Eant's genau getroffen hat, und gestehe andererseits
bereitwillig» dass ich nicht dazu komme, mir unter diesem
allgemeinen Bewusstsein etwas Klares zu denken. Unter dem
,,allgemein^ oder dem ^überhaupt^ schwindet das Bewusstsein.
Soll die Welt zu einer objectiven, d. h. zu einer, die
von allen gesunden Menschen in gleicher Weise vorgestellt
wird, dadurch werden, dass die Yergtandesformen , die allen
Menschen als Menschen nach ihrer einheitlichen Organisation
eingepflanzt sind, der Materie der Anschauung übergezogen
werden, so habe ich damit etwas Fassbares, Yerständliches.
Es ist dann etwas gauz Analoges der Lehre Ennt's auf prak-
tischem Gebiet, dass alle vernünftigen Wesen sich durch das
Gesetz gebunden fühlen, weil dieses eben das der Vernunft
überhaupt ist. Es erklärt sich auf diese Weise einfach, wie
das Bild der Welt als gegenständlicher bei den räumlich von
einander getrennten und in vieler Hinsicht sonst verschieden
organisirten Menschen in den verschiedensten Zeiten ungeföhr
dasselbe geblieben ist.
Laas setzt den Vortheil dieser objectiven Welt, wenn sie
auch mit Bealitäten ausserhalb unseres Bewusstseins gar nicht
correspondiren sollte , auseinander lind findet ihn mit vollem
Becht besonders 1) darin, dass sie uns statt der zum Theil
94 Becensionen.
widerspruchsvollen, discontinuirlicheni ja an sich yöUig räthsel-
haften und unablässig wechselnden ^If^ahmehmungsgruppen,
<die jeder Einzelne für sich habe, uns ein Gebilde darbiete,
in dem die Vorstellungen, d. b. die materiellen Dinge mit ihren
Eigenschaften und Eelationen lückenlos und mit einander har-
monirend nebeneinander stehen, und in dem jede Veränderung
nach dem ontologischen Satze vom Grunde verstandesgemäss
zurecht gelegt wird; 2) darin, dass diese objectiye Welt nur
nach festen Gesetzen sich ändernder materieller Dinge das
gemeinschaftliche Beziehungsobject aller Forschungen und Ge-
danken derer sei, die unter einander durch die Jahrhunderte
fort im Denkverkehr ständen.
Sehr eng hängt mit dieser Frage nach der objeetiven
Welt bei Kant die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs-
und Erfabrungsurtheil zusammen, die von Lsas an der erwähn-
ten Stelle und auch später (§35) noch ausführlicher besprochen
wird. Eant legt auf diesen Unterschied in den Prolegomenen
grossen Werth. Da diese Schrift eine erläuternde und popu-
lärere als die Kritik der reinen Vernunft sein sollte, müsste
man denken, durob diesen Unterschied würde ein helleres Licht
über die Umwandlung des Subjectiven zu einem Objeetiven
verbreitet. Mir ist nun stets diese ganze Trennung von Wahr-
nehmungs- und Erfahrungsurtheilen als nicht ganz verständ-
lich und, soweit dem Verständniss zugänglich, in das System
des transcendentslen Idealismus nicht passend, erschienen,
wie besonders auch trotz aller Bemäntelungen derer, die einen
tiefen Sinn in ihr erblicken, aus den verfehlten Beispielen
Kant's, durch welche eben die Lehre nicht illustrirt wird,
hervorgeht Auch scheint Kant ausser in den Prolegomenen
ihr eine besondere Bedeutung nicht zuzulegen und so
selbst zweifelhaft über ihren Werth geworden zu sein. Es
freut mich nun, ganz neuerdings in der Schrift eines sonst
Kant sehr ergebenen Forschers und Denkers, Julius Jacobson,
j(Ueber die Beziehungen zwischen Kategorien und Urtheilsformen,
Königsberg 1877) zu lesen oder ausführlicher dargelegt zu
£nden, dass die Lehre von den Wahrnehmungsurtheilen in der
Kant'schen Philosophie nicht aufrecht erhalten werden könne,
dass sie für das System Kant's unwesentlich, und dass sie um
des inneren Widerspruchs willen sogar aus demselben entfernt
werden müsse.
Unmittelbar an die Darstellung dieser für die Erkennt-
'nisstheorie bei Kant grundlegenden Bestimmungen über die
4>bjective Welt schliesst sich in dem Laas*schen Buche ein
RecensioiMm. 95
Absohnitt an über die metaphysischen YorauBsetzaiigen für die
Kanfsche Transoendentalphilosophie. Eant's Metaphysik ist
Bach Laas etwa folgende: Das Ich, yon dem wir nicht aus*
zusagen yermögen, ob es vergänglich oder unvergänglich, ein-
fach oder zusammengesetzt sei, hat jedenfalls die nöthigen
Formen, d. h. Raum und Zeit, um Anschauungen zu empfangen,
«0 dass ihm auch nur eine Welt bekannt sein kann, soweit
sie in diesen Formen erscheint. Andererseits ist es ein selbst-
thätiges Wesen, und gerade durch diese Spontaneität des Denkens
wird seine eigenthümliche Natur constituirt. Jedoch ist diese
Spontaneität für sich nur unfruchtbar, sie muss von Aussen den
Stoff erhalten. Die Natur und ihre Einheit ist nur möglich
vermittelst der Beschaffenheit unseres Verstandes, nach welcher
alle Vorstellungen der Sinnlichkeit auf ein Bewusstsein noth-
wendig bezogen werden.
Laas meint nun, es seien diese Voraussetzungen Kant's
allerdings sehr geeignet, „die blöde Naivität über den Charak-
ter des empirischen Seins nachdenklich zu machen^S aber es
trete doch auch dabei „die individuelle Willkür der von Kant
beliebten Metaphysik heraus'^ Das Letztere ist ein Moment,
das mit Nachdruck in der Kritik der Kant'schen Philosophie
betont zu werden verdient. Laas fragt, warum, wenn wir
einmal über das positiv Gegebene hinausschritten, wir in uns
nur Formen hätten und diese den Materialien aufprägten , die
letzteren aber nur empfangen und nicht aus uns produciren
könnten? Und andererseits fragt er: Warum die Materialien,
•die uns gegeben werden, nicht selbst so beschaffen sein könn-
ten, dass wir, um Natur fertig zu bringen, nur aufmerksam
und verständig beobachten müssten, und unsere Verknüpfungs-
formen und Relationen der Erscheinungselemente Nachbilder
und Gegenbilder einer transcendenten Ordnung wären? Ich
«timme dem vollständig bei, dass von Kant diese beiden Mög-
lichkeiten nicht ausgeschlossen sind, so dass der Zugang
einerseits zu dem absoluten Idealismus, andererseits zu dem
empirischen Realismus im Gegensatz zu der Transoendental-
philosophie gegeben wäre.
Mit diesen Bedenken gegen die Metaphysik Kant's hat
Laas schon seinen Standpunkt dahin ausgesprochen, dass er
principieller Gegner der Transoendentalphilosophie ist, und ich
kann nicht einsehen, wie für Laas von dem Gebäude Kant's
überhaupt noch etwas stehen bleiben kann. Er will den syn-
thetischen Charakter der mathematischen Urtheile nicht aner-
kennen, er nimmt es nicht als durch Kant feststehend an, dass
96 Reoenskmen.
der Baum nur subjecÜTe Anschauungsform und nicht auoh
transcendente Existenzform sei. Kant hat noch viel weniger
nach Laas erweisen können^ dass die Zeit nur subjeetiv sei^
für deren Transcendenx der Verfasser mit ziemlicher Ent-
schiedenheit eintritt; obwohl er sich auch hierbei bisweilen
wieder sehr reservirt äussert. Er glaubt die metaphysische
Zeit annehmen zu müssen^ weil sonst völliges Dunkel über die
Welt käme, zu deren Erklärung wir doch tou Anfang an
getrieben würden^ weil sonst alles transcendent reale Geschehen
und weiter damit alle metaphysische Causalrerknüpfung in den
bodenlosen Abgrund stürzte. Hiermit sind schon Haupt-
abweichungen . des Kritikers von Kant angegeben , und er
präcisirt selbst seine Ansicht am genauesten dahin, ' dass, wenn
wir das Gegebene aus wirklich ^^efficienten Ursachen" erklären
wollen, wir stehen lassen müssen: ,,Eine Vielheit von dyna-
misch gegenseitig abhängigen ^ zu einem einheitlichen selbst-
genugsamen Weltsystem (Universum) zusammengeschlossenen
Substanzen, ihre Kräfte verschiedener Intensität und Qualität,
ihre gegenseitigen Einwirkungen (Actives und Passives), ihre
gesetzmässigen Veränderungen, ein wirkliches Geschehen in
einer transcendenten Zeit/^ Es würde bei diesen Annahmen
von der Transcendentaiphilosophie Kaut's nichts übrig bleiben.
Wie weit sich Laas von Kant entfernt, sieht man am
deutlichsten in seiner Stellung zu den Analogien selbst. Er
lässt sie gelten, aber nicht auf Grund der Transcendentai-
philosophie. Die zweite besteht nach ihm zu Rechte, weil sie
für jede wissenschaftliche Forschung überhaupt unentbehrlich
ist. Um nicht alles Forschen von vornherein zu vernichten,
müssen dieselben Wirkungen erwartet werden, wenn dieselben
Bedingungen sich vorfinden. Sodann hat dieser Satz Geltung,,
weil er noch keine ernstliche Ausnahme je erlitten hat. Frei-
lich hält sich Laas hier sogar von der Skepsis nicht ganz,
fem^ und es ist eine Annäherung an Stuart Mill, der von
Laas überhaupt viel berücksichtigt wird^ zu spüren. Im
letzten Grunde, sagt Laas, ist der Satz als nicht weiter dedu-
cirbar dem Hume'schen Zweifel preisgegeben, aber dieser
Zweifel wird zugleich als „widrig^^ bezeichnet. Laas glaubt
nicht; dass durch einen hypothetischen spontanen Verstand die
Allgemeinheit und Noth wendigkeit des Causalgesetzes besser
begründet sei als durch die Erfahrung, und das Gravitations-
gesetz steht nach ihm eben so fest, obwohl dies ohne transcen-
dentalen Grund sein soll, wie das Gausalitätsgesetz. Sowohl
die allgemeinen Naturgesetze als auch die besonderen ruhen
Beeennonen. 97
für Laas in gleicher Weise auf empiriBchem Erkenntnitsgrund.
Selbst in Bezug auf die Identität ist es Laas fraglich, ob man
nicht in gewissem Sinne sagen dürfe, dass sie in der Wahr-
nehmung, dem Gegebenen, liege, so dass die Wahrnehmung ihr
nicht nur die Anwendbarkeit, sondern auch die Veranlassung
bietet. — Dass das Causalitätsgesetz für die transcendente
Welt giltig ist, brauche ich nach Angabe seiner Hauptansicht
über die transcendente Welt kaum hinzuzufügen.
Vom Dogmatismus sucht sich Lcias, wie ich eben schon
in Betreff der Gausalität andeutete und früher auch sobon
bemerkte, möglichst fem zu halten. Es wird die Berechtigung
für die eine und für die andere Ansicht ausgesprochen und
erwogen, aber eine bestimmte Entscheidung fällt selten. Dies
geht so weit, dass, nachdem Laas zur Erklärung der Welt als
nöthig hingestellt hat ein wirkliches Geschehen in einer trans-
scendenten Zeit, er doch wieder darauf nur vorsichtig davon
spricht, dass eine transcendente Zeit nicht unmöglich scheine,
und gegen eine absolute Zeit die antithetischen Erörterungen
der Kant'schen Antinomien in's Feld führt. So * sehr es ihn
nach der Metaphysik hinzieht, er hält die Augen sich offen
und den Verstand klar und lässt sich von dem Zauberlied,
das hinüberlockt in jene unsichtbaren Gefilde, nicht vollständig
hinreissen. Er erkennt den metaphysischen Trieb als einen
gesunden und berechtigten an, will «aber, dass er sich beschränke
auf die von dem thatsächlich Wirklichen aufgegebenen echten
BäthseL Welche aber diese sind, und woran man sie erkennen
soll, das ist mir durch Laas nicht völlig klar geworden. Es
würde sich über die Auslegung dieser Forderung sogleich der
Streit der Meinungen geltend machen. Laas fragt, ob man
sich nicht „ein gesetzmässig geregeltes dynamisches Wechsel-
spiel vieler ewigen unter sich zu einer innerlich artikulirten,
so zu sagen künstlerischen, systematischen, organischen Einheit
verknüpfter Agentien'' denken solle. Er giebt zu, dass er es
gerne möchte, fragt aber zweifelnd weiter: „Ob es sich
durchführen lässt, was wir gerne hätten? Ob sie sich aus-
denken lässt diese an der Zeit hinlaufende Wechselwirkung
vieler Agentien?'' und zum Schluss denkt er wieder «in die
Möglichkeit der Besignation in dieser Beziehung und daran,
dass wir vielleicht darauf nur angewiesen wären, die Erschei-
nungen nach synthetischer Einheit zu buchstabiren, um sie als
Erfahrui^ lesen zu können.
Trotz der Unsicherheit in den eigenen Aufstellungen
wirkt das Laas'sche Buch in hohem Grade philosophisch
^erteljalizssolurift f. wiasenscliafa. Pliflosopliie. m. 1. 7
Og ReeensioneD.
klärend und anregend, oder es wirkt in diesen beiden Be-
dsiehungen gerade desbalb bedeutender, weil das Dogmatische
so sehr zurücktritt. Und abgesehen von diesen Vorzügen:
Wenn es für die Gegenwart, um in der Philosophie Fort-
schritte zu machen, vor allen Dingen darauf ankommt, die
Philosophie Kant's genau zu ergründen und zu kritisiren, so
dass sie entweder als giltige Basis anerkannt oder verworfen
wird, so hat Laas nach diesen beiden Richtungen sich durch
sein Buch wesentliche Verdienste erworben.
Leipzig. M. Heinze.
Spir, A. Denken und Wirklichkeit. Versuch einer Erneuerung
der kritischen Philosophie. Erster Band. Das Unbedingte.
Zweite umgearbeitete Auflage, (Vn u. 386 S. gr. S^.) Zweiter
Band. Die Welt der Erfahrung. Zweite umgearbeitete Auf-
lage. (292 S. gr. SO.) Leipzig J. G. Findel. 1877.
In der Vorrede giebt der Verfasser die Erklärung ab,
dass ihm an der Richtigkeit der in diesem Werke vorge-
tragenen Gedanken zu zweifeln nicht erlaubt sei, da dieselben
nicht allein für ihn selbst vollkommen evident seien^ sondern
auch trotz ihrer Vorlegung zur öffentlichen Prüfung eine
nennenswerthe Einwendung nicht erfahren Mtten. Wenn trotz-
dem das Werk ziemlich unbeachtet geblieben sei, so schreibt
er dies zum Theil seiner unzureichenden Darstellung zu, zum
Theil aber auch den Lesern selbst, der bedauerlichen ün-
empfänglichkeit der meisten Menschen für Vernunft und Ein-
sicht; doch hegt er die ruhige Zuversicht^ dass die Evidenz
der darin vorgetragenen Lehren, nicht mehr, wie früher, ver-
deckt durch eine zu mangelhafte Darstellung, jeden Widerstand
besiegen und den festen Grund zu einer wahrhaft wissenschaft-
lichen Philosophie legen wird. Auch am Schluss des Werkes
beklagt er noch einmal den Mangel an logischem Denken bei
den meisten Menschen, will aber dennoch an der Menschheit
nicht verzweifeln. ,,(Jnter der dumpfen Menge giebt es ge-
wiss auch hellere Geister, welche sich gegen die Evidenz nicht
ganz verschliessen . . . Durch solche verwandte Geister wird
die hiergebotene Anschauungsweise einst zum Gemeingut Aller
gemacht.^'
Dieser von antikem Selbstbewusstsein getragene avis au
lecteur zeichnet sich im Ganzen mehr durch Wahrheit als
durch Höflichkeit aus, und wird daher Manchem einen neuen
Vor wand bieten, das Buch ungelesen hhi Seite zu legen -^
RecemioneD. 99
eine BehandltiBg, welche dasselbe keineswegs verdient, da es
auf Grund umfassender Studien und meistentheils eingehendier
kritischer Untersuchungen die Erforschung der Wahrheit ohne
alle Nebenabsichten sich zur Aufgabe gestellt hat. Deshalb
]«t es nicht zu ignoriren, sondern in denjenigen Punkten^
welche vor der Kritik unhaltbar erscheinen^ mit sachlichen
Gründen zu widerlegen.
•
Der philosophische Standpunkt des Verfassers ergiebt sich
theils aus seinen ürtheilen über andere Bichtungen^ theils hat
er ihn direct dargelegt. Alle Metaphysik verurÜieilt er in
starken Ausdrücken; sie ist ihm bloss eine imaginäre Erweite-
rung der Erfahrung, ihr verschiedengestaltetes Unbedingtes oder
Absolutes nichts als ein empirischer Gegenstand, eine phan-
tastische Zusammenstellung eines in der Erfahrung angelesenen
Inhaltes. Ja er erklärt sogar die metaphysische Eichtung für
eine Art geistiger Krankheiti welche nicht durch Argumente
zu beseitigen sei. ,;Denn was können Argumente bei Menschen
ausrichten ; welche sehr gut sehen, wie in allen Zweigen der
Wissenschaften wirkliche Erkenntnisse erworben werden und
trotzdem im Ernste glauben, dass auf dem von den Meta-
physikem eingeschlagenen Wege auch nur ein Atom wirklichen
Wissens gewonnen werden könne?"
Ebenso schlecht werden diejenigen Philosophen behandelt,
welche der Verfasser „Empiristen^ nennt; diese unterscdieiden
sich nach ihm kaum von den Metaphysikern und haben dazu
noch andere übele Eigenschaften. Er kennt, in Deutschland
wenigstens, unter den Philosophen keinen einzigen klaren und
„mit sich consistenten*' Empiristen. „Wer hier die Erfahrung
als die einzige Quelle der Erkenntniss proclamirt, der stürzt
sich sofort in eine — Metaphysik, gewöhnlich in die materia-
listische Metaphysik/' Bei einigen neueren Schriftstellern,
„welche dem Empirismus zu huldigen vorgeben, herrscht leider
aine solche Unklarheit des Denkens, dass man kaum glauben
kann, dass sie selber wissen, was sie eigentlich denken und
wollen.'' ;,Die in der Philosophie leider so oft angewandte
traurige Kunst, aus Nichts Etwas zu machen, wird von den
Empiristen am wackersten ausgeübt.''
Auch der neuerdings wieder beliebt gewordene „Mittel-
weg" zwischen Metaphysik und Empirismus, welchen Kant
einschlug, gefallt dem Verfasser nicht. Eant's Lehre „zeigt
nicht viel kritischen Sinn'^ seine transscendentale Aesthetik
,^beruht auf einer vollkommen unhaltbaren, den Thatsachen
100 Becensionen.
offenbar widersprechenden Ansicht'^; ebenso unhaltbar ist die
Kategorieenlehre. —
Alle Diejenigen, welche ans erkenntnisstheoretischen Grün«
den bisher annahmen, dass nur die zwei Standpunkte des
Empirismus und der Metaphysik überhaupt möglich seien, und
daher den £antischen Kriticismus entweder in den einen oder
den andern Standpunkt auflösten, werden sehr gespannt sein,
welche dritte Richtung hier auftritt. Zunächst unterscheidet
der Verfasser seine Philosophie von der Metaphysik: ,J)iese
will die Lehre von dem Unbedingten selbst sein. Dagegen
kann die kritische Philosophie, soweit sich dieselbe auch über
die Erfahrung erhebt, nichts Anderes sein, als die Lehre von
dem Begriffe des Unbedingten, von dem Ursprung, der
Bedeutung und der objectiven Giltigkeit dieses BegrifPs/'
Im Gegensatz zu den „Empiristen'' nimmt der Verfasser
an, dass es Einsichten gebe, welche sich durch einen ihnen
eigenthümlichen Charakter unterscheiden, der keiner aus der
Erfahrung entstandenen Erkenntniss eigen sein kann, also ein
Apriori. „Vor allen Dingen ist es nöthig zu begreifen, dass
zwischen den apriorischen und empirischen Elementen unseres
Erkennens überhaupt keine vollkommene Uebereinstimmung
besteht, weil man sie sonst von einander gar nicht würde
unterscheiden können. Darin liegt eben das Kriterium einer
Einsicht a priori, dass dieselbe nicht allein nothwendig sei,
sondern dass die Erfahrung auch mit ihr nicht überein-
stimme und daher keine Elemente enthalte, aus welchen
jene auf empirischem Wege gebildet werden könnte." Ein ur-
sprünglicher Begriff a priori muss nicht nur unmittelbar ge-
wiss, selbstverständlich sein, auch nicht aus der Erfahrung
stammen, aber die Erfahrung muss doch seine objective Giltig-
keit bezeugen. Seine Nichtübereinstimmung muss von der Art
sein, dass „die Thatsachen gerade auf Grund derselben für seine
objective Giltigkeit Zeugniss ablegen, weil der Begriff sonst
wohl noch als ein Gesetz des Denkens, aber nur von sub-
jectiver Bedeutung sich erweisen würde. Wenn es aber mög-
lich ist, diese beiden Bedingungen zu erfüllen, so wird da-
durch die Lehre von der apriorischen Natur des Erkennens
und mit dieser auch die Philosophie überhaupt auf eine wissen-
schaftliche Grundlage gestellt/^
Dieses apriorische Denkgesetz von objectiver Bedeutung
„muss nun in einem obersten unmittelbar gewissen Grundsatze
seinen Ausdruck finden, aus welchem mit logischer Noth-
wendigkeit . . . gewisse allgemeine Thatsachen des erfahrungs-
RecensioDen. 101
massigen Wissens sich ergeben, welche ihren Ursprung nach-
weisbar weder in dem Stoffe der Erfahrung selbst, noch in
den Gombinationen dieses Stoffes haben können/'
Hiermit ist dem Yerfasser die Unterscheidung seines
Standpunktes vom empiristischen sehr wohl gelungen, ja sogar
so gut, dass selbst ein Metaphysiker kaum etwas daran aus-
zusetzen haben dürfte. Um so mehr Grund hat der Empiriker,
die folgenden Beweise des apriorischen Denkgesetzes yon ob-
jectiver Bedeutung einer genauen Kritik zu unterziehen.
Der Verfasser beginnt in dem „Vorbereitung'^ betitelten
Abschnitt mit der Feststellung des ,,unmittelbar Gewissen'^
„Man weiss von vorneherein, dass etwas bloss auf zweifache
Weise gewiss sein kann^ nämlich entweder unmittelbar oder
mittelbar/' Dies kann durchaus nicht zugegeben werden ; mag
Jemand immerhin von vornherein ,, wissen", dass etwas un-
mittelbar gewiss sei, so lehrt doch die Erfahrung gerade das
Gegentheil, nämlich dass alle Gewissheit ohne Ausnahme ver-
mittelt ist, wie sich denn dies auch bei allen Erfahrungs-
objecten aufzeigen lässt. Weil das Letztere aber bei dem so-
genannten Apriori nicht möglich ist, deshalb macht man, um
populär zu reden, aus der Noth eine Tugend, und behauptet^
dass es ,,unmittelbar gewiss" sei. Der Verfasser war auf Grund
der Thatsachen berechtigt zu sagen, es sei gewiss, dass etwas
Unmittelbares gegeben ist; dies darf aber mit Gewissheit
im Sinne der Richtigkeit nicht identificirt werden, wenig-
stens wenn man sich an den Sprachgebrauch halten will.
Daher fehlt die Beweiskraft auch den folgenden Sätzen:
^Mittelbar gewiss ist Dasjenige, dessen Gewissheit eben durch
etwas Anderes vermittelt, d. h. von Anderem entlehnt ist.
Mittelbar gewiss ist etwas, wenn ich dessen Bichtigkeit aus
seinem Zusammenhange mit etwas Anderem, vorher Festge-
stelltem einsehe. Ohne etwas unmittelbar Gewisses könnte es
also auch nichts mittelbar Gewisses, mithin tiberhaupt gar
keine Gewissheit geben'^, sondern nur einen regressus in in-
finitum. Hiervon ist nur das zuzugestehen, dass ein Letztes
unmittelbar Gegebenes nöthig ist, um dem regressus in inf.
ein Ziel zu setzen, alles Uebrige entbehrt der thatsächlichen
Grundlage und dient nur als Vorbereitung zur folgenden
Deduetion : ,,In jeder Vorstellung ist zweierlei zu unterscheiden,
das, was die Vorstellung selbst ist, und das, was sie vorstellt,
mit anderen Worten das, was in ihr (von Gegenständen) be-
hauptet wird. Das letztere kann unwahr oder zweifelhaft
sein, das erstere nie ... In dem Inhalte unseres Bewusstseins
102 Recensionen.
haben wir alle und jede unmittelbare Gewissbeit factischer
Natur." Danach drängen sich nun yor Allem die folgenden
Fragen auf: ^^Das unmittelbar Gewisse faetiseher Natur ist der
Inhalt unseres eigenen Bewusstseins; wie kann uns etwas
ausserhalb unseres Bewusstseins Liegendes ge-
wiss werden? Ferner^ das unmittelbar Gewisse factischer
Natur ist stets ein Einzelnes; . . . wie können wir, yon diesen
Einzelnheiten ausgehend^ zu allgemeinen Einsichten tou
vollkommener Gewissheit gelangen ?''
Diese Unterscheidungen sind etwas gewaltsamer Natur;
zunächst ist ganz und gar nicht abzusehen, mit welchem Rechte
die Vorstellung als etwas Selbständiges dem Vorgestellten ent-
gegengestellt wird. Was ist die Vorstellung ohne Vorgestelltes
und umgekehrt? Das Vorgestellte ist aber der ^Gegenstand'';
die .^Behauptungen" über diesen mögen auf Grund der Vor-
stellung erfolgen, ,4^*' der letztern selbst, wenn sie, wie hier
wohl geschieht, als directe Wahrnehmung au^efaast wird, ist
jederzeit ein Gegenstand unmittelbar gegeben » und zwar,
worauf es den nächsten Folgerungen des Verfassers gegenüber
ankommt, ist unmittelbar nichts als der Gegen-
stand gegeben. Dass dieser nur in der Wahrnehmung
gegeben ist, ist eine vielfach vermittelte Einsicht, zu welcher
nur wenige Subjecte gelangen. Deshalb kann, wenigstens auf
Grund der Erfahrung, niemals behauptet werden, dass „das
unmittelbar Gewisse der Inhalt unseres eigenen Bewusst-
seins'' sei«
Ehe man die zweite Frage auf werfen kann : „Wie können
wir, von diesen Einzelheiten ausgehend, zu allgemeinen Ein-
sichten von vollkommener Gewissheit gelangen r^^ muss man
sich vergewissert haben, ob man dies überhaupt kann. Die
streng wissenschaftliche Untersuchung ergiebt eine verneinende
Antwort; des Verfassers eigene Erörterungen zeigen, dass er
wenigstens nicht „von diesen Einzelnheiten" aus dazu gelangt,
da ihm „der leitende Faden abbricht und er wieder einen
neuen Anfang machen muss. . . . Wir müssen uns darauf be-
sinnen, ob wir einen allgemeinen Satz kennen, welcher un*
mittelbar gewiss, durch sich selbst einleuchtend, kurz selbst-
verständlich ist. Wie man schon längst weiss, giebt es in,
der That einen solchen, nämlich den Satz der Identität. In
diesem letzteren müssen wir also den Ausdruck des Grund-
gesetzes unseres Denkens sehen."
In den nun folgenden Erörterungen über „die Natur der
Vorstellungen und des erkennenden Subjects'' bricht der leitende
Beoenüoneii. 103
Faden öfters ab, und der Yer&sser muss sich daher nooh
mehrmals auf Sätze besinnen, welche ihm durch längere Be-
kanntschaft „unmittelbar gewiss und selbstTerständlich*' ge*
worden sind. Denn sie ergeben sich keineswegs mit logischer
Nothwendigkeit aus seinen Untersuchungen, sondern yerrathen
nur zu deutlich ihren „apriorisoheB^^ Ursprung. Die y^Vor-
stellung^^ ist dasjenige, wodurch allein die Unterscheidung von
Wahrheit und Unwahrheit möglich ist: Uebereinstimmung
der Vorstellung mit einem durch sie g^ebenen Inhalt ist
Wahrheit, Nichtübereinstimmung Unwahrheit. ;,Die Existenz
eines gegebenen Inhalts, welche in ausdrücklicher Beziehung
auf einen entsprechenden^ ausser ihr liegenden Inhalt steht ,
... ist die Vorstellung. Dasjenige dagegen, worauf sich
diese bezieht, ... ist das reale oder objectiye Dasein des
Torgestellten Inhalts. Die Eigenthümlichkeit der Vorstellung
besteht darin, dass Alles, was in ihr vorhanden ist, nicht ein-
fiach an sich, sondern als der Bepräsentant von etwas Anderem
existirt; darin, dass sie etwas yon ihr selbst Unterschiedenes —
welches man ihren Gegenstand oder ihr Object nennt —
Torstellt." Die Vorstellung, wiewohl sie die Eigenschaften
des Vorgestellten in sich begreift, hat doch selbst nicht diese
Eigenschaften; sie ist z. B. nicht weiss, nicht ausgedehnt,
nicht hart und schwer, „die Vorstellung der Sünde ist nicht
sündhaft''. „Alle Gegenstände, welche mir bekannt sind, müssen
doch in meinem Bewusstsein vorhanden sein, sonst würde ich
ja von denselben nichts wissen können; aber mein Bewusst-
sein ist nicht selbst alle diese Gegenstände.. Man sieht, das
Wesen der Vorstellung besteht im Allgemeinen darin, dass sie
selbst an sich nicht das ist, was sie vorstellt, d. h., dass
Alles, was in ihr liegt, nicht von ihr selbst, sondern von
etwas Anderem — von ihrem Gegenstande — gilt. Was an
sich eine ganz reale Welt bildet, findet sich ideell in dem
Bewusstsein eines einzigen Subjects zusammen, wird aber darin
gerade als eine ganze reale Welt erkannt. Die Eigenthüm-
lichkeit dieses ideellen Daseins der Gegenstände (in der Vor-
stellung) besteht also darin, dass es das reale, objective Dasein
derselben ausserhalb der Vorstellung ausdrücklich bejaht,
affirmirt."
Die Vorstellung unterscheidet sich vom Bilde eines Gegen-*
Standes, weil dasselbe nur einen kleinen Theil des Objects
darstellt und an sich, in seinem eigenen Wesen, keine Be-
ziehung auf den abgebildeten Gegenstand enthält, während das
letztere gerade das Wesen der Vorstellnng ausmacht, und
104 KeoensioiieD.
zwar giebt sie zugleich den Glauben an die ausser ihr ror*
handene Existenz des Gegenstandes. ,;AlIer Glaube und alle
Gewissheit haben ihre Basis und Wurzel in dem Wesen der
Vorstellung selbst, der es von Haus aus eigenthümlich ist, die
Affirmation des Vorgestellten, den Glauben an dessen Dasein
ausser sich zu enthalten/' Trotzdem föUt die Vorstellung nicht
mit ihrem Gegenstand zusammen; ,,nie kann ein Gegenstand
in die Verteilung selbst kommen, sondern bleibt stets neben
derselben liegen."
Die zwei Arten von Thatsachen : ,;Es ist ein realer Inhalt
vorhanden'* und „Ich erkenne, dass dieser Inhalt da ist'', oder:
„Es sind mehrere Zustände oder Phänomene auf einander ge-
jfblgt'* und „Ich erkenne die Succession derselben", sind von
einander ^^tolo genere" verschieden. ,yDamit ich einsehe und
erkenne, dass drei Zustände oder mehr aufeinander gefolgt sind^
muss ich sie alle in einem Bewusstsein, zusammen also zu-
gleich haben, weil sie darin mit ausdrücklicher Beziehung auf
einander zusammengefasst werden. Wenn nun die an sich
successiven Zustände in ihrer Vorstellung zugleich sein
müssen, so ist klar^ dass die Vorstellung ihrer Succession
etwas von ihrer Succession selbst Verschiedenes ist." —
Die letzte Frage ist seit Schopenhauer, welcher sie be-
reits richtig beantwortet hat, noch mehrmals behandelt worden,
weshalb sie hier nicht mit einem Machtspruch hätte entschie-
den werden sollen. Es empfiehlt sich, statt der allgemeinen
Begriffe Einzelerkenntnisse zu nehmen, die beliebig ausgewählt
werden können ; eind die zwei Thatsachen : „est ist ein Mensch
da", und: „Ich sehe oder höre einen Menschen", toto genere
verschieden oder gleichartig? Dies entscheidet sich lediglich
durch Zurückgehen auf Dasjenige, was bewirkt, dass über-
haupt von einer Thatsache gesprochen werden kann, und das
ist die Erfahrung, in welcher sie gegeben ist. Nun lässt man
in der gewöhnlichen Bedeweise dies weg, und dadurch er-
scheinen beide Ausdrucksweisen auf den ersten Anblick auch
sachlich verschieden; sobald man aber nach der Begründung
einer behaupteten Thatsache fragt, so muss die Berufung auf
die Erfahrung erfolgen, ohne dass dadurch der Inhalt der Be-
hauptung alterirt wird. Denn es findet zwischen beiden Aus-
drucksweisen nur der einzige Unterschied statt, dass im ersteren
Falle die besondere Art der Erfahrung nicht angegeben wird,
wie dies im anderen Falle geschieht. Dasselbe gilt von den
andern Beispielen: „Es sind zwei verschiedene Dinge vor-
handen'', heisst nichts Anderes als: Ich habe zwei Dinge
Kecensionen. 105
wahrgenommen and dureh Yergleichnng ihre Verschiedenheit
erkannt; ebenso: ,,ich habe die Succession mehrerer Zustände
oder Phänomene wahrgenommen^^ Denn nnr durch die Wahr-
nehmung habe ich ein Recht zu sagen, y^es sind*^ etc. — Wir
kehren zu den Bestimmungen des Verfassers über die Vor-
stellung zurück.
^;ünter einer Empfindung versteht man einen im Bewusst-
sein vorhandenen Inhalt, welcher keine innere Beziehung auf
Dinge ausserhalb des Bewusstseins ^ keine Affirmation über
dergleichen Dinge enthält. Solcher Art ist die pure Empfin-
dung einer Earbe, eines Tons, eines Geschmacks, eines Geruchs
und dgl. Unter einer Vorstellung dagegen versteht maa
einen im Bewusstsein vorhandenen Inhalt, welcher die Affir-
mation von Dingen ausser sich, nämlich den Glauben an das
objective Dasein oder Gewesensein des in ihm Vorgestellten
enthalt. Solcher Art ist die Vorstellung der Farbe als einer
Eigenschaft gesehener Dinge, die Erinnerung an unsere eigenen
vergangenen Erlebnisse und Aehnliches.^'
Noch eine dritte Eigenschaft kommt der Vorstellung zu:
sie ist „in ihrem eigenthümlichen Wesen ein ursprüngliches
Factum, wie die Farbe und der Ton. Die Eigenschaften der
Vorstellung können aus keinen gegebenen Eigenschaften und
Verhältnissen existirender und uns bekannter Gegenstände ab-
geleitet werden. Dies bedeutet Leibnizen's Zusatz Nisi intel-
lectus ipse zu dem bekannten Dictum Nihil in intellectu quod
non in sensu. Dieser Zusatz besagt, dass der Intellect (die
Vorstellung) zwar keinen anderen Inhalt haben kann als den
seiner unmittelbaren Objecto, d. h. der Empfindungen, dass
aber in demselben dieser Inhalt auf eine ganz eigenthümliche
Art und Weise existirt, welche aus keiner Einwirkung oder
Zusammensetzung der Empfindungen entstehen kann.^'
Wenn die Vorstellung nichts von ihrem Gegenstande
Unterschiedenes ist, dann hat sie auch keinen Gegenstand, mit
dem sie verglichen werden kann, dann hört der Unterschied
zwischen Wahrheit und Irrthum auf. „Es kann wohl einzelne
Vorstellnngen geben, welchen keine Gegenstände in der Wirk-
lichkeit entsprechen, aber die Vorstellung überhaupt
kann ohne solche nicht gedacht werden. Denn ' ihr Wesen
besteht eben darin, dass sie selbst, an sich nicht das ist, was
sie vorstellt; . . . wenn die Vorstellung überhaupt keinen
Gegenstand hätte, so würde sie eben nichts vorstellen, also
keine Vorstellung, sondern selbst ein Gegenstand sein.^' Doch
verbürgt die Vorstellung noch nicht etwa das „Dasein äusserer
1QQ Becensionen.
GegenständB im Eanme'^ sondern nur ausser ihr, der Vor-
stellung, liegende Gegenstände. ^^Ausserbalb der Vorstellung^
heisst noch nicht: ,,au8serhalb unseres Ich'S ^i^d noch weniger
bedeutet es ein reales Dasein im Räume. Was wirklich
ausser uns liegt, das können wir doch nicht wahrnehmen und
können auch dessen nicht unmittelbar gewiss sein, ,,Unmittel-
bar gewiss ist nur, dass bei jeder Perception oder Wahr-
nehmung der Vorstellung eine gegenwärtige Empfindung
ausser ihr entspricht, und dass sich in der Vorstellung über-
haupt kein Inhalt vorfinden kann, welcher nicht in Empfin-
dungen vorhanden gewesen wäre." —
Wir erfahren hier ausserordentlich viel über die Vor-
stellung, leider aber das Eine gerade nicht, was Noth ist, näm-
lich ihr Verhältniss zur Anschauung oder zur Sinneswahr-
nehmung überhaupt. Es mag unbequem und schwierig sein,
im Anfang psychologischer Untersuchungen die Bedeutung der
behandelten Begriffe festzustellen und sie im Verlaufe der
Untersuchung festzuhalten — aber es ist unbedingt noth-
wendig, wenn statt beliebiger Dogmen und Postulate psycho-
logische und erkenntnisstheoretische Thatsachen eruirt werden
sollen. Wo freilich dies überhaupt nicht die Absicht ist, wie
bei der rein speculativen oder metaphysischen Psychologie,
da wird man principiell mit den Begriffen möglichst willkür-
lieh umspringen, da sich hier die Thatsachen fügen müssen.
Wer aber ausdrücklich verheisst, dass er, im Gegensatz zu
Andern , der Philosophie die „wissenschaftliche Grundlage^' und
einen „festen Boden'' geben will, der sollte sich billigermassen
an das allgemein wissenschaftliche Verfahren gebunden er-
achten. Es kann dem Verfasser kaum unbekannt sein, dass
der frühere Missbrauch des Wortes Vorstellung, vermöge dessen
es geradezu alle psychischen Funktionen ohne Ausnahme um-
faaste, ziemlich beseitigt ist, und man sich dahin einigt, das-
selbe nur von der Beproduetion einer directen Sinneswahr-
nehmung oder von der willkürlichen Gombination der Elemente
verschiedener Sinneswahmehmungen zu gebrauchen. Wenn er
hiervon abweicht, so hätte er jedenfalls die Bedeutung angeben*
sollen, in welcher er das Wort Vorstellung anwendet; freilich
wären ihm dann einige seiner wichtigsten Eesultate verloren
gegangen. Denn wenn er sagt, dass ein Gegenstand nie in die
Vorstellung selbst kommen kann, sondern stets neben der-
selben liegen bleibt, so fragt man sich vergebens, auf welche
thatsächlich vorhandene psychische Fanction dies passt. Wenn
er femer verlangt, um Wahrheit und Unwahj^eit zu unter-
Beeensionen, 107
sdMideOy dass die Voratellang einen Gegenstand haben aoUe
mit dem sie yergliohen werden nnd von dem sie abweichen
könne, aa kann hier unter Yoratellung nnr die Beprodnction
von directen SinneBwahmehmongen yeratanden sein, welche
mit den letzteren selbst verglichen werden soll. Da nun aber
weiter von einer ,;Beproductionsfähigkeit" and yon einem
;; Vermögen der Vorstellung, den einmal gehabten Inhalt in
sich zu reproduciren'^; die Bede ist, so wird hier offen-
bar die Vorstellung, sofern sie etwas wirklieh Vorhandenes
bezeichnen soll, der directen Sinneswahmehmung gleichgesetzt.
Dagegen hat wieder der Satz: „Die Möglichkeit der Unwahr-
heit setzt die Vorstellung yoraus'', nur dann einen Sinn, wenn
man die letztere als Beproduction auffasst. Dazu wird die
Vorstellung noch ausserdem mit dem Bewusstsein und dem
Intellect in so nahe Verbindung gebracht^ dass sie yon beiden
kaum yerschieden erscheint. Hierauf passt nun auch wieder
die Behauptung, dass zum Wesen der Vorstellung der Glaube
an das Dasein des Vorgestellten gehöre; denn dieser Glaube
findet sich, im kritiklosen natürlichen Denken wenigstens, in
Bezug auf den gesammten Inhalt des Bewusstseins oder In-
tellects ohne Ausnahme, und ist keineswegs der „Vorstellung^*
im Sinne einer besonderen Function eigenthümlich.
Was soll endlich der Unterschied zwischen „einzelnen
Vorstellungen, welchen keine Gegenstände in der Wirklichkeit
entsprechen, und der Vorstellung überhaupt, welche
ohne solche nicht gedacht werden kann; denn ihr Wesen
besteht eben darin^' etc. ? Ist dies etwa „wissenschaftlich", dass
der allgemeine Begriff, der das „Wesen'' der unter ihm be-
fassten einzelnen Vorstellungen enthält, zu einem Theile der
letzteren in oontradictorischen Gegensatz gestellt wird? Aber
es kommt noch besser! Vermittelst eines Bäsonneynents , in
welchem der Begriff „Vorstellung'' wiederum statt des Begri ffs
Denken gebraucht wird, gelangt der Verfasser zu dem Besultat,
dass „es einzelne Vorstellungen eigentlich gar nicht giebt,
sondern nur einen einzelnen (individuellen) Inhalt derselben,
und dass die Vorstellangen sich nur durch ihren Inhalt von
einander unterscheiden und einen Anschein der Individualität
erhalten. Das eigentlich Vorstellende, Vergleichende, Urtheilende
und Schlnssfolgemde ist also nothwendig eine Einheit, welche
einen mannigfaltigen Inhalt in sich fasst nnd alle Operationen,
welche wir bei der Vorstellung constatirten , an demselben
vollführt. Diese Einheit nennt man das erkennende und
denkende Subject.'*
108 Kecensionen.
Gewiss eine überraschende Wendung! Fast könnte man
auf die Vermuthung kommen, den Verfasser habe bei seinen
Untersuchungen das zweite Erkenntnissprincip t. Kirchmann*s
geleitet: ^Das sich Widersprechende existirt nicht^^ und nur
deshalb habe er die Vorstellung mit 'widersprechenden Be-
stimmungen ausgestattet, um zu Gunsten der Einheit des
Subjects ihre Nichtexistenz zu erweisen. Denn nur diese passt
in das System, und diesem zu Liebe wird den Thatsachen
Gewalt angethan.
Nicht yiel besser ist es mit den Beweisen für die ,,Einheit
des erkennenden und denkenden Subjects'^ bestellt. Im zweiten
Bande handelt der Verfasser in einem besonderen Kapitel vom
Ich und lehrt mit Locke, dass die Einheit des Ich an die
Continuität des Selbsbewusstseins, die letztere aber an die Erinne»
lung gebunden sei. Wenn er sieh hiermit auf den empirischen
Standpunkt stellt; warum ignorirt er die Beweise der Empiriker^
durch welche das Selbstbewusstsein lediglich als eine Species
des Bewusstseins dargethan wird? Leider ist ihm die Einheit
des Subjects so selbstverständlich, dass er sich die Sache sehr
leicht macht; so sagt er: ,,Die Einheit des erkennenden Suh-
jects läugnen, heisst ja^ sich selber läugnen, und Dies ist,
gelinde gesagt, das Wunderlichste, was einem denkenden
Menschen je passiren kann/' £& heisst aber nur, sich selber
als Einheit läugnen. Weil er früher das Unmittelbare, das
Gegebensein der äusseren Gegenstände, nicht als Unmittelbares
gölten liess, deshalb muss er nun das Mittelbare, die logischen
Gesetze, herbeiziehen, um nur wieder zum Unmittelbaren zu
gelangen. Das identische Subject soll, im Unterschiede von
den „objectiren, gleichsam physischen^' Gesetzen seines In-
haltes, „logische'' Gesetze haben^ und: „ein logisches Gesetz
ist die innere Disposition, etwas yon Gegenständen zu glauben''.
Diese Verwendung der Logik ist jedenfalls neu ; bisher glaubte
man, und zwar aus guten Gründen, dass die Logik mit dem
Glauben an die Gegenstände nicht das Geringste zu schaffen
habe.
Die Geschichte der gewöhnlichen Logik lehrt nun femer,
wie die „allgemeine apriorische Einsicht", der „unmittelbar
gewisse, durch sich selbst einleuchtende, selbstverständliche"
Satz der Identität sehr allmälig entstanden ist; erst Sokrates
hat ihn, wenn auch nicht formulirt, so doch factisch angewandt,
stand aber damit unter seinen Zeitgenossen ziemlich vereinzelt
da, und zwar zeigt sich gerade bei Sokrates der Ursprung des
Satzes sehr deutlich. Weil das natürliche Denken der Mit-
RecenMODeB. 109
unterredner des Sokrates sich fortwährend in widersprechenden
Aeusserungen erging, deshalb wies er sie auf die „logische^'
Nothwendigkeit hin, denselben Begriff in derselben Bedeutung
zu gebrauchen, und dies ist wohl auch gegenwärtig noch der
einzig berechtigte Gebrauch des Satzes. Will man freilich ihn
zu einem Denkgesetz von „objectiver Bedeutung^' stempeln,
dann muss man auch behaupten, dass er nicht aus der Er-
fahrung stammen könne, weil diese keine wahrhaft identischen
Objecto aufweise. Darum kümmert sich aber weder die Logik,
noch das natürliche Denken, welchem die Identität des Namens
genügt, um die Identität des Objects ohne Weiteres zu be-
haupten.
Für seine „objectiven" Zwecke stellt der Verfasser neben
der gewöhnlichen noch eine zweite Formel des Satzes vom
Widerspruch auf: „Zwei verschiedene Affirmationen, Behaup*-
tungen, welche sich auf denselben Gegenstand in derselben
Hinsicht beziehen (wie „A ist rund*' und „A ist viereckig")
können nicht beide wahr sein.'' Vorher hat er es mit Kant
für unpassend erklärt, in den Satz des Widerspruchs Zeitver-
hältnisse aufzunehmen und daher das bekannte ,)Zugleich''
beseitigt. Für seine zweite Formel dürfte es ihm aber doch
unentbehrlich sein; denn eine weiche Masse A kann sehr
wohl in diesem Augenblick rund, im nächsten viereckig sein.
Dann hat man freilich nicht mehr „dasselbe Ding''; dies heisst
aber nichts Anderes, als: In dem Complex von Eigenschaften,
welche wir als ,iDing bezeichnen^', hat sich eine Eigenschaft
verändert, was sich durch directe WahrnehmuDg ei^iebt. Dem-
nach ist die Identität von A an die Identität seiner Eigen-
schaften gebunden. Dass aber die Eigenschaften „rund'* und
„viereckig'' nicht demselben Object zugleich angehören können,
erklärt sich sehr einfach daraus, dass jede concreto Anschau-
ung einen bestimmten Inhalt hat, und vice versa jeder be-
stimmte Inhalt in einer Anschauung gegeben ist. „Rund'' und
„viereckig" sind nun nicht als Ein bestimmter Inhalt gegeben ;
wer daher dennoch Beides vereinigt, widerspricht der Erfahrung,
wie denn überhaupt jeder Widerspruch irgendwie an einer der
Erfahrung widersprechenden Behauptung gegeben sein muss.
Dies bestätigen auch die Beispiele des Verfassers, auf Grund
deren er dem Satz des Widerspruchs noch weitere Ausdehnung
geben will; er meint, die Sätze: „das Viereckigeist an sich, als
solches (ohne Bedingung und Vermittelung) roth'', oder „das Bothe
ist an sich etc. süss", enthielten eben so sehr einen logischen
Widerspruch, wie der obige Satz. Aber diese Sätze wider-
110 Recenrionen.
sprechen in enter Linie der Erfahrang, welche nichts Vier-
eckiges etc. an sich aufweist. Nur wenn man yon der Er-
fahrung abweicht, sind überhaupt Widersprüche möglich, wcfem
man nicht unberechtigter Weise Veränderung und Widersprueh
identifieirt. Hält man sich aber innerhalb der Erfahrung,
woran bis auf Weiteres jeder Fhilosoph wohl thun dürfte, so
kommt man vollständig mit der üblichen Formel des Wider-
spruchs aus; Abweichungen yon der letzteren sind nur aprio-
ristischen Neigungen gegenüber am Platze. Die Erfahrung
entscheidet denn auch darüber, ob eine „unbedingte und un-
vermittelte Vereinigung des Verschiedenen möglich ist'^, was
der Verfasser verneint. In dem Satze: ^^das Eothe ist aus-
gedehntes haben wir eine jedenfalls ausnalimslose Vereinigung
des Verschiedenen, welche man nach dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch auch ,,unbedingt und unvermittelt^* nennen
kann. Denn man darf sagen: das Bothe als solches, seinem
,, Wesen'* nach ist ausgedehnt, weil die Qualität roth in jeder
Erfahrung ohne Ausnahme mit der Qualität „ausgedehnt'' ver-
bunden ist, „Wesen" etc. aber nichts Anderes als dies bedeutet,
nämlich für die „wissenschaftliche'^ Auffassung.
Wir können demnach dem Verfasser nicht zugeben, dass
es ihm gelangen sei, den „IJebergang von der Logik zur
.Ontologie^' aufzuzeigen, müssen vielmehr nach wie vor daran
festhalten, dass die logischen Gesetze nichts Anderes als Regeln
für das Denken als der Vereinigung, Trennung und Beziehung
von Wahmehmui^^en, Vorstellungen und Begriffen sind. Die
Nichtbefolgung der logischen Gesetze führt sicher zum Irrthum,
ihre Befolgung dagegen nur zur sogenannten formalen Wahr-
heit, da sie über den Inhalt nicht das Geringste entscheiden. —
Aus Bücksichten des Baumes haben wir uns an dieser
Stelle darauf beschränkt, das Wichtigste zu kritisiren, was der
Verfasser zur Begründung seines obersten Denkgesetzes von
objectiver Bedeutung beigebracht hat. Est ist dies quantitativ
nur ein kleiner Theil* des mit iobenswerther Präcision und
Kvxze des Aasdrucks abgefassten Werkes, dessen sonstiger
Inhalt sehr beachtenswerth ist, weil er durchweg den gewissen-
haften und selbständigen Denker zeigt. Wenn daher gerade
Dasjenige, worauf der Verfasser wohl den meisten Werth legt,
weniger gelungen, oder, ohne Euphemismus, ganz unhaltbar
erscheint, so hat dies vornehmlich seinen Grund darin, dass
der Verfasser etwas Unmögliches möglich zu machen unter-
nommen hat, nämlich den Beweis des Apriori aus den That-
sachen; das ist aber nichts Anderes als die beabsichtigte Ver-
111
einigang von WiderBprüohen. Seitdem die dreisten Aacht-
«priiche des Dogmatismus, welcher sich auf BegrÜDdimg über-
haapt nicht einlässt, einigermassen in liisscredit gerathen sind,
versncht man zwar häufig genug auf rationellem Wege sum
Apriori zu gelangen, aber ohne Erfolg; es bleiben immer auf
der einen Seite die Thatsachen, auf der anderen das Apriori
unvermittelt neben einander. Wenn man erst aus der Ge-
schichte des Apriori die Ueberzeugung erlangt hat, dass es
seinen Ursprung der Negation der Erfiedirung yerdankt, dann
yerzicfatet man darauf, es yermifctebt der Erfahrung zu be-
gränden. Denn dann hat man den Grund eingesehen^ aus
welchem der ^^leitende Faden abbrechen" muss, und wundert
sich nicht mehr darüber, dass das Apriori noch immer, wie
einst das Schelling'sche Absolute, ;,aus der Pistole ge-
schossen wird^^
Leipzig. C. Göring.
flohrdder, Snuit. Der Operationskreis des Loi
calouls. Leipzig, Druck und Verlag von B. G. Teubner.
1877. (VI u. 37 8. gr S».) M. 1.
Die ursprünglich zuerst vonLeibniz ausgesprochene Idee, den
Formalismus der yon Aristoteles überkommenen Logik in ein
festes mathematisches System zu bringen und so die Lösung
der einschlägigen Angaben yon dem subjectiyen Denkyermögen
des Einzelnen yöllig unabhängig zu machen, diese grossartige
Idee iheilte leider mit den ihr aufs Engste yerbundenen
Schwestern^ der Pasigraphie und der allgemeinen geometri-
schen Charakteristik, das Loos^ über das erste rudimentäre
Stadium nicht hinauszukommen. Erst hundert und fünfzig
Jahre später ward ihr das Glück zu Theil^ yon dem trefflichen
englischen Mathematiker Boole wieder aufgenommen und nun-
mehr in zwei umfangreichen Werken (London 1847 und 1854)
gleich zu hoher Vollendung geführt zu werden. Andere
englische Gelehrte, wie Ellis und Cayley, arbeiteten specielle
Partieen der neuen Disciplin weiter aus, wogegen letztere auf
dem Continent so gut wie gar keinen Anklang fand und ledig-
lich die durch originelle Auffassung ausgezeichneten Gebrüder
Grassmann, yon den englischen Mustern durchaus nnbeeinflusst,
die Grundzüge der Denkrechnung in ihren arithmetischen Lehr-
büchern zur Darstellung brachten. Der Verfasser der yor-
liegenden Schrift gehört zu jenen Mathematikern Deutschlande,
welche yon Anfang an der philosophischen Seite ihrer Wissen-
112 BecenuoneQ.
Schaft eine besondere Theilnahme zugewendet haben ^ eine
Theilnahme, die besonders in seinem grossen „Lehrbuch der
Arithmetik und Algebra^^ (Leipzig 1878) und vielleicht noch
prägnanter in der Oelegenheitsschrift „Ueber die formalen
Elemente der absoluten Algebra'' (Stuttgart 1873) sich aus-
spricht. Die formale Algebra hat es mit Zahlen im weitesten
Sinne zu thun, das heisst mit gleichartigen discreten Elementen,
welche nach an sich willkürlichen und erst später beliebig
begränzten Yerbindungsgesetzen gegenseitig unter sich ver-
knüpft werden. In dieser ihrer allgemeinsten Formulirung
begreift diese mathematische üniversalwissenschaft die Logik
als besonderen Fall in sich, als einen Specialfall von beson-
ders hervorragender Wichtigkeit, der wohl eine gesonderte
Bearbeitung verdiente. Wenn man die Yorrede liest, gelangt
man denn auch zu der Yermuthung, es habe dem Yerf.
zuerst die Absicht vorgeschwebt, Boole's Methoden bei uns
einzubürgern, bei eingehenderem Studium aber habe er sich
überzeugt, dass denselben noch eine Menge überflüssigen alge-
braischen Beiwerkes beigemischt sei, und dass erst allmalig der
Plan, eine neue Grundlage für den Logikcalcul zu schaffen, bei
ihm Platz gegriffen habe. So gelangte er^ offenbar erst all-
malig und nicht mit Einem Ansatz, dazu, alles ünndthige
auszuscheiden und vor Allem den Ballast constanter Grössen
soweit als nur immer möglich zu entfernen. Diesen Yersuch,
die formale Logik in der denkbar einfachsten Gestalt darzulegen,
hat der Yerf. im vorvergangenen Jahre der Oeffentlichkeit über-
geben^ indem er eine mehr populäre Ausführung des Gegen-
standes, die denn auch im Interesse des grösseren Publicums
sehr zu wünschen wäre, der Folgezeit vorbehält.
Der einleitende Paragraph gliedert den Logikcalcul in eine
„Bechnung mit Begriffen'^ und in eine ,36cbnung mit Urtheilen'^,
welche beide Theile übrigens mit einander in so naher Be-
ziehung stehen, dass der zweite unmittelbar aus dem ersten
hergeleitet werden kann. Die Gesammtheit der einer be-
stimmten Glasse von Denk-Objecten angehörigen Individuen
wird, ebenso wie eine algebraische Zahl, durch einen Buch-
staben bezeichnet, welcher, wenn die Individuenanzahl sich
auf Eins reducirt, auch zur Charakterisirung eines Einzel-
begriffes, eines Eigennamens dient. Die vier Species der
Arithmetik flnden ihre logischen Analoga in den vier Grund-
operationen der Determination (Multiplication), Addition
(CoUection), Division (Abstraction) und Subtraction (Exception).
Nur darf hiebei nicht übersehen werden, dass von irgend
Rece&sioneo. 113
welohem FandamentalanterBohied 9 wie er in der Zahlenlehire
die BechnuDgsopeiationen der ersten und zweiten Stufe trennt,
hier keine Bede sein kann, wie denn auch die logischen
Operationen recht gut in bloss drei wirklich yerschiedene zu-
sammengerogen werden können, in die Multiplication, Addition
und Opposition (Negation). Angesichts dieses Sachverhaltes
möchte man yielleicht geneigt sein, die üebertraguug der
arithmetischen Kunstwörter auf logische Vorgänge für ein
vages Analogiespiel zu halten, allein dem ist in Wirklichkeit
nicht so ; das Gesetz der Permanenz, welches Hankel in seinen
YorlesuDgen über die Theorie der complexen Zahlensysteme
(Leipzig 1867, S. 10 ff.) entwickelt hat, bethätigt auch hier
noch seine Gültigkeit, und in der That exi stiren nicht nur
Aehnlichkeiten, sondern auch Identitäten, welche die Berechtigung
der gewählten Kamen ausser Zweifel setzen und die Ueber-
tragung mathematischer auf logische Begriffe rechtfertigen.
Lediglich in diesem Sinne durfte oben auch von con-
stanten Grössen im Logikcalcul gesprochen werden — ein
Ausdruck, der übrigens nicht vom Verf. herrührt, sondern für
welchen Beferent die volle Verantwortung übernimmt. Die
mit logischen Begriffen identiffcirten Buchstaben a^ b, c . . .
können im Allgemeinen in jeder neuen Aufgabe auch wieder
einen neuen Begriff repräsentiren, sind also in gewissem Sinne
variabel; dem gegenüber könnte man sich auch gewisse häufig
vorkommende Begriffe durch Symbole ausgedrückt denken,
welche ihre Bedeutung ein für allemal beibehalten und somit
den Constanten Grössen äquivalent sind. Je weniger solche
Symbole nothwendig, je einfacher und bekannten mathematischen
Zeichen adäquater sie sind, um so mehr Anspruch auf den
Titel einer einfachen und naturgemässen wird die von ihnen
abhängige Operationsmethode machen können. Gerade in
diesem Puriücationsgeschäft hat Schröder vor Boole das Bichtige
getroffen ; er befindet sich in der Lage, ausschliesslich mit den
beiden Gonstanteu 0 und 1 auszukommen, indem ersteres
Symbol „eine Glasse, zu welcher gar kein Individuum gehört'',
letzteres „die Gesammtheit alles Dessen, wovon überhaupt die
Bede sein kann'', umfassen soll. Gestützt auf diese Festsetzung
lässt sich dann ein sowohl seines metaphysischen Charakters
als auch seiner Verwendbarkeit willen bemerkenswerthes Gesetz
von folgendem Wortlaut formuliren: „Aus jeder in der Logik
geltenden allgemeinen Formel muss sich wiederum eine
richtige Formel ergeben, wenn man die Plus- und Minuszeichen
durchweg mit Multiplications- und Divisionszeichen und ausser^
VieTte^jahnschrift f. wisaenseliaflL Philosophie. III. 1. 8 <
114 BecenBionen.
dem die Symbole 0 und 1 mit einander yertauscht'^ Diese
Begel gestattet, die einzelnen logischen Wahrheiten genau in
derselben Weise dual einander zuzuordnen, wie dies in der
Ton einer entsprechenden polaren Gegensätzlichkeit beherrschten
Geometrie der Lage üblich ist; natürlich kann es wie dort, so
auch hier, sich selbst dual zugeordnete Sätze geben.
Wie jede Wissenschaft beginnt auch die unsrige mit
Definitionen und Axiomen. Abgesehen von der schon erwähnten
Disponirung über die Zeichen der Kuli und Einheit, bedarf es
eigentlich nur einer Definition der Gleichheit, des Productes
und der Summe. Das Product ab yersinnlicht das zweien
Begriffsgebieten gemeinsame Gebiet, die Summe (a-|-&) jenes
Gebiet, zu welchem sich a und i gegenseitig ergänzen. Geo-
metrische Darstellung der Begriffe durch Kreise, wie solche
in der formalen Logik seit alten Zeiten gebräuchlich ist, führt
uns das Wesen dieser Definitionen unmittelbar yor's Auge.
Wir möchten bei dieser Gelegenheit auf eine interessante
und unseres Wissens noch niemals hervorgehobene Wechsel-
beziehung zwischen diesen logischen Grundbegriffen und der
Lehre von der Flächenbestimmung in der Geometrie aufmerk-
sam machen. Sobald die ümfangslinie eines • begräozten
Elächentheiles keine mehrfachen Funkte aufweist, liegt der
Begriff des Flächeninhaltes offenkundig zu Tage; sowie der
Perimeter jedoch zu verschiedenen Malen sich selbst durch-
setzt, muss man nach dem Vorgänge von Meister und MÖbius
die einzelnen Flächenzellen mit Ooefficienten versehen und
jede Flächenzelle mit der ihr zugetheilten Zahl multiplicirt
in Bechnung bringen^), so dass etwa, wenn den fünf eine
Figur bildenden Partieen von der Grösse a, ij Ct d^ e resp.
die Coefficienten a, ßj y^ <5, 6 zukommen ^ der Flächeninhalt
durch den Ausdruck {aa -|- 6^ + cy + d<J + ee) gegeben erschien.
Gegen diese uns jetzt sehr natürlich scheinende Auffassung
ist vordem selbst von geachteten Fachleuten vielfach Verstössen
worden^ und dass ihr Yerständniss immerhin einen gewissen
Grad von Abstractionskraft erfordert, erhellt sicherlich aus
der Schwierigkeit, welche sie im geometrischen Unterrichte
dem Anfänger zu bereiten pflegt. Denken wir uns nun wieder
die beiden sich durchdringenden Begriffskreise gebildet, so
^) Vgl* betreffs der einzelnen Stadien, welche diese wichtige
Neuerung zu durchlaufen hatte, des Beferenten „Vermischte Unter-
suchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften''
(Leipzig 1876, S. 41 ff.).
Becensionen. 115
würde die rohere Aj^eicht yom Wesen des Flächeninhaltes als
Summe beider Kreise einfach das betrachtet wissen wollen,
was wir durch die Ic^ische Summe {a-{--b) ausdrücken; wir
aber müssen uns das gemeinschaftliche Kreiszweieck mit dem
Coefficienten 2 belegt denken. Befolgen wir sonach den von
Schröder gelegentlich gemachten Vorschlag, die logischen
Bechnungszeichen von den mathematischen durch Einklamme-
rung zu unterscheiden, so haben wir die unmittelbar aus dem
geometrischen Bilde entfli essende Gleichung
a+6 = a(+) 6 + a(.)6.
Abgesehen davon, dass diese Verbindung des eigentlichen
Bechnens mit dem formalen vielleicht eine gewisse pädagogische
Nützlichkeit für jene Classen höherer Mittelschulen hat, in
welchen gleichzeitig Geometrie und philosophische Propädeutik
gelehrt wird, kann sie wohl auch dazu dienen, die Anzahl der
zum Aufbau der jungen Wissenschaft unbedingt erforderlichen
Grundsätze einigermaassen zu verringern. So stellt unsere
Schrift (8. 8) die beiden Axiome
als selbstverständlich hin. Lassen wir jedoch nur das eine
derselben zu, etwa das zweite, und setzen das Ergebniss in der
obigen Bedingungsgleichung ein, so erhalten wir für b=a
a'\'a=a'\'a{.)a] a( .)a = a.
Damit wäre also ein Axiom in einen beweisbaren Lehr-
satz umgewandelt. Wir verkennen durchaus nicht ^ dass der
Verf. — gewiss mit Becht — auf eine möglichst geringe
Anzahl von Axiomen keinen besonderen Werth legt, allein für
die Zukunft scheint doch eine recht innige Belation zwischen
den Operationskreisen der Algebra und des Logikcalculs im
Interesse beider Wissenszweige zu liegen. —
Wir nehmen nach dieser Abschweifung den Faden unseres
Beferates wieder auf. Die Operationen der Addition und
Multiplication liefern für beliebig viele dadurch verknüpfte
Classensymbole immer wieder ein neues Classensymbol als
Ergebniss; die Fälle, für welche ab = 0 oder a+6=l, sind
unschwer zu erkennen. Ein der Buchstabenrechnung wie im
Logikcalcul gemeinsames Band bildet das beiderseits bestehende
Princip der Commutativität und Associativität, welches in der
formalen Algebra (z. B. in der Quaternionentheorie) keine all-
gemeine Gültigkeit besitzt. Andererseits bethätigen die be-
treffenden logischen Sätze wieder dadurch ihre Sonderstellung,
dass ihnen zum Theile die Eigenschaft der Umkehrbarkeit
abgeht. Als „specifische Gesetze des Logikcalculs^' erklärt der
8*
%1^ Recensioneo,
V^rfc die bereits oben erörterten Thatsachen a+a+. ..-ha^^a,
a,a.a,..a = üf ans welQh' letzterer * die Unmöglichkeit
des. Auftretens von Potenzen in der Denkrecbnang her-
Yorgeht, Das directe Distribntionsgesetz bat die bekannte
arithmetische Form, das umgekehrte (duale Gegenstück)
eine hieven abweichende. — Die bisherigen Betrachtungen
bezogen sich immer nur auf zwei oder mehr beliebig ans
der Menge herausgegriffene Classensymbole ; nun aber
stossen wir auf die den anderen Fartieen der formalen Algebra
fremde Erscheinung; dass zu jedem a eine „Ergänzung" a,
ezistirty welche beide Begriffe durch die Kelationen a%y = 09
a 4-* ^ = t> verbunden sind und durch dies ihr gegenseitiges
Verhalten die Aufstellung resp. Verificirung der Sätze 0 . a = 0,
l-|.a=l, a.l = a, a+0 = a ermöglichen. Die Logik be-
zeichnet in ihrer gewöhnlichen Terminologie das, was hier
Ergänzung genannt wurde, als contradictorischen Gegensatz.
Dass in der That nur ein einziger solcher, zu jedem a nur
ein a, oder non-a vorhanden, lässt sich erweisen, sobald vor-
her der Beweis dafür geführt worden ist, dass für simultanes
Bestehen der Gleichungen ac=bc, a-]- c=b-]rC nothwendig
a = h wird, und damit ist dann die aristotelische Basis der
Logik unter einem wesentlich neuen Gesichtspunkt wieder ge-
wonnen.
Eine unmittelbare Folge der Einführung des Index 1 ist
der Satz (öi)i = ö, speciell (0)i = l, (l)i = 0. Daran schliesst
sich eine Entwickelung allgemeiner logischer Functions-
ausdrücke von beliebig vielen „Yariabeln'^ nach solchen
Functions- Aggregaten, welche ausschliesslich die beiden ,)Con-
stanten^' 0 und 1 in sich enthalten, dafür aber jeweils mit
aus den Veränderlichen zusammengesetzten Goefdcienten be-
haftet sind. Der in der Vorlage gegebenen recurrenten Fassung
der Vorlage wäre vielleicht folgende independente vorzuziehen :
Um f{a(^^ . . . a^^^) in der erwähnten Weise zu entwickeln,
bilde man sämmtliche Combinationen mit Wiederholungen,
welche aus den beiden Elementen 0 und 1 zur Classe n ge-
bildet werden können , und multiplicire jedes /*(on*'0 ^^*
dem Producte a^^^ a^^^ . . . a^*^\ indem man noch jedem Factor,
welcher mit einer Null der Functionsklammer gleichwerthig ist,
den Index 1 beisetzt. Die Grössen a werden die „Constituenten^^,
die Grössen f die „Coefficienten'^ der Entwickelung; mit den
Aggregaten selbst rechnet es sich leicht, da beim Multipliciren
immer eine grosse Anzahl von Gliedern in Wegfall kommt.
Die betreffende Regel nennt der Verf., wohl im Hinblick auf
Becensionen. 117
«in AnalogoA der symbolischen Invariantenlehre, die „XJeber-
schiebangsregel^. Neue Gesichtspunkte bietet das wichtige
{sechzehnte) Theorem , welches besagt, dass die Gleichungen
■a-\'b=^0 und a& = 1 resp. in die Doppelgleicbung a = 6 = 0,
at=&s=sl eich auflösen. Damit ist es denn auch möglich
geworden, für irgend welche wie immer gestaltete Classen-
misdrücke die Negationen hinzuschreiben und somit auch an
logischen Gleichungen jene Operation durchzufahren, welche
man in der Sprache der Algebra „Eine Gleichung auf Null
bringen" nennt. Ein sehr eleganter, vom Verf. ob seiner
Wichtigkeit auch mit zwei verschiedenen Beweisen bekräftigter,
Satz sagt aus, dass man die Negation eines entwickelten Aus-
druckes einfach durch Negirang der sämmtlichen in demselben
vorkommenden Goefficienten erhält. In die zuletzt genannten
Sätze verlegt der Autor den wesentlichen Vorzug seiner
eigenen Methode vor derjenigen Boole's. Insbesondere aber
ist von Wichtigkeit die Einführung einer arbiträren Grösse,
welche dnrch das zwanzigste Theorem, „das Haupttheorem, in
welchem der ganze Logikcalcul gipfelt^, geleistet wird. Mit
ihm ist denn auch der eigentlich rechnerische Apparat so gut
wie abgeschlossen; und es handelt sich mehr nur noch darum,
-die Verwendung desselben nach zwei Seiten hin, nach der
mathematischen wie nach der logischen, klarzustellen. So hat
«s allerdings zunächst für den Mathematiker Interesse; zu
sehen, wie in diesem Specialgebiete der formalen Algebra die
ihm geläufigen Begriffe der Elimination, der Bestimmung einer
Gleichungswurzel , eines simultanen Systems von Gleichungen
u. s. w. ihre Aussenseite wechseln, allein das logische Sub-
strat fehlt ja keinem dieser Begriffe, wie denn z. B. der an
sich rein mathematische Satz, dass (alle Gleichungen eines
Systemes unter Voraussetzung der uns bekannten Vorschriften
in eine einzige zusammengezogen werden können, sich mit der
bekannten Wahrheit deckt, dass für das Zustandekommen
eines Schlusses die Anordnung der Prämissen willkürlich ist.
Während die formale Algebra im Allgemeinen nur Probleme
stellt und die möglicher Weise zu ihrer Lösung führenden
Wege andeutet, während ferner die gewöhnliche Algebra die
in ihr Bereich fallenden Fragen nur zum Theile abschliessend
zu. behandeln vermag, kennt die logische Algebra überhaupt
keine unlösbare Aufgabe, und insoferne wird m^H Schröder
Eecht geben müssen, wenn er (S. 24) behauptet; jene sei eben-
«osefar die vollkommenste, als die elementarste Disciplin»
welche der menschliche Geist construiren könne.
Wß Recensionen.
Der Kern der Theorie findet sich in dem sehr umfäng-
lichen zweiten Paragraphen, während der dritte wesentlich
der Discussion eines complicirten von Boole herrührenden
Beispieles gewidmet ist. Dieselbe ist in der That recht geeignet,
die Vortheile der Theorie im richtigen Licht erscheinen zu
lassen , einmal weil so ziemlich alle Einzelsätze aus dem
früheren Theile dabei eine Bolle spielen, und dann, weil die
Entscheidung des vorgelegten Gomplexes von Fragen auf bloss
reflectirendem Wege^ ohne die Hilfsmittel des Calculs, selbst
für denkgeübte Männer eine harte Nuss abgeben würde. Der
vierte Paragraph, welcher es hauptsächlich mit der Special-
bedeutung der inversen Bechnungsoperationen zu thun hat und
dabei vielfach in eine einlässliche Kritik der Boole'schen
Aufstellungen sich vertieft, kann und muss seiner engeren
Tendenz halber in diesem für ein allgemeineres Publicum
bestimmten Berichte bloss erwähnt werden.
Die Schrift Schröder*s hat den Aufbau einer strenge
formalen Denklehre aus den einfachsten Gründen und mit den
elementarsten Hilfsmitteln um ein sehr Beträchtliches gefördert,
wo nicht zum vollen Abschlüsse gebracht. Gegner dieser seit
Aristoteles für alle anderen Abzweigungen des Wissens und
Erkennens maassgebenden Doctrin hat es von je gegeben (vgl.
Drobisch's Logik, Vorrede zur ersten Auflage), und diese werden
wohl auch an dem neuesten Fortschritt, den dieselbe durch
ihre enge Verbindung mit der Mathematik zu machen wusste,
Vielerlei auszusetzen wissen. Allein das wird die vollzogene
Thatsache nicht aus der Welt schaffen. Ein nicht unberech-
tigter Wunsch des Beferenten, den wohl mancher Leser mit
ihm theilt, wäre allerdings der gewesen, dass der Verf. die
Abstraction etwas weniger hätte walten lassen, als er es factisch
that; mehr Exempel wären bei der Leetüre sehr angenehm^);
wenn z. B. Boole in einem seiner charakteristischen Beispiele
(Transactions of London, 1869) eine Gesellschaft von r Personen
einführt, von denen p Böcke und q Westen tragen und nun
nach der Anzahl derjenigen fragt, welche weder Bock noch
Weste tragen, so ist man ungleich rascher orientirt, als dies
z. B. die immerhin nicht ganz einfache Formulirung des
Generalproblemes in § 3 gestattet. Auch das englische Vorbild
ist bei eingehenderem Studium der Schröder'schen Ideen vor-
^) In dieser Hinsicht sei auf ein sehr lichtvolles Referat von
Schubert im Jahresberichte der mathematischen Gesellschaft zu
Hamburg verwiesen.
Selbstanzeigen. 119
]äQ% nicht wohl zu entbehren. Allein das sind Accidentien,
nnd zndem verspricht uns ja der Verf. gegenwärtiger Abhand-
lung, welche einstweilen mehr den Zweck eines Programmes
verfolgt; eine populärere und ausführlichere Darstellung nach-
folgen zu lassen. Wir wünschen, dass dies recht bald ge-
schehen möge, glauben aber, dass auch die hier besprochenen
y^olegomena zu einer neuen Darstellung der formalen Logik'',
wie man sich füglich ausdrücken könnte^ unter Mathematikern
wie Philosophen bereits jetzt sich ein theilnehmendes und
ansehnliches Publicum erwerben werden.
Ansbach. S. Günther.
Selbstanzeigen.
Zur gefälligen Beachtung.
Beim Beginn des neuen Jahrganges erlaubt sich die
Redaction in geneigte Erinnerung zu bringen, dass — gemäss
demProspect dieser Zeitschrift (vergl. Jahrg. I, Heft 1 u. 2)
— die „Selbstanzeigen"
nur auf da^enige aufmerksam machen sollen , worin
nach der eigenen Auffassung der Herren Autoren das
Neue, hez.Cha/if*akteri8ti8che ihrer neuerschienenen
Werke besteht. —
Von der Thatsache ausgehend, dass die durch eine grosse
literarische Production gebräuchlich und nothwendig gewordenen
kurzen Notizen, welche — ohne irgend welche Kritik zu
üben — dennoch unter der Rubrik „Recensionen'' in den wissen-
schaftlichen Zeitschriften gebracht zu werden pflegen, oft eben
durch ihre Kürze den Herren Autoren Anlass zu
Klagen über „Missverstehen, bez. Kichtbemerken
ihrer eigentlichen Intentionen" geben — von dieser
nicht seltenen Wahrnehmung ausgehend hofft die Redaction
durch die Rubrik „Selbstanzeigen'* solche in manchem Betracht
unentbehrlich gewordene kurze Recensentenanzeigen durch
authentische Idttheilungen zu ersetzen, welche, da sie von
den Yerfassem der Werke selbst herrühren, sowohl den Herren
Autoren die Gewissheit einer ihren wissenschaft-
lichen Intentionen entsprechenden Berichter-
stattung, als auch den geehrten Lesern die Garantie
einer im Sinne der Verfasser zuverlässig unver-
1
120 Selbstanseigen.
fälschten Charakteristik der neuen Erscheinungen su
bieten. Zugleich giebt der Autor den Lesern ein Mittel in
die Handy die Darstellung der Becensentenreferate zu con-
troliren — ein Umstand, weldier auf die Zuverlässigkeit
^er letzteren nur günstig zurückwirken kann. Die erwähnten
Leistungen der ,,Selb8tanzeigen'' dürften als Vorzüge zu be-
zeichnen sein^ welche diese Institution auch für den Fall
empfehlen, dass die Herren Autoren anderweite, eingehende
und competente Beurtheilungen ihrer Werke bestimmt erwarten.
Demgemäss hofft die Redaction, den wissenschaftlichen
Ansprüchen der Verfasser wie der Leser gleichmassig gerecht
zu werden, und zwar um so mehr, als sie sich dadurch die
Freiheit bewahrt, in der Rubrik der ^^Recensionen'' auch wirk-
lich, wenn nöthig längere, immer aber kritische Be-
sprechungen der neueren Werke und dadurch eine Förderung
der daselbst niedergelegten Problembehandlung zu geben. Von
solchen y^Recensionen" sind die selbstangezeigten Werke durch
die blosse Thatsache der ^^Selbstanzeige^' nicht ausgeschlossen.
Lidem die Redaction sich beehrt, ihre Einladung an die
Herren Autoren zur Benutzung der Rubrik der „Selbstanzeigen'^
hiermit ergebenst zu erneuern, erlaubt sie sich, darauf hinzu-
weisen, dass als zur Erfüllung des Zweckes der „Selbst anzeigen' '
ungeeignet insbesondere solche Notizen betrachtet und mithin
Ton der Zulassung ausgeschlossen werden müssten, welche
1) den Charakter von buchhändlerischerseits erlassenen An-
zeigen behufs geschäftlicher Einführung der betr. Werke nicht
überschreiten ; 2) welche wesentlich nur eine Copie der Capitel-
überschriften enüialten; und 3) welche ihre Problembehandlung
und Lösung einfach als eine „neue'^ und ,,eigenthümliche'' be-
zeichnen, ohne anzugeben, worin eben das „Neue" und „Eigen-
thümliche'^ bestehe.
Dringend wünschenswerth ist, dass der Umfang der ,,Selbst-
anzeigen'' den im Prospecte zur Verfügung gestellten Raum
von ^3 bis ^/s Druckseite innehalte, und dass sowohl die Titel-
angabe als der Text der „Selbstanzeige'' in deutlich lesbarer
Handschrift eingesandt werde; letzteres erscheint um so mehr
erfordert, als es nicht möglich ist, Abzüge der „Selbstanzeigen''
den Herren Verfassern zur Revision vorzulegen.
Die Redaction übernimmt keine Verpflichtung zur Auf-
nahme, bez. Rücksendung eingesandter und keine andere als
die ihr zukommende juristische Verantwortlichkeit für die ver-
öffentlichten „Selbstanzeigen".
Selbatanseig«!. X21
Byk, 8. A. Die Physiologie des Schönen. Leipsig,
Moritz Schäfer, 1878. (YI. u. 286 8. gr. 8.).
Der Verfasser ist bestrebt, die Lehre vom Schönen Tom
nnberechtigten Einflüsse der Torgefassten Meinung über die
Bescbaflfenheit des metaphysischen Principes zu befreien und
sowohl die Entwickelung als die Auseinanderlegung desselben
in seine manigfaltigen Formen aus seiner inneren und äusseren
l^othwendigkeit im Zusammenhange mit der des empfindenden
fiubjectes zu erklären. Dazu schien ihm die physiologische
Methode am geeignetsten» die uns den fortschreitenden geistigen
Process innerhalb der Bedingungen der Materie vorführt. Der Verf.
fiucht aus der ersten einfachen ästhetischen Thatsache die weitere
Entwickelung und Entfaltung der manigfaltigen Gestalten
innerhalb derselben Form abzuleiten und nachzuweisen , dass
sie nur durch das Hinzukommen neuer logischer Momente,
psychologischer Ideen associationen oder äusserer Umstände ans
ihr entstanden sind. Ebenso erklärt er daraus die manig-
faltigen Gestalten, die dieselbe ästhetische Form bei ver-
achiedenen Völkern angenommen hat und macht auf den Ein-
fluss aufmerksam 9 den das Leben und die technischen Be-
dingungen auf die Gestaltung der Kunst ausgeübt haben ^ wie
auch auf die Rückwirkung ihrer Gestalten auf das Schönheits-
ideal, was er an der Hand der Geschichte und der ästhetischen
Thatsachen festzustellen sich bemüht.
Diese Methode hat der Verfasser auch bei seiner Behand-
lung des Hässlichen festgehalten, dessen Fortschreiten von
seinem Entstehen aus den Trümmern des über sich selbst
hinaustreibenden Schönen er stetig bis zu seiner höchsten
Stufe verfolgt, in der es als unvereinbarer ViTiderspruch das
Wesen des Schönen selbst ergreift, welches der Verfasser in
der allen Erörterungen vorangehenden analytischen Untersuchung
des Schönen als abstracten Urtypus aller Schönheitsformen hin-
gestellt hat.
Srdmann^ Benno. Immanuel Kaut's Kritik der reinen
Vernunft. Herausgegeben von B. Er d mann. Leipzig,
Leop. Voss. 1878. XVI. u. 676 S.
Die Veranlassung zu dieser Ausgabe bot die Wahr-
nehmung, dass in den bisherigen Ausgaben nicht wenige sach-
lich bedeutsame Differenzen der beiden ersten Auflagen der
Kr. d. r. V. übersehen worden sind, und dass der in Folge
der schnellen Niederschrift sowie des nachlässigen Druckes
der Schrift sehr mangelhafte Text eine um vieles grössere
122 Selbstanseigen«
Menge von Correcturen fordert^ als bisher yenucht- worden
Bind. Der Text der zweiten Auflage ist; wie nicht gerecht-
fertigt zo werden braucht, zum Grundtext gewählt. Diejenigen
sachlichen Differenzen , die einen unmittelbaren Vergleich mit
der späteren Bearbeitung zulassen, sind als Anmerkungen, die
anderen (Vorwort, Deduction, Kritik der Paralogismen) als
Beilagen angefügt worden. Die sprachlichen Veränderungen^
sowie die Correcturen des Herausgebers sind in einem ;^n-
hang zur Textrevision^' verzeichnet. Die Originalpaginirnng
der zweiten Auflage ist durch Bandzahlen zum Abdruck ge-
bracht worden. Der Herausgeber schlägt vor, dieselbe künftig*
hin als Normalpaginirung zu benützen.
Srdxnann, Benno« Eant's Kriticismus in der ersten
u. zweiten Auflage der Kr. d. r. V. Eine historische
Untersuchung. Leipzig, L. Voss. 1878. XI. u. 247 S.
Kant selbst hat mehrfach erklärt, dass die zweite Be*
arbeitung seiner Kr. d. r. V. durch die Missverständnisse und
Angriffe bedingt sei, die das Werk in seiner ursprünglichen
Gestalt erfahren habe. Der Verfasser giebt daher nach einer
Analyse der ersten Auflage, soweit die letztere für die spätere
Umarbeitung in Betracht kommt, eine historische Darstellung
der Bewegung um die Kr. d. r. V. in den Jahren 1782 — 1786,
einerseits der Gegner, Vermittler und Anhänger ^ andererseits
des Spinozastreits. Aus der Art der Bück Wirkung dieser Be-
wegung auf K., die sich in den Schriften desselben aus dieser
Zeit documentirt und durch mannigfache andere Quellen näher
bestimmt wird, ergeben sich sodann die Motive, die für die
Neubearbeitung wirksam waren: der Wunsch nach Erläuterung
des Sinnes der Lehre, das Streben nach Hervorhebung der
positiven Bedeutung derselben in metaphysischer und ethischer
Hinsicht, der Versuch einer Abwehr des ihm von allen Seiten
aufgebürdeten Idealismus, die Absicht einer Klärung der
Argumentation der Deduction. Das letzte Gapitel sucht zu
zeigen, inwiefern diese neu hinzugetretenen Motive den Inhalt
wie den Zusammenhang der ursprünglichen Gedanken in mehr-
facher Hinsicht modiflciren mussten: der kritische, anti-
dogmatische Hauptzweck wird schärfer betont, obgleich andrer-
seits durch eine missverständliche Einleitung geschwächt und
durch Andeutungen seiner positiven Bedeutung verdunkelt.
Die Wirklichkeit der Dinge (u. des Ich) an sich, die anfangs
selbstverständliche Voraussetzung war, wird nicht bloss wie
in den Prolegomenen specifisches Merkmal, sondern Problem,
d. i. ein Gegenstand besonderer Beweise.
Philosophische Zeitschriften. 123
Beady Carreih« On the Theory of Logic : an Essay. London,
C. K^an Faul & Co., 1878. (XIL and 258 pp. 8.)
This is an attempt to reconstitnte the science of Logic
by combining hannonizing and systematizing the yiews of J. S.
Milly A. Bain and H. Spencer. It does so chiefly in two ways,
1) by regarding Logic as an abstract science coordinate with
Mathematics, and treating not of thought or language, bnt
of the relations of phenomena as such (whilst Mathematics
treats of the quantitative relations of phenomena, Logic treats
of their qualitatiTe relations): 2) by readopting the synthetic
Order of exposition, so that Liduction finds its place between
Definition (with some simpler topics) and Deduction, instead
of being treated apart as by J. S. Mill.
Philosophische Zeitschriften.
Philosophisohe Monatshefte. Unter Mitwirkung von Dr.
F. Ascherson etc., redigirt und herausgegeben von
G. Schaarschmidt.
Band XIV, Heft 5: K. Ch. Planck: Das Causalgesetz
in seiner rein logischen und in seiner realen Form. — L. Wei s:
Herder und die moderne Naturphilosophie (zugleich Anzeige
von V, Bärenbach, Herder als Vorgänger Darwins). — Fr.
Michelis, die Philosophie des Bewusstseins ; bespr. von C.
Schaarschmidt. — A. Meinong, Hume-Studien, I; angez.
von demselben. — L. Eabus, Philosophie und Theologie; rec.
von F r e d e r i c h 8. — ■. K. Schramm, Die Erkennbarkeit Gottes etc. ;
rec. von demselben. — J. E. Erdmann, Grundr. der Geschichte
der Philosophie, 3. Aufl.; angez. von C. Schaarschmidt.
— Litteraturbericht : Boeckh, Huber, Späth, Bahnsen, Wildauer,
Emminger, Lütze, Bullinger, Weil, Weber. — Bibliographie
von F. Ascherson. — Philos. Vorlesungen. — Kecensionen-
Verzeichniss. — Aus Zeitschriften. — Miscelle.
Band XIV, Heft 6: Baumann: Kurze Darstellung der
Philosophie Fr. v. Baader's. — Tobias, Grenzen der Philo-
sophie etc.; bespr. von E. Arnold t. — A. Spir, Denken
und Wirklichkeit; bespr. von Th. Lipps. — R. Eucken, Ge-
schichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart; bespr.
von G. Schaarschmidt. — E. Pfleiderer , Die Idee eines
goldenen Zeitalters. — H. Spitta, Die Schlaf- und Traum-
1
^24 PhüOBophiBche Zeitschriften.
zustande der sdenschL Seele; beapr. yon Böhm. — Bins, üeber
den Traum; bespr. von demselben. — Lltteratnrberiohi :
Kirchner, Grant-Imelmann, Jan Holland, v. Bärenbach^ Haber,
Spaeth^ Kaulich. — Bibliographie von F. Ascherson. —
FhiloB. Vorlesungen. — Eecensionen-Veraeichniis. -r- Au«
Zeitechriften. - — Miscelle.
Baad XIV, Heft 7: C. Schaarschmidt : Zur Wider-
legung des subjectiven Idealismus. — Cohen, Kantus Begrün-
dung der Ethik; bespr. von Knauer. — Ueberhorst, die Ent-
stehung der Gesichtswahmehmung ; bespr. von W. Schuppe.
— H. V. Stein, Ueber Wahrnehmung ; bespr. v. demselben. —
€1. Blaeumker^ Des Aristoteles Lehre von dem äusseren und
inneren Sinnesvermögen; bespr. von J. Neu haus er. — J. A-
Piväny, Entstehungsgeschichte des Welt- und Erdgebäudes etc. ;
bespr. von Siegfried. — Bibliographie von F. Ascherson.
— Recensionen- Verzeichnisa. — Aus Zeitschriften. — Miscelle.
2eit80hrift für Philosophie und philosophische Kritik,
herausgegeben von J. H. v. Fichte, H. Ulrici and
J. ü. Wirth. N. F.
Band LXXIII, Heft 1: B. Weiss: Untersuchungen über
Fr. Schleiermachers Dialektik (l. Theil). — Fr. Bertram:
Die Unsterblichkeitslehre Plato's (2, Hälfte). — lif. Schasler:
Zur Geschichte der Ironie. — K. Seydel: Ueber die Frage
nach der Erkenntniss der Dinge - an - sich. — Becensionen:
Persönlichkeits -Pantheismus und Theismus; von Fr. Hoff-
mann (1. Hälfte). — Philosophie der Freiheit dargestellt
für deutsche Laien; von A. Krohn. — A. Emminger, Die
vorsokratischen Philosophen etc.; von demselben. — T. Wildauer,
Die Psychologie des Willens bei Sokrates etc.; von demselben.
— W. Biehl, Die Erziehungslehre des Aristoteles; von dem-
selben. — In Sachen Herder's und Darwin's ; von v. B ä r e n -
bach. — Bibliographie.
Heft 2: G. Glogau: Darlegung und Kritik des Grund-
gedankens der Cartesianischen Metaphysik. — E. Dreher:
Zum Verständniss der Sinneswahrnehmungen (IV). — Recen-
sionen: Persönlichkeits - Pantheismus und Theismus; von Fr.
Hoff mann (2. Hälfte). — W. Shields, Eeligion and Science
in their Belation to Philosophy ; von A. Krohn. — Newman
Smyth, the Beligious Feelinllg; von demselben. — J. Kreyen-
bühl, Beligion und Ohristenthum ; von demselben. — S. A. Byk,
Die vorsokratische Philosophie der Griechen etc., II. Theil;
von demselben. — G. B. Halstead, Boole's Logioal Method;
von H. Ulrici.
Philosophische ZeitsehrifteD. 12&-
B^Tiie Phüosophique de la Franoe et de l^tranger,
dingte par Tb. Bibot (Paris, Librairie Oermer Bailli^re
et Cie.)
Uly 7: G.Oompayre: Origines de la Psychologie ^yo-
lutionniste : La Psychologie de Lamarck. — T. Y. Gharpen-
tier: La Logiqae du hasard, d'aptis J. Y enn. — D. Nolen?
Les nouvelles Philoeophies en AUemagne. — Notes et docu-
ments: Le Sens muscnlaire, d'apr^s G. H. Lowes. — Essais
sor le syllogisme. L Les trois Figures, par P. Tanner y. -—
Analyses et eomptes rendus: Steinthal, Der Ursprung der
Sprache. — Lilienfeld, Gedanken über die Socialwissenschaft
der Zukunft. — Revue des P^riodiques ^trangers.
III, 8: H. Spencer: Etudes de sociologie (dorn. art.).
Th. Bibot: Les Theories allemandes sur l'espace tactile. —
T. Y. Charpentier: La Logique du hasard ; d'apres J. Yenn
(flu). — Analyses et eomptes rendus: Ferrier, Lectures on
cerebral localisation. — Fechner, Yorschule der Aesthetik. —
Lexis, Theorie der Massenerscheinungen in der menschl. Ge-
sellschaft. — Hess, Dynamische Stofflehre. — Ferraz, Philo-
sophie du devoir. — Revue des Päriodiques ^trangers.
UI^ 9 : W. W u n d t : Sur la th^orie des signes locaux. —
N. Grote: Essai dune Classification nouvelle des sentiments.
— F. Paulhan: La Theorie de Vinconnaissable de H. Spencer.
— Notes et documents: Le lapsus de la vision, par Y. Egger.
— Application de l'algebre au syllogisme, par P. Tannery,
— Analyses et eomptes rendus: Dauriac: Des Notions de
matiöre et de force dans les sciences de la nature. — Gizycki :
Philosophische Gonsequenzen der Lamarck - Darwin'schen Ent-
wickelungstheorie. — Flint: The Theism. — Revue des
Periodiques.
Wndy a quarterly Review of Psychology and Philosophy>
ed. by G. G. Robertson. (London ^ Williams and
Norgate.)
No. 11: G. J. Romanos: Consciousness of Time. —
A. Bain: Education as a Science (III). — Grant Allen:
The Origin of de Sublime. — D. Greenleaf Thompson:
Intuition and Inference (I). — A. Sidgwick: The Negative
Character of Logic. — W. H. S. Monck: Butler's Ethical
System. — W. Cunningham: Political Economy as a Moral
Science. — Critical Notices : Pillon's Introd. to Hume's Treatise
of Human Nature, and Meinong's Hume- Studien, by G. C.
Robertson; Huber's Forschung nach der Materie, by A d a m -
/
126 Bibliographische Mittheilangen.
80 n. — Reports: An Infant's Frogress in Language, hj F.
Pollock; Note Deafness^ by Edith Simoox and Grant
Allen. — Notes and Discussions: The Genesis of Disintereeted
Benevolenoe, by F. Friedmann; Mr. Sully on Fessimism,
by Caryeth Eead; Prof. Jevons on Mill's Experimental
Methods, by Adamson; Necessary Connexion and Inductive
Beasoning, by W. G. Da vi es. — New Books. — News.
No. 12: G. Stanley Hall: The Muscular Ferception
of Space. — A. Bain: Edncation as a Science (IV). —
D. Greenleaf Thompson: Intuition and Inference (II). —
A. J. Balfour: Transcendentalism« — G. Barzellottir
Philosophy in Italy. — Critical Notices: Read's Theory of
LogiC; by J. V e n n ; Perez' Trois premi^res ann^es de l'Enfant,
by F. Pollock; Turbiglio's Antitesi tra il Medioeyo e TEti
moderna nella storia della Filosofia, by B. Flint; Erdmann's
Axiome der Geometrie, by .T. F. N. Land. — Reports : Con-
sciousness ander Chloroform, by H. Spencer; The Semi-
circular Ganais and the „Sense of Space'', by G. G. Robert-
son. — Notes and Discussions: Logic and the Elements of
Geometry, by Dr. H i r s t and G. C. Robertson; Hegelianism
and Psychology, by R. B. H a 1 d a n e ; The Rule of Three in
Metaphysics, by J. T. Lingard; The Foundation of Arith-
metic, by HensleighWedgwood. — New Books. — News.
La FiloBofia delle Souole Italiane ^ Rivista bimestrale.
Diretta da T. Mamiani e L. Ferri.
XVIII, 1: T. Mamiani: Della crescente necessitä delle
sintesi abbreviative. — G. Barzellotti: La critica della
conoscenza e la metafisica depo il Kant. — F. Bonatelli:
Truccioli di filosofia, ossia Girolamo Clario. — G. AUieyo:
La personalitä umana. — Bibliografia: A. Conti; P. Siciliani;
G. Fontana; A. Paoli; A. Martinazzoli. — Periodici di filo-
sofia. — Notizie. — Recenti pubblicazioni.
BlbllograpUsche Mittheilnngen.
Bonwetseh^ Fast. G. Nathanael^ die Schriften Tertullians naoh
der Zeit ihrer Abfassung untersucht, gr. 8. (89 S.) Bonn,
A. Marcus. 2 Mk.
Bonssinesq (J.)* — Conoiliation du veritable determiniBme
meoanique aveo Tezistenee de la vie et de la liberte morale.
In-8. 5 fr. Extrait des M^moires de la Soci^t^ des Sciences de Lille.
Bibliograpliische Mittibeilnngen. 127
Byk, S. A., die Physiologie d. SohSnen. gr. 8. (287 S.) Leipiig,
M. Schäfer. 6 Mk.
Carette (le colonel £•). — ^Stades sur les temps antehistoriques.
Premiere ^tade: le Langage. In-8. 8 fr.
Caspar!, Otto, Virohow und Hseckel vor dem Forum der
methodologiBChen Forsohuxig. gr. 8. (32 S.) Aagsbnig, Lam-
part & Co. 1 M.
Barwin's, Ch», gesammelte Werke. Autoris. deutsche Ansg. Ans
dem Engl, übers, von J. Vict. Canis. Mit über 200 (eingedr.) Holz-
schn., 7 Fhotogr., 4 Karten u. dem Fortr. d. Verf. 80 — 85. (Schluss-)
Lfg. gr. 8. (12. Bd. I. Abth. X, 400 u. 2. Abth. VI, 104 S.) Statt-
gart, SchweizerbarL 1 Mk. 20 Ff.
Deschamps, Frof. Dr. Ars^ne, la genese du soeptieisme 6rudit
chez Bayle. gr. 8. (238 S.) Li^ge. Bonn, Strauss. 6 Mk.
Bieterioh, Dr. Konr., Kant und Rousseau, gr. 8. (XIII, 200 S.)
Tübingen, Lanpp. 4 Mk.
Doergens, Hermann, Grundlinien einer Wissenschaft der Qe-
schichte. 2 Bde. gr. 8. Leipzig, C. F. Winter. 6 Mk. 60 Ff.
Inhalt: 1. Ueber das Bewegungsgesetz der Geschichte. 2. verm.
Ausg. Mit 2 das Wachsthum der Ideen in der Geschichte veran-
schaulichend. (11 th.) Schichtenkarten. (VI, 98 S.) 1 Mk. 60 Ff. —
2. Die Nationalitäten. Uebersicht und Ergebnisse der aus ihrem An-
theile hervorgegangenen staatspolitischen Entwicklung Europas. 2. er-
gänzte Ausg. Mit 6. Anh. päpstl. u. staatl. Urkunden in ihren Ur-
texten, sowie e. chronolog. Frojection die Signatura Temporum dar-
stellend, (in gr. Fol.) (XI, 379 S.) 5 Mk.
Döring, Dir. Dr. A«, lieber den Begriff der Philosophie, gr. 8.
(V, 52 S.) Dortmund, Koppen. 1 Mk. 20 Ff.
Engels, Frdr., Herrn Eug. Dühring's Umwälzung der Wissen-
schaft. Philosophie. Folitische Oekonomie. Socialismus. 8. (274 S.)
Leipzig, Genossenschaftsdruckerei. 3 Mk.
£rdmann, Privatdoc. Dr. Benno, Elant's Kriticismus in der 1. und
2. Aufl. der Kritik der reinen Vernunft. Eine histor. Unter-
suchung, gr. 8. (XI, 247 S.) Leipzig, Voss. 7 Mk. 20 Ff.
Fichte, J* H* y*. Der neue Spiritualismus, sein Werth u. seine
Täuschungen. Eine anthropolog. Studie, gr. 8. (105 S.) 2 Mk.
Francke, Dr. Karl Bemh., die Psychologie und Erkenntniss-
lehre des Arnobius. Ein Beitrag zur Geschichte der patrist. FhUo-
sophie. gr. 8. (82 S.) Leipzig, Böhme. 1 Mk. 20 Ff.
Onjan. — La Morale dlfepicure et ses rapports avec les
doctrines eontemporaines. In-8. 6 fr. 50 cts.
Haeckel, Ernst, freie Wissenschaft und freie Iiehre. Eine Ent-
gegnung auf Bud. Virchow*s Münchener Bede über „Die Freiheit der
Wissenschaft im modernen Staat*' gr. 8. (106 S.) Stuttgart, Schweizer-
bart. 2 Mk.
Jellinek, Dr. Geo«, die sooialethische Bedeutung von Becht,
Unrecht und Strafe, gr.8. (IV, 131 S.) Wien, Holder. 2 Mk. 80 Ff.
Kant's, Immannel, Kritik der reinen Vernunft. Herausg. von
Benno Erdmann. gr. 8. (XVI, 676 S.) Leipzig, Voss. 4 Mk. 50 Ff.
Kirchmann, Fräsid. a. D. y*, über die Wahrscheinlichkeit. Ein
Vortrag. (Aas: „Verhandl. der philosoph. Gesellschaft; zu Berlin'*.)
gr. 8. (60 S.) Leipzig, Koschny. 1 Mk. 20 Ff.
I
128 Bibliographische MittheiiiingeD.
Krause, Albr*^ Kant und Helmholta über den Ursprung und
die Bedeutung d. Baumanschauung und der geometrischen
Axiome, gr. 8. (VI» 94 S.) Lahr, Schauenbnrg. 3 Mk.
Meylan^ A.^ Jean Jacques Rousseau. Sein Leben u. seine Werke.
Biographische, krit. u. histor. Stndie nebst bisher noch ungedmckten
Aktenstücken and einem Portrait J. J. Uoasseau^s (Holzschnitttafel).
8. (IV, 151 S.) Bern, Haller. 2 Mk.
— , Jean-Jacques Rousseau, sa vie et ses oeuvres, lätude bio-
graphique, critiqne et historique, accompagn^e de documents officiels
et in^dits. Avec an portrait de J.-J. Boasseaa (Holzschnitttafel). 8.
(IV, Ibd S.) Ebd. 2 Mk.
Morlejy John^ Diderot and the Encyolopaedists« 2 vols. 8to.
11. 6s.
Mühry, Dr. Adf«, über die exaote Natur-Philosophie. 2. verm.
Ausg. 8. (VI, 101 S.) Göttingen, Dieterich's Verl. 1 Mk. 20 Ff.
Pelletan OB^ST^i^®)* — Uu Roi philosophe ; le Qrand Frederic.
NouTelle Edition. In-12. 3 fr. 50 cts.
Pfleiderer, Otto^ die Religion, ihr "Wesen und ihre G-eschichtr^
aaf Grand d. gegenwärt. Standes der philosoph. a. d. histor. Wissen-
schaft dargestellt. 2 Bde. 2. Aafl. gr. 8. (XIII , 413 n. 495 S.)
Leipzig, Fues. 12 Mk.
Bami^re (le P. Henry), — Xi'Accord de la Philosophie de saint
Thomas et de la science moderne au sujet de la composition
des Corps. In-S. 1 fr. 25 cts.
Reich; Dr. Ed*9 die Gestalt d. Menschen u. deren Beziehungen
zum Seelenleben, gr. 8. (XII, 360 S.) Heidelberg, C. Winter«
10 Mark.
Bnbinstein, Dr. Snsanna^ psychologisch - ästhetische Essays,
gr. 8. (199 S.) Heidelberg, C. Winter. 6 Mk.
Sammlung physiologischer Abhandlungen heraasg. t. W. Preyer.
2. Reihe. 2. Heft. gr. 8. Jena, Fischer. 1 Mk. 60 Pf. Inhalt:
Entwarf einer Psychologie der Licht- and Farbenempfindang von Dr.
A. Glassen. (50 S.)
Sanctis^ Minister Francesco de^ die 'Wissenschaft und das lieben.
Inaagnralrede. Antoris. deatsche Ansg. Mit einem Vorwort v. Prof.
Carl Goldbeck. 8. (VI, 32 S.) Berün, Friedber^ & Mode. 80 Pf.
SauY^ (Mgr.). — De l'Union substantielle de Täme et du corps.
In-8. S fr.
Schäffle^ Minister a. D. Dr. Alb. £• Fr«, Bau und lieben des
socialen Körpers. Encyclopädischer Entwarf einer realen Anatomie,
{| Physiologie and Psychologie der menschl. Gesellschaft, mit besond.
Bücksicht aaf die Volks wirthschaft als socialen Stoffwechsel. 3. Theil.
Specielle Socialwissenschaft 1. Hälfte, gr. 8. (XV, 575 S.) Tübingen,
Lanpp. 10 Mk. (l~-3: 34 Mk.)
Schmitz-Dnmonty O«, die mathematischen Elemente der Er-
kenntnisstheorie. Grandriss einer Philosophie der mathemsbischen
Wissenschaften, gr. 8. (XV, 452 S.) Berlin, C. Dancker. 12 Mk.
Sehnedermann 5 Oberlehrer Dr. Frz.^ über die beiden Haupt-
perioden in Schillers Ethik mit Bücksicht aaf das Verhältniss
des Dichters za Kant. gr. 8. (33 S.) Leipzig, Hinrich*8 Verl. 60 Pf.
Picrar'flehe Hoflrachdnickani. Stephan 0«ibel * Co. in Altenlmrg.
üeber das Yerhältniss der Gefahle zu den
Yorstellimgen.
Das VerhäUniss der Gefühle zu den übrigen Bestand-
theilen des psychischen Geschehens bildet eines jener Probleme
der Psychologie y bei denen diese, wie es scheint, nicht über
den Streit gewisser principieller Gegensätze hinaus kommt. Die
einander bekämpfenden Anschauungen nehmen zwar zuweilen
veränderte C^talten an, aber unter der neuen Maske entdecken
wir bei näherem Zusehen doch meistens wieder ein längst be-
kanntes Gesicht. £in derartiger Zustand der Dinge pflegt be-
kanntlich ein ziemlich sicheres Zeichen dafür zu sein, dass
man es mit einer Frage zu thun hat, bei deren Beantwortung
eine Neigung besteht, speculative Erwägungen oder ethische
Forderungen heranzuziehen. Wenn selbst andere Motive dieser
Art fehlen , so macht sich mindestens jener speculative Ein-
heitstrieb bemerklich, welcher alle Erscheinungen möglichst aus
einer Quelle abzuleiten und, wenn ihm die Erfahrung keine
zureichenden Gründe an die Hand giebt, schliesslich durch
einen Machtspruch sein Ziel zu erreichen sucht. So hat man
denn auch den Dualismus von Gefühl und Vorstellung meistens
dadurch beseitigt, dass man das Fühlen und Begehren als eine
Form des Yorstellens betrachtete oder auf eine Wechselwirkung
der Vorstellungen zurückführte. Diese Anschauung, die zuletzt
in Herbart's Mechanik der Vorstellungen ihren vollendetsten
Ausdruck fand, stützte sich auf die naheliegende Wahrnehmung
der Abhängigkeit, in welcher sich unser Gefühlsleben von
unsern Vorstellungen befindet Eben desshalb liegt der ent-
gegengesetzte Versuch, den Gefühlen das Primat einzuräumen
Vierte^ahnsehrift f. wiflsenschaftl. Philoaopliie. m. 2. 9
130 W. Wundt:
uod womöglich die Formen des Yorstellens aus den Formen
der Gefühle abzuleiten, offenbar ferner. Doch liesse sich die
besonders durch Christian Wolff und seine Schule ausgebildete
Theorie, welche in dem Gefühl einen dunkeln Erkenntniss-w
process sieht, in gewissem Sinne hierher beziehen. Sobald
man nämlich jenes Primat des Gefühls im genetischen Sinne
auffasst^ also die Erkenntnissformen vorgebildet sieht in Ge-
fühlsformen, ist es offenbar ziemlich gleichgültig, ob man sagt,
das Gefühl sei ein unentwickeltes Erkennen, oder das Er-
kennen sei ein entwickeltes Gefühl. Eine ausgeprägtere Ge-
stalt hat aber diese Lehre vom Primat des Gefühls erst in
jenen Hypothesen angenommen, welche dem Gefühl eine Art
causaler Wirksamkeit gegenüber allen andern psychischen Pro-
cessen zuerkennen und hierdurch Rechenschaft davon zu geben
hoffen, dass dasselbe nicht bloss im Anfang aller psychischen
Entwicklung stehe, sondern auch fortan alles Vorstellen, Denken
und Wollen begleite. Diese Anschauung, an die sich schon bei
früheren Philosophen^ z. B. bei Fr. H. Jacobi, Anklänge finden,
hat auf psychologischem Gebiete in neuerer Zeit besonders
Fortlage zur Geltung gebracht, ihre eingehendste Begründung
aber hat dieselbe wohl in den Arbeiten von A. Horwicz ge-
funden ^). Zwar bezeichnet Fortlage als „Trieb", was Horwicz
in der Regel dem „Gefühl" zuschreibt, ein sachlicher Unterschied
dürfte aber zwischen den Ansichten Beider kaum vorhanden
sein. Auch darin berühren sich die Auseinandersetzungen dieser
Forscher, dass sie physiologischen Analogieen einen hohen
Werth beimessen, die sich freilich im einzelnen, vermöge der
zwanzigjährigen Entwicklung der Physiologie^ die zwischen ihren
Arbeiten liegt, sehr verschieden gestalten.
Neben diesen einander entgegengesetzten Anschauungen^
von denen die eine die Gefühle aus den Vorstellungen und die
andere die Vorstellungen aus den Gefühlen hervorgehen lässt,
*) Fo^rtlage, System der Psychologie. 2 Bde. Leipzig 1855.
A. Horwicz, Psychologische Analysen, Bd. 1 und 2. Halle
und Magdeburg 1872—1878.
Ueber das VerhSltniss der Gefühle zu den Vorstellangen. 131
bat als eine dritte noch diejenige ihre Vertheidiger gefunden,
welche C^fQhl und Vorstellung als ?511ig von einander unabhängige
und gleich selbständige Formen der Innern Erfahrung be-
trachtet. Sie ist besonders in der in der WolfTschen Schule
entstandenen, dann auf Kant übergegangenen und auch in
neuerer Zeit nicht ganz verlassenen Annahme eines besonderen
Gefühlsvermögens vertreten. Auch die letzte Arbeit von Leon
Dumont lässt sich, bei machem Eigenthümiichen, was sie ent-
hält, wohl hierher rechnen^).
Offenbar ist aber noch eine vierte Auffassung möglich,
die den Eindruck, welchen der Thatbestand der innern Er-
fahrung auf uns macht, vielleicht am unmittelbarsten repro-
ducirt, ohne auf Deutungen und Hypothesen sich einzulassen.
Es ist diejenige, die zwischen der Annahme eines Primates des
einen oder andern Bestandtheils der inneren Wahrnehmung und
der Zulassung mehrerer gleich selbständiger Functionen ge-
wissermassen in der Mitte steht, indem sie Vorstellung
und Gefühl als die einander coordinirten Theil-
erscheinungen eines und desselben inneren Vor-
ganges auffasst, wobei alles, was wir als Affect, Trieb,
Begehren, Wollen bezeichnen, wiederum als Theilerscheinung
oder specielle Gestaltung des Gefühls angesehen wird. Diese
Ansicht berührt sich mit der zuletzt angeführten am nächsten.
Immerhin besteht der beachtenswerthe Unterschied, dass sie Ge-
fühl und Vorstellung nicht als verschiedene Vorgänge auffasst,
sondern als Bestandtheile eines und desselben Processes, dessen
Trennung sie nicht als eine wirkliche, sondern als ein Resultat
psychologischer Abstraction betrachtet. Natürlich kann der
letzteren das Recht nicht genommen werden, die Erscheinungen
auf diese Weise zu zerlegen. Aber die psychologische Analyse
überschreitet ihre Befugniss, wenn sie solche Bestandtheile des
Geschehens, die erst durch Abstraction gewonnen worden sind,
als reell geschiedene Vorgänge ansieht oder gar auf verschie-
dene psychische Kräfte zurückführt.
^) L^on Dumont, Vergnügen und Schmerz. Leipzig 1876.
(Internationale wissenschaftliche Bibliothek.)
9*
132 W. Wundt:
Der Vei*U*eter dieser vierten Ansicht wird vor allem auf
die unmittelbare AutTassung der Thatsachen des Bewusstseins
sich stützen können, für welche Gefühl und Vorstellung stets
einander begleitende und sich wechselseitig bestimmende innere
Erfahrungen sind, wobei bald das eine bald das andere dieser
Elemente pravalii^n mag, ohne dass wir jedoch jemals im
Stande wären, die völlige Unabhängigkeit des einen vom andern
nachzuweisen. Diese natürliche Auffassung, welche sich uns
vor jeder psychologischen Untersuchung aufdrängt, muss sich
zwar gefallen lassen durch die letztere beseitigt zu werden,
sobald dieselbe ausreichende Gründe beibringt. So lange aber
dies nicht der Fall ist, so lange derartige Gründe nur in vor-
gefassten Meinungen bestehen oder in Hypothesen, welche man
in die Erscheinungen hineininterpretirt, — so lange wird auch
jene Auffassung, welche als der unmittelbarste Ausdruck des
thatsächlichen Verhaltens gelten kann, das gute Recht für sich
in Anspruch nehmen dürfen, dass sie unter den verschiedenen
Voraussetzungen die einfachste und am wenigsten zu Hülfs-
hypothesen genöthigt ist.
Die unmittelbare innere Erfahrung bezieht bekanntlich den-
jenigen Bestandtheil unseres inneren Geschehens, den wir Vor-
stellung nennen, im allgemeinen auf ein Object, die Gemüths-
bewegungen jeder Art aber auf subjective Zustande des
eigenen Bewusstseins. Die psychologische Untersuchung des
causalen Zusammenhangs beider Thatsachen vermag nun nirgends
über die ebenfalls schon der einfachen Erfahrung sich auf-
drängende Bemerkung hinauszukommen, dass wir unsere sub-
jectiven Zustände vielfach durch die Objecte, anderseits aber
auch nicht minder die Auffassung der letzteren durch die
ersteren bestimmt finden. Schon in meinen „Grundzögen der
physiologischen Psychologie'' habe ich den verschiedenen Er-
klärungsversuchen gegenüber geglaubt betonen zu müssen, dass
in dieser Beziehung die einzige uns tliatsi^chlich gegebene Ein-
heit eben die durchgängige Verbindung der Vorstellungen und
Gefühle ist, und dass wir daher keinen Grund haben zu irgend
einer Voraussetzung, wekhe jene erst in unserer Abstraction
Ueber das Verhältoiss der Gefühle ku den Vorstellungen. 133
^h trennendeo Bestandtheäe der inneren Erfahrung zu Pro-
cessen macht, die in Wirklichkeit getrennt und eventuell sogar
von einander unabhängig sein sollen. Zu meiner Verwunderung
ist dieser Versuch, Hypothesen abzuwehren auf einem Gebiete,
auf welchem dieselben bis dahin von zweifelhaftem Nutzen ge-
i^esen sind, gänzlich missverstanden worden. Denn Horwicz
glaubt, dass ich das „Wesen und den Grund der Gefühle^ in
^em Conslrast suche ^). Dieses Missverständniss kann nur
daraus entsprungen sein, dass ich — wie übrigens jeder An-
dere, der mit dem Thema sich beschäftigt hat, und gelegen4ich
Horwicz selbst thut — die Existenz der Gegensätze von Lust
und Unlust als eine charakteristische Eigenschaft aller Gemüths-
bewegungen bezeichnete. Wenn aber Jemand die Eigenschaft
«ines Gegenstandes fär die Ursache desselben ansehen wollte,
so würde ich dies unter allen Umständen für verkehrt halten,
und es ist mir in der That niemals beigefallen, mich zu dieser
Ansicht zu bekennen. Vielmehr habe ich es ausdrücklich als
«ine „ursprüngliche Eigenthümlichkeit des Bewusstseins** be-
zeichnet, „durch seine Empfindungen und überhaupt durch
seine inneren Zustände in einer Weise bestimmt zu werden, die
sich zwischen Gegensätzen bewegt** ^). Der Umstand, dass ge-
wisse Empfindungen, wie dunkle Farben, tiefe Töne, vorzugs-
weise äiit Unlust-, andere, wie helle Farben, hohe T5ne, mit
Lustgefühlen sich verbinden, schien mir*dan]| allerdings des Ver*'
suchs einer Erklärung aus der Beschaffenheit dieser Empfin-
dungen bedürftig. Aber durch diesen Versuch konnte doch
nur höchstenfalls anschaulich gemacht werden sollen, dass in
der Beschaffenheit der Empfindungen und auch unseres Be-
wusstseins die Anlage zu solchen gegensätzlichen Zuständen
gegeben sei. Im übrigen habe ich es allgemein als eine
Eigenschaft unserer inneren Zustände bezeichnet, dass an ihnen
drei Elemente zu unterscheiden seien, Intensität, Qualität und
4vefühlston, von denen jedoch die ersteren ebenso wenig wie der
^) Horwicz, Analysen II, 2. S. 32.
*) Physiologische Psychologie S. 456.
134 W. Wandt;
letztere für sich vorkommen. Das Gefühl aber glaubte ich,
der unmittelbaren Auffassung gemäss, als die Art betrachten
zu können, wie das Bewusstsein oder Selbstbewusstsein in jedem
Moment auf das innere Geschehen reagirt Ich habe übrigens
ausdrücklich abgelehnt damit etwas neues sagen zu wollen,
theils desshalb, weil eben offenbar diese Auffassung ausserhalb
der psychologischen Schulen die allgemeine ist, theils desshalb^
weil diejenige psychologische Theorie, welche die Gemuths^
bewegungen als unmittelbare Reactionen der Seele bezeichnet^
ohne Zweifel das nämliche meint, nur dass sie den meta-
physischen Begriff der Seele dem substituirt, was uns allein
empirisch gegeben ist, dem Bewusstsein.
Horwicz hat es nun allerdings in seinen „psychologischen
Analysen^* an angeblichen Beweisen für das Primat der Ge-^
fühle nicht fehlen lassen, ja man kann wohl sagen, ein wesent*
lieber Zweck des Werkes besteht in dieser Beweisführung.
Gerade dadurch aber, dass der Verfasser offenbar sogleich mit
einer bestimmten vorgefassten Meinung an jede einzelne Ana-
lyse herantritt und sich fragt, in wiefern das Einzelne sich seiner
Anschauung fugen will, hat er in Bezug auf diese Seite seiner Unter-
suchungen, wie mir scheint, den sonst in röhmenswerther
Weise eingenommenen Standpunkt unbefangener Prüfung ver-
lassen. Die Vorstellung von dem Primat der Gefühle bildet
bei ihm, wie sich die Herbartianer ausdrücken würden, die
herrschende Apperceptionsmasse, welche sich alles assimilirt was
sie vorfindet. Wer nicht unter dem Einfluss dieser herrschen-
den Vorstellung steht, der wird in den vorgeblichen Bewisisen
höchstens mehr oder weniger treffende Belege für den innigen
wechselseitigen Zusammenhang der Gefühle und Vorstellungen
erblicken oder wohl auch für den übrigens von unbefangenen
Beobachtern längst anerkannten Satz, dass die ursprünglichsten
Zustände unseres Bewusstseins ungeschieden enthalten, was erst
in der späteren Entwicklung, zum Theil sogar erst in der
psychologischen Abstraction sich trennt, — manchmal freilich
kann man sich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass der
Verfasser in den Verlauf des Denkens Gefühle hineininlerpretirt
Ueber das Verhältniss der Gefühle zu den Vorstellungen. 135
hat, von weicben wiederum, derjenige, der jener herrschenden
Vorstellung entbehrt, dahingestellt lassen muss, ob sie sich
wirklich darin befinden. Derartige Analysen subjecti?er Vor-
gänge, welche es unternehmen, irgend welche innere Er-
fahrungen gleichzeitig zu beschreiben und zu interpretiren,
haben nicht selten auf den Leser eine bestechende Wirkung.
Unwillkürlich wird derselbe von der nämlichen herrschenden
Vorstellung erfasst, auch er denkt und fühlt nun in die Dinge
hinein, was seine Autoren ihm vordenken und vorfühlen, und
es bedarf zuweilen einer energischen Besinnung , um sic(i zu
überzeugen, dass man nur dem guten Beispiel gefolgt ist.
Fortlage z. B. stellt mit grösster Anschaulichkeit den Zustand
des Fragens, des Lauschens und Aufmerkens dar, welcher nach
ihm das Wesen des Bewusstseins ausmachen soll, und ähnlich
schildert Horwicz, wie, in dem Moment wo eine Vorstellung
in unser Bewusstsein eindringen will, in uns die Fragen sich
überstürzen: was ist das? woher kommt das? was wird
daraus? — Fragen, die freilich zunächst nur in der Form von
Gefühlen in uns liegen sollen; aber solche Betrachtungen
scheinen es ihm dann unzweifelhaft zu machen, dass allem
Appercipiren und Denken Gefühle vorangehen ^). Gewiss, man
kann sich vorstellen, dass solche Fragen und Gefühle das
Denken beherrschen, ja noch mehr, man kann sich in diese
Vorstellung so hineindenken, dass man sich einbildet, das sei
immer und überall der thatsächhche Verlauf unserer Gedanken.
Und wer vermöchte den Gegenbeweis zu führen ? Ich kann nur
versichern, dass ich meinerseits — sofern ich nicht etwa durch
die fesselnden Schilderungen psychologischer Autoren präoccupirt
bin — von einer derartigen Fragethätigkeit höchstens dann
etwas zu merken glaube, wenn die appercipirten Vorstellungen
zu Gegenständen des Nachdenkens gemacht werden, nicht aber
bei dem unmittelbaren Bewusstwerden der Vorstellungen.
Handelt es sich hier um ein bestreitbares Resultat angeb-
licher Beobachtung, dessen Unsicherheit nur die trügerische
') Psychologische Analysen, II, 1. S. SO.
136 W. Wandt:
Natur der subjectiveo Beobachtung blosssteilt, so verhält es sich
anders mit jenen Beweisgründen, die auf die thatBächliche Yer«-
bindung der Gefühle und Vorstellungen hinweisen, um daraus
die Priorität des Gefühls zu folgern. Jene Verbindung kann
man zugeben, aber für die daran geknüpfte Folgerung ist
nirgends ein zwingender Grund zu finden. Die Verbindung
von Empfindung und Bewegung soll beweisen , dass der Be**
wegungstrieb oder das Muskelgefühl die ursprünglichste psychi*
sehe Function sei, die Verbindung der Aufmerksamkeit mit
Gefühlen, dass die Perception auf Gefühlen beruhe, die Wirk-
samkeit des Willens bei der Wiedererinnerung soll darthun,
dass alle Reproduction von Gefühlen ausgehe^). Selbst wenn
man hier allen Prämissen zustimmt, so ist doch die daran ge-
knüpfte Schlussfolgerung in keiner Weise bindend. Nun wer-
den aber auf diese Folgerung dann wieder weitere Folgerungen
gebaut, für die nichts spricht als eben die bestrittene Voraus-
setzung, auf die sie sich stützen: so z. B. wenn Horwicz be-
hauptet, der Grad der Bewusstheit der Vorstellungen hänge ab
von dem Grade ihrer Gefühlsbetonung ^) , oder wenn er die
Forderung aufstellt und zu erfüllen trachtet, alle höheren Ge-
fühle seien als Complicationen und Combinationen der ein-
fachsten sinnlichen Gefühle aufzufassen '). Zu einer solchen
Auffassung muss man freilich kommen, wenn man, um die
Priorität des (^efühls zu wahren, den Satz verficht, die intellec-
tuellen, ästhetischen, sittlichen Gefühle eilten stets den Vor-
stellungen, an die- sie geknüpft sind, voraus. Um dieser Be-
hauptung nichts zu vergeben, zieht es Horwicz z. B. vor, zur
Erklärung des rhythmischen Gefühls hypothetische Nerven-
fibrationen zu erfinden, die unmittelbar gefühlt werden sollen,
nur um dem Zugeständniss auszuweichen, dass das rhythmi-
sche Gefühl an ein gewisses Zeitverhältniss der Vorstellungen
gebunden ist ^). Hierdurch würde ja der Schein entstehen, als
^) Vergl. namentlich Horwicz, Analysen I, S. 191 u. f.
») a. a. 0. I, S. 259.
>) Ebend. H, 2, S. 66.
«) Ebend. H, 2, S. 144.
lieber das Yerhältniss der Gteföhle zu den Vorstellungen. 137
könnten unter Umstanden Vorstellungen den Gefühlen yoran-
gehen, und das rerstösst gegen die Voraussetzung. Ueber-
haupt kann ich nicht umhin, den weitgehenden Gebrauch be-
denklich zu finden, den sich Horwicz von physiologischen
Hypothesen zu machen gestattet. Ohne Zweifel sind wir be-
rechtigt uns über den Zusammenhang Rechenschaft zu geben,
der zwischen den psychologischen Vorgängen und den physio-
logischen Processen in den körperlichen Substraten derselben
stattfindet; aber von der hypothetischen Annahme solcher
physiologischer Processe, die von physiologischer Seite noch
nicht nachgewiesen sind, wird man doch nur einen sehr vor-
sichtigen Gebrauch machen dürfen.
Ich irre wohl nicht, wenn ich als einen entscheidenden,
wenn auch selten direct hervorgehobenen Grund für die An-
nahme einer Priorität des Gefühls die subjective Beschaffenheit
desselben ansehe. Vorstellungen von äusseren Gegenständen zu
eriangen^ dazu bedarf es, so vermutliet man, jedenfalls einer
gewissen psychischen Entwicklung. Aber irgend welche innern
Zustände sind doch nothwendig als ursprünglich gegeben vor-
auszusetzen: diese Zustände sollen, eben weil sie bloss sub-
jectiver Art sind; Gefühle sein. Nun ist wohl zuzugeben, dass
den ausgeUldeten Vorstellungen und Gefühlen unentwickelte
innere Zustände vorangehen werden, die sich nicht vollständig
decken mit dem, was wir im ausgebildeten Bewusstsein an-
treffen. Aber ob es angemessen ist^ diese unbestimmten Zu-
stände, welche die Anlage zu allen späteren EntVricklungen in
sich schliessen, Gefühle zu nennen, ist eine andere Frage.
Denn voraussetzen müssen wir allerdings von denselben, dass
sie die Anlage zu Gefühl und Vorstellung gleichmässig in sich
tragen. Und gerade dies deutet die psychologische Termino-
logie, wie sie sich allmälig ausgebildet hat, nicht unangemessen
an, indem sie jene elementaren Vorgänge, in die sich uns die
complexen Producte unseres Bewusstseins zerlegen, und denen
wir desshalb die ursprünglichen Zustände des unentwickelten
Bewusstseins analog denken, Empfindungen nennt. Die
Empfindung aber denkt man sich demzufolge als einen ein-
188 W. Wandt:
fachen Zustaud und doch zugleich als einen solchen, der
irgend eine Intensität, eine qualitative Beschaffenheit und eine
Gefühlsfarbung besitzt, und der eben hierdurch zu allen com-
plexen Erzeugnissen des Bewusstseins die Anlage in sich trägt
Man könnte nun freilich meinen, es sei im Grunde ein blosser
Wortstreit, ob solche ursprungliche Zustande, die doch nie-
mals direct zu unserer Beobachtung kommen, Gefühle oder
Empfindungen genannt werden sollen. Aber dass hier das
Wort nicht ganz so gleichgültig ist, zeigt der Erfolg. Wer
jene Zustande Gefühle nennt, der hat eben die ausgebildeten^
durch psychologische Abstraction von den Vorstellungen ge-
schiedenen Gefühle im Auge und überträgt nun sofort die so
angenommene Priorität des Gefühls auf alle späteren Vorgänge.
Gewiss ist die schon von Herbart gemachte und auch
gelegentlich von Horwicz wiederholte Bemerkung eine sehr
richtige, dass dem Bewusstsein keine Priorität zukomme vor
dem was uns bewusst ist In der That, die ganze Unter-
scheidung des Bewusstseins von seinem Inhalt ist ja nur ein
Erzeugniss psychologischer Reflexion: gegeben sind uns nur
Zustände, deren wii* uns bewusst sind. Eben darum ist es
fruchtlos nach dem Wesen des Bewusstseins zu fragen, denn
diese Frage lässt sich doch nicht anders beantworten, als indem
man auf die einzelnen inneren Erfahrungen hinweist, dei*en
wir uns bewusst werden. Aber wie mit dem Bewusstsein und
seinem so genannten Inhalt, so verhalt es sich nicht selten
auch mit den einzelnen Bestandlheilen des letzteren, — und so
dürfte es insbesondere sich verhalten mit den Vorstellungen
und den Gefühlen. Unsere psychologische Reflexion trennt
dieselben, aber wir haben keinen zureichenden Grund anzu-
nehmen, dass sie wirklich getrennt sind. Unsere inneren Zu-
stände sind im aUgemeinen immer complexer Art, und es kann
sich daher nur um die Frage handeln, was denn unsere Re-
flexion nachträglich zu einer solchen Trennung veranlasst
Natürlich sind hier psychologische Motive wirksam, wie
dies schon der Umstand bezeugt, dass, bevor die Wissenschaft»-
liehe Reflexion beginnt, schon die Sprache jene Trennung an-
Ueber das Verhältaiss der Gefühle zu den Vorstellungen. 139
gedeutet hat* Auch scbeiut es nicht schwer, sich über diese
Motive im allgemeinen Rechenschaft abzulegen. Zunächst können
die nämlichen Vorstellungen bei den wechselnden Zustanden
des Bewusstseins von wechselnden Gefühlen begleitet sein.
Sodann aber empfinden wir gerade dieses wechselnde Element
unmittelbar als dasjenige, welches den Werth bestimmt , den
die Vorstellung jeweils für uns besitzt, und welches so den
Anlass bietet, dass die Vorstellung selbst von uns gesucht oder
gemieden wird. Man kann zugeben, dass hierin nichts anderes
als eine Umschreibung dessen enthalten sei, was wir ohnehin
schon unter Fühlen oder Begehren verstehen. Darin macht
sich eben die elementare psychologische Natur dieser Vorgänge
geltend, welche es ebenso wenig gestattet, von ihnen eine
eigentliche Definition zu geben wie von der einfachen Em-
pfindung oder von dem Bewusstsein selber. Nur die innigere
Beziehung, in der sie zu unserm Selbstbewusstsein stehen, wird
immer als das unterscheidende Merkmal festgehalten werden
können, durch welches sie allem sonstigen Inhalt desselben
gegenöbertreten. Von dieser Beziehung wird daher auch die
psychologische Theorie vor allem Rechenschaft geben müssen«
Die Frage, wie weiterhin die Abhängigkeit der Gefühle von den
Vorstellungen oder dieser von jenen zu eiidären sei, wird dann
erst in zweiter Linie in Betracht kommen. Nun ist es eine
unmittelbar wahrgenommene Thatsache unseres Bewusstseins,
dass die wechselnden Zustände desselben mit einander in Ver-
bindung stehen. Vermöge dieser Verbindung tritt jeder neue
Eindruck in Beziehung zu früheren Vorstellungen, und ordnen
sich die angesammelten Vorstellungen nach innerer Verwandt-
schaft und äusserem Zusammensein in zahlreiche sich durch-
kreuzende Reihen. Wenn uns daher in der unmittelbaren Auf-
fassung das Fühlen und Begehren als die subjective Ergänzung
der Vorstellungen erscheint, so wird anzunehmen sein, dass bei
dieser subjectiven Reaction das Bewusstsein mit allen den
Eigenschaften betheiligt sei, die es vermöge der ihm zu Gebote
stehenden Vorstellungs- und Gefühlsverbindungen angenommen
hat. Hierdurch wird sich aber auch alsbald der die Vor-
140 ^- Wandt:
stdlaogen begletlende Gemotlisziulaiul io unserer ionereo Wabr-
nehmaiig scheiden von den Vorstellungen selber. Denn eine
und dieselbe Vorstellung wird ja nach vorausgegangenen Er-
lebnissen und bereil liegenden Vorstellungsverbindungen ver-
schiedene Gemdthsreaclionen erwecken können. In der Vor-
stdlung selbst findet immer nur die nnmittdbare Wechsel-
wirkung des Bewusstseins mit der Aussenwelt ihren Ausdruck.
In der Gemüthsbewegung dagegen sjuegelt sich die Art, vrie
das Bewusstsein vermöge seines Gesammtsuslandes, sräier
dauernden und vorübergehenden Anlagen jene Wechselwirkung
aufnimmt.
Je verwickelter die Anlagen eines Bewusstseins, je reicher
die frAheren Eriebnisse desselben sich gestalten, um so mannig-
faltiger werden daher die Formen der Gemüthserregung sein
und um so weniger werden sie sich aus der Natur deijenigen
Vorstellungen, mit denen sie unmittelbar in Verbindung treten,
voraus bestimmen lassen. In dem unentwickelten Bewusstsein
des Kindes mag das Gefühl noch ein Zustand sein, der grossen-
tbeils von der Intensität und Qualität der unmittelbaren Sinnes-
empfindungen abhängt und darum mit diesen Elementen un-
trennbar verschmolzen ist Zusammengesetztere Gefühle und
Strebungen werden dagegen offenbar erst möglieb, wenn mehr
oder weniger zusammengesetzte Vorstellungsverbindungen dem
Bewusstsein jeden Augenblick zu Gebote stehen. So verbinden
steh schon mit den einfiicheren Vorstellungscomplexen ver-
schiedenartige Affecte, auf welche die vorhandenen Dispositionen
einen Elinfluss gewinnen. Die intellectuelien, moralischen und
ästhetischen Gefühle endlich setzen voraus, dass ein reicher
Schatz geordneter Vorstellungsreihen durch das Denken ver-
arbeitet sei. Der Versuch, diese complexen Gemüthszustände
als einfache Resultanten sinnlicher Gefühle aufzufassen, ist
darum noch immer gescheiteil. Hier überall ist der Gemüths-
zustand offenbar nicht sowohl von den unmittelbar in das Be-
wusstsein eintretenden Vorstellungen als von den Beziehungen
abhängig, in denen dieselben zu den vorhandenen dauernden
Anlagen stehen. Diese Beziehungen machen sich aber nicht
Ueber das VerhältniM der Qefiihle zu den VorsteHangen. 141
etwa in der Weise geltend, dass die neuen Yorateilungen die
älteren in das Bewusstsein hereini*afen. Von einer solchen
Wirkung sagt uns die innere Walimehmung im aligemeinen
nichts. Wo überhaupt Associationen auftreten, da ist dies ein
nebenhergehender, für die Gemüthserregung selbst offenbar
verhältnissmässig gleichgAltiger Vorgang. Vielmehr scheint es,
als wenn hiebet die durch Association wachgerufenen Vor-
stellungen gar nicht anders wirkten als die ursprünglichen eben*
falls, indem auch an sie Gefühle gebunden 'sind. Dadurch mag
die ursprüngUche Gemüthserregung verstärkt werden, und nur
insofern ist zuzugestehen, dass in der Association ein wichtiger
Factor für die Entstehung namentlich der zusammengesetzteren
Gefühle .liegen kann.
Im allgemeinen aber ist die Beschaffenheit des Gefühls,
wie sich gerade an den compUcirteren Formen zeigt, offenbar
weniger von den unmittelbar im Bewusstsein anwesenden Vor-
stellungen als von den ursprungUchen Anlagen und älteren
Erwerbungen des Bewusstseins abhängig. Wie wollten wir
uns anders die unverkennbare Entwicklungsfähigkeit des Ge-
müthslebens erklären, wobei insbesondere alle zusammen-
gesetzteren Gefühle als verhältnissmässig späte Erzeugnisse auf-
treten? Bestätigt wird aber- diese Folgerung wohl durch dia
Thatsache, dass, wo wir über den Grund solcher zusammen-
gesetzter Gefühle i*eflectiren, wir uns immer auf früher erwor-
bene Eindrücke und Gedankenverbindungen hingewiesen sehen.
Hieraus entspringt dann freilich der nicht seltene Fehler, dass
man in die Natur des Gefühls selbst eine derartige Reflexion
verlegt, wovon doch die psychologische Wahrnehmung nicht
das geringste entdecken lässt.
So lässt sich z. B. das intellectuelle Gefühl der Zu-
stimmung nur daraus begreifen, dass ältere intellectuelle Er-
werbungen einem neuen Gedanken übereinstimmend entgegen-
kommen. Aber da -wir jener älteren Gedankenreihen nicht un-
mittelbar uns bewusst werden, sondern sie uns erst nach-
träglich, durch eine oft mühsame Reflexion, vergegenwärtigen
142 W. Wundt:
können, so bleibt nur übrig anzunehmen, dass unser Bewusst-
sein in der Art seiner Reaction auf einen neuen Eindruck
durch Vorstellungen, die früher in ihm anwesend waren, be-
stimmt wird, ohne dass doch diese Vorstellungen selbst in das
Bewusstsein eintreten. Dass nicht minder bei den höheren
ästhetischen Gefühlen associatire Verbindungen der unmittelbaren
mit den unserm Bewusstsein verfügbaren Vorstellungen eine
wesentliche Rolle spielen, ist wohl allgemein anerkannt. Darum
erfordert ja der ästhetische Genuss eine lange Vorbildung.
Wo diese mangelt, da bleibt das Bewusstsein gerade vollende-
teren Kunstformen gegenüber gleichgültig oder geräth durch sie
in Verwirrung, weil den äusseren Eindrücken die inneren Be-
ziehungen mangeln, durch die sie erst ihren Gefühls werth
empfangen können. Aber auch hier würde es nicht gerecht-
fertigt sein, sich die Wirksamkeit dieses associativen Factors
der ästhetischen Eindrücke in der Form wirklich vollzogener
Associationen zu denken. Die Zergliederung eines Kunstwerks
ist ja verschieden von dem ästhetischen Genuss. Schlimmsten
Falles kann sie ihn aufheben, indem die unmittelbare Macht
des Eindruckes durch die eintretende Reflexion verdrängt wd,
und besten Falles kann sie ihn verstärken^ indem die an-
geregten Vorstellungen selbst wieder zur Quelle ästhetischer
Wirkungen werden. Immer also kommen wir darauf zurück,
dass das Gefühl selbst nicht in den unmittelbar gegenwärtigen
Vorstellungen oder ihrem Verhältniss, sondern in einer Rück-
wirkung besteht^ die das Bewusstsein auf die Vorstellungen
ausübt, Und die, wenn wir sie zergliedern, auf die Beziehungen
zurückweist, in denen sich die unmittelbar gegenwärtigen zu
früheren Vorstellungen befinden.
In diesen Beziehungen zu früheren Vorstellungen findet
offenbar auch der Herbarfsche Versuch, die Gemüthsbewegungen
abzuleiten aus einer Mechanik der Vorstellungen, seine relative
Berechtigung. Aber nicht nur ruht diese Mechanik selbst auf
zweifelhaften Grundlagen, sondern gegen ihre hypothetische Ueber-
tragung auf die Gemüthsbewegungen erheben sich noch be-
Ueber das Verhältniss der Gefühle zu den YoratelluDgen. 143
sondere Bedenken, auf die ich jedoch hier nicht wieder zurück-
kommen will^).
Ebenso bedeutsam wie diese unbegrenzte Abhängigkeit der
Gemüthserregung- von der ganzen Anlage und dem gesammten
Erwerb des Bewusstseins därfle vielleicht die weitere Thatsache
sein, dass uns das Gefühl als ein einheitlicher Zustand
oder Yorgaitg bewusst wird. So mannigfach die Gefühle auch
in der Zeit wechseln können, so scheint doch in jedem Moment
das Gemüth nur in einer bestimmten Weise erregt zu sein.
Auf den ersten Bück widerspricht dem allerdings die Existenz
zwiespältiger Gemüthslagen , in denen mindestens zwei Ge«
fühle neben einander bestehen. In der ungewissen Erwartung
bewegt uns gleichzeitig Furcht und Hoffen, der Zweifel besteht
aus Zustimmung und Widerspruch, das Komische verdankt, wie
man annimmt, seinen Ursprung dem Contrast der Gefühle.
Gewiss wäre hier die Annahme verfehlt, dass nur eine rasche
Successidn diese zwiespältigen Gemüthsstimmungen hervor-
bringe. Denn das Eigenthümliche der letzteren besteht gerade
darin, dass ihre verschiedenartigen Componenten gleichzeitig in
sie eingehen. Aber hiermit ist auch schon angedeutet, dass
solche Gemüthserregungen nicht bloss aus einer Summe ver-
schiedener Gefühle bestehen, sondern dass aus diesen eine Re-
sultante hervorgehL Wie also eine zusammengesetzte Vor-
stellung aus vielen Bestandtheilen sich aufbaut, so können sich
auch an einer Gemüthsbewegung mehrere Gefühle als ihre
Elemente betheiligen. Aber während unser Bewusstsein zweifel-
los mehrere Vorstellungen enthalten kann, die einander nicht
in merkUcher Weise beeinflussen, resultirt, wie es scheint, aus
den gleichzeitig vorhandenen Gefühlen immer ein einheitlicher
Zustand. Es giebt nicht mehrere Gemüthslagen neben einander,
sondern nur eine einzige, die übrigens mehr oder weniger zu-
sammengesetzt sein kann, und die stetig in der Zeit sich ver-
ändert. Wenn wir uns nun vieler unverbundener Vorstellungen
gleichzeitig bewusst sein können, so ist es möglicher Weise
*) Vergl. meine phyBiologische Psychologie, S. 461, 798.
144 W. Wundt:
nur diese Einheit unserer Gemüthslage, durch die wir zunächst
veranlasst werden von der Einheit unseres Bewusstseins zu
reden. Umgekehrt liegt aber auch in jener Einheit der Ge*
müthserregung wohl ein Zeugniss dafür, dass wir es bei ihr
mit einer Art i*esuUirender Kraft zu thun haben, in welcher
die Componenten, die sie zusammensetzen, meistens nicht mehr
einzeln zu unterscheiden sind.
Da wir uns nun von der Entstehungsweise dieser Re-
sultante nicht unmittelbar Rechenschaft geben können, so bleibt
nichts übrig als anzunehmen, dass psychische Vorgänge, die
uns nur in ihren Endwirkungen bewusst werden, an denen
aber die ursprünglichen und erworbenen Eigenschaften des
Bewusstseins betheiUgt sind, den Gemülhserregungen zu Grunde
liegen. Es verhält sich in dieser Beziehung mit den letzteren
wohl ähnlich wie mit den Vorgängen bei der sinnlichen Wahr-
nehmung, bei denen uns ebenfalls nur die Aesultate einer
psychischen Synthese bewusst werden, nicht aber die Elemente,,
die in eine solche Synthese eingehen. Wie man nun bei der
sinnUchen Wahrnehmung trotzdem diese Elemente nachzuweisen
und mit Hülfe derselben, sich wenigstens in hypothetischer
Weise von den Processen Rechenschaft zu geben vermag^ die
bei der WahrnehuMing wirksam sind, so wird es auch bei den
Gefühlen die Aufgabe der Psychologie sein, eine Art Recon-
strucüon der nicht zu unserem Bewusstsein gelangenden Vor-
gänge vorzunehmen. Damit soll übrigens keineswegs behauptet
werden, dass diese Elemente absolut unbewusst seien, sondern
nur, dass sie vollständig in dem aus ihnen resultirenden
Effecte aufgehen, ähnlich wie bei der Bildung einer Gesichts-
vorstellung Localzeichen und Innervationsempfindungen in <ler
resultirenden Anschauung.
Theilweise ist es wohl diese Eigenschaft resultirender Ge-
sammteffecte, welche die oft hervorgehobene Dunkelheit der
Gefühle bedingt. Mehr noch freilich trägt daran deren sub-
jective Natur die Schuld. Die Vorstellung bezieht sich vermöge
ihrer Entwicklung aus äusseren Sinneseindrücken auf Objecte,
über deren Bezeichnung wir uns mit unsern Mitmenschen ver-
Ueber das VerhältiuBs der Gefühle zu den VorsteUmigeD. 145
ständigen müssen. Mit dem bezeichnenden Worte fixirt und be-
grenzt sieb die Vorstellung. Wesentlich anders verhält sich
dies bei den Gemüthserregungen. Wie dem Bedärfniss der
Mittheilung derselben durch eine oberflächliche Unterscheidung
ihrer Hauptdassen genagt wird, so können wir überhaupt die
specielleren subjectiven Färbungen der Gefühle nur unmittelbar
empfinden, nicht aber näher bestimmen, worin sie bestehen.
Wenn so die blosse psychologische Classenbezeichnung, die hier
stattfindet, auf der einen Seite dazu beiträgt, die subjectiv
empfundenen Unterschiede zu verwischen, so ist sie auf der
andern Seite nicht minder geeignet Grenzen zu ziehen, wo
solche in Wirklichkeit nicht existiren. So unterscheiden wir
vor Allem Fühlen, Begehren und Wollen als drei wesentlich
verschiedene innere Vorgänge. Gewiss liegen dieser Abstraction
richtige Beobachtungen zu Grunde. Aber eben so zweifellos
begehen wir einen psychologischen Irrthum, wenn wir jede
einzelne Gemüthserregung nun entweder als ein Fühlen oder
als ein Begehren oder als ein Wollen ansehen. Ja es genügt
nicht einmal einzuräumen, dass sich diese verschiedenen Vor-
gänge in einzelnen Fällen mit einander vermischen können,
sondern der inneren Wahrnehmung entspricht es offenbar mehr«
wenn wir jeder Gemüthserregung einen gemischten Charakter
zuschreiben und nur zugeben, dass je nach Umständen der
eine oder andere jener drei Bestandtheile mehr hervortreten
könne. Es begegnet also hier abermals was schon in Bezug
auf die Unterscheidung der Gefühle und Vorstellungen bemerkt
wurde: die Unterscheidungen, die sich an unsere verschiedenen
Ausdrücke knüpfen, beruhen auf einer Abstraction, der eine
reale Trennung der Gegenstände und Vorgänge nicht entspricht.
Was nun vor allem für die gemischte Natur der Gemüths-
erregungen zeugt ist der Umstand, dass gerade diejenigen
Formen, die man als die ursprünglicheren ansieht, augen-
scheinlich nicht bestehen würden ohne die angeblich secun-
dären Formen, die aus ihnen hervorgehen sollen. Als den
elementarsten der drei Gemüthszustände betrachtet man das
Gefühl. Aber die Bedingung jedes Lust- und Unlustgefuhls
VierteljahrsBchrift f. wisaenschaftl. PhilosopMe. III. 2* 10
j j
a ^
14ß W. Wandt:
ist das Begehren oder Widerstreben, durch welche das Bewusst-
sein reagirt auf die dasselbe erregenden Yorsteliungen. Und ,
Begehren oder Widerstreben setzen wiederum den Willen
voraus als die unmittelbar in uns vorhandene Fähigkeit uns
den Gegenstanden zuzuwenden, die wir bevorzugen, oder die-
jenigen zu fliehen; die wir verabscheuen. So kann der WiUe,
den man gewöhnlich für das letzte Erzeugniss der Gemüths-
bewegungen ansieht, eben so gut als die Bedingung derselben
betrachtet werden, wenn es nicht überhaupt unstatthaft w&re,
hier von einer Rangordnung zu reden, wo erst der Gesichts-
punkt, unter dem man die Erscheinungen auffasst, eine solche
hervorbringt. Uebrigens wenden wir hierbei den Begriff des
Willeps in der berichtigten Bedeutung an, welche die Psycho-
logie ihm zuweisen muss. Der WiUe, wie er gewöhnlich auf*
gefasst wird, ist die Fähigkeit der Wahl zwischen verschiedenen
in der Form von Vorstellungen gegebenen Motiven. Eine solche
Wahl ist aber keine elementare Willensfunction mehr, sondern
ein complexes Wülenserzeugniss, ein potenzirtes Wollen,
wie wir es wohl nennen können. Denn wir stellen uns dabei
verschiedene Willensentscheidungen vor, unter denen unser
WiUe einer bestimmten sich zuwendet. Die Wahl ist das
Wollen einer unter vielen Willenserregungen. Ihr steht der
einfache Wiliensact gegenüber als eine unmittelbare innere
Thätigkeit, bei der eine Mehrheit einander widerstrebender
WiUensacte gar nicht in Frage kommt.
Noch in einer zweiten Beziehung bedarf der herkömmliche
psychologische Begriff des Willens der Berichtigung. Da näm-
lich jene potenzirten Wiliensact«, die wir als Wahlhandlungen
von dem einfachen Wollen unterscheiden, eine praktische
Wichtigkeit vorzugsweise dann erlangen, wenn unser Wille auf
verschiedenartige Motive äusserer Handlungen gerichtet ist, so
hat der Begriff des Willens in der gewöhnlichen Wortbedeutung
noch eine weitere Einschränkung erfahren, indem man unter
ihm nur jene Wahlhandlungen zu verstehen pflegt, welche
äussere Handlungen entscheiden. Hier wird also der Wille
nicht nur auf einen potenzirten, sondern dazu noch auf einen
lieber das Verhältniss der Gefühle zu den VorstelluDgea. 147
secundären Wille nsact eingeschränkt Denn es ist augen-
scheinlich, dass derjenigen Willensentscheidung, die eine be-
stimmte Handlung hervorbringt, jene Willensentscheidung,
welche sich der Vorstellung dieser Handlung zuwendet, vor-
angehen muss.
So hat denn der Wille überhaupt eine doppelte Richtung.
Auf der einen Seite richtet er sich nach innen, um bestimmten
Vorstellungen unseres Bewusstseins sich zuzuwenden oder sogar
unmittelbar nicht anwesende Vorstellungen in das Bewusstsein
zu heben. Auf der andern Seite richtet er sich nach a.issen,
um Handlungen hervorzubringen. Zunächst wird dem äusseren
immer ein innerer Willensact vorangehen müssen. Aber nach-
dem die körperliche Bewegung hinreichend eingeübt ist, dass
sie sich in jedem Moment den inneren Willensimpulsen anzu-
passen vermag, kann die experimentelle Beobachtung unter ge-
wissen Bedingungen zwischen der AufTassung der Vorstellung
und der von ihr abhängigen Handlung keinen merklichen Zeit-
unterschied mehr nachweisen^ so dass in diesen Fällen der
Wille in einem zeitlich untheilbaren Acte, wie es scheint, die
Vorstellung appercipirt und die von ihr abhängige körperliche
Bewegung vollführt. Während wir willkürlich Vorstellungen
auffassen, handeln wir gleichzeitig angemessen diesen Vor-
stellungen.
Der Wille ist 'nun, so weit wir dies aus der Beol)achtung
zu erschliessen vermögen, eine ebenso ursprüngliche psychische
Function wie das Vorstellen. Bei den niedersten thierischen
Wesen, bei denen wir nur eben das Vorhandensein von Sinnes-
functionen nachweisen können, treten uns auch schon Be-
wegungen entgegen, die uns als willkürliche erscheinen, ja be-
kanntlich schliessen wir auf den untersten Stufen des Thier-
reichs, wo sich die Sinnesorgane noch nicht differenzirt haben,
nur aus den willkürlichen Bewegungen auf die Ex:istenz sinn-
licher Vorstellungen. Schwerlich werden wir voraussetzen
wollen, dass in solchen Fällen jeder willkürlichen Bewegung
eine Reflexion vorausgeht, wie wir sie zu unsern potenzirten
Willenshandlungen hinzudenken, sondern in der Regel wird hier
10*
148 W. Wundt:
der Wille eindeutig bestimint sein durch einen sinnlichen Ein-
druck; selten nur werden mehrere Eindrucke um die Herr-
schaft kämpfen und so einen inneren Vorgang hervorrufen,
welcher schon zu complicirteren Willenshandiungen den lieber-
gang bildel.
Alle Gemüthsbewegungen lassen sich nun auch als Reac-
tionen des Willens auffassen. Sobald eine solche Reaction zu
einer inneren oder äusseren Willenshandlung strebt, ohne dass
sie noch in eine solche übergegangen ist, nennen wir sie Be-
gehren. Wenn sie dieses Stadium des Strebens entweder
noch nicht erreicht oder, weil die Willenshandlung bereits aus-
gelöst worden ist, schon zurückgelegt hat^ bezeichnen wir sie als
Gefühl. So hat die Hoffnung vorzugsweise den Charakter des
Begehrens^ die Freude den des Gefühls, weil dort unser Wille
einer zukünftigen Lust entgegenstrebt, während er hier in der
Erreichung des erlangten Gutes befriedigt ruht. Gewisse zu-
sammengesetzte Gefühle, wie die intellectuellen und ästhetischen,
scheinen sich dieser Beziehung auf den Willen schwerer zu
fügen. Doch ist dies nur desshalb der Fall, weil man den
Willen auf die äusseren Handlungen einschränkt und die funda-
mentalere Wirksamkeit desselben gegenüber den Vorstellungen
zu ignoriren pflegt. Gerade bei den intellectuellen, sittlichen
und ästhetischen Gefühlen hat man es aber in der Regel mit
dieser letzteren Wirksamkeit allein zu thun. So entsteht ein
Gefühl intellectueller Befriedigung, wenn es dem Willen geh'ngt,
die Elemente unseres Denkens übereinstimmend mit einander
und mit den objectiven Erfahrungen, auf welche sie sich be-
ziehen, zu verbinden. Die moralischen Gefühle haben zwar
huulig äussere Handlungen zu ihrem unmittelbaren Gegenstand.
Aber indem sie sich auf die Gesinnung beziehen, aus der eine
Handlung hervorgeht, oder die durch sie erzeugt wird^ sind es
schliesshch auch hier primitive, d. h. auf die inneren Vor-
stellungen gerichtete Willensacte, welclie die eigentlichen Ob-
jecte sittlicher Gefühle bilden, und zwar werden die letzteren
dann, wie es scheint, erregt, wenn das unter vielen möglichen
Willensenlscheidungen zum Vollzug gelangende wirkliche Wollen
tJeber das Verhältniss der Gefühle zu den Vorstellungen. 149
unmittelbar entweder als angemessen oder als widerstreitend
der allgemeinen WiUensrichtung erfasst wird, welche sich in
dem menschlichen Bewusstsein durch ursprüngliche Anlagen
und Erziehung entwickelt hat Das sittliche Gefühl gründet
sich also immer auf einen potenzirten WillensTorgang, auf eine
im Bewusstsein vor sich gehende Wahlhandlung: es ist das
liefühl, welches denjenigen Willensact begleitet, der zwischen
verschiedenen vorgestellten Willenshandlungen entscheidet Von
noch verwickelterer Beschaffenheit ist im allgemeinen das
ästhetische Gefühl, weil es in seinen höheren Formen intellec-
tueUe und sittliche Gefühle als Factoren in sich enthält Jene
einfacheren ästhetischen Gefühle, welche durch die Auffassung
nach einfachen Maassverhältnissen geordneter Formen in uns
erregt werden, sind offenbar den intellectuellen Gefühlen am
nächsten verwandt Man könnte sie vielleicht geradezu als die-
jenigen intellectuellen Gefühle bezeichnen, welche die unmittel-
bare sinnliche Anschauung begleiten. Bei den höheren Formen
kommen dazu sittliche und inteljdptuelle Gefühle, die durch den
besonderen Inhalt der ästhetischen Vorstellungen angeregt wer-
den. Wenn demnach alle Bestandtheile eines ästhetischen Ge-
fühls auf Gemüthserregungen zurückzuführen sind, bei denen
sich die Wirksamkeit des Willens nachweisen lässt, so lässt sich
damit diese, allerdings in einer besonders verwickelten Form,
auch als die Grundlage des ästhetischen Gefühls selbst ansehen.
Die nähere Anwendung dieser Gesichtspunkte auf die ver-
schiedenen Formen der Gemüthsbewegung muss der psycho-
logischen Einzeldarstellung überiassen bleiben. Nur auf zwei
Momente sei hier noch hingewiesen, die für die allgemeine
Beziehung der Gefühle zum Willen von Bedeutung sind. Alle
Gefühle bewegen sich zwischen den Gegensätzen der Lust und
Unlust Diese Gegensätze lassen sich nun unmittelbar zurück-
führen auf die entgegengesetzten Beziefiungen des Willens zu
seinen Objecten. Denn alles Wollen ist positiv oder negativ.
Entweder strebt es einem Gegenstande zu, oder es widerstrebt
ihm. Sodann ist mit der Zurückführung der Gemüthsbe-
wegungen auf Reactionen des Willens zugleich einigermassen
150 W. Wundt:
darüber Recliendchaft abgelegt, dass jede Gemüthsbewegung eine
Tolalkraft darstellt, io welcher die verschiedenen Componenten,
die zu ihr beitragen, vollständig aufgehen. Zwar kann auch
das Wollen in seinen polenzirten Formen anscheinend aus
mehreren einfachen WiUensacten resultiren. Aber dabei sind
alle Willensacte mit Ausnahme desjenigen, der wirklich zur
Ausfähi'ung kommt, in Wahrheit als blosse Vorstellungen in
unserm Bewusstsein anwesend. Das wirklich Gewollte ist immer
nur Eines. Was allein simultan sich verbinden kann, ist eine
zusammengehörige innere und äussere Willenshandlung. Dann
ist aber die letztere nur eine unmittelbare Ruckwirkung der
ersteren, der Richtung des Willens auf die VorsteUung, nicht
ein für sich bestehender Willensact
So können wir mit demselben, wenn nicht mit grösserem
Rechte, wie man sonst den Willen aus dem Gefühl sich ent-
wickeln lässt, umgekehi't aus dem Willen die übrigen Formen
der Gemüthsbewegungen abzuleiten versuchen. Aber damit soll
nun keineswegs einem Unternehmen das Wort geredet sein,
welches etwa auf einen Dualismus von Vorstellen und Wollen
die ganze Psychologie gründen möchte. Unsere Auseinander-
setzungen sollten nur dieses erläutern, dass es bei allen jenen
Zuständen, die wir als Fühlen, Begehren, Wollen bezeichnen,
nicht um ein thatsächhch verschiedenes Geschehen sich handelt,
sondern um Processe, die durchgängig zusammenhängen. Nach-
dem wir erst die verschiedenen Seiten, welche diese Vorgänge
unserer inneren Wahrnehmung darbieten, in Begriffe gefasst
haben, sind wir nur zu sehr geneigt auch die wirklichen Er-
scheinungen künstlich zu ti*ennen, ohne dass dazu ein Grund
vorhegt.
Für die Unterscheidung von Gefühl und Vorstellung gilt
im webenllichen die nämliche Bemerkung. Gesteht man zu,
dass auch sie in der Wirklichkeit immei* verbunden sind, so
hat die Frage nach der Priorität von Getilbl oder Vorstellung
im Grunde keinen Sinn mehr. Seit Herbnrt. hat man sich daran
gewöhnt, Gedächtniss, Phantasie, Verstand und Vernunft als
Abstractionen zu beti^achten, die wir zu dem Verlauf des inne-
Ueber das Verhältniss der Grefüble zu den Vorstellungen. 151
ren Geschehens hinzudenken, nicht als Kräfte, die dieses Ge*
schehen selbst hervorbringen. Es ist wohl nicht unnütz sich
zu erinnern, dass es sich mit dem Vorstellen, Fühlen und
Wollen nicht anders verhält. So nöthig wir diese Ausdrücke
haben, so sollten wir uns doch durch ihren Gebrauch nicht ver-
führen lassen zu vergessen, dass wir damit nur Begriffe be-
zeichnen, die wir selber gebildet haben.
Leipzig. W. Wundt.
Sinnesansohauung und logisches Gausalgesetz.
Eine Entgregrnungr auf die neuesten Ausfllhninflren
Ton E. Zeller.
Zweiter Artikel.
(SchloBs.)
Die Empfindungen werden von Zeller S. 500 a. a. 0. ganz
der jetzigen Theorie gemäss definirt als „psychische Reac-
tionen auf die Reize, welche der empfindenden Seele
durch gewisse Bewegungen in den Sinnesorganen zugeführt
werden^^ Da nämlich weder die äusseren Einwirkungen auf
die Nerven, noch auch die Bewegungen in den Nerven und
im Centralorgane selbst das subjective Wesen der Empfindung
erklären, so könne man mit Recht auch von apriorischen Formen
oder Bedingungen der Empfindung reden, kraft welcher der
bestimmte Bewegungsvorgang erst diese specifische Empfin-
dung errege.
So sehr nun diese AufPassungsweise die jetzt herrschende
ist, so müssen wir sie doch schon von dem subjectiven Wesen
der Empfindung aus (noch ganz abgesehen von den mechanisch-
physikalischen Voraussetzungen) desshalb als unzulänglich zurück-
weisen, weil sie gerade dem specifischen Wesen der Sinnesempfin-
dung als einer Yerinnerlichung des betreffenden organischen
Vorgangs noch durchaus nicht gerecht wird. Denn schon in
dieser Verinnerlichung (ganz abgesehen von der besonderen
K. Ch. P la n;c k : Sinnesanschauung u. logisches Causalgeseti. 153
fiubjecti?en Erscheinungsform des einzelnen Sinnes), liegt durch-
aus eine specifische innerlich leidenlliche Einheit
mit dem betreffenden Nervenvorgange eingeschlossen. Ohne eine
solche ist jene Yerinnerlichung oder Subjectivirung des Vor-
ganges, in welcher die Empfindung besteht, ganz undenkbar,
sie macht eben das innere Wesen der Empfindung aus. Damit
aber wird jener Begriff eines blossen „Reizes** und einer
subjectiven „Reaction^' auf denselben durchaus ungenügend.
Denn in diesen Begriffen ist eben jene innerliche Einheit ml
dem Nervenvorgange, die subjective innere Erscheinung des-
selben, noch nicht ausgedrückt. Ein „Reiz** in jenem obigen
Sinne enthält noch nichts Weiteres, als eine alterirende Ein-
wirkung auf ein Organisches, die von Seiten dieses letzteren
irgend welche innere Gegenwirkung hervorruft. Von jener
specifisch innerlichen und empfanglich leidentlichen Einheit mit
dem betreffenden Nervenorgane enthält also die obige Definition
noch nichts, sie bleibu viel zu äusserlich, lässt das empfindende
Subject gegenüber von der Sinneseinwirfcung in einer zu selb-
ständig getrennten Weise bestehen, wie diess freilich bei der
bloss mechanischen Auffassung des Nervenvorganges selbst nicht
anders sein kann. Denn bei dieser bleibt vor allem das Yer-
hältniss des Nervenvorganges zur subjectiven Empfindung nur
das eines äusseren, seiner genaueren Nalur nach gar nicht zu
erklärenden Änstosses, und Analoges gilt für das Verhältniss
der äusseren Einwirkung zu dem Nervenvorgange. Denn wenn
dieser nur aus molekularen Schwingungen bestehen soll, so
kann demgemäss auch schon die Einwirkung, die ihn hervor-
ruft, keine innerlich eindringende sein, bei welcher das
Wesen des Einwirkenden selbst in dem innerlich offenen
Objecte der Einwirkung offenbar würde, sondern auch hier
bleibt die Einwirkung nur ein äusserer Anstoss. Allein auch
hier ist es also nicht der allgemeine Begriff des einwirkenden
Verhältnisses, welcher jenen einseitig subjectiven Begriff der
Empfindung mit sich brächte, sondern erst die mechanische
Auffassung des Einwirkens und des Nervenvorganges bringt
154 ^' ^^' Planck:
diess mit sich, und dieser werden wir darum auch weiter unten
entgegentreten mjissen.
Wie nun schon der Begriff des Reizes die Einwirkung des^
INervenvorganges auf das empfindende Subject zu unvollständig
und äusserlicb t'asst, so denkt auch der Begriff einer subjectiven
Keaction auf diesen Reiz das Wesen der Empfindung in einer
viel zu selbsttliätigen und geti*ennt subjectiven Form. Das volle
innerlich leidentliche und empfängliche Verhältnisse
das in jener specifischen inneren Einheit mit dem Nervenvor-
gange enthalten ist, diese innerlich psychische Naturbedingt-
heit, kommt nicht zur Anerkennung. Und eben diese falsch
idealistische Selbständigkeit und Seibstthätigkeit , die so schon
in den Begriff der Empfindung hineingelegt wird, bietet dann
den Anhalt auch für die Hineinschiebung solcher mit der Natur
der Sinnesauffassung ganz unvereinbarer Thätigkeiten^ wie jener
sogenannten unmittelbaren Schlüsse, durch welche angeblich die
' Sinnesanschauung ihren eigenthümlich gegenständlichen Character
erhalten soll. Im Gegensatz hiezu will also unsere Auffassung,
erst die volle innerlich empfängliche und leidentliche Natur-
bedingtheit im Wesen der Empfindung zur Gellung bringen,,
so wie ebendamit auch die volle innerlich psychische
Natur des vom Nerven aus- angeregten Vorganges im Central-
organ. Denn darin liegt, kurz gesagt, der Grundfehler der
jetzigen Auffassung, dass nach ihr die Vorgänge im Nerven und
Gehirn als bloss mechanische, wie Zeller S. 500 sagt, „nur
den Anstoss geben zu Bewusstseiuserscheiuungen, die ihrer
Qualität nach von den organischen Vorgängen verschieden
sind, aus denen sie hervorgiengen'*. Damit haben wir wieder
den alten Dualismus des Leiblichen und Psychischen, und
zwar schon innerhalb der blossen Sinnesempfindung. Wir
werden sehen, dass diese nichts ist als das in seiner höheren
wahrhaft innerlichen Natur begriffene Wesen des organi-
sehen Vorganges selbst
Allein ehe wir auf diess letzte übergehen, haben wir zu-
nächst noch diejenigen specielleren Gründe zu würdigen, mit
welchen Zeller von Seiten der Raumanschauung und ihres
Siimesaascliauung und logisches Causalgesetz. X55
Ursprunges d^n obigen Begriff der Empfindung und Sinnes-
anschauung noch stutzen will.
Wir geben hier vorerst vollkommen zu, was Zeller S. 506 ff
a. a. 0. ausfährt, dass die Raumanschauung nicht Sache eines
speciiischen Sinnes sei, so wie z. B. das Licht und die Töne,
sondern durch mehr als einen Sinn angeregt wird, wenn auch
vor allem durch den Gesichtssinn , so doch auch durch den
Tastsinn und dessen verschiedene Euipfiiidungsformen u. s. w.
Ebenso gewiss ist auch das Weitere, dass die Raumanschauung
für sich nicht Auffassung irgend welcher bestimmten Ein-
wirkung ist, so wie die Licht- und Farbenempfindung, Ton-
empfindung u. s. w., sondern blosse Anschauung. Allein wir
geben durchaus nicht zu, dass hieraus das folge, was Zeller
folgern will, dass es nämlich eben desshalb unmöglich sei, dass
verschiedene specifische Sinne eine und dieselbe Empfindung^
die Raumempfindung, bewirken könnten. Denn wenn auch diese
keine specifische Inhaltsform eines besonderen Sinnes und keine
Einwirkung gleich der des Lichtes, Schalles u. s. w. ist, so
kann sie doch um so mehr auf der verschiedenen Sinnen
gemeinsamenGrundform ihres Empfindens beruhen. Sie
entsteht nämlich durch die allgemeinere Grundform des Inne-
werdens einer räumlich intensiven Einwirkung über-
haupt, welche jenen verschiedenen Sinnen, dem Gesichtssinn,
Tastsinn u. s. w. gemeinsam ist Und wenn auch die blosse
Raumanschauung selbst, nach der Seite ihres gegenständlichen
Inhalts betrachtet, keine intensive Einwirkung mehr auffasst,
so wie die Lichtempfindung, Tastempfindung u. s. w., so ent-
häh sie ja doch nach Seiten 'der subjectiven allgemeinen
Empfindungsform das Innewerden eines Räumlichen und in
diesem Sinne also eines innerlichen (oder intensiven) Einwirkens
dieses Räumlichen. Eben das Innewerden dieses Extensiven,
in welchem die Raumanschauung besteht, schliesst ja als inner-
hch leidentliche Empfönglichkeit für dasselbe die allgemeine
Grundform eines innerlichen oder intensiven Einwirkens des-
selben in sich. Und wenn auch die Raumanschauung selbst
als blosses allgemeines Element der bestimmten Sinnes-
156 K. Ch. Planck:
empßndung nicht mehr eine derartig bestimmte intensive Ein-
wirkung zum Inhalte hat, wie die Sinnesauffassung selbst, so
ist doch durchaus nicht einzusehen, warum denn nicht ver-
schiedene specifische Sinne diese ihnen gemeinsame Grundform,
das Innewerden eines räumlich intensiven Einwirkens, unmittel-
bar sollten hervorbringen können und müssen. Sie schliessen
es vielmehr zufolge des ganzen Grundverhältnisses, in welchem
jsie bestehen, in sich. Und eben als dieses verschiedenen Sinnen
gemeinsame Grundelement erhält dann die Raumanschauung ihre
selbständig mathematische, von dem Inhalt der besonderen
Sinne unabhängige und allgemein giltige Bedeutung. Allein erst
als abstracte Uaumanschauung hat sie diese Bedeutung, und
in dieser für sich isolirten Form gehört sie ja erst einer zweiten
und höheren, über die unmittelbare Sinnesanschauung schon
hinausliegenden Stufe, der des sinnlichen Bewuss ts eins und
seiner Einbildungskraft an. Und auch diese wird erst vom
Denken aus zu dieser letzten und selbständigsten Abstraction
angeregt, in welcher sie nur noch die allgemeinste Grundfoim
alles Sinnlichen zum Object hat. Und selbst hiebei kann sie
wenigstens von den Grundformen des Gesichtssinnes (als
des objectivsten aller Sinne), von Dunkel oder Helligkeit, nicht
völlig abstrahiren, so dass sie auch hierin noch auf ihre ur-
sprüngliche innere Zusammengehörigkeit mit der Sinnesempfin-
dung zurückweist.
Freilich will nun Zeller ein solches unmittelbares Gegeben-
sein der Raumanschauung in einer Sinnesempfindung auch da-
mit bekämpfen, dass die „einfache Licht- oder Druckempfindung
nur eine punktuelle** sei, also bloss intensiver, nicht exten-
siver Art, während die Raumanschauung schon eine Vor-
stellung sei, die auf der Combination mehrerer Empfin-
dungen (z. B. von verschiedenen Hautstellen) beruhe. Allein
so sehr er auch in dieser Kantischen Trennung des Intensiven
der Empfindung vom Extensiven wieder die jetzt herrschende
Auffassungsweise vertritt, so ist doch für uns eben diese
Trennung eine blosse petitio principii und eine in sich selbst
Sinnesanschauung und logisches Cansalgesetz. 157
widernatürliche. Oder woher soll es denn feststehen, dass eine
solche SinnesaufTassung, die schon ein Verschiedenartiges und
Extensives in sich schliesst, nicht mehr unmittelbare Empfindung,
sondern schon eine davon verschiedene Comhination sei? Das
mögen allerdings die behaupten, welche auch für die Empfin-
dung eine atomistische Zerlegung ihrer angeblichen einfachen
Elemente zu Grunde legen. Pur uns ist das Umgekehrte gewiss
und wird gegen den Schluss hin seine Begründung erhalten,
dass ebenso, wie es in der Natur selbst nichts atomistisch Ein-
faches und rein Intensives gibt, sondern nur innerliche Zu-
sammenfassung eines Extensiven, so auch die Sinnesempfindung
nur als innere Zusammenfassung eines räumüch Unterschiedenen
ist, niemals dagegen rein intensiv. Führt man z. B. für eine
rein punktuelle Lichtempfindung den Sternenhimmel an, so ist
zwar gewiss, dass hier die ausserordentliche Kleinheit bloss
durch die Intensität ihrer Wirkung für uns sichtbar wird.
AUein schon sachlich steht ja fest, dass es sich darin nur um
ein ausserordentlich Kleines, nicht um ein absolut Punktuelles
handelt, und dazu kommt das Weitere, dass uns dieses Kleine
eben desshalb etwas grösser erscheint, weil wir durch-
aus nur Sehempfindungen von irgend welcher räumlichen
Grösse haben können, und so auch jenes ausserordentlich
Kleine seiner Intensität gemäss als grösser auffassen.
Analog verhält es sich mit dem Hautsinn, wo ja gleich-
falls schon sachhch eine absolut punktuelle Einwirkung rein
widersinnig ist. Und wenn uns auch ein feiner Nadelstich an
sich selbst noch nicht auch den Eindruck einer extensiven
Einwirkung macht, so ist doch die ganze Trennung dieser rein
intensiven Empfindungsseite von der extensiven (als der soge-
genannten „Vorstellung'*) desshalb widernatürlich, weil ja schon
nach der ganzen Grundform des Sinnes selbst, als dieses leib-
lich extensiven Nervenorgans, das Intensive uns schlechterdings
nicht anders als zugleich in extensiver Form zukommt Jener
Nadelstich z. B. kann durchaus nur als integrirender, wenn auch
eigenthümlicher Theil einer extensiveren und umfassenderen
Hautempfindung unterschieden werden, innerhalb welcher er
158 K- Ch. Planck:
als diess örtlich Eigenthü milche und Hervorstechende em*
pfunden wird^ im Gegensalz und Verhällniss zu einem nicht
gereizten , sondern nach seinem gewohnten ruhigen Zustand
empfundenen Theil der Hautfläche. Es ist also widernatürlich,
etwas was gar nicht für sich allein empfunden werden kann,
sondern durchaus nur als unselbständiger, wenn auch eigen-
thümlicher Theil eines Extensiven, von diesem letzteren künst-
lich trennen zu wollen und zu sagen, das Extensive jener
Empfindung beruhe als blosse Combination mehrerer Em-
pfindungen nicht mehr auf objectiven Empfindungs-, sondern
auf subjectiven Anschauungsgesetzen. Die betreffende Sinnes-
empiindung ist immer schon ihrer eigenen Natur nach ein
Mehreres oder Extensives, und so ist auch die Auffassung dieses
letzteren nicht etwas anderes ausser der Empfindung, sondern
nur ein allgemeineres Grundelement dieser letzteren selbst.
Dass dagegen diese nur als punktuelle sei, ist schon eine Vor-
aussetzung, die man von der mechanisch-atomistischen Theorie
der Empfindung aus macht. Aus dem empirischen Wesen der
Empfindung selbst ist es nicht zu beweisen, und dass es dem
inneren, nach seiner psychischen und organischen Natur be-
griffenen Wesen der Empfindung widerspreche, werden wir
zum Schlüsse sehen.
Rein intensiv in dem Sinne, dass wir darin keinerlei
räumliche Grösse auffassen, ist im Grunde nur die Empfin-
dungsweise des Gehörs, weil dieses überhaupt nur darauf an-
gelegt ist, die eigenthümliche Wirkungsform inne zu werden,
nicht aber eine Einwirkung nach ihrer Ausdehnung. Allein
selbst die Gehörempfindung enthält doch nach ihrer allgemeinsten
Grundform insoweit ein Extensives in sich, als sie durchaus
das Gefühl einer Einwirkung von aussen her, eines Ein-
wirkenden ausser uns, in sich schfiesst, also wenn auch 'keinerlei
Raumgrösse, so doch jenes allgemeine Grund verhältniss des
Raumes, ein Aussereinander und vielfach auch eine Richtung
dieses äusseren Herein wirkens. Es ist also durchaus vergeb-
lich, mit jener Trennung des Intensiven an der Empfindung
von ihrem Extensiven die Möglichkeit eines unmittelbaren inneren
Sinnesanschauung und logisches Causalgesetz. 159
Gegebenseins der Raumanschaiiung innerhalb der Empßndung
selbst widerlegen zu wollen.
Die wahre Grundfrage, auf welche bei dem Begriffe der
Empfindung und dem Ursprung der Raumanschauung alles
2uräckkommt, bleibt demnach vielmehr die, ob der organische
Vorgang in den Nerven und dem Centralorgane, durch welchen
die Empfindung hervorgerufen wird, nur durch mechanische
Bewegungen kleinster Theile vermittelt ist, oder ob er vielmehr
auf einer stetig hindurchgehenden und wahrhaft in ein and er-
wirkenden (innerlich intensiven) Einheit der Theile beruht, die
insofern gegenüber von jener bloss mittelbaren mechanisch-
atomistischen Fortpflanzung eine specifisch unmittelbare ist, und
in welcher so die örtlich raumliche Seite der äusseren Ein-
wirkung zugleich mit der qualitativen dem Centralorgane sich
mittheilt. Bei jener ersteren Auffassung bleibt nicht nur das
psychische Wesen der Empfindung (als einer inneren Selbst-
unterscheidung des eigenen Zuslandes) ein ganz unerklärtes
und metaphysisch hinter und über der Natur liegendes Ge-
biet, sondern es bleibt auch nach der äusseren gegenständlichen
Seite hin widersprechend, wie bei einer bloss mittelbaren, durch
getrennte Atome sich vollziehenden Fortpflanzung der äusseren
Erregung dennoch diese selbst als dieser äussere (peripherische)
Nervenzustand im Centralorgan soll empfunden werden können.
Und bei dem Gesichtssinne vollends steigert sich dieser Wider-
spruch in d e r Weise, dass nicht nur die Erregung des äusseren
peripherischen Sinnesorgans selbst als solche empfunden wird,
sondern dass sie sich überdiess, ungeachtet auch sie nur auf
einer mittelbaren Fortpflanzung, auf blossen Aetberschwingungen
beruhen soH, doch als Erscheinung des fernen Gegenstandes
selbst darstellt. Hier handelt es sich also nicht bloss um das
subjective Erscheinen des peripherischen Nerven Vorgangs in der
Empfindung, sondern entsprechend auch um das objective Er-
scheinen des fernen einwirkenden Gegenstandes. Beide Seiten
aber sind, wie Verf. dieses längst nachgewiesen und namentUch
in seiner neuesten Schrift (S. 162 ff.) wieder hervorgehoben
hat, im Gegensatz zur mechanisch - atomisttschen Theorie in
160 K. Cb. Planck:
eineo) und demselben allgemeinen Grund verhältuiss der Nalur
begründet, das im Lichte nach seiner ursprünglichen noch
individuaiitatslos universellen Form erscheint, im Psychischen
aber, und zunächst in der SinnesaufTassung^ in seinem subjectiv
individuellen Gegenbilde. Nachdem wir daher gesehen haben^
dass die Erklärung der Sinnesanschauung aus einem angeb-
lichen causalgesetzlichen Schlüsse zu den übrigen Schwierig-
keiten der mechanischen Theorie nur einen neuen noch härteren
Widerspruch hinzufügt, und dass ebenso aus dem empirischen
Wesen der Sinnesempfindung gegen ihre ursprüngliche und
unmittelbare Einheit mit der Raumanschauung nichts bewiesen
werden kann, sondern auch dabei wieder schon anderweitige
Voraussetzungen zu Grunde liegen, so gehen wir nun auf den
letzten Theil unserer Aufgabe, auf den positiven und wahrhaft
erschein ungsgemässen Begiiff der Sinnesanschauung, insbesondere
des Gesichtssinnes ein, um dann von hieraus den inneren Wider-
spruch, namentlich der Kantischen Auffassung, aber auch über-
haupt aller erst subjectiv secundären Erklärung der Sinnes- und
Raumanschauung, noch klarer zu machen. Die aligemein natur-
wissenschaftliche, wie die logisch kritische Begründung unserer
Gesammlansicht können wir dabei freilich in ihrer genaueren
Form nur von anderwärts voraussetzen und in kürzester Weise
zusammenfassen.
Zunächst liegt sie in dem logisch-kritischen Grundsatze ^)r
der zugleich auch die oberste Grundthatsache aller äusseren
Erscheinung ist^ dass stetig nur im Zusammen. eines quanti-
tativen Unterschiedes < im Zusammen eines Aussereinanders^
überhaupt Etwas oder Realität (in diesem wenn auch vorläufig
nur relativen Sinne) ist. Denn hierin liegt unmittelbar, dass
die Ausdehnung nicht, wie ein unvollständiges Denken meint,
ein selbständig äusserliches und beziehungsloses Nebeneinander
ihrer Theile ist, sondern gerade umgekehrt rein unselb-
*) Ueber die Begründung desselben s. „Log. Causalgesetz**,
S. 15 — 19, sowie den Schlussabsehnitt von „Seele und Geist", und
namentlich auch von dem Programme „Grundriss der Logik als Ein-
leitung zur Wissenschaftslehre", 1873.
Sinnesanschauang and logisches Caosalgesetz. 161
ständige und absolutzusammengehdrige innere Ein-
heit ihrer Theile. Da nämlich das aneinander Grenzende stetig
und überall nur in seinem Zusammen Etwas ist» so ist es
hierin eine schlechthin zusammengehörige und unzertrennliche,
rein und stetig ineinander fliessende Realität Jeder Theil gehört
ja der Realität nach rein unselbständig mit den andern zu-
sammen, ist schlechthin nicht für sich, sondern ein rein un-
selbständiger innerer Bestand theil des Ganzen. Er ist also selbst
gegen weit entfernte Theile desselben nicht äusserlich, sondern
ist als rein unselbständiger innerlicher Bestandtheil dieser Ge-
sammtrealität in ihnen auf wirksame Weise gegen-
wärtig. Alle Theile sind also stetige und rein unselbständig
ineinanderwirkende Zusammenfassung mit dem
Ganzen, und diese ist als eine von allen Seiten her gleich-
massige ihre innere Concentrirung (wie wir sie empirisch,
in einer schon bestimmteren und individuelleren Form, in der
Schwere sehen). So ist jene gegenseitige reine Einheit der
gesammten Peripherie einerseits nur im Centrum nach ihrer
Gesammtrealität vorhanden, ist nur hier als die Gesammt-
intensität Aber da sie ebenso gegenseitige unmittelbare
Einheit mit der ganzen Peripherie ist, so setzt sie sich zu-
gleich nach allen Seiten über d^s Centrum hinaus fort, als
unmittelbare innere Einheit desselben mit allen Peripherieseiten.
Und so ist sie vorerst selbstloses und innerlich universelles
Hinaiiswirken in die ganze Peripherie, Wärmestrahlung
(gleichwie schon das Centrum selbst als reines individualitäts«
loses Ineinanderwirken reine Wärme ist).
Aber auch die eigene, von der Peripherie selbst verschiedene
und insofern gegen sie abgegrenzte Intensität des Centrums
muss (da sie ja nur als die von allen Seiten herein- und zu-
sammenwirkende Einheit der Peripherie ist), von jeder Seite
her zugleich in unmittelbarer relativer Einheit mit der herein-
wirkenden entgegengesetzten Peripherieseite sein; sie muss also
nach ihrem gegen sie abgegrenzten Wesen oder nach ihrer
fernen Oberfläche (denn diese ist ja die Abgrenzung) doch
relativ in ihr gegenwärtig sein oder in sie herein sehe inen.
VierteljaliTSBCbTift f. wiasenschaftL Philosophie. QI. 2. 11
162 K. Ch. Planck:
Denn da jede Peripherieseite mit der entgegengesetzten im
Centrum als unmittelbare Einheit zusammenwirkt, so ist zwar
nur im Centrum ihre beiderseitige intensive Einheit vorhanden,
aber doch muss darin jede auch noch mit dieser hereinwirkenden
entgegengesetzten Peripherieseite in unmittelbar gegenwärtiger
relativer Einheit sein, muss nach ihrer intensiven und centralen
Einheit mit ihr wenigstens in sie herein seh einen. Und eben
diess ist ja (ganz der Erscheinung g^ynäss) die Natur des
Lichtes. Dass das Centrum ebensosehr nur die gegenseitige
innere Einheit der Peripherie, wie doch ebendann der geschiedene
Gegensatz zu ihr (zu dem blossen Welträume) ist, diess beides
stellt sich, wie schon in der Wärmestrahlung, so noch schärfer
eben im Lichte dar, als dem blossen Hinein scheinen in die
ganze Peripherie. Und in dieser Natur des Lichtes ist also
bereits die objective Seite der Sehempfindnng begründet, das
unmittelbare Hereinscheinen des fernen Gegenstandes selbst in
das Auge, wenn wir auch über alles Bestimmtere dieser physi-
kalischen Seite, Wesen der Farbe u. s. w., auf anderweitig
Gesagtes verweisen müssen. Nur das heben wir noch hervor,
dass ebenso wie unserer Nachweisung zufolge schon das logische
Causalgesetz Identitätsgesetz ist, so nach dem Obigen auch
die Grundform des realen Causalzusammenhanges (oder ur-
sprünghchen Wirkens) in der unmittelbaren und stetigen reinen
Einheit oder Identität des Aussereinanders mit sich selbst
liegt ^), und dass aus dieser unmittelbaren inneren Zusammen-
ßissung der Wirklichkeit mit sich selbst auch alle erst mittel-
bare und individuelle Concentrirung uiid Wirksamkeit ent-
sprungen ist.
Eben darum ist aber jenes Grund verhältniss auch schon
die erste nnd vorbildliche Begründung des Organischen und
seiner innerlich psychischen und geistigen Einheit. Schon die
Urform der StofHichkeit selbst ist nach dem Obigen nur als die
^) Ueber die tiefsiDiiige Ahnung dieser Wahrheit in der alten
Philosophie (Eleaten, Heraklit u. s. w.) vgl. „Log. Causalgesetz^^
S. 114 ff. und das hierauf bezügliche Programm des Verfassers.
\
Sinnesanschauung und logisohes Causalgesetz. 163
unmittelbare innerlich concentrirte Hervorbringung
und ala rein nndifferenorte Keimform gleich der organischen.
Sie ist concenftrirte, rein ineinander wirkende Gesammtthätig-
keit, und hierin innerlich unirerselle Centrumseinheit gleich dem
Geiste. Und sie ist von dem Organischen und Psychischen
nur dadurch verschieden, dass in ihr jene ineinander wirkende
Einheit noch eine rein aussehUeasende und individualitatslose
ist, während das Organische diese centrale Einheit schon im
Entgegengesetzt»! 9 innerhalb der individuellen Stoiftheiie und
innerhalb einer immer vollständigeren Scheidung von Centrum
und Peripherie verwirklicht. Allein indem so die Natur von
Anfong innerlich concentrirte Hervorbringung oder einheitlich
zeugende Macht ist, so schhesst sie auch die Entwicklung zur
v(^en und consequenten Form selbständig innerlicher Ein-
heit und Concentrirung in sich. Im ursprünglichen Grund-
Verhältnisse nämlich, in welchem noch die Einheit sämmtlicher
Peripherietheile mit der ganzen Peripherie das Be-
herrschende bleibt, muss ebendamit auch noch die expansiv
warme und lichte Hinausbeziehung in die Peripherie herrschen;
sie bleibt also in den Urkörpern oder Sonnen die äberwiegende
Grundbeziehung. Allein die intensive innere Zusammen-
fassung ist im Gegensatz hiezu vielmehr central und nach
innen gehend. So wie sie sich schon überhaupt im Centrum
und als Gegensatz gegen die Peripherie verwirklicht, so erhält
sie auch wiederum innerhalb des Centrums ihre volle
Consequenz und Wirkfichkeit nur in der rein centralen und
ganz nach innen wirkenden Richtung. Allein er^ vom Centrum
selbst aus, wo die Theile in sich schon intensive und nach
innen strd>ende Zusammenfossung sind, nicht mehr gleich den
ThdUen des Weltraums (oder der Peripherie) bloss in der
UneiBwirkenden Einheit mit dem übrigen Ganzen ihre intenätät
haben, kann und muss auch ebendesshalb jenes rein centrale
und nach innen gerichtete Streben sich geltend machen. Da
es aber innerhalb der Urkörper selbst wegen der entgegen-
gesetzten (peripherisch heissen und lichten) Grundbeziehung
sich nicht verwirklichen kann, so muss es sich durch selb-
164 K. Ch. Planck:
standige Ausscheidung aus dem Urkörper bethäügen, ab-
eine selbständig neue und rein nach innen zusammenstrebende
Concentrirung^ die im GegensatE zu jener urspröngtichen un-
mittelbar kosmischen Hineinbeziehung in die ganze Peripherie
nun selbständig für sich besteht.
Wie also schon alle Stofflichkeit nur kraft der ineinander
wirkenden Zusammenfassung oder innerlich concentrirten Her-
vorbringung ist, so sind auch diejenigen Weltkörper, welche eine
selbständig nach innen gehende und ebendamit individuelle
Entwicklung nehmen, die planetarischen (im weitesten Umfange
dieses Wortes) nur durch die Consequenz der vollen selbsülndig
innerUchen Concentrirung, als eine selbständig ausscheidende
Geburt aus jenem noch individuabtätslosen und noch von
der ursprünglichen Gesammteinheit beherrschten Mutterschossie.
Und nur kraft dieses Ursprunges können diese Weltkörper
in ihrer reifsten Stufe (wie sie in unserer Erde vorhanden ist),
auch die vollendet innerliche Concentrirung, die organische
und geistige, zu ihrem Entwicklungsziele haben.
So sehr nämhch die neue Centrumsform ihrem Ursprünge
nach rein centrale Zusammenfassung und ebendarum hinsicht-
lich des innern Verhältnisses ihrer Theile noch individualitälslos
glühendes Ineinanderwirken ist^ so tritt doch eben durch die
Ausscheidung aus dem Urkörper auch ein ganz anderes freieres
Yerhältniss ihrer Theile ein. Diese sind ja jetzt nicht mehr
innerhalb der ursprünglichen noch rein selbstlos zusammen-
fassenden Einheit, sondern sind nach der Peiipherieseite hin
zugleich frei für sich, und indem jeder in sich schon,
nicht bloss in seinem Yerhältniss zum Ganzen^ Intensität ist,
so müssen sie sich je(zt gegenüber von jeaev einseitigen an**
fanglichen Zusammenfassung in ihrer relativen Selbständigkeit
geltend machen, als selbstische Zurückziehung in sich, Erkaltung
und Verdunkelung. Und indem in dieser Verselbständigung der
Theile auch die innere Einheit derselben sich stetig mit-
behauptet und so selbst zu einer individuellen umbildet (wenig-
stens bei den planetarischen Körperii im engeren Sinne), so
entwickelt sich die ganze Reihenfolge der besonderen Stoffe als
Sinnesanschauung und logisches Causalgesetz. 165
der naiurlichen Stufen, welche das innere Yerhaltniaa der Theile
%H ihrer nun gleichfalls individuellen Einheit durchlauft. Das
nothwendige Ziel dieser Entwicklung aber ist, dass auch in der
individuellen Losscheidung und Umbildung schliesslich die ur-
sprüngliche und beherrschende innerlich centrale Einheit der
Theile, die als ^e noch individualitatslos warme und lichte
(oder innerlich universelle) im unentwickelten Kerne des Planeten
vorhanden ist, sich mitbehauptet und milverwirklicht. Und so
geht sie nun nicht mehr unmittelbar in sich selbst in individuelle
Theilform über (womit sie zu irgend welcher unorganisch
äusserlichen Form erlöschen wurde), sondern sie bethätigt
sich wieder (gleich dem Ursprünge des Planelen selbst) als aus-
scheidender Concentrirungsact, der erst mittelbar, durch
organisirendes Ergreifen der schon vorhandenen indi-
viduellen Stoffe, sein inneres Streben nach individueller
Centrumsform verwirklicht. Diese aber kann ihre conse-
quentere Form nicht im blossen unmittelbaren TheiUeben haben,
wie in der Pflanze und im nervenlosen Thiere; sondern als
innerlich beherrschende centrale Einheit setzt sie sich dadurch
erst vollständiger, dass sie sich als Nervensystem mit innerlich
zusammenfassendem Gentralorgan von der bloss vegetativen Seite
ihrer LeibUchkeit abscheidet Und da jener individualitatslose
Kern des Planeten, von dem diess organisirende Entwicklungs-
streben ausgeht, noch innerlich universelle, von aller
besonderen Theilbestimmtlieit freie Einheit ist, so muss sich
diese zuletzt auch in ihrer organisirenden Thätigkeit als eine
solche Centrumsform setzen, die ihrer hödisten Stufe nach von
aller unmittelbaren Rückbeziehung auf die besonderen Theil-
bestimmtheiten ihres Nervenlebens geschieden, und insofern
unsinnlich universeile oder geistige Zusammenfassungs-
form ist.
Innerhalb des Nervensystems nun ist die eigenthümliche
innere Einheit, auf welcher das psychische Leben ruht, nach
organisch^-stofflicher Seite zunächst durch das stetige chemische
Ineinanderwirken der Theile vermittelt. Denn wie schon die
Stofilichkdt selbst ihrem Ursprünge nach nur die rein ineinander
166 K. Cb. PU^k:
^wirkende Einheit der Ausdehnung ist, niobt eine fnr gich be-
stehende Substanz (was, wie wir anderwirts nachgewiesen
haben ^), in reine Widerspruche hineinführt), so ist auch die
chemische yeii>indung der indiriduellen Stoffe nur ihr erneutes-
volles Ineinanderwirken, ihr wahrhaftes inaerffiches sieh
Durchdringen (nicht ein bloss mechanisches sich Aneinander-
lagem kleinster Theile), wenn auch diess Ineinanderwirken als<
von Individuellem ausgehend selbst wieder zu einem neuen
äusserlichen Theildasein erlöschen muss. Durch die stetig in-
einander wirkende unselbständige Offenheit der Theile, zu weicher
die Nervenmasse in spedfischer Weise organisirt ist, werden
also die psychischen Organe zu einer individuellen Er-
neuung der ursprünglichen noch individuaUtatslos ineinander
wirkenden Einheit und Concentrirung. Sie werden selbst zu
einer stetig unmittelbaren inneren Einheit, deren Theilzustande
ebendamit auf untersch^end unmittelbare Weise Zustände des
übrigen Ganzen und des zusammenfassend«! Ceniralorganes
werden. AHein diess ist doch nur die eigenthümliche physische
Seite dieses Yertiältnisses. Dass dagegen die Theilzustande der
Nervenzweige innerlich unterschieden oder empfunden
werden, diese psychische Natur jenes inneren Einheitsver*
hältnisses, beruht vielmehr darauf, dass das zusammenfiassende
Centralorgan , unbeschadet jener innerlich offenen Einheit mit
den Nervenzweigen, doch smner organischen Anlage nach zu-
gleich ein gegen sie abgegliedertes, relativ für sich bestehendes
Ganzes ist, das in seinem orgamsch-chemischen Processe zu-*
nächst in sich selbst zu jener innerlich offenen Einheit
zusammengefasst ist, und von hieraus erst, als dieses relativ
besondere Ganze, mit den sensibeln Nervenzweigen in jenem»
organisch offenen inneren Einheitsverhältniss ist. Dadurch
kommen ihm die Theilzustande der sensibeln Nervenzweige-
zugleich in der Form eines Andern, eines von ihm selbst
unterschiedenen und ebensosehr ausser ihm liegenden
Theilzustandes zu. Und eben diess macht ja das Wesen der
V Vergl. namentUdi „^^g. Cansidgesete^, 8. 16 ff.
Silmetantchaaaog und logisches Causalgesetz. IQ'J
siBiiHcheii Empfindung aus, dass das Centralorgan den Zustand
des Nenrenzweiges innerlich als seinen Zustand mitgelbeilt
erhjdt, und doch in der Form eines von ihm selbst unter-
schiedenen objeetiven Theilzustandes. Erst durch diese
relative Scheidung also, die innerhalb des unmittelbaren inner-
lich offenen Einheitsverhältnisses vorhanden ist, wird dasselbe
in die subjective Form, in die der innerlichen Selbstunter-
scheidung erhoben, so dass aber diese hier noch bloss in der
unmittelbaren inneren Beziehung des Centralorgans auf die
sensibeln Nervenzweige selbst vorhanden ist. Und hiemit erst
ist nun auch deutlich, wie dieses Verhältniss des Centralorgans
zu den peripherischen Nervenzweigen die gegenbildlich indivi-
duelle Erneuung jenes oben erörterten anfanglichen Grundver-
hältnisses von Gentrum und Peripherie ist, das wir in Wärme-
strahlung und Licht gefunden haben. Denn in diesem ersten
Grundverhältniss der Natur ist das Gentrum ungeachtet seiner
relativen Scheidung von der Peripherie doch individualitätslos
universelle Hineinbeziehung in diese, ist noch rein unselbständige
innere Einheit mit ihr. Das empfindende Gentralorgan hingegen
ist in seiner innerlich offenen Einheit mit den Nervenzweigen
doch zugleich in organisch individueller Weise gegen sie ab-
gegliedert, und so erhält jetzt jenes selbstlos lichte Hinein-
scheinen in die Peripherie sein individuelles Gegenbild an dem
subjectiven Erscheinen des peripherischen Nervenzu-
standes im Gentralorgane.
Nach diesem rein erscheinungsgemässen Begriffe der Em-
pfindung ist also dieselbe identisch mit dem in seiner vollen
innerlichen Natur erkannten organischen Vorgange selbst. Es
kann nicht mehr, wie bei der äusserlich mechanischen Auf-
fassung desselben, von einem blossen Reize und einer sub-
jectiven Reaction auf denselben die Rede sein, sondern der
psychische Vorgang ist in unzertrennlicher Weise eins mit dem
leiblich-räunUicheiiy und jene schon oben bekämpfte Trennung
der intensiven Seite der Empfindung (als einer angeblich punk-
tuellen) von der räumlich extensiven Seite ^ wornach sie un-
mittelbar eine Mehrheit von Theilzuatänden in sich enthält, zeigt
168 K. Cfa. Planck:
sich jetzt in ihrer ganzen Unhaltbarkeit. Indem z. B. die Haut-
fläche und durch sie das Nervenorgan des Tastsinnes eine Ein-
wirkung erleidet, so n^ird dabei das raumhch-örtliche der Ein-
wirkung kraft jener stetigen innerlich offenen Einheit, die in
den Nerven stattfindet, in einer von der intensiven Eigenthnro-
lichkeit des Nervenzustandes unzertrennlichen Weise zu einer
inneren Bestimmtheit des Centralorganes und damit zum In-
hah der suhjectiven Unterscheidung. In einer noch ungleich
schärferen Weise wird hei dem Auge (zufolge der specifischen
Natur dieses Sinnes) die räumlich - örüiche Seite der im Auge
sreRenwärtigen Licht- und Farbenerscheinung zugleich mit deren
eigenthiimUch quahtativer Natur zum unmittelbaren Inhalt des
ganzen Nervenzustandes und des Centralorganes. Denn auch in
seinem Yerhältniss zur äusseren Einwirkung ist ja der
Nervenzustand (hier und bei allen Sinnesorganen) ein inner-
lich offener, kein gegen die Einwirkung mechanisch äusser-
licher^ so dass ebendamit die specifische Natur des Einwirkenden
in ihm offenbar werden kann. Und wenn auch z. B. *der Seh-
nerv selbst kein durchsichtiges Medium für die Fortpflanzung
des Lichtes ist; so werden doch kraft seiner innerlich offenen
und unselbständigen Einheit mit den durchschienenen Theilen
der Netzhaut die örtlichen Theilzustände dieser zu unmittelbaren
Zuständen des ganzen Nervenorgans. Die Erklärung mittelst
sogenannter Localzeichen, welche bei dem Begriffe des blossen
mechanischen Reizes und der suhjectiven Reaction auf den-
selben zu Hilfe genommen werden muss, erweist sich also als
ein künstlicher Nothbehelf, der nur durch eine dualistische
Trennung des psychischen Vorganges von dem organischen und
durch eine demgemässe Verkehrung der Empfindung in eine
falsche subjective Selbstthätigkeit herbeigeführt wird. Die in-
teressante Entdeckung des sogenannten Sehpurpurs der Netz-
haut, in welchem durch chemische Einwirkung die Licht- und
Farbenerscheinung selbst sich ihrer eigenthumlichen Natur ge- <
mäss abbildet, gibt von der äusseren physischen Seite her
unmittelbar die Erklärung davon, wie das Hereinscheinen des
Gegenstandes in das sensible Organ zu einem hereinwirkenden
SinnesanscbaauQg und logittohes Causalgesetz. 169
Zustand des ganzen Nerven und des Centralorgans werden kann.
Und zugleich ist diese Entdeckung eine vollständige Bestätigung
derjenigen Ansicht, die wir schon fHlher über die Art der
Licht- und Farbeneinwirkung aufgestellt haben ^), so wie nament-
lich auch unsere Auffassung der Rothblindheit und überhaupt
der unterscheidenden Natur und Wirkung des Roth (im Gegen-
satz gegen die bekannte Helmholtz-Young'sche Hypothese) da-
durch vollständig bestätigt wird, dass eben das Roth auf den
Sehpurpur am schwächsten einwirkt Denn so liegt also der
lebhafte Eindruck des Roth, wie wir es a. a. 0. ausgeführt
haben, nicht nach der Seite der erregenden physischen Ein-
wirkung, sondern der subjectiven Auffassung des Centralorganes,
welche das eigenthümliche objecti ve Erscheinungswesen
des Roth selbst inne wird.
Dadurch nämlich, dass die Empfindung mit dem in seiner
vollen innerlichen Natur erfassten Wesen des organischen Vor-
ganges selbst identisch ist, wird die relative Selbständigkeit der
subjectiven Auffassung im Centralorgan^ wie Verf. dieses gleich-
falls längst dargethan hat'), durchaus nicht aufgehoben. Sondern
eben die eigene höhere Natur des organischen Verhältnisses, das
durch jene relative Scheidung des Centralorgans zu einem inner-
lich subjectiven erhoben ist, begründet auch die relativ selb-
ständige und von der Art der blossen physischen Einwirkung
selbst so vielfach abweichende Form der subjectiven Auffassung
(z. B. bei dem einfach Sehen mit den zwei Augen, bei der
Auffassung des Grössemasses, und der Entfernung u. s. w.).
^) Anthropologie und Psychologie, S. 87 ff., 92 ff., und „Seele
und Geist'S S. 434 ff., 451—456.
') In gleicher Weise hat er vor allem auch hinsichtlich der
geistigen Thätigkeiten gezeigt, dass, so sehr sie auch nur in und
mit organiiehen sich vollsiehen, sie desshalb nicht weniger geistig
freie sind, da der Geist (und analog das ganse Seelenleben) eben
durch die hÖhexe innerliche Natur seiner Organisation in Frei-
heit gesetzt ist gegen die niedrere bloss physische Seite der or-
ganischen Processe, von weicher der Materialismus das Seelenleben
abhängig macht.
170 K. Ck PUnek:
Und 80 hat denn Verf. dieses gerade in seiner neuesten Schrift
selbst (& 155 — 61) , so sehr säe die Erklärung der Sinnes-
anschanung aus einem causalgesetdichen Verstand^sacte bekämpft,
doch in nachdräcklicber und angehender Weise ausgeführt,
dass es nicht die vereinzelte objective ErscheinungsfiNrm
ist, die als solche auch zur Empfindung wird, sondern dass
die Erscheinung immer nur theils nach ihrem objectiv gegebenen
und bedingenden Gesammtzusammenhang, theils gemäss
der Gesammtheit der eignen subjectiven Anlage und
Lebensgewohnheit (d. h. der unbewusst ihrer früheren
Bestimmtheit gemäss fortwirkenden Nacherinnerung) auf-
gefasst wird. Nach dieser Seite liegt das Wahre an der jetzigen
Theorie. Allein alle die mannigfachen subjectiTen Abweichungen
der Sinnesauffassung von der blossen physischen Einwirkungs-
form begründen doch nicht jenen subjectiv idealistischen Ur-
sprung der Sinnesanschauung überhaupt, sondern erklären sich
(wie wir a. a. 0. und anderwärts nachgewiesen haben) voll-
kommen gerade aus der wahrhaft objectiven und naturgetreuen
ursprunglichen Gesammtnatur der Sinnesempfindung. Dass die
ganze Grundform unserer Sehempfindung, die Erscheinung
einer räumlich entfernten Oberfläche, erst Sache der auf
den Reiz hin reagirenden subjectiven Thätigkeit sei, diess ist
ebenso wenig aus jenen subjectiven Abweichungen zu be-
gründen, als es mit dem Wesen der logisch causalgesetzUchen
ThäÜgkeit und mit dem wahren Bepiffe der betreffenden
Naturformeu selbst, des Lichtes, der Farben u. s. w. zu ver-
einigen ist. ,
Und jetzt, nachdem wir in dem wahrhaft naturgemässen
Grundbegriffe der Sinnesempfindung feststehen und ihre volle
innerlich leidentliche Naturbedingtheit erkannt haben, jetzt
machen wir uns den reinen Widerspruch, in welchem sich die
Kantische Auffassung der Raumanschauung und jede erst
subjectiv secundäre Erklärung derselben bewegt, vollkommen
deutlich. Ein Innewerden eines Räumlichen, eine inner-
liche Unterscheidung desselben , ist die Ranmanschauung, oder
(nach objectiver Seite ausgedrückt) ein inneres Erscheinen eines
SiiinesaDschainiiig und logisches Cansalgesetz. 171
Räumlicheii. Wie Usst üch diess ftonsi irgend denkea, als so,
daw sie inneiüche Einheit mit einem Rftumlichen ist? Eben
darin besteht ja die Ansehauung, dass das Räomliobe in der
Form eines vom Subjeet Unterschiedenen, ihm EntgegengesetHen
und ausser ihm Liegenden, doch zugleich ihm innerlich ist und
in diesem Sinne in ihm hereinwirkt. Und eben diess haben
wir oben aus der innerlich organischen Natur der Empfindiing
und aus den entgegengesetzten Seiten erklart, welche die inner-
lich offene Einheit des Gentralorgans mit den sensibehi Nerven-
zweigen in sich schliesst. Darauf antwortet man nun freilich
von Kantischer Seite, diess Räumliche, mit dem das Subjeet in
solcher Einheit ist^ sei selbst nur subjective Erscheinung. Das
heisst also, es ist kein vom Subjeet unabhängiges Hereinwirken
eines Objectiven, gegenüber von welchem das Subjeet sich
wahrhaft leidentlich und empfanglich verhielte, sondern es rAhrt
vom Siibjecte selbst her. In welcher Weise also? Als ein im
Subjeet selbst auf unmittelbare leidentliche Weise vorhandener
Unterschied? Wäre diess der Sinn, dann wäre nur dasselbe
gesagt, was auch wir wollen, dass das psychische Subjeet selbst
eine objectiv räumliche und organische Seite in sieh schtiesst,
die ihm in dieser innerlichen Weise erscheint. Da diess aber
nicht der Sinn sein soll, so bleibt durchaus nichts übrig, als
dass jenes Räumhehe selbst nur durch die Thätigkeit des
Subjects, durch den Act des innerlichen Unterscheidens selbst
in ihm erscheint, (mag nun dieser, wie bei Kant, als mne schon
ursprüngliche und unmittelbare Auffassungsform gedacht werden
oder, wie in der jetzigen Theorie, als eine erst empiristisch
vermittelte und entstandene). Damit aber sind wir an jenem
gewaltsamen Widerspruch angelangt, den das Fichte'sche Ich
auf sich nehmen wollte, und an dem es zu Grunde gegangen
ist, dass das reine Subjeet selbst, das doch nur naturlose Thätig«-
keit sein soll, sich dennoch in sich selbst als diesen Gegensatz,
als diese erscheinende innere Leidentlichkeit setzt Ist es nun
der reine Widerspruch, dass das naturiose und unraumliche
Subjeet sich von sich selbst aus als jene innerlich leidentliche
und empföngliche Einheit mit einem Räumlichen setze, so
172 K. Ch. Planck:
bleibt nur das Andere übrig, dass diesdbe eine wahrhaft ob-
jective und empfänglich leidenüiche Naturbediogtheit im Sub-
jecte selbst ist, jene oben erklärte innerlich organische Ein-
heit, in wddier Psyclüsches und raumlich Leibliches auf un-
zertrennliche Weise eins ist, und welche wir als gegenbildliche
Erneuung des ursprunglichen Grundverhältnisses der Natur er-
kannt haben.
Zu dem Obigen kommt nun aber noch die Durch-
einanderwirrung ganz ^verschiedener psychischer
Stufen und Gebiete, zu wdcher die Kantische Auffassung der
Raumanschauung und jede ihr ähnliche führt Denn nach dieser
Theorie wäre also schon die unmittelbare Sinnesauffassung selbst,
vor allem die unmittelbare Sehemp6ndung, diess Innewerden
einer räumlich objecliven Erscheinung^ nur als ein selbstthätig
subjectiver schaffender Act, als ein rein psychisches, wenn
auch durch irgend welche (rein intensive) Einwirkungen ver-
anlasstes Produciren zu denken. An die Stelle einer leidentlich
empfänglichen, organisch innerlichen Naturbedingtheit, als welche
die Sinnesanschauung sich darstellt, würde jener rein schaffende
und unsinnlich selbstthätige Act treten. Denn unsinnKch wäre
er ja, sofern er rein innerlich psydiischer Art wäre (wenn
auch durch weiche Einwirkungen von unbekannter rein inten-
siver Art veranlasst). Demnach würde hier schon die unmittel-
bare Sinnesauffassung zu einem gleichen rein selbständig inner-
lichen Acte, wie es die sinnliche Einbildungskraft ist; ja
sie wäre insofern »och selbständiger als diese, weil sie ja das
sinnliche Raumbild rein schaffen würde, während die Ein-
bildungskraft immer nur am Inhalt früherer Sinnesauffassungen
das Material ihrer Thätigkeit hat. Der Stufennnterscfaied der
unmttelbaren Sinnltchkeit (oder unmittelbaren Reziehung auf die
Nervenzustände) und des sinnlichen Rewusstseins, weldiem
die Erinnerung und Einbildungskraft angehört, würde also auf-
gehoben. Schon die unmittelbare Sinnesauffassung würde zu
einer räumlich ordnenden und nach dieser Seite rein schaffenden
Einbildungskraft. Und so wird bei Kant in widersinniger Yer-
Sinnesaoachauung and bgiiches Causalgeaetz. X78
kehrung da» reine Subject, diese innerlich centrale Einheit, sum
Prindp aller räumlichen und mtliehen Verausserlicfaung und
sondernden Auseinanderiegung gemacht, statt dass umgekehrt
das Aussereinander in seiner stetigen reinen Zusammengehörig-
keit und Zusammenfiissung als die Grundlage und Quelle des
innerlich Centralen erkannt wäre.
Allein nicht weniger als der Unterschied der sinnlichen
Stufen wird auch der Gegensatz der unsinnlich geistigen Thätig-
keits- und Unterscheidungsformen von den sinnlichen aufge*
hoben. Denn schon die Raum- und Zeitanschauung wird ja
zu einem rein selbstthätigen Acte verkehrt, der durchaus kein
empfanglich passives Innewerden eines realen zeitlichen und
räumlichen Unterschiedes in sich schliesst, sondern diese Formen
erst selbstthätig hervorbringt. Und so wird dieser Act zu einem
unsinnlichen, obgleich er, in reinem Widerspruch damit, eben
die Grundformen alles Sinnliehen zu seinem schaffenden Inhalt
haben soll Kein Wunder, wenn bei einer solchen idealistischen
Aufhebung und Durcheinanderwirrung aller organisch psychischen
Stufenunterschiede auch schon jene ordnende „Synthesis^ der
sinnlichen Einbildungskraft als eine unbewusst durch die logi-
schen Kategorieen bestimmte und beeinflusste gedacht wird, oder
wenn bei Schopenhauer die Sinnesanschauung selbst vollends
zu einem schaffenden Yerstandesade verkehrt wird, der gemäss
dem (empiristisch mbsverstandenen und veräusserlichten) logi-
schen Causalgesetze die erscheinende Gegenstandsform erst her-
vorbringen soIL Die jetzige Theorie aber, mit ihrer auch von
Zeller vertretenen Erklärung der Sinnesanschauung aus soge-
nannten unmittelbaren Schlüssen^ (obgleich dieselbe nicht all-
gemein getheilt wird), zeigt ja auch nach dieser Seite, in diesem
Zusammenwerfen der unmittelbaren Sinnesauffassung mit einer
unsinnlieh intelligibeln Thätigkeit, wie sehr sie in dieser idealisti-
schen Aufhebung und Yermengung der organisch -psychischen
Stufenuntei-schiede mit Kant, Schopenhauer u. s. w. überein-
stimmt.
Gegenüber von all diesen bisher erörterten Widersprüche i
und dieser Yermengung ganz verschiedenartiger Stufen und
174 K. Ch. Planck:
Gebiete hatten wir daran fest, data nur durch de» oben ent-*
wickelten Begriff der Sinnesempfindiing und Sinnesanachauuog,
sowie andererseits des logischen Causaigesetaes, in gleicher Weise
der wahrhaflen Natur und Erscheinung, wie der roll-
ständigen Scheidung des Geistigen und LogisdMu von allem
Sinnlichen und Empirischen, ihr volles Recht wird. Nur von
jener obigen Grundanschauung aus erscheint schon der erste
Anfang der Natur, diess scheinbar Aeusseiüchste und Selbst«
loseste, in seiner innerlich centralen und zum Geiste hinaielenden
Einheit. Nur so wird ferner auch der organische Nerven- und
Gehirnvorgang nach seiner vollen innerlich psychischen Natur
erkannt im Gegensatz zu seiner mechanischen Veräusseriichung;
und nur so wird endlich in der Sinnesempfindung selbst, wie
in der ganzen objectiven Natur ^ die wahrliafte Erscheinung
wieder in ihr Recht eingesetzt, im Gegensatz gegen jene wider-
sprechende Wdt idealistischen Scheines, zu welcher die jetzige
Sinnestheorie und die mechanische Auffassung der Grundformen
der Natur sie gemacht hat Und doch, eben indem so die
Wurzel des Geistes in der vollen Natur selbst erkannt ist, tritt
er zugleich auch erst in seiner vollen Reinheit und Scheidung
von allen niedreren und sinnlichen Thatigkeiten hervor Er
ist als diejenige innere Zusammenfassungs- und Unterscheidungs*
form erkannt, wetohe im Gegensatz zu aller Sinnlichkeit und
allem sinnlichen Bewusstsein (sinnlicher Erinnerung und Ein-
bildungskraft) kraft ihrer ganzen organischen Abgliederung und
Centrumsstufe von aller unmittelbaren Beziehung auf die be-
sonderen T h e i 1 bestimmtheiten (d. h. Nervenzustfinde und Sinnes-
empfindungen) geschieden und frei ist, und ebendamit wieder
innerlich universelle Einhdt ist, gleich der anfauchen
Grundform der ganzen Natur- und Erdentwickelung. Und nur
so kann dann auch das Logische in seiner ganzen inhaltslos
formalen Reinheit, aber d>endamit auch in seiner univer-
sellen (auf keine empirisdie Beziehung beschränkten) Gilligkeit
und Bedeutung zum Bewusstsein kommen, und ihm gegen-
über wiederum das Reale als das nothwendige Gegentheil der
blossen logischen Einheit, als der unendliche stetige Unter-
Sinnesanschauung und logisches Caosalgesetx. 175
jBchied, in welchem aber die Einheit und Identität selbst erst
zu realer Kraft kommt, als seine innere centrale Zusammen-
fassung. Kurz nach allen Seiten ergibt sich das, was das Ziel
der neueren wissenschaftlichen Entwickelung ist, das wahrhaft
realistische und mit der voUen Natur geeinigte Gegenbild jenes
▼on der Natur noch entfremdeten und mittelalterlich idealisti-
schen Bewusstseins , das in der Kantischen Kritik seinen Aus-
druck fand.
Biaubeuren. K. Ch. Planck.
Zur Entwiokeliing der Willensäusserungen im
Thierreioh.
Erster Artikel.
Ein Versuch, sammtliche Willensäusserungen oder eine
Gruppe derselben auf eine Grundform zuruckzufühi*en und die
phylogenetische Entwickelungsreihe derselben zu zeigen, war
vor der Kenntniss der biologischen Entwickelungsgesetze, welche
bei der Entwickeiung der Organformen zur Geltung kommen,
nicht gut möglich, ist aber auch nach unserem Bekanntwerden
mit diesen Gesetzen bis jetzt, meines Wissens, noch nicht ge-
macht worden.
In ihrer psychologischen Werthigkeit sind die Willens-
äusserungen zum Nahrungserwerb, zum Sdiutz, zur Liebes-
werbung und Brutpflege noch nicht einmal systematisirt, ge-
schweige, dass deren allmälige Entstehung und Entwickeiung
gezeigt worden wäre. Wir haben ein System aller animalischen
Bewegungen, also auch der wiUkührlichen, von Job. Müller,
aber das ist ein System in Rücksicht der physiologischen
Werthigkeit Die Eintheilung der sog. thierischen Kunsttriebe
von Reimarus. aber hat nur noch historisches Interesse.
Um die Willensäusserungen der verschiedenen Thiere be-
urtheilen zu können, ist es unbedingt nothwendig, deren Be-
ziehungen zu einander zu kennen. Wenn schon die einzelnen
Organformen ohne Kenntniss der Entwickelungsreihen unver-
ständlich sind, so gilt das noch vielmehr von dem psycholo-
gischen Werth einer Willensäusserung; denn die morpholo-
gischen Gebilde können wir noch unmittelbar mit den Sinnen
wahrnehmen y von dem Willen resp. Trieb eines Thieres
beobachten wir nur den äusseren Effect. Es würde aber sehr
Zur Entwickeluug der WilieusäusseruDgen im Thierreich. 177
übereilt und falsch sein, wenn man nach jedem verschiedenen
Effect einer willkührlichen Bewegung auf einen anderen Willen
schliessen wollte. Der äussere Erfolg ist abhängig von den
morphologischen Verhältnissen eines Thieres und diese sind
Producte der Selection. Wie wir in vorliegender Arbeit sehen
werden, kann ein und dieselbe Bewegung, die Gontraction
des gesammten Körpers: 1) ein Entfernen vom Ort der
Gefahr, 2) ein Bergen der feineren Organe, 3) ein Zurück-
ziehen in die schätzende Hülle, 4) sogar ein Auspressen von
Vertheidigungsmitteln u. a. m. zur Folge haben. Wollte man
nun den Willen der verschiedenen Thiere nach dem äusseren
Effecte beurtheilen, so müsste man im ersten Falle annehmen,
das Thier sei sich bewusst, dass es sich durch Entfernung vom
Ort der Gefahr vor dieser retten könne, im zweiten Falle
musste man dem Thiere ein Bewusstsein davon zuschreiben
1) welches die feineren Organe sind, 2) dass diese am meisten
gefährdet sind und 3) dass durch deren Beschädigung das
Thier am meisten verliert; im dritten Falle musste man glauben,
das Thier habe ein Bewusstsein von der Werthigkeit seiner
Hülle und von der Zweckmässigkeit seines Zurückziehens; und
im vierten Fall müsste man gar ein Bewusstsein nicht nur vom
Vorhandensein der Waffen, sondern auch von deren Werthig-
keit resp. deren Wirkung voraussetzen. Damit kämen wir aber
dahin, schon bei den niedersten Thieren, nämlich bei den
Protozoen und Zoophyten klare Vorstellungen und Ideenver-
bindungen anzunehmen.
Die wissenschaftliche Wertlüosigkeit der meisten bisherigen
Beu^theilungen thierischer W^illensäusserungen hat ihren Grund
zum grossen Theil darin, dass man dieselben nach dem äusseren
Erfolg, nach ihrer Zweckmässigkeit beurtheilt hat Nun hatte
man ganz Recht, wenn man bei den niederen Thieren nicht die
klaren Reflexionen über die relative Zweckmässigkeit der Be-
wegungen voraussetzte, wie solche beim Menschen in den
meisten Fällen stattfinden, und so kam man auf die Theorie
des Instinktes. Auch Brehm, der uns ja das meiste Material
an Beobachtungen über Thiergewohnheiten gesammelt hat, weiss
Vierteljahrssclirift f. wissenschaftl. Philosophie. III. 2. ]2
178 O. H. Schneider:
dieselben aber nicht nach deren psychologischen Werthigkeit zu
beurlheilen, und aus diesem Grunde hat sein Werk ?erhältniss-
massig wenig wissenschaftlichen psychologischen Werth. Brehm
geht der Annahme vom Instinkte zu Leibe/ fallt aber in den
anderen Fehler, alle Gewohnheiten der Thiere für zweck-
bewusste zu halten. Das kommt nur daher, weil er sie einzig
nach ihrer Zweckmässigkeit, nach dem äusseren Effecte beurtheilt.
Die Erhaltung der Art erweist sich als der Endzweck aller
thierischen Bewegungen , und insofern als der Effect einer
Willensäusserung diesem Endzwecke dient, ist allerdings der
Zweck einer Bewegung nicht die Bewegung selbst, sondern der
äussere Erfolg derselben. Dass aber dieser Effect ein zur Er-
haltung der Art (wozu natürlich auch die Erhaltung des Indi-
viduums bis zu einer gewissen Zeit nöthig ist) zweckmässiger
ist, das hat seinen Grund nicht immer in den Reflexionen eines
Thieres, sondern in den meisten Fällen liegt die Ursache hierzu
in der Selection. Die Folgen der Selection sind eben nicht nur
die alleinige Erhaltung der relativ zweckmässigen Organe und
physiologischen Funktionen, sondern auch der zweckmässigen
Willensäusserungen. — Dass die Zweckmässigkeit des Effectes
einer Bewegung sehr oft ihre Ursache in der Selection hat,
geht schon daraus hervor, dass dieser Effect ganz und gar
durch die morphologischen Gebilde bedingt ist und man diese
selbst als durch die Selection entstandene annehmen muss.
Um aber die Bewegung und somit den Trieb resp. Willen
kennen zu lernen, welcher einem Effecte zu Grunde liegt, ist
es nothwendig diejenige Bewegung aufzufuhren, welche ver-
schiedenen Effecten gemeinsam zukommt. Das ist die *eine
Aufgabe vorliegender Arbeit. Eine andere Aufgabe ist die, zu
zeigen, dass alle verschiedenen Schutzbewegungen, auch solche,
denen verschiedene Triebe zu Grunde liegen, sich aus einer
Grundform entwickelt haben, dass die verschiedenen Triebe
Differenzirungsprodukte eines urspräuglich einzigen Triebes
sind. Dabei kommt von selbst zugleich die Frage zur Er-
ledigung, innerhalb welcher Thierklasse eine solche Willens -
differenzirung zuerst deutlich zu erkennen ist, welche gewiss
Zar Entwickelung der WillensäusserungeQ im Thierreicb. 179
för die yergleichende Psychologie ebenso grosse Bedeutung
hat, als die Gewissheit voin ersten Auftreten bestimmter Organe
für die yergleichende Anatomie.
Die Besprechung der Differenzirungen soll sich aber in
vorliegender Arbeit nur auf die Triebe beschränken, welche
sich direkt aus der Grundform entwickeln.
Es werden also folgende Fragen zu beantworten sein:
1) Welches ist die Grundform der Schutzbewegungen, und
ist diese eine willkührliche?
2) Welche verschiedenen Effecte sind auf diese Grundform
und den sie bedingenden Grundtrieb direkt zurückzuführen?
3) Welche anderen Triebe und Bewegungen diiTerenziren
sich direkt aus der Grundform , und in welchen Thierklassen
ist diese Differenzirung zuerst deutlich erkennbar?
Hierzu will ich gleich im Voraus bemerken^ dass, wenn
auch die meisten hier zur Sprache kommenden Thatsachen den
Zoologen bereits bekannt sind, ich es doch nicht unterlassen
habC; alle diese Beobachtungen auch selbst anzustellen, sie also
sämmtlich zu conlroliren und zwar von den oben angeführten
Gesichtspunkten aus, da die meisten Beobachtungen hierüber
bisher ohne bestimmten psychologischen Gedanken gemacht
wurden, wobei dann oft das wichtigere Element übersehen und
Unwichtigeres festgehalten wurde. Aus letzterem Grunde ist
von dem ungeheuren Material, welches z. B. Brehm über
Thiergewohnheiten gesammelt hat, nur weniges für eine wissen-
schaftliche vergleichende Psychologie zu verwerthen. Zu einer
solchen Verwerthung müssen alle Gewohnheiten noch einmal
von den oben besprochene i Gesichtspunkten aus beobachtet
werden; wozu ich, soweit dieselben besonders Seethiere be-
treffen, an Kreta's Küste und in Neapel reichliche Gelegenheit
gehabt habe. —
Wie das Prinzip aller physiologischen Vorgänge in einem
Thiere und überhaupt in einem Bion ein zweifaches ist, näm-
lich ein centrifugales und centripetales, resp. ein
Prinzip des Abgebens und Aufnehmens; so lasst sich auch,
wenigstens bei den niedersten Thieren, in den Willensäusserungen
12*
180 <^* H. Schneider:
nur ein doppeltes Prinzip beobachten, ein expansives und
contractives; und nach meiner individuellen Ansicht lassen
sich alle Willensausserungen auch der höchst entwickelten Thiere
aus diesen beiden BewegungsprinapieU; resp. aus zwei Trieben,
einem Expansionstriebe und Contractionstriebe
ableiten.
Der Contractionstrieb bildet nun die Grundlage alles
WoUens zum Selbstschulze, und die Contraction des ge-
sammten Körpers, wie wir sie bei den niedersten Thieren
beobachten, ist die Grundform aller Schuizbe-
wegungen, und zwar
i) weil sie die Schutzbewegung ist, welche in der phylo-
genetischen Entwickelungsreihe zuerst auftritt und bei den
niedersten Thieren Oberhaupt die einzig vorhandene bildet;
2) weil sie die einzige Schutzbewegung ist, welche in
irgend welcher Formabänderung in allen Thierklassen von den
Protozoen bis zum Menschen vorkommt;
3) weil sich die übrigen Schutzbewegungen direkt oder
indirekt aus ihr differenziren. —
Die niederen Protozoen (Moneren, Amoeben und Rhizo-
poden) zeigen nur primitive Willensäusserungen zur Nahrungs-^
suche und zum Schutze, ersteren liegt das expansive, letzteren
das conti*active Prinzip zu Grunde.
Zur Nahrungssuche und Ortsbewegung hierzu stülpen die
Moneren und Amoeben eine oder mehrere Partien des Proto^
plasmas aus, und die Rhizopoden dehnen^ wie bekannt, einen
Theil der Sarkode zu einer Menge Pseudopodien aus, die nach
Ha ekel u. a. Zoologen nur als weiter entwickelte homologe
Formen der primitivsten pai*tiellen Verlängerungen, wie wir sie
bei den Moneren beobachten, zu betrachten sind, und mit Hilfe
deren die Thiere sowohl Ortsbewegungen ausführen, als auch
tastend nach Nahrung umhersuchen. Um bei der Nahrungs^
suche möglichst vielseitige Berührungen mit andern Körpern zu
bekommen, werden möglichst viele Sarkodefaden gebildet und
diese im Yerliältniss zur Körpergrösse ungemein lang ausgestreckt
Wird dagegen ein Rhizopod unangenehm berührt, so zieht
Zar £ntwickelang der WilleDsimsserangen im Thierreich. Igl
ev zum Schutze alle ausgestreckten Theile zuräck und zu einem
leblos scheinenden Klümpchen zusammen. Das ist die einzige
Scbutzbewegung, der er überhaupt fähig ist.
Wenn auch bei dem grössten Theile des ganzen Thier-
reiches die Lokomotion sowohl zur Nahrungssuche, wie auch
zum Schutze (Flöchten) stattfindet, so gilt das doch nicht von
den Rhizopoden, die sich überhaupt nur sehr langsam zu be-
wegen vermögen und zwar, wieHäckeP) beobachtet hat, und
wie auch ich es gesehen habe, in ganz analoger Weise, wie die
Echinodermen, besonders die Echiniden, indem sie ihre Pseudo-
podien wie diese ihre Ambulacralfusschen anheften und durch
Contraction ders^ben den übrigen Körper nachziehen. Solch
langsame Lokomotionen sind zur Flucht schon gar nicht ge*
eignet y sondern können nur die Nahrungssuche bezwecken;
und für den Selbstschutz bleibt also, wie bemerkt, nur das
Zusammenziehen.
Bemerkenswerth ist jedenfalls die Thatsache^ dass man die
rein physiologischen Bewegungen von den Willensäusserungen
auch bei diesen niedersten Thieren schon deutlich unterscheiden
kann ; und dass beide bis zu einem gewissen Grade unabhängig
von einander sind. Als physiologische Bewegung ist die con-
tinuirliche Sarkodeströmung von beiden Seiten der Pseudo*
podien zu betrachten, welche, da sie diesen Fäden entlang geht
und an deren Spitzen sich von 8er einen auf die andere Seite
fortsetzt, eine centrifugale und centripetale zugleich ist, und
augenscheinlich dazu dient, in ihrer centripetalen Richtung
Nahrungspartikelchen dem Körper zuzuführen und in ihrer
centrifugalen Richtung die Sekretionen fortzuschaffen, gleichwie
bei den entwickelteren Thieren das Blut die aufgenommene
Nahrung allen Theilen des Körpers zuführt und zugleich die
Sekretionen mit fortnimmt und in den betreffenden Organen
zur Weiterschaffung abgiebt.
Die Willensäusserungen dagegen bestehen in dem Aus-
strecken resp. partiellen Verlängern der Sarkodemasse zu den
^ Häckel: „Die Radiolarien" S. 181—132.
182 O. H. Schneider:
feinen fadenförmigen Pseudopodien, in deren hin und her tasten-
dem Suchen nach Nahrung, in dem Zusammenziehen der Sar-
kode zum Schutz und in dem Anheften der Fäden und den
Contractionen derselben zur Lokomotion.
Hier könnte man freilich die Frage auf werfen, ob die
letzteren Bewegungen in der That willkuhriiche sind, also auf
einem Tiieb beruhen, oder nur automatische, von denen das
Thier nichts fühlt. Das einfache Ausstrecken und Zusammen-
ziehen könnte allerdings auch nur eine physiologische Ursache
haben ; ja, das Zusammenziehen zum Schutze macht nicht nur
bei den Rhizopoden, sondern auch bei den Wimperinfusorien,
bei allen Zoophyten, den Holothurien, Gasteropoden und den
meisten Würmern den Eindruck* einer automatischen und*
wenn man will, einer rein mechanischen Bewegung; und zeigten
die Thiere ihr Bewusstsein nicht bei ihren Bewegungen zur
Nahrungssuche und Liebeswerbung, so würde ich nichts gegen
die Ansicht Hacke Is sagen, nach welcher die Bewegungen
dieser niederen Thiere auf gleiche Stufe mit den Bewegungen,
welche bei Pflanzen vorkommen, zu stellen sind. Auf jeden
Fall hat Häckel, der wohl die meiste Kenntniss der
niederen Thiere besitzt, richtig beobachtet, dass deren Be-
wegungen sich bedeutend von denen der höheren Thiere unter-
scheiden. Das tastende Umhersuchen dagegen , welches auch
ich sehr deutlich schon an Rldiolarien beobaclitet habe, sowie
das Ausstrecken der Pseudopodien, Anheften und die Con-
traction derselben zur Ortsbewegung ist nicht aus physiologi-
schen Ursachen allein zu erklären.
Es ist nicht der Zweck vorliegender Arbeit auf die Unter-
schiede der Pflanzenbewegungen und derjenigen der niederen
Thiere näher einzugehen; aber soviel sei hier bemerkt, dass
ein Umhersuchen durch so lebhatles Hin- und Hertasten, wie
es die Rhizopoden zeigen, und wie es sich in den verschiedeil-
sten Formen durch alle Thierklassen fortsetzt, dass ein augen-
scheinliches Suchen nach einer Beziehung zur Aussen weit ohne
besonderen äusseren Reiz bei keiner Pflanze vorkommt Sind
aber die Bewegungen zur Nahrungssuche auch bei den Proto-
Zur EntwickeluDg der Willensäusaerungen im Thierreicb. 183
zoen schon willkübrliche , so haben wir keinen Grund , der
Schutzbewegung den Charakter einer bewussten Action ab-
zusprechen, um so mehr, als sich dieselbe Bewegung, nur in
gewissen Modificationen^ in allen Thierklassen, zum gleichen
Zwecke ausgeführt, wiederfindet, und dort zweifellos eine be*
wusste ist.
Aber diese Thiere haben ja weder Sinnesorgane noch
überhaupt Nerven!
Wenn wir allerdings nicht wussten^ dass sich die Proto-
zoen auch ernährten und fortpflanzten ohne besonders differen-
zirte Organe hierzu, dann würden wir auch nicht berechtigt
sein, eine Zustandsunterscheidung, d. h. ein Fühlen oder
Empfinden bei denselben für möglich zu halten ohne Nerven-
apparate ; denn das Reaguren auf einen Reiz ist ja noch kein
Beweis für das Vorhandensein einer Bewusstseinserscheinung*
So sehen wir aber, dass alle vegetativen Funktionen stattfinden
ohne besondere morphologische DitTerenzirungen hierzu ; warum
soll nun nicht auch ein Fühlen, ein Spüren irgend welcher
Zustandsveränderung ohne Nerven stattfinden können, umsomehr
als wir bei der Nahrungssuche der Thiere deutlich wahr-
nehmen, dass sie gewisser Unterscheidungen fähig sind, ohne
welche Fähigkeit das Tasten keinen Zweck hätte, gar kein Tasten
genannt werden könnte?
Max Schultze^) sagt sehr richtig: „Die von mehreren
Seiten erhobenen Zweifel gegen die Existenz einer organischen
Substanz, welche, ohne deutlich faserig zu sein, ausgezeichnete
Contractilität besitze, empfinde ^ und auf die Empfindungen
reagiren könne, ohne dass besondere, von den Muskelfasern
verschiedene, empfindende Organe in derselben differenzirt
seien, werden durch die unbefangene Beobachtung des Spides
der Gromia- und anderer Foraminiferenfortsätze gänzlich be-
seitigt/'
Sowohl das Ausstrecken zur Nahrungssuche als auch das
^) Max Schultze: „Ueber den Organismaa der Polytha]a<
mien" S. 16—17. Leipzig 1854.
184 G. H. Schneider:
Zusammenziehen zum Schutz Seitens der Rhizopoden können
ivir also ohne Bedenken als willkührliche Bewegungen be-
trachten, freilich nicht in dem Sinne, dass diese Thiere eine
Vorstellung vom Zwecke derselben hätten, wohl aber in der
Bedeutung 4 dass sie einen Trieb zur Ausführung dieser Be-
wegungen fühlen. Dass aber mit einer unangenehmen Be-
rührung der Trieb zum Zusammenziehen und bei Nahrungs-
mangel der Trieb zum Ausstrecken entsteht, diese zweck-
mässigen Verhältnisse müssen wir uns durch die Selection ent-
standen denken, so gut als andere zweckmässige Erscheinungen
der Lebewesen. —
Das Zusammenziehen hat hei den Moneren und Amoeben
nur einen Effect, nämlich die Entfernung der angegriffenen
Theile vom Ort der Gefahr. Bei den Rhizopoden dagegen ist
dieser Effect bereits ein mehrfacher. Es entfernen sich nicht
nur durch die Contraction die unangenehm berührten Theile
vom Ort dieser Berührung, sondern es werden auch die Sar-
kodefaden eingezogen und so also die feineren tastenden Theile
der Sarkode geborgen; und da die Foraminiferen ein- oder
mehrkammerige Schalen und die Radiolarien Kieselgitter gleich-
sam als schützende Hüllen ausscheiden, in denen sich immer
die Hauptmasse des Körpers befindet, und in welche die Sar-
kodefäden zurückgezogen werden, so ist das Zusammenziehen
zugleich ein Zurückziehen in die schützende Hülle.
Dieser dreifache Effect wird aber nur durch eine einzige
Bewegung erzielt , durch die einfache Contraction des ganzen
Körpers, und es ist klar, dass diese eine Bewegung auch nur
durch einen undifferenzirten Schutztrieb verursacht wird, während
die Mannigfaltigkeit des Effectes durch die Organisation resp.
morphologische Beschaffenheit der Thiere bedingt ist.
Bei den meisten Wimperinfusorien fällt der eine Effect,
das Zurückziehen in schützende Hüllen, einfach deshalb weg,
weil diese Thiere keine Hüllen bewohnen. Um so eclatanter
sind die beiden anderen Effecte, die sich besonders schön bei
den Vorticellen und Stentoren beobachten lassen. Wird ein
Vorticellenstöckchen unangenehm berührt, so fahrt das schön
iZur Entwickelang der Willensäusserangen im Thierreich. ]g5
:aasgebreitete Glockenbäumchen , wie bekannt, zu einetn un-
förmigen Klumpen zusammen; damit werden aber die Glocken-
Ihiere in einem Augenblicke sehr weit vom Ort der Gefahr
entfernt; und zu gleicher Zeit werden die grossen Wimpern,
welche das Peristomfeld umgeben ^ eingelegt. Derselbe Effect
entsteht, wenn sich ein angehefteter und lang ausgestreckter
:Slentor plötzlich zusammen- und sich damit nach der Anhefte-
stelle zurückzieht.
Nun ist das Entfalten der Wimpern und Strudeln mit den-
selben vom Ausstrecken des öbngen Körpers offenbar unab-
hängig, und der Expansionstrieb ist bei den Wimperthieren
also in einen Strecktrieb und Strudeltrieb differenzirt, ja, man
kann ausserdem noch einen Schwimmtrieb und Tasttrieb unter-
scheiden, da alle die betreffenden Bewegungen in verschiedener
Weise und in gewissem Grade unabhängig von einander aus-
geführt werden. Während aber der Nahrungs- resp. Expan-
sionstrieb so weit differenzirt ist, so scheint der Schutz- resp.
Contractionstrieb noch ein einfacher^ undifferenzirter zu sein;
denn ich habe nie beobachtet, dass ein Wimperthier zum
Schutze nur die Wimpern einlege oder nur den übrigen Körper
2usammenziehe. Handelt es sich in der That um den Schutz
bei irgend welcher unangenehmen Berührung, so erfolgt immer
Beides zugleich; mit der Gontraction des Körpers erfolgt das
Einlegen der Wimpern, wie es scheint, von selbst^ ohne dass
hierzu noch ein besonderer Trieb nötbig wäre. Das hat aber
nichts Befremdendes, weil sich der Nahrungstrieb überhaupt
früher weiter entwickelt als der Schulztrieb, wie ja auch der
Nahrungstrieb der Rlnzopoden sich schon in einen Streck-,
Lokomotions- und Tasttrieb differenzirt hat, während der
Schutztneb der einfachen Bewegung nach noch ein einziger,
undifferenzirter ist.
Aber sdbst bei den Zoophyten, speziell bei den KoraDen-
ihieren, ist das Zusammenziehen des Körpers und das Einziehen
der Tentakeln im Allgemeinen psychologisch, wie es scheint,
noch nicht gelrennt; mit der Gontraction des Körpers ziehen
sich immer zugleich die Tentakeln zusammen. Dass sie dabei
186 G. H. Schneider:
ganz eingezogen und von der lederartigen Oberhaut des Thierei»
ganz überdeckt und so voUkommen geschätzt werden, darf
man nicht als ein Bestreben des Thieres deuten, sie zu bergen,
sondern das liegt in der Organisation resp. in der Stellung der
Tentakeln und in der Art und Weise, in welcher die Con-
traction verlauft, nach welcher die Theile, die sich beim Aus*
strecken zuletzt herauskehren, nämlich der Mund und die
nächste Umgebung, zuerst und am meisten zurückgezogen werden.
Trotzdem aber bei der Nahrungssuche ^die Tentakeln Be-
wegungen ausführen, welche von einer Expansion und Con*
traction des übrigen Körpers ganz unabhängig sind, so beobachtet
man dagegen, dass bei der Schutzbewegung die Contraction de»
Körpers und das Einziehen der Tentakeln immer zusammen
erfolgt Berührt man nur leise eine Tentakel, so ist bei dem
geringen Reiz natürlich auch der Contractionstrleb sehr gering^
wie ja eine solche graduelle Yerscliiedenheit schon bei den
Protozoen zu beobachten ist, es zieht sich dann diese Tentakel
etwas zurück, während die anderen mehr oder weniger ihre
Stellungen behalten; aber zu gleicher Zeit kann man eine, wenn
auch noch so geringe Contraction des ganzen Körpers wahrnehmen,
Ist endlich die Berührung eine äusserst vorsichtige und leise,
und findet sie nur an einer Tentakelspitze statt, so erfolgt zwar
nur das Zurückbiegen dieser Spitze; allein in diesem Falle hat
das Thier auch höchst wahrsch^nlich keinen Schutztrieb, son-
dern die Berührung ist dem Thier nur insofern nicht gleich-
giltig, als es gewöhn l ist, die Tentakeln frei im Wasser schweben
zu lassen und dieselben von jedem festen Körper, den sie he-*
rühren, zu entfernen, falls dieser nicht ein Nahrungsobjekt ist.
Bei den freischwimmenden Coelenteraten ist nun allerdings
ein von der allgemeinen Körpercontraction unabhängiges Zu-
sammen- resp. Zurückziehen der Tentakeln und Fangladen zu
beobachten, so dass man hier auch eine anianglidie Dilfferen-
zirung des Contractionstriebes annehmen kann; allein wegen
der eigenthümlichen Organisation dieser Thiere vermag man
über dieses Bewegungsverhältniss nicht sicher zu urtheilen. Die
Quallen sind, abgesehen von der Schwimmbewegung, überhaupt
Zur EntwickeluDg der WiUeiuiiasserungeD im Thierreich. 187
keiner stärkeren Confraction fähig, und bei den Siphonophoren
sind ja die einzelnen Organe zugleich selbststandige Individuen.
Die so weit degenerirten Spongien erinnern in ihrer Con-
traction der Sarkode mehr an die Rhizopoden, als an ii*gend
welche andere Thiere.
Die freischwimmenden Coelenteraten und Rorallenthiere
haben nun aber noch ein anderes Schutzmittel ausser der Con-
traction an sich, das ist das Yerthddigen mit den Nesselorganen.
Die wichtigste Funktion dieser Gebilde ist wohl das Vergiften
kleinerer Beutethiere; allein da sich die Nesselkapseln bei jed-
weder Berührung entladen, so dienen sie, ohne dass das Tfaier
vielleicht das geringste Bewusstsein davon hat, zugleich als Ver-
theidigung. Die Mesenteriallllamente der Actinien sind aus-
schliesslich zu letzterem Zwecke vorhanden. Dieselben werden,
wie auch ich das so oft beobachtet habe, bei jedesmaligem
starken Zusammenziehen überall aus dem Körper herausgepresst
Ob aber die beiden verschiedenien Vorginge, die Contraetion
und das Heraustreten der Nesselbatterien, auch psychologisch
verschieden sind und auf einem zweifachen Triebe beruhen, ist
nicht sicher festzustellen. Es hat mir, wenn ich solche Tliiere
reizte, zuweilen scheinen wollen, als ob das Austreten der
Mesenterialfilamente nicht allein vom Zusammenziehen des Kör-
pers abhängig wäre^ indem sie zuweilen sofort ausgepresst
wurden und in anderen Fällen wieder nicht zum Vorschein
kamen, wenn auch der Körper bereits sehr stark zusammen-
gezogen war; allein diese Verschiedenheit kann auch an mor-
phologischen Verhältnissen liegen. Im Allgemeinen erfolgt das
Heraustreten der Nesselbatterien erst bei stärkerer Contraetion
und macht den Eindruck, als ob es eine unmittelbare Folge
der Contraetion sei. Als ich mir einst eine grosse Anzahl von
Eupagurus Pridanxii, welche mit Adamsien versehen waren, in
meinem Privataquarium in Neapel hielt, um näher zu unter-
suchen, auf welche Weise der Einsiedlerkrebs die U^bersiede-
lung der Adamsia zu Stande bringt^ beobachtete ich sehr ofl,
dass, wenn ich den Krebs attakirte, er die Actinie mit einer
Scheere in deren Tentakelkranz kneipte; und darauf traten
188 G. H. Sehneider:
jedesmal die Waffen des Blumenthieres heraus, weil sich in
Folge dieser Behandlung Seitens des Krebses das Thier sehr
stark zusammenzog.
Es könnte noch die Behauptung aufgestellt werden, dass
das Thier die Contraction nur als Mittel zum Zweck benutze.
Auf diesen Gedanken kann man kommen, wenn man die
Willensäusserungen nur nach dem äusseren Effect der Be*
wegungen beurtheilt. Bei dem grössten Theile der niederen
Thiere ist das Zusammenziehen die einzige Schutzbewegung^
deren sie fähig sind; und die zwedimässigen äusseren Erfolge
derselben sind nur als unbewusste Effecte zu betrachten, von
denen es auch gar nicht nothwendig ist, dass sie den Thieren
bewusst sind ; sie kommen in dem einen Fall so gut zu Stande,
wie in dem andern. Der Trieb zur Contraction genügt, nach-
dem ein Thier so oder so organisirt ist, um sich auf diese oder
jene Weise schätzen zu können. So haben wir auch das Aus-
pressen der Waffen Seitens der Actinien wohl nur als einen
äusseren Effect der Contraction anzusehen, was noch mehr ein-
leuchten wird, wenn wir jetzt die Effecte betrachten, welche die
einfache Contraction bei den Echinodermen , Wurmern und
Mollusken zur Folge hat.
Es ist bekannt, dass die Röhren holothurie, wenn man sie
in die Hand nimmt oder sie in Spiritus thut, im ersten Fall
zuweilen, im letzten Fall fast immer die ganzen Eingeweide
zum Mund berauspresst Dieser merkwürdige Vorgang nimmt
nach meinen Beobachtungen folgenden Verlauf. Nimmt man
das Thier aus dem Wasser, so zieht es sich einfach zusammen
ganz in der Weise wie die Actinien. Die nächste unmittelbare
Folge davon ist, dass das aufgenommene Wasser in weitem
Strahle ausgespritzt wird, ähnlich wie ja die Muscheln auch
beim plötzlichen Schliessen ihrer Schale das Wasser im Strahle
auspressen. Es wäre jedenfalls sehr naiv, wenn man annehmen
wollte, das Thier ziehe sich zusammen mit der Vorstellung,
den Angreifer dadurch voll zu spritzen. Der Wasserstrahl ist
eben nur ein unmittelbarer und unbewusster Effect der Con-
traction. Behält man nun die Holothurie noch länger in der
Zur Entwickelung der WillensäusseroikgeQ im Thierreich* lg9
Hand und reizt sie womöglich noch besonders, so wird die
CkMStraetion immer iatensiyer; und was geschieht nun? Es tritt
die bekannte milchweise klebrige und ungemein haftende Substanz
ausy mit welcher man in Ekel erregender Weise besudelt wird, und
die sich sehr schwer wieder entfernen lässt Da diese Substanz
kleineren Thieren auch den Tod bringt, wie ich beobachtet
habe, weil sich dieselben nicht wieder los machen können, und
da jedenfalls auch allen grösseren Seethieren so gut wie dem
Menschen diese klebrige Hasse unangenehm ist, so ist das Aus-
pressen dieser Substanz als ein Vertheidigungsmittel zu be*
trachten. Diese Vertheidigung ist aber ebensowenig bewusster
Zweck der Coniraction, als es das Wasserausspritzen ist, son-
dern kann eben nur als ein unbewusster, zweckmässiger, durch
die Seleclion erworbener Effect des bewussten Zusammen-
ziehens betrachtet werden.
Quält man nun die Holothurie noch weiter oder wirft sie
zur Tödtung in Spiritus, so steigert sich die Intensität der Con-
traction noch mehr und, jedenfalls gegen das Interesse des
Thieres, bis zu einem solchen Grad, dass schliesslich die Ein-
geweide zum Mund herausgepresst werden. Von diesem Effect
der Contraction wird nun Niemand mehr behaupten wollen,
dass er ein dem Thiere bewusster Zweck sei; denn es kann
unmöglich im Interesse des Thieres liegen, die feineren Organe,
welche allgemein im Thierreiche bei irgend welcher Gefahr so
viel wie möglich geborgen werden, blos zu legen und den An-
griffen auszusetzen, während sie im Leibe durch die derbe
lederartige Haut des Tliieres sehr gut geschützt sind. Sobald
ich eine Röhrenholothurie nur einige Zeit in die Hand nahm,
wurde durch die Contraction wohl das Wasser ausgespritzt
und die Vertheidigungssubslanz ausgepresst, aber niemals wurden
die Eingeweide herausgedrückt, was indessen regelmässig er-
folgte, wenn ich die Thiere in Spiritus warf, wo dann die
Contraction durch den Alkohol offenbar so beeinflusst wurde,
dass sie sich über den Willen des Thieres hinaus steigerte.
Wenn nun das Ausspritzen des Wassers und das Aus-
pressen der Eingeweide kein bewusster Zweck, sondern nur
190 &• H. Schneider:
unmiitelbare Folge der Contraction ist, so kann man auch das
Heraustreten der Vertheidigongsinasse nur als einen unbewusslen
unmittelbaren Effect der Contraction betrachten ; und man sieht
hieraus, wie das Vertheidigen der Actinien und anderer niederer
Thiere zu beurtheilen ist. Aehnliche Erscheinungen werden
wir unten bei den Gasleropoden wieder finden. i
Was nun die Contraction an sich bei den Holothurien be-
trifft, so scheint auch bei diesen Thiereu der Schutztrieb noch
ein^ einfacher oder sehr wenig differenzirter zu sein. Fast alle
Holothurien ziehen bei jedweder unangenehmen Berährung, die
einen Schutztrieb erweckt, gleich den ganzen Körper stark zu-
sammen, wobei immer auch die Tentakeln eingezogen werden.
Die Pentacta (Klettenholothune) vermag die baumt'örmig ver-
ästeUen Tentakeln allerdings eine nach der andern zu con-
trahiren, ohne dass der übrige Körper im geringsten Masse
dabei in Mitleidenschaft gezogen würde ; die Contractionen der
einzelnen Tentakeln sind ganz unabhängig von einem Zu-
sammenziehen der übrigen Körperlheile. Aber zu welchem
Zwecke werden diese Tentakelcontractionen ausgeführt? Um
die Tentakel in den Mund zu stecken und sie abzuschlecken,
also die kleinen Thierchen, welche sich daran gesetzt haben,
zu fressen; also wieder zum Nahrungserwerb ^). Beim Schutz-
trieb ist die Sache anders. Wenn man das Thier auch nur
an einer Tentakel irgend ein wenig unangenehm berührt, so
dass das Thier einen Schutztrieb fühlt, so zieht sich auch,
nicht allein diese Tentakel, sondern zugleich der übrige Körper
wenn auch nur wenig zusammen. Nur bei ganz leisen Be-
rührungen ist letzteres nicht der Fall; allein dann weiss man
auch nicht sicher, ob ein Schutztrieb überhaupt entstanden ist.
Immerhin ist zu vermutheU; dass eine anfängliche Differen-
zirung des Contractionstriebes bei der Pentacta vorhanden ist
Bei den Echiniden und Ästenden beschränkt sich die Con-
*) Diese Art der Ernährung Seitens der Pentacta ist meines
Wissens erst im neapolitaner Aquarium deutlich beobachtet worden;
und ich kann mich mit zu den ersten Beobachtern derselben zählen.
n
Zur Entwickelang der WillentSusserungen im Thierreich. 191
traction zum Schutze, soweit sie äusserlich und sichtbar ist,
nur auf die Ambulakralfösschen ; und zwar hat sie bei diesen
Thieren wieder einen anderen Schutzeffect, als bei allen bisher
besprochenen.
Da diese Echinodermen immer eine grosse Anzahl dieser
Saugfusschen an ihrer Unterlage angeheftet haben, um sich
daran fortzuziehen^ so ist, sobald die Fusschen contrahirt wer-
4len, der Erfolg der^ dass sich die Thiere fester an die Unter-
lage anziehen und nun nicht so leicht abzunehmen sind. Wenn
man plötzlich einen Echiniden anfasst, so kann man dieses
festere Anziehen an einem kleinen Ruck spuren.
Bei den Ophiuren ist der Effect des Contractionstriebes
ein Anziehen der Arme, welches aber, wie wir unten sehen
werden, regelmässig zu einer ganz neuen Schutzbewegung, zum
Flächten fuhrt.
Bei den Würmern und Gasteropoden verursacht der Gon-
tractionstrieb dieselben Effecte, als bei den bisher besprochenen
Thieren, nur zuweilen in ausgeprägterer Form. Wie bei den
Actinien und Holothurien, so werden auch bei manchen
Schnecken durch die Gontraction des Körpers gewisse Yer-
theidigungsmittel ausgepresst. DoUum spritzt, gereizt, aus der
Mundöffnung in weitem Strahle eine starke Säure aus, Aplysia
giebt Anilin yon sich, und auch Pneumodermon sondert bei
Angriffen eine Flüssigkeit ab. Ganz wie bei den genannten
€oelenteraten und Echinodermen erfolgt das Auspressen dieser
Yertheidigungsmittel nicht sofort, sondern erst, wenn die Gon-
traction einen gewissen Grad der Intensität erreicht hat, wie
ich sehr oft constatiren konnte. Der Gontractionstrieb allein
genügt auch hier bereits, um einen solchen Effect zu erzeugen,
und es ist bei den Schnecken so wenig anzunehmen, dass das
Auspressen der Veriheidigungsflüssigkeiten ein bewusster Zweck
der Gontraction sei, als bei den vorher genannten Thieren. So
gut das Vorhandensein dieser Flüssigkeiten resp.' das physio-
logische Vermögen sie abzusondern ein Produkt der Selection
ist, so gut ist es auch die Organisation, wonach sie bei der
Gontraction des Körpers heraustreten.
192 Gt. H. Schneider:
Bei allen Röhrenwürmern aad solchen Schnecken, welche
ein (iehause bewohnen, ist der Effect der Contraction stets eia
Zurückziehen in die schützende Hülle, welcher bei diesen
Thieren nun bedeutend ausgeprägter ist als etwa bei den Rhizo-
poden. Da nun manche Schnecken und einige Serpeliden am
vorderen Körperende eine kalkige Platte haben, welche in die
Oeffnung des Gehäuses resp. der Röhre passt, so yerbindet
sich mit dem Effect des Zurückziehens zugleich noch ein an-
derer, nämlich das Verschliessen der Oeffnung. Dass auch
dieser zweckmässige Effect nur ein unbewusster ist, zu dem
ausser dem Contractionstrieb kein anderer Trieb mehr erforder-
lich ist, sondern der ganz davon abhängt, ob durch die Se*
lection eine Verschlussplatte erworben wurde oder nicht, braucht
wohl kaum noch besonders hervorgehoben zu werden.
Die Patellen erzeugen durch ihre Contraction denselben
Effect als die Echiniden und Astenden, sie ziehen sich fest an
ihre Unterlage, wodurch dann der Rand ihrer Schale zugleich
mit dem Gestein in Berührung kommt, so dass die Thiere
vollständig bedeckt werden.
'Bei den Muscheln ist die Contraction des Schliessmuskels
jedenfalls unabhängig vom Einziehen des Fusses und anderer
Körpertheile ; denn die Muschel streckt den Puss zur Lokomo-
tion heraus und zieht ihn wieder zurück, ohne dabei die Schale
zu schliessen« Trotz dieser Unabhängigkeit zieht eine Muschel,
wenn man nur den ausgestreckten Fuss berührt, nicht nur
diesen zurück, sondern schliesst auch stets die Schale, so dass
bei der Schutzbewegung diese Unabhängigkeit nicht zu merken
ist und es zweifelhaft bleibt, ob der auf Schutzbedürfniss be-
ruhende Contractionstrieb bei diesen Mollusken differenzirt ist
oder nicht.
Die Schnecken zeigen nun eine solche Difierenzirung schon
ziemlich deutlich. Berührt man eine Helix nur leise an den
Fühlhörnern,* so stülpen sich diese ein, ohne dass sich die
Schnecke in das Gehäuse zurückzieht; reizt man dagegen den
ausgestreckten Schneckenkörper in der Nähe des Schalenrandes,
so zieht sich das Thier in die Schale zurück; zu gleicher
Zur Entwickelung der WiliensäuatieruDgen im Tbierreich. 193
Zeit stülpen sich aber auch die Fühlhurue r, ob*
gleich sie nicht berührt wurden, ein. Das ist ein
sehr bezeichnendes Faktum für die Art und Weise, in welclier
die Differenziruug des Contractionstriebes vor sich geht. Schon
bei den oben besprochenen Thieren der drei untersten Klassen
ist, wie bereits hervorgehoben wurde, eine verschiedene Inten-
sitätsstärke des Contractionstriebes bemerkbar, bei ganz leiser
Berührung zieht sich das Thier oft nur wenig zusammen, bei
stärkerem Reize dagegen mehr. Diese geringere Con-
traction beschrankt sich nun nach und nach nur
auf einzelne und zwar auf die gereizten T heile.
^chon bei den Holothurien imd Coelenteraten ziehen sicb^ ob-
gleich der Contractionstrieb noch nicht deutlich differenzirt ist.
die Tentakeln, wenn nur diese leise berührt werden, etwas mehr
zusammen, als der übrige K&rper. Das tritt nun bei den
Schnecken deutlicher zu Tage; hier ist die Contraction der
Fühlhörner nicht nur etwa bei der Nahrungssuche, sondern
auch beim Schutzbedürfniss in gewissem Sinne unabhängig von
der Contraction des übrigen Körpers, so dass man bei den
Schnecken wohl zwei Schulz- lesp. Contractionstriebe zum
Schutz annehmen muss, nämlich einen weniger intensiven
Trieb zum Einstülpen der Fühlhörner und einen intensiveren
zur Contraction des ganzen Körpers. Dieser letztere schliesst
aber den ersteren allemal mit ein, der weniger intensive Trieb
ist ein Theil des intensiveren. Diese Difl'erenzirung ist also
keine solche im Sinne etwa der Coordination , sondern im
Sinne der Subordination; und diese Subordination
ist hervorgegangen aus einer einfachen gra-
duellen Abstufung und aus einei' aUmäligen Lo-
kal isation der Contraction beim schwächeren
Schutzlrieb.
Viel deutlicher ist dieses Verhältniss der unterordnenden
Willensdifferenzirung, wie wir gleich sehen werden, bei allen
höheren Thieren ausgeprägt.
Ehe wir zur Betrachtung derselben übergehen, sei noi-h
einmal hervorgehoben, dass sich nach dem Vorhergeheüdeii
Vierteljalirsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. III. 2. 13
194 (*. H. Schneider:
fast säminüiche Schutzgewohnheiten, welche in den vier unteren
Klassen des Thierreiches und bei einem Theil der Mollusken
vorkommen, nur durch die Organisation bedingte verschiedene
zweckmässige Effecte eines einzigen Triebes resp. Willens sind.
Zurückziehen vom Ort der Gefahr, Einziehen der
empfindlicheren Organe, Auspressen von Ver-
theidigungsmitteln, festeres Anziehen an die
Unterlage, Zurückziehen in schützende Hüllen
und Ver schliessen der Hüllen, all diese verschie-
denen zweckmässigen Bewegungen erklären sich
aus dem einzigen Vermögen auf eine unange-
nehme Empfindung hin den Körper zusammen-4
ziehen zu können. Diese mannigfachen Effecte sind als
Producte der Selection, und die Eigenschaft der Thiere, nach
einem äusseren Reiz einen Tneb zur Gontraction fühlen und
diese Gontraction ausführen zu können, ist ebenfalls als ein
Produkt der Selection zu betrachten. —
Zwischen aUen bisher besprochenen Thieren und allen
höheren von den Gephalopoden und Grustaceen an aufwärts
ist in psychologischer Beziehung nun ein bedeutender Unterschied
beinerkbar. Während die Gephalopoden in morphologischer
Beziehung ja mit den Gasteropoden zur Molluskengruppe ver-
einigt sind, entfernen sich erstere in psychischer Beziehung
sehr weit von letzteren, wie denn überhaupt eine psychologische
Eintheilung der Thiere wesentlich andere Gruppen bilden würde
als die morphologische. Ein i'äuberisches Leben und eine hohe
Entwickelung der Sinnesthätigkeiten und der Willensäusserungen
bedingen sich gegenseitig; die Gephalopoden, insbesondere die
Octopoden gehören aber mit zu den fürchterlichsten Räubern
des Meeres ; daher erklärt sich ihre hohe geistige Entwickelung,
welche zu den psychischen Aeusserungen der anderen Mollusken
einen starken Gontrast bildet. Psychisch stehen alle Gephalo-
poden den Wirbelthieren näher als den Gasteropoden ^). —
^) Die Mollaskenklasse ist auch in rein morphologischer Be-
ziehung eine ziemlich unglückliche; Gephalopoden und Gastero-
poden sollten besser zwei verschiedene Thierklassen bilden.
Zur Entwickelung der Willensäusserungen im Thierreich. I95
Bei allen ausgebildeten Arthropoden, Cephalopoden und
den meisten Vertebraten hat der allgemeinere Contractionstrieb
den Effect, welchen wir am besten mit dem Worte ,,Ducken^
bezeichnen, weil dieser Trieb ein Anziehen aller Extremitäten
einschliesst, wodurch die Thiere alle mehr oder weniger an die
Unterlage gedrückt werden. Man glaube aber nicht etwa, dass
das Ducken eines Arthropoden dem Ducken eines Raubsäuge*
thieres psychologisch gleichwerthig sei, zwischen dem einen und
dem andern liegt eine lange Enlwickelungsreihe. Von diesem
allgemeineren Contractionstrieb, der das Ducken erzeugt, ist nun
bei aUen hier genannten höheren Thieren der jenem unter-
geordnete^ weniger intensive Contractionstrieb, welcher seine
Wirkung nur auf einzelne Theile erstreckt, ganz deutlich
differenzirt; aber das Yerhältniss der Subordination dieser beiden
Triebe bleibt bei allen höheren Thieren bis zum Menschen
bestehen.
Wenn man, wie ich es oft gethan habe, vor ein Insekt
oder einen Krebs ein Bretichen stellt, in dem sich ein kleines
Loch befindet, durch dieses Loch eine Borste oder ein sehr
dünnes Reis steckt und damit die Fühlhörner des Arthro-
poden bei^ührt^ so werden nur diese zurückgebogen (der
Krebs legt die Augen zurück, wenn sie berührt werden), ein
Ducken erfolgt dabei nicht. Naht man demselben Thiere aber
mit der Hand, so duckt es sich; und beim Ducken werden
immer zugleich auch die Fühler resp. Augen mehr oder weniger
zurückgelegt. Auch bei den Cephalopoden ist das Ducken und
das Zurückfahren mit einer Armspitze ganz deutlich von einan-
der getrennt, letzteres ersterem aber untergeordnet
Diese partielle Contraction resp. das Zurückziehen einzelner
Theile beschränkt sich indessen bei allen Arthropoden haupt-
sächlich auf die Fühlhörner und erstreckt sich noch wenig auf
die Beine. Wenn man ein Insekt in der vorhererwähnten
Weise an einem Beine beunruhigt, ohne ihm auch mit der
Hand zu nahen, so wird in der Regel nicht dieses Bein einzeln
zurückgezogen, wie das bei den höheren Wirbelthieren der
Fall ist, sondern das Thier duckt sich, wenn es nicht zu fliehen
13*
196 Gr- H. Schneider:
*
vermag, ^ur die höheren Krebse ziehen ihre Scheeren unab-
hängig vom Ducken zurück, wenn man sich diesen naht.
Das Ducken ist am besten bei solchen Thieren ausgebildet,
welche nicht gut zu fliehen vermögen, weniger bei solchen, die
sich ihres besseren Fluchtvermögens bewusst sind. Die Krabben
ducken sich, so oft sich ihnen ein verdächtiges Ding nähert;
Hummern und Langusten legen in diesem Falle nur ihre Fühl-
hörner zurück^ gehen gravitätisch rückwärts, ducken sich fast
gar nicht, sondern fliehen durch Schwanzschläge, wenn ihnen
ein Feind gefährlich zu werden droht. Für die Maja hat das
Ducken einen ganz besonderen Werth. Da sie sich mit Algen
besteckt oder mit Steinen und Muschelschalenstückchen bedeckt
und sich zum Theil in den Sand vergräbt, so scheint sie, wenn
sie sich geduckt hat, mit dem Boden eins zu sein. — Bei den
Pagurenarten hat die allgemeinere Coniraction den £fi'ect des
Zurückziehens; dieses Zurückziehen geschieht aber mit voll-
kommenem Bewusstsein der Zweckmässigkeit. Diese Krebse
schätzen den Besitz eines Gehäuses so hoch, dass sie, wenn sie
ohne solches sind, in der grössten Angst umherrennen und
darnach suchen und dabei an kein Fressen denken, sondern
die besten Bissen ruhig liegen lassen, so lange sie ihren Hinter-
leib nicht wieder geborgen haben. Findet sich kein Gehäuse,
so wird letzterer in der Noth auch unter einen Stein oder
einen Algenfetzen gesteckt. Ein gefundenes Gehäuse wird sehr
sorgfaltig von innen und aussen untersucht und etwaiger In-
halt mit der Scheere herausgezogen. Alle diese Thatsachen
habe ich in meinem Privataquarium in Neapel vielfach beobachtet.
Ein Eupagurus Pridauxii wusste die Leinwand, mit welcher ich
ein IVatica-Gehäuse, das mit einer Adamsia versehen war, fest
verstopft hatte, nach fünfzehn Minuten mühevoller Arbeit zu
entfernen ; das ist ein Beweis dafür, dass der Krebs die Werthig-
keit eines solchen Gehäuses vollkommen kennt und zwar jeden-
falls besser, als wir sie kennen. Das Zurückziehen der Paguren
ist nun darnach nicht mehr als ein unbewusster Efiect der
Contraction zu betrachten, wie bei den Schnecken, sondern als
zweckbewusste That, die aber zur Gewohnheit geworden ist,
Zur Entwickelung der WillensäusseruDgeD im Thierreich. 197
und deren Entstehung immerhin der Contractionstrieb zu Grunde
li^ Mit welch klarem Bewusstsein das Zurückziehen Seitens
der Paguren geschiebt, beweist die Thatsache, dass, wenn man
ein Loch in die Schale macht, der Krebs sich nicht mehr
zurückzieht, sondern die Schale womöglich verlässt. Eine sehr
interessante hierher gehörige Beobachtung machte ich einst im
Aquarium zu Neapel mit Herrn Dr. S. gemeinsam. Eine Schild-
kröte hatte einen gio^sen Paguren in ihrem Bassin entdeckt.
Sie schwamm auf ihn zu; der Krebs zog sich mit raschem
Ruck zurück und verhielt sich ruhig in seinem vermeintlich
sicheren Versteck. Vergebens versuchte die Schildkröte das
harte Gehäuse zu zerbeissen; nach längerem fruchtlosem Be-
mühen liess sie dasselbe wieder liegen und schwamm seitwärts,
beobachtete es aber. Der Pagurus kam ruckweise heraus und
suchte zu entfliehen, sofort kehrte auch die Schildkröte wieder
zurück und packte die Schale, in welche der Krebs wieder
verschwunden war, von neuem ; lange Zeit biss sie au derselben
herum, aber der Krebs schien sich sicher zu fühlen und blieb
ruhig in seiner Schale. Endlich gelang es der Schildkröte ein
Loch in das Gehäuse zu beissen ; und von diesem Augenblick
an streckte sich der Krebs heraus, zog sicii nicht ein einziges-
mal wieder zurück, sondern zappelte mit seineu Beinen so
lange herum, bis ihn das ungeschickte Reptil fallen liess; er
floh und konnte sich noch rechtzeitig zwischen Steinen ver-
stecken. Bekanntlich gelingt es gar nicht oder nur sehr schwer,
einen Paguren aus seinem Gehäuse herauszuziehen, er lässt sich
meist lieber zerreissen als seine Hülle zu verlassen. Nahm ich
aber vom Gehäuse des Eupagurus Pridauxii die Actinie her-
unter oder bohrte ich ein Loch in die Schale, dann verhess
der Krebs immer freiwillig seine Wohnung. In ein Helix-
gehäuse kann man ein Loch machen an welcher Stelle man
will, kann auch die Schnecke am hinteren Körperende zer-
drücken oder zerschneiden, sie verlässt das Gehäuse nicht, son-
dern weiss sich nur zusammenzuziehen. Das beweist klar ge-
nug, dass bei den Schnecken nur der Contractionstrieb bewusst,
das Zurückziehen aber nur ein unbewusster in der Selection
198 <^- H. Scbueider:
erworbener Effect der Contraction ist, während das Zurück-
ziehen bei den Krebsen im vollen Bewusstsein des Zweckes,
resp. der Werthigkeit stattfindet.
Von den Krebsen an aufwärts ist nun bei allen Thieren
das Zurückziehen in die Hüllen ein zweckbewusstes. Entstanden
ist dasselbe offenbar bei den Würmern, und zwar hat es sich
weniger direkt aus dem Zurückziehen ohne Bewusstsein des
Zweckes, sondern in psychologischer Hinsicht wohl mehr aus
dem Trieb zum Flüchten und Verstecksuchen entwickeh.
Bei den Insekten und Spinnen äussert sich der Con-
traclionstrieb, ähnUch wie bei vielen Krebsen, hauptsächlich im
Ducken. Bei allen Arthropoden hat dasselbe den Charakter
einer willkührlichen und zweckbewussten Bewegung, die aber
zur vererbten Gewohnheit geworden ist. Der letztere Charakter
tritt besonders bei den Insekten sehr hervor.
Die Wirbelthiere, insbesondere die warmblütigen, zeigen
nun nach zwei Richtungen hin eine weitere Differenzirung des
allgemeineren Contractionstriebes. Einmal beschränkt sich die
partielle Contraction nicht mehr auf ganz bestimmte Theile,
sondern dehnt sich auf jede einzelne äussere Gliederung aus.
Je nach dem Angriffe können die höheren Wirbelthiere einzeln
mit dem Kopf, mit einem Bein, mit einem Flügel oder Arm,
mit einer Hand, ja mit einem einzelnen Finger „zurückfahren^
und die Augen oder den Mund schhessen, ohne den übrigen
Körper zusammen zu ziehen, obgleich trotz der versduedenen
Organiss^on der Trieb zur Conti*action des ganzen Körpers
noch existirt, sich aber nur in anderer Weise äussert als bei
den niederen Thieren. Schon von den Arthropoden an kann
von einer Contraction des ganzen Körpers im strengsten Sinne
bei keinem höheren Thiere die Rede sein, sie erstreckt sich
hier nur auf die Beugemuskeln. Trotzdem ist wohl der Trieb
und ist auch der Effect desselben ungefähr der gleiche als bei
den niederen Thieren, der Körper wird schmnbar verUeinert,
in jedem Falk verkürzt. Um diesen Effect des allgemeineren
Contractionstriebes bei den Vertebraten näher zu besprechen,
muss ich gleich die zweite Differenzirung berühren. Während
Zur Entwickelung der WilienBäusserungen im Thierreicb. 199
Dämlich der lücht zweckbewusste Contracüoiistrieb sowohl für
den ganzen Körper als fär einzelne Tbeile bestehen bleibt,
aber so leicht ausgelost wir^, dass die Contraction nicht nur
den Charakter einer Gewohnheit überhaupt hat, sondern sich
einer reinen Reflexbewegung nähert, bildet sich ein vollkommen
zweckbewusstes Einziehen dei* einzelnen Körpertheile sowolü,
als ein Zusammenziehen des ganzen Körpers aus. Alle höheren
Wirbelthiere zeigen ein Ducken und Einziehen einzelner Tiieile,
welches auf klaren Vorstellungen des Zweckes beruht und ein
willkühriiches im engeren Sinne ist; aber auch der ursprüng-
liche, nicht zweckbewusste Trieb zur Contraction des ganzen
Körpers oder einzelner Theile ist noch erhalten, wie sich
denn bei aller Triebs- resp. Willensdifferenzirung
ganz allgemein das Gesetz geltend macht, dass
ein einmal entstandener Trieb in irgend welcher
Form bestehen bleibt; dass somit Schutzgewohnheiteu,
welche niedere Thiere haben, auch bei den höheren Wirbel-
thieren und beim Menschen noch vorkommen, obgleich diesem
nun ganz andere Schutzmittel zu Gebote stehen. Ich will au
dieser Stelle nur noch ein Beispiel hierzu erwähnen, welches
dieses €resetz erhellt. Die niedrigste Art und Weise des will-
kührlichen Vertheidigens z. B. ist das Beissen mit den Kiefer»;
dann entwickelt sich das Wehren mit den Extremitäten, erst
bei den Wiiiielthieren und nur in einzelnen Fällen kommt ein
Vertheidigen mit umliegenden Dingen vor, und nur der Mensch
weiss sich mit künslüchen Waflen und mit der Rede zu ver-
Iheidigen. Trotzdem nun dem Menschen diese vollkommenen
Vertheidigungsmittei zu Gebote stehen, finden sich auch in der
<kttung homo sapiens die primitiveren Vertheidigungsweisen
noch vor; unter Umständen beisst der Mensch auch noch.
So bleibt also auch der ursprüngliche Conti*actionstrieb in
aUen höheren Thiei^n ehalten, nur dass er hier sehr modi-
icirt ist und vor allem eine ganz andere Werthigkett, oft sog^*
nur eine negative hat. Am deutlichsten können wir das zweck-
bewusste, vorbedachte Einziehen aller Körpertheile oder einzelner,
sowie andererseits den ursprünglichen nicht zweckbewussten
200 G. H. Schneider:
Gontractionstrieb, vermöge dessen wir unwilikubrlich „zusammen-
fahren'^ oder mit einzelnen Gliedern „zurückfahren", an uns^
selbst beobachten , weil beide Bewegungen , die unabsichtlichen^
und zweckbewussten, beim Menschen am deutlichsten diüeren-
zirt sind. Wenn sich irgend eine Gefahr langsam unserem
Kopf, einer Hand oder einem Fusse nähert, so weichen wir
bedächtig mit dem betreffenden Körpertheil aus; und wenn der
Mensch als Jäger ein Wild beschleichen will und es fär nöthig
hält sich zu ducken, so zieht er die Gliedmassen mehr an sich,^
beugt den Kopf und Rumpf und sinkt in die Kniee; die
meisten überhaupt vorhandenen Beiigemuskeln werden in diesem
Fall zur scheinbaren Verkleinerung der Gestalt contrahirL Noch
besser ist das Zusammenziehen des ganzen Körpers beim sog.
„Kauern" ausgeprägt. Wenn die Lazaroni Neapels kalte Winter-
nächte in Kirchthüren zubringen, so liegen oder sitzen sie so
gekauert, dass der Kopf auf den Knieen liegt oder zwischen
diesen steckt. Arme, Beine und Kopf werden der Mitte des
Körpers möglichst nahe gebracht. Ganz dieselben Bewegungen
als heim willkührlichen Ducken und Kauern machen wir in
geringem Grade, sobald wir erschreckt werden. Wir ziehen
dann alle Muskeln, besonders aber die Beugemuskeln auf einen
Augenblick zusammen; die Arme werden sehr auffallend an-
gezogen, auch sinken wir meist etwas in die Kniee und
schliessen stets die Augen. Diese Schreckbewegungen können
sich bekanntlich auch auf einen Theil erstrecken. Wenn unsere
Hand unvermuthet im Dunkeln einen unbekannten Gegenstand
berührt, wobei wir das Gefühl haben, als hätten wir irgend
etwas Geföhrliches oder Ekelhaftes angefasst, so zuckt unsere
Hand ganz unabsichtlich energisch zurück. Derartige Be-
wegungen haben sich so weit den Reflexbewegungen des ani-
malischen Systemes genähert, dass sie, freilich irrtimmlicher
Weise, oft als solche betrachtet worden sind, und dass in der
That unser Wille sie oft nicht zurückhalten kann. Darwin
vermochte es trotz des festesten Vorsatzes nicht dahin zu
bringen, seinen Kopf an die Glasscheibe zu legen, hinter welcher
sich eine Puffotter befand, ohne mit demselben zurückzufahren,
Zur Entwickelang der Willensäusserungen im Thierreieb. 201
wenn die Otter den Kopf vorstiess. Die Ursache zur all-
gemeinen Schreckbewegung ist nan nach meiner Ansicht das
Willensrudiment des ursprünglichen, nicht zweckbewussten all-
gemeinen Contractionstriebes , welcher sich durch die ganze
Thierreihe hindurch erhalten hat, und das unwillkuhrUche Zu-
rückfahren mit einem einzelnen Körpertheile beruht auf einem
Rudiment des ursprünglichen oben besprochenen Contractions-
triebes, welcher sich auf einzelne Theile beschränkt
Bei allen Säugethieren und Vögeln ist dieser Unterschied
zwischen der zweckbewussten Einzel- oder Gesammtcontraction
und zwischen dem Rest des ursprünglichen und nun unwill-
knhrlich gewordenen Contractionstriebes deutUch erkennbar.
Die Raubsäugethiere ducken sich zweckbewusst, wenn sie ein
Opfer beschleichen ; und werden sie ei*schreckt, so machen sie
dieselbe Duckbewegung unabsichtlich, sie „fahren zusamnien^^
wie wir Menschen.
ßei den Arthropoden ist diese Differenzirung noch nicht
oder nur in den ersten Anfangen (bei Spinnen und Krabben) zu
beobachten. Im Allgemeinen zeigt sich das Ducken der Glieder-
thiere als Wirkung des ursprünglichen Contractionstriebes, der
aber mehr und mehr ein zweckbewusster geworden ist, während
bei den Wirbelthieren eine Spaltung desselben eintritt, indem
sich eine vorbedachte Contraction ausbildet, während auf Grund
dieser Ausbildung der ursprüngliche Conti*actionstrieb wieder
zurückgebildet, wieder unabsichtlich, gleichsam von der zweck-
bewussten Contraction beherrscht und unterdrückt wird. —
Das absichtliche Ducken wird mehr zum Beschleichen der
Beute in Anwendung gebracht, während der ursprüngliche
Cpntractionstrieb mehr bei plötzlich auftauchender Gefahr zum
Selbstschutz zur Geltung kommt. Nun sind zwar insbesondere
die Krabben schon wahre Meister im Beschleichen, sie benutzen
jeden Gegenstand geschickt als Deckung, halten sich auch,
wenn sie bemerkt zu werden fürchten, ganz ruhig oder ver-
schwinden in den Sand; und auch manche Spinnen verstehen
die Fliegen sehr gut zu beschleichen; aber dieses Beschleichen
•geschieht bei keinem dieser Thiere, überhaupt bei keinem Arthro-
202 ^- H. Schneider:
poden in der geduckten Stdlung, wie dies bei den Raubsäuge-
tbieren zu beobachten ist. Nur bei den Krabben ist ein An-
fang hierzu vorhanden.
Die Cephalopoden zeigen dieses absichtliche Ducken beioi
Beschleichen schon etwas deutlicher^ wenn auch nicht in dem
Grade, wie die höheren Wirbelthiere ; und es ist die Spaltung
des ursprünglichen Contractionstriebes in ein absichtiiches
Duckeu und in ein mehr unwillkührliches „Zusammenfahren^
besonders bei den Oclopoden schon einigermassen deutlich zu
bemerken. Fährt man plötzhch mit der Hand dicht an der
Scheibe vorüber, hinter welcher sich ein Octopus vulgaris be-
findet^ so kneift er die Augen etwas zu und fährt zur geduckten
Stellung zusammen^ wobei dann auch immer eine momentane
dunklere Färbung des Thieres entsteht. Diese Bewegungen
machen ganz den Eindruck wie unsere Schreckbewegungen.
Beschleicht der Pulp nun einen Krebs, so bewegt er sich auf
den Boden oder an den Felsen gedrückt nach ihm hin, das ist
schon ein zweckbewusstes Ducken; indessen ist es noch wenig
ausgeprägt.
Bei den Fischen kann der Organisation nach von einem
Ducken in dem Sinne wie bei den übrigen Vertebraten und
Arthropoden nicht die Rede sein. Sie zeigen ein absichtliches
Ducken in der Form, dass sie sich an einen Felsen möglichst
vollkommen anschmiegen. Der ursprüngliche Gantractionstrieb
äussert sich nur im Niederlegen der Rückenflossen und An-
legen der Kiemendeckel.
Bei den Schildkröten hat der ursprüngliche Contractions-
tneb den Effect des Einziehens der Gliedmassen in den Paazer,
das absichtUche Ducken konnte sich bei ihrer Orgaiiisalieii
wenig oder gar nicht ausbilden. Bei den übrigen Reptäien
und den Lurchen ist dasselbe bereits deutlicher vom unwiQ-
kührlichen getrennt, und die Vögel und Säugethiere nähern sich
in diesen Verhältnissen, wie schon bemerkt, sehr dem Menschen.
Je mehr sich das zweckbewusste Ducken ausbildet, desto mdir
tritt das unwilikühriiehe zurück und nimmt die Form vmi
Schreckbewegungen an^ die scbUesslich nur noch wenig zwedi-
Zur Entwickeiung der Willensäusserungen im Thierreich. 203
massig sind. Je nach der Lebensweise der Thiere wird be-
sonders der arsprungliche Ducktrieb in seinem Effect sehr modi-
fidrt; die Beobachtungen hierüber sind aber noch sehr spärlich.
Die Vögel ziehen beim willkührlichen Ducken die Flügel nicht
an, sondern breiten sie aus, um sich eine möglichst platte Form
zu geben; und auch die Schreckbewegung ist hiemach etwas
modificirL Wenn ein Vogel erschrickt, was man sehr häufig
leicht beobachten kann, wenn er beim Fressen ist, so sinkt er
zusammen und breitet die Flügel aus. Die Heerdenthiere, ins-
besondere die Pferde, schnellen beim Schreck immer empor
und führen einen Sprung nach der Seite aus. Dieser Sprung
gebort nur zum Theil zur Schreckbewegung, zum andern Theil
liegt er in der Gewohnheit dieser Thiere, bei Gefahr immer ihr
Heil in der Flucht zu suchen. Beobachtet man aber ein er-
schreckendes Pferd genau, »o bemerkt man dann, dass der
eigentliche Schreck ein momentanes Zusammensinken des Thieres
zur Folge hat; es kommt hier der ursprüngliche Ducktrieb zur
Geltung wie bei allen anderen Thieren. 4ber eben dieses
momentane Zusammensinken ist die Ursache, dass dann durch
eine straffe Contraction der Streckmuskeln dieses Empor-
schnellen entsteht. Aehnlich wie bei den Pferden schliesst sich
bei allen Thieren, welche gut zu fliehen vermögen und auch
gewohnt sind, vor jeder verdächtigen Erscheinung sofort zu
fliehen, wie die meisten Vögel, die Hufthiere, Hunde und andere
Säuger die Fluchtbewegung eng an die Schreckbewegung an;
während z. B. die katzenartigen Raubthiere, welche wohl wissen,
dass sie in der Lokomotionsfahigkeit viele andere Säugethiere nicht
überbieten; sich dagegen zu wehren vermögen, immer beim
Schreck zur geduckten Stellung zusammensinken und in dieser
mehr oder weniger einige Zeit verharren. Der Hund springt
bei jedem Schreck auf die Seite; aber diesem Sprunge geht
immer das Zusammensinken unmittelbar voraus; die Katze
bleibt in der geduckten Stellung, insbesondere, wenn sie vom
Menschen erschreckt wird, bis sie sich womögKch davon-
schleichen kann.
Einen noch sehr ausgeprägten Effect hat der ursprüngliche
204 Qr. H. Schneider:
Contractionstrieb offenbar beim Schuppenlhier, Gürteltbier und
Igel, welche beim Erschrecken zur Kugel zusammenfahren wie
die Kugelassehd. Es scheint, dass bei den hier genannten
Säugethieren , deren Gewohnheit zum Zusammenkugeln in so
naher Beziehung steht zu ihren in der Selection erworbenen
Hautgebilden, der ursprungliche Gontractionstrieb wieder grössere
Bedeutung gewonnen hat; denn im Allgemeinen darf man
Schulzbewegungen, welche nur wegen gewisser in der Selection
erworbener morphologischer Gebilde ihren Zweck erfüllen, nicht
für zweckbewusste halten; und dann unterscheidet sich das
Kugeln dieser Säuger in der That auch nicht von dem der
Kugelasseln, welches ohne Zweifel ein Effect des ursprünglichen
Gontractionstriebes ist —
So sehen wir also, dass der ursprüngliche Gontractions-
trieb, welcher bei den niederen Thieren überhaupt allein das
Streben nach Schutz bildet, auch bei allen höheren Thieren er-
halten und trotz der Modificationen im Allgemeinen ziemhch
derselbe bleibt und auch ungefähr den gleichen Effect hat,
trotzdem die morphologischen Verhältnisse und die physiolo-
gischen Vorgänge so verschieden sind; welch letzteres sich
daraus erklärt, dass sowohl der ursprüngliche Trieb üls das
zweckbewusste Wollen in direkter Beziehung zum Effect steht.
Wenn unsere Hand bedroht wird, so denken wir nicht daran,
dass nur die flexores zu contrahiren sind, wir haben nur die
Willensvorstellung vom zweckmässigen Effect des Gontractions-
triebes. Aus diesem Grunde steht der Ansicht, dass das un-
willkührliche Ducken der höheren Tbiere aus demselben all-
gemeinen Gontractionstrieb hervorgehe, welcher bei den niederen
Thieren überhaupt der einzige Schutztrieb ist, nicht die That-
sache entgegen, dass bei den Arthropoden und Vertebraten von
einer Gontraction des ganzen Körpers nicht die Rede sein kann,
und das Ducken nur aus der Gontraction der flexores und
andererseits aus dem Nachlassen der extensores hervorgeht.
Der physiologische Vorgang ist wohl sehr different, aber Trieb,
resp. Wille und Effect bleiben ungefähr dieselben.
Daraus, dass sich der ursprüngliche Gontractionstrieb schon
Zur Entwickelung der Willensäusserungen im Thierreich. 205
vom Anfang unserer phylogenetischen £ntwickelungsreihe an
vererbt hat, erklärt es sich nun auch, warum sich die Schreck-
bewegung so unmittelbar auslöst, noch bevor eine Yorstellung«
ein zweckbewusstes Wollen entstehen kann, und sich deshalb
mehr den reinen Reflexbewegungen des animalischen Systems
nähert, als den sog. Gewohnheiten im engeren Sinn. Nun ist
nicht schwer zu constatiren, dass das allgemeine „Zusammen-
fahren", die Schreckbewegung im engeren Sinn, weit mehr den
Reflexcharakter hat, als das Zurückfahren mit einzelnen Theilen,
was sich nach meiner Ansicht daraus erklärt, dass, wie wir oben
gesehen haben^ der allgemeine Contractionstrieb ja schon bei
den Protozoen vorhanden ist und sich seit allem Anfang des
thierischen Lebens vererbt hat, während der Trieb zur Con-
traction einzelner Theile sich erst bei den Mollusken vom
ersteren zu differenziren beginnt und erst bei den Arthropoden
und Yertebraten deutlich ausgebildet ist. —
(Fortsetzung im nächsten Heft.)
Leipzig. G. H. Schneider.
üeber Wirbelatome und stetige RaumerMung.
£rster Artikel.
Die TheorieeD der Materie, welche in ihrer ausserordent-
lichen Mannichfaltigkeit ein erschreckendes Gewirr von Meinungen
darstellen, lassen sich nach einem doppelten Gesichtspunkte
gruppiren; entweder nach den Beziehungen, welche für die
Vertheilung der Materie im Räume, oder nach denjenigen,
welche für die Bewegung derselben gelten.
In Hinsicht auf die Vertheilung der Materie im Baume hat
man zu unterscheiden zwischen denjenigen Theorieen, welche
sich den Raum stetig von Materie ausgefüllt denken, und
zwischen solchen, in denen abgeschlossene, mit Materie erfüllte
Räume durch leere Bäume getrennt gedacht werden. Die letzteren
nenne ich nach allgemeinem Sprachgebrauche atomistische,
obwohl das unterscheidende Merkmal in der Betonung des
leeren Baumes liegt (kenotische Theorieen). Für diejenigen
Theorieen, welche von der stetigen Baumerfüllung ausgehen,
kenne ich keinen gemeinschaftlichen und bezeichnenden Namen,
da das Wort „dynamisch" sich auf einen anderen Eintheilungs-
grund bezieht und „stetige Theorieen'^ doch etwas anderes be-
deuten würde. Ich will sie daher der Kürze wegen unter dem
Namen plerotische Theorieen zusammenfassen, da der Be-
griff des vollständigen Erfüllens des Baumes das wesentliche ist.
Das zweite £intheilungsprincip unterscheidet die Theorieen
der Materie nach der Art, in welcher *die Bewegung vermittelt
wird. In dieser Hinsicht heissen dynamisch diejenigen
L
K. Lasswitz: Ueber Wirbelatome und stetige RaumerfülluDg. 207
Theorieen, welche eine Einwirkung der materiellen Theüchen
aufeinander durch fern wirkende Kralle annehmen, kinetisch
dagegen diejenigen, in welchen eine Uebertragung der Bewegung
ledighch durch unmittelbare Berührung (Stoss) vorausgesetzt wird.
Auf diese Weise entstehen vier getrennte Gruppen, deren
Unterscheidung mir von Bedeutung erscheint.
1. Die ato mistisch-kinetische Theorie, von Demo>
krit herstammend und in der modernen Physik als Theorie
der Gase von besonderer Bedeutung, meiner Ansicht nach die-
jenige, welche vom kritischen Standpunkte der Erfahrungs-
theorie aus die allein haltbare ist
2. Die aton^istisch-dynamische, aus der elfteren
entstanden, nachdem durch Roberval der Gedanke von in den
einzelnen Theilen der Materie wirkenden Kräften ausgesprochen,
durch Newton's Nachfolger die Idee der fernwirkenden Kräfte
eingebürgert war, wohl zuerst durch Boskovich consequent (als
sog. einfache Atomistik) durchgeführt. Atome, welche an-
ziehende oder abstossende Kräfte auf einander ausüben, bilden
bis zur Gegenwart die Grundlage der meisten Erklärungsver-
suche der Physik. Gegenüber der „einfachen" kann man eine
„corpuscuiare^ Atomistik unterscheiden.
3. Die plerotisch-kinetische Theorie betrachtet den
Raum als stetig erfüllt mit Materie, deren Theile sich durch
Bewegung differenziren und durch dieselbe auf einander wirken.
]hr Hauptvertreter ist Descartes. iNeuerdings ist sie der mathe-
matischen Physik zu Grunde gelegt worden und hat von da
aus zu dem merkwürdigen Versuche einer Begründung der
Atomistik geführt^ von welchem ich im Nachstehenden aus-
führlich reden werde.
4. Die plerotisch-dynamische Theorie denkt sich
den Baum stetig erfüllt von Materie, deren Theile alle auf-
einander durch anziehende und abstossende Kräfte wirken. Ihr
Vertreter ist Kant in den „metaphysischen Anfangsgründen der
Naturwissenschaft" .
Während diese letzte Theorie in der Physik keine Rolle
gespielt hat, scheint es in der jüngsten Zeit, dass alle anderen
208 K. Lasswitz:
Theorieen durch die Erfolge, der kinetischen Atomistik
verdrängt zu werden Aussicht haben. Es ist daher natürlich,
dass man nach einer Vertiefung der Grundlagen der kinetischen
Atomistik strebt und die Principien derselben begreiflich und
sicher zu machen sucht. Nach meiner Ansicht ist dies nur
möglich durch ein Zurückgehen auf den Ursprung unserer
physikalischen Erkenntniss; nur aus der Art und Weise, wie
unser Naturerkennen überhaupt durch Vermittelung unserer
Sinne zu Stande kommt^ kann man eine Begründung der Prin-
cipien der physikalischen Theorieen geben, wie ich dies an
anderer Stelle ausführlich dargelegt habe ^).
Auf anderem Wege hat ein berühmter englischer Physiker^
Sir William Thomson^), die Begründung der kinetischen
Atomistik gesucht, indem er auf die Stetigkeil der Materie
zurückgriff und, auf die Ergebnisse einer mathematischen Ab-
handlung von Helmholtz^) gestützt, die Theorie der Wirbel-
atome aufstellte. Da diese Theorie auch bei hervorragenden
deutschen Physikern lebhaften Anklang gefunden hat, so scheint
es angemessen, eine sorgfältige Prüfung derselben vorzunehmen.
Soll eine Theorie wissenschaftliche Bedeutung besitzen, so darf
sie nicht bloss in irgend einem Theile der Physik von prak-
tischem Vortheil sein^ sie muss^auch das Erkenntnissbedürfniss
des Geistes überhaupt befriedigen. Der Bau der Wissenschaften
muss ein einheitlicher sein.
Obgleich in letzter Zeit schon mehrfach populäre Dar-
stellungen der Thomson'schen Wirbeltheorie gegeben worden
sind ^), wird es doch nöthig sein, eine ausführliche Erörterung
^) Atomistik und Kriticismus. Ein Beitrag zur erkenutiiitts-
theoretischen Grundlegung der Physik. Braunschweig 1878.
*) Philosophical Magazine. Vol. 34. 4tk. Ser. p. 15. 1867.
^) Crelle-Borchardt's Journal für die reine und angewandte
Mathematik. 1858. Bd. 55. S. 25.
*) Tait, Vorlesungen über einige neuere Fortschritte der
Physik. Deutsch von Wertheim. Braunschweig 1877. S. 241 ff. —
0. E. Meyer, Die kinetische Theorie der Gase. Breslau 1877.
S. 243 ff. — Der Naturforscher. Herausgeg. von W. Sklarek.
XL Jahrg. Nr. 51. S. 477 ff.
lieber Wirbelatome und stetige Raumerfullung. 209
derselben ihrer Kritik voranzuschicken, um nicht nur die Re-
sultate, sondern auch die Fundamente klar zu steilen. Wir
beginnen mit den mathematischen und experimentellen Grund-
Jagen 1).
Es wird verlangt, dass man sich eine „vollkommene"
Flüssigkeit vorstelle, welche als ein Continuum aufgefasst wird
und deren Theilclien keine Reibung erleiden. Jeder Rauni-
punkt bestimmt durch seine Lage ein Flüssigkeitstheilchen,
dessen Dimensionen sämmtlich als „unendlich klein" anzusehen
sind; zugleich kommt jedem Punkte eine bestimmte Dichtigkeit
zu, welche, mit dem Volumen des durch ihn bestimmten un-
endlichkleinen Flussigkeitselementes multiplicirt, die Masse des-
selben darstellt. Man nimmt nun an, dass jedes noch so kleine
und in beliebiger Richtung in der Flüssigkeit gedachte Flächen-
t hei leben einen gewissen, von der Lage des Punktes zur
gegebenen Zeit abhängigen Druck erleide. Der Regriff des
Druckes ist nur eine andere Fassung für den RegrifT einer
Rewegungsursache, und die erwähnte Annahme sagt
daher lediglich aus, dass die Flüssigkeit in Rewegung ist, und
dass man nur in Gedanken von der thatsächlichen Rewegung
abstrahirt, indem man einen bestimmten momentanen Zustand
ins Auge fasst; ferner dass die Raumtheile der Flüssigkeit ihre
Rewegung durch ihre gegenseitige Rerührung auf einander
übertragen. Die Annahme der Vertheilung eines bestimmten
Druckes in der Flüssigkeit enthält also das kinetische Prin-
cip der Theorie in der Fassung der mathematischen Mechanik.
In dieser bewegt gedachten Flüssigkeit erleidet im Verlaufe
einer beliebig kurz gedachten Zeit jedes unendlichkleine Theilcheii
eine Veränderung, welche aus einer Verschiebung, einer Drehung
und einer Ausdehnung gewisser Art zusammengesetzt ist. In
Rezug auf die Drehung der unendlichkleinen Flüssigkeits-
theilchen ergiebt die Rechnung Folgendes:
*) Vergl. hierüber Helm hol tz in Crelle's Journ. Bd. 55. —
Kirch hoff, Vorlesungen über mathematische Physik. Leipzig
1876. — Tait, a. a. 0. — Auch Gröbli, Specielle Probleme über
die Bewegung geradliniger parall. Wirbelfäden. Zürich 1877.
Vierteljahrssclirift f. wissenschafll. Philosophie. III. 2. 14
210 K.« Lasswitz:
1. Wenn es einen Zeiimomeat giebt, in welchem ein be-
stimmtes Flüssigkeitstheüchen nicht rotirt^ so rotirl dieses
Flussigkeitstheilchen überhaupt niemals. Eine vorhandene
Rotation kann also niemals veniichlet und ein nicht rotirendes
Theilchen niemals in ein rotirendes umgewandelt werden.
2. Wenn es einen Zeitmoment giebt, in welchem die Axe
der Rotation zweier unendlich naher Theilchen mit der Ver-
bindun£;sHnie der Theilchen zusammenfällt, so findet dieses Zu-
sammenfallen jederzeit statt. Zieht man also, von einem be-
Uebigen Theilchen ausgehend, diurch die benachbarten Theilchen
eine Linie so, dass ihre Richtung überall mit der Drehungsaxe
der Theilchen, durch welche sie hindurchgeht, übereinstimmt,
so haben alle auf dieser Linie liegenden Theilchen die Eigen-
schaft, dass sich, wie auch ihre Bewegung sich ändern mag,
doch immer wieder eine Linie von gleicher Eigenschaft durch
dieselben Theilchen legen lasst. Eine solche Linie nennt Helm-
hollz eine Wirb elli nie. Diejenigen Theilchen, welche zu
irgend einer Zeit sich auf einer Wirbellinie befinden, bleiben
also immer auf einer solchen. Sehen wir nun die-
jenigen Wirbellinien als identisch an, welche immer durch ein
und dieselben Flussigkeitstheilchen hindurchgehen, so können
wir von einer Veränderung einer Wirbellinie im Laufe der Zeit
sprechen. Denn während die einzelnen Theilchen sich in ihren
Lagen verschieben, ändern sich auch die Richtungen der Ver-
bindungslinien der einander unendhch nahen Theilchen, welche
mit ihren Drehungsaxen übereinstimmen, d. h. es ändert sich
die Wirbelünie.
Die Gesaram theit aller Wirbelhnien, welche von einer ver-
schwindend kleinen Fläche ausgehen, constituirt einen Wirbel-
faden. Ein solcher Wirbelfaden umfasst also alle diejenigen
Flussigkeitstheilchen, welche auf benachbarten Wirbelhnien
hegen, und ist als ein unendlich dünner Flüssigkeitsfaden an-
zusehen. Er hat die Eigenschaft, dass das Producl aus einem
beliebigen Quersi;hnilt desselben mit der Drehungsgeschwindig-
keit dieses Querschnitts erstens von der Zeit unabhängig, und
zweitens in demselben AugenbUcke für alle Theile des Wirbel-
Ueber Wirbelatome und stetige KanmerfüUung. 211
fadens gleich gross ist. Hieraus folgt zunächst, dass, wenn die
Rotationsgeschwindigkeit des Fadens an einer Stelle abnimmt^
daselbst sein Querschnitt sich vergrössern muss, und umgekehrt
Der zweite Tfaeil des Satzes aber ergiebt die wichtige Eigen-
schaft, dass ein Flüssigkeitsfaden innerhalb der Flüssigkeit nie*-
niais ein Ende haben kann. Seine Enden müssen entweder in
der Oberfläche der Flüssigkeit hegen, oder er muss in sich
selbst zurücklaufen. ^
Befinden sich in einer Flüssigkeit Wirbeltaden, so trägt
jedes Element eines Wirbelfadens einen gewissen Theil
bei zu der Bewegung irgend eines Punktes der
Flüssigkeit. Giebt es in einer Flüssigkeit nur einen ein-
zigen Wirbelfaden, so bleibt derselbe im Allgemeinen an seinem
Orte, und jedes Flüssigkeitstheilchen, das sich in endlicher Ent-
fernung von ihm befindet, beschreibt um ihn einen Kreis mit
gleichbleibender Geschwindigkeit. Giebt es mehrere Fäden, so
wirken dieselb.en (durch Vermittelung der nicht wirbelnden
Flüssigkeit) auf einander ein. Doch nur für wenige sehr
einfache Fälle vermag die Analysis die entstehende Bewegung
zu bestimmen.
Um die mögUchen Wirbeibewegungen der Anschauung
näher zu bringen, sollen noch einige Resultate der Rechnung
hier angegeben werden. Zwei parallele, entgegengesetzt rotirende
Fäden schreiten mit gleichbleibender Geschwindigkeit senkrecht zu
ihrer Verbind ungsUnie fort. Die Theilchen der Flüssigkeit, welche
sich zwischen den Fäden befinden, bewegen sich in derselben
Richtung wie die Fäden, und zwar die in ihrer Mitte befind-
lichen mit der vierfachen Geschwindigkeit. Bilden die Wirbel-
tädeU; indem sie sich stetig an einander schhessen^ einen Cyhn-
der von endlichem Querschnitt, so bleibt dieser Querschnitt,
wenn er eine Ellipse ist, immer eine Ellipse. Dieser elUptische
Cylinder dreht sich mit einer bestimmten Winkelgeschwindig-
keit um seine Axe, wobei zugleich die einzelnen Wirbelfäden
untereinander relative Verschiebungen erleiden; und zwar be-
schreiben die einzelnen Flüssigkeitstheilchen innerhalb des
Cylinders Kreise mit gleichbleibender Geschwindigkeit, jedoch
14*
212 K. Lasswitz:
jedes Theilchen einen anderen Kreis mit anderem Radius und
Centrum.
Sind alle vorhandenen Wirbellinien Kreise, welche dieselbe
Axe haben, so entsteht ein ringförmiger Wirbel; auch dieser
Zustand, einmal vorhanden, besteht immer. £in solcher Wirbel-
faden behält denselben Radius, schreitet aber in der Richtung
seiner Axe fort, während die denselben umgebende Flüssigkeit
dwch die Oeffnung des Ringes in der Richtung des Fort-
schritts des Fadens hindurchströmt. Dabei rotirt jeder Quer-
schnitt des Ringes so ^ dass die Flüssigkeitstheilchen auf der
inneren Seite des RiTi|es dieselbe Richtung haben wie die fort-
schreitende Bewegung des Ringes selbst Zwei hinter einander
auf gleicher Axe fortschreitende Wirbelringe verhalten sich so,
dass, während der vorangehende seine Bewegung verlangsamt
und sich dabei erweitert, der zweite, bei rascherem Fortschritt
sich verengend, durch denselben hindurchgeht, worauf der
zweite dasselbe Spiel wiederholt ; begegnen sich zwei Ringe mit
gleichen Radien, gleichen und entgegengesetzten Rotations-
geschwindigkeiten, so werden sie sich einander nähern und
dabei sich gegenseitig erweitern und zwar das erstere mit bis
ins Unendhche abnehmender, das zweite mit immer grösserer
Geschwindigkeit. Aehnlich verhält sich ein einzelner Ring einer
festen Wand gegenüber.
£inem solchen Wirbelring ist auf keine Weise beizukommen ;
vor einem rasch genäherten Körper weicht er aus oder schlingt
sich um ihn herum; keine Macht vermag ihn zu zertrennen.
Die dargestellten Sätze werden durch die Erfahrung be-
stätigt. Zwar in einer „vollkommenen", *d. h. reibungsfreien
Flüssigkeit kann man keinen Wirbelring erzeugen, erstens weil
wir keine solche kennen und zweitens weiJ, wie gesagt, solche
Wirbel ewig sind. Aber in „reibenden" Flüssigkeiten ist es
möghch, sie zu erzeugen; zu beobachten sind sie am be-
quemsten in Gasen, die man durch fein vertheilte Staub-
theilchen sichtbar gemacht hat. Solche Wirbelringe sind die-
jenigen, welche man beim Tabacksrauchen bilden kann Tait
verfuhr methodisch folgendermaassen : Er nahm einen hölzernen
Ueber Wirbelatome und stetige Raumerfüllang. 213
Kasten, dessen eine Wand durch ein strammgespanntes Stück
Zeug ersetzt war, während die gegenüberliegende eine kreis-
förmig oder sonstwie gestaltete Oeffnung besass. In diesem
Kasten wurde chemisch der fein vertheilteste Saimiakstaub er-
zeugt. Ein Schlag auf die elastische ^and trieb nun einen
Theil der im Kasten befindhchen Luft sammt dem in ihr
schwebenden Salmiakstaub heraus, und der letztere machte die
Bewegung der die Saimiaktheilchen mitreissenden Lufltheilchen
sichtbar. Die Reibung der Luft an der Wand der Oeffnung
beim Heraustreten bewirkt nun in der That, dass bei jedem
Schlage ein Wirbelring aus dem Kasten hervorkommt, welcher
das theoretisch geforderte Verhalten zeigt (natürlich bis auf die
Unzerstörbarkeit). £r erweitert sich, wenn seine Gesammt-
bewegung sich verlangsamt, er prallt von anderen Ringen ab
und verhält sich wie ein elastischer Körper, er führt um seine
Gleichgewichtsgestalt (den Kreis) Schwingungen aus, wenn die-
selbe gestört wird, u. s. w.
Als Sir William Thomson die Helmholtz'sche Theorie
und das Tait'sche Experiment kennen gelernt hatte, da sagte
er: Jetzt haben wir das einzig wahre Atom (the only true
atom)! Diese Wirbelringe sind die Atome. Denn in der
Wirbelbewegung haben wir ja jetzt eine unvertilgbare Eigen-
schaft der Materie wirkUch nachgewiesen. Hier ist also ein
Ding, das niemals entstehen kann, es sei denn durch einen
Schöpfungsact, und das niemals vergehen kann; es behält für
alle Ewigkeit bestimmte Eigenschaften und erklärt somit die
Constanz der Eigenschaften der chemischen Elemente. Es wird
dadurch begreiflich, warum die Atome eines bestimmten Stoffes
in allen Gegenden der Welt in gleichen Phasen schwingen, wie
das die Spectralanalyse verlangt und wie es sonst nur bei zu-
sammengesetzten Molekeln erklärbar wäre. Es ist damit zu-
gleich ein Atom geschaffen, das die Eigenschaft der Elasticität
besitzt, das biegsam und plastisch ist und dabei doch undurch-
dringlich. Selbst eine Wirkung in die Ferne können diese
Atome mit Leichtigkeit ausüben, vermittelt durch die nicht
mitwirbelnde Materie. Zwar die Gravitation ist damit nicht
214 K* Lasswitz :
erklärbar '), aber auf die elektrodynamische Fernwirkung wird
auf diese Weise ein Licht geworfen. Uebrigens behält man
alle Yortbeile, welche die kinetische Atomistik zur Naturer-
klärung besitzt und gewinnt diese Fernwirkung nur noch zur
beliebigen Verwendung» hinzu. Endlich wird es gewiss auch
möglich sein, die Gesetze der Wärme und die Thatsachen der
Chemie aus der Energie und der Form der Wirbelatome zu
erklären. Um dies Alles leisten zu können ist weiter nichts zu
thun als anzunehmen, dass der Weltraum mit „Etwas^
erfüllt ist, das wir eine vollkommene Flüssigkeit
nennen, und das gewissermaassen Materie^ d. h. wahrnehm-
barer Stofi* dadurch wird, dass gewisse Theile desselben in
mannichfaltigster Weise von Ewigkeit her, oder, wie Thomson
sagt, durch einen Schöpfungsact (an act of creative power) in
Wirbelbewegung verselzt sind.
Die Thomson'sche Wirbeltheorie setzt also voraus^ dass
der Raum continuirlich von einer absoluten Flüssigkeit erfüllt
sei ; sie setzt ferner voraus, dass diese Flüssigkeit in Bewegung
sei, und dass die Theile derselben lediglich durch Bewegung
atif einander wirken. Denn wie ich bereits bei Darstellung der
mathematischen Grundlagen betonte, setzen dieselben die Fort-
pflanzung eines Druckes nach allen Riebtangen voraus, was
tatsächlich nur ein anderer Ausdruck für die Fortpflanzung
der Bewegung der Theile ist. Wenn wir uns nämlich ein an-
schauliches Bild der Vorgänge in der FlüssigkeiC machen woflen,
so ist mit „Druck^ als „Ursache einer Bewegung^ gar nichte
gesagt, sondern die Ansehauimg muss immer zurückgehen auf
die thatsächliche Bewegung der Masse selbst. Man kann auch
nicht sagen, dass nur diejenigen Theile des Raumes von Ma-
terie erfüllt seien, welche die Wirbel enthalten, weil eben erst
durch die Wirbelbewegung die Materie gesetzt sei und nicht-
bewegte Materie, Materie ohne Energie, nicht auf unsere Sinne
wirken könne; sondern es liegt im Wesen der Theorie, dass
auch d^ nicht wirbelnde Materie bewegt ist, wie dies
>) Tait, a. a. O. S. 24«, 249.
lieber Wirbelatome und stetige Raumerfüll ung. 215
unzweifelhaft aus den mathematischen Grundlagen hervorgeht
Es muss also auch dieser nicht wirbelnde Theil der Flüssigkeit
Energie und damit Realität im physikalischen Sinne, ebenso
wie die Wirbel, besitzen. Demnach muss die Th«mson'sche
Wirbeltheorie zu derjenigen Gruppe der Theorieen der Materie
gezählt werden, welche ich als plerotiscb-kinetiscbe bezeichnet
habe. Sie tritt dadurch unmittelbar in eine Reihe mit der
Theorie des Descartes.
Es ist nicht nur interessant, die genannten beiden Theorieen
'mit einander zu vergleichen, welche schon durch den Gebrauch
der Wirbelbewegung an einander erinnern; es ist auch im
höchsten Grade lehrreich zu sehen, wie der menschliche Er-
kenntnisstrieb bei seinen rastlosen Versuchen des Regreifens
immer wieder in gleichem Wirbel getrieben wird; es ist aber
geradezu nothwendig, neben die moderne Theorie diejenige
des scharfen Denkers Descartes zu stellen, wenn man die
Theorie der stetigen Raumerfüllung zu prüfen unternimmt Ich
werde daher zunächst eine Darstellung der physikalischen
Theorie des Descartes geben, und an die zugleich durch die
Geschichte derselben zn beleachiende Kritik die Resprechung
der Thomson'schen Theorie anschliessen. Es mag hier gleich
erwähnt werden, dass das Urtheil über die Theorie der Wirbel-
atome, insofern sie sich auf die Annahme der Plasticität als
einer Grundeigenschaft der Materie stützt, abweisend ausfallen
muss. Alles Nähere kann des beschränkten Rauoies wegen
erst in dem im nächsten Hefte folgenden, die hier nur ge-
gebene Einleitung abschliessenden Artikel auseinandergesetzt
werden.
Gotha. K. Lasswitz.
Znm ethischen Problem.
Es ist eine bemerkenswerthe Tbatsache, dass in dem so-
genannten practischen Theile der Philosophie noch immer eine
altherkömmliche Glaubens - Dogmatik herrscht , welche ' anzu-
tasten die Kritik bis jetzt eine heilige Scheu hatte. Auch einem
Feuerbach und einem Straiiss war die hergebrachte ethische
Doctrin ein noli me tangere, und selbst der Materialismus will
mit dieser Moral nicht ernstlich brechen. Es dürfte deshalb
sehr an der Zeit seyn^ d£tö unbefangene kritische Denken auf
diese ethische Frage zu lenken. So war es mir denn eine an-
genehme Ueberraschung, als ich in Heft 1 des Jahrgangs II
dieser Zeitschrift dem Aufsatze des Herrn A. Schäffle „Ueber
Kecht und Sitte vom Standpunkte der sociologischen Erweite-
rung der Zuchtwahl - Theorie" begegnete, durch welchen wenig-
stens ein beachtenswerther Griff in jene alte dogmatische Doctrin
gethan wird. Es scheint mir zwar eine einseitige Schemati-
sirungs- Liebhaberei zu seyn, wenn die Entwicklung von Sitte
und Recht lediglich unter die Rubrik der Darwin'schen Zucht-
wahls - Theorie gebracht wird, und ich halte dies um so weniger
für gerechtfertigt, als dieser Theorie auch in Sachen der Na-
tur schwer wiegende Bedenken entgegenstehen. Doch auf
diese Einregistrirung unter einen besondern analogen Namen
und das Bestreben, diese Analogie möglichst zutreffend durch-
zuführen, kommt am Ende nicht sonderlich viel an, wenn nur
der wesentliche Gedanke, von dem dabei ausgegangen wird,
richtig und probehaltig ist. Diesen Gedanken spricht Herr
Schäffle in den Worten aus: Es erscheine als zulässig. Recht
und Sitte als gesellschaftlich gesetzte, nach den geschichtlichen
Bedingungen der gesellschaftlichen Gesammt- Erhaltung sich
regelnde, aus der Erfahrung über Wohl und Wehe gewonnene,
von den geschichtlich gegebenen Trägern der Macht im Bande
mit den idealistischen Gesellschafts - Kräften äusserlich und in-
A. Steudel: Zum ethischen Problem. 217
nerlich erzwungene, durch Vererbung und Gewohnheit befestigte
Ordnungen des Thuns und Lassens, als Ordnungen der subjec-
tiven Organisation zur Eegelung des socialen Zusammenlebens
anzusehen (S. 44 — 45). Eecht und Sitte seien entwickelungs-
geschichtlich nothwendige Attribute des zur gemeinschaftlichen
Selbsterhaltung genöthigten Menschen (S. 49), und es sei sich
aller mystischen Erklärung derselben zu entschlagen (S. 59).
Ich freue mich^ im Allgemeinen meine vollständige lieber-
einstimmung mit diesem Gedanken aussprechen zu können. Es
ist jedoch mit diesem Gedanken die ethische Frage noch kei-
neswegs vollständig erschöpft. Hiezu wird vielmehr noch eine
ganze Reihe daran sich knüpfender Untersuchungen erfordert.
Icli meinerseits glaube diesem Erfordemiss in meiner ,,Kritik
der Sittenlehre'^ ein Genüge gethan zu haben^ und es wäre mir
daher von Interesse gewesen , wenn Herr Schäffle in seinem
Aufsatze auf den Inhalt jenes meines ihm offenbar bis dahin
unbekannt gebliebenen Buches Eücksi cht genommen hätte; wie
es mir denn überhaupt sehr wünschenswerth wäre, ein unbe-
fangenes Urtheil über die von mir in dieser Frage gepflogenen
Untersuchungeü und entwickelten Ansichten zu vernehmen.
Es hat sich mir seit lange mit unabweislicher Intensivität
das Bedürfniss aufgedrängt, gegenüber von dem besonders seit
Kant Mode gewordenen Speciiliren einer apokryphen Vernunft,
welches des Schwindels nur zu viel mit sich fuhrt, mit, einer
Philosophie des nüchternen, unbefangenen Verstandes aufzutre-
ten; und so habe ich mir die Aufgabe gestellt, diese meine
Philosophie in einem systematischen, alle philosophische Haupt-
fragen umfassenden Werke mit dem Titel „Philosophie im üm-
riss" möglichst gedrängt darzulegen. Von diesem Werke ist
der erste, die theoretischen Fragen besprechende Theil vor
mehreren Jahren, und von dem zweiten, die practischen Fragen
besprechenden Theile die erste Abtheilung unter dem Special-
Titel „Kritik der Sittenlehre" im Spätjahr 1876 erschienen.
In diesem Buche sind daher meine Untersuchungen der ethi-
schen Frage enthalten.
Ich habe es wahrhaftig für sehr an der Zeit gehalten,
insbesondere über die veralteten und verschimmelten, von Ge-
schlecht zu Geschlecht sich vererbenden Sittlichkeitsbegriffe
endlich einmal mit der Lauge einer verständigen Kritik her-
zufahren, mit den hier nach altem Herkommen mit unange-
griffener geheiligter Auctorität allgemein herrschenden Vor-
urtheilen und lUasionen gründlich aufzuräumen, Klarheit und
durchsichtiges Verständniss in diesen Knäuel miss verstand lieber
\
218 A. Steudel:
und vielfach sich widersprechender Anschaaungen, und Licht
in das hier obwaltende mystische Dunkel zu bringen.
Dabei habe ich mich indessen keiner Täuschung darüber
hingegeben, dass meine Kritik und die daran sieh knüpfende
Beform der Sittenlehre sich keines sofort sich sichtbar machen-
den Erfolges werde erfreuen dürfen. Inveterirte, seit undenk-
lichen Zeiten wie ein gefeites Evangelium für heilig gehaltene
Doctrinen und Glaubenssätze sind, insbesondere auf schrift-
stellerischem Wege, äusseret dentlich schwer zu corrigiren. Die
Menge hält sich ferne von wissenschaftlichen Erörterungen, zu
ihr vermag daher ein solches reformatorisches Unternehmen
gar nicht durchzudringen, und wenn es auch wirklich an sie
heranträte, so würde sie es sich nicht zu einem klaren und
durchschlagenden Verständniss zu bringen vermögen. Philo-
sophen aber, welche in einer bestimmten Frage bereits Stel-
lung genommen haben, pflegen sich — das ist eine Erfahrungs-
Thatsache — daraus durch keinerlei Angriffe und dnrch keine,
wenn auch noch so gewichtige Argumente verdrängen zu lassen,
und sind dabei in der Kegel nur darauf bedacht, solche sie be-
drohende Neuerungen, so gut es eben gehen mag, wenn auch
nur durch Ignoriren derselben, von sich abzuwehren, ohne mit
redlichem, wissenschaftlichem Ernst und mit ruhiger objectiver
Hingebung an die Sache sich auf die Streitfragen selbst einzu-
lassen. Ich durfte mir daher auf näher eingehende, zumal
beiföllige, Besprechungen meines Buches keine grosse Hoffnung
machen, namentlich nieht in Becensionen der gewöhnlichen
Art, in welchen sieh nur selten auf eine wirklich wissenschaft-
liche Discussion des Inhalts des recensirten Buches eingelassen
zu werden pflegt. So war ich denn auch nicht im mindesten
überrascht, als ich in Bd. XIII S. 381 ff. der Philosophischen
Monatshefte eine nichts weniger als freundliche und günstige
Becension meines Buches von Professor Lassen las. Wie
konnte diese auch günstig ausfallen, da der Becens^at sagt,
unsere beiderlei Ansichten seyen durch Entfernungen getrennt,
welche nur durch Sirius - Weiten gemessen werden können?
Diese Becension gab mir jedoch keinen Anlass zu einer Ent-
gegnung, da die Freiheit des Urtheils in Becensionen anerkannt
werden muss, und die Becension keine wesentliche sachliche
Unrichtigkeiten, namentlich keine Entstellungen enthält, ihre
Mäkeleien über die Disposition meines Buehes aber, gegen
w^elche ich mich wohl hätte verth^idigen^ können, für die Sashe
selbst, um wtelche es mir zu thun war, von gar keiner Erheb^-
lichkoit sind.
Zum ethischen Problem. 219
Nun hat aber die Zeitschrift für Philosophie und philo-
öophische Kritik van Fichte, Ulrioi und Wirth Bd. 72 S. 153 if.
unter der Bubrik „B^ensionen" einen Aufsatz von Professor
TJlrici über mein Buch gebracht, zu welchem ich nicht still-
schweigen kann, da er fast nichts als XTnrichtigkeiten und Un-
wahrheiten enthält, auf welche dann — also in ganz unbe-
gründeter Weise — gehässige Verunglimpfungen gegen mich
gebaut werden, welche darauf berechnet zu seyn scheinen, und
jedenfalls^ wenn ich dazu stillschweigen würde, die Wirkung
haben müssten , von der Leetüre meines Buches zurückzu-
schrecken. Gegenüber von solchen Unwahrheiten, Entstellungen
und Invectiven ist es für mich eine Forderung der Ehre, von
dem Bechte der Vertheidigung Gebrauch zu machen. Daneben
erachte ich es jedoch auch für eine Pflicht gegen die freie
wissenschaftliche Bichtung, welche ich vertrete, sie nicht
auf eine solche zum mindesten leichtfertige Art beschmutzen
tmd schädigen zu lassen, sondern sie hiegegen in Schutz zu
nehmen. Dabei dürfte indessen das, was ich vorzutragen habe,
zugleich einen weiteren Beitrag zur Lösung des ethischen
Problems, wenn auch nur in einigen Detailfragen, liefern.
Vor Allem muss ich bemerken, dass der Aufsatz Ulrici's
d«n Namen einer Becension gar nicht verdient. Eine Becen-
sion soll doch ein Urtheil über den Inhalt des recensirten
Buches geben; sie muss daher diesen Inhalt seinen wesent-
lichen Partien nach dem Leser vorföfaren und ihn besprechen.
Hier aber erfährt der Leser von dem Inhalt« des recensirten
Buches so gut als gar nichts. Die Besprechung beschränkt
sich vielmehr einmal auf eine 8telle der Eiinleitung, in wel-
cher ich nur auf ein Resultat meiner im ersten Theile des
Werkes geführten Untersuchungen zurückweise, und dann aaf
einige kritische Bemerkungen, zu denen mich gewisse in den
Schriften Ulrici's selbst enthaltene Erörterungen veranlasst
kabeu; wa also meine eigenen positiven Gedanken gar nicht zur
Spvaehe kommen.
Der Itfhalt des recensirten Buches ist kurz folgender:
Die Eifileitting giebt zuerst eine kurze Erörterung über den
meist missTerständlich viel zu weit gefassten Begriff des W^illens,
und dann eine aosiührlioke Abhandlung über die Frage der
menechlichen Willens -Freiheit, in welcher ich durch die ganz
unabhängig' von den Ergebnis»^ meines theoretischen Philo-
sophirens, ganz voraussetzungslos und analytisch gehaltene Un-
teffiBUohung zu dem Besultate gefülirt werde*^ dass es keine
Fr^heit des menschlichen Willens gebe und der Glaube »i
220 A. Steudei:
diese Freiheit auf einer Illusion beruhe. Dieses Resultat habe
ich jedoch keineswegs zur Grundlage und zum Ausgangspunkt
meiner darauf folgenden Kritik der Sittenlehre gemacht, viel-
mehr ist auch diese Kritik ganz voraussetzungslos und rein
analytisch gehalten. Ich gebe hier im ersten Buche eine Auf-
führung und Kritik der Ansichten und Aufstellungen anderer,
und zwar in Betreff des Begriffs und Wesens der Sittlichkeit,
in Betreff der aufgestellt werdenden Moralprincipien , der Be-
griffe von gut und böse, der Begründung des Sittengebots,
unter Erörterung der Begriffe des Sollens, der Pflicht, der
Schuld, des Gewissens; sodann in Betreff der Beziehung der
Sittlichkeit zu Gott, der Frage einer sittlichen Weltordnung
und einer Theodicee, und endlich in Betreff des Verhältnisses
der Sittlichkeit zur Glückseligkeit. Im zweiten Buche ent-
wickle ich dann positiv meine eigenen Ansichten und meine
Gedanken über eine Reform der Sittenlehre. Das Ergebniss
dieser Erörterungen geht dahin, dass der hergebrachte Begriff
der Sittlichkeit, wonach sie das verdienstliche und zum An-
spruch auf Belohnung berechtigende Befolgen eines verbind-
lichen Sittengesetzes, die Unsittlichkeit aber eine strafbare
Schuld sein soll, an unauflöslichen Widersprüchen laborirt;
dass es ein wirkliches, für den Menschen verbindliches Sitten-
gesetz gar nicht giebt und nicht geben kann^ da alle Sitten-
gebote nur Ausflüsse der Selbstgesetzgebung des Menschen sind,
eine solche Selbstgesetzgebung aber keine positive Verbindlich-
keit begründet; dass die Begriffe von gut und böse sich schliess-
lich nur auf die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit unserer
Gefühle und Empflndungen beziehen; dass die Vorstellung eines
sittlichen Gottes, eines Gottes als sittlichen Gesetzgebers und sitt-
lichen Richters, ohne welche Vorstellung der hergebrachte Be-
griff der Sittlichkeit gar nicht durchführbar ist, eine gänzlich
unhaltbare, mit dem Begriff eines absoluten Gottes im ent-
schiedensten Widerspruche stehende Vorstellung ist; dass bei
dem hergebrachten transscendentalen Begriff der Sittlichkeit
Gott unausweichbar der Grund und die wollende Ursache des
Bösen, und daher eine Theodicee auf keine Weise zu begründen
ist. An die Stelle jener hergebrachten transscendentalen Sitt-
lichkeit tritt dann folgender andere Begriff der Sittlichkeit.
Es herrschen im Menschengeschlechte seiner einmal von Natur
so angelegten Oekonomie nach zwei sich entgegengesetzte Arten
von Instincten und Trieben, die socialen und humanistischen
Triebe und Instincte auf der einen, und die antisocialen, rein
egoistischen Triebe und Instincte auf der anderen Seite. Der
Zum ethischen Problem. 221
in seinem Wohlbefinden, in seinem gemüthlichen und glück-
lichen Zusammenleben verletzte oder doch gefährdete Theil
der Gesellschaft macht nun natürlicher Weise Opposition gegen
die ihn behelligenden antisocialen Triebe und Instincte, sucht
sich ihrer zu erwehren und so weit möglich ihnen vorzubeu-
gen, oder wenigstens einen Gompromiss mit ihnen einzugehen.
Das ist denn auch natürlicher Weise das Interesse und die
sich geltend machende Stimmung der sich bildenden Volks-
gemeinschaften, in denen sich eine ein solches autisociales Ge-
baren verdammende, und dagegen eine den humanistischen
und socialen Trieben entsprechende Lebensweise thunlichst för-
dernde Volkssitte ausbildet, welcher der Einzelne bei Ver-
meidung des Tadels und der Missachtung der Gesellschaft, ja
auch wohl eines missliebigen Einschreitens gegen ihn sich zu
fügen hat. Dies ist nun das wahre Princip dessen, was man
das Sittliche nennt. Die Bildung dieses Sittlichkeitsprincips
ist hiernach ein rein menschlicher Process, bei dem von der
Wirkung einer göttlichen Gesetzgebung nicht die Rede seyn
kann, wenn auch das, was sich so als Volkssitte gestaltet, ver-
möge der bei allen Völkern sich bildenden religiösen Vorstel-
lungen stets durch diese tingirt zu werden pflegt. Sittlichkeit
in dem hiernach sich ergebenden Sinne, also gereinigt von
allen transscendentalen Beziehungen zur Gottheit, ist somit
ihrem Entstehen und ihrem wahren Wesen nach nichts an-
deres, als durchaus autonome, nach Umständen calculirende
Lebensweisheit.
Anstatt nun diesen meinen Gedankengang darzulegen und
zu besprechen , beginnt die sogenannte Recension nach einigen
bedeutungslosen sprachlichen Bemerkungen, welche keiner Ent-
gegnung bedürfen, mit den sich ausschliesslich auf die Frei-
heitsfrage beziehenden Worten:
üra meine eigene Auffassung (worüber, ist nicht gesagt)
nach Geist und Gehalt zu charakterisiren, werde es genügen,
die Schluss - Stelle der Einleitung, in welcher ich das Re-
sultat meiner Erörterung der Freiheitsfrage zusammenfasse,
herzusetzen.
Darauf giebt die Recension abschriftlich (übrigens mit
einem Druckfehler) eine auf S. 105 — 6 des Buches meiner
Abhandlung über die Freiheitsfrage angehängte Bemerkung,
worin ich sage, dass das Resultat meiner vorstehenden, ganz
objectiv und analytisch gehaltenen Erörterungen der Freiheits-
frage zugleich eine nothwendige Folge des Verhältnisses der
geistigen Substanz zu der Welt und zu den Menschen sey, wie
222 A. Steudel:
«B sich im ersten Theile meiDes Werkes in Folge
der dort angestellten theoretischen Untersuchun-
gen herausgestellt habe. Von diesen in meinem ersten Theile
gepflogenen Untersuchungen ist jedoch meine in dem recen-
sirten Buche (S. 7 — 105) stehende Erörterung der Freiheits-
Arage ganz uDabhängig^ sie hält sich durchaus selbstständig und
nimmt gar keinen Bezug auf das im ersten Theil untersuchte
Yerhältniss der geistigen Substanz zur Welt und zum Men-
schen, und durch jene meine von der Becension wiedergegebene
Bemerkung sollte^ wie in derselben ausdrücklich gesagt ist, nur
die Gongruenz des Resultats meiner Untersuchung der Freiheits-
frage mit der aus den Besultaten der im ersten Theil enthal-
tenen theoretischen Untersuchungen sich ergebenden Conaequen-
zen constatirt werden. Und nun stellt es die Becension, indem
«ie des Inhalts meiner, in dem recensirten buche ent-
haltenen Abhandlung über die Freiheitsfrage mit
keiner Sylbe Erwähnung thut, so hin, als ob ich in jener Be^
merkung das Resultat dieser meiner Erörterung der
Freiheits frage zusammenfasse. Das ist somit geradezu
unwahr. Hierdurch ist nun von selbst die Aeusserung der
Becension gerichtet: dass die Anführung jener meiner Bemer-
kung genügen werde^ um meine Auffassungen (der Sittlichkeits-
frage ?!), von denen die Becension mit keiner Sylbe Kunde
giebt, nach Geist und Gehalt zu charakterisiren. Ich brauche
hiernach dem Urtheil über dieses Verfahren der Becension
keine weiteren Worte zu leihen.
Nach Anführung jener meiner Bemerkung sucht mich dann
die Becension mit den Worten niederzuschlagen:
„Dieser" — also der in jener Bemerkung, nicht in mei-
ner Abhandlung über die Freiheitsfrage enthaltenen — „Lö-
sung der Freiheitsfrage wird jeder philosophische Forscher
den Einwand entgegen halten : Aber wie kommt es oder wie
lässt es sich erklären, dass Gott in dem einen Menschen als
eingefleischter Egoist^ als abgefeimter Betrüger, als verstock-
ter Verbrecher, in dem andern als sich hingebender Gatte
und Vater, als aufopfernder Patriot und Menschenfreund er^
scheint oder sich darlebt? Da wir auf diese Frage keine
Antwort erhalten, weil sie sich von des Verfassers Prämissen
aus nicht beantworten lässt etc." •
Darauf habe ich vor Allem zu bemerken, dass das, was
ich in der allegirten Bemerkung sage, gar keine „Lösung" der
Freiheitsfrage ist und seyn will, sondern nur eine Bemission
auf die im ersten Theil enthaltenen Untersuchungen , dass so-
Zum ethischen Problem. 223
mit die Exclamation der Beceusion nur jenen ersten Theil,
und nicht das recendirte Buch, treffen würde, von dessen Ab-
handlung über die Freiheitsfrage, welche Abhandlung allein
eine Lösung dieser Frage geben will, die Rccension gar keine
Notiz nimmt.
Im Uebrigen ist jener Einwand vom Standpunkte der An-
nahme eines sittlichen Gottes aus gestellt, und ruht auf der
Prätension, dass nur derjenige das Pradicat eines Philosophen
yerdiene, der sich auf diesen Standpunkt stelle. Hier hätte
daher der Recensent allen Anlass gehabt, sich auf das Kapitel
des recensirten Buches einzulassen, das von der Beziehung der
Sittlichkeit zu Gott handelt, und wo ich unwiderleglich nach-
gewiesen zu haben glaube, dass die Vorstellung eines sittlichen
€k)ttes ihrer Widersprüche wegen eine schlechterdings unhalt-
bare ist, was also auch von dem Standpunkte gilt, auf welchen
sich der Kecenseut hier gestellt hat. Die Kecension berührt
jedoch das Alles gar nicht. Ob nun der Kecensent von jenem
seinem Standpunkt aus ohne Weiteres berechtigt war, dem-
jenigen, der denselben nicht mit ihm theilt, die Eigenschaft
eines philosophischen Forschers abzusprechen, was von ihm
stillschweigend per consequentiam geschieht, diese Frage be-
antwortet sich hiemach von selbst. Ich kann mich daher über
jenes Urtheil um so leichter trösten, als dasselbe auf dogma-
tischer, ketzerrichterlicher, mit der Yoraussetzungslosigkeit der
Philosophie unverträglicher Bornirtheit beruht.
Was aber die von der Recension mir entgegengeworfene
Frage betrifft: wie es komme, dass Gott sich in der Mensch-
heit in so verschiedenartigen Weisen und Gestalten darlege,
so wäre es eine Yermessenheit, die Motive Gottes bei seiner
Ausgestaltung zur Welt — oder auch von Ulrici's Standpunkt
aus seiner Weltregierung — mit positiver Bestimmtheit dar-
legen zu wollen. Es können hier mit Sicherheit nur in nega-
tiver Weise unberechtigte und unhaltbare Aufstellungen zurück-
gewiesen, in positiver Weise aber kaum mehr als Vermuthun-
gen gegeben werden. In beiderlei Beziehungen glaube ich das
Mögliche geleistet zu haben; und wenn die Becension sagt:
man erhalte auf jene Frage von mir keine Antwort, weil eine
solche von meinen Prämissen aus nicht möglich sei, so beweist
dieses nur, dass der Becensent sich mit meii^en Büchern nur
sehr oberflächlich beschäftigt haben kann. Ich habe mich über
diesen Gegenstand schon in meinem ersten Theile (Abth. II
S. 368, 396, 397, 404) folgendermaassen ausgesprochen: Wir
müssen uns bescheiden , uns in dieser Beziehung überall keine
224 A. Steudel:
Vorstellung von dem göttlichen Leben machen zu können. Es
sei jedoch ein vollkommen berechtigter Gedanke, dass Gott, da
es für ihn in seiner reinen Wesenheit kein mit Beizen, Em-
pfindungen und Gefühlen ausgestattetes Leben geben könne,
in seiner peripherischen Ausgestaltung zur Welt ein solches
reizvolles, psychisches Leben habe leben, die mit dem psychi-
schen Leben nothwendig gesetzten Gegensätze selbst an sich
habe erleben, und auf dem Meere der daraus sich entwickeln-
den Illusionen sich habe wiegen wollen, ohne dass übrigens
darin das wahre Seyn und Leben Gottes an sich zu erkennen
wäre. In dem recensirten Buche selbst sodann habe ich
(S. 377 ff.) nachzuweisen gesucht, dass gerade von dem her-
gebrachten sittlichen Standpunkt — also von dem meines Be-
censenten — aus eine Theodicee, eine wirkliche Rechtfertigung
Gottes wegen des Bösen in der Welt durchaus unmöglich sei
(s. auch S. 594), und mich dabei noch weiter ausgesprochen,
wie folgt: Alle Moralprincipien seien selbstverständlich nur für
Menschen und zur Ordnung menschlicher Verhältnisse aufge-
stellt, passen daher auf Gott gar nicht. Es sei eine Anmassung,
zu statuiren, dass diese Moralprincipien, nach welchen dem
einen dieses, dem andern jenes als sittlich gut und wünschens-
werth gelte, für Gott in irgend einer Weise verbindlich seyn
sollen, dass der absolute Gott sich solchen durchaus hypothe-
tischen Menschensatzungen unterzuordnen und sich zum Voll-
strecker derselben herzugeben habe, um sittlich zu seyn. Der
Mensch nenne das Eine, da es ihm angenehme Gefühle und
Empfindungen mache, gut, das Andere, da es ihm unangenehme
Gefühle und Empfindungen mache, schlimm und böse; aber er
habe kein Recht, dem hiernach für ihn sich bildenden Maass-
stab auch Geltung für Gott beizulegen. Gott habe es so ge-
wollt, dass das ganze Menschenleben und die Menschenge-
schichte eine Combination und ein fortdauernder Conflint von
mit einander im Kampfe liegenden Gegensätzen seyn solle; er
habe nicht die langweilige Einförmigkeit eines idyllischen that-
losen Dahinlebens der Menschheit gewollt, sondern eben das
durch die Reibung jener Gegensätze bedingte und getragene
bunte und wechselvolle Farbenspiel des Menschenlebens gerade
in der Gestaltung, in der es sich vor unseren Blicken entrolle,
mit all seinen Jllusionen, Schwachheiten und Verirrungen. Zu
dem so von Gott ganz direct Gewollten und nicht blos Zuge-
lassenen gehöre auch das, was der Mensch das üebel und das
Böse nenne. Dieses Böse sei sonach nichts weniger, als etwas
gegen Gott sich Auflehnendes, eine sich ihm entgegensetzende
Zum ethischen Problem. 225
Macht, die er zu bekämpfen und mit Strafen zu yerfolgen hätte.
Der menschliche Begriff des Bösen falle vielmehr in Beziehung
auf Gott ganz in sich zusammen. Was Gott wolle, das könne für
ihn nicht böse seyn, und wegen dessen bedürfe es für ihn
keiner Bechtfertigung, keiner Theodicee. Der Begrifl^ des Bö-
sen habe in Beziehung auf Gott keinen Sinn und keine Be-
deutung. Alles das gewinne sein genügendes und vollständig
beruhigendes Verständniss in der Einsieht, dass Welt und
Menschheit nichts anderes seyen, als das peripherische Leben
Gottes selbst, dass er das in der Menschheit sich manifesti-
rende vielbewegte und vielgestaltige psychische Leben, das
eben durch den Gonflict aller jener Gegensätze bedingt sei,
äusserlich an sich habe erleben wollen. Wer möchte sich nun
erheben und mit Gott darüber rechten, warum er gerade ein
solches, aus Lust und Schmerz, aus Genuss und Mühsal zu-
sammengesetztes Leben für seine irdisch - menschliche Darlebung
sich gewählt habe? Angesichts der Menschheitsgeschichte dürfe
man wohl sagen, es gehöre zur Bestimmung, zum göttlichen
ürgedanken der Menschheit, dass sie eine bleibende Schatti-
ning von Glück und Unglück, von Lust und Unlust darstelle.
(S. 363, 596—98.)
Wenn dann die Becension weiter sagt: Mein „extrem pan-
theistischer Gottesbegritf'' und meine Metaphysik seien „im
Grunde der einzige Grund'', weshalb ich dem Menschen alle
Freiheit abspreche, so muss man daraus mit Nothwendigkeit
schliessen, dass der Recensent meine Abhandlung über die
Freiheitsfrage gar nicht gelesen habe; denn dann müsste er
ja gefunden haben, dass in derselben von dem in meinem
ersten Theile gefundenen Gottesbegriff mit keiner Sylbe die
Bede ist, dass ich vielmehr die Untersuchung ganz selbstäp-
dig ohne jede Voraussetzung in ganz analytischer Weise ge-
führt habe, und dass bei dem Besultate dieser Untersuchung
mein Gottesbegriff entfernt keine Rolle spielt.
Wenn die Recension bei dieser Gelegenheit das ganz un-
motivirte Urtheil hinwirft, dass meine Metaphysik auf sehr
schwachen Füssen stehe, so muss ich dahin gestellt seyn lassen,
was den Recensenten zu Aussprechung dieses Urtheils bewogen
haben möge. Jedenfalls muss ich demselben, so lange es nicht
genügend begründet wird, jeglichen Werth absprechen. Der
Umstand, dass meine Philosophie von derjenigen des Herrn
Professors allerdings bedeutend divergirt, und dass ich häufig —
auch in dem recensirten Buche — in den Fall gekommen bin^
ihm polemisch entgegentreten zu müssen — und das wissen-
Yierteljalirssclirift f. wiasenschaftl. Philosophie. III. 2. 15
226 A. Steudel:
schaftliche Eecht, meine stets motiTirte Urtheile immer
auch frei auszusprechen, muss ich mir wahren — dieser Um-
stand für sich könnte fttr ihn das Eecht nicht hegründeu, mit
einem solchen verletzenden Urtheil, ohne es ii^end wie zu be-
gründen, vor die Oeffentlichkeit zu treten. Die in der Note
geschehene Allegirung der früher in jener Zeitschrift erschie-
nenen vielfach anerkennenden Becension des ersten Theils
meines Werks und eines nachgefolgten weitem Aufsatzes über
denselben von H. Schwarz kann ich nicht als eine solche Be-
gründung anerkennen. Jedenfalls war es übrigens, wenn der
Kecensent jene Aufsätze allegirte, eiqe Forderung der Billig-
keit, auch meiner (in derselben Zeitschrift Bd. 64 8. 305 ff.
und Bd. 66 S. 322 ff.) darauf erschienenen Erwiderungen zu
gedenken. Ich bin überzeugt, dass jeder unbefangene Leser
des ersten Theils meines Werks ein ganz anderes Urtheil, als
mein Kecensent, darüber fallen wird. — Es verbreitet sich
indessen dieser erste Theil nicht bloss über diejenigen Fragen,
welche man speciell zur Methaphysik zu rechnen pflegt, son-
dern über alle theoretische Hauptfragen der Philosophie,
namentlich diejenige der Erkenntnisstheorie.
Dabei bemerke ich gelegentlich, dass ich für meine theo-
retische Philosophie absichtlich nicht den Namen einer Meta-
physik in Anspruch nehme, da dieser Name nach Speculation
schmeckt, ich aber das, was man unter Speculation begreift,
worüber ich mich ebenfalls in meinem ersten Theil (Abth. I
S. 49 ff.) ausgesprochen habe, als eine verfehlte und unbe-
rechtigte Art des Philosophirens, entschieden verwerfe.
Die darauf folgende Bemerkung der Eecension: Die That-
sache, dass wir das unabweisliche Bewusstseyn der Freiheit
unsrer Wiilensentschli essung (wenigstens in den allermeisten
Fällen) haben, läugne ich selbst nicht, weil sie sich nicht
läugnen, nicht abweisen lasse, ist eine abermalige Unrichtig-
keit. Ich sage (8. 43 — 44 meines Buches) ausdrücklich: Ich
müsse durchaus bestreiten, dass es ein Bewusstseyn der
Freiheit gebe; denn der Gegenstand des Bewusstseyns könne
immer nur etwas Thatsächliches seyn, was die Freiheit nicht
sey, die für uns immer nur in der Form eines Gedankendings
existire, was, wie ich (S. 38) angeführt habe, Uirici selbst an-
erkennt. Das Thatsächliche aber, dessen wir uns hier bewusst
werden, sei nur der Umstand, dass wir keinen inneren Zwang
fühlen, durch welchen wir zu unserem Wollen genöthigt würden.
Wenn wir nun aber schliessen, dass eine Nöthigung, welche
wir nicht fühlen, auch thatsächlich nicht bestehe, so sei dies
Zum ethischen Problem. 227
ein FehUohluss. Was man Bewusstseyu der Freiheit
nenne, sey sonach ein blosser Glaube, der jedoch nicht
gerechtfertigt sey (ß. 72 ff.).
Wenn die Recension dann weiter sagt: Dass jenes (an-
gebliche) Bewusstseyn der Freiheit eine Selbsttäuschung sey,
habe ich „in objectiTer analytischer Weise" — also abgesehen
von jenem (mir unterstellten) metaphysischen Argument —
nicht bewiesen, weil es sich in „objectiver analytischer" Weise,
also von gegebenen Thatsachen aus, nicht beweisen lasse; so
wäre vor Allem festzustellen, wem denn in der Freiheitsfrage
die Beweislast obliege, ob demjenigen, welcher die Freiheit,
oder demjenigen, welcher die Unfreiheit des menschlichen
Willens behauptet. Auch hierüber habe ich mich in meinem
Buche (S. 38) und zwar dahin ausgesprochen, dass, da weder
für das Eine, noch für das Andere eine Vermuthung spreche,
derjenige, welcher eines von beiden behaupte, dafür beweis-
pflichtig sey. Es liegt hiernach auch denjenigen, welche die
Freiheit behaupten, die Verbindlichkeit ob, dafür einen strin-
genten Beweis zu erbringen, und sie können die Gegner nicht
damit abfertigen, dass sie ihnen die Beweislast zuschieben.
Nun hat aber Ulrici (s. S. 38 meines Buches und S. 156 oben
der Becension) selbst anerkannt, dass sich die wirkliche Ex-
sistenz der Freiheit auf keine Weise darthun lasse. Ich aber
glaube allerdings auf objective, analytische Weise
und auf den Grund psychischer Thatsachen einen
yoUen Beweis dafür geführt zu haben, dass es keine mensch-
liche Willensfreiheit gebe, dass eine solche eine Unmöglichkeit
sey, wofür ich auf jene meine Abhandlung über die Freiheits-
frage verweisen muss. Davon ist es aber dann eine selbst-
verständliche Folge, dass der Freiheitsglaube ein^ Selbsttäu-
schung ist. Wenn diese Nichtexistenz der Freiheit Consequenzen
mit sich führt, welche dem Einzelnen unerwünscht sind, so
kann dieses natürlich nicht als ein Gegenai^ment geltend ge-
macht werden.
Ich sage allerdings, das menschliche Handeln sey ein mit
schlechthiniger Noth wendigkeit determinirtes ; von Natur-
nothwendigkeit aber habe ich nicht gesprochen. . Die Belehrung
der Becension, dass es keine schlechthinige Naturnothwendig-
keit gebe, trifft mich daher gar nicht, und war um so un-
nöthiger, als ich (Th. I, Abth. I, S. 395 — 96) selbst geltend
mache, dass die Noth wendigkeit der Naturgesetze keine imma^
nente, begriffliche, sondern nur eine hypothetische sey, die Ge-
setze daher auch andere seyn könnten.
15*
228 A. Steudel:
Die Invective^ dass es einen starken Mangel an „objectiyer,
analytischer Weise'' der Erörterung und Auffassung verrathe^
wenn ich dem menschlichen Wollen und Handeln alle Freiheit
abspreche und doch von Eecht und Sittlichkeit rede — wobei
man übrigens nicht begreift^ was hiebei die Art und Weise
der Erörterung der Freiheitsfrage zu schaffen haben soll — ,
hätte mein Becensent sich ersparen können, wenn er das, was
ich in dieser Beziehung ausgesprochen habe, gelesen hätte oder
hätte beachten wollen. Er scheint davon auszugehen, dass
unter Sittlichkeit nichts Anderes verstanden werden könne^ als
was man gemeinhin und herkömmlicher Weise darunt-er zu be-
greifen pflegt , nehmlieh eine mit Freiheit geschehende und als
ein Verdienst zuzurechnende Befolgung eines transscendentalen
Sittengesetzes. Ich habe jedoch an die Stelle dieses Begriffs
einen ganz andern Begriff von Sittlichkeit — von Becht spreche
ich gar nicht — zu setzen gesucht, und muss zum Yerständ-
niss dessen Einiges aus meinem Buche ausziehen. Ich ss^e
z. B.: Das Trachten nach dem Wohle der ganzen Gesellschaft
gestalte sich bei einzelnen Völkern zu einer Volkssitte. Wer
nun dem in dieser Volkssitte sich kund thuenden allgemeinen
Willen; das Wohl des Granzen nach Möglichkeit zu fordern,
gemäss lebe und handle , wozu vor Allem auch die Sorge für
sein eigenes körperliches und geistiges Wohlergehen gehöre,
der sey sittlich; wer diesem allgemeinen Willen entgegen lebe
und handle» der sey unsittlich. Sittlich sey ein Individuum
um so mehr, je mehr man bei ihm versichert seyn könne, dass
es immer nur der allgemeinen Sitte und dem allgemeinen
Wohle gemäss handeln werde. Dies treffe bei den sogenann-
ten schönen Seelen zu, denen ein unsittliches Handeln von
Natur eine Unmöglichkeit sey, deren Sittlichkeit aber eben
deswegen keine verdienstliche sey, weil sie bei ihnen Natur-
gesetz sey. Sie seyen gerade deswegen in ausgezeichnetem
Maasse sittlich, und ihre Sittlichkeit sei eine liebenswürdige,
weil sie nicht sittlich sein woUen, über Sittlichkeit gar nicht
reflectiren. Ich verwerfe eine Sittenlehre keineswegs, ich be-
streite ihr nur die Berechtigung, sich einen transscendentalen
Charakter beizulegen, und beschränke sie auf das lediglich im
Diesseits sich bewegende Streben nach einem möglichst glück-
lichen und angenehmen Zusammenleben der Menschen. Es sey
dies freilich eine Sittlichkeit ohne Freiheit. Darin liege jedoch
kein Widerspruch, da an diesem Begriffe von Sittlichkeit keine
transscendentale Pflicht, kein Verdienst und keine Schuld, keine
Belohnung und keine Bestrafung hänge. Die Calculationen der
Zum ethischen Problem. 229
Lebensweisheit bleiben dieselben, ob man das Bestehen der
Freiheit yemeine oder bejahe. Es wäre indessen, wenn man
die üeberzeugung gewonnen habe, dass der Freiheitsglaube auf
Selbsttäuschung beruhe, nichts yerkehrter, als sich deshalb
einem indolenten und thatlosen Fatalismus zu ergeben. Man
solle leben, denken und handeln, als ob man frei wäre; das
Naturgesetz werde sich darin nichts dest«weniger mit Sicher-
heit vollziehen. Dabei sey auch kein 'Qrwsd vorhanden, sich
des Begriffs der Sittlichkeit zu entschlagen; denn das Norm-
gebende in diesem Begriff sey das objectiv Gkite, und nicht die
subjective Gesinnung des Handelnden. So seyeu denn auch
diejenigen, in denen ein guter Wille, die guten socialen In-
stincte präponderiren , vollkommen berechtigt, gegen solche,
welche durch Hingebung an ihre antisocialen Instincte das all-
gemeine Wohl gefährden und verletzen, Unwillen und Miss-
achtung zu hegen und zu äussern, und hierdurch in diesen
Motive zum Guthandeln zu schaffen zu suchen. Zu allem die-
sem brauche man keine wirkliche Freiheit des Willens, son-
dern nur das berechtigte Waltenlassen des in Allen sich äussern-
den und im practisohen Leben mit unwiderstehlicher Gewalt
und unwillkürlich sich geltend machenden, wenn auch illu-
sorischen, Geftlhls der Freiheit, das der Mensch mit den
Thieren theile. So lasse sich denn eine Sittlichkeit recht wohl
auch bei Verneinung der menschlichen Willensfreiheit anneh-
men, und es sey Ulrici nicht beizustimmen, wenn er (in seinem
Naturrecht S. 10, 65) meine: wer die Willensfreiheit läugne,
läugne auch alle Ethik, und damit den Unterschied von Eecht
und Unrecht, wahr und unwahr, gut und böse ; er müsse conse-
quenter Weise alle Staats- und Gemeinde verbände, die nur
auf den Begriffen von Gesetz, Eecht und Pflicht ruhen, für
sinnlose Traditionen erklären und auf deren Abschaffung dringen.
Im Gegentheii entsprechen die socialen Institutionen dem natür-
lichen Bedürfniss der Mehrzahl der Menschen, und üben einen
wohlthätigen sittlichen Einfluss aus, auch wenn keine Willens-
freiheit bestehe. Wir müssen nur wünschen , dass die Sitten-
lehre von all den abergläubischen Beigaben, mit denen sie ver-
brämt werde , gereinigt und ihr der angedichtete transscenden-
tale Charakter genommen werde. Dem gemeinen Wohl werde
dadurch sicherlich kein Eintrag geschehen. Aber freilich müsste
man dabei auch darauf bedacht seyn, ein naturwüchsiges, kräf-
tiges, freies, durch keinen Aberglauben mehr verkümmertes
Volksleben auf jede Weise zu fördern (S. 521 — 22, 524, 538,
588—591).
280 A. Steudel:
Alles das ist mit der Einsicht recht wohl zu vereinigen,
dass es nur Gott ist, der sich auch im Menschenleben dar-
lebt. Ist es denn nicht auch Gott, der in der Natur und
ihrem Leben waltet? Und doch geschieht dies unter der
Form constanter Naturgesetze, die nach Umstanden auch der
Mensch sich dienstbar machen kann. In gleicher Weise hat
sich das freie Walten Gottes im psychischen Leben des Men-
schen an die Form bestimmter Gesetze gebunden, auf deren
erfabrungsmässige Eenntniss der Mensch mit vollem Beoht
seine socialen Institutionen gründet. £s ist daher durchaus unbe-
gründet, wenn Ulrici meint : wenn es keine menschliche Freiheit
gebe und Gott im Menschen willkürlich schalte» so seyen alle der-
artigen Listitutionen sinnlos. — Ach, ich weise und begreife
es wohl, wie schwer es ist, sich von traditionellen und in Saft
und Blut übergegangenen illusorischen Anschauungen los zu
sagen, und wie derjenige, der sich über solche zu erheben
wagt, dem Altgläubigen als leichtsinniger und mit dem Anathem
zu belegender Ketzer erscheinen muss, wie er nicht hoffen
darf, seine errungenen Einsichten von diesem mit vorurtheib-
loser Euhe beurtheilt zu sehen ; aber ich gebe mich der Hoff-
nung hin, dass auch hier die wirkliche Einsicht allmälig sich
in immer weitere Bereise verbreiten werde.
Warum ich, wie die Becension mir vorrückt, durch meine
eudämonistische Weisheitslehre, auf welche ich hier nicht
näher eingehe, mich mit mir selbst in Widerspruch setze^ sehe
ich nicht ein. Dabei will ich nur kurz constatiren, dass, wie
überhaupt jede Sittenlehre auf einen, wenn auch etwas her-
ausgeputzten, Eudämonismus hinausläuft^ so auch Ulrici nicht
umhin kann, sich zu einem solchen zu bekennen, wofür ich mich
auf dessen eigene Worte (S. 160 der Becension): dass das sitt-
liche Sollen auch auf Verbesserung und Verschönerung unseres
Daseyns gehe, und auf das von mir S. 134, 178 und 202 meines
Buches von ihm Angeführte beziehe. Nun ist es aber, worüber
ich mich ebendaselbst (S 466«— 67 und 580) ausgesprochen
habe, unwidersprechlich, dass, wo ein eudämonistischer Zweck
des Handelns statuirt wird, von Pflicht und von verdienstlicher
Sittlichkeit schlechterdings nicht die Bede seyn kann.
]>a ich die Berechtigung der staatlichen Institutionen zur
Förderung der Sittlichkeit, zu denen auch die Criminaljustiz
gehört, ausdrücklich anerkenne, so ist die Insinuation, dass ich
als Ober-Tribunal-Frocurator bei der Criminaljustiz mitgewirkt
habe, wiewohl sie nach meiner Anschauung nicht nur eine
Zum ethischen Problem. 231
TÖUig unberechtigte, sondern auch eine völlig sinn-, zweck-
nnd nutzlose Institution " sei, ein Hieb in die Luft. Sie zeigt
übrigens, dass es dem Becensenten nicht bekannt ist, welche
Stellung früher die Procuratoren in Württemberg eingenommen
haben, worüber ihn zu belehren hier nicht die Stelle ist. Ich
beschränke mich daher auf die Bemerkung, dass ich als Pro-
curator mit der Griminaljustiz lediglich nichts zu schaffen. ge-
habt habe. Indessen mochte es sich doch wohl yon selbst ver-
stehen, dass gesetzlich normirte amtliche Functionen ausser
allem Rapport mit den philosophischen Privat ansichten eines
Beamten bleiben müssen.
Wenn die Becension es sodann so hinstellt, als ob, wenn
jenen staatlichen Institutionen ein Einfluss auf das Wollen und
Handeln eines Verbrechers eingeräumt werde, Gott sich selbst
belehren, in Folge davon seinen Willen ändern und sich fortan
in dem Verbrecher anders darleben würde, als er bisher ge-
than, was doch ein eigenthümlicher , seltsamer Gott wäre, so
zeigt damit der Eecensent nur, dass er sich in meine Auffas-
sung des peripherischen Darlebens Gottes im Menschen gar
nicht hineindenken kann oder nicht hinein denken will. Vom
Standpunkt jener seiner Bemerkung aus müsste er mir zu-
muthen, so viele bich darlebende Götter anzunehmen, als es
Menschen giebt. Zum Verständniss meiner betreffenden Auf-
fassung muss ich auf das verweisen, was ich darüber im vierten
Buche meines ersten Theils (namentlich Abth. U S. 384 ff.)
ausgeführt habe. Ich sage daselbst insbesondere (S. 396, 397,
406): Bei Gott als solchem in seiner universellen Einheit könne
an ein menschliches seelisches Leben schlechterdings nicht ge-
dacht werden, er habe nur das an Millionen einzelner Indivi-
duen sich abwickelnde Spiel eines psychischen Collectivlebens
äusserlich an sich erleben wollen. Aber das sey nicht das
Seyn und Leben Gottes an sich in seiner Universalität und
Einheit. Gott lebe zwar in dem irdischen psychischen Farben-
spiel, aber nicht sein Leben als Gott, als universelle geistige
Substanz.
Bis hieher hat es sich eigentlich nur um die Freiheits-
frage gehandelt, auf deren Erörterung durch mich jedoch die
Becension gar nicht eingegangen ist. Wie nun der Becensent
an meine Kritik der Sittenlehre kommt, meint er: Es werde
genügen, an einem einzelnen Beispiel zu zeigen, wie ich Kritik
übe ; und da liege es ihm am nächsten, mein Verfahren, dur,ch
das ich die Grundlage seiner Ethik als unhaltbar darzuthun
suche, zu charakterisiren. Darauf giebt derselbe eine kurze
232 A. Steudel:
Zusammenstellung dieser Fundirung seiner Ethik, führt dann
einige der von mir dagegen erhobenen Ausstellungen auf, wor-
unter die hauptsächliche die ist, dass er die Vorstellung
des Guten aus dessen Begriff ableite, während die Vorstellung
doch das Frius des Begriffs sey. Daran hängt er dann nur die
kurze Bemerkung, dass ich ihn gründlich missyerstanden habe,
lieber meine Kritik der Sittenlehre selbst aber und deren Er-
gebnisse, insbesondere über die nach dem Sichlusse der Kritik
in Bach II vorgetragene Reform der Sittenlehre hat er nicht
einmal ein Wort; vielmehr schliesst mit jener Bemerkung der
ganze Aufsatz ab. So ist also von dem ganzen Inhalte meines
Buches, von der Abhandlung über die Ereiheitsfrage , von der
Kritik der Sittenlehre, von der aufgestellten Reform der Sitten-
lehre, in dem Aufsatze — abgesehen von jener ganz abgeris-
senen Detailpolemik gegen mich — so gut wie mit keiner Silbe
die Rede. Und das soll eiue Recension meines Buches seyn !
Das ist der Aufsatz um so weniger, als die Streiche, die darin
gegen mich geführt werden, in der Hauptsache gar nicht gegen
den Inhalt dieses Buches gerichtet sind.
Gesetzt nun aber endlich auch, ich hatte in den von der
Recension angeführten Ausstellungen die betreffenden Darle-
gungen Ulrici's wirklich missverstanden — wiewohl er nicht
sagt, worin diese Missverständnisse liegen sollen — mit wel-
chem Rechte sollte sich darauf ein verdammendes ürtheil über
den ganzen Inhalt meines Buches gründen lassen?
Ein solches Miss verstand niss würde hieza in keiner Weise „ge-
nügen^^ Doch ülrici hat mir solche Missverständnisse durch
das, was er vorbringt, keineswegs nachgewiesen. Jedenfalls
habe ich seine betreffenden Aeusserungen in meinem Buche
wortgetreu allegirt; und wenn er die Sache nun anders gemeint
haben sollte, als seine Worte lauten, so hätte eben er selbst
ein solches Missverständniss verschuldet. Zum Beweise dafür,
dass ich ihm nicht Unrecht gethan habe, erlaube ich mir hier
nur noch auf einige Stellen aus seinem Buche „Glauben und
Wissen" hinzuweisen. Er sagt hier S. 182: Die Vorstel-
lung des ethisch Guten könne uns nur aufgehen, wenn
und indem wir Strebungen und Handlungen nach ihrem
sittlichen Werthe, in ethischer Beziehung gegen
einander abwägen. Dabei müsse der allgemeine, for-
male, kategorische Begriff des sittlich Guten in
ähnlicher Weise, wie die logischen Kategorien, unserer un-
terscheidenden Thätigkeit ursprünglich inhäri-
ren, wenn uns das sittlich Gute zum Bewusstseyn
Zum ethischen Problem. 233
kommen solle. Dann S. 186: Der ethisch kategori-
sche Normalbegriff des Guten leite nnsern Verstand
im Unterscheiden nnd Auffassen der menschlichen Willens-
thätigkeit dergestalt, dass ohne solche Leitung eine
Vorstellung von Gut und Böse gar nicht entstehen
könnte. Femer S. 189: Der kategorische Begriff
des Guten sei ursprünglich unbewusst in der Seele
vorhanden. Endlich 190: Weil wir uns Terpflichtet fühlen,
überall das Gute zu wollen und zu thun, und weil dies Wollen
ohne die Erkenntniss, was in jedem einzelnen Falle das Gute
se j , also ohne den allgemeinen Begriff des Guten unmög-
lich sey, so fühlen wir uns zugleich verpflichtet, uns einen
solchen Begriff zu bilden und ihn zum Sittengesetz zu
erheben. — In dem^ was ülrici in der Recension diesfalls
sagt, fasst er sich den Worten nach allerdings etwas vorsich-
tiger; doch würde die Kritik auch hieran wieder allerlei aus-
zustellen haben. Allein ich verzichte auf eine solche aber-
malige Kritik.
Nur das muss ich noch bemerken, dass der Leser aus dem,
was die B^cension hier sagt, über die Pointe des Streites un-
möglich klar werden kann, dass es vielmehr hiezu erforderlich
gewesen wäre, auf meine betreffende Kritik viel näher einzu-
gehen. Dieselbe steht in meinem Buche in dem Abschnitt
„Absolutheit und Apriorität des Sittengebots'' (S. 252 ff.). Dabei
sage ich: Ulrici habe dieser Frage eingehende Reflexionen ge-
widmet, suche aber dann zu zeigen, dass das Resultat, zu dem
er gekommen, theils ein schwankendes, theils ein widerspre-
chendes sey, und dass er sich bei seinen Erörterungen zum
Theil in einem Zirkel bewege, und bemerke schliesslich : Der-
selbe scheine mir durch seine Ausführungen gerade den Be-
weis geliefert zu haben, dass weder ein Angeborenseyn , noch
eine Apriorität der sittlichen Elemente im Menschen in seinem
Sinne sich begründen und durchführen lasse (S. 265). Bei
diesem ürtheil muss ich auch durchaus beharren.
Die Bemerkung der Recension, dass mir im Verlauf mei-
ner kritischen Erörterungen überhaupt mehrfach Missverständ-
nisse passirt seien, ist bei ihrem Mangel an aller Begründung
werthlos.
Was schliesslich die Anordnung meines Buches betrifft,
welche, wie es scheint, von der Recension ebenfalls getadelt
werden will; wenn sie am Schlüsse sagt: ich habe die ver-
schiedenen Theorien nicht in dem historischen Zusammenhang,
in dem sie stehen, und aus einander sich entwickelt haben.
234 A. Steudel: Zam ethischen Problem.
sondern jede für sich behandelt^ und nur die Periode von Kant
bis auf die Gegenwart eingehender berücksichtigt; so bemerke
ich hierüber Folgendes, was zugleich auch zur Verständigung
gegenüber von den betreffenden Ausstellungen der erwähnten
Lasson' sehen Becension dienen mag. Ich habe keine Ge-
schieh t e , sondern nur eine Kritik der Sittenlehre schreiben
wollen. Da es jedoch keine Sittenlehre für sich in abstracto
giebt, sondern nur die betreffenden Lehren und Aufstellungen
der einzelnen Philosophen, so konnten auch nur diese Lehren
und Aufstellungen im Einzelnen, durch deren grosse Mehrzahl
indessen doch im Ganzen' derselbe Begriff der Sittlichkeit wie
ein rother Faden hindurchläuft, der Gegenstand der Kritik seyn.
Dies führte jedoch keineswegs die Nothwendigkeit mit sich,
diese Systeme nun selbst der Beihe nach, eines nach dem an-
dern, Yorzunehmen. £s erschien das vielmehr aus Gründen,
über welche ich mich in dem Buche selbst (S. 141 — 42) aus-
gesprochen habe, als unthunlich ; und es war von mir wohl er-
wogen, wenn ich anstatt dessen der Kritik eine stofflich nach
den einzelnen in einer Ethik zum Vorwurf kommenden prin-
cipiellen Fragen gegliederte Anordnung gab , bei welcher sie
nicht an Namen und Systeme gebunden war^ sondern unter
den ersten und aus dem Inhalte der letzten eine sachdienliche
Auswahl treffen konnte. Eine solche einschränkende Auswahl
war aber schlechterdings geboten, wenn das Buch nicht wegen
seines massenhaften Stoffes und der dabei unvermeidlichen Wie-
derholungen ungeniessbar werden sollte. Daraus ist es nun
auch zu erklären , wenn in demselben hauptsächlich nur die
Leistungen der neuern Zeit in Sachen der Ethik Berücksich-
tigung gefunden haben. Und diese Einschränkung erschien um
so unbedenklicher, als die früheren diesfälligen Leistungen
theils antiquirt sind, theils die sonst gepflogene Kritik von
selbst auch auf sie ihre Anwendung findet, die Kritik also auch
unter dieser Einschränkung Anspruch auf ein, was den Umfang
betrifft, vollständiges Genüge machen kann.
Es leitet mich bei meinem ganzen philosophischen Begin-
nen nur das redliche Bestreben, einerseits zu zeigen, wie die
Philosophie bisher meistens auf verfehlten Bahnen gewandelt
sey, zu welchen Bahnen ich namentlich diejenige der phanta-
sirenden Speculation rechne, und andererseits dieselbe auf eine
neue gesichertere Bahn, diejenige des verständigen Denkens,
zu leiten, welches jedoch keineswegs mit Nothwendigkeit zu
dem entgegenstehenden Extrem des Materialismus (les extremes
se touchent) führen muss. Dass das erstere Geschäft mich
Recensionen. 23Ö
anfs Vielfachste in Gonflict mit der hergebrachten Art des Philo-
sophirens und den Ergebnissen desselben bringen musste, war
natürlich unvermeidlich; ich glaubte mich jedoch dabei der
Anerkennung versichert halten zu dürfen, dass es mir immer
nur rein um die Sache, welche aber freilieh mit allem Ernst
und allem Nachdruck verfochten werden musste, zu thun ge-
wesen ist. Ich kann es daher nur in hohem Grade be-
dauern, dass jenes mein Beginnen bei Herrn Professor Ulrici
eine solche Gereiztheit, einen solchen jede Gerechtigkeit des
XJrtheils ausschliessenden AfFect, wie ein solcher in seiner
Recension sich ausspricht, hervorgerufen hat. Mein Versuch
einer Reform der Philosophie in der erwähnten Richtung ist»
wenn man ihn auch als einen revolutionären prädiciren will,
gewiss ein wohlberechtigter, und die von mir entwickelten An-
sichten sind, wie ich denke, wohl fundirt. Wenn denselben
jedoch von Dissentienten mit wissenschaftlichen Gbründen und in
wissenschaftlichem Ernst entgegen getreten werden will, so soll
mir das nur willkommen seyn. Ein ehrlicher Kampf kann die Sache
der Wahrheit immer nur fördern, wogegen ich oberflächliche,
wegwerfende und leidenschaftliche ürtheile, wie diejenigen
•des Herrn Professors ülrici, für werthlos erachten muss.
Stuttgart. • A. Stau de 1.
Becensionen.
HorvBioB, Adolf. Psychologische Analysen auf
physiologischer Grundlage. Ein Versuch zur
Neubegründung der Seelenlehre. Zweiter Theil. Zweite
Hälfte. Die Analyse der qualitativen Geßihle. Magde-
burg. Verlag der Faber'schen Buchdruckerei, A. & R. Faber.
1878. VIII. 524 S.
Im Vorwort zum ersten Theil des verdienstlichen Werkes,
von welchem der Schluss des zweiten Theils uns hier vorliegt,
hat der Verfasser seine Ansicht über das Verhältniss der Psy-
chologie zur Philosophie ausgesprochen ; die Psychologie ist ihm
die philosophische Grundwissenschaft, und nur, wenn sie als
Unterbau dient, wird ein haltbares System der Philosophie auf-
gerichtet werden können. Ebendaselbst hat er auch die physio-
236 Recensionen.
logische Grundlegung der Psychologie gerechtfertigt, sowie den
leitenden Gesichtspunkt seiner psychologischen Analysen ange-
geben: sein Bestreben ist, ^alle Seelenprocesse and £in ein*
faehes physisch -psychisches Grundelement zurückzuführen^»
Dieses Grundelement ist das Gefühl.
Die hier zu besprechende zweite Hälfte des zweiten Theiles
handelt von den ^qualitativen Gefühlen^. Die historische Ueber-
sicht über die Entwickelung der psychologischen Theorieen^
welche der Verfasser in den früheren Abtheilungen seines
Werkes gab, hat er hier aus guten Gründen weggelassen; wo
die Theorieen so weit auseinandergehen , wie es hinsichtlich
der Gefühlslehre der Fall ist, da kann eine einfache Zusammen-
stellung derselben kaum anders als desorientirend wirken.
Den rettenden Faden im Labyrinthe der psychologischen
Theorieen, ^unsere einzige Zuflucht in der Noth^, bildet die
Physiologie, welche zunächst „in Ansehung der sinnlichen Ge-
fühle uns darüber aufklärt, in welchen Organen und durch
welche Functionen derselben Gefühle zu Stande kommen^^;
denn „seelischer und Nervenprocess bedingen einander wechsel-
seitig in allerwesentlichster Weise". Die neueste physiologische
Theorie lehrt nun , dass in der Nerven Substanz „positive und
negative Molekulararbeit^' stets neben einander hergehen, dass
alle Nervenfunction von den Gegeiisätzen der Erregung und
Hemmung, des Verbrauches und des Ersatzes von Kraft be-
herrscht wird; die Anwendung auf die Gefühle, welche ja
gleichfalls von einem ebenso durchgehenden Gegensatze des
Angenehmen und des Unangenehmen, der Lust und der Unlust
sich ganz und gar beherrscht zeigen, „springt gleichsam mit
Gewalt in die Augen'', und zwar ist dieser Parallelismus so
verführerisch, dass ihm gegenüber Vorsicht und Unbefangenheit
in der Fragestellung dringend geboten erscheint: „Unsere frage
lautet völlig voraussetzungslos : unter welchen Verhältnissen der
Nervenreizung haben wir sinnliche Gefühle? unter welchen an-
genehme? unter welchen unangenehme? sind wir jemals und
wann völlig gleichgiltig?*'
Die ans dem psychophysiscben Grundgesetz abgeleitete
Annahme „negativer Empflndungsgrössen'% als welche die un-
bewussten Zustände des Seelenlebens angesehen werden, erscheint
dem Verfasser unhaltbar, da er im ersten Theil nachgewiesen
hat, dass „das Unbewusste nicht ein negatives, sondern ein ver-
mindertes, schwaches Bewusstsein^' ist. „Die Curve oder
Inten sitätsscala beginnt also nicht mit unendlich negativen
Werthen, sondern mit unendlich kleinen positiven. Was man
Recensionen. 237
Schwelle des Bewnsstfieins nennte ist kein absoluter Nullpunkt,
sondern ein ganz yanabler Beizzustand.'^ ,,Demgeniäs6 decken
sich die Begrifft £rregungsgrÖ6se (Fechner^s psycho-
pbysischer Process), Empfindung und Bewusstsein^', und
dieser Satz „bildet die Grundlage für die Betrachtung der Lust-
XJnlustbewegung der Gefühle im Yerhältniss zu den Intensi-
täten der Reize und Empfindungen^^
Diese Abweisung negativer Empfindungsgrössen erscheint
durchaus gerechtfertigt^ da sie offenbar nur den negativen
Werthen des Logarithmus ihre Einführung in die Psychologie
verdanken. Am deutlichsten tritt der Widersinn derselben,
wie auch der Verfasser bemerkt hat, in Fechner's Worten hervor :
yyMan kann ganz in demselben Sinne sagen: man empfindet im
unbewussten Zustande weniger als nichts, als man im Falle
von Schulden sagen kann, man hat weniger als nichts/^ Denn
es hat schon für die genauere psychologische Untersuchung seine
grossen Bedenken, zu sagen : yjch empfinde nichts^', da hiervon
der bekannte Nachweis Schopenhauer s gilt, dass ^»Ich" = ist ,,Ich
denke^S was bei der Empfindung ja noch weit mehr der Fall
ist. Demnach wird der Satz: ,,Ich empfinde nichts'* niemals
einen concreten Zustand als Grundlage haben, welcher dazu
berechtigte, ihn in der exacteu Psychologie zuzulassen; aber
viel weniger noch kann man behaupten : „Ich empfinde weniger
als nichts". Deshalb weist der Verfasser die Unterscheidung
negativer und positiver Zustände von der Gefühlslehre mit
Recht ab.
Auf Grund physiologischer Erörterung gelangt er nun zu
den folgenden vier Sätzen, aus welchen er die Grundzüge der
allgemeinen Gefühlslehre ableitet (S. 13):
1) Es giebt für jedes empfindende Organ und für den
Organismus im Allgemeinen eine Gleichgewichtslage, um
welche unsere Gefühle gravitiren, dergestalt, dass die Ent-
fernung von derselben unangeuehm, die Wiederannäherung an
dieselbe angenehm empfunden wird.
2) Es werden im Allgemeinen nicht die Zustände, sondern
nur deren Veränderungen empfunden.
3) Das zu 1) erwähnte Gleichgewicht ist ein relatives und
labiles, innerhalb gewisser Grenzen veränderliches.
4) Es giebt weder einen Nullpunkt des Reizes, noch des
Gefühles.
Den beiden ersten Sätzen entsprechen im rein psycho^
logischen Gebiete diese: „Das subjective, psychische Correlat
des objectiven Molekular-Gleichgewichts ist die Gewöhnung;
238 Recensionen.
der Gonirast ist das Neue, Ungewohnte/^ Beides, Ge-
wohntes und Ungewohntes geht in fliessei^er Reihe in einander
über. Das wahre Wesen des Gefühlsvor^nges wird nun in der
Art und Weise der organischen, ,,spontanen und auto-
nomen^' Reaction auf die Veränderung zu suchen sein^
welche im Interesse der „Selbst erhaltung, d. h. zur Bewahrung
der Form und des Wesens'' des Organismus sich vollzieht; die
Wurzel des Gefühls ist das ,,Innewerden des Nutzens oder
Schadens'^
Bas Gefühl hängt nun weiter unzertrennlich zusammen
mit dem Begehren: „es giebt kein Gefühl, das nicht sofort
Begehren ist, es giebt kein Begehren, das nicht seinen Grund
in einem Gefühl hat Das wahre Urbild dieses Yerhältnisse&
ist das Yerhältniss zwischen Empfindung und Bewegung/' Durch
diese Bestimmung soll einestheils die zu gewaltsame Sonderung
von Gefühl und Begehren^ andrerseits die völlige Identificirung
beider verhindert werden.
Der Satz: „Es giebt kein Gefühl, das nicht sofort Be-
gehren ist^^, wird sich mit der psychologischen Erfahrung
schwerlich in Einklang bringen lassen. Wenn auf ein starkes
Begehren das Lustgefühl der Befriedigung folgt, so dürfte ea
wohl die Regel sein, dass hier, und zwar oft verhältnissmässig
lange Zeit, sich keinerlei Begehren zeigt. Vielmehr wundem
sich aufmlrksame Beobachter in diesem Falle über den Zustand
vollkommener Wunschlosigkeit , in welchem sie sich befinden^
während sie' sich doch vollkommen glücklich fühlen; erst wenn
der Gedanke sich einstellt, dass dieses Gefühl des Glücks ebenso
sein Ende finden wird, wie alles Andere, dann kommt sofort
das Begehren nach seiner ewigen Dauer. An und für sich aber
schliesst ein starkes Lustgefühl wohl sogar in der Regel daa
Begehren aus. —
Das Gefühl, als Grundelement des psychischen Lebens, ist
der stete und unzertrennliche Begleiter aller seelischen Thätig-
keiten, woher die mannichfaltige,. dem Psychologen oft Schwierig-
keiten bereitende Verschiedenheit der Gefühle.
Der Verfasser nimmt drei verschiedene Grunddassen von
Gefiihlen an:
I. Die qualitative Gcfühlsentwickelung: „Die
natürliche organische Verschiedenheit der Seelenthätigkeit be-
gründet eine ebenso mannichfaltige Verschiedenheit der Gefühle. **
Nach dieser qualitativen Verschiedenheit ergeben sich nun in
der ersten Grnndclasse die folgenden vier Abtheilungen:
Recensionen. 2S9
1) Die Sinnes- und Gemeingefühls-Empfindungen,
deren Oefuhlsgehalt man allgemein unter dem Ausdruck der
sinnlichen Gefühle begriffen hat.
2) Die ästhetischen Gefühle, d. h. diejenigen Lust-
Unlust-Gebilde, welche der weiteren Bewusstseinsentwickelung
Gewöhnung, Erinnerung, der Wahrnehmungs- und Vor-
stellungs-Bildung entsprechen. Zu ihnen gehören auch
Raum- und Zeit -Sinn mit den ihnen zugehörigen Formen der
Symmetrie- und Bhythmus-Gefühle.
3) Die intellectaellen Gefühle, d. h. diejenigen, welche
dem eigentlichen höheren Denken und dem durch
dasselbe hervorgerufenen theoretischen Interesse entsprechen.
4) Die; moralischen, d. h. die den Verhältnissen des
Begebrens und Willens entsprechenden Gefühle.
TL Die Denkentwickelung oder die Entwicke-
lung zum Denken: diejenigen Gefühle, welche sich zur
Einheit des Denkens und des entschiedenen Wollens entwickeln.
III. Die Secundär-Entwickelung oder die Ent-
Wickelung von Gefühlen aus Gefühlen, Gefühle
höherer Ordnung, Gefühle von Gefühlen, z. B. die Furcht vor
dem Schmerz einer Operation.
Der Grundgedanke dieser Eintheilung dürfte von bleibendem
Werthe sein, da er sachlich begründet ist; im Einzelnen werden
sich freilich hinsichtlich der I. und II. Classe die specifischen
Unterschiede nicht immer genau feststellen lassen, nach welchen
ein concreter Geftthlszustand in die eine oder andere Classe
einzureihen wäre.
Von diesen drei Arten der Gefühlsentwickelung wird im
vorliegenden Bande nur die erste, die qualitative Besonde-
rung behandelt; hinsichtlich der beiden andern verweist der
Verfasser auf die Fortsetzung des Werkes.
Die nun folgende Analyse der einzelnen qualitativen Ge-
fühle ist von einer Vollständigkeit, wie sie bisher wohl kaum
geboten worden ist, und zeichnet sich durch reiche Fülle von
Beobachtungsmateria], eindringenden Scharfsinn und sorgfaltige
Kritik aus. Der Verfasser erkennt höhere Gefühle an, aber
sie sind ihm das Product einer immer höher gipfelnden Ent-
wickelung; dies gilt speciell auch vom Mitgefühl, „dem Grund-
und Eckstein aller Tugenden^: „Ein Kind hat zuerst weder
Mitleid noch Mitfreude^ , ebenso ist andrerseits auch die
Schadenfreude ein Resultat höherer Bewusstseinsentwickelung.
Den EinfluRs der Entwickelung und Bildung schlägt er sehr
hoch an, indem er die ursprüngliche Naturanläge durch sie
240 Recensionen.
veredelt werden lässig und in idealer Aufifassnng die so f|;e-
wonnene höhere Bildungsstufe als die eigentliche ^Katur** des
Menschen zu erweisen bestrebt ist.
Dieses ebenso schwierige als wichtige Problem nimmt er
in Angriff^ indem er es versucht, das Bild einer Entwickelung
des Gefühlslebens zu zeichnen, welches von den elementarsten
und niedersten sinnlichen Gefühlen ausgehend zu immer um-
fassenderen Complexen und immer höher entwickelten Gefühls-
einheiten aufsteigt. Die Art, wie er immer das Eine aus dem
Andern abzuleiten, wie er z. B. die eigentlichen Sinnes-
gefühle auf die frühesten Stadien der vegetativen Gemein-
gefühle zurückzuführen^ wie er die ästhetischen als die
hohem Gomplicationen und Gontinuitäten der Sinnesgefühle zu
erklären, die intellectuellen Gefühle wieder als die höhere,
strenger einheitliche Synthese ^aller harmonischen und Con-
tinuitäts-Bildungen darzustellen versteht, dürfte sieber als neu
und originell anzuerkennen sein. Und auch das wird man ihm
zugeben müssen, dass er es verstanden hat, seinen Deductionen
durch reiches thatsächliches Material und durch den Nachweis
der überall erkennbaren üebergangsglieder eine möglichst ge-
sicherte Grundlage zu geben.
Wenn die bisherigen, die Capitel I— VIII, S. 1—226 füllen-
den Untersuchungen noch über zumeist bekannte Gebiete (nament-
lich über die ästhetischen und die formalen intellectuellen Ge-
fühle ist ja viel geschrieben) sich erstreckten, so beginnt mit
den nun folgenden moralischen Gefühlen ein ganz un-
bekanntes Land, ein bisher fast ganz unbebautes Gebiet, ein
Chaos durcheinander schwirrender vager Meinungen, Welches
um so drückender empfanden wird, als es sich hier um Dinge
und Fragen handelt, die mit dem Wohl und Wehe jedes Ein-
zelnen wie mit dem der Gesammtheit in engstem Zusammen-
hange stehen. Auch hier geht der Verfasser entschlossen an's
Werk und sucht Ordnung zu schaffen, und man kann nicht
läugneu; es gelingt ihm, so etwas wie ein System der mora-
lischen Gefühle zu Stande zu bringen.
Schon auf dem Gebiete der intellectuellen Gefühle war
eine doppelte Strömung der formalen Einheits- und der
materialen Erfolgs-Gefühle zu unterscheiden gewesen.
Diese bilden nun die beiden Quellströme für die moralische
Gefühlsentwickelung. Die erstere führt zu den formalen
Beurtheilungsgefühlen, die sich um die Begriffe der
Kraft, des Muthes, der Treue und Consequenz u. s. w. grup-
piren. Die zweite, viel umfassendere Hauptabtheilung der
Recensiooen. 241
materialen moralischen Gefühle wird weiter eingetheilt in die
Eigex^ und Selbst-Gefühle einerseits und in die Mit-
und Fremdge fühle andrerseits. Die erste Gruppe ist
wieder die kleinere und umfasst diejenigen Gefühle, welche
sich auf die eigene Gefühls- und Willensthätigkeit und auf die
eigene Person hcziehen. Es sind das diejenigen Gefühle, welche
um den Egoismus als ihren geistigen Schwerpunkt gravitiren^
als: Eigenliebe, Selbstgefälligkeit, Eitelkeit, Selbstsucht, Stolz,
Kochmuth, Scham, Beue, Ehrgefühl u. s. w. Entgegen der
üblichen Meinung, welche im Egoismus das materiale Grund-
gefühl erblickt, aus dem sich die Specialgefühle des Stolzes,
der Ehre u. s. w. erst entwickeln, weist der Verfasser nach,
da SS die Entwicklung gerade den umgekehrten Verlauf nimmt,
einzelne von den Specialgofühlen zu immer einheitlicher ge-
stalteten Gefühlsgruppen verschmelzen, welche dann in den
höheren Persönlichkeitsgefühlen ierst ihre spätere einheitliche
Spitze gewinnen. Den Ausgangspunkt der ganzen Entwickelung
bildet der „Erfolgs äffe et", und der Verfasser legt Werth
darauf, an der besonderen Art dieser Complexbildung ihre
Verwandtschaft mit den ästhetischen Harmoniegefühlen nach-
zuweisen.
Mit der Herausbildung des Persönlichkeitsgefühles (welche in
früher dargelegter Weise mit der Ausbildung der entsprechenden
Erkenn tniss Hand in Hund geht), ist eine neue wichtige Entwicke-
luDgsstufe erreicht. Wie in theoretischer Beziehung die Er-
kenntniss, so ist auch in pathischi^r Hinsicht das Gefühl der
eigenen Person nur möglich in und mit der Erkenntniss und
dem Gefühl der fremden Person. Man erkennt sich nur im
Spiegelbilde der Andern, die Andern nur aus der Analogie von
sich selbst. Dieser innige Wesenszusammenhang des Selb st-
und Mitfühlens hildet nun den Ausgangs- und Keimpunkt,
das einheitliche genetische Princip für die ganze höhere sitt-
liche Gefühlswelt; das Mit- und Gleichfühlen des Gleichen
unter Gleichen ist der organische Mittelpunkt aller Moral und
Gerechtigkeit, aller menschlichen Verhältnisse, aller Verbände
in Staat, Gesellschaft, Kirche u. s. w.
Die speciellere IJntereintheilung macht sich dem Verfabser
von selbst. Ergehtaus von den einfachen Mitgefühlen,
die völlig voraussetzungslos und ohne Rücksicht auf die zwischen
den Menschen bestehenden Verhältnisse, sich oft so gewaltsam
aufdrängen wie das Mitleid mit einem in Gefahr Befindlichen.
Die Gruppe von Mitleid, Mitfreude, Schadenfreude, Neid, Miss-
gunst zeigt in diesen mehr elementaren Gefuhlsverhältnissen
VierteljahrsBchrift 1 Wissenschaft!. Philosopliie. III. 2. 16
242 Recensionen.
einen^ so zu sag^n, dialektischen FortBchritt. Die genannten anti-
pathischen Affecte — in dem bewussten Gegensatz des eignen
Subjectd zum fremden wurzelnd — bilden gewissermaaMen das
Ferment der weiteren Entwickelung. „Es ist das erste Symptom,
der erste rohe kindische Gebrauch, den das höher entwickelte
Subject von der ihm eben zum Bewusstsein kommenden Eigen-
freiheit und Autonomie zu machen versteht.^
Damit ist der üebergang zu den menschlichen Verhält-
nissen und historischen Verbänden von selbst gegeben. Die Gruppe
der „Erwiederungsgefühle" (Dankbarkeit — Rache —
Undankbarkeit — Vergebung) bezeichnet die niedrigste Stufe
dieser ^historischen Gefühlsentwickelung^. Auch hier tritt schon
die Tendenz, sich von dem momentanen Gefühlsanlasa
zu emancipiren und sich zu festern und dauernden Ge-
fühlshaltungen zu erheben, deutlich erkennbar hervor. In
der folgenden Gruppe der materialen Schätzungsgefühle
(Achtung — Verachtung, Ehrerbietung — Abscheu, Ehrfurcht —
moralischer Ekel) tritt dieser Hinweis auf dauernde Gefühls-
lagen noch schärfer hervor, während die nun folgende grosse
und wichtige Gruppe der Liebesgefühle ganz und gar auf
einer solchen dauernden Gefühlshaltung beruht (Verfastiier
führt dafür den Terminus „Gefühlshabitus^^ ein). Nach
sehr eingehender, das gesammte thatsächliche Material in ziem-
licher Vollständigkeit berücksichtigender Analyse der einzelnen
Liebesarten (Verwandtenliebe: Mutter-, Vater-, Kindes-,
Geschwister - Liebe ; Liebe zum andern Geschlecht:
Romantische Liebe, verständiges Ehebegehren, sinnliche Leiden-
schaft, Gattenlitbe, Galanterie und Coquetterie; allgemeine
Menschenliebe: Umgang, Verkehr, Freundschaft, Bekannt-
schaft, Höflichkeit, Urbanität, Leutseligkeit), — sowie des
Hasses (Abneigung, Gleichgültigkeit) gelangt der Verfasser zu
dem Manchen wohl etwas frappirenden Resultat, dass „die
Liebe den allgemeinsten und der Menschennatur
in ihren wesentlichsten Grundzügen am meisten
entsprechenden, ihnen angemessensten Geftthls-
habitus bilde".
Der Verfasser steht einerseits auf dem Boden eines hohen
ethischen Idealismus, von dem aus er es z. B. unternimmt, das
Gebot Christi, Böses mit Gutem zu vergelten, psychologisch zu
rechtfertigen und die allgemeine Menschenliebe als das natür-
liche Froduct einer normalen Gefühlsentwickelung nachzuweisen.
Andrerseits bewegt er sich durchaus auf dem Boden thatsäch-
licher inductiver Forschung und eines nüchternen realistischen
K
I
Beeensionen 243
Bmpirismus ^ welcher den Thatsachen unbefangen ins Gesicht
blickt and den Forderungen des „gesunden Menschenverstandes'^
(trotz mancher frappirender Paradoxieen) Gerechtigkeit wider-
fahren lässt, indem er mit Vorliebe den Fingerzeigen des
Sprachgebrauches, der gemeinen Eede weise und der Aoschau-
cingen von JedermaDu nachgeht. Als ein besonders prägnantes
Beispiel dieser zugleich idealen und realen Anpassung lässt
«ich das Capitel von der romantischen Liebe bezeichnen^ welche
sich dem Verfasser zufolge rein natürlich auf sexueller Grund-
lage entwickelt, aber über dieselbe hinauswachsend zu einem
hohen sittlichen Ideal wird. Seine Ansichten hierüber sind in
folgenden Sätzen zusammengefasst, die zugleich als Probe seiner
Darstellung dienen mögen:
^s ist mit der Liebe wie mit der Ehre, auch sie ist zum
grossen Theil schon ein historisches Gefühl, d. h. durch
die besondere Weise unsrer Gulturentwickelung bedingt und
durch die Sitte beherrscht. Die Institution der Ehe bildet
einmal die überlieferte, durch Recht und Sitte geheiligte Form
der Gemeinschaft zwischen Mann und Weib, den Eahmen, in
welchem dieses Gefühl sich allein entwickeln kann; und das
wirkt wieder zurück auf die Art des Gefühls, entzündet es
höher, macht es reiner und feiner, ausdauernder und opfer-
bereiter. Das ist der erziehende Einfluss der Sitte und darin
besteht zugleich die hohe veredelnde. Macht echter Weiblichkeit.
Eben dadurch, dass es nicht möglich ist, die stärkste Leiden-
schaft, den mächtigsten Grundtrieb zu befriedigen, ohne die
ganze Person einzusetzen und dranzugehen, wird dieser Trieb
einerseits stärker und mächtiger wie ein gestautes Wasser,
andrerseits reiner und edler, geadelt durch den höheren Werth
des erstrebten Gegenstandes. Gerade die Grösse des Opfers,
das ich bringen, der hohe Preis, den ich zahlen muss, macht
das erstrebte Gut in meinen Augen werthvoUer und lockender.
Daraus erklärt sich die hohe Gluth und Innigkeit, die unser
Gefühl so oft annimmt, die schwärmerische Illusion, mit der
es sein Object zu umhüllen pflegt und die leidenschaftliche
Zähigkeit und Ausdauer, mit der es demselben nachstrebt."
Der Begriff des „Gef ühlshubitus^S der dauernd ange-
nommenen Gefühlshaltung, in welchem die Entwickelung der
Mit- und Selbstgefühle, der Erwiederungs- und Liebesgefühle
gipfelt, bildet zugleich den Uebergang und die Grundlage für
die letzte Hauptabtheilung der historischen oder Ver-
band-Gefühle. Dieselben wurzeln durchweg im Begriff der
Pflicht, welchen der Verfasser aus der Willenslehre und
16*
244 Recei»H>iieD.
Ethik anticipirend , hier einer vorläufigen Analyse unterzieht';
er kommt zu dem Resultat, dast» ^^das Pflichtgefühl erstlich ein
habituelles, anerzogenes, angewöhntes Gefühl ist, welches eben
deshalb mit allen unsren Gefühlen , wie man zu sagen pflegt,
mit unsrer ganzen Denk- und Sinnesart innig Terwachsen, mit
unauslöschlichen Zügen in Herz und Gemüth eingegraben ist,
und zweitens, dass es ein Verbandgefühl ist, d. h. ein Gefühl,
welches sich auf ein über uns stehendes^ uns mit allen unsem
Gefühlen und Gefühlscomplcxen umfassendes, tragendes, be-*
dingendes, höheres Ganze bezieht." (S. 477.) Und es ist hierzu
noch hinzuzunehmen, was er S. 48 1 foststellt, „dass alle Pflicht
Liebespflicht ist, auf Liebe beruht, ganz und gar Liebe ist'*.
Auf dieser wiederum hochidealistischen Grundlage breiten
sich nach Art concentrischer Ringe in immer weiteren Sphären
die Verband gefühle gegen Familie, Gemeinde, Kreis, Staate
Volk, Nation, die gesellschaftlichen Gefühle in sehr complicir*
ten Verhältnissen, endlich die allgemeinen Sittlichkeits- und
die religiösen Gefühle aus. —
Diese kurze Inhaltsangabe würde ihren Zweck vollkommen
verfehlen, wenn sie dem Leser einen Ersatz für das Buch
selbst bieten würde; vielmehr soll sie lediglich dazu dienen,
die Aufmerksamkeit auf dasselbe als ein des gründlichsten
Studiums durchaus würdiges hinzulenken. Und zwar verdient
es nicht nur die Beachtung der Psychologen, sondern es ist
auch vorzüglich geeignet, die psychologischen Anschauungen
weiterer Kreise in wesentlichen Punkten zu fördern und zu
berichtigen. Die empirische Psychologie steht, indem sie ohne
vorgefassfe Meinung die Thatsachen sammelt und sichtet und
nach wissenschaftlicher Methode verwerthet, in der Mitte
zwischen zwei entgegengesetzten Ansichten speculativen Ur-
sprungs, welche beide eine ziemliche Popularität erlangt haben.
Die Psychologie der spiritualistischen und dualistischen Meta-
physik stellt den Menschen als ein Muster von theoretischer
und praktischer Vollkommenheit dar, welche er mühelos von
Natur besitzen soll ; die moderne materialistische Reaotion gegen
diese phantastischen Annahmen glaubt unfehlbar das Richtige
zu treffen, wenn sie in allen Punkten einfach das Gegentheil
behauptet, und kümmert sich daher ebensowenig um die That-
sachen wie ihre idealistischen Antipoden Hiermit sind natür^
lieh nicht die eigentlichen wissenschaftlichen Vertreter des
Materialismus gemeint, welche ja im Kampfe mit der specula«
tiven Philosophie zum Theil die Psychologie wahrhaft gefördert
haben, und jedenfalls auf einem Niveau stehen , von dem aus
Selbstanzeigep. 245
sie über wissenschaftliche Streitfragen mitreden können ; diese
haben mit denjenigen, welche sich heutzatage Materialisten
nennen, kaum etwas Anderes gemein als den Namen. Diese
letzteren, die populären Ausläufer des gegenwärtig von allen
wissenschaftlichen Männern aufgegebenen Materialismus, suchen
häufig mit widerwärtiger Dreistigkeit ihren Euhm darin, ihr
eigenes Mass von Denken, Fühlen und Wollen, von Kenntnissen
und Bildung allen Andern wenigstens theoretisch aufzubürden.
Mit der bekannten Sicherheit aller Speculativen, für welche ja
ihre Dogmen stets absolute Gültigkeit haben ^ stellen sie die
Resultate ihrer persönlichen Erfahrung als allgemein und noth-
-wendig hin und sehen daher selbstverständlich Alles , was sie
bei sich selbst nicht vorfinden, als überhaupt nicht vorhanden
An; ein Standpunkt, welchen sie gern mit der Etiquette der
„Bescheidenheit*^ versehen, während sie abweichende Ansichten
als anmaassend oder auch als heuchlerisch von vornherein ver-
werfen. Dieser Unfug , welcher sich der Bequemlichkeit sehr
empfiehlt, hat sich gegenwärtig recht eingebürgert und wirkt
AVLoh in praktischer Beziehung höchst verderblich. Deshalb
wäre es dringend zu wünschen, dass eine wirklich wissen-
.srhaftliche Psychologie, so lange es noch Zeit ist, an die Stelle
der speculativen Phantasiegebilde träte, seien diese nun spiri-
tualistischen oder materialistischen Ursprungs. Diesen so noth-
-wendigen Umschwung einzuleiten, erscheinen die „psychologischen
Analysen*^ sehr geeignet, auch durch die Art ihrer Darstellung,
w^elche durch häufig eingestreute typische Geschichten und
Anekdoten die übliche Trockenheit der Lehr- und Handbücher
vermeidet.
Leipzig. G. Göring.
Selbstanzeigen.
^Die „Selb8taiiMig«n'* sclili«sBen «ine Becension der betreffenden Werke in dieser Zeit-
•clirift nicht ans.)
Capeaius, J. Die Metaphysik Her hartes in ihrer
Entwicklungsgeschichte und nach ihrer histo-
rischen Stellung. Ein Beitrag zur Geschichte der nach-
kantischen Philosophie. Leipzig, 187S. H. Matthes. (XII u.
108 S. gr. 8.)
Der erste Theil gibt die bisher hauptsächlich von Harten-
stein und Zimmermann behandelte Entwicklungsgeschichte der
H.'schen Metaphysik in theilweiser Abweichung von jenen Au-
246 SellMteoMigen:
toren. £s werden in denselben (1788 — 1806) vier Perioden
(statt, wie bei Zimmermann^ zwei) unterschieden. Dadurch gelingt
eine genauere Sonderung der einzelnen Factoren, welche die
Entwicklung H.'b bedingen, und unter denen als grundlegend
der durch Wolff vertretene Bationalismus und als weiter richtung-
gebend besonders die Wiesenschaftslehre Fichte's erscheint. Die
Haupt tendenz war auf eine psychologische Erklärung der be-
handelten ErscheiDungen gerichtet. — Im Zusammenhang mit
den Eesul taten der Entwicklungsgeschichte bestimmt der zweite
Theil die bist. Stellung der H.'schen Metaphysik in anderer Weise^
als es bisher yielfach üblich war: Zunächst wird einem weit
verbreiteten Yorurtheil gegenüber die durchaus negirende Hal-
tung H/s zu Kant nachgewiesen, und sodann die positive Stellung
seines Systems als diejenige eines logischen — dem WolflTschen
zumeist verwandten — Bationalismus bestimmt, im Gegensatz^
zu der von Kant ausgehenden Richtung des sog. Idealismus,,
für welche die Bezeichnung eines psychologischen Bationalismus
gewählt wird. Der letzte Abschnitt gibt eine kritische Beleuch-
tung des H.'schen Bationalismus, namentlich im Zusammenhang
mit der Kantischen Formulirung des re^tionalistischen Problems..
Hoppe, J. I. Die Schein- Bewegangen. Wtirzbnrg,.
A. Stuber, 1879. (XII u. 212 S. gr. 8»). M. 4.
Der Verfasser ist von dem undeutlichen Sehen eines kleinen
Gegenstandes ausgegangen, der, wenn man mit den Augen auf
demselben verweilt, bald den Eindruck zu machen pflegt, als
ob er sich fortbewege. Diese Erscheinung erklärt sich aus
dem Zucken der Augenmuskeln in Folge der Sehan-
strengung. Somit wurden zunächst die hieraus sich ergebenden
Scheinbewegungen nebst den verwandten Erscheinungen, nament-
lich die Bewegungen der Statuen und Bilder, erörtert und auf-
gehellt. Die gefundene Erklärung führte nothwendig dazu, die-
jenigen Scheinbewegungen, die sich aus zurücklaufenden oder
gekreuzt laufenden Bildern des bewegten Auges nun einmal
nicht erklären lassen, wie die scheinbare Bewegung des Ufers,,
bei ruhigem Stehen am Ufer in ruhigem Hinsehen auf dasselbe^
ebenfalls auf feine Zuckungen der Augenmuskeln zurückzu-
führen, welche Zuckungen aber, da sie nicht aus anstrengender
Bethätigung der Augenmuskeln entstellen können, vom Yer^
fasser als reflectorischc Zuckungen der Augenmuskeln in
Folge des vom bewegten Waseer her die Netzhaut treffenden
Lichtreizes aufgefasst werden, wodurch zugleich die rück-
läufige Form der Scheinbewegung erklärt wird. Diese Theorie
der durch Bewegungsreize, welche bei der Abprägung von wirk
Selbstanieigen. 247
Hohen Bewegungen aof der Netshant entstehen, veranlassten Be-
flezbewegnngen ist anoh bei den übrigen Scheinbewegungen
soweit verwerthet worden, als der geometrische Verlauf der
Bilder über die Netzhaut oder das Denken in den reproducirten
'Vorstellungen früher wahrgenommener Bewegungen sur Er-
klärung nicht oder nicht allein genügte. Auch die scheinbaren
Bewegungen beim Eisenbahnfahren, die Scheinbewegungen des
Mondes u. a., ferner die Reizung, welche durch gesehene
Bewegungen auf die Netzhaut und durch Fortleitung auf das
Gehirn ausgeübt wird^ der Begriff der »Bewegung" sowie
das Verhalten der Geistesthätigkeit im Zustande der
V^ahmehmung des Scheines sind möglichst genau erörtert worden.
Einige allgemeine Betrachtungen über ,,Percipi est esse'', über
Subjectivität der Naturauffassung und Fhänomenalität der Wirk-
lichkeit etc. schliesaen den Versuch.
Mühry, Adolf. Ueber die exacte Natur-Philo-
sophie. Göttingen, Dietrich^ zweite venu. Ausg. (IV,
101 S., kl. 80.) 1878.
Unser Wissen von den Naturverhältnissen muss die Grund-
lage bilden für die Philosophie überhaupt; in der neusten
Zeit hat jenes Wissen sehr rasch sehr grossartige Erweiterungen
gewonnen. Die Auffassung der Natur ist vornehmlich eine
kosmologische geworden. Es ist jetzt erkannt, dass im ganzen
Weltall gelten nicht nur dieselben mathematischen, mechani-
schen, physikalischen und chemischen, sondern auch dieselben
logischen Gesetze. Aber es mangelt noch an der Anerkennung
der letzteren, und damit zunächst auch der Teleologie, welche
vor allem der richtigen Begriffsbestimmung bedarf, um deut-
lich hervorzutreten, nämlich als die in den Theilen eines Ganzen
bestehende Proportionalität, (auch in einer blossen Maschine),
welche nie ohne Denken' zu Stande kommen kann. Das im
Universum so rein naturwissenschaftlich anzuerkennende Denken
ist aber identischer Art mit dem Denken, oder dem Geiste,
des Menschen, denn yerschiedene logische Gesetze kann es
nicht geben, obgleich in Vergleichung mit jenem das mensch-
liche Denken nur eine minimale Grösse darstellt. Aus dieser
Auffassung der allgemeinen Stellung des Geistes im grossen Ganzen
der Natur ergeben sich wichtige Folgerungen für die Philosophie,
Yon denen einige zu ziehen schon unternommen worden ist. Sie
identificirt das Subject, nicht wie früher vom Pantheismus
geschah, nicht auch mit dem Physischen im engeren Sinne;
sondern nur mit dem objectiven Geiste im Weltall. Damit hat
die Philosophie in richtiger Weise die ihr zukommende Analogie
248 Philosophische Zeitschriften.
mit der Copernicanischen Weltanschauung gewönnet! (welche
manchmal unrichtig in Anspruch genommen wird).
Qtiiilones, XJbaldo B. La Religion de la Ciencia.
(Filosofia racional.) Madrid, Libreria Bailly-Balieri, 1878.
gr. 8^ XXXV & 515 pp.
El autor de este libro exencialmente espiritualista , espone
en los dominios de la ciencia matematica lo melde para una
Beligion universal.
Componese la obra de dos libros. En el primero despues
de la tesis en el Frdlogo, en el capitulo „Ley general del Ba-
cioiiDio*' espone un m^todo cientifico para la investigacion
general de la yerdad y trata luego de las relaciones entre el
hombre y Dios presentando las Bases para un Dogma de moral
universal. En este primer libro combate el Materialismo, de-
clarandose deista pero no en la manera y forma que lo han
hecho hasta hoy todos los pensadores, sino afirmando toda in-
determinacion en orden d la Idea de esta Primera Causa. — En
el libro segundo ocupase de las relaciones del hombre con sus
Bemejantes elevandolas d categoria de Leyes universales com-
batiendo victoriosamente la Filosofia y concepciones Hegelianas.
Philosophische Zeitschriften.
Fhilosophiflolie Monatshefte.
Band 14, Heft 8 und 9: R. Eucken: Untersuchungen
zur Geschichte der älteren deutschen Philosophie. II. Nico-
laus von Cues. — J. Witte: Die Lehre vom subjectiven An-
theile des Geistes an allem Erkennen und der Apriorismus. —
A. Scheuten: Aphoristische Gedanken über Baum und Zeil. —
P. V. Lilienfeld, Gedanken über die Socialwissenschaft der Zu-
kunft; rec. von Jodl. — G. Biedermann, Philosophie als Be-
griffswissenschaft; bespr. von L. Weis. — J. Sully, Pessi-
mism; b^pr. von C. Schaarschmidt. — Ob. Renouvier et
F. Pillon, Psychologie de Hume ; besp. von dems. — 0. Flügel,
Die Seelenfrage ; bespr. von dems. — Ereyenbühl, Religion u.
Ghristenthum ; bespr. von L. Weis. — Fr. Zimmer, J. G.
Ficht e's Religionsphilosophie ; bespr. von 0. Schaarschmidt. —
Bibliotheca philos. med. aet. , hrsg. von C. S. Barach — und
Noack, Philosophie - geschichtl. Lexicon ; angez. von dems. —
• Philosophische Zeit Schriften. 249
Litteraturbericht : Biese; Post; Gross; Ueberhorst; Ditterici;
Frederichs ; Goebel ; Horwicz ; Pensier ; Hellenbach. — A . Sp i r :
Antikritik; Th. Lipps: Doplik. — Bibliographie von F.
Ascherson. — Vorlesungen. — Becensionc n - Verzeichnigs. —
Aus Zeitschriften. — Miscellen.
Band 14, Heft 10: M. J. Monrad: Hamlet — und kein
Ende. — M. Carriire, Die sittl. Weltordnung; bespr. von
A. Lassen. — K. Dittmar, Vorlesungen über Psychiatrie;
bespr. von K. Böhm. — L. v. Golther, Der moderne Pessi-
mismus; bespr. von C. Schaarschmidt. — L. Strümpell,
Die Geisteskräfte des Menschen; bespr. von dems. — Littera-
turbericht: Pfleiderer; Harms; v. Eirchmann; Völkel. —
C. Ueberhorst: Zur Abwehr; J. H. Witte: Replik. Biblio-
graphie von F. Ascherson. — Vorlesungen. — Recensionen-
Verzeichniss, — Aus Zeitschriften. — Miscellen.
Zeitschrift f&r Philosophie und philosophische Kritik.
Band 74, Heft 1: H. Sommer: Die Lehre Spinoza's u.
der Materialismus. I. — J. B. Weiss: Untersuchungen über
Fr. Schleiermacher's Dialektik. IL — E. Dreher: Zum Ver-
ständniss der Sinneswahmehmungen. V. — Recensionen: Per-
fiönlichkeits-Pantheismus u. Theismus. Carri^re, Baader, Ritter,
TJlrici; von Fr. Hoffmann (Schi.) — 0. Caspari, Die Ur-
geschichte der Menschheit; von Fr. v. Baerenbach. —
B. Bocholt, Die Philosophie der Geschichte ; von M. Carriire. —
B. Conta, Theorie du Fatalisme; von Lassen. — Fr. Miche-
lis, Die Philosophie des Bewusstseins. — J. Grote, A Trea-
iise on the Moral Ideals; von Erohn. — R. Flint; Theism;
von H. Ulrici. — Smith, Faith and Philosophy ; von dems. —
Hodgson j The Philosophy of Refiection ; von dems. — Cook,
Biology ; von dems. — J. 4{ u her. Die Forschung nach der Ma-
terie ; von dems.— G. Martins, Zur Lehre vom Urtheil ; von dems. —
J. Jacobson, Ueber die Beziehungen zw. Kategorien etc.; von
dems. — E. Dreher, Beitrage zur Theorie der Farbenwahr-
nehmung; von dems. — v. Wangenheim E., Vertheidigung
Kant's gegen Fries; Selbstanzeige. — v. Gi?ycki, Die Ethik
David Hume's etc; Selbtsanzeige. — Bibliographie.
Bevue Philosophique de la France et de l*iltranger.
Jahrg. 3., Heft 10: H. Taine: Geographie et M^canique
c^r^brales. — C a r ra u : Moralist es anglais contemp. : M. Lecky. —
S^ailles: Fhilosophes contemp.: M. Ravaisson. — Notes et do-
cuments: La conscience sous l'action du chloroforme, d'aprös
H. Sp e n cer. — De la Durde des actes psjchiques ^t^mentaires,
d'apris Eries et Auerbach. — Analyses et comptes rendus:
250 Philotophische Zeitschriften.
Hnber, Der Fessimismas ; HorwicZyTsychol. Analysen ; v. Oizyoki,
Die Philosophie Shaf lesbury's ; Eneken , Gesch. u. Kritik
der Grundbegriffe etc. ; Hanslick, Du Heau dans la mnsique. —
Beyne des P^riodiques. — Correspondance : Joyau: Les lapsus
de la Vision; Egger: Räponse.
Heft 11: A. D a s t r e : Le Probleme physiologique de la
vie. — G. Compayre: La Psychologie de Tenfant» d'apr^
des publications r^centes. — H. J o 1 y : La Jeanesse de Leibniz
k rUniversit^ de Leipzig. — Notes et docnments: L'Intelli-
gence animale, d'apr^s Rom an es. Note sur le sens muscu-
laire, par G. Pouch et. — Analyses et comptes rendus: Renan,
Caliban; Guyau, La Morale d'Epicure: Bougot, Essai sur la
critique d'art; Liard, Les Logiciens anglais contemp.; Zöllner,
'Wissenschaft!. Abhandlungen. I.; di Giovanni, Prineipii di
filoBofia prima. — Notices bibliographiques : Beaussire ; Gugnin }
Delaunay ; Ferri ; Grote ; Reich ; Shields. — Revue des Periodiquee.
Heft 12: C.-S. Peirce: La Logique de la Science. (L) —
A. Penjon: La Metaphysique ph^nom^niste en Angleterre:
Hodgson. L — P. Regnaud: Etudes de philosophie indienne
(rEcole Yedanta). — Varietes: Les Etudes psychol. en Alle-
magno: Lazarus, par Th. Reinach. — Analyses et comptes
rendus: Mayr, Die philos. Geschichtsauffassung der Neuzeit;
HorwicZy Psychol. Analysen. Hf. ; Horwicz, Moral. Briefe; J.
V. Eirchmann, Katechismus der Philosophie ; Secretan, Discours
laiques; Ouyau, La Morale d'^ilpicure (fin). — Revue desP^riodiques.
La Philosophie Positive.
Jahrg. 11, Heft 1 : E. Littr^: Le D^terminisme de Claude
Bemard. — G. Wyrouboff: La Guerre d'Orient (suite). —
H. Stupuy: y,La Rdvolation'' selon M. Taine. — E. Littr^:
De rinfluence de la Philosophie posit. en nos affaires. —
T. R i d a r d : Instinct-Intelligence ? — A. D u b o s t : Le Trans-
formisme. — £. L i 1 1 r ^ : Le centenai re de Voltaire. — P.Petroz:
Salon de 1878. — E. deRoberty: Notes sociologiques. —
£. Littr^: La paix probable. — Vari^t^s. — Bibliographie.
Heft 2: £» Littre: La double conscience. — £• Lesig ne:
La Familie dans le pass^. — G. A. Hubbard: L'£lcole d'ad-
ministration. — £.Littr^: La religion d'Israel. — P. Petroz:
Exposition univ. de 1878. — £. Noel: Mad. Gomte a
Rouen. — X.: Les missions laiques (suite). — M. Rt^gis:
France et Monarchie (suite). — G. Wyrouboff: La Guerre
d'Orient. — £. Littre: La paix faite. — Vari^t^. —
Bibliographie.
Heft 3: P. A. Segond: Du Proc^de comparatif et de
PhUosophisehe ZeitMhriften. 251
flon application auz ^tudes biologiques. — A. Sanson: L'^tat
actuel de la Zootechoie. — A. Bitti: £tude aar la folie. —
£. L i 1 1 r ^ : De la ciTilisation des AryenB-Hindoiu. — H. S t u pu 7 :
Notice sur la yie et les oeuvres de Sophie Germain. -~
P. Petroz: Le roman moderne et £. Zola. — Fr. Paul-
han: Le fondement de la Morale. — M. R^gis: Fraoce et
Monarchie (suite). — G. Wyrouboff: Quelques nouyeauz
livres. — Bibliographie.
Mind.
Heft 13: Wm. James: Are we Automata? — E.Gurney:
On Discord. — J. "Venu: The Di£Picultif s of Material Logic. —
Fr. Pollock: Marcus Aurelius and the Stoic Philosophy. — -
0. Plumacher: Pessimism. — G. St. Hall: Philosophy in
the United States. — Notes and Discussions: The Establisment
of Ethical First Principles, by H. Sidgwick; Mr. Balfour:
on Transcendentalism , by E. Caird; with Beply by A. J.
Balfour; The Number of Terms in a Syllogism, by C. B e a d ;
„Matter-of-Fact" Logic, by J. N. Keynes; Theoretical and
Practical Logic, by A. Sidgwick; Modem Nominalism, by
A. Meinen g. — Ctitical Notices: Fowler's Edit. of Bacon's
NoYum Organum, by G. C. Bobertson; B^musat's Hist. de la
Philosophie en Angleterre, by C. Bead; Benan's Dialogues et
Fragments, by G. C. Bobertson. — New Books. — Mis-
cellaneous.
IiB Filosofia delle Scuole Italiane.
Band 18, Heft 2: L. Ferri: L'idea (analisi de' suoi carat-
teri). — G. Danieili: Della fisiopsicologpa del prof. Herzen. —
R Bobba: La dottrina della libertä secondo Spencer in
rapporto colla morale. — F. Bagnisco: Le cause finali in
Piatone e Aristotele. — G. AUievo: La personalita umana
(II). — Bibliografia: L. Strümpell; CoUyns Simon; G. Bar-
zellotti; Herti; G. Buroni. — Periodici di filosofia. — ■ Becenti
pubblicazioni.
Heft 3: B. Manzoni: Sulla dottrina dell' amore in
Giordano Bruno e Schopenhauer. — T. Mamiani: Filosofia
della realitji. — Fr. Bertinaria: Bicerca se l'odierna societ^
ci vile progredisca ovvero retroceda. — G. Jandelli: Del sen-
timento. — Fr. Lavarino: Sui principii della educazione
morale. — Bibliografia: Mac Cosh; Frohechammer; W. Windel-
band; L. Marion; A. Espinas; £. Beaussire; D. Carutti. — -
Notizie. — Becenti pubblicazioni.
Eine neue philosophische Zeitschrift erscheint
seit Ende des vorigen Jahres in Porto im Verlag von Magalh&es
252 Bibliographische Mittheiliingen.
& Moniz. Dieselbe führt den Titel: ,,0 Positlyismo^^
und wird Ton den Herren Theophilo Braga und
Julio de Mattos in jährlich 6 Heften zu 5 Bogen (S^)
herausgegeben. Eine weitere Anzeige Torbehaltend werde an
dieser Stelle nur der Inhalt des uns vorliegenden 1. Heftes
angegeben: Disciplina mental. — C. Pedroso: 0 fortuito
na historia. — J. de Mattos: O determinismo em psyco-
logia. — G. de VasconceUos Abreu: Litteratura S&os-
krita. — Th. Braga: Gr&o-Vasco. — J. de Mattos: A
religi&o do futoro. — F. Ad. Coelho; Materiales para o
estudo da origem e transmiss&o dos contos populäres.
Bibliographische Mttheilnngen.
Aristotelis de arte poetica Über. Bec Gailelmns Christ. 8. (VI,
48 S.) • Leipzig, Tenbner. 60 Ff.
Bain's (Dr. Alex.) Mind and Body: the Theories of their Relation.
6th Edition. Cr. 8vo. 48 (International Scientific Series.)
Bärenbach^ Dr. Frdr. t., Grundlegung der kritischen Fhilo-
Bophie. 1. Thl. A. a. d. T.: Prolegomena zu e. anthropolog. Phi-
losophie. gr. 8. (XL. 386 S.) Leipzig 1879, Barth. 6 M.
Bibliotheca philosophorum mediae aetatis. Herausg. ▼. Prof.
Dr. Carl Sigm. Barach. 2. ßd. gr. 8. Innsbruck, Wagner. Mk. 3. 60
(1 u. 2: 6. — ). Inhalt: Excerpta e libro Alfredi Anglici de motu
cordis item Costem-Üen-Lucae de diiTerentia anima et spiritus über
trauslatns a Johanne Hispalensi. Als Beitrilge zur Geschichte der
Anthropologie und Psychologie des Mittelalters nach handschriftl.
Ueberlieferungen herausg. u. m. e. einleit. Abhandl. und Anmerkungen
versehen. (XI, 139 S.)
Bibliothek^ philosophische, oder Sammlung der Hauptwerke
der Philosophie alter und neuer Zeit. Unter Mitwirkung nam-
hafter Gelehrten herausg., bez. übers., erläutert und mit Lebensbe-
Schreibungen versehen von J. H. v. Kirchmann. 2b6. u. 267. Heft,
gr. 8. Leipzig, Koschny. a — . 50. Inhalt: Leibniz, Theodicee.
1. u. 2. Heft. (S. 1—128.)
Bibliothek der Volkswirthsehaftslehre u. Gesellsohaftswissen-
schalt. Herausg. von ¥. Stöpel. 15. Lfg. gr. 8. Berlin, Ezped.
d. Merkur. 1 M. — Inhalt: Die Einheit d. Gesetzes nachgewiesen
in den Beziehungen der Natur-, Social-, Geistes- und Moral-Wissen-
schaft Von H. C. Carey. Aus d. Engl. 4. Lfg. (XX u. S. 337—436.)
B eiliger 9 Dr. Adf. ^ das Problem der CausaUtät. Ein philosoph.
Versuch, gr. 8. (VIII, 157 S.) Leipzig, Femau. 3 M. 60 Ff.
Bourdet (le Dr. £m^*) — Des ICaladies du oaiactere, au point
de vue de l'hygiene morale et de la Philosophie positive.
Nouvelle Edition. Iq-8. 5 fr.
Busch, Otto, Arthur Schopenhauer. 2., gänzlich umgearb. Aufl.
gr. 8. (VIII, 239 S.) München, Bassermann. 4 M. 50 Pf.
/
Bibliographische Mittheüungen. 253
Capesiosy Dr. J., die Metaphysik Herbort's in ihrer Ent-
wicklungsgeschichte und nach ihrer historischen Stellung.
Ein beitrag zar Geschichte der nachkant. Philosophie, gr. 8. (\I,
108 S.) Leipzig, Matthes. 2 M. 50 Pf
Caro (£•)• — I«e Fessimisme au XIX e siecle. L^opardi.
Schopenhauer liartmann. In- 12. 3 fr. 50.
Clairefond (A. M«). — Une nouvelle ezplication de TA-B-C.
£tnde physiologiqne sur les orgines dn langage. Gr. in-8. 4 fr.
Comte (Aag.). — Essais de Philosophie mathematique. In-8.
] fr. 5 » cts
De-Dominlcls (S. F.). La dottrina dell' evoluzione. parte I,
L'organismo della filosofia positiva; in-8, pag. 150. 'i'orino,
1878. 2 L. 50.
Eneken, Pr. Dr. Bud«, Geschichte der philosophischen Ter-
minologie. Im Umriss dargestellt, gr. 8. (V, 226 S.) Leipzig 1879,
Veit & Co. 4 M.
Fischer^ Knno^ Geschichte der neuern Philosophie. 1. Bd.
1. Thl. A 11. d. T. : Descartes u. seine Schale. 1. Tbl. Allgemeine
Einleitg. Descartes* Leben, Schriften u. Lehre. 3. neu bearb. Aufl.
gr. 8 (XVL 440 S.) München, Bassermann. 9 M.
FreriehS; Dr. Herrn., über Naturerkenntniss. gr.,8. (36 S.) Bremen,
Kühtmann & Co. 1 M.
Funke, Sem.-Lehr. Dr. C. A., die Lehre Flatons v. den Seelen-
vermogen, nach den Quellen dargestellt u. beurtheilt. 8. (50 Q.)
Paderborn, F. Schöningh. 1 M. 20 Pf.
Geiger, L., zur Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Vor-
träge. 2. Aufl. gr. 8. iVII, l.iO S.) Stuttgart, Cotta. 4 M.
Harms, Frdr.« die Formen der Ethik. [Aus: „Abhandlgn. d. kgL
Akad. d. W.**] gr. 4. (42 S.) Berlin, Dümmler's Verl. in Comm. 2 M.
— , — , über die Psychologie v. Johann Nicolas Tetens. [Ans:
„Abhandign. d. kgl. Akad. d. Wiss."] gr. 4. (32 S.) Berlin. Dümm1er*B
Verl. in Comm. I M. 50 Pf.
Hartmann, Ed. y., Phänomenologie d. sittlich. Bewusstseins.
Prolegomena zu jeder künft. Ethik gr. 8. (XXIV, 871 S.) Berlin
1S79 C. Duncker. 16 M.
Helmholts, Dr. H«, die Thatsachen in der Wahrnehmung. Rode,
geh. zur Stiftungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin
am 3. Aug. 1878, Überarb. n. m. Zusätzen versehen, gr. 8. (68 S.)
Berlin 1879, Hirschwald. 2 M.
Holder, Prof. Dr.. über die Möglichkeit und die Bedingungen
wahrer Erkenntni ss. gr. 4. (37 S.) Urach. (Tübingen, Fues.) 1 M. 20 Pf.
Kluge, Prof. A», philosophische Fragmente. Mit Bezug auf die
V. Hartmann^sche „Philosophie d. Unbewussten". 2. (Titel-)Ausg. gr.
8. (IX, 296 S.) Freiburg (1877), Herder. 4 M.
Köstlin, Dr., Heinr. Adf., die Tonkunst. Einführung in die Aes-
thetik der Musik gr. 8. (XII, 370 S.) Stuttgart 1 S79, Engelhom 7 M.
•— , Prof. Dr. Karl, über den Schönheitsbegrifr. gr. 4. (60 S.)
Tübingen (Fues). 2 M.
Kjrm, A. L., das Problem d. Bösen. Eine metaphys. Untersnchg.
gr. 8. (78 8.) München, Th. Ackermann. 1 M. 60 Pf.
Lef^yre (Andr^). — La Philosophie. In- 12. 5 Ar.
Marion (Henri), J. Ijocke, sa vie et son oauvre, d'apres des
documents nouveauz. In-ri. 2 fr. 50 cts.
254 Bibliographische Mittheilangen.
liendeeker^ Dr. G.^ Stadien sur 0esohiohte der deutschen
Aesthetik seit Kant. gr. K (V, 136 S.) Würzbarg, Stakel. 4 M.
Vemhaeusery Prof. Dr. J», Aristoteles' Lehre v. dem sinnlichen
ErkenntnisBvermogen u. seinen Organen, gr. 8. (134 S.)
Leipzig, Koschny. 2 M.
Voaeky Prof. Dr. Ludw., historisch-biographisches Handwörter-
buch sur Geschichte der Philosophie. 6 — 9. Lfg. Lex. -8.
(S. -101-720.), Leipzig, Koschny. 1 M. 50 Pf.
Pflzmaier^ Dr. A«, die philosophischen Werke China's in dem
Zeitalter des Thang. [Aus: „SitzuDgsberichte d. kgl. Akad. d.
Wis8.<^] Lex.-8. (82 S,) Wien, Gerold's Sohn in Comm. 1 M. 40 Pf.
Pfleiderer^ Prof. Dr. Otto, Beligionsphilosophie auf geschicht-
licher Grundlage, gf . 8. (XX, 797 S.) Berlin, G. Reimer. 1 1 M.
PlotinI Enneades; rec. Herrn. Frdr. Müller. Antecedunt Per-
phyrius, £anapiu8, Suidas, Eudocia de vita Plotini. Vol. 1. gr. 8.
(IV, 28 u. 280 S.> Berlin, Weidmann. 5 M. 40 Pf.
— , — , übers, v. Herrn. Frdr. Müller. Vorangeht die Lebens«
beschreibg. d. Plotin v. Porphyrins. J. Bd. gr. 8. (IV, 24 n. 274 S.)
Ebd. 4 M. 80 Pf.
Behmke^ Dr. Jobs*; da6 Princip d. Katholicismus u. Protes-
tantismus in der christlichen Weltanschauung. Bine philo-
soph. Studie, gr. 8. (IV, 54 S.) Zürich, Schmidt. 1 M. 20 Pf.
Beieh^ Dr. Ed., Beiträge zur Anthropologie u. Psychologie,
m. Anwendgn. auf das Ijeben der Gesellschaft. 2. verm. Ausg.
gr. 8. (XIII, 375 S.) Braunschweig. Vieweg & Sohn. 6 M.
Beynandy (P*)« — Materiaux pour servir k Phistoire de la
Philosophie de PInde. 2. partie. In-8. 10 fr.
Bosenkranz; Karl; neue Studien. 4. Bd. Zur Literaturgeschichte.
Zur Gesch. d. neueren deutschen Philosophie, besond. der Hegel'schen.
gr. 8. (IX, 474 S.) Leipzig, Koschny. 10 M.
Rousseau (J* J.) et ses oauvres. Biographie et fragments.
Publik par le comit^ du Centenaire (2 juillet 1878). In-12 (Gen^vo.)
3 fr. 50 cts.
Schäffle^ Minister a. D., Dr. Alb. £• Fr., Bau u. Leben d. so-
cialen Körpers. Encyclopädischer Entwurf e. realen Anatomie,
Physiologie n. Psychologie der menschl. Gesellschaft, m. besond. Bäck-
sicht auf die Volkswirthschaft als socialen Stoffwechsel. 4. Tbl. Spe-
cielle Socialwissenschaft. 2. H&lfte. gr. 8. (VIII, 538 S.) Tübingen,
Laupp. 10 M. (1-4.: 44.—).
Sehleiermaeher, Dr. F., über die Beligion. Beden an die Ge-
bildeten unter ihren Verächtern. 7. Aufl. gr. 8. (XIII, 242 S.) Berlin,
G. Reimer. 2 M.
SehlottmanOy Konst.^ Bavid Strauss als Bomantiker d. Heiden-
thums. gr. 4. (ii4 S.) Halle, Buchh. d. Waisenb. 1 M. 60 Pf.
Sckopeuhamer« Arth.^ Parerga u. Paralipomena. Kleine philos.
Schriften. 4. Aufl. Hrsg. v. JuL Frau enstädt. 2 Bde. gr. 8.
(XV, 532 u. VIII, 696 S.) Leipzig, Brockhaus. 17 M.
— , — , über den Willen in der Natur. Eine Erörterg. der Be-
stätiggn., welche die Philosophie d. Verf., seit ihrem Auftreten, durch
die empir. Wissenschaften erhalten hat. 4. Aufl., herausg. von Jul.
Frauen Stadt, gr. 8. (XXXII, 147 S.) Leipzig, Brockhaus 3 M.
Sehwegler, Dr. Alb.^ Qeschichte der Philosophie im Umrlss. Ein
Leitfaden zur Uebersicht. 10. Aufl. gr. 8. (VIII, 302 S.) Stuttgart,
Conradi. 3 M. 60 Pf.
Bibliographische Mittheilungen. 255
SeUtZy D. y.; das exacte Wissen der Naturforscher. Eine
Znsammenstelluiig von Aussprächen hervorragender Naturforscher und
Philosophen. 8. (VIII, 220 S.) Mains, Kircbheim. 2 Mk.
Seifert 9 Lehrer Ang.^ die Unsterblichkeits - Idee in ihrer ge-
sehiohtlichen Entwiokelung . als culturhist. Beitrag dargestellt.
gr. 8. (39 S.) Leipzig, Würzner. 1 Mk.
Sioiliani (Pietro). Prolegomeni alla modema psioogenia, me-
moria, in-4, pag. lOH. Bologna, 1^78. 4 L.
, Iia eritica della filosofia zoologica del XIX secolo,
in-l(5, pag. 560. Napoli, 1878. 5 L.
Sigwart; Prof. Dr. Chrjph., Logik. 2. Bd. Die Methodenlehre.
gr. 8. (VIII, 612 S.) Tübingen, Laupp. 10 M.
8iiiile8, Sam.^ der Charakter. Deutsche, autoris. Ausg. ▼. Fr.
Steg er. .*?. verb. Aufl. 8. (XII, 584 S.) Leipzig, Weber. 6 M.
Sebezyk, Dr., das pythagoreische System in seinen Grund-
gedanken entwickelt. 8. (41 S. mit 1 Steintafel.) Breslau,
(Koebner). 1 Mk.
Spencer'» (Herbert) the study of Sooiology. 7th Edition. Cr. 8vo.
5s. (International Scientific Series.)
Spera (Adolfe). Saggio di psioologia del destlno dell'uomo
dal punto dl vista dalla soienza modema; in-8, pag. 62.
Napoli, 1878. 2 L. 50.
Spineza. — Dieu, Thomme et la beatitude, trad. pour la
pr emier e fbis en fran^ais et precede d*une introduction par
Paul Janet. In- 12. 2 fr. 50 cts.
Spir^ A.9 Recht u. Unrecht. Eine Erörterg. der Principien. gr. 8.
(108 S.) Leipzig 1879, FindeL 1 M. 50 Pf.
Stahl, Frdr. Jvl. , die Philosophie d. Bechts. 2 Bde. in 3 Ab-
thlgn. 5. unveränd. (Titel-) Aufl. gr. 8. Tübingen (1S70), Mohr. 24 M.
Stern, Dr. M. L.^ die Philosophie u. Anthropogenie d. Prof.
Dr. Ernst HaeokeL gr. 8. (152 S.) Berlin 1879, Grieben. 2 M.
Strauss, Dar. Frdr. , gesammelte Schriften. Eingeleitet v. E d.
Zeller. 10. u. 11. Bd. gr. 8. Bonn, Strauss. 5 M.
Inhalt: 10. Priedr. Gottl. Klopstock. Chrst. M&rltel. (XIII, 359 S.) - 11. Vol-
taire. Seclu Yortr&ire. 5. Aufl. (Xm. 311 S.)
Snsemihl, Franc, de Aristotelis ethiois 19ioomaoheis reeogn.
dissertatio I. 4. (19 S.) Berlin, Calvary & Co. 1 M. 20 Pf.
Sülze, Dr. £., über Büohner's Schrift „Stoff und Kraft** und
gegen den Materialismus. (32 S.) Dresden, Weiss. 25 Ff.
Sj^ert (£•)• — I«e Materialisme. In- 12. 1 fr.
Teichmttller, Prof. Gust., neue Studien zur Oesohiohte der
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Tiele, Prof. €• P«9 die Assyriologie und ihre Ergebnisse für
die vergleichende BeUgionsgesohichte. Bede. Aus d. Holland,
ron K. Friederci. 8. (24 S.> Leipzig, O. Schalze. 1 Mk.
Tr^mamx, F., Universal-Princip der Bewegung u. der 'Wir-
kungen der Materie, hergeleitet aus der Entdeckg. folg. Grund-
gesetzes: „Die lebendige Kraft aberträgt sich besser zwischen gleich-
artigen als zwischen ungleichartigen Körpern* u. angewandt auf die
Materie wie auf das Leben. 3. Aufl. Im Auftrage d. Verf. aus dem
Franz. übers, durch .1. J. Romang u. D. Mäder. 8. (XXXXV, 271 S.)
Leipzig, T. O. Weigel. 2 M. 40 Pf.
Yambttler, Thdr. y., acht Aufsätze zur Apologie der menschl.
• Vernunft, gr. 8. (VII, 109 S.) Leipzig, T. O. Weigel. 1 M. 80 Pf.
256 Bibliographische Mitthcilungen.
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Yogt, J. G«9 die Krait. Eine realmonistiscbe Weltanschauung.
]. Jbuch. Mit 116 (eingedr.) Holzschn. Die Contraktionsenergie, die
letztursächl. einheitl. mecban. Wirkungsform d. Weltsubstrates, gr. 8^
(VIII, 655 S.) Leipzig, C. F. Fleischer's Sort. 14 M.
T91kel^ Dr. A.^ das Vernünftige u. Bewusste in der Natur u.
die Weltansch. d. Zukunft, gr. 8. (44 S.) Leipzig, Koschny. 1 M.
Windelbandy Prof. Dr. W.^ die Geschichte der neueren Philo-
sophie in ihrem Zusammenhange m. der allg. Cultur u. den
besond. Wissenschaften dargestellt. 1. Bd. V. d. Renaissance
bis Kant. gr. 8. (VIII, 579 S.) Leipzig, Breitkopf & Härtel. 10 M.
Zeller, Ed., über die griech. Vorgänger Darwin's. [Aus: ,^Ab-
handign. d. k. Akad. d. Wiss.^^j gr. 4. (16 S.) Berlin, Dümmler's Verl. 1 M.
— , — , über die Iichre d. Aristoteles v. der Ewigkeit d. Welt..
[Aus: „Abhandlgn. d. k. Akad. d. Wiss.*'] gr. 4. (15 S.) Berlin,
Düminler*8 Verl. 1 M.
Notizen.
Obwohl die Veröüentlichnng anderer als rein redactioneller ,,No'
tizen** ausserhalb des Programms dieser Zeitschrift gelegen ist, glaubt
die Redaction doch, die folgenden Ausnahmen zulassen zu sollen:
l.Der Akad.-Fhilosophische Verein zu Iieipzig sammelt im Auf-
trage des Herrn Prof. Dr. G* Th. Fechner Material zur genaueren
Feststellung bez. Untersuchung der bekannten Thatsaohe, dass mit den
Vokalen Farbenvorstellungen verbunden werden, auch die Tongattungen
und die Temperamente mit den Vokalen associirt auftreten. Der ge-
nannte Verein bittet daher um betr. Mittheilungen und wird gern auf
geneigte Anfragen genauere Auskunft ertheilen. Adresse: Akad.-
Philos. Verein zu Leipzig (Briefkasten im Paulinum).
2, Die „Zeitschrift für vergleichende lateratur*^ herausgegeben von
8« Brassai und H. t« Meltzl in Klausenburg (Siebenbürgen), regt die
Idee an, Schopenhauer zu seinem 100. Geburtstag (22. Febr. 188S) eine
Kolossalbüste zu setzen. Die Redaction genannter Zeitschrift erklärt sich
bereit, alle hierauf bezüglichen Anmeldungen entgegenzunehmen, bez. zu
veröffentlichen, lehnt jedoch die Annahme von Baargeldem aus-
drücklich ab.
3. Herr. Dr. W« 8chl5telin Heidelbeig ersucht die Redaction dieser Zeit-
schrift um Veröffentlichung einer Zuschrift, inhaltlich welcher er sich
(in Form eines „Protestes*') die Priorität betreffs einer kleinen Ver-
vollständigung der Schlusskettenlehre wahrt, welche Vervollständigung
Herr Prof. Chr. Sigwart im II. Band seiner „Logik** Herrn Prof. Dro-
bisch zuschreibt.' — Da Herr Dr. Schlötel seine Priori tätswahmng
bereits anderweit publicirt hat, so darf und mnss diese Notiz in der
hiermit gegebenen kürzeren Form um so mehr an dieser Stelle genügen,
als, wie oben angedeutet, das Programm dieser Zeitschrift für solche
und ähnliche Mittheilungen, sowie für alle Personalnachrichten
überhaupt, eine Rubrik nicht aufgenommen hat.
rierer*flche Hofbuchdrucl^erei. Stephan Geibel '«Ij^ C!o. in Altenborg.
DIE
yiERTEUAHRSSCHRIFT FlR «ISSEISCHAFTUCHE PHILOSOPHIE
EHRT UND BEWAHRT
DAS ANDENKEN IHRES MITBEGRONDERS UND MITREDACTEURS
C. GOERING.
Carl Theodor GOERING, geboren am 28. April 1S41 zu
Brüheim im Herzogtham Gotha, erhielt vom Jahre 1853 an seine Schal-
bildnng aof dem Eisenacher Carl- Friedrich - Gymnasium, das er Ostern
1859 nach glänzend öberstandenem Matoritatsexamen verliess. Nachdem
er vier Semester in Jena und drei in Berlin Philologie studirt hatte,
promovirte er in Jena 1S63. Die Betrachtangen, die durch das Thema
seiner Promotionsschrift: „Ueber die Unsterblichkeitslehre in Platon's
Phädon" hervorgerufen wurden, erweckten — so hat er selbst be-
richtet — in ihm den lebhaften Drang nach eigener philosophischer
Forschung und selbständiger philosophischer Ueberzeugping. In Folge
davon widmete er sich nun dem eifrigsten und (nach Aufgabe seiner in
Berlin und Bonn 1866 — 1869 ausgeübten Lehrerthätigkeit) ganz aus-
schliesslichen Weiterstudium der Philosophie. Im November 1874 habi-
litirte er sich als deren Docent mit einer Untersuchung: „Ueber den Be-
griff der Ursache in der griechischen Philosophie^^ an der Universität
Leipzig. Im selben und im nächstfolgenden Jahre veröffentlichte er die
ersten zwei Bände seines Hauptwerkes: „System der kritbchen Philo-
sophie"; eine kleinere Schrift „Ueber die menschliche Freiheit und Zu-
rechnungsfahigkeit" schloss sich unmittelbar an (1876). Am 18. Januar
1878 ward er in ehrendster Weise zum ausserordentlichen MitgUede der
Leipziger philosophischen Facultät ernannt.
In den letzten Jahren litt der Verstorbene an rheumatisch-nervösen
Affectionen, die auf seinen Gemüthszustand nicht ohne trabenden Einfluss
blieben. Der aus edelsten Rücksichten von ihm gehegte Wunsch, sein
auf vier Bände berechnetes Hauptwerk bald fertig zu schaffen, liess die
angestrengte Arbeit zur verderblichen Ueberanstrengung werden: kurz
vor der völligen Beendigung des Werkes vollendete der es wirkte. —
Er ist aus dem Leben geschieden am 2. April d. J. in seiner Heimath
Eisenach, wohin er sich — wie er nicht lange vorher in einem Briefe
schrieb — begab voller Freude, „in gänzlich ungestörter Müsse den
Schluss seines Werkes noch einmal genau revidiren und überarbeiten"
zu können.
Was Carl GoERING der Wissenschatl war, ist den
Freunden wissenschaftlicher Philosophie bekannt; aber auch die
Gegner haben es erfahren.
Rein und echt war sein Charakter^ echt und
klar sein Denken, klar und offen seine Darstellung.
GOERING hat nie die einfache Schärfe seiner Consequenzen
durch stylistische Umdämmerung verschwommen gemacht oder
durch dialektische Schnörkeleien maskirt; nie hat er den ge-
raden Gang seines Urtheils, auch wo es Verurtheilung allgemein
beliebter Ansichten ward, durch kleine Verbeugungen nach der
entgegengesetzten Seite unterbrochen. GOERING hat sich in
innerem Ringen zu seinen wissenschaftlichen Ueberzeugungen
hindurchgearbeitet y aber seine wissenschaftlichen Darstellungen
— in der Leichtigkeit und Freiiieit, womit sie dem Verstandniss
des Lesers entgegenkommen — zeigen die Spuren jenes Ringens
nicht mehr auf, und der spröde Stoff gelehrter Kenntniss und
kritischer Forschung, der in ernstester Arbeit gewonnen war,
trat mit einer gewissen Anmuth zu Tag, die in ihrer An-
spruchslosigkeit und ungekünstelten Feinheit seinem Style ganz
allein eigenthümlich ist.
Mensch und Denker waren bei GOERING Eins — und
keinen Theil seines Wesens hat die „Gemeinheit gebändigt^^
Er hat nur die Wahrheit gewollt und er hat sie rein und ganz
gewollt: ohne Duldung von „Nebenzweckursachen'S die sein
Denken hätten entstellen — ohne Schonung eigener Lieblings-
meinungen, die er hätte conserviren mögen.
Wo er als Kritiker auftrat, hat er ohne Ansehen der Person
getadelt, aber auch gelobt ohne Ansehen der Person. Er ver-
stand das Gute mit freudiger Bereitwilligkeit anzuerkennen;
aber er wusste ebenso mit vernichtender Strenge den hoch-
müthigen Anathemalisirungsversuchen eines gewissen beschränk-
ten Schulinfallibilismus entgegenzutreten. Den unverdächtigen
Irrthum pflegte er mit einem überlegenen Humor zu behandeln.
In der Ausbildung der eigenen Gedanken verband GOERING
in seltenen) Masse die Gabe vorurtheilsfreier Inangriffnahme
der Probleme^ scharfsinniger Beobachtung der Thatsachen und
selbständiger Entwickelung der systematischen Ansichten — mit
den Vorzügen einer genauen Kenntniss der geschichtlichen Er-
scheinungen nicht minder als der neuesten Erzeugnisse auf
dem weiten Gebiete der Philosophie. Was er mit diesen
Mitteln errungen, wird in dieser Zeitschrift zu erörtern an
anderer Stelle Gelegenheit sich bieten : an diesem Platze genüge
zu erinnern, dass — wenn der Standpunkt dieser Zeitschrift
einige wissenschaftliche Geltung haben sollte — GOERIJVG dann
das Verdienst in Anspruch nehmen darf^ als einer der Ersten
an der neueren Begründung und Befestigung dieses Stand'
Punktes in der Philosophie mitgewirkt zu haben. Es ist jetzt
nicht der Moment, zu untersuchen^ ob dieser Standpunkt, den
man mit einem allzuleicht missverständlichen und allzugern
missverstandenen Ausdruck als den „empiristischen" bezeichnet,
Wahrheit oder Irrthum sei; wohl aber darf hervorgehoben
werden, dass GOERING ihn nichts weniger als in kritikloser
Tradition aufgenommen, sondern ihn in nie ruhender Weiter-
bildung, in ehrlichster Arbeit und unter sorgsamster Berück-
sichtigung abweichender Meinungen selbständig als Wahrheit
erkannt hat, um ihn dann ebenso ehi*lich allen gegnerischen
Instanzen gegenüber als Wahrheit nachdrücklich zu vertheidigen.
Es kam ihm ja auch hier in keiner Hinsicht auf die Person,
in jeder Hinsicht auf die Sache an; daher er denn nicht an
den Problemen herumgeistreichelte^ sondern mit festem Griff
in ihrem Kern sie fasste. GOERING kannte so wenig Feigheit
wie Feilheit — weder in ihren zartesten Nuancen noch in
ihren liebenswürdigsten Einkleidungen ; aber ebenso wenig
liebte er eine auf den Markt reflectirende Gesinnungsrenommage
und unwissenschaftliche Ueberzeugungsrabulisterei.
Als Lehrer lag es GOERING's ganzer, innerlich vornehmer
Natur näher, mehr intensiv als extensiv zu wirken; seine
Schüler wurden seine Freunde. Einen kleinlichen Berufsdünkel
kannte er nicht. Er achtete mehr auf das, was er noch zu
17*
leisten habe, als auf das, was er geleistet halte. Hit dem theil-
nehmendsten Interesse begleitete er die Wirksamkeit geistes-
verwandter Zeitgenossen — auf das Neidloseste ihre Erfolge.
Hehr für Andere besorgt, als für sich, hat er, selbst von Arbeit
überbürdet, fremde Arbeitslast immerdar zu erleichtern sich
bemüht; ohne selbst sein Leiden zu klagen, hat er geholfen
und getröstet wo ihm Leiden geklagt wurden — unermüdlich
bis zum letzten Tage.
Und wenn dem verstorbenen Denker und Forscher an
dieser sonst nur strenger Untersuchung gewidmeten Stelle noch
ein Wort als Freund nachzurufen vergönnt wird, so soll es
das kurze sein: er hat seinen Freunden gehört, wie er der
Wissenschaft gehörte; wie er kräftig, lauter und selbstlos im
Denken war, so fest und so rein und aufopfernd war er in
der Freundschaft: so scharfsinnig und ehrlich der Denker, so
zartsinnig und zuverlässig der Freund.
Und so betrauert die Redaction dieser Zeitschrift den
doppelt unersetzlichen Verlust des wahrhaften und reich-
begabten Werkgenossen — des treubewährten und hochgesinn-
ten Freundes!
üeber den Missbrauoh der Mathematik in der
Philosophie.
Ein nachgelassener Vortrag
von
C. Göring.*)
Die Geschichte eines Begriffes, wie auch einer ganzen
Theorie, enthält gewöhnlich schon einen guten, oft den besten
Theil der Kritik, indem sie die Ursachen kennen lehrt,
welche in Erq^iangelung innerer, sachlicher Gründe zur be-
treffenden Doctrin führten. Diese allgemeine Regel bewährt
sich auch an unserem Thema, dessen Specialgeschichte mit
dem Torkantischen Dogmatismus beginnt. Zugleich bestätigt sich
auch hier wieder die Erfahrung, dass der Irrthum ursprünglich
naiv und ebendeshalb mit der gr&ssten Sicherheit auftritt.
CartesiuSy Spinoza und Leibniz stellen die Mathematik als das
Ideal auf für die wissenschaftliche und philosophische Er-
kenntniss überhaupt. Cartesius sagt: „Wie man in der
Mathematik construirt, einfach dem Wissenstrieb folgend^ so
soll man es auch in der Physik machen,^
Spinoza 's Methodologie schreibt vor, „aus einer ge-
*) Der Vortrag, für den Akad.- Philosophischen Verein zn I^eipzig
bestimmt, wurde daselbst am 14. Februar 1878 verlesen, da Göring
durch eine acute Steigerung seines körperlichen Leidens am persön-
lichen Erscheinen verhindert war. — So erhalte denn der um diese
Zeitschrift so hochverdiente Mann in ihr mit der Veröffentlichung
seines Vortrags das Wort noch ein Mal — ach leider das letzte Mal !
Der Herausgeber.
262 C. Göring:
gebenen Definition Gedanken zu finden'', und er hat ja auch
alles geihan, um den Schein zu erwecken, als ob er selbst zu
seinen philosophischen Gedanken auf diesem Wege gekommen
sei. Leibniz trägt sich mit dem chimärischen Gedanken
einer sdentia generalis et characteristica universalis, für deren
Ausfuhrung die Mathematik als Muster und Ideal der einzu-
schlagenden Methode gilt.
Die gemeinsame Grundanschauung des Dogmatismus ist
demnach die, dass das construirende Verfahren der
Mathematik allgemeines Vorbild werden soll. Ver-
anlasst ist sie durch die Strenge der mathematischen Beweis-
führung, welche man als „evidente Demonsti*ation'' allen andern
Arten der Argumentation gegenüberstellte, und der auf ihr
beruhenden Apodikticitat, Allgemeinheit und Nothwendigkeit der
mathematischen Resultate. In der That, wenn man nach der
Anweisung von Cartesius „^nfach dem Wissenstrieb folgt**, und
dadurch eo ipso die absolute Gewissheit der Erkenntniss
zu erreichen meint, wird man sich kein besstres Muster für
die absolute Gewissheit als die Mathematik wählen können.
Leider aber führt die einfache Hingabe an den Wissens-
trieb gewöhnlich eher zu allem Anderen, als zum Wissen,
nämlich ausserhalb der Mathematik^ und zwar gerade dann
nicht am Wenigsten, wenn man sich das Verfahren der letzteren
zum Muster nimmt. Hierüber war Kant in seiner vor-
kritischen Periode zur vollkommenen Klarheit gelangt, wie
seine folgenden Erörterungen ausser allen Zweifel setzen.
Um dem dogmatischen Verfahren gegenüber zu zeigen, von
welch' verschiedenem Werthe die mathematischen und die philo-
sophischen Definitionen sind, geht er auf ihre ganz ver-
schiedenartige Entstehung zurück: „Man kann zu einem
jeden allgemeinen Begriffe auf zweierlei Wegen kommen , ent-
weder durch die willkürliche Verbindung der Begriffe,
oder durch Absonderung von derjenigen Erkenntniss^ welche
durch Zergliederung deutlich geworden isL Die Mathematik
fasst niemals anders Definitionen ab, als auf die erstere Art . . .
Mit den Definitionen der Weltweisheit ist es ganz anders be-
Ueber den Missbrauch der Mathematik in der Philosophie. 263
wandt. Es ist hier der Begriff von einem Dinge schon ge»
geben, aber verworren und nicht genugsam bestimmt.^
Wenn die Philosophen synthetisch erklaren, so ist das
Willkür, und wenn dies Erklärung heissen kann, so ist es
höchstens grammatische. Denn es gehört gar keine Philosophie
dazu, um zu sagen, was für einen Namen ich einem willkür*
liehen Begriffe will beigelegt wissen, wie dies z. B. bei Leibniz'
Monaden der Fall ist, die er nicht erklärt, sondern erdachi
hatte. Denn der Begriff derselben war ihm nicht gegeben,
sondern von ihm geschaffen worden.
Als ferneren fundamentalen Unterschied zwischen Mathe-
matik und Philosophie stellt Kant den auf, dass das concreto
Zeichen und der abstracte Begriff in der Mathematik sich dem
Inhalte nach vollständig decken, in der Philosophie dagegen
sinnliche Zeichen niemals ein adäquater Ausdruck der Begriffe
sind. Demgemäss geht in der Mathematik die Definition allen
Erklärungen voraus, in der Philosophie hat sie nachzu-
folgen. — Auf Grund dieser Verschiedenheit zwischen Mathe*
matik und Philosophie behauptet Kant, dass nichts der Phi-
losophie schädlicher gewesen sei als die Mathematik, nämlich
die Nachahmung ihrer Methode in der Philosophie. Denn die
erstere kann in ihren Synthesen und Constructionen einfach
alles so verwenden und arrangiren, wie sie es für ihren jedes-
maUgen Zweck nöthig hat, da sie durch keine entgegenstehende
Erfahrung verhindert ist; vielmehr ist gerade die beliebige und
willkürliche Verbindung, die Kant einfach Synthesis nennt,
die der Mathematik angemessene Methode. In der Philosophie
dagegen ^ liegt jederzeit etwas in der Erfahrung Gegebenes
vor, wodurch die Synthesis ausgeschlossen und dieAnalysis,
die Zergliederung der gegebenen Begriffe erfordert ist Erst
wenn diese vollendet, oder wenigstens soweit vorgeschritten ist,
dass man klare und deutlich bestimmte Begriffe hat, dann ist
es an der Zeit, auch in der Philosophie synthetisch zu
verfahren, jedoch immer mit strenger Beobachtung des prin-
cipiellen Untei*schiede8 von der mathematischen Synthesis. Die
Philosophie wird nämlich niemals eine willkürliche Synthesis
264 C. Göring:
Veranstalten dürfen, sondern jederzeit nur die^ welche ihr die
Erfahrung selbst aufdringt. —
Hiermit hat Kant den Gegensatz klar dargelegt^ in welchem
mathematische und philosophische Ericenntniss zu einander stehen,
ebenso auch die Gründe dieses gegensätzlichen Verhältnisses,
wenn auch nur kurz angegeben, aber doch so deuilich, dass
ihre einigermassjsn sorgfaltige Erwägung genügt hätte, um Ma-^
Ihematik und Philosophie von da ab genügend auseinander*
zuhalten. Leider aber ist derselbe Kant Urheber des modernen
Missbrauches der Mathematik in der Philosophie geworden^ indem
er in seiner kritischen Periode seine eigene Feststellung und
obige Erklärung der Verschiedenheit beider ignorirte und
nun umgekehrt beide recht geflissentlich in möglichst enge
Verbindung brachte. Dieser V^echsel der Ansichten Kant's
beruht nicht auf zwingenden sachlichen Gründen, sondern auf
praktischen Motiven^ über deren Natur er sich oft genug
sehr deutlich ausgesprochen hat; Prol. § 44 (1783): ^Unsere
Kritik des Verstandes vereinigt sich mit den Ideen der reinen
Vernunft zu einer Absicht, welche über den Erfah-
rungs gebrauch des Verstandes hinausgesetzt ist";
er will die Anmassungen der Sinnlichkeit einschränken, oder
kurz, wie er selbst 1787 in der Vorrede. zur 2. Auflage der
Vernunflkritik sagte, um nicht länger nicht verstanden zu
werden: „Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben
Platz zu bekommen.*' Dies nannte er^Kriticismus": „Jene
durch Kritik der Vernunft allein mögliche Er*
kenntniss seiner Unwissenheit ist also Wissen-
Schaft** Diese macht das Feld frei für Hypothesen,
nämlich für den Glauben an die Möglichkeit der drei Ver-
nuaftideen Gott, Freiheit, Unslerblichkeil. Die Behauptung des
Wissens wie die des Nichtwissens von diesen Objecten des
Glaubens ist ihm in gleicher Weise dogmatisch: der Glaube
allein ist „kritisch".
Damit nun aber diese ganz neue Art von kritischer Meta-
physik selbst Glauben finden sollte, musste sie ausser der guten
Absicht doch noch einige theoretische Stützen erhalten, und
Ueber den Missbrauch der Mathematik in der Philosophie. 265
dazu diente Kant yornehaiUch die Mathematik. Diese er-
weitert sich nach ihm allein durch Vernunft =a priori,
ohne Erfahrung, wenngleich mit Hülfe der construcliven
Anschauung, und wird daher nun auch für Kant, was sie bei
den Dogmatisten wm*, das Vorbild der Metaphysik, die er
nach seinem eigenen Ausdruck „in die gute Gesellschaft der
Mathematik brachte*', aus der sie bis jetzt noch nicht wieder
vollständig befreit ist. Soweit es sich nun um Metaphysik im
engeren Sinne handelt, würde dies nicht weiter zu bedauern
sein; leider aber erstreckt sich der störende Einfluss der Ver-
gesellschaftung von Mathematik und Philosophie auch auf funda-
mentale Fragen vornehmlich der erkenntnisstheoretischen und
psychologischen ForschuQg, nebenbei freilich auch noch bei
einzelnen Denkern auf alle philosophischen Disciplinen überhaupt
Die modernen Kantianer haben kaum etwas Erhebliches
zur besseren Begründung des Kantischen Standpunktes bei-
getragen; nur Lange und Liebmann bemühen sich, die
psychologische Apriorität in eine logische umzuwandeln und da-
durch zu retten. Da indessen die Satze der Logik, soweit sie
wissenschafüichen Werth haben, sich alle aus der Erfahrung
herleiten lassen, so bestätigen jene beiden Denker vielmelvr das,
was sie widerlegen wollen. Die übrigen Kantianer pflegen sich
nur auf das zu berufen, was ihr Meister gesagt hat. Wir habep
es daher audi gegenwärtig zunächst nur mit dem zu thun, was
Kant selbst lehrte, um vermittelst der Mathematik die Annahme
eines Apriori als eine nothwendige zu erweisen. Seine Beweis-
führung ist sehr einfach und durchsichtig: die Erkenntnisse
der Mathematik sind allgemein und nothwendig; nun
findet sich in der Erfahrung weder Allgemeinheit noch Noth-
wendigkeit, denn sie lehrt nur, dass etwas sich bisher aus-
nahmslos so verbalten hat, nicht aber, dass es sich in alle
Ewigkeit so verhalten wird; ebenso dass etwas so ist, nicht
aber, dass es so sein muss; also stammt die Apodiktidtät der
Mathematik nicht aus der Erfahrung, mithin muss das mensch-^
liehe Erkenntnissverm&gen apriorische Elemente enthalten.
Ueber diese allgemeine Schlussfolgerung hinai^ dient nun
266 C. Göring;
die Mathematik weiter daiu, die Annahme specieller aprio-
rischer Formen des Inteliects zu bewei8en4 1) der Raum ist
eine nothwendige Vorstellung a priori, weil nur da*
durch die apodiktische Gewissheit aUer geometrischen Grund*
Sätze und die Möglichkeit ihrer Constructionen a priori gesichert
erscheint. „Wäre nämlich die Vorstellung des Raumes ein
a posteriori erworbener Begriff, der aus der allgemeinen
äusseren Erfahrung geschöpft wäre, so würden die eralen
Grundsätze der mathematischen Bestimmung nichts als Wahr-
nehmungen sein. Sie hätten also alle Zufälligkeit der Wahr-
nehmung, und es wäre eben nicht nothwendig, dass zwischen
zween Punkten nur eine gerade Linie sei, sondern die Er*
fahrung würde es jederzeit so lehren. Was von der Erfahrung
entlehnt ist, hat auch nur comparative Allgemeinheit, nämlich
durch Indttction. Man würde also nur sagen können, soviel
zur Zeit bemerkt worden, ist kein Raum gefunden worden, der
mehr als drei Abmessungen hätte."
Näher wird nun diese nothwendige Vorstellung a priori
bestimmt als „ursprüngliche Anschauung^, welche
a priori, d. i. vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes in
uns angetroffen wird, mithin reine, nicht empirische An*
schauung ist, und bloss im Subjecte ihren Sitz hat,
als Form des äusseren Sinnes überhaupt.^
Ausser dem Gebrauch, welchen Kant zur Bestätigung seiner
Hypothesen von apriorischen Formen des Intellectes von der
Mathematik macht, hat er sie auch als Vorbild bei seiner Auf-
hebung des empirischen Wissens benutzt, indem er die ge-
wöhnliche Anschauung nach Art der matliematischen Anschauung
und das Verhältniss jener zum Begriff ebenfalls nach mathe-
matischer Analogie construirt, und damit trotz aller nachträg-
lichen Unterscheidungen die philosophische und mathematische
Erkenntniss in ihren wesentlichen Bestandtheilen identificirt
Auch dies hat er selbst unmissverständlich ausgesprochen; das
Charakteristische der matliematischen Erkenntniss besteht ihm
darin, „dass man nicht dem, was man in der Figur sieht oder
auch dem blossen Begriffe derselben nachspurt und gleichsam
Ueber den Missbrattch der Mathematik in der Philosophie. 267,
davon ihre Eigenschaften ablernt — sondern dass man das,
was man nach Begriffen selbst a priori hineindenkt und dar-
stellt, (durch Construction) herrorbringt und daher nur das
a priori und mit Sicherheit von einer Sache weiss, was
man seinem Begriffe gemäss selbst in sie gelegt hat^ Kurz
gefasst drückt er dies so aus: „Die Gegenstände müssen
sich nach unsrer Erkenntniss richten' , nicht um-
gekehrt. Dies Beispiel der Mathematik und „Naturwissenschaft^,
welche letztere damals freilich noch gar nicht existirte, scheint
Kant „merkwürdig^ genug, um es auch in der Metaphysik
nachzuahmen: „In der Metaphysik kann man nun, was die
Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise
versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit
der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie
man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber
der Gegenstand (als Object der Sinne) nach der Beschaffenheit
unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Mög-
lichkeit ganz wohl vorstellen.^ Natürlich findet dasselbe statt
bei den Begriffen, und weiter bei der Verbindung von
Anschauung und Begriff (im Unheil) zur Erkenntniss, wobei
die Verknüpfung ebenfalls apriorisch ist. — Hiermit hat
nun Kant alles, was wir jetzt vom empirischen und wissen-
schaftlichen Standpunkt aus Inhalt nennen, aus dem Wissen
glücklich beseitigt, und nur dessen „Form**, Allgemeinheit
und Notfawendigkeit, übrig gelassen. Der Inhalt ist wechselnd,
daher „zufällig*^ und nicht Wissensobject; er ist für die Kan-
tische apriorische oder Vernunfterkenntniss geradeso gleich-
gültig, wie etwa das Material, aus welchem ein concretes
Dreieck hergestellt ist, für die Erkenntniss von den Eigen-
schaften dieses Dreiecks; denn wie diese bei jedem Material
dieselben Meiben, so auch unsere apriorische und apodiktische
Erkenntniss von den Dingen, da wir ja eben nur das an ihnen
a priori erkennen, was wir selbst in sie hineingelegt haben.
Auf diesem Wege erreichte Kant seine Absicht, die Erkenntniss
von der Erfahrung, diesen Begriff natürlich im üblichen
Sinne verstanden, vollständig unabhängig zu stellen; dass er
268 C. GöTing:
dadurch die Wirklichkeit aufhob und nur die Möglich-
keit übrig liess, lag von vornherein in seiner Absicht, die
Möglichkeit der Glaubensobjecte zu schützen. So ist
schon bei Kant die rein formalistiBche Auffassung des
Wissens, welche seine Nachfolger noch weiter ausbildeten, aus
der Mathematik in die Philosophie übergegangen. Dass aber
dieser fundamentale Irrthum von der grössten und verderb-
lichsten Tragweite für die Philosophie sein musste, ist „a priori"
leicht einzusehen, wie auch durch die philosophische £nt-
Wickelung genügend bestätigt worden. Wenn man das Cor-
rectiv aller Phantasterei, die Erfahrung oder die Wirklich-
keit, principiell beseitigt und sich auf blosse Möglichkeit,
Widerspruchslosigkeif, Denkbarkeit etc. als vermeintliche Kriterien
des Wissens stützt, dann ist einfach Alles möglich, wie es
ja in der nachkantischen Philosophie zum Theil auch wirk-
lich geworden ist Durch diese formalistische Ansicht vom
Wissen setzt sich die Philosophie in directen Gegensatz zur
Wissenschaft, und kann durch consequentes Festhalten an ihrem
apriorischen Standpunkte zwar, wie sie dies so lange gewähnt,
über der Wissenschaft zu stehen glauben, in Wirklichkeit
aber schliesst sie sich selbst von der gemeinsamen Arbeit der
Wissenschaft an den Fortschritten der Erkenntniss principiell
aus. —
„Der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Trieb'', ist
nun auch die deutsche Philosophie im Ganzen seit geraumer
Zeit von diesen luftigen Bahnen auf den soliden Weg der Er-
fahrung zurückgekehrt, oder bemüht sich wenigstens es zu
thun, denn es gelingt natürlicii nicht mit einem Male. Es sind
daher neuerdings fast weniger die Philosophen, mit Ausnahme
der ihr Apriori durch die Mathematiker stützenden Kantianer,
welche die Mathematik übei* das ihr eigenthümliche Gebiet
hinaus verpflanzen und so die „Grenzen'' der Wissenschaft
verletzen, als vielmehr Mathematiker und Naturforsdier. Von
den Nichtkantianern ist merkwürdigerweise genade deqenige
Philosoph nicht von dem störenden Einflüsse der Mathematik
frei geblieben, welcher ihren anderweitigen Missbrauch (vor<*
Ueber den Missbraach der Mathematik in der Philosophie. 269
nehmlich die falsche YerdiDglichnng der Unendlichkeitsbegriffe)
in gewohnter drastischer Weise bekämpfte. Dühring lehrt
eine Ueberein Stimmung zwischen Sein und Denken in
wesentlichen Beziehungen, wodurch ein alter Hegelianer,
Engels, sich berechtigt glaubte, ihn des Plagiats an der Hegel -
sehen Philosophie, speciell an der Lehre von der Identität
von Denken und Sein zu beschuldigen. Dies heisst frei-
lich Dühring Unrecht thun; yielmehr werden seine „Identitäts-
velleitäten" , um einen seinem eigenen Sprachkreis entlehnten
Ausdruck zu gebrauchen, wohl auf die Einwirkung der Mathe-
matik zurückzuführen sein. Er behauptet zunächst die Existenz
von logischen Sätzen und Principien, die nicht aus der Er-
fahrung abgeleitet werden könnten; er kennt ferner logische
Eigenschaften des Seins und glaubt auf Grund derselben eine
absolute Erkenntniss des Wesens der Dinge zu erreichen:
yjWäre das Wesen aller Dinge nicht in der letzten logischen
Gesammtform alles vollendeten Wissens ausdrückbar und trüge
es nicht in sich selbst eine Systematik und Logik, die in der
Verfassung des Verstandes gleichsam einen subjectiven Aus-
läufer hat, so würde alles Erkennen ein nichtiger Schein sein.^
Da nun bei Dühring alles eigentlich Metaphysische ausgeschlossen
erscheint, und demnach seine Logik und Erkenntnisstheorie
von daher nicht inficirt sein kann, so bleibt als Erklärung nur
der Einfluss der Mathematik übrig. Denn nur aus dieser rein
formalistischen Disciplin werden sich logische Sätze ableiten
lassen, die nicht aus der Erfahrung stammen; freilich werden
dann diese Sätze ihrem Ursprung getreu auch rein forma-
listisch und für die nichtmathematische Erkenntniss un-
fruchtbar bleiben, während die aus der Erfahrung gewonnenen
logischen Lehren zwar auch formal und abstracto aber
stets der zusammenfassende Ausdruck vieler concreten Er-
kenntnisse, daher allgemeingültig sind und deshalb wieder
auf die Erfahrung angewandt werden können. Keinesfalls aber
findet eine vorurtheilslose Beü*achtung „logische Eigenschaften^
oder eine „Logik des Seins", und dem Vorwurf, eine Art von
270 C. Göring:
Identität des Denkens und Seins zu lehren, werden die mit*
getheiiten Sätze Duhring's sich nicht entziehen können.
Wenn dies mit Recht aus dem Einfluss der Mathematik
erklärt wird, in welcher das Denken beliebig über das Sein
verfugt, so entfernt sich Duhring gar nicht soweit von der
Auffassung eines grossen Mathematikers, dem er „Crudität der
Welt- und Lebensansicht*^ vorwirft. Auch Gauss bekannte
sich zur Lehre von der Identität des Denkens und Seins in
einem ganz ähnlichen Sinne, den man vielleicht am Einfachsten
dadurch wiedergiebt, dass man da, wo Dühring „logisch*' setzt,
vom Gauss'schen Standpunkt „mathematisch" brauchL
Gauss kennt mathematische Eigenschaften und eine Mathematik
des Seins, deren subjectiver Ausdruck die mathematischen
Formeln sind. Es handelt sich hierbei nicht etwa nur um die
angewandte Mathematik im üblichen Sinne, sondern einfach
um die Ansicht, dass imi>^in Mathematik enthalten ist, welche
der rechnende Mathematiker nur gleichsam zu entdecken hat,
um das „Wesen" der Dinge zu erkennen. Oder man kann^
wie bei der vorausgesetzten Identität vom mathematischen
Denken und Sein natürlich, auch umgekehrt verfahren, und
immer weiter rechnen; das zugehörige Sein wird sich dann
schon finden.
Diese Ansicht war früher ziemUch verbreitet und ist auch
in die Philosophie eingedrungen; ein phantasiereicher Hege-
lianer, Rosenkranz, legte sie theosophisch zurecht und
gab ihr den schwärmerischen und dabei doch trivialen Aus-
druck: „Gott ist ein ebenso grosser Geometer als
Philosoph.^ Natürlich griffen sofort alle, welchen die von der
Erfahrung der Phantasie gezogenen Schranken ein Greuel sind,
mit dem grössten Eifer zu, um auf vermeintlich „exacte^* Weise
sich aus der realen Wirklichkeit in den „reinen Aether^ des
Gedankens, weniger euphemistisch in die trüben Nebel
mystischer Begriffsdichtungen zu verlieren. Wenn
Denken und Sein identisch sind, dann braucht man sich um
die Anschauung nicht nur nicht zu kümmern, sie ist vielmehr
ein Hinderniss des Erkennens, wofür sie alle dogmatischen
Ueber den Missbrauch der Mathematik in der Philosophie. 27 1
Philosophen Ton Anfang an erklärt haben. Von dieser Grund-
auflässung aus corrigirte man daher die Anschauung mittelst
des mathematischen Grössenbegriffs: Fechner hatte einst in
Bezug auf die drei Dimensionen • des Raumes scherzhaft ge-
fragt: »Soll denn die Welt nicht über Drei zählen können?"
Hiermit wurde es bald bitterer Ernst; weil die Mathematik
den Raum als Grössen begriff behandelt und sich damit
über die Schranken der mathematischen Anschauung erhebt,
deshalb hielt man sich für berechtigt, dies sofort auf das Sein
und £i*kennen überhaupt zu übertragen. Hierdurch kam es
zu den unglücklichen Speculalionen über die vierte Dimen-
sion des Raumes, welche an diesem Orte passender mit Still-
sciiweigen übergangen werden. —
Es ist klar, dass die formalistische Auffassung des Er-
kennens, für welche Denken =? Erkennen =» Sein gilt,
die gemeinsame Quelle ist, aus welchar alle Arten des Miss-
brauchs der Mathematik in der Philosophie stammen. Diese
formalistische Auffassung selbst stammt ihrerseits aus dem
mathemalischen Erkennen her und wird dadurch beseitigt, dass
man den principiellen Untei'schied zwischen der ganz eigen-
artigen Mathematik und den andern Wissenschaften aufzeigt
Hierdurch erledigt sich auch die erkenntnisstheoretische Frage
nach dem Ursprung der mathematischen Apodikticität, All-
gemeinheit und Nothwendigkeit, ohne Zuhülfenahme irgend
welches Apriori; zugleich wird klar^ dass und warum die
Mathematik niemals das Vorbild des wissenschaftlichen und
philosophischen Erkennens werden kann. Zunächst müssen
die überschwänglichen Ansichten von der Natur der mathe-
matischen Allgemeinheit und Nothwendigkeit auf' ihre reale
Basis zurückgeführt werden. Auch dib mathematischen Wahr-
heiten sind thatsächlicher Natur und nichts weiter; übrigens
ist ja auch eine Thatsache das Höchste, was die menschliche
Erkenntniss überhaupt eiTeichen kann. Wohl sind die mathe-
matischen Wahrheiten unabhängig von der Aussen weit; die
Sätze vom Kreis z. B. haben und behalten ihre Geltung, auch
ohne dass es einen Kreis in der Natur giebt. Keineswegs aber
272 C. Goring:
kommt ihm eine absolute, d. h. über die menschliche Er-
kenntniss hinausgehende Gültigkeit zu. Dfihring benauptet frei*
lieh, dass 2 X 2 = 4 sei überall, auf aUen Planeten eine
nothwendige Wahrheit; diese Behauptung hat aber nur einen
vernünftigen Sinn unter der sehr willkürlichen Annahme, dass
menschenähnliche Wesen auf allen Planeten wohnen. Nur für
diejenigen Subjecte, welche den in der Mathematik festgestellten
Begriff eines Kreises oder jeder beliebigen andern Figur haben«
giebt es die entsprechenden mathematischen Wahrheiten; für
andere Subjecte existiren andere oder vielleicht keine mathe-
matischen Wahrheiten, daher kommt ihnen eben nur That-
sächlichkeit zu. Denn mit der Aufhebung aller menschlich
organisirten Subjecte wurden die mathematischen Thatsachen
gerade so aufgehoben werden, wie alle andern Tliatsachen.
Dies ist nun allerdings das einzige, was die mathematischen
Wahrheiten mit andernP gemein haben; ihr principieller Unter-
schied von diesen ist der, dass sie allgemein und nolhwendig
im Sinne der Unveränderlichkeit sind, so lange Menschen
existiren. Die Mathematik kennt keine Veränderung ihrer
Elemente, nachdem sie dieselben begrifflich festgestellt hat;
daher sind ihre Objecte und Resultate, wie von der Aussen-
weit, so auch von Zeitbestimmungen durchaus unabhängig. Der
Kreis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist immer
derselbe, deshalb unser Wissen von jedem zukünftig gedachten
oder in die Erscheinung ti*etenden Kreise ganz ebenso sicher^
wie das von einem gegenwärtigen. Denn die mathematische
Anschauung, eines concret dargestellten Kreises z. B., wird vom
Begriff beherrscht, d. h. derselbe Inhalt in dem ange-
schauten Kreise gedacht, weicher im Begriff des Kreises ein
für allemal festgestellt ist. Es ist daher eine logische Noth-
wendigkeit^ dass die mathematischen Sätze allgemeine und
ausnahmslose Gültigkeit haben; da nun aber die Nothwendig-
keit ihren Inhalt überhaupt nur in der AUgemeingüUigkeit
(negativ formulirt: in dem Nichtandersseinkönnen) hat, so sind
die mathematischen Wahrheiten auch noth wendig. Die Er-
klärung dieser Apodikticität liegt in der Beschaffenheit der
Ueber den Missbrauch der Mathematik in der Philosophie. 273
mathematischen Objecte, nämlich ihre Unveranderlich-
keit, nicht aber in irgend welchen apriorischen subjectiven
Formen.
Weil nun hei allen andern Objecten das Gegentheil der
Unveränderlichkeit vorliegt, deshalb fehlt natürlich auch ihrer
Erkenntniss die ,,apriorische^ Gewissheit oder Apodikticität.
Wir haben über unsere Sinneswahrnehmungen keine Macht;
zwar können wir unsere Sinne überhaupt gegen äussere Ein-
drücke yerschliessen, sobald wir sie aber gebrauchen, hört
unsere Willkür auf, und wir haben jedenfalls keine absolute
Gewissheit über die Beschaffenheit unsrer zukünftigen Sinnes-
Wahrnehmungen; und müssen demnach auf strenge Allgemein-
heit und Nothwendigkeit in diesem Gebiete verzichten. Zwar
erreichen wir durch Begriffe und Gesetze auch eine
wenigstens hypothetische Apodikticität, welche uns
eine annähernd sichere Voraussicht zukünftiger Thatsachen ge-
stattet; es fehlt uns aber jede Bürgschaft dafür, dass sich das
Erwartete in jedem Falle verwirkhcht. Wir können daher
immer nur sagen: Wenn der Lauf der Dinge in den ent-
scheidenden Punkten derselbe bleibt, wird Das oder Jenes ein-
treten „müssen^; oder auch: Wenn die nämlichen Ursachen
in Kraft bleiben, werden die gleichen Wirkungen erfolgen
„müssen^. Ob aber diese Bedingung jederzeit erfüllt wird,
ist erst a posteriori festzustellen. Demnach ist im nichtmathe-
matischen Erkennen die Anschauung das Bestimmende
und Massgebende, und Begriffe und Gesetze haben nur
eine von der Anschauung entlehnte, daher hypothetische
Gültigkeit; sobald sich die Anschauung oder die Thatsachen
ändern, sind sofort auch die Begriffe und Gesetze zu modi-
ficiren, weil deren Inhalt vernünftigerweise überhaupt nur aus
der Erfahrung entnommen werden kann.
Wenn das Gesagte richtig ist, so folgt daraus, dass die
mathematische Anschauung von der gewöhnlichen und wissen-
schaftlichen Anschauung toto genere verschieden ist, und daher
jeder Versuch, auch nur eine Art von Analogie zwischen mathe-
matischer und aligemein wissenschafQicher, wie philosophischer
VierteljahTssclirift f. Wissenschaft!. Philosophie. III. 3. 18
274 C. Göring: lieber d. Missbrauch der Math, in d. Philos.
Erkenntniss herauspressen zu woUen, hieran nothwendig scheitert.
Es werden demnach auch alle mathematischen Umwandlungen
unserer Raumanschauung zu einem Grössenbegriff von behebig
vielen Dimensionen für die psychologische und erkenntniss-
theoretische Behandlung des Raumproblems nicht im Geringsten
präjudicirUch werden dürfen. Die Mathematik kann auf ihrem
eigenen Gebiete beliebig über ihren Raum verfügen, soweit
sie dies für ihre Zwecke nöthig hat; sie darf und muss sogar
willkürUch verfahren, denn sie ist keine empirische Wissen-
schaft wie die andern Disciplinen. Mag sie immerhin empiri-
schen Ursprungs sein, so ist sie doch keineswegs auch in der
Empirie beschlossen; daher kann man auch vor einem Miss-
brauch der (empirischen) Philosophie in der Mathematik warnen,
der dann eintritt, wenn man aus philosophischen Gründen die
Mathematik auf die Operation mit anschaulichen Elementen be-
schränken will oder verlangt, dass auch die mathematische
Grössenlehre sich nicht über ihre anschauUche Grundlage er-
heben solle. Die Entscheidung hierüber steht ausschhesslich
der Mathematik zu. Im Uebrigen wissen sich die Mathematiker
gewöhnlich selbst besser gegen die Einmischung der Philosophen
zu schützen, als umgekehrt; auch dürfte der durch einen wirk-
lichen Einfluss der Philosophie in der Mathematik angerichtete
Schaden kaum ein erheblicher sein, während die Uebertragung
der mathematischen Resultate in die Philosophie Alles in Ver-
wirrung bringt; zum Theil freilich auch aus dem Grunde, weil
sich die Philosophie meist leicht, vielleicht ab und zu ein-
mal auch gerne vervnrren lässt. Wem es aber in erster
Linie um Klarheit der Erkenntniss zu thun ist, der wird das
Verschiedenartige auseinanderzuhalten bestrebt sein, nicht es
vermischen, und auch in der Philosophie nach dem Grundsatz
verfahren: Es ist besser arm, aber ehrlich zu bleiben.
lieber Wirbelatome und stetige Raumerfülliing.
Zweiter Artikel.
(Schluss.)
Bekanntlich findet Descartes^) das Wesen der Materie
in der Ausdehnung. Es giebt keinen leeren Raum und keine
Atome; denn wie der Raum kann auch das Körperliche in
Gedanken stets weiter getheilt werden. Wenn daher auch ein-
zelne Körpertheilchen für uns untheilbar wären, so müssten sie
doch für Gott theilbar sein, weil sich sonst ein Widerspruch
gegen seine Allmacht ergäbe. Der Möghchkeit nach wenigstens
existirt also eine unendliche Theilbarkeit.
' Mit dieser Gegenüberstellung einer absoluten Theilbarkeit der
Materie und einer relativen Untheilbarkeit gewisser Körper hat
sich Descartes den Weg eröffnet, die Vortheile der Atomistik
bei den Erklärungen der Physik neben der steligen Raum-
erfüllung zu benutzen. Ohne die unendliche Theilbarkeit der
Materie aufzuheben lässt er doch kleinste Theile derselben als
Elemente seiner Construction gelten. Dieser Zug ist für D e s -
carte s wie Thomson charakteristisch. Die tiefere Bedeu-
tung liegt darin, dass der Atombegriff mit der Theilbarkeit der
Materie gar nichts zu thun hat; ich komme darauf zurück.
Descartes nimmt also an^ dass die Materie aller Körper ein-
unddieselbe sei, theilbar in beliebige Theile und schon that-
^) £s kommen hier insbesondere in Beti*acht: Principia philo-
sophiae, pars II und IIT, sowie die Meteora.
18*
276 . K- Lasswitz:
sächlich in viele getheilt, welche auf verschiedene Weise be-
wegt werden, gewissermassen kreisförmige Bewegung besitzen
und immer dieselbe Quantität der Bewegung im Universum con-
stant erhalten. Die kreisartige Bewegung ergiebt sich natur-
gemäss aus der stetigen Erfüllung des Raumes, in Folge deren
Bewegung nur möglich wird, wenn der letzte Körper in einem
Kreisprocesse den ersten wieder verdrängt. Dies gegenseitige
Ersetzen der Theile der Materie durch einander erfordert
die vollkommene Plasticität der Materie und giebt damit im
Sinne des Descartes einerseits einen neuen Beweis für die
Theilbarkeit ins Unendhche, ohne welche die Anschmie-
gung der Materie in die verlassenen Räume nicht
möglich wäre, andrerseits führt es auf eine rein mechanische
Naturerkläruug , bei welcher nur der Sloss der Theilchen auf
einander die Ursache aller Erscheinungen ist und die Annahme
Gottes als Urhebers aller Bewegung Nebensache bleibt.
Die primitive Materie, von welcher die Physik des Des-
cartes ausgeht, ist diejenige, welche er als die zweite Art der
Materie bezeichnet und aus welcher die erste und dritte ent-
standen sind. Sie besteht aus Partikeln, welche anfanglich
gleichwinklig aneinandergefügt den Raum stetig ausfüllten und
erst durch allmähliches Abschleifen sphärisch geworden sind;
sie sind sehr klein in Bezug auf die uns umgebenden Körper,
aber von bestimmter endlicher Grösse und noch theilbar in
kleinere. Die durch das Abschleifen entstandenen Splitter bil-
den nun die erste, ausserordentlich feine, leicht theilbare
Materie, welche eine derartige Triebkraft besitzt, dass sie beim
Anstoss an andere Körper in die minimalsten Splitter (ramenla)
sich zertheilt, wodurch eben Jene oben hervorgehobene An-
schmiegung in die Hohlräume hervorgerufen wird. Die dritte
Materie entsteht aus der zweiten durch Zusammenballung; sie
besitzt gröbere Theile, welche sich zur Bewegung weniger
eignen. Aus der ersten Materie bestehen die Sonne und die
Fixsterne, aus der dritten die Erde, Planeten und Kometen, die
zweite vertritt in gewisser Beziehung die Stelle des modernen
Aethers, sie erfüllt die Himmelsräume. Letztere ist es, welche
Ueber Wirbelatome und stetige Raumerfullung. 277
in Wirbelbewegung begriffen ist. Hier also stossen wir auf die
berühmte Wirbeltheorie. Diese dient jedoch lediglich dazu,
die Bewegung der Himmelskörper zu erklären und unterscheidet
sich somit schon hierdurch vöUig von der modernen Wirbel-
theorie. Bei Descartes sind Sonne und Fixsterne Centra
¥on grossen Wirbeln, in welchen eine Rotation um die Axe
des Wirbels stattfindet, und durch dieselbe werden die Planeten
befördert und die Gravitation hervorgerufen. Die Pole benach-
barter Wirbel liegen möglichst weit von einander entfernt, so
dass der Pol des einen Wirbels in der Nähe des Aequators der
benachbarten sich befindet. Da aber die Wirbel von ungleicher
Grösse sind, berühren von den Polen entfernte Theile eines
Wirbels solche Theile eines andern Wirbels, welche dessen
Pole näherliegen und somit den Theilen des ersten Wirbels
gegenüber eine geringere Centrifugalkraft besitzen. Daher fliesst
fortwährend Materie (der ersten Art) aus den äquatorialen
Theilen eines Wirbels durch die polaren Gegenden eines zwei-
ten Wirbeis nach dem Centrum desselben. Es findet also ein
Austausch von Materie der ersten Art zwischen den Wirbeln
fitatt, während die gröberen Kugeln der zweiten Materie nur
bis zu einer gewissen Grenze vordringen können. Diese kugel-
förmigen Theile der zweiten Materie bilden „dreieckige^ Zwi-
schenräume, in welche sich nun die Theilchen (minutiae) des
«rsten Elementes hineinwinden müssen. Dadurch entstehen die
^striatae particulae", Theilchen mit drei schneckenartigen Canne-
Urungen, welche entgegengesetzt gewunden sind, wenn die Theil-
chen von entgegengesetzten Richtungen kamen. Aus diesen
striatis besteht hauptsächlich durch Zusammenballung die dritte
Materie, welche die Planeten bildet.
Diese Darstellung der physikalischen Principien der Carte-
sischen Theorie dürfte ausreichend, aber auch notwendig zur
Würdigung derselben sein. Man erkennt sofort, dass nicht die
Annahme von Wirbeln es ist, welche sie mit der Thomson^schen
Theorie in Beziehung setzt. Die Cartesischen Wirbel sind ein-
fache Rotationen, nicht Wirbelringe, in denen die Richtung der
Rotationsaxe in jedem Punkte eine andere ist. Die Rotationen
278 K- LasBwitz:
der kleinsten Theilchen der Körper benutzt Descartes nicht
systematisch, sondern nur hin und wieder, wo es ihm bequem
ist. So erklär! er z. B. die Ausdehnung des Wassers beim
Verdampfen durch ein Rotiren der fadenförmigen Wasser-
theilchen, welche sich durch die Centi*ifugalkraft ausstrecken
und einen grösseren Raum einnehmen; oder die Ausdehnung
der Pulvergase in ähnlicher Weise durch eine Rotation der
Theilchen des Salpeters. Aber diese Rotationen sind keine un-
zerstörlichen, wie die der Wirbelatome.
Descartes findet den leeren Raum und die Atome nicht
denkbar; dennoch kann er diese Begriffe als Hilfsmittel der
Erklärung nicht entbehren. Er hilft sich also dadurch, dass
er an Stelle des leeren Raumes eine ausserordentlich leicht
durchdringbare und plastische Materie setzt. Wiederholt nimmt
er Gelegenheit auszusprechen, dass der leere Raum doch keine
andere Bedeutung habe, als die ungehemmte Bewegung der
Partikeln zu gestatten; und dies soll seine feinste Materie eben-
falls leisten^). Bei der stetigen RaumerfuUung ist es aber nur
dadurch möglich, die Beweglichkeit der Materie zu begreifen^
dass man die einzelnen Theile derselben sich ausserordenthch
leicht nach jeder Richtung hin verschiebbar denkt; es ist dies
nichts anderes, als die YorsteUung von der Materie als einer
absoluten Flüssigkeit^ zu welcher sich auch die mathe-
matische Physik gedrängt sieht, wenn sie mit Volumelementen
rechnen will. Der Begriff einer absoluten Flüssigkeit oder der
vollkommenen Plasticität derMaterie macht also das^
Wesen der plerotischen Theorieen aus, und es handelt sich
darum zu untersuchen, ob dieser Begriff im Stande ist, da»
Fundament einer Naturerklärung abzugeben.
Die mathemalische Physik setzt sich freilich leichten Her-
^) So Princip. III, § 60. Man erzählt sogar, dass Descarte»
seine Physik anfänglich auf den leeren Raum gegründet und sein
System erst umgearbeitet habe, nachdem Mersenne ihn belehrt, dass
das Vacuum in Paris nicht mehr Mode sei. S. Whewell, Geschichte
der indactiven Wissenschaften. Deutsch v. Littrow. Stuttg. 1841*
Th. 2, p. 139.
lieber Wirbelatome und stetige Raumerfüllung. 279
zens über diese Frage hinweg. Sie behandelt den Begriff einer
absoluten Flüssigkeit, deren Wesen darin besteht, dass jeder
Bewegungsantrieb (Druck) sich nach allen Richtungen hin fort-
pflanzt, als etwas selbstverständliches, nicht weiter zu erörterndes.
Dies kann sie thun, so lange sie lediglich den technischen
Zweck verfolgt, die möghchen Bewegungen eines solchen Sub-
strats möglichst einfach zu beschreiben. Eine Wissenschaft aber,
welche das Erkenntnissbedürfniss des Menschen befriedigen
soll, darf bei diesem Begriff der Materie nicht stehen bleiben;
sie muss nothwendiger Weise soweit vordringen, bis eine ein-
fache Anschaulichkeit gewonnen ist; sie muss uns nachweisen,
wie durch das Zusammenwirken unserer Sinne und unseres
Denkens fundamentale Begriffe unserer physikalischen Erfahrung
erzeugt werden, bei welchen der ganzen Natur unserer Orga-
nisation nach eine weitere Frage nach Erklärung nicht mehr
auftreten kann; sie muss den Begriff der Materie erkenntniss-
theoretisch untersuchen und begründen, wobei sie sich natür-
lich ledigUch auf phänomenalem Gebiete bewegt.
Der Verfasser hat dies in seiner bereits angeführten Schrift
„Atomistik und Kriticismus*' durchzuführen versucht und ist
zu dem Begriff der kinetischen Atome als der sich aus dem
Wesen unserer Erfahrung nothwendig ergebenden Grundlage
der Physik gelangt. Es ist jetzt seine Aufgabe zu untersuchen,
ob die Grundlage der plerotischen Theorieen, der Begriff einer
absoluten Flüssigkeit , wie sie von Descartes und Thomson
vorausgesetzt wird, sich mit den Gesetzen, nach welchen un-
sere physikalische Erfahrung zu Stande kommt, verträgt. Ist
die Annahme einer absolut plastischen Materie eine unser Er-
kenntnissbedürfniss befriedigende? Gewährt dieselbe das not-
wendige Fundament aller Erklärung — Anschaulichkeit? Oder
kann sie auf unmittelbar anschauliche Vorstellungen zurück-
geführt werden?
Diese Fragen müssen beantwortet werden. Man kann
nicht sagen, dass der Begriff der Plasticität ein unmittelbar an-
schauUcher sei. Das mit Widerstand verknüpfte Nachgeben der
uns umgebenden Körper vor der Bewegung unseres eigenen
280 K. Lasswitz:
Körpers, diese Andrangsempfindung, durch welche, wie ich
a. a. 0. nachgewiesen habe, der Begriff einer bewegten Masse
erst in uns entsteht, könnte zwar zu der Behauptung fuhren,
dass die Plasticität der Materie eine unmittelbare Erfahrung und
unmittelbar anschaulich sei. Man könnte sagen, dass jeder
Mensch wüsste, was eine Flüssigkeit sei; doch gilt dies nur in
ganz äusserlichem Sinne. Der wissenschaftliche Begriff einer
Flüssigkeit ist ein durchaus anderer, und schon der erste Ver-
such, die verschiedenen aus der Erfahrung uns bekannten
Arten der Flüssigkeit in ihrem Verhallen von einem Gesichts-
punkte aus zu verstehen, zwingt uns in den Begriff der Plasti-
cität näher einzudringen. Wollte man den Begriff der Flüssig-
keit als weiterer Erklärung nicht bedürftig ansehen (wogegen
schon die Geschichte der Wissenschaften spricht), so würde man
weiter nichts erhalten als die Registrirung einer Unzahl von
Fällen, in welchen Theile von Körpern mit mehr oder weniger
Widerstand sich neben einander verschoben haben, aber keine
einheitliche Erklärung. Immer wird die Anschauung nur an
cjier äusseren Begrenzung haften und der Versuch, sich die
Vorgänge im Innern einer Flüssigkeit anschaulich vorzustellen,
wird fehlschlagen. Dies soll im Nachstehenden durch eine Be-
trachtung des Begriffs der Plasticität vom kritischen Standpunkte
aus dargelegt werden.
Wir können „Plasticität" nicht anders definiren als die
Eigenschaft der Materie, jeden Bewegungsantrieb nach jeder
Richtung hin zu übertragen und ohne Widerstand jeder Form-
änderung nachzugeben, so dass jeder beliebig geformte Raum-
theil ausgefüllt werden kann^). Sucht man sich diese Fähig-
keit im Einzelnen vorzustellen, so verlangt dies ein Wirken von
Raumtheil zu Raumtheil und eine Theilbarkeit in beliebig klein
gedachte Theile. Nur eine solche mathemalische Theilbarkeit
liegt zunächst im Begriff der stetigen Raumerfüllung; und dabei
^) £s ist also das Wort „Plasticität'^ nicht in dem sonst auch
üblichen Sinne von „Zähigkeit*' gebraucht, sondern gleichbedeutend
mit „Eigenschaft der absoluten Flüssigkeit.**
\
Ueber Wirbelatome und stetige Raumerfullung. 281
findet sich nichts widersprechendes. Wie aber kommt man
nun vom Allgemeinen zum Besonderen, von der Materie zum
Körper? Wie kann die physikalische Trennung in hetero-
gene Theile stattfinden? Wie kann man sich getrennte Theile
denken? Das ist die schwierige Frage ^ an welcher alle plero-
tischen Theorieen scheitern.
Hier ist es nun offenbar die verschiedenartige Bewegung
der Theile, welche ihre Verschiedenheit von einander über-
haupt constituiren soll. Es werden also aus dem Continuum
der Materie solche Theile ausgesondert, welche sich durch ihre
Geschwindigkeit von den benachbarten unterscheiden. Um dies
aber zu denken, muss man immer den Begriff abgeschlossener,
ganzer, erfüllter Räume bilden, welche sich gegenseitig ver-
schieben. Wie soll man auch sonst ein Theilchen der Materie
mit sich selbst identificiren? In der That fühlt das Descartes.
Seine Materie ist nicht nur theilbar, sondern actuell gelljeüt,
d. h. sie besteht aus selbständigen, getrennten Körpern, welche
ursprünglich den Raum stetig durch ihre Aneinanderlagerung
erfüllten. Diese Theile sind also nicht flüssig gedacht; die
Plasticitat entsteht erst durch die leichte Zerreibbar keit, Trenn-
barkeit der Theile (und ihre tliatsächhche Bewegung), welche
sie in den Stand setzt, jede beliebige Figur aufzubauen. Immer
aber sind es abgerissene Partikel von bestimmter Gestalt; Splitter
der Materie. Descartes ringt sichüich nach Anschaulichkeit im
Treiben seiner Materie und sieht sich dadurch gezwungen ^ die
Theile derselben als abgeschlossene Corpuskeln vorzustellen.
Das ist aber nichts Anderes , als der Anfang zur Bildung des
Atombegriffs ^).
^) Wenn F. A. Lange (Geschichte des Materialismus, 2. A. 1. Th.
S. 200) von Descartes sagt: „Er setzt an die Steile der Atome kleine
runde Körperchen, die in der That ebenso unverändert bleiben, als
die Atome^, so ist das trotzdem nicht genau. Denn kleine, runde
Körperchen sind bei Descartes nur die Theilchen des zweiten Ele-
ments, der materia coelestis, und auch diese sind erst durch Ab-
reiben sphärisch geworden. Die Theilchen der irdischen Körper da-
gegen, weiche den Atomen der Physik entsprechen, bleiben keines-
282 K* LasBwitz:
Mit Nothwendigkeit werden wir auf denselben gedrängt;
es bleibt dabei ganz gieichgiltig, ob wir den übrigen Raum als
leer oder erfüllt ansehen, denn derselbe ist zunächst nicht
Gegenstand unseres Nachdenkens. Wird er dies zum Zwecke
physikalischer Erklärungen, so werden wir allerdings auch weiter
nach demselben Gesetze der Atombildung ihn denken müssen.
Man berücksichtige nur dabei, in welcher Weise der Atom-
begriff kritisch zu fassen ist (Atomistik und Kriticismus, S. 29 f.).
Nicht durch die Theilung der Materie kommt man auf den-
selben, sondern er wird synthetisch erzeugt als der aus der
Natur unserer Sinnlichkeit sich ergebende Begriff des Körpers,
wenn man dabei von allen Eigenschaften desselben absieht,
welche nicht wesentlich zu seiner Constituirung gehören. Es
giebt für uns keinen andern ßegrifl der Materie, als den eines
abgeschlossenen erfüllten Raumes; niemals kann man, wie die
plerotischen Theorieen müssen, von der Materie zum
Körper oder zum Atom kommen, sondern immer nur vom
Atom zur Materie. Das Atom ist nicht das Untheilbare, weil
man dies bestimmte Atom nicht getheilt denken könnte oder
weil man bei irgend einer Grenze aufhören müsste, sondern
weil man bei irgend einem Ganzen anfangen muss.
In derselben Weise wie der Begriff des abgeschlossenen, er-
füllten Raumes, entsteht aber auch der des leeren Raumes.
Der leere Raum existirt nur als Grenze des erfüllten, er ist
nur denkbar durch eine Abstraction, denn der Raumbegriff,
wegs unverändert, sie sind biegsam, dehnen und strecken sich etc. Eine
Verwandtschaft Descartes's zur Atomistik liegt allerdings in der An-
nahme der Corpuskeln, aber ein principieller Gegensatz ist doch
darin vorhanden, dass Descartes ein letztes, unveränderliches Theil-
chen (oder Element, Atom) der Materie nicht gelten lässt. Histo-
risch aber vermittelt seine Physik den Uebergang von der corpus-
kularen zur molekularen Theorie der Materie; er ist es, der die
„kleinsten^ Theile als eventuell noch weiter theiibar betrachtet und
durch diese Eelativirung des Atombegriffs auf einen neuen Abschnitt
in der Geschichte der Atomistik hinweist , den man mit Hobbes be-
ginnen kann.
Ueber Wirbelatome und stetige BaumerfüUung. 283
das kann nicht oft genug hervorgehoben werden, bildet sich
nur gleichzeitig mit und aus dem des Körpers. Wer dies an-
erkennt, muss auch die Unhalibarkeit der plerotischen Theo-
rieen anerkennen, welche den Begriff des Körpers aus dem
unbestimmten, allgemeinen der RaumerfüUung als Ganzes her-
leiten müssen. Wie aber kann man einen Begriff erklären
wollen aus einem anderen Begriffe, welcher erst mit Hilfe des
ersten entstanden ist? Es ist unumgänglich noth wendig, auf
den erkenntnisstheoretisch-fundamentalsten Begriff zurückzugehen,
und das ist in Bezug auf die Materie das Atom. Unser Denken
verlangt den Atombegriff. Dieselbe Auffassung des Atombegriffs,
über welche ich auf meine schon erwähnte Schrift verweisen
muss, habe ich zu meiner Freude auch neuerdings bei Schuppe
in seiner „Erkenntnisstheoretisched Logik" (Bonn, 1878) wie-
dergefunden. Nur aus der vertieften Auffassung des Begriffs
der Materie kann die Naturwissenschaft eine sichere Grundlage
zur Erklärung der empirischen Thatsachen gewinnen.
Wir gehen nun zurück zu dem Versuche, dieTheorie der
stetigen Raumerfüllung und die Plasticität der Materie auf An-
schaulichkeit zurückzuführen. Die Vergeblich keit dieses Ver-
suches wird treffend illustrirt durch das Schicksal, welches der
Cartesischen Theorie in der Geschichte der Physik bestimmt
war. Eine ausführliche oder gar vollständige Darstellung des-
selben soll an dieser Stelle natürlich nicht gegeben, sondern
nur auf das für unsere Untersuchung bedeutungsvolle Moment
aufmerksam gemacht werden.
Unter den Einvvürfen gegen das System des Descartes
spielte immer derjenige die Hauptrolle, dass aus der Wirbel-
bewegung eine Gravitation nur gegen die Axe, nicht aber gegen
das Ceiitrum des Wirbels sich erklären lasse.
Die Verbesserungsversuche von Huyghens^) durch An-
nahme von Wirbeln, bei denen die Materie sich auf den Schalen
ihrer Kugelflächen in jedem Sinne bewegt, die Vertheidigung
durch Säur in (1709), die Vervielfältigung der Wirbel durch
^) De causa gravitatis. Op. rel. Amst. 1728.
284 K. Lasswitz:
Bullfinger und die Untersuchungen von DanielBernoulli,
welcher „die Hypothese zwar nicht empfehlen, aher doch einige
Schlüsse daraus ziehen will, ohne welche dieselbe ihm nicht
bestehen zu können scheint",^) sind hier weniger von Bedeu-
tung, als das Bestreben Johann Bernoulli's, die Carte-
sischen Principien Newton gegenüber aufrecht zu erhalten.
Denn Attraction und leerer Raum sind für Job. BernouUi immer
„principes imcomprehensibles pour un Physicien.** In seiner
Abhandlung^) vom Jahre 1730 „Nouvelles pensees sur le
Systeme de M. Descartes" nimmt er an, dass die Materie der
Wirbel vom Centrum nach der Peripherie hin abnehmende
Dichtigkeit besitze und erklärt daraus die elliptischen Bahnen
und die Verschiebung des Perihels der Planeten. Es entstehen
nämUch dadurch OsciUationen, d. h. Annäherung und Entfer-
nung der Planeten in Bezug auf die Sonne. Wenn nun die
Dauer einer Oscillation nicht gleich der Dauer eines Umlaufs
ist, so muss eine Verschiebung der Lage der grossen Axe der
EUipse eintreten. Aber schon 1734 stellt er eine neue Theorie
in seiner „Nouvelle physique Celeste" auf, in welcher er zwei Arten
von Wirbeln annimmt, um die Sonne (und die Fixsterne) einer-
seits, um die Hauptplaneten andrerseits; zur Erklärung der
Gravitation hilft er sich durch Annahme eines Centralstroms.
Nun fühlt BernouUi das Bedürfniss, die Cartesischen Principien
zu vertiefen. Er macht Descartes den Vorwurf^ dass dessen
„erste Materie" nicht actueil ins Unendliche getheilt,
sondern nur theilbar sei, und ganze Corpuskeln
enthalte. Dies ist von wesentlicher Bedeutung für die Ent-
wickelung der plerotischen Theorieen, denn es trifiFt genau die
schwache Stelle derselben^). BernouUi empfindet es als eine
^) Hydrodynamica. Argen torati 1738. p. 252.
*) Job. BernouUi, Opera omnia. Tom. IIL Laus, et Genäve 1742.
*) Man bemerkt: Ein Anhänger des Cartesius zieht die letzte
Consequenz der plerotischen Theorie und fuhrt sie dadurch ad ab-
surdum, während die eigentlichen Gegner derselben, namentlich die
Physiker, welche die sog. Corpuskulartheorie ausbildeten, das tief-
liegende unhaltbare Fundament nicht bemerkt hatten. So einer ihrer
Ueber Wirbelatome und stetige Raumerfüllung. 285
Inconsequenzy dass die Theorie des Continuums unter der Hand
in eine solche der Atome umschlagen soll Aber Descartes
kann nicht anders, als die Materie unausgesetzt durch ihre Be-
wegung in abgeschlossene Partikel sich sondernd denken, wie
ich oben gezeigt habe. Kein Mensch kann anders verfahren,
der überhaupt versucht, eine Anschauung des Vorganges zu
gewinnen; denn will man nicht unterschiedslose Flüssigkeit
haben, so muss man eben getrennte Tbeile unterscheiden, das
sind Corpuskeln. Aber der Gegner der Atomistik kann sich
mit diesem Schlüsse nicht befreunden, er sucht nach einem
anderen Ausweg. Der einzige Ausweg jedoch, den es noch
giebt^ führt ins Unmögliche, Denkwidrige! Wie nämlich hilft
BernouUi sich? Er nimmt zwei Arten Materie an. Die eine
besteht aus kleinen Massen, deren Theile zusammenhängen,
ohne gerade unbesiegbar hart sein zu müssen — also eine Art
relativer Atome oder Corpuskeln. Doch dies ist unwesentlich.
Diese Theile aber befinden sich in der zweiten Materie, welche
— und das ist Bernoulli*s charakteristische Annahme — ein
continuiriiches Fluidum darstellt und wirklich ins
Unendliche get heilt ist („reellement divisee ä Pinfini").
Da haben wir die Consequenz der stetigen Raumerfüllung, die
Forderung einer actuell ausgeführten Theilung ins Unendliche,
den Widerspruch einer vollendeten Unendlichkeit.
Wenn bei der Darstellung der mathematischen Grund-
lagen die übliche ßezeichnungs weise „unendlich kleines Volum-
element etc." beibehalten wurde, so geschah dies nur aus Rück-
sichten der Bequemlichkeit; das Unendliche ist dann eben im
Sinne der Mathematiker zu verstehen und in seinem Gebrauche
berechtigt; es hat nichts zu schaffen mit dieser vollzogenen
Unendlichkeit, welche gleichbedeutend wäre mit der Con-
Hauptvertreter, der berühmte Physiker Dechales, CursuB b. mun-
dos mathematicus. Lugd. 1679. Tom. II. MechaD. Lib. 8. p. 211 ff.
Der Grund der Flüssigkeit liegt nach ihm nicht in einer Bewegung
der Theilchen, sondern nur „in facili divisibilitate aut etiam in
actuali divisione in partes minutissimas." Also sehr kleine, aber
nicht unendlich kleine Theile!
286 K. LasBwitz:
stituirung eines Raumes aus aufeinandergehäuften Punkten.
Diese Annahme von Bernoulli ist in sich so sinnwidrig, dass
darüber kein Wort zu vertieren ist; aber man k&nnte ein-
wenden, dass wir die BernouUi'sche Unendlichkeit vielleicht
retten könnten, wenn wir sie ihres transcendenten Charakters
entkleideten und unter den Gesichtspunkt des kritisch durch-
gedachten UnendhchkeitsbegrifTs der Gegenwart brächten. Doch
auch dies ist verlorene Liebesmäh. Denn wollte man jene
Theilbarkeit ins Unendliche nur als die Yorstellungsart auf-
fassen, vermöge deren wir iins die Materie mit der Fähigkeit
begabt denken, jeden beliebigen Raumtheil einzunehmen, so
hätte man damit nichts gewonnen als den unbestimmten, an-
schauungslosen Begriff der Plasticität, den zu erklären wir aus-
gegangen sind. Die Theile filiessen wieder ineinander, an keinem
kann unsere Anschauung haften und wir sind soweit wie
vorher.
Wir sehen uns also wieder auf die Cartesische Anschauung
gedrängt, nach welcher wir Partikel von bestimmter Grösse
nebeneinander abgrenzen; wir müssen, auch von der stetigen
Raumerfüllung ausgehend, doch unter Vernachlässigung dieser
Vorstellung den Begriff abgeschlossener Körper bilden, welche
sich neben einander verschieben. Es ist dies, wie gesagt, der
Anfang zur Bildung des Atombegriffs. Aber wir können dabei
nicht stehen bleiben, wir müssen vom Begriff der Corpuskel
nothwendig fortschreiten zum Begriff des starren Atoms, und
damit trennen wir uns von den pleroüschen Theorieen, welche
mit der erkenntnisstheoretischen Forderung eines unverän-
derlichen Atoms in Widerspruch sind.
Indem ich es unternehme, die Unabweisbarkeit dieser For-
derung starrer Atome zu erhärten, habe ich damit schon
meinen Standpunkt zu der Thomson^schen Theorie der Wirbel-
atome bezeichnet. Das Nähere wird sich sogleich ergeben.
Nach den vorausgegangenen Erörterungen ist es klar, dass
die Thomson*sche Theorie zu den als plerotisch bezeichneten
gehört. Aber sie erhebt gleichzeitig den Anspruch, Atomistik
zu sein; sie nimmt Wirbelatome an^ welche die physikalische
Ueber Wirbelatome und stetige Raumerfüllung. 287
Forderuflg unveränderlicher und unzerstörlicher Eigenschaften
besitzen. Ihre Vertreter sind hervorragende Physiker, welche
die praktische Bedeutung der Atomistik voll zu schätzen wissen
und sie auch nicht entbehren wollen; im Gegentheil^ sie hoffen
den Begriff des Atoms dadurch tasslich zu machen. Erst kürz-
lich hat die Wirbelatomtheorie derjenige hochgeschätzte deutsche
Gelehrte warm empfohlen, dem wir nicht nur bahnbrechende
Arbeiten auf dem Gebiete der atomistisch-ktnetischen Theorie der
Gase^ sondern auch die vollendetste Darstellung der letzteren
verdanken 1). Und doch kann die Thomson'sche Theorie von
einem allgemeineren Gesichtspunkt aus nicht gebilligt werden.
Ein Atom, dessen Theile selbst unter einander verschiebbar
sind, kann nichts erklären, wenn es auch gewisse Eigenschaften
constant zu bewahren im Stande ist. Denn gerade das Flüssig-
sein, die Plasticität der Materie ist es ja, welche erklärt, d. h. auf
ursprüngßchere und anschaulichere Begriffe zurückgeführt wer-
den soll. In dem Wirbelatom aber finden Bewegungen statt;
die Theilchen rotiren in bestimmten Richtungen u. s. w. An-
genommen, man könnte alle Eigenschaften der uns umgebenden
Körper widerspruchslos und einfach aus den Bewegungen der
Wirbelatome erklären, so würde sofort die Frage wieder auf-
tauchen, wie die Verschiebung der Theilchen des Wirbelatoms
denkbar sei. Man hätte hier alle die Bedenken einer stetigen
Flüssigkeit und ihrer Bewegung wieder zu überwinden, die
man aus der grossen Welt durch Annahme der Wirbelatome
herausgebracht hat. Die ganze Frage ist dann nur verschoben.
Die in den Atomen bewegliche und bewegte Materie bleibt in
Bezug auf ihr Verhalten anschauungslos, die Theilchen sind
nicht mehr auseinanderzuhalten, oder man muss sie wieder
corpuskular abgrenzen. Alle die oben dargestellten Unzuläng-
lichkeiten treten ein. So lange das Denken nicht auf den Be-*
griff eines in aller Erfahrung Unveränderlichen, nach Grösse
und Gestalt Beharrenden gekommen ist, kann es sich nimmer
zur Ruhe geben. Und diese findet es erst im starren Atom,
*) 0. E. Meyer, Die kinetische Theorie der Gase. Breslau 1877
288 ^^ Lasswitz:
dieser unumgänglichen Forderung des denkenden Geistes, der
die Mannichfaltigkeit der Erfahrung einheitUch zu ordnen strebt.
Erst wenn dieser Begriff aufgefunden ist, fühlt der'Erkenntniss-
trieb sich befriedigt. Hier ist keine Frage mehr möglich; hier
findet eine Zurückverlegung der Eigenschaften der Materie auf
die Atome nicht mehr statt (vergl. „Atomistik und Kriticismus
S. 37, 43—46). Hier ist das „Einfachste "" der Erfahrung ge-
wonnen, der Ruhepunkt erreicht, von welchem aus der Bau
der Welt für unsere Erkenntniss synthetisch aufgerichtet wird.
Im wirbelnden Continuum der Materie giebt es nichts Be-
harrendes, an welches unser Denken anknüpfen könnte; den
mit sich selbst stets identischen Gegenstand findet es erst im
(phänomenalen) Atom. Gerade aus der Unveränderlichkeit, nicht
nur der nach aussen in Wirkung tretenden, sondern auch der
innerlichen, des Atoms ergiebt sich die Möglichkeit, den flüssigen
Aggregatzustand zu erklären; es ist unverständUch, «wie z. B.
Harms ^) in der Unveränderiichkeit des Atoms einen Mangel
für seine Verwendbarkeit in dieser Hinsicht finden kann, wäh-
rend er sonst die Begründung der Atomenlehre auch als eine
Anwendung des systematischen Denkens ansieht (S. 322). Wenn
ich, wie S. Günther in seiner geschätzten Besprechung meiner
Schrift „Atomistik etc." (Kosmos, 2. Tbl. 10. Heft) bedauert,
diese Arbeit von Harms dort nicht erwähnt habe, so geschah
dieS; weil ich keine schickliche Gelegenheit für die Behandlung
dieser principiell entgegenstehenden Ansicht finden konnte, ohne
aus dem synthetischen Charakter meines Buches herauszugehen.
Eine nur beiläufige Erwähnung schien mir nicht angemessen.
Die Harms'sche Kritik der Atomistik steht durchaus auf trans-
cendentem Standpunkte und musste somit durch meine Arbeit
im Ganzen bekämpft werden. Harms giebt die Annahme von
Atomen zu, tadelt aber, dass dieselben nicht als ein Zusammen
gedacht werden, noch auch gedacht werden können. Von letzterem
^) Karsten, Harms und Weyer, Einleitung in die Physik.
Leipzig 1869. Philosophische Einleitung in die Encyklopädie der
Physik.
Ueber Wirbelatome und stetige RaumerfUllang. 289
Vorwurf ist meine phänomenale Atomistik frei (vergl. S. 55 ff.),
welche überhaupt im Einzelnen von den Harms'schen Bedenken
nicht getroffen wird. Aber der principielle Unterschied liegt
in Folgendem. Harms findet die Schwierigkeit und Hinfälligkeit
der atomistischen Lehre darin, dass sie nicht im Stande ist be*
greiflich zu machen, wie zu den Atomen Bewegung und eijfk
Zuschauer hinzukommen; denn für ihn sind die Atome etwas
Reales, Transcendentes. Für mich ist diese Schwierigkeit ge-
hoben, weil der Zuschauer das Erste, Vorhandene ist und die
Atome sammt ihrer Bewegung nur in ihm phänomenal bestehen.
Die gesammte anderweitige Entwickelung von Harms und sein
Zurückgehen auf das Absolute ist demnach für die kritische
Atomistik nicht discutabel.
Wenn nun Thomson gerade die Annahme eines unver-
änderlichen, absolut harten Atoms durch seine Wirbelatome zu
beseitigen hofit und namhafte Physiker ihm beistimmen, so
kommt dies daher, dass er und die Verlheidiger seiner Theorie
immer noch die Atome als real-transcendente Dinge ansehen,
nicht als Erzeugnisse unserer Erkenntnissthätigkeit bei unserer
Orientirung in der Welt. Das transcendente Atom enthält aller-
dings unheilbare Widersprüche; ein solches, an sich real un-
veränderlich existirendes Atom ist ebenso wenig denkbar, wie
die gegenseitige Mittheilung ihrer Bewegung. Es ist daher
natürlich, dass Physiker, und insbesondere engUsche, welchen
die kritische Auffassung der Gegenslände unserer Erfahrung
noch fern liegt, zu weiteren Hypothesen über die transcendente
Materie getrieben werden. Aber um so mehr ist es Pflicht, im
Interesse einheitlicher Wissenschaft gerade jetzt, wo die Thom-
son'sche Theorie erst schüchtern ihr Haupt erhebt, darauf auf-
merksam zu machen, dass jene Versuche niemals zu einem be-
friedigenden Resultate führen können; dass die ganze Schwie-
rigkeit im Atombegriff erst dann fortfallt, wenn man die Atome
sammt ihrer Bewegung auffasst als das nothwendige und un-
vermeidliche Product unserer Erkenntnissthäligkeit, wodurch sie
zwar lediglich Phänomene für uns, aber ebenso sichere und
anschauliche Gegenstände der Erfahrung werden wie Raum und
Vierteljahrsscbrift f. wissenscliaft Philosophie. lU. 8. 19
290 K. Lasswitz:
Zeit. Möge diese mahnende Stimme in den Kreisen der Fach-
genossen nicht ganz verhallen!
Ich habe bereits gezeigt, dass die Hypothese der Wirbel-
atome den Vorgang der Bewegung einer Flüssigkeit nicht er-
klärt, sondern ihn selbst voraussetzt, weil ja die Theile der
Atome selbst fliessen. Es soll nun noch gezeigt werden , dass
auch unter der Voraussetzung der unmittelbaren Begreiflichkeit
einer derartigen Plasticitat der Atome (oder Bewegung der
Flüssigkeit) eine Theorie der Materie, welche uns befriedigen
könnte, nicht sich geben lässt.
Der Gedankengang, welcher auf viele Physiker zu Gunsten
der Thomson'schen Theorie so bestechend wirkt, ist nämlich
folgender. Der Raum ist continuirlich erfüllt — was dem
Mathematiker ein sehr wohlthuender Gedanke ist — und trotz-
dem giebt es Atome, und zwar nur Atome. Denn die Materie
wird erst dann wahrnehmbar, wenn sie in Bewegung ist; als
ein unbewegtes Etwas kann sie keine Kräfte ausüben (d. h. Be-
wegung hervorrufen), also auch nicht auf unsere Sinne wirken,
nicht wahrgenommen werden. Sie ist also gar nicht vorhanden.
Die vorhandene Bewegung (Energie) ist unvergänglich, ausser
der bewegten Materie ist nichts wahrzunehmen, also haben wir
ja Atome im leeren Räume aus der Natur der stetigen Raum-
erfüllung erklärt! Das Flüssigkeitstheiichen ist damit aus dem
Continuum durch seine Bewegung atomistisch geschieden und
die nicht wirbelnde, kraftlose Materie geht uns nichts an.
Das klingt sehr schön, aber es ist leider nicht haltbar.
Denn es widerspricht der Helmholtz'schen Entdeckung selbst
Wie in der Darstellung der mathematischen Grundlagen erwähnt
wurde, ist die nicht an. den Wirbeln betheihgte Materie keines-
wegs in Ruhe, sie nimmt vielmehr nothwendiger Weise an der
Bewegung Theil, weiche sie vermittelt. Schon dass man sie als
„absolute*' Flüssigkeit auffasst, macht dies dem Begriffe nach
nölhig. Denn die Fortpflanzung des Druckes kann anschaulich
nur gedacht werden als Fortpflanzung der Bewegung von Theii
zu Theil, wie ich dies an anderer Stelle ausgeführt habe. Doch
davon abgesehen: Es finden Strömungen in der Flüssigkeit
lieber Wirbelatome und stetige Raumerfüllung. 291
«tau, sie muss also ebenfalls Energie besitzen. Diese zwischen
den Wirbeln befindliche Materie kann also nicht der Wahr-
nehmbarkeit entbehren, sie kann ebenfalls Wirkungen ausüben
und ist somit mehr als die eigenschaftslose Raumerfüllung.
Sie besitzt vollberechtigte Existenz, denn sie besitzt Energie,
so gut wie die Wirbel; der Stoff entsteht nicht erst mit der
Wirbelbewegung. In dieser nicht wirbelnden Materie aber haben
wir die anschauungslose und unterschiedslose Flüssigkeit ^ die
eben erklärt werden soll, wieder in voller Unbestimmtheit vor
uns. Hätte es sich auch nicht gezeigt, dass wir die Unbegrei^-
lichkeit des Flüssigen immer noch in deii Wirbelatomen be-
halten, so zeigte es sich doch hier, dass wir jenen unglücklichen
Begriff bei Annahme stetiger Raumerfüllung nicht eliminiren
können. Jeder tiefer eingehenden Kritik halten die plerotischen
Theorieen nicht Stand. Angenommen aber — was nicht der
Fall ist — die mathematische Theorie hätte ergeben, dass
die nicht wirbelnde Materie in vollständiger Ruhe, also eigen-
schaftslos sei, so wäre damit immer noch nichts gewonnen als
— der Aristotelische Begriff der Materie. Wir hätten das
eigenschaftslose Substrat einer möglichen Bewegung; die that-
sächhche Bewegung (die Form) kommt von Aussen her dazu;
dadurch entsteht das, was wir Materie nennen. Ob diese
Aristotelische Auffassung der Materie, welche ihre unvermeid-
lichen, hier nicht näher zu erörternden Consequenzen nach sich
zieht; Jemanden befriedigen kann^ möchte ich bezweifeln; sie
wäre jedenfalls eine bedenkUche Zuflucht für den modernen
Physiker. Aber, wie gesagt, soweit kommt es gar nicht, die
Theorie stürzt schon vorher.
Was kann uns auch die Zurückführung des Wirbelatoms
auf die unbewegte Materie für die Begreifbarkeit nützen?
Fragen wir, wie es daraus entstand, so lautet die Antwort:
Durch einen Schöpfungsact. Also ebenso, wie das transcendente
harte Atom. Ob wir uns nun den Schöpfer die vorhandene
Materie in Wirbelbewegung versetzen denken oder ihn solide
Atome in den leeren Raum hinein werfen lassen — das Eine
ist ebenso unbegreiflich wie das Andere, beides geht über die
19*
292 K. Lasswitz:
Grenzen der Erkenntniss und der Wissenschaft hinaus. Nur
dasB die Thomson'sclie Theorie zwei Wunder statt eines setzte
sie iässt erst die Materie schaffen und dann sie in Wirbel
kräuseln. Erklärlich wird die Sache ja überhaupt erst auf
kritischem Gebiete ; hier sind die Atome ein Erzeugniss unserer
Sinne und unseres Verstandes; die starren ein notliwendiges
jeder Orientirung in der physikalischen Welt, die Wirbel ein
gluckUches des Helmholtz^schen Calkuls, die Wirbelatome ein
weniger gluckliches der Thomson'schen Speculation.
Kritisch betrachtet muss nach alledem die Theorie der
Wirbelatome als unzureichend erklärt werden, eine befriedigende
Grundlage der allgemeinen Naturerklurung zu geben. Sie kann
die Anschauungslosigkeit des absolut Flussigen und den Raum
stetig Erfüllenden nicht überwinden. Es fragt sich nur, oh
sie für die Physik praktische Bedeutung, vielleicht als Hilfs-
mittel der Erklärung (vorbehaltlich einer Zurückführung auf
atomistische Principien) hat. Darüber muss die Zukunft ent-
scheiden. Bisher sind ihre praktischen Erfolge unbedeutend.
Zwar das, was sie dem Philosophen unannehmbar macht, das
gerade macht sie dem Physiker schätzbar, die BiegsamkeiU
Plasticität, Elasticität der Atome. Hierin beruht ein pliysika-
lischer Werth derselben, obgleich die „Elasticität** der Atome^
wie anderweitig gezeigt^), für die kinetische Atomistik nicht
erforderlich ist; aber derselbe wird wieder dadurch geschmälert^
dass sie der analytischen Behandlung immense Schwierigkeiten
entgegensetzen. Trotzdem glaube ich, dass die Benutzung
rotatorischer Bewegungen ^) in der Molekularphysik noch eine
1) 0. E. Meyer, a. a. 0. S. 38, 260, 239 u. 240. — G. Lübeck,
Schömilch's Zeitschr. f. Math, und Phys. 22. Jahrg. S. 126. —
Lasswitz, a. a. 0. S. 97 ff.
') Hierzu vergl. die Arbeiten von Bankiiie, Philos. magaz.
1855. 4th. ser. vol. 10. p. 354, 411. - Hankel, Berichte üb. d. Verh.
d. K. Sachs. Gesellschaft d. Wiss. za Leipzig. Math.-phys. Classe.
17. Bd. 1865. S. 7 u. 18. Bd. 1866. S. 219. — Arw. Walter, Unter-
suchungen über Molekularmechanik. Berl. 1874. — Schmitz-D umont.
Die matb. Elemente der Erkenntnisstheorie. Berl. 1S78. S. 394. 399.
Ueber Wirbelatome und stetige Baumerfüllung. 293
grosse Rolle spielen wird. Nur soll man die Wirbel nicht als
Atome aufTassen, die aus einer zusammenhängenden Flüssig-
keit bestehen, sondern als Molekel, zusammengesetzt
aus sehr kleinen, selbständigen Atomen. Was die
Rechnung von einer continuirlichen Flüssigkeit aussagt, das
gilt auch von einem in atomistisch-kinetischem Sinne zusam-
mengesetzten Gase. Und das ist auch der Schluss, welchen
Thomson und Tait aus dem Experimente der Wirbelringe
«inzig hätten ziehen dürfen. Denn was dort als Rauch- oder
Staubring wirbelte, das war keine ai)solute Flüssigkeit
{welche niemals hätte dazu gebracht werden können), sondern
es waren feste Körperchen, Aschentheilchen , Salmiak-
stäubchen und Luflmolekeln. Wohl kann man annehmen, dass
in ähnlicher Weise kleine, sehr constante Wirbelringe von
Atomen gebildet werden, welche dann vielleicht die Atome der
Chemie vorstellen, ja der Gedanke liegt nahe, zu fragen, ob
nicht die Atome des Weltäthers, indem sie wie jene
Luftmolekeln Wirbelringe bilden, die Atome der Körper dar-
stellen ; bei der Eigenschaft des Aethers, durch welche wir ihn
«iner „vollkommenen Flüssigkeit** vergleichen können, würde
sich die Unveränderllchkeit derselben erklären. Einer solchen
Theorie würde ich mit Freuden zustimmen; hier hätten wir
die von der Erkenntnisstheorie geforderte atomistische Con-
stitution der Materie und wir hätten zugleich alle Wünsche der
Wirbelfreunde erfüllt. Der experimentirende Physiker aber,
indem er sich auf das von ihm oft verächtlich behandelte Ge-
biet der Speculation begab, vergass die Grundlagen seines
Experiments und sündigte gegen die Grundlagen der Bildung
unserer Erfahrung. Trotzdem könnte die Idee Thomson's über
die Wirbel von anregendster Bedeutung sein, wenn man sich
«inigte, dieselben atomistisch zu fassen, die Atome aber anzu-
sehen als die Elemente, welche Sinnlichkeit und Verstand bei
dem Zustandekommen unserer Erfahrung nothwendig erschaffen.
Gotha. K. Lasswitz.
Zur Entwickelung der Willensäusserungen im
. Thierreich.
Zweiter Artikel.
(Schluss.)
Es bleibt nun noch zu erörtern, wie sich die Stumme der
übrigen Schutzbewegungen aus der Contraction des gesammten
Körpers differepziren. Diese Stamme sind das Bedecken und
das Fluchten. Das Bedecken bildet den Stamm zum Anfertigen
von Hüllen und Nestern, sowie zum Aufführen oberirdischer
Baue und Hütten (Termiten, Biber, Vögel, Mensch). Aus dem
Flüchten differenzirt sich zunächst das Verslecksuchen, welches
einerseits den Stamm zu den yerschiedenen VersteckgewoKn-
heiten und den Yorsichtsmassregeln hierzu, andererseits den
Stamm zum Vergraben, Gängemachen, Höhlenmachen und Her-
richten unterirdischer Wohnungen resp. Baue bildet; und weiter
differenzirt sich aus dem Flächten das willkührUclie Ver-
iheidigen und aus diesem wieder das Abschrecken und Ver-
stellen etc. etc. Es ist aber nicht der Zweck vorliegender
Arbeit, auf all diese Differenzirungsprodukte einzugehen, sonst
müssten wir sämmtliche Schutzgewohnheiten behandeln. Hier
will ich nur zeigen, wie die beiden Stämme, das Bedecken und
Flächten aus dem allgemeinen ursprünglichen Contractionstrieb
entstehen.
Es ist oben bereits besprochen worden, dass bei den
Echiniden der Effect des Contractionstriebes ein festeres An-
ziehen an die Unterlage ist. Die Echiniden heften aber ihre
Ambulacralfüsschen nicht nur an ihre Unterlage, sondern viel-
Zur Entwickelang der Willensäusserungen im Thierreich. 295
fach an seitliche Gegenstände. Sind nun diese sehr schwer, so
wird bei einer Conti^action der Ambulacralfüsschen das Thier
nach diesen Gegenständen hingezogen; sind diese dagegen sehr
leicht, so werden sie nach dem Thiere hin resp. auf das Thier
gezogen, und der Echinid also damit bedeckt. Man sieht
hieraus^ wie verschieden der äussere Effect eines und desselben
Triebes, einer und derselben Contraction sein kann. Bei der
Gewohnheit der Echiniden mit ihren Saugfüsschen sich immer-
während an die Steine zu heften und sich an denselben fort-
zuziehen, müssen diese Ecliiiiodermen nothwendig vielfach bald
diesen bald jenen Effect erfahren, müssen wahrnehmen, dass
sich ein Object leicht heranziehen lässt und das andere nicht,
dass sie, um mit gewissen Dingen in nähere Berührung zu
kommen, diese einfach an sich heranziehen können; bei andern
unverrückbaren Steinmassen zu gleichem Zweck aber anderswo
haftende Füsschen loslösen und ihren eigenen Körper fort-
ziehen müssen, doch das eine wie das andere dnrch dieselbe
Contraction. Bei diesen tagtägUchen Erfahrungen konnte sich
nun. auch bei diesen Thieren leicht eine psychische Difieren-
zirung des Contractionstriebes ausbilden. Die Echiniden mussten
bei diesen häufigen Erfahrungen nach und nach ihr Fortziehen
und Festziehen von dem Anziehen anderer Gegenstände und
dem Bedecken damit unterscheiden ; wobei ich beiläufig be-
merken will, dass eine Willensdifferenzirung immer auf einer
Unterscheidung beruht. In der That hat sich nun auch, wie
die Beobachtung lehrt, bei den Echiniden zuerst (insofern sie
die niedersten Thiere sind, bei denen ein Bedecken vorkommt)
der Trieb zum Bedecken vom allgemeinen Contraclionstrieb
differenzirt. Die Echiniden zeigen nicht nur, dass sie die Ge-
wohnheit haben ^ sich zu bedecken, sondern auch^ dass der
Trieb hierzu in gewissem Grade unabhängig geworden ist vom
allgemeinen Contractionstrieb. Das feste Anziehen an die Unter-
lage erfolgt bei diesen Echinodermen nur, wenn sie angegriffen
werden, oder wenn sie eine Lokomotion ausführen wollen; das
Bedecken dagegen findet auch statt, wenn weder ein Angriff
auf das Thier gemacht wird, noch das Thier Lokomotionen
296 C>. H. Schneider:
ausfuhrt. Im neapolitaner Aquarium haben wir dieses Be-
decken vielfach beobachten können; und ich habe gar oft wie
Oskar Schmidt einen Seeigel in ein Waschbecken gethan
und Muschelschalen, kleine Steine und Algenfetzen mit in das
Becken gelegt; und in der Regel bedeckte sich das Thier voll-
standig mit diesen Dingen, indem es die Saugfüsschen amheflete
und dann contrahirte.
Auch die Lima zieht in ähnlicher Weise wie die Echiniden
kleinere Steine und Muschelschalen an sich heran ; verwebt die-
selben bekanntlich aber noch zu einer vollständigen Hülle. Dass
in der That das HuUenmachen aus dem Trieb zum Bedecken
hervorgeht, lehrt die Thatsache, dass innerhalb der Insekten-
gruppe oft in einer einzigen Familie (Blattkäferlarven, Motten-
räupchen) alle Uebergangsstufen vom theilweisen und voll-
ständigen Bedecken zum Anfertigen von Höllen zu beobachten
sind; doch hiervon ein andermal.
Etwas complicirter als diese Differenzirung des Bedeck-
triebes ist der Vorgang beim Differenziren des Fluchttriebes.
Auch das Fluchten findet sich bei den jetzt existirenden Thieren
zuerst bei den Echinodermen differenzirt. Ehe ich nun den
Vorgang der Triebsdifferenzirung bespreche, will ich vorher
zeigen, wie gerade bei den Thieren, bei welchen sich das
Flüchten zuerst deutlich ausgeprägt vorfindet, ein solches aus
dem Contractionstrieb entstehen kann, ohne dass schon ein
Fluchttrieb differenzirt ist.
Anfänge zum Flüchten mögen schon bei den Wimper-
infusorien und den pelagischen Coelenteraten vorhanden sein,
welche bereits ziemlich rascher Ortsbewegungen iahig sind.
Allein deutlich ausgebildet ist das Fluchten hier noch nicht;
und die Lokomotion dient fast ausschliessUch dem Nahrungs-
erwerb und der Liebeswerbung, d. h. dem Aufsuchen eines
Individuums zur Verschmelzung (Wimperinfusorien); wie denn
überhaupt das expansive Prinzip, insbesondere die Bewegungen
zur Nahrungssuche sich früher entwickeln als die Schutz-
bewegungen. So viel ich auch die Bewegungen der Wimper-
infusorien beobachtet habe, ist es mir doch nie vorgekommen,
Zur £ntwickeluDg der Wiliensäusserongen im Thierreich. 297
ein Flächten zu bemerken. Engelmann ^) beobachtete^ wie
eine Knospe eine grosse VorticeUe offenbar zum Zwecke der
Verschmelzung verfolgte. ^Eine freischwimmende Knospe kreuzte
die Bahn einer mit grosser Geschwindigkeit durch den Tropfen
jagenden grossen VorticeUe, die auf die gewöhnliche Weise
ihren Stiel verlassen hatte. Im Augenblicke der Begegnung —
Benthrung fand inzwischen durchaus nicht statt — änderte die
Knospe plötzlich ihre Richtung und folgte der VorticeUe mit
sehr grosser Geschwindigkeit Es entwickelte sich eine förm-
liche Jagd, die etwa fänf Sekunden dauerte. Die Knospe blieb
während dieser Zeit nur etwa Vis ™™ hinter der VorticeUe,
holte sie jedoch nicht ein, sondern verlor sie, als dieselbe eine
plötzliche Seitenschwenkung machte. Hierauf setzte die Knospe
mit der anfanglichen geringeren Geschwindigkeit ihren eigenen
Weg forL" Nun ist aber ti'otz dieser Verfolgung noch nicht
gesagt, dass die VorticeUe, die schon vor der Begegnung eine
grosse Geschwindigkeit gehabt hat und diese Geschwindigkeit
nicht verändert zu haben scheint, vor der Knospe geflohen
wäre. Letzteres ist vielmehr höchst unwahrscheinlich.
Auch bei den Coelenteraten ist ein Fliehen noch nicht
deutUch zu erkennen. Ich habe nie beobachtet, dass eine
Qualle auf eine unangenehme Berührung hin ihre Schwimm-
geschwindigkeit zur Flucht vergrössert hätte. Wenn ich da-
gegen den Golf von Neapel befuhr, so ist es mir öfter vor-
gekommen, dass ich eine Berog (RippenquaUe) dicht an der
Oberfläche bemerkte, die aber bei Annäherung der Barke sehr
bald in die Tiefe verschwand und meine Hoffnung, sie schöpfen
zu können^ zu nichte machte. Da nun schon die Actinien eine
Lichtunterscheidung deutlich zu erkennen geben dadurch, dass
sie in einem Zimmeraquarium immer die dunkelsten Winkel
desselben aufsuchen; und da die SchirmquaUen sogar schon
deutUche Augenanlagen besitzen, so ist auch wohl anzunehmen,
dass die Rippenquallen den starken Schatten, welchen eine Barke
verursacht, von der starken Lichteinwirkung aus der Um-
*) Engelmann, Th. W.: „Ueber Entwickelung und Fort-
pflanzung von Infusorien". Morph. Jahrb. von Gegenbaur 1876.
298 ^* H- Schueider:
gebung unterscheiden, mögen sie nun Lichtempfindungen haben
oder eine Wärmedifferenz spüren; und es ist auch nicht un*
wahrscheinlich, dass sie diesen Schatten fliehen^ soweit ^ie es
vermögen. So mag also bei diesen Thieren ein Anfang zum
Flüchten vorhanden sein. Allein ganz deutlich ist dasselbe erst
bei den Echinodermen , besonders bei den Ophiuren aus*
gebildet. Schon an den Echiniden und Ästenden kann man
leicht bemerken, dass, wenn man sie auf irgend einer Seite
beunruhigt, sie sich nach der entgegengesetzten Seite bewegen^
wenn sie dazu auch ihre anfangliche Lokomotionsrichtung än-
dern müssen. Ich habe dieses Experiment gar oft mit Erfolg
gemacht. Attakirt mau aber einen recht gesunden Ophiuren,
so greift er mit seinen Armen weit aus und weiss sich den
Verfolgungen sehr geschickt und rasch zu entziehen, wol)ei er
so oft seine Fluchtrichtung ändert, so oft man ihn von einer
andern Seile angreift. Am besten ist es zur Beurlheilung solcher
Bewegungen, wenn man die Thiere nicht nur in einem Aqua-
rium, sondern in ihrer Freiheit im Meere beobachten kann,
wozu ich oft Gelegenheit hatte. An Kreta's Nordküste, zwischen
der Stadt Kanea und dem Dorfe Khalepa, ist an einer Stelle
der aus rissigem, löcherigem Kalkfelsen bestehende Meeresgrund
sehr flach, so dass man dort die in den Höhlungen versleckten
Thiere mit den Händen nehmen kann. Die Kretenser halten
an diesem Orte, der reich an Thieren ist, und an dem ich
fast alle Thiere, die ich damals für das Jenenser Museum
sammelte, gefunden und gefangen habe, ihre Fastenmahlzeiten
an lebenden Meeresfrüchten. Und hier habe ich gar oft die
mannigfachsten Fluchtversuche der verschiedensten Thiere und
auch der Ophiuren beobachten können. Letztere suchen nicht
nur einfach zu fliehen, sondern auch ein Versteck aufzufinden,
in welches sie sich so weit wie mögUch zurückziehen. Als ich
einen ganz unbeschädigten grossen Ophiuren in ein grosses
Glas that, musste ich mich sehr beeilen, dasselbe zu bedecken,
um den Schlangenstern an der Flucht zu hindern. Er richtete
sich auf zweien seiner Arme so hoch in die Höhe, dass diese
ganz gestreckt waren und nur deren Spitzen noch den Boden
Zur Entwickelung der WillensfiusBerangen im Thierreich. 299
berührten; und zu gleicher Zeit streckte er die übrigen Arme
nach der Oeffnung des Glases. Ich ging dann ans Ufer und
Hess ihn absichtlich aus dem Glase entkommen. In weniger als
zehn Sekunden hatte er sich aus demselben herausgearbeitet^
eilte, auf dem Boden angekommen, sofort dem Meere zu und
versteckte sich dort in einer Höhlung. Er unterschied also nicht
nur die verschiedenen Richtungen, welche ihm Gefahr brachten
und nach welchen er sich retten konnte, sondern unterschied
auch den unfreiwilligen, ihn nicht bergenden Aufenthaltsort von
einem freiwilligen, die Oeffnung des Glases von diesem selbst»
das Meer (in seiner Weise) vom Land und das sichere Ver-
steck von einem offenen Platz. Hier haben wir zum ersten-
mal in der Thierreihe, wenn wir die Echinodermen unter die
Wärmer stellen, ein deutlich ausgebildetes Flüchten. »
Wie kommt nun die Differenzirung desselben aus dem
allgemeinen Contractionstriebe zu Stande?
Wie oben ausgeführt worden ist, hat schon bei den nieder-
sten Thieren das Zusammenziehen des ganzen Körpers den
äusseren Effect des Zurückziehens. Wenn sich etwa ein mit
seinem hinteren Körperende angehefteter, lang ausgestreckter
Slentor zusammenzieht^ so entfernt sich der umfangreichere
vordere Körpertheil beträchtlich vom Ort der Gefahr. Bei den
Ophiuren hat der Contraclionstrieb immer den Effect des
Zurück- resp. Anziehens der Arme. Dieses Anziehen ist aber
das eine Endglied resp. Anfangsglied der Lokomotionskette. Die
Ortsbewegung erfolgt nämlich in der Weise, dass die angezo-
genen Arme sich einstemmen und durch ein Strecken den
Körper fortschieben; während zugleich die Arme der entgegen-
gesetzten Seite durch Ausstrecken^ Anlfiammern und Zusammen-
resp. Anziehen den Körper nach vorne ziehen helfen. Da nun
die Ollsbewegungen bei den Thieren wie beim Menschen immer
gewohnheilsmässig erfolgen, so dass also ein erster Impuls stets
genügt, um eine ganze Kette von Bewegungen auszulösen, so
ist klar, dass nach einem Anziehen der Schlangensternarme der
nächste Act, das Ausstrecken und damit das Fortschieben er-
folgen kann, ohne dass ein besonderer Trieb zum ersten hin-
300 Gr. H. Schneider:
zukommt — Die Lokomotion selbst ist auf keinen Fall aus
dem Fluchttrieb^ sondern aus dem Nahrungstrieb, und zwar aus
dem Ausstrecken entstanden, indem das Thier, nachdem es sich
nicht weiter ausstrecken konnte, wahrscheinlich den Trieb be-
kommen hat, den hinteren Körpertheil nachzuziehen. In dieser
Weise erfolgt ja die Lokomotion zur Nahrungssuche schon bei
den Rhizopoden, ja bei den Amoeben und Moneren, bei denen
ein Flüchten noch nicht zu beobachten ist. Die nun einmal
entstandene Lokomotionsföhigkeit bildet aber auf jeden Fall
eine Prädisposition zum Flüchten. Der Verlauf der Lokomotion
ist ein abwechselndes Ausstrecken und Zusammenziehen bei
den Ophiuren sowohl, wie auch bei den Würmern. Das Aus-
strecken auf Grund des Nahrungstriebes ist das eine Anfangs-
glied der Kette, das Zusammenziehen auf Grund des Schutz-
triebes ist das andere. Man kann diese Verhältnisse bei Würmern
fast noch besser beobachten als bei den Ophiuren. Die ganze
Lokomotion der meisten Würmer besteht in einem Ausstrecken
des einen und Nachziehen des andern resp. Nachziehen des
einen und Ausstrecken des anderen Theiles. Auf das Aus-
strecken erfolgt ein Nachziehen und auf dieses gewohnheits-
gemäss wieder ein Ausstrecken. Zieht sich nun ein Wurm auf
der attakirten Seite zusammen, so ist damit der Anfang zur
gewohnten Lokomotion gegeben, es erfolgt gewohnheitsgemäss
ein Ausstrecken. Der physiologische Verlauf der Lokomotion
ist bei der Nahrungssuche derselbe als bei der Flucht; aber
der Anfang derselben ist je nach dem psychologischen An-
stoss hierzu in jedem Fall ein anderer, wie ich das so oft an
Echinodermen und Würmern beobachtet habe, und was ohne
Schwierigkeit zu beobachten ist Bei der Nahrungssuche
beginnt die Lokomotion immer mit dem Aus-
strecken der einen Seite, falls diese nicht in der
Ruhelage schon ausgestreckt war; beim Flüchten
dagegen beginnt die Lokomotion stets mit einem
Zusammenziehen des einen Theile«. Im ersten Falle
giebt der Nahrungstrieb, im zweiten Falle der Schutz- resp.
Contractionstrieb den Impuls zur Auslösung der Bewegungskette.
Zur Eutwickelung der Willensäusaerungen im Thierreich. 301
Hiernach kann also auf Grund des Contraclionstriebes,
welcher eine Contraction mit dem Effect des Zurückziehens
vom Ort der Gefahr hervorruft, ein Flüchten entstehen, ohne
dass noch ein Fluchttrieb in irgend welchem Grade entwickelt ist.
Wie sich aber aus dem ursprüngUchen einfachen Expan-
sronsti*ieb nach und nach der Lokomotionstrieb zur Nahrungs-
suche differenzirt; so kann nun, besonders da die Lokomotions-
tahigkeit als Prädisposition zum Flüchten bereits vorhanden ist,
aus dem allgemeinen Contractionstrieb mit dem Effect des Zu-
rückziehens, nachdem sehr oft ein Flüchten auf eine Con-
traction gewohnheitsgemäss gefolgt ist, leicht ein besonderer
Fluchttrieb entstehen.
Mit der Lokomotion zur Nahrungssuche geht nothwendig
die Ausbildung einer Unterscheidung verschiedener Richtungen,
d. h. eine Unterscheidung der angenehmen (in welcher sich das
Nahrungsobject befindet) von der relativ weniger angenehmen
Richtung Hand in Hand; ist einmal diese Unterscheidung vor-
handen, dann wird auch leicht die Richtung, von welcher die
Gefahr kommt, von der entgegengesetzten unterschieden. Und
ist nun die Lokomotionsfahigkeit vorhanden, und existirt schon
ein Trieb sich nach einem Nahrungsobject, also in der relativ
angenehmeren Richtung zu bewegen, dann ist zur Entstehung
des Triebes, sich bei Angriffen von einer Seite nach der ent-
gegengesetzten, relativ angenehmeren Seite zu bewegen, nur ein
kleiner Schritt. Bei den Echinodermen ist nun eine Unter-
scheidung der relativ angenehmeren Richtung von der weniger
angenehmen und ein deutlich differenzirter Fluchttrieb, der bis
zu einem gewissen Grade vom Contractionstrieb unabhängig ist,
vorhanden Man kann einen Ophiuren angreifen von welcher
Seite man will, er bewegt sich immer nach der entgegen-
gesetzten Seite.
Nun habe ich bei den Ophiuren wie bei vielen Würmern
und Insektenlarven sehr oft folgende Thatsache constatiren
können, die sich ohne Schwierigkeit beobachten lässt.
Berührt man eines der genannten Thiere nur leise auf
302 G. H. Schneider:
der einen Seite, so erfolgt auf derselben nur eine Contraction,
noch kein Flüchten; reizt man das Thier dagegen sehr stark,
so erfolgt die Contraction und sofort darauf die- Fluchtbewegung.
Der leise Reiz vermag also nicht eine ganze Lokomotionskette
auszulösen, was durch den stärkeren dagegen immer geschieht.
Die sehr intensive Contraction schliesst also den Trieb zum
Ausstrecken und somit zum Flüchten in sich, die weniger
intensive nicht. Demnach beruht auch die Differen-
zirung des Fluchttriebes auf einer graduellen
Abstufung des Contractionstriebes. Und zwar
tritt das Flüchten mehr oder weniger an Stelle
der allgemeinen Contraction, so dass, während z. B.
bei den Schnecken auf einen leisen Reiz hin eine partielle Con-
traction, auf einen starken Reiz hin eine allgemeine Contrac-
tion erfolgt, bei Echinodermen , Würmern und Insekten-
larven auf einen schwachen Reiz hin ebenfalls eine partielle
Contraction, auf einen starken Reiz dagegen ein Flüchten erfolgt.
Dieses, letztere Verhältniss bleibt bei allen höhe-
ren Thieren bestehen. Bei allen Arthropoden und Verte-
braten folgt auf eine leise unangenehme Berührung eines
zurück- resp. anziehbaren Körpertheiles nur dieses Anziehen,
die partielle Contraction, auf eine unangenehme Berührung von
grosser Intensität am gleichen oder an einem anderen Theile
dagegen stets ein Flüchten. Wird ein ruhender Hund oder
eine Katze nur leise an einem Fusse oder am Schwänze beun-
ruhigt, so wird der betreffende Körpertheil einfach angezogen,
wird das Thier dagegen in einen dieser Körpertheile stark ge-
kneipt^ so springt es stets auf und flieht; und zwar erfolgt
sowohl das einfache Anziehen des Gliedes, wie das Aufspringen
und Fliehen immer so rasch auf den Reiz, dass die Entstehung
klarer Vorstellungen in der Zeit, die zwischen dem Reiz und der
Bewegung liegt, nicht gut denkbar ist, und man annehmen muss,
dass bei diesen Erscheinungen hauptsächlich oder ausschliesslich
der ursprüngliche Contractionstrieb und die ursprüngliche Be-
ziehung desselben zum Fluchttrieb zur Geltung kommt.
Die Beziehung des Fluchttriebes zum ursprünglichen par-
Zur Entwickelung der Willensäasserungen im Thi erreich. 303
tiellen Contraotionstrieb (d. h. der eine partielle Contraction
verursacht und nicht ein Trieb, der selbst nur partiell ist)
zeigt sich noch in einer anderen Thatsache, in der nämlich,
dass, sobald ein partieller Contractionstrieb nicht befriedigt wird
und nicht durch eine partielle Contraction befriedigt werden
kann, aus diesem Trieb der Fruchttrieb entsteht. Wenn man, wie
das leicht zu constaliren ist, ein ruhendes Säugethier auch nur
leise an einem Körpertheil reizt, den es nicht zurück- resp.
anziehen kann (Bauch, Rucken, Aftergegend), so springt es viel
leichter auf und flieht, als wenn man es mit gleicher Intensität
an einem Theil reizt^ den es zurückziehen kann (Fuss, Schwanz^
Kopf). Im letzten Falle findet also der geringe Contractions-
trieb durch das Anziehen des Gliedes Befriedigung, die aus-
gelöste Kraft wird dadurch verbraucht; im ersten Falle dagegen
fehlt eine derartige Befriedigung, ein Verbrauch der ausgelösten
Kraft durch eine einfache Contraction, und so steigert sich der
Contractionstrieb zum Fluchttrieb.
Wie der Fluchttrieb an Stelle des intensiveren Contractions-
triebes tritt, das zeigt sich weiter sehr auffallend in der Thatsache,
dass bei den Thieren, bei welchen ein Fliehen zuerst ausgebildet
ist (Echinodermen und Würmer), der intensive Contractionstrieb
in einer allgemeinen Contraction nicht zur Geltung kommt und
nicht vorhanden zu sein scheint. Bei den Würmern, welche
nicht fliehen (Röhrenwürmer), ist die allgemeine Contraction die
vorherrschende Schutzbewegung, bei denjenigen Würmern da-
gegen, welche auf einen intensiveren unangenehmen Reiz zu
fliehen suchen, fehlt die Gewohnheit den ganzen Körper zu-
sammen zu ziehen. Dieselbe fehlt auch bei denjenigen Echino-
dermen, welche zu fliehen gewohnt sind (Ophiuren, Comatula,
Echiniden, Ästenden), während sie wieder sehr ausgeprägt bei
denjenigen ist, welche nicht fliehen (Holothuria tubulosa, Pentacta).
Und zwar sind nicht nur die morphologischen Organi-
sationsverhältnisse Ursache dieser Verschiedenheit; denn es
könnten sich, wenn ein intensiver allgemeiner Contractionstrieb
z. B. bei den Echinodermen vorhanden wäre, doch sämmtliche
Weichtheile, also zunächst alle Ambulacralfüsschen auf einmal
304 Gr. H. Schneider:
contrahiren; das habe ich iadessen nie beobachtet, immer ist es
nur ein Theil derselben. Ich habe auch nie beobachtet, dass
ein Schiangenslern oder eine Comatula auf eine Berührung hin
sämmtliche Arme auf einmal anzöge, es sind immer nur einige
oder ist nur ein einziger.
Aber auch bei allen höheren Thieren tritt der Fluchttrieb
sehr oft an Stelle des allgemeinen Contractionstriebes und
umgekehrt. Solche Thiere, i^elche nicht gewohnt . sind gleich
zu flächten, wie besonders die katzenartigen Raubthiere^ ducken
sich; und diejenigen, welche nicht gewohnt sind sich zu ducken,
suchen stets ihr Heil in der Flucht, wie das die Hufthiere am
besten zeigen. Wie der Flucbttrieb in den allgemeinen Con-
tractionstrieb übergeht; zeigt auch die ganz allgemein verbreitete
Gewohnheit der Thiere sich^ sobald ihnen die Flucht ab-
geschnitten wird, stets zu ducken. Nach all diesen Thatsachen
ist die unmittelbare Beziehung des Fluchttriebes zum ursprüng-
lichen Contractionstrieb und die Diiferenzirung des ersteren
aus letzterem wohl klar. —
Somit glaube ich nun, soweit die Forschung auf diesem
Gebiet eine exacte überhaupt sein kann, folgende Thatsachen
festgestellt zu haben:
1) Die so verschiedenen Schutzbewegungen der niederen
Thiere, wie das Zurückziehen vom Ort der Geiahr, das Ein*
resp. Anziehen einzelner Körpertheile, insbesondere der feineren
Organe, das Auspressen von Vertheidigungsmitteln, das festere
Anziehen an die Unterlage, das Zurückziehen in schätzende
Hüllen und das Versclüiessen derselben sind alles nur durch
die in der Selection erworbene morphologische Organisation
bedingte äussere Effecte eines und desselben Contractionstriebes,
einer und derselben Contraction.
2) Die Contraction des ganzen Körpers ist diejenige Schulz-
bewegung, welche in der phylogenetischen Entwickelungsreihe
zuerst entsteht.
3) Die einfache Contraction des ganzen Körpers bildet bei
den niedersten Thieren überhaupt die einzige Schutzbewegung.
4) Die Contraction des ganzen Körpers und der Trieb
Zur Entwickelung der Willensäusserungen im Thierreich. 305
hierzu findet sich von den Protozoen bis zum Menschen bei
allen Thieren in irgend einer Form vor.
5) Der Contractionstrieb dififerenzirt sich auf Grund einer
entstandenen graduellen Abstufung im Sinne der Subordination
in einen stärkeren zur Contractiou des ganzen Körpers und in
einen schwächeren zur Contraction einzelner Körpertheile ; und
^war ist dieser zweifache Contractionstrieb zuerst deutlich bei
den Schnecken, Echinodermen und Wärmern zu beobachten,
bei allen höheren Thieren aber noch weit mehr als dort aus-
geprägt.
6) Bei den Arthropoden ist der ursprüngliche Contractions-
trieb in gewissem Grade ein zweckbewusster.
7) Bei allen Wirbelthieren findet sich der ursprüngliche
Contractionstrieb dififerenzirt in ein zweckbewusstes Wollen zum
Zusammenziehen und in ein unwiUkührliches ^Zusammen-
fahren" ; das letztere ist das Rudiment vom ursprüngUchen
Contractionstrieb, welcher vom bewussten Wollen nach und nach
zurückgedrängt worden ist. Anlange zu dieser DifiTerenzirung
finden sich aber auch schon bei den Cephalopoden und den
höheren Crustaceen.
8) Der Trieb zum Bedecken difiTerenzirt sich direkt aus
dem ursprünglichen Contractionstrieb; und zwar ist diese
Diiferenzirung zuerst bei den Echiniden zu beobachten.
9) Der Fluchttrieb difiTerenzirt sich ebenfalls direkt aus
dem ursprünglichen Contractionstrieb und zwar bei den Echino-
dermen und Würmern; diese DifiTerenzirung beruht auch auf
einer graduellen Abstufung des Contractionstriebes und zwar in
der Weise, dass der Fluchttrieb an Stelle des stärkeren Con-
tractionstriebes tritt.
Hiernach ist der Trieb zur Contraction des ganzen Körpers
als das Fundament aller Triebe und alles zweckbewussten
Wollens zum Selbstschutz zu betrachten.
Beifolgende Tafel, den hypothetischen Stammbaum der
wichtigsten Schutzgewohnheiten darstellend, giebt eine Ueber-
sicht der verschiedenen unbewussten EfiTecte des ursprünglichen
Contractionstriebes und der direkten wie der wichtigsten in-
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. III. 3. 20
306 G. H. Schneider: Z. Entw. d. WiUensäusserg. im Thierrch.
direkten Differenzirungen aus demselben. Die punctirten Linien
bedeuten WiUensdifFerenzirungen , die in vorliegender Arbeit
nicht bebandelt sind, und welche ich vieileicht später auch an
dieser Stelle besprechen werde; die in vorliegender Arbeit er-
örterten Effecte und Differenzirongsprodukte des Contractions-
triebes sind durch die vollen Linien angedeutet, und zwar ist:
a s= der ursprungliche Contraclionstrieb,
a =^ das zweckbewusste Zusammenziehen als Ducken und
Kauern,
6 = der ursprüngliche Trieb zur Contraclion einzelner Tbeile,
}) = das zweckbewusste Anziehen einzelner Thöile,
c = das Bedecken,
d = das Flüchten,
e == das Anfertigen von Hüllen, ^
f = das Verstecken,
g = das Vergraben,
Ä = das willkührliche Vertheidigen,
1 a=s der Effect des Znrückzieheos v0m Ort der Gefahr,
2 = „ „ „ Einziehens feinerer Körper Iheile,
3 = „ „ ^ Zurückziehens in schützende HtlUen,
4 == ^ „ „ Auspres»en$'vbn Vertheidigung$mitteln,
5 = „ „ « festeren Ansehens an die Unterlage.
Um diesen Ueberblick auf einei* Tafel überhaupt darstellen
zu können , musste ich die verschiedenen Thiertypen in eine
aufsteigende Reihe einordnen, wodi;ä*ch die Darstellung insofern
eine unvollkommene ist, als nach Häckel u. a. bedeutenden
Zoologen sowohl die Echinodermen. wie die Mollusken, Arthro-
poden und Vertebraten ihren Urspifung höchst wahrscheinUch
im Würmerstamm genommen haben. Zur vollkommneren Dar-
stellung müsste man eben für jeden einzelnen Thiertypus einen
besonderen Stammbaum machen.
Leipzig. G. H. Schneider.
Arfftr^oäe»
Eckmo-
derme»
Zoophyten
Das Verhältniss der Grefühle zu den VorstellungeD
und die Frage nach dem psychischen
6-rundprocesse.
Im zweiten ilefle dieses Jahrgangs der Vierteljahräschrifl
hat Herr Prof. Wundt über den bezeichneten Gegenstand eine
Abhandlung veröffentlicht, für welche unsere Wissenschaft ihm
zu vollem Danke verpflichtet ist, weil er darin ein Problem
ans Licht gezogen und zur Discussion gestellt hat, das bisher
in wahrhaft unbegreiflicher Gleichgültigkeit und Theilnahme-
losigkeit völlig vernachlässigt und achtlos unter die Füsse ge-
treten werden zu sollen schien. Man hatte ja mit der nie oft
genug zu wiederholenden Arbeit, die Kritik der reinen Ver-
nunft immer wieder von Neuem zu kritisiren, zu commentiren^
zu glossiren und zu emendiren so alle Hände voll zu thun^
dass man für ein psychologisches Problem, auch wenn das-
selbe zufällig die wichtigsten PrincipienfVagen in sich schloss^
und selbst die sonst so hoch bevorzugte Erkenntnisstheorie
innig berührte — es genügte, dass es ausserhalb des engen
Horizonts unsrer Neokantianer lag — natürlich nicht eine Minute
Zeit und nicht einen Gran von Interesse übrig hatte. Darum
verdient es — ich wiederhole es — freudige Anerkennung^
wenn ein Mann von so hohem allgemeinem und so wohl ver-
dientem Forscherruhme, als er das Haupt unsrer empiristisch-
physiologischen Schule unbestritten ist, die Frage nach dem
Verhältniss der psychischen Vermögen oder Processe, eine
Frage, deren grundlegende Wichtigkeit nicht nur für die ge-
sammte Psychologie, sondern für alle philosophiselien Probleme
Das Yerhältniss der Gefühle zu den Vorstellungen etc. 309
für jeden JJnbefangenen auf der Hand liegt; nachdem sie lange
unbeachtet geblieben, von Neuem auf die Tagesordnung ge-
bracht und in so eingehender Weise die Debatte darüber er-
öffnet hat.
Mein persönlicher Antheil an der dem Herrn Prof. W.
gebührenden Dankbarkeit muss freilich — zu meinem lebhaften
Bedauern mit dieser allgemeinen Anerkennung sein Ende
«iTeichen. Denn die ganze Art und Weise, wie es demselben
gefallen bat, sich seiner Aufgabe zu entledigen, erscheint nicht
nur für meine Person höchst verletzend, sondern auch die
Sache selbst, um die es sich handelt, eher yerwirrend als
klärend, so dass ich eben sowohl in persönlichem als in all-
gemein sachlichem Interesse mich zur Abwehr und Klarstellung
gedrungen fühlen muss.
Um das minder angenehme persönliche Geschäft vorweg
zu nehmen, so kann und will ich nicht glauben ; dass Herr
Prof. W. beabsichtigt hat, meine wissenschaftliche Stellung im
Oanzen zu erschüttern oder, wie man sagt, mich wissenschafti-
lieh zu vernichten. Die Beziehungen, in die ich zu Herrn
Prof. W. zu treten die Ehre gehabt und die obwohl seltene,
doch nur freundliche — meinerseits durchaus hochachtungs-
YoUe waren, geben einer solchen Annahme keinen Raum. Aber
thatsächlich läuft es doch auf nicht viel weniger, als auf ein
solches litterarisches Todtmachen hinaus, wenn mir nicht nur
unvorsichtiger Gebrauch physiologisch bedenklicher Hypothesen
(a. a. 0. S. 137) und vorgefasster Meinungen an Stelle der
Beweise (S. 132) und das Hineininterpretiren von Hypothesen in
<lie Erscheinungen (ebenda) vorgeworfen, sondern auch meine
Lehre von dem Primat der Gefühle als die mich beherrschende
^,Apperceptionsmasse" in Herbart'schem Sinne bezeichnet wird,
„welche sich Alles assimilirt, was sie vorfindet" (a. a, 0. S. 134,
warum nicht lieber gleich : Steckenpferd und fixe Idee?), wenn
«8 an derselben Stelle heisst:^„ja, man kann wohl sagen, ein
wesentlicher Zweck des Werkes besteht in dieser Beweisführung,'*
d. h. in der Beibringung „angeblicher Beweise*' für die Priori-
tät der Gefühle; wenn der Leser gewarnt wird vor der „be-
310 A. Horwic«:
Btedienden Wirkung'' der fesselnden Schilderung ^er in den
Verlauf des Denkens hineininterpretirten Gefdhle (S. 134. 135)^
wenn mir geradezu imputirt wird, etwas Nichtseiendes zu er-
finden, bloss um dem Zugestandniss einer unbequemen That-
Sache auszuweichen.
Das Ueberrascbende an diesen Verdammungsurtheilen ist
selbstverständlich nicht die, wenn auch noch so energische Be*-
streitung der von mir vertretenen Meinung von der Priorität
des Gefühles. Meinungsverschiedenheit bildet auf philosophi-
schem Gebiet so sehr die Regel und^ dass Jemand sich durch
die Deduktionen des Andern überzeugen lässt, die so gan^
verschwindende oder wohl gar nicht vorkommende Ausnahme,,
wie es wohl selbst auf religiösem Gebiete kaum der Fall sein
dürfte, so dass ich natürlich mich um so weniger wundern
kann, mit meiner Meinung auf Zweifel und Widerspruch zu
stossen, als ich mir sehr wohl bewusst bin ubd daraus auch
nie den mindesten Hehl gemacht habe, wie sehr dieselbe mit
den verbreitetsten psychologischen Anschauungen und zumal
mit den vulgären Auffassungen des alltäglichen Lebens in
Widerspruch steht. Eine Lehre, die so geeignet ist, nicht nur
die gesammte wissenschaftliche Psychologie von Grund aus um-
zugestalten, sondern auch auf alle von ihr ressorlirenden theo-
retischen und praktischen Fächer — und das dürften leicht
die wichtigsten sein — das Licht neuer tieferer Begründung
fallen zu lassen: eine solche Lehre muss sich allerdings auf
Widerspruch und Widerstand aller Art — aktiven und passiven^
erbitterten, vornehm abfertigenden, kühl ignorirenden gefasst
machen und sie hat ihn ja auch in allen diesen Tonarten und
Klangfarben vollauf erfahren. Worauf ich aber nicht gefasst
sein konnte, das ist diese, von einer, wie ich bisher glauben
musste — verwandten Seite sich erhebende Feindseligkeit, die
den Gegner nicht sowohl bestreitet, als verdächtigt, ihm jeden
wissenschaftlichen Credit abschneidet und ihn sans fa^on zum
hohlen Rabulisten und gewissenlosen, nur auf die Durchsetzung
seines Stückes bedachten Sophisten herabwürdigt.
Herr Professor Wundt scheint sich meinen Entwicklungs-
Das Yerhältniss der Gefühle zu den VorstelluDgen etc. 311 *
gang so vorziiust^lleD, als häUe ich eines schönen Tages plötz-
lich einen Anfall der JBxen Idee von der Priorität der Gefühle
hekonunen und seitdem unier dem Zwange derselben mich ge-
nöthigt gesdben, die Manege-Bewegung meiner psychologischen
Analysen zu machen. Mein ganzes Buch soll ich zu dem
Zwecke, geschrieben haben, die Priorität der Gefühle zu be-
weisen und alle Erscheinungen soU ich mir in erster Linie
darauf ansehen» ob sie. auch niciit den Trab meines Stecken-
pferdes behindern. Ich möchte wirklich wissen, was ich da-
von haben sollte, mir, wie Herr Prof. W.^ es sich denkt, zuerst
eine Meinung unausrottbar einzubilden und mich dann an die Psy-
chologie zu machen, um zu sehen, wie ich mit ihrer Hülfe
dieselbe v^rtheidigen könne. An und für sich könnte es mir
doch wirklich ziemlich gleichviel gellen, ob die Sache sich so
oder anders verbalte. Was sollte ich davon haben, vor unter-
suchter Sache mir über, psychische Fragen Meinungen voraus
zu fassen, um hinterdrein nach Beweisen für dieselben zu
suchen. Statt solcher Krahwinkelei ist es doch wohl glaub-
licher, dassich es gemacht haben werde, wie jeder verstandige
und ehrliche Mensch, nemlich zuerst untersuchen und dann
Meinungen schöpfen. ^
Herr Prof. W. hat auch nicht nölhig, sich bei mir um
unausgesprochene entscheidende Gründe mit Yermuthungen ab-
zuquälen, wie er S. 137 tbut, ich gebe überall meine Unter-
suchungen, so wie ich sie geführt habe^ und gerade um dem
Leser auf Schritt und Tritt die Coutrole in die Hand zu geben,
habe ich darauf gebalten, meine Forschungen im Wesentlichen
in statu nascendi vorzulegen, worüber mir erst neuerdings
noch von französischen Kritikern unangenehme Dinge gesagt
gtnd. Wenn Herr Prof. W. noch der ausdrücklichen Versiche-
rung bedarf, so soll sie ihm hiermit ertbellt sein —- ich hoife,
dass sie bei meinen übrigen Lesern überflüssig . sein wird —
dass ich wirklich keinen andern Zweck, als die Erforschung
der Wahrheit auf psychischem Gebiete verfolge und dass ich
die mehrgenannte Theorie nicht desshalb verfechte, weil ich in
unbegreiflicher Laune an ihr meinen Narren gefressen, sondern
312 A. Horwicz; \
weil ich sie nddi reiflicher Prüfung aller in Betracht kommen-
den Momente für am Meisten geeignet halte, zu einer wissen-
schaftlichen Auffassung vom Seelenleben zu führen und das
bisher immer noch auf diesem Gebiete herrschende Chaos
durch einander gährender Meinungen einiger massen zu ordnen
und verstandlich zu machen. Und dass sie das in der That
leistet, dass sie auf den Rang einer legalen wissenschaftlichen
Theorie Anspruch machen darf, das will ich dem von so ge-
wichtiger Seite erhobenen Angriff gegenüber in aller Kürze
nachweisen, und zwar in dreifacher Richtung:
1. apologetisch, indem ich gegenüber dem Vorwurfe,
willkürliche Meinungen in die Thatsachen hinein zu interpre-
tiren, meine Methode und mein wirkliches Verfahren in der
Analyse kurz beleuchte;
2. physiologisch, indem ich zunächst gleichfalls ver-
theidigungsweise den Vorwurf des Gebrauchs physiologisch be-
denklicher Hypothesen abwehre, sodann aber auch positiv den
physiologischen Befund darlege und die für unser Problem
aus demselben sich ergebenden Schlüsse ableite;
3. kritisch, indem ich die bisherige . Geschichte unseres
Problems und den neuesten Lösungsversuch des H^rrn Pro-
fessors Wundt erörtere und daran zeige, dass meine Theorie,
weit davon entfernt, die schwierigere und abstrusere zu sein, die
einfachste und ungezwungenste Erklärung der Thatsachen dar-
zubieten scheint.
I
Auch sonst tüchtigen Forschern begegnet es wohl, dass
sie sich, wie man das nennt, in Lieblingsmeinungen verrennen
oder festreiten, wie z. B. Lachmann in seine Heptaden-Theorie.
Was mir hier vorgeworfen wird, ist Schlimmeres, ist völliger
Mangel an wissenschaftUcbem Wahrheitsdrange und unbefangenem
Forschersinn. Denn wenn Herr Prof. W. S. 134 sagt, ich
hätte „den sonst in rühmenswerther Weise eingenommenen
Standpunkt unbefangener Prüfung verlassenes so- kann nach
und zwischen so vielen und entschiedenen Verdammungen der
Das Verhältniss der Gefühle zu den Vorstellungen etc. 313
stärksten Art, von denen ich nur eine kleine Blumenlese gab,
das eine gelegentliche Anerkenntniss eigentlich gar keinen Sinn
mehr oder höchstens den einer blanken Höflichkeitsphrase be-
anspruchen. Ist es nun an dem, dass ich die psychischen Er-
scheinungen nicht sowohl analysire, als vielmehr, was mir gefällt,
in sie hinein interpretire ? Dass ich die Lehre von der Priorität der
Gefühle fix und fertig mitbringe, statt der Beweise vorgefasste
Meinungen beibringe und mit widersprechenden Thalsachen
Versteck spiele? Es mag ja dem Menschen gut sein, wenn er
sich dann und wann vor die Frage seines Werthes oder Un-
werthes gestellt und zu energischer Selbstprüfung aufgefordert
wird. Unterziehen wir uns derselben in Geduld.
Zunächst eine Kleinigkeit. Herr Prof. W. hat entschieden
Unglück im Citiren. Wer, ohne mein Buch zu kennen, seine
Abhandlung best, muss glauben, dass die von Herrn Prof. W.
citirten Beweisstellen zugleich diejenigen seien, in denen ich
den Beweis der angefochtenen Behauptungen führe, während
dies in keinem einzigen FaJle zutrifft. Wenn er z. B. S. 135
für die Behauptung, „dass allem Appercipiren und Denken Ge-
fühle vorangehen", Psych. Anal. U, 1. S. 80 citirt, so findet
sich auf der angezogenen Seite kein Wort von der allegirten
Behauptung und noch viel weniger kann davon die Rede sein,
dass auf derselben der Beweis dafür gegeben werde^ sondern
der Leser befindet sich daselbst mitten im Zuge einer längeren
Argumentation, welche S. 67 beginnt und S. 99 endet, aber
auch noch mit den voraufgehenden und nachfolgenden Er-
örterungen aufs Engste zusammenhängt. „Gewiss," so fährt er
unmittelbar nach seinem schlagenden Citat fort, „man kann
„sich vorstellen, dass solche Fragen und Gefühle das Denken
„beherrschen, ja noch mehr, man kann sich in diese Vor-
„Stellung so hineindenken, dass man sich einbildet, das sei
„immer und überall der thatsächliche Verlauf unserer Gedanken.
„Und wer vermöchte den Gegenbeweis zu führen? Ich kann
„nur versichern, dass ich meinerseits — sofern ich nicht durch
„die fesselnden Schilderungen psychologischer Autoren prä-
„occupirt bin — von einer derartigen Fragelhäligkeit höchstens
314 ^* Horwicz:
^daun etwa$ merke, wenn die appercipirten Vor-
;y&le]luagen zu ftagenstlinden d>es Naclidenkens
j, gemacht werdea, nicht aber bei dem uAnuttoUbaren fie-
>,wii98twei*den der VorsteUuogen.^ Aber gerade, darum handelt
es sich. Der ganxe in Rede stehende Hauptabschnilt fuhrt den
Titel ^^Analyse les Deakens^S und die bezeichnete geistige
Thätigkeit des Nachdenkens bildet 4en Gegenstand
dieser Analyse, und wenn Herr Prof» W. von dieser Thaügkeii
zugiebt, daas sie sich in den erwähnten Fragen und Gefühlen
thatsachlich vollzieht, dann brauche ich meinerseits bloss* ooch
hinzuzusetzen: quod erat demonstrandum.
Auf S. 136 wird mir folgendes artige Sündenregister vor-
gebalten: ,Die Verbindung von Empfindung und Bewegung
^soU beweisen, dass der Bewegungstrieb oder (!) daa Muskel-
ngefuhl die ursprüngUehsie psychische Function sei^ (wer das
liest, könnte wirklich meinen, dass ich zwei so heterogene
Dinge, wie Bewegungstrieb und Huskelgefühl, confundirt habe,
was mir gar nicht einfällt; was ich an der von Herrn Prof. W.
gemeinten ) wenn auch nicht 4titirten Stelle — Ps. Anal, I,
S. 202 — nicht als Behauptung, sondern als ,,Vermuthuttg^'
hinstelle, ist, dass die innige Verbindung von Empfindung und
Bewegung das einfache Element der psychischen Processe bil-
den möge), „die Vei^bindung der Aufmerksamkeit mit Ge-
fühlen, dass die Perception auf Gefühlen beruhe^. (Wer das
41. Cap. Th. I S. 226—284 der Psyciiol. Anal, gelesen, wird
dasselbe in vorstehender Inhaltsan^be schwerUch wieder er-
kennen. Doch davon später.) „Die Wirksamkeit des Willens
„bei der Wiedererinnerung soll darthun, dass alle Reproduclion
„von Gefühlen ausgehe/^ (Hier findet ^ch das Citat Anal. I
S. 191 u. f., d. h. der Anfang des achten Buches „Empfindung
und Bewegung.^ Jedenfalls erfuhrt der Leset* nicht, an welcher
Stelle ich mich der angefochtenen Schlussfolgerung schuldig ge-
macht.) Der HeiT Prof. aber fährt siegreich fort: „Nun wer-
„den aber auf diese Folgerung dann wieder weitere Folge-
„rungen gebaut, für die nichts spricht, als eben die bestrittene
„Voraussetzung, auf die sie sich stützen : so z B. wenn H. be-
Das Verhältniss der Gefühle xn den Vorstellungen etc. 315
^bauptet, der Grad der Be^^sstheit der Vorstetlungen bäoge
„ab von dem Grade ihrer GeffihlsbetORung.^ (Hier wieder ein
CStat, und sogar eins, dad »tiinnit: ^^a. a. 0. I S. 259^. Denn
schlagen wir die angezogene Seite auf, so finden wir auf der-
selben allerdings obigen Sat2 , freilich mit dem Zusatz ,, w i e
bereits erwähn t'^, d. h. eine beüaufige Erinnerang* an den-
sdben, während der Beweis im vorhergehenden Capilel S. 254 «-58
andeutangsweise unter ausdrückUeher Hinweisung auf die Ana-
lyse der Reprodttction geführt wird), ^oder wenn er die For-
^derung aufsteUt nnd zu erfüllen trachtet, alle höheren Gefühle
^seien als Complicationen und Combinationen der einfachsten
„sinnlichen Gefühle aufzufassen/ (Hiezu ist Anal. U 2. S« 66
eitirt, wo dies ausdrücklkh und wiederholt als^Vermuthung''
bezeichnet wird, deren Yerification späterer Untersuchung vor-
behalten bleibt. „Diese wichtige Untei^suchung kann jedoch
^nicht allgemein geführt werden, da m5glichei*weise zwischen
„den einzdnen Gefuhisarten in dieser Hinsicht die allerbedeu-
„tendsten Unterschiede obwalten, sondern dieselbe muss spe-
„ciell, wenigstens für die Hauptgefuhlsarten, gefuhrt werden.^*
Dies ist denn nun anch bei den einzelnen I^ecial'-Gefühlsana-
lysen geschehen.)
Ich habe es als „Kleinigkeit'* bezeichnet und ich bebe es
nicht hervor, um meinem Herren Gegner einen Vorwurf zu
machen, sondern nur um den Lesern seiner Abhandlung zu
zeigen, dass ich es mir mit der Begründung meiner Theorien
nicht ganz so leicht mache, als Herr Prof. W. mit seinen Ci-
taten — glauben lassen könnte.
Aber nun zur Hauptsache: ist es wahr, dass ich für meine
Theorien statt der Gründe nur vorgefasste Meinungen gebe und
in die Erscheinungen hinein interpretirte Hypothesen, dass, um
es kurz und grob auszudrücken, meine ganzen Analysen nichts
weiter sind, als eine lange Kette von Ersehleichungen nnd Trug-
schlüssen? Ich glaube, es wird wenig psychologische Schrift-
steller geben, die von Anfang an und unablässig ängstlicher
darauf bedacht gewesen »nd, die allerdings auf keinem andern
Gebiete, als dem des Seelenlebens so nahe liegende Gefahr der
316 A. Horwicz:
Ersclileichung zu vermeiden. Meine Abhandlung zur „Metho-
dologie der Seelenlehre'* gipfelt in der Frage, wie diesem alier-
gefährlichsten Unkraut aus dem Wege zu gehen sei, und in den
„Analysen" treffe ich die umständlichsten Veranstaltungen, be-
ginne ich jede Analyse von vorne, so dass mir der Vorwurf
häufiger Wiederholungen nicht erspart geblieben ist , gehe ich
auf Schritt und Tritt mit der grössten, alle principiellen Ent-
' Scheidungen ans Ende der Untersuchung schiebenden Vorsicht
zu Werke, so dass seihst Herr Prof. W. mir das Zeugniss des
„sonst in rühmenswerther Weise eingenommenen Standpunktes
unbefangener Prüfung" nicht versagen zu dürfen glaubte,
wenngleich er Sorge zu tragen gewusst hat, diesem Anerkennt-
niss durch die erwähnten Vorwürfe jeden materiellen Werth
wieder zu nehmen. Nun, das menschliche Herz ist so wunder-
bar zur Selbsttäuschung geneigt, dass ich als Psychologe nur
sagen kann, möglich wäre es ja, dass ich trotz Alledem und
Alledem in die gröbsten und lächerlichsten Ersclileichungen
verfallen sei; ob sehr wahrscheinHch , mag eine andere Frage
sein, man mösste es denn wörtlich nehmen, was Minna von
Barnhelm von den Männern sagt, dass sie von den Tugenden
am meisten sprächen, die sie am wenigsten besitzen.
Herr Prof. W. befindet sich im frrthum, und zwar in
selbstverschuldetem Irrthura, wenn er meint, es sei ein wesent-
licher Zweck der Analysen, die ^^riorität der Gefühle zu be-
weisen. Was der Zweck der Analysen ist, habe ich im Vor-
wort zum Ersten Theil so unumwunden gesagt, dass ein be-
gründeter Zweifel darüber nicht möglich ist. „Meine Analysen
verfolgen Einen ganz bestimmten Zweck, den: alle Seelen-
processe auf Ein einfaches physisch-psychisches Grundelement
zurückzuführen.'^ Das ist mein Zweck von allem Anfang ge-
wesen und wird mir stets der Hauptgesichtspunkt sein. Was
die Priorität der Gefühle betrifft, so ist dieselbe nicht der lei-
tende Zweck, sondern das gefundene Resultat meiner Unter-
suchungen gewesen, ein Resultat^ das ich bis jetzt allen Grund
habe, für das richtige zu halten; ein Resultat, das bis jetzt noch
Niemand, auch Herr Prof. W. nicht, mit wirksamen Gründen
y
Das Verhältniss der Gefühle zu den Vorstellungen etc. 317
bekämpft hat, das ich aber ohne das mindeste Widerstreben
und sogar mit grosser intellectueller Befriedigung fallen lassen
werde> sobald mir etwas Anderes gezeigt wird^ für dessen Prio-
rität besseire Gründe sprechen, als ich sie für die Priorität der
Gefühle beigebracht habe.
Es ist ferner ein unbegreiflicher Irrthum und eine völlig
ungerechtfertigte Beschuldigung, wenn von meinem Verfahren
S. 134 gesagt wird, „dass der Verf. offenbar sogleich mit einer
„bestimmten vorgefassten Meinung an jede einzelne Analyse
„herantritt und sich fragt, in wiefern das Einzelne sich seiner
„Anschauung fügen will." Was Herr Prof. W. zur Begründung
dieser schweren Anklage beibringt, sind ausser einigen mehr
oder weniger geschmackvollen Wiederholungen und Variationen
derselben (wie „Apperceptionsmasse" und einbilden könne man
sich alles Mögliche) jene schlagenden Citate, die ich bereits
kivz beleuchtet habe, auf die ich hier aber zurückkommen
muss, um die Natur dieser Verdächtigung in ihrem vollen
Lichte erscheinen zu lassen.
Wer die Darstellung des Herrn Prof. auf S. 13^^ liest, ohne
die Psychol. Anal, zu kennen, muss wirkhch auf die Ver-
muthung kommen, alle die von ihm erwähnten Abschnitte
meines Buches beschäftigten sich mit weiter Nichts, als mit der
Priorität der Gefühle. Aber gleich das ganze Achte Buch,
„Empfindung und Bewegung^, enthält von dieser verpönten
Lehre — ebenso wenig, wie die voraufgegangenen sieben, kein
Wort. Dasselbe giebt in vier Capiteln auf S. 191 — 209 eine
eingehende und völlig voraussetzungslose Analyse des Verhält-
nisses der Empfindung zur Bewegung. Es wird zunächst auf
Grund der physiologischen Verhältnisse des Nervensystems und
unter Berufung auf Wundt's Autorität der Satz aufgestellt und
bewiesen, dass alle Empfindung noth wendig Bewegung (oder
eine stellvertretende Thätigkeit) zur Folge hat. Es werden so-
dann sämmtliche Bewegungsarten speciell durchgangen und aus
ihrer Betrachtung wird die Folgerung abgeleitet, dass im thie-
rischen Organismus alle Bewegung auf Empfindung beruhe.
Es wird sodann die Wechselwirkung zwischen Bewegung und
318 A. Horwicz:
Empßndung unteitucht, die Abänderung der urspi'üDglicheti
Empfindung durch die Bewegung und ihfe Compücation durch
die Bewegnngsgefühle und die Bedeutung des letzteren für die
Herausbildung der Vorsteliung sorgföltig erwogen und aus allen
diesen Verbältnisaen das Gesetz der Proportionalität
zwischen Empfindung und Bewegung abgeleitet
Eine ganze Anzahl wichtiger Untersuchungen werden hier, wie
ich wohl glaube sagen zu dürfen, gründlich geführt und er-
ledigt, Untersuchungen, fOr deren Erheblichkeit und Verdienst-
lichkeit es völlig gleichgültig ist^ ob man an die Priorität der
Gefühle glaubt oder nicht, und von dem genannten verpönten
Dogma findet sich keine Spur*
Gerade so verhält es sich mit dem Satz: „Die Verbindung der
Aufmerksamkeit mit Gefühlen (seil, soll beweisen), dass die Per-
ception auf Gefühlen beruhe/* Dass die Aufmerksamkeit eine we-
sentliche Bedingung der Perception ist und dass sie lediglich dem
Gefühle folgt, das erhalte ich allerdings auch jetzt noch aufrecht,
das glaube ich in dem betreffenden Abschnitt unwiderleglich
bewiesen zu haben, wenigstens glaube ich etwaigen Wider-
legungen mit voller . Gemüthsruhe entgegensehen zu können.
Aber wer die Untersuchungen des Neunten Budies — die
Analyse des Bewusstseins , Psychol. Anal. I, S. 210—265 —
mit dem ausführlichen litterargeschichtlichen Material, der dia-
lektischen und physiologischen Orientirung und den zahlreichen,
alle in Betracht kommenden Elemente gründlkh erwägenden
Detail-Untersuchungen unbefangen, d. h. ohne durch den
Verdacht einer „herrschenden Apperceptionsmasse^^ gereizt zu
sein, betrachtet, wird, abgesehen davon, ob er meinen Folge-
rungen beipflichtet oder nicht, mir das Zeugniss nicht versagen,
dass ich meine Untersuchungen gründlich, unbefangen und auf
breitester Basis geführt habe,» er wird sicherlich sich nicht ver-
sucht fühlen, zu glauben, dass ich an diese Analyse mit der vor-
gefassten Meinung herantrete und mich frage, „in wie fern
das Einzelne sich meiner Anschauung fügen will/'
Genau dasselbe gilt von der Analyse der Reproduction
(Psychol. Anal. I, S. 266—331). Ich glaube, ich kann mir
Das Verhältniss der Gefühle zu deü Vorstelluugen etc. 31d
jeden weiteren Hinweis auf die umfassenden Erörterungen, auf
die zahlreioben Einzel-'Untersuchungen und die Behandlung der
verschiedenen zusammenhängenden Probleme dieser sohwierigeD
und verwiekfiUen Materie ersparen. In der That Hn ich der
Meinung, dass ich durch diese von den versefaiedensten Seiten
her untler Berückskbtigung aller einschhgenden Momente auf
Grund reichen Üiatsachliehen Materials und v^üig Toraas«
setE«ttg«los gefSthrten Untersuchungen allerdings, wenn nicht er^
wiesen, so doch zu einem hohen Grade yon Wahrscheinlich-
keit gebracht habe, dass die Reproduction dem Gefühle folge.
Wenn ich mich darin irre, warum widerlegt man mich nicht?
Warum hat man es die sieben Jahre her nicht gethan? Und
wartim kommt man mir jetzt nkht mit Wideriegungen , son-
dern imt Verdächtigungen? ich hätte mir einmal all das Zeug
in den Kopf gesetzt u. dgl. m.? Wdche erhebliehe Thatsache
habe idi übersehen? Welchen wichtigen Gesichtspunkt ausser
Acht gelassen? Welchen ron Einfluss gewesenen Standpunkt
habe ich ignorirt? Welche Fehlschlüsse sind mir untergelaufen?
Eine wirkliche Widerlegung musste doch in dieser Weise zu
Werke geben. Die Angriffe des Herrn Prof. W. aber sind
etwa von solcher Urbanität und Förderlicfakmt für die Sache,
als wenn Jemand Herren ScfaUemann oder Prof. Curtius beim
Rockknopf fasste und vertraulicli fragte, ob er nicht alle die
hübschen Sächelchen, die er da ausgegraben, zuvor -^ ein ganz
klein wenig — ahem — eingebuddelt habe.
Herr Prof^ W. giebt sich die Miene siegreicher Ueberlegen-
heit, die, nachdem sie alle vom Gegner ins Treffen gefühlten
Beweise dialektisch vernichtet, ihm gutmüthig nachw^st, was
ihn etgentlidi, ohne dass er es weiss oder sagen will, zum
Irrthum veranlasst hat (S. 137). Nun, ich glaube gezeigt zu
haben, in wie wenig zutreffender Weise er von Demjenigen
spricht; was er für meine Beweise der Lehre von der Priori*
tat der Gefühle hält. Es ist keine Folgerung, sondern die Fest-
stellung einer ganz allgemein bekannten Thatsache, dass die
Aufmerksamkeit dem Gefühle folgt, dass Gleichgültiges, sowie
Interessirendes leicht wahrgenommen wird; es ist nicht Fol-
320 A. Horwicz:
gerung, sondern gleichfaUs bekannte Thatsache, dass die Repro-
duction dem Gefühle folgt, dass das mehr Interessirende das
Gleichgültigere rasch aus dem Gedäcbtniss verdrängt u. s. w. Es
ist daher auch nicht auf Folgerung gebaute Folgerung, sondern
der einfache Ausdruck dieser Thatsache, dass der Grad der Be
wusstheit mit dem Grade der Gefühlsbetonung proportional geht.
So wichtig aber für die Ermittelung des wahren Sach-
verhaltes die angegebenen Thatsachen immerhin sein mOgen,
die eigentlich entscheidenden Thatsachen und Argumente sind
sicherhch die von Herrn Prof. W. ganz übersehenen, wenig-
stens mit keinem Wort erwähnten im sechsten Abschnitt,
^Analyse der Yorstellungsbiidung",Psy Chol. Anal. I, S. 332 — 376
zusammengestellten, nemlich jene, wie ich es zu nennen pflege,
vergleichende Statistik der verschiedenen Empfindungsarten nach
ihrem theoretischen und Gefühlsgehalt; nach der BewegUchkeit
der Sinnglieder und nach der Frequenz ihres* Gebrauches. 4us
den dort von mir formirten Reihen von Thatsachen und aus
ihrer streng nachgewiesenen Proportionalität glaube ich aller-
dings mit Gewissheit folgern zu dürfen, dass die Sinnesempfin-
dungen mit zunehmender Gebrauchsfrequenz zugleich gefühls-
kälter und theoretisch klarer werden und dass das reine, ganz
uDtheoretische Lust-Unlust-Gefühl die früheste Form des Em-
pfindens sei. Die Ergänzung hiezu muss freilich, und darauf
ist ausdrücklich hingewiesen, die Analyse des Denkens liefern.
Aber auch hier geht es Herrn Prof. W. wie vorhin, dass er
über den Vorbereitungen die Hauptsache vergisst, indem er
über die die Verbindung des Denkens mit dem Gedankenlauf
illuslrirend«n Beispiele die angeführten geistvollen Witze und
Insinuationen liefert, die Capitel über das theoretische Denken
und das wissenschaftliche Interesse (Psychol. Anal. II 1. S.
73 — 80), über die Denkprobleme und Stammbegriffe, Causalitat
und Identität u. s. f. aber mit Stillschweigen übergeht. Am
allerschlimmsten ergeht es ihm mit der Analyse der Gefühle.
Hier wird mir nach der bekannten Maxime
Im Auslegen seid hübsch munter,
Legt ihr nicht aus, so legt doch unter
Das Verhältniss der Gefühle zu den VorstellaDgen etc. 321
frisch und frank nicht nur die Meinung untergeschoben, als ein
Satz, den ich verfechten soll, ,, die inlellectuellen^ ästhe-
tischen und sittlichen Gefühle eilten stets den Vorstellungen,
an die sie geknüpft sind, voraus^ 5 sondern es werden mir die
schlimmsten Manöver angedichtet, um den Schein zu vermeiden,
„als könnten unter Umständen Vorstellungen den Gefühlen
vorangehen^. Gegenüber solcher lebhaften und fruchtbaren
Phantasie ist die einfache Wahrheit^ dass sowohl im letzten Ca-
pitel der Analyse des Denkens „Denken und Gefühl^ auf die
wechselseitige Abhängigkeit und Steigerung dieser beiden Pro-
cesse (vgl. namentl. S. 179 u. 180) ausdrücklich hingewiesen
ist, und dass es mir natürlich nicht im Traume eingefaUen ist,
zu bezweifeln, wie die Analyse der intellectnellen und ästheti-
schen Gefühle auf jeder Seite bekundet, dass diese Gefühle
bereits die Bildung von Vorstellungen voraussetzen. Um die
specielleren Ausführungen der einzelnen Analysen, ja überhaupt
um Bau und Anlage des ganzen Werkes scheint Herr Prof. W.
sich nicht viel gekümmert zu haben, sonst könnte er schwer-
lich auf dea Gedanken verfallen sein, dass ich die Forderung,
alle höheren Gefühle als Combini^onen und Complicationen der
einfachsten sinnlichen Gefühle aufzufassen, nur aufgestellt habe,
um die Theorie von der Priorität der Gefühle zu stützen,
während mir jene Forderung, die von dieser Theorie begriff-
lich und sachlich ganz unabhängig ist (denn man könnte die
umgekehrte oder eine ganz andere Theorie für richtig halten
und doch die höheren Gefühle als Complicationen der niederen
auffassen), eine einfache Consequenz der physiologischen Grund-
lage ist, wovon später noch mehr; sonst hätte er wohl ferner
nicht übersehen können-, wie die Analyse jedes einzelnen Ge-
fühls in erster Reihe sich auf der voraussetzungslosen Ermitt-
lung und Prüfung der Thatsachen aufbaut und er hätte mir
und vor Allem sich selbst den höchst ungerechten Vorwurf
erspart, als käme es mir darauf an^ unbequemen Thatsachen
und Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen. Dies ist in der
That ein höchst ungerechter Vorwurf ; denn in Wahrheit mache
ich aus den jener Theorie entgegenstehenden Schwierigkeiten
Vierteljahrsschrift f. irissenscliaftl. Philosophie. III. 8. 21
S'22 A. HoTwicz:
nirgend ein Hehl, habe nelmebr bei jeder Gelegenheit anf 'die-
selben ausdrücklich und wiederholt aufmerksafiD f^emacbt, z. B.
in dei* Analyse des Denkens S. 77-^79, 99, 132 n. s. f. Diese
Schwierigkeiten, die in der' That beträchtliefa sind^ werden uns
im letzten Absehnitt dieser Abfatodlung noch besehiftigen.
U.
Die Verwarnung, welche Herr Prof. W. als Physiologe
für nöthig erachtet« mir mit den Worten: ^jUeberhaupt kann
^^icb nicht umhin, den weitgehenden Gebraocb bedenküch zu
„finden, den sich H. von physiologischen Hypothesen zu machen
„gestattet,^* zu ertheilen, würde auf mich einen tieferen Ein-
druck gemacht haben, wenn nicht schon vorher durch die er-
wähnten philosophischen Angriffe des Herrn Prof. mein Ver-
trauen in die wissenschaftliche Unbefangenheit seines UrtheUs
über mich und mein Werk etwas erschüttert gewesen wäre.
Indessen prüfen wir mit nichte desto geringerer Sorgfalt die
Berechtigung derselben. Welches ist zunächst die unmittelbare
Veranlassung, welche den Herrn Prof. W. bewegt, dieses phy-
siologische Desa^Su zu verhängen?
,,Um dieser Behauptung (dass die Gefühle immer den Vor-
stellungen voraneilten, wa« mir, wie erwähnt, nicht eintallt zu
behaupten) Nichts zu vergeben, zieht es H. z. B. vor, zur Er-
klärung des rhythmischen Gefühls hypothetische Nervenfibra-
tionen zu erfinden, die unmittelbar gefühlt werden, sollen, nur
um dem Zugeständniss auszuweichen, dass das rhythmische
Gefühl an ein gewisses Zeitverhältniss der Vorstellungen ge-
bunden ist. Hiedurch könnte ja der Schein entstehen ^*
Sehen wir von der wirkhch erstaunlichen Verdächtigung ab, so
ist die ganze Bemerkung wieder so unzutreffend, als sie nur
sein kann. Um einer Behauptung Nichts zu vergeben, die ich
niemals gemacht habe, soll ich Etwas erfinden, was mir nie-
mals eingefallen ist, damit ich einem Zugeständniss entgehe und
einen Schein vermeide^ die ich beide bereitwilligst auf mich
Das Verhältniss der Geföhid zu den Vorsteilungeu etc. 323
nehme. Das ist der Kern dieses \vahrhaft vernichtenden Luft-
hiebes. Was l^re uDd was behaupte ich nun wirklich?
In der Analyse des Denkens, Ug. 14 „Zeit und Raum^
S. 129«~^148 wird zunächst im Anschluss an frühere Unter-
sucbangen der Ursprung der Zeit- und Raum Vorstellung
«rörtert. Dass dies zu den schwierigsten Untersuchungen im
ganzen Bereich unsrer Wissenschaft gehört^ wird wohl Jeder,
der über diese Materie nachgedacht hat, zugeben. Aber auch
Jeder, der nicht geborener Nativist ist, wird mir darin bei-
stimmen, dass weder die Zeit-, noch die Raumvorstellung ein
ursprüngliches Besitzthum der menschlichen oder irgend einer
uns bekannten Seele sein kann. Auf dem Wege der analyti-
schen Zerlegung dieses Entwicklungsproduetes komme ich nun
2U dem dort als wahrscheinlich bezeichneten Resultat, dass in
dem langen und complicirten Entwicklungsgange als dessen
Product wir die raumzeitliche Anschauung zu betrachten haben,
die Zeitrhythmen wohl die früheste Phase bilden mögen
<PsychoL Anal. II 1. S. 140). Das Zeitbewusstsein beruht
darauf und besteht darin, dass mehrere Empßndungsreihen
nebeneinander herlaufen und untereinander und an einer haupt-
sachlich bevorzugten verglichen und gemessen werden (a. a. 0.
S. 183). Im Einklänge hiemit, aber auf völlig von jenem un-
abhängigem inductivem Wege untersuche ich in der Anal. d.
Gefühle den genetischen Zusammenhang zwischen der Zeit-
vorsteliuDg und dem Rhythmus. Diese Untersuchung ist eine
der leichtesten und sie führt zu dem ganz unzweifelhaften Re-
sultate, dass zwar die Zeitvorstellung schon einen gewissen
Orad von höherer psychischer Entwicklung voraussetzt, dass
dagegen das Wöhlgefühl am Rhythmus zu den elemen-
tarsten am tieften in unsrer Natur wurzelnden Bildungen ge-
hört, dass dieses Gefühl weit davon entfernt, in der Vorstellung
der Zeit s^ne Erklärung zu finden, vielmehr ganz dazu an-
gethan erscheint, seinerseits die Vorstellung und Messung der
Zeit zu eriilären.
Wo hier eine Schwierigkeit stecken soll, vermag ich beim
besten Willen nicht einzusehen. Die Thatsache, dass das Kind
21*
324 A. Horwicz:
wenige Tage nach der Geburt, lange, lange bevor von irgend
welcher Zeilvorslellung bei ihm die Rede sein kann, sich für
den Rhythmus empfänglich zeigt, durch rhythmische Töne und
Bewegungen (Wiegen) beschwichtigt und erheitert wird, ist so
evident und so concludent, dass die einzige Schwierigkeit wohl
höchstens darin gesucht werden könnte, dass ein Mann, wie
Wundt, diese elementare Thatsache nicht berücksichtigt und ihr
gegenüber immer noch an der allen Lehre festhält, dass der
Rhythmus auf der leicht überschaulichen Verbindung der Vor-
stellungen beruht. Da ich aber als Psycholog und Philosoph
darauf angewiiesen bin, meinem eignen ürtheil zu fblgen, sa
kann trotz aller Autorität, die der Philosoph und mehr noch
der Physiologe Wundt mit Recht für sich in Anspruch nehmen
kann, von einer eigentlichen Schwierigkeit nicht die Rede sein.
Nicht also um einer Schwierigkeit zu entgehen oder einem
Zugeständniss auszuweichen, kann ich Etwas erfinden. Ja,
wenn die Sache so läge, dass die Vorstellungstheorie etwa das
Rhytbmusgefühl leicht und ungezwungen erklärte. Aber daran
ist Ja, wie erwähnt, gar nicht zu denken. Wenn wir nach dem
Grunde fragen, weshalb der Rhythmus Wohlgefallen erweckt,
so leistet die Antwort, weil er eine leicht überschauliche Ver-
bindung der Vorstellungen gewährt, zur Erklärung des Gefühls
nicht das Mindeste. Dass ich mir Etwas vorstelle, kann doch
nicht ein Grund dafür sein , dass mir das Vorgestellte oder
etwas Anderes gefallt.
Nun aber soll ich, um dieser so plausibeln Vorstellungs-
theorie auszuweichen und um den Schwierigkeiten meiner
eignen Theorie abzuhelfen, ^hypothetische Nerven-
fibrationen" erfinden. Es ist mir wirklich nicht ein-
gefallen, dergleichen zu thun. Man höre: Wie auch sonst^
weise ich auch in Bezug auf den Rhythmus nach, dass er
durch fliessende Uebergänge mit den übrigen Empfindungs-
arten zusammenhängt. Was ich in dieser Hinsicht anführe,
sind nicht etwa Hypothesen, sondern längst und allgemein
anerkannte Thatsächen, ddss Licht und Schall auf regelmässi-
gen Oscillationen beruhen, dass wir bei sehr tiefen Tönen die
Das Verhältniss der GrefUhle zu den Vorstellungen etc. 325
einzelnen Schwingungen rhythmisch auffassen, dass beim Zu-
sammentreffen mehrerer Wellenzüge die rhythmischen Super-
Positionen sich zu neuen Tönen (Summations- und Differenz-
tönen) zusammensetzen, dass man einem Muskel durch pe-
riodische Reizung seines N^ven ein schnurrendes Geräusch
entlocken kann: das sind Alles, wie gesagt, lauter unbesti'eit-
bare Thatsachen und das schärfste Mikroskop wird darin keine
Faser von einer Hypothese entdecken. Jetzt kommt allerdings
eine Hypothese, aber es ist eine starke Entstellung der Wahr-
heit, dass ich ^^hypothetische Nervenfibrationen erfinde". Es
fällt mir nicht ein, hier oder sonst wo Etwas zu erfinden, son-
dern ich halte mich hier wie überall gewissenhaft und sorg-
sam an den Thatbestand und physiologischen Befund. Dass
bei der rhythmischen wie hei jeder anderen Empfindung so-
wohl der äussere Reiz, als auch die empfindende Nervenmasse
in Schwingungen begriffen ist, das nimmt man doch ganz all-
gemein an. Meine besondere Vermuthung — die ich nach
Alledem nicht umbin kann, für sehr wahrscheinlich zu halten —
besteht nur darin, dass bei den rhythmischen Empfindungen
vielleicht eine ähnliche Anordnung der Wellenzüge eintrete, wie
wir sie bei den Summations- und Differenztönen nachweisen
können. Das Hypothetische liegt nicht in den Thatsachen, son-
dern in dem aus diesen Thatsachen gezogenen Schlüsse. Diesen
Schluss kann man glaublich finden oder nicht, das bleibt Je-
dem unbenommen. Man kann^ wenn man Gründe bat^ ihn an-
greifen. Aber man hat nicht das Recht, vom hohen Katheder
physiologischer Autorität herab, eine derartige Vervverthung des
physiologischen Materials für „bedenklich" zu erklären. „Ohne
Zweifel,*' sagt Herr Prof. W. S. 137, „sind wir berechtigt, uns
„über den Zusammenhang Rechenschaft zu geben, der zwischen
„den psychologischen Vorgängen und den physiologischen Pro-
„cessen in den körperUchen Substraten derselben stattfindet,
„aber von der hypothetischen Annahine solcher physiologischen
„Processe, die von physiologischer Seite noch nicht nachge-
„wiesen sind, wird man doch nur einen sehr vorsichtigen Ge-
„brauch machen dürfen." Damit bin ich durchaus einver-
326 A. Horwic«:
standen, nur möchte ich den Herrn Professor bitten, mir ein
einziges Beispid ^^der hypothetischen Annahme solcher physio-
logischen Processe, die bisher von physiologischer Seite noch
nicht nachgewiesen sind'% bei mir nachzuweisen. Nicht
einen vorsichtigen, sondern gar keinen Gebrauch darf man sich
Ton solchen Pseudo - Hypothesen gestatten, und ich bin gern
bereit , wo mir eine solche aufgezeigt wird , sie ohne Weitere»
auszustreichen.
Was ich unter einer legalen Hypothese verstehe, habe ich
in meiner Abhandlung „Zur Methodologie der Seelenl.** aus*
gefQhrt : „Durch die heuristische Induction wird die Hypothese
gefunden." ,;Zunächst wird der vorhandene Vorrath von That-
sachen, nachdem er soweit wie möglich (durch Experiment)
bereichert worden, gesammelt, geprüft, geordnet.** — „Hier
tritt das Verfahren der Ausschliessung ein, indem man fragte
weicht Möglichkeiten im bestimmten Falle vorliegen, diese
nach einander prüft und diejenigen, gegen welche sich Gründe
erheben y ausschliesst. Diejenigen. Möglichkeiten, gegen welche
sich keine logischen oder sachlichen Widersprüche zeigen, sind
als Hypothesen wahrscheinlich gemacht'' Danach bin ich immer
verfahren; andere Hypothesen, als solche^ die sich aus dem
allseitig erwogenen vollen Befunde der wissenschaftlichen That-*
Sachen als die wahrscheinlichsten ergeben, habe ich niemals
aufgestellt.
Was insbesondere die aufs physiologische Gebiet bezüg-
lichen Hypothesen betrifft, so spreche ich mich über deren
Gebrauch und Bedeutung Psych. Anal. I, S. 288 aus. Ich
habe dort eine, wenn man will, recht problematische Hypo-
these — diejenige der „Erinnerungsbahnen und Erinnerungs-
heerde"* gewagt, und sage in der Anmerkung:
„Wir erinnern wiederholt, dass es sich bei dem gegen*
„wärtigen Stande der Wissenschaft nur um Hypothesen und
„denkbare Möglichkeiten handeln kann. Es kann bei einer Ma-
„terie, bei welcher Messer und Nadel so vollständig im Stich
„lassen, selbstverständlich nicht darauf ankommen, zu sagen,
„wie die Dinge wirklich sein müssen, was man eben nicht
Das Yerbältoiss der Gefahle ^ den Vorstellungen etc. 327
„weiw, Wohl aber muss es van Wichtigkeit sein, anzugeben,
„wie die Dinge nach Massgabe der bisherigen Ergebnisse der
„Physiologie sein können. Wird die Physiologie dereinst
„gejoauere oder dem oben Gesagten widersprechende Resultate
^^ergeben» so wird sich natürlich die Hypothese berichtigen ; bis
„dahin aber muss dasjenige, was man als physiologisch denk-
„bare Möglichkeit erkannt hat, als allein sichere Grundlage für
„die psychologische Analyse beibehalten werden, denn nur das-
, jenige, was physiologisch denkbar ist, kann Grundlage bleiben.
„Werthlos und geradezu irreführend aber ist nicht bloss das
„physiologischen Thatsachen Widersprechende, sondern auch
„das Vage, Allgemeine, wofür kein physiologisches Substrat er-
„kennbar oder denkbar isl, z. B. wenn man ohne Weiteres der
,ySe6le ein Erinnerungsvermögen, allenfalls unter Berufung auf
„das allgemeine Beharrungsvermögen beilegt, ohne die Möglich-
„keit zu zeigen, wie ein solches sich mit den Mitteln, welche
„für psychische Thätigkeilen überhaupt allein zur Verfügung
„stehen, zu bethätigen vermöchte."
Ich glaube, gegen diese Grundsätze wird Niemand, er sei
Philosoph oder Physiologe, etwas Begründetes einzuwenden
haben ; und ich werde es als eine heilsame Verbesserung meines
Buches mit dankbarer Freude begrüssen, wenn mir Jemand
nachweist, dass und wo ich von diesen Grundsätzen abge-
wichen bin. Mit unbestimmten und geradezu unwahren Ver-
dächtigungen ist freilich Nichts geschafft.
Eben diesen Grundsätzen, denen ich sowohl in der ganzen
Anlage meines Werkes, als auch in der speciellen Ausführung
der einzelnen Analysen treulich gefolgt bin, entspricht auch
durchaus diejenige Stellung , die ich von Hause aus zur Phy-
siologie eingenommen und bis zur Stunde festgehalten habe.
Herr Prof. W. scheint sich die Sache so zu denken, dass ich
mich der Physiologie bediene, wie der Advocat einer Urkunde,
d. h. als eines Mittels, um meine vorgefassten Meinungen durch-
zusetzen. Aber weit davon entfernt, in die Physiologie hinein-
zutragen, habe ich mich lediglich begnügt, ihre gesicherten
Resultate und ihre wahrscheinlichsten Theorien zu adoptiren
328 A. Horwicz:
und als Bausteioe zum G^bäudo der psychischen Wissenschaft
zu verwerthen.
Insbesondere sind es vier Theoreme oder Betrachtungs-
weisen, die ich der gründlichen Beschäftigung mit der Physio-
logie verdanke, die micb zur Annabme der verrufenen Theorie
yon der Priorität der Gefühle geführt haben und von denen
ich übereeugt bin, dass sie Jeden, der sie annimmt, nothwen-
dig zu denuselben Ziele ffihren müssen, ausser wenn man sich
durchaus darauf steifl, auf halbem Wege stehen zu bleiben.
Dies sind:
1) Die Lehre von der durchgehenden Correla-
tjon zwischen Leiblichem und Seelischem,
<J. h. dass Beides einander sich genau entspricht, jedes der
völlig adaequate Ausdruck des Andern ist, -Beide ein-
ander wechselseitig zügkith bedingen und bezwecken.
2) Die Lehre von der Homologie aller tHieri-
sehen Organismen, d.h. die Lehre von der Gleich-
artigkeit des Baues aller Tbiere, dass die Organisation
der höheren Thiere nur eine weitere Entwickelung des-*
selben Planes, nach dem die niederen Thiere gebaut sind,
darstellt.
3) Die Lehre von der functionellen Indifferenz
der Nervenfasern und Nervenzellen, d. h. die
Lehre, dass bei den höheren Tfaieren die verschiedenen
Leistungen der verschiedenen Nervenfasern- und Nerven-
zellen nicht auf verschiedener Form und Mischung, son-
dern auf ihrer verschiedenen Verwendung und - Gewöh-
nung im Organisnvus beruht.
4) Die Lehre von der individuellen Autonomie der einzdnen
den Organismus constituirenden Factoren (Gellular-Physio-
logie und Pathologie).
Die$e vier Sätze sind, soweit ich weiss, für Jeden, der auf
dem Boden der heutigen Naturwissenschaften st^ht, vöUig
sdbstverständlich. Insbesondere hat auch Herr Prof. W. sich
wiederholt und entschieden zu denselben bekannt* Sobald man
aber mit ihrer Anwendung Ernst macht, muss man bei conse-'
Das Verhäitniss der Geffilile 2u den Vorstellungen etc. 329
quentem Denken zur Priorität der Gefühle gelangen, so sicher
als der emporgeworfene Stein die Mutter Erde treffen muss.
m.
Ehe ich dies zum Schluss kurz andeute, werfen wir einen
Blick auf die Construction des Herrn Gegners. Allerdings ist
das sicherste Mittel, eine Theorie zu bekämpfeti, das, eine
bessere an ihre Stelle zu setzen. Hat Herr Prof. W. von
diesem Mittel gegen mich Gebrauch gemacht? Versucht hat er
es^ aber ich glaube kaum, dass er selbst bei diesen schwankenden
und einander widersprechenden Bestimmungen auf die Dauer
sich befriedigt fühlen werde^ geschweige denn, dass er Andere,
die nach einer verständlichen und einheitlichen Auffassung des
Seelenlebens streben, zu befriedigen vermöchte.
Im Eingange stellt Herr Prof. W. neben die Herbart'-
sche Ansicht, welche die Gefühle aus den Vorstellungen, neben
die von Fortlage und mir vertretene^ welche umgekehrt die
VorsteUungen aus den Gefühlen ableite, und neben die Wolf-
Kant'sche, welche beide als selbständige Vermögen betrachtet,
eine vierte Auffassung, die an dieser Stelle offenbar die
eigene Meinung des Verf. repräsentiren soll: „es ist diejenige^
„die zwischen der Annahme eines Primates des einen oder an-
„dem Bestandtheils der inneren Wahrnehmung und der Zu-
^^assung mehrerer gleich, selbständiger Functionen gewisser-
„massen in der Mitte steht, indem sie Vorstellung und Gefühl
„als die einander coordinirten Theilerscheinungen eines und
„desselben inneren Vorganges auffksst, wobei Alles, was wir als
Aifect, Trieb, Begehren, Wollen bezeichnen, wiederum als
Theilerscheinung oder specielle Gestaltung des Gefühls ange-
„sehen wird'' (S. 131). Diese Ansicht wird als die natürhche,
sich auf die unmittelbare Auffassung der Tbatsacheu des Be-
wusstseins stützende bezeichnet und es wird zu ihrem Lobe
besonders hervorgehoben^ dass sie sich auf „Deutungen und
Hypothesen^* nicht einlässt und dass sie als die natürliche „vor
jeder psychologischen Untersuchung sich uns auf-
drängt'^ (doch nicht gar als „vorgefasste Meinung'*??
»1
380 A. Horwic«:
ich mussgestehen, dasfi mir eine Mmung^ die, sieb vor jeder
psycho!. Uatersuchui^, alao \or Fe&UteUung der Terminologie
— wir werden ^mßh an einem flagranten Beispiel sehen, wie
unentbehrlich dieselbe — und vor aller Prüfung, Sichtung und
Ordnung der Thatsacben aufdrangt ^ nicht den mindesten Re-
speet einflösst).
Also Gefühl und Vorstellung . hätten wir als ooordinirte
Theilerscheinungen eines unbekannten Dritten aufzufassen. Gleich
darauf aber wird es als ein beachtenswerther Unterschied dieser
Auffassung bezeichnet, „dass sie Gefühl und Vorstellung nicht
,^ls verschiedene Vorgänge auffasst, sondern als Be-
„standtbeile eines und desselben Proeesses, dessen Trennung
,^ie nicht als eine wirkliche, sondern als ein ResuUal psycho-
,4ogischer Abstraclion betrachtet''. Dies ist einerseits schon
nicht mehr ganz concinn; denn was wirkliche Theilerschei-
nungen sind, das hat auch seine wirklich gesonderte Existenz;
und in der Tbat ninnnl sich die Behauptung, dass Gefühle und
Vorstellungen nur in der psychologischen Abstraction getrennt
werden können^ fast so aus, als wenn Jemand behauptete^ die
verschiedenen Farben würden nur durch das Spectrum und
die Abstraction getrennt, in Wahrheit machten sie zusammen
das weisse Licht aus. Diese Auffassung , deren beide Theile
nicht sonderlich zusammenstimBien, ist in Bezug auf alle Beide
höchst bestreitbar.
Die Annahme, dass aus der ursprünglich indifferenten Em-
pfindung sich später Gefühl und Vorstellung differenziren , die
bereits in den „Vorlesungen über die Menschen* und Thier-
seele^^ II, S. 5 vorgebracht war, habe ich bereits in den
Psychol. AnaL l, S. 343 bekämpft mit Gründen, die Herr
Prof. W. niemals zu widerlegen versucht, die er vielmehr vor-
gezogen hat, zu ignoriren. Ich will das dort Gesagte hier nicht
wiederholen und beschränke mich auf die Bemerkung , dass
die „innere Wahrnehmung'S auf die Wundt' sich statt der
Gründe so ofl beruft, hievon nicht nur Nichts, sondern das
blanke Gegenttieil lehrt, dass also beispielsweise bei einem
Schlage nicht etwa zuerst ein indifferentes Zwitterding und als
Das Verhältniss der Gefüble za d«n Vorstellungen etc. 331
dessen Folge erst das Geflhl des Schmerzes und die Vor*
sU^Uung des Schlages, sotid«ny dass hier zanäcbst weiter Nichts
ds das -GefüU des Schmentes empfunden wird und später sich
erst die Vorstellimg des Schlages emstellt.
Hiebei kann ich nicht umhin, anf den sonderbaren Ge-
hrauch aufmerksam zu machen, den Herr Prof. W. Ton seiner
^^nneren Wahrnehmung*' macht. Mir, der ich wohl von mir
sagen darf, dass ich dieses gefährliche Argument niemals an*
wende, ohne concrete Thatsachen anzuführen, mir
klaubt sich der Herr Prof. den Einwand zu machen, dass ich
das AUes mir und meinen Lesern einbilde. Gegen solchen
Angriff ist man allerdings geschützt, wenn man gar keine
Thatsachen anführt, sondern die Selbstwahrnehmung
schlechtweg als Trampf Ass ins Gefecht führt. Freilich kann
es einem mit solcher Giimml-Elasticum-'Erfahrang passiren,
dass Gefühl und VorsteUung bald zwei sind — coordinirte
Theilsphären — bald eins — nSmhch nur durch Abstraction
trennbar, dass der Wille auf der einen Seite als Theilerschei-
nung und besondere Gestaltung des Gefühls, S. 181, und auf
der anderen Seite als die Bedingung jedes Gefühls der Lust
und Unlust, S. 145 f. hezeichnet wird u. a* dgl. m.
Uebrigens besteht die zweite Bedingung, daas Gefühl und
Vorstellung nur durch die psychologische Abstraction trennbar,
in Wirklichkeit aber immer verbunden sind, vor dem Richterstuhl
der inneren Wahrnehmung gerade so gut und so schlecht, als
die erste. Erstlich, wenn es zwar richtig ist, dass jede Vor*
Stellung mit Gefühl verbunden ist, so ist doch das Umgekehrte
entschieden nicht richtig, dass jedes Gefühl von Vorstellungen
begleitet werde. Im Gegenlheil, die Erfahrung zeigt uns doch
oft genug Gefühle ohne VorsteUung, z. B. in dem eben er-
wähnten Beispid des unerwarteten Schlages. Zweitens aber,
wie kommt man denn zu der ganz wiUkürlichen Behauptung,
dass die Trennung von Gefühl und Vorst^ung nur auf psy-
chologischer Abstraction beruhe? Muss dodi Herr W. selbst
zugeben, dass schon die Sprache jene Trennung angedeutet
hat und ist doch Nichts verbreiteter, als die Kenntniss des
332 A. Horwicz: *
GegensaUes von Verstand und Gefühl und der hohen^ allen Vor-
stellungen trotzenden Selbständigkeit und £igenartigkeit der Gefühi«^
Weiterhin begegnen wir einer deutlichen Hinneignng zum
Associationismus. Die innigere Beziehung der Gefühle zum
Selbstbewusstsein wird auf die Verbindung der Vorstellungen
nach innerer Verwandtechaft und äusserem Zusammensein zu-
rückgeführt, S. 139. Diesem Gedanken wird weiter nachge-
hangen und S. 142 geschlossen: «^I^m^i* al^o kommen wir
„darauf zurück, dass das Gefühl selbst nicht in den unmittd-
,7bar gegenwärtigen Vorstellungen oder ihrem Verhältniss, son-
„^ern in der Rückwirkung besteht ^ die das Bewusstsein auf
„die Vorstellungen ausübt und die , wenn wir sie zergliedern,
„auf die Beziehungen zurückweist, in denen sich die unmittel-^
„bar gegenwärtigen zu früheren Vorstellungen befinden.!*
Zu den bisherigen drei ganz disparaten Ansichten kommt so-»
gar noch auf S. 145 eine vierte hinzu : „Aber die Bedingung jedes
Lust* und Unlust-Gefühls ist das Begehren oder Wider-
streben u. s. w/* Welche Ansichten vom Seelenleben wir* nun
schliesslich zu adoptiren haben^ ist hienach nicht klar und wird am
Schlüsse noch unklarer. Nachdem Herr Prof. W. den letzten Ge-
danken mehrere Seilen hindurch verfolgt hat, schliesst er S. 150:
„So können wir mit demselben, wenn nicht mit grösserem Rechte,
„wie man sonst den Willen aus dem Gefühl sich entwickeln
„lässt, umgekehrt aus dem Willen die übrigen Formen der Ge-
„müthsbewegungen abzuleiten versuchen. Aber damit soll nun
„keineswegs einem Unternehmen das Wort geredet sein, welches
„etwa auf einen Dualismus von Vorstellung und Wollen die
„ganze Psychologie gründen möchte. Unsere Auseinander-
„setzungen sollten nur dieses erläutern, dass es bei alleti jenen
„Zuständen, die wir als Fühlen, Begehren, Wollen bezeichnen,
„nicht um ein thatsächlich verschiedenes Geschehen sich handelt,
„sondern um Proeesse, die durchgängig zusammenhängen*'
„So nöthig wir diese Ausdrücke haben, so sollen wir uns doch
„durch ihren Gebrauch nicht verführen lassen, zu vergessen,
„dass wir damit nur Begriffe bezeichnen, die wir selber ge-
„bildet haben."
Das Verhältniss der Gefiihle zn den Vorstellungen etc. 333
Herr Prof. W. wird bei unbefangener Envägung selbst
nicht glauben, durch die Nebeneinandersteliung so discrepanter
Ansichten die Frage nach dem Verhältniss der psychischen
Vermögen und Processe ihrer Lösung näher gebracht zu haben.
Besten Falles würde durch die Lehre, dass die psychischen
Vermögen nur auf Abstraction beruhen , aUes psychische Ge-
schehen in den Urbrei eines neuen psychologischen Nomi-
nalismus veni^'andelt, den man allerdings nach Gefallen hier-
hin und dorthin recken kann, von dem es aber schwer abzu-
sehen ist, wie man ihn seinen Lesern als die einfache und
natürliche Auffassung aufzutischen vermag.
Ein nicht unerheblicher Theil der Schärfe, mit welcher
Herr Prof. W. meine Theone bekämpft, scheint auf ein be-
griffliches Missverständniss zurückgeführt werden zu müssen.
Es gewinnt namentlich nach einer Aeusserung auf S. 138 immer
mehr den Anschein, als verständen wir Beide unter dem Wort
„Gefühl*^ zwei ganz verschiedene Dinge. „Wer jene^S scil^ die
ursprünglichen, den Vorstellungen und höheren Gefühlen vor-
autliegenden — „Zustände Gefühle nennt, der hat eben die aus-
„gebildeten, durch psychologische Abstraction von den Vor-
„stellungen geschiedenen Gefühle im Auge und überträgt nun
„sofort die so angenommene Priorität des Gefühls auf alle
„späteren Vorgänge.*' Hier ist zunächst wieder der bereits
oben gerügte, durch zu geringe Kenntniss meines Buches ver-
schuldete Irrthum zu beklagen, als ob ich alle Gefühle vor alle
Vorstellungen setze, was mir gar^nicht einfallt. Herr Prof. W.
aber folgert das, nach ihm muss ich diesen Unsinn beiiaupten,
weil er unter Gefühl eben dies versteht; eine im Gegensatz zur
Objecl- Vorstellung empfundene Veränderung des Subjects. Es
läuft das ungefähr auf etwas Aelinliches, wie die Terminologie
der Herbart'schen Schule hinaus, welche Gefühl nennt „alle
,jene Zustände, die keineswegs unmittdbares Product von Ner-
„venreizen, sondern vielmehr Resultat gleichzdiig im Bewnsst-
„sein zusammentreffender Vorstellungen sind.'* Vgl. Nahlowsky,
GefühUleben S. 27, auf welchen Schriftsteller sich Herr Prof. W.
beruft. Mir aber fallt es gar nicht ein, mich des Wortes und
334 «A. Hcfcwiez:
Begauffes tiC^fiuJ^l^' in dtedem Sinite izu bedienea, ich liabe
Psych. Anal, I, S, 151 f. und I, 332 meinen Spraebgebraiich
in aUer Schärfe und Deutlichkeit fixift. leb habe von Banse
aus und im gani^en Verlaufe meines Buches niemals etwas An-
deres unter Gefühl verstanden, als den ü^taod von Lust oder
Unlust. Aus ilun suche i^h alle übrigen seelische» Processe
abzuleiten, aber es fallt mir nicht ein, diese Priorität „auf alle
spateren Vorgänge zu tbertragen'^, also etwa intellectuelle und
moralische Gefühle vor Vorstellungen und den V^illen zu setzen.
Man muss eise Theorie, di^ man bekämpfen will, sich erst
recht genau anseben und sie sich nicht erst willkürlich zu-
richten.
Ob nun diese Theorie richtig ist oder nicht, ob es mit
ihrer Hilfe gelingt^ alle Thatsachea und Erscbrinungen des
Seelenlebens auf die leichteste und ungezwungenste Weise zu
erklären, darüber lässt sich ja streiten, und ich habe die Pa-
nut^i^ieen und Schwierigkeiten — namentlich bei der Bildung
der räumlichea Anschauung -^ ja selbst hervorgehoben. Wem
meine Erklärung noch zu schwierig für dn uns so einfach
und alltäglich erscheinendes Ding wie die Seele vorkommt, der
wolle bedenken, dass diese Einfachheit nur scheinbar und nur
das Resultat einer durch vcdlkommene Gew&hnung beherrschten
ungeheuren Complication ist Wir kennen in der That nichts
Zusammengesetzteres auf der ganzen Welt, als den Menschen;
und wohl kann man auch in dieser Hinsicht dem Dichter bei-
atimmen:
„Vieles Gewaltige lebt, doch Nichts
Ist gew^tiger als der Men^ch.^*
Femer aber^ wenn Jemand eine einfachere Theorie hat,
als die meinige, so bitte ich ihn dringend, sie mir zu zeigen,
ich bin ein so grosser Anhänger des simplex veri sigillum, dass
ich mich verpflichte, sie mit Haut und Haar zu adoptiren, so-
bald mir ihre grössere Einfachheit uiid Leichtigkeit in der Er-
klärung aller Erscheinungen nachgewiesen wird« Aber man
habe die Güte, nicht von mir zu verlangen, dass ich meine
einheitliche und, wenn auch mit manchen Schwierigkeiten be-
Das Verhältniss der G^f^hle eu den Vorstellungen etc. 335
haftete, doch im Genzen mit dBn Thatsachen und Erscheinungen
leidlieh fttimmende Theorie aufgebe zu Gunsten von Construc-
ikmen, die noch fiel schwieriger und com|^icir(er sind, als die
m^inige und daför noch obenein mit den Thatsachen in schrof-
fem Widerspruch stehen.
Sicherlich wird man die Lehre von den drei Seelenver-
mögen^ diesen Nothhafen der entmasüeten Speculation, Aicht als
die gesaehte einfache und rationelle Theorie anpreisen dürfen.
Bkn kann, wie Lotze, Mikrokosmos I, S. 198 ff. erklären,
dass es mit den bisherigen Mittdu d^r ZergMederung nicht
nH^glich gewesen 9 die eine dieser Seelenthätigkeiten ohne zu-
rückbleibenden Rest auf die andern zurückzuführen. So hoch
auch gerade ich die Autorität Lotzes zu stellen gewöhnt bin,
eines Mannes, dem die neuere Psychologie so viel zu danken
hat, so liegt doch nach der bekannten Beweisregel negatio pro-
bari non polest auf der Hand, dass eine solche Unmöglichkeits-
Erklärung niemals eine definitive, sondern stets nur eine thatsäeh-
liche, den derweiligen Stand der Wissenschaft bezeichnende
sein kann und ungefähr so viel zu bedeuten hat, als wenn ein
Liebig, Berzelius oder A. W. Hoffmann für unmöglich erklärt
hätte, die ehemischen Elemente weiter zu zerlegen. Gerade so
wenig, wie dort bd der Annahme von so und soviel Urstoffen,
oder wie in der Physik von so und so viel selbständig nebenein-^
ander thätigen Kräften^ oder wie in der Zoologie und Botanik
von zahllosen, durch besondere Schöpfungsacte erzeugten Arten,
gerade so wenig kann das menschliche Denken sich in der
Psychologie bei einer unverstandenen Vielfachheit unreducir-
barer Yeripögen und Thätigkeiten beruhigen. Dabei ist nur
noch der wichtige Unterschied, dass die Naturwissenschaften seit
Langem, man kann sagen seit Baco, nach festen sicheren Me-
thoden allgemein anerkannter thatsächlicher Forschung arbeiten,
während in der Psychologie, abgesehen von jenen Gebieten, die
dem psychophysischen Experiment zugänglich sind , noch jene
tastende Unsicherheit und jener Wirrwarr schwankender Mei-
nungen, wie sie von dem Mangel fester Forschungsmethoden
unzertrennlich, sich oft genug geltend machen.
336 A. Horwicz:
Wenn dennoch in der so viel älteren und methoden-
sichereren Naturwissenschaft es Niemandem einfallt, bei den
jetzigen Elementen, Kräften und Arten als letzten Forschungs-
zielen für alle Zeit stehen zu bleiben, wenn sogar das an einer
yiel entlegeneren Grenze proclamirte „Ignorabimus" des be-
rühmten Entdeckers der negativen Stromschwankung dem
Murren einer strebelustigen Opposition begegnete, die ihrem
Forscherdrange auch die allerfernsten Bahnen nicht yersperren
lassen wollte: so werden wir in einer so jungen^ so zwar noch
überall unfertigen, aber doch von frischer Werdelust erfüllten
Wissenschaft, als es die Psychologie ist, uns auch von den
denkbar besten Autoritäten keine Schlagbäume aufrichten lassen.
In der That würde das Stehenbleiben bei irgend einer
Form der alten Drei-Yermögenslehre nicht bloss einen Ver-
zicht auf weitere Fortschritte; sondern einen Rückschritt hinter
die besseren und selbst mit wichtigen thatsächlichen Erfolgen
gekrönten Bestrebungen der älteren Psychologie bedeuten. Denn
nicht nur ist durch Herbart und Stiedenroth die Abfächerung
der Seele in grundverschiedene Vermögen in . negativer Dia-
lektik vernichtet, sondern es sind auch sowohl von Herbart und
seiner Schule, als auch von Beneke — ihm folgend von Fort-
lage, von Krause; in der HegePschen Schule und sonst von
zahlreichen Forschern — worüber ich in den verschiedenen
Abschnitten der Analysen mehr oder weniger ausführhche Nach-
weisungen gegeben — theils umfassende Constructionsversuche,
theils einzelne Verbindungen und Ueberfuhrungen der einen
Seelenthätigkeit auf die andere gemacht worden.
Es wäre nun wirklich hübsch 5 wenn unter allen in der
Psychologie vertretenen Schulen, Secten und Schattirungen —
denn selbst die im Consequenzenziehen sonst so vorsichtigen
Engländer haben in ihrem Associationismus ein einheitliches
oberstes Princip aufgestellt — es allein der deutschen physio-
logischen vorbehalten bhebe, das Forschen nach der psychischen
Einheit zu verbieten oder in das Reich der Träume zu ver-
weisen. Denn die naturwissenschaftliche Begründung und Ver-
tiefung der psychologischen Analyse erscheint nicht etwa einer
Das Verhältniss der Gtofoble eu den VorBtelluDgeD etc. 337
einheitlicbeo Lösuog abgeneigter, als andere Behandlungsweisen,
sondern im Gegentfaeil recht eigentlich dafür prädestinirt
Schon der blosse Gedanke, das Seelenleben aus seiner organi-
schen Grundlage verstehen au wollen, setzt ja eine noch viel
weiter gehende Einheit, die Einheit von Geist und Natur vor-
aus, und ein solcher Satz, wie der von der Erhaltung der
Energie, tritt uns ja gleichsam als greifbarer Bdrge einer ir-
gendwie beschaffenen nothwendigen Einheit vor die Augen.
Werfen wir von hier aus einen Blick auf die am Schlüsse
des vorigen Abschnittes erwähnten vier Theoreme, so ist:
1. Die Lehre von der durchgehenden Correla-
tion des Leiblichen und Geistigen, die unmittelbare
Anwendung des Satzes von der Erhaltung der Energie^ und sie
erfordert zu ihrer Durchführung die Zurückführung alles Seeli-
schen auf ein einfaches Element.
2. Die Lehre von der Homologie aller thieri-
schen Organismen, d.h. diejenige, die zum Studium der
vergleichenden Anatomie und Physiologie und Embryologie
überhaupt Entwickelungsgeschichte treibt, nöthigt zu der An-
nahme, dass dasjenige, was das letzte einfachste Element des
menschlichen Seelenlebens bilden soll, schliesslich kein anderes
sein kann, als dasjenige, welches sich in den einfachsten Thier-
formen nachweisen lässt
3. Die Lehre von der functionellen Indifferenz
der Nervenfasern und Nervenzellen führt unmittelbar
und ganz unabweislich zu der Consequenz, dass die höheren psy-
chischen Leistungen aus den niederen, durch Complication und
Combination sich gerade so zusammensetzen müssen, wie die
Centralorgane, als deren Leistung sie anzusehen sind, sich aus
Fasern und Zellen zusammensetzen.
4 Endlich die Lehre von der individuellen Auto-
nomie und Gleichartigkeit der den Organismus
constituirenden Factoren, eine Lehre, deren sämmtliche
Consequenzen wir weitaus noch nicht zu übersehen vermögen,
nöthigt in Verbindung mit den übrigen zu der Annahme des
einen und gleichen Ursprunges und Entwickelungsganges für
Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie. III. 8. 22
338 A. Horwicz:
alle seelisohen Qualitäten. Eine specielle Anwendung dieses
Theorems auf die verschiedenen Empfindungsarten fuhrt zu
der wichtigen Lehre von der Homologie der Sinnesempfin-
dungen und Gemeingefühle.
Und wenn wir uns von dieser streng naturwissenschaft-
lichen, die Resultate zahlreicher Detailforschungen zwar hoch
generaUsirenden , die Grenzen einer besonnenen thatsächlichen
Induction ahei* nicht verlassenden Betrachtungsweise zu den
vorhandenen psychologischen Theorien zurückwenden^ um zu
prüfen, welche von ihnen den genannten Erfordernissen am
Besten entspreche, dann können wir uns allerdings bei der
Annahme einer Mehrheit grundverschiedener Vermögen nicht
beruhigen, ebenso wenig aber oder noch viel weniger bei der
hypothetischen Annahme eines den drei Vermögen vorauf-
liegenden Primitivzustandes, für dessen Existenz keine einzige
Thatsache beigebracht werden kann. Trotz der grossen Ver-
dienste im Einzelnen, welche Herbart und viele seiner Schüler
um unsere Wissenschaft sich erworben haben, gilt ihre Ge-
sammtconstruction der seelischen Processe heute wohl ziemlich
allgemein für unmöglich; namentlich ihre Zurückführung der
Gefühle und Begehrungen auf Verhältnisse der Reproduction
und dann wieder ihre Erklärung dieser letzteren ist als völlig
unhaltbar ausser von vielen Anderen auch von mir wiederholt
nachgewiesen worden. Der englische Associationismus, mit
dem ich mich bisher allerdings noch nicht auseinandergesetzt
habe, leidet an denselben Unmöglichkeiten, wie die Herbart'sche
Lehre. Aus der blossen Verbindung der Vorstellungen lassen
sich einmal Gefühl und Begehren nicht ableiten und es lassen
sich, wie ich an betrefi'ender Stelle nachgewiesen zu haben
glaube, aus ihr noch nicht einmal die Gesetze der Verbindung
der Vorstellungen begründen. Beneke's und Fortlage's Con-
structionen wird Niemand für eine natürliche und ungezwungene
Erklärung der psychischen Thatsachen und Erscheinungen aus-
geben wollen und ebenso wenig wird man sich heute bei
Schopenhauer's Bestimmungen beruhigen können, über welche
letzteren Autoren ich mich auf die bezüglichen Auseinander-
setzungen in den Analysen beziehen kann.
Das Verhältniss der Gefühle zu den Vorstellungea etc. 339
Wenn alle diese Ansichten, als mit den psychischen That-
Sachen und Erscheinungen in Widerspruch stehend, offenbar
unbe^iedigt lassen, so bleibt doch wirklich, falls man auf eine
einheitliche Auffassung des Seelenlebens nicht gänzlich Verzicht
leisten will, keine andere übrig, als diejenige, welche alle
anderen seelischen Processe auf die Gefühle der Lust und Un-
lust zurückzuführen sucht. Diese darf in der That mit Recht
auf das Prädicat der Einfachheit und NatürUchkeit Anspruch
machen, insofern, als die Gefühle offenbar das Erste sind, was
der Mensch an psychischem Besitz mit auf die Welt bringt,
was ihn die Kindheit hindurch mit voller Macht beherrscht und
mit abnehmender Lebenskraft langsam erkaltet und dem gegen-
über der Intellect langsam von minimalen Anfängen an all-
mälig sich Stück für Stück mühsam seinen Boden erringen
muss. Dass die gegenständliche Vorstellung nichts Ursprüng-
liches ist, darin stimmen ohne Ausnahme Alle überein, die
sich heutzutage um Psychologie bekümmern, und das drängt
sich uns in der That bei der Analyse der Vorstellungen bei
dem ersten Blick unter die Oberfläche sofort auf. Die Ansicht,
dass der Wille das Gefühl bedinge, die neuerdings, wohl im
Anschluss an Schopenhauer, der aus unserer Mitte so früh ab-
gerufene C. Goering vertrat, kann in dieser Allgemeinheit nicht
aufrecht erhalten werden, ohne sofort zu der pessimistischen
Gonsequenz des grundlosen Willens zu führen. Abgesehen
hievon, da wir von der Einfachheit und Natürlichkeit sprechen,
welche Ansicht von Beiden erscheint einfacher und natürlicher,
dass man einen Zustand, weil er angenehm ist, festzuhalten
und, weil er unangenehm ist, los zu werden strebt, oder die um-
gekehrte^ dass wir einen Zustand angenehm finden, weil wir
finden, dass wir ihn erstreben, und unangenehm, weil wir fühlen,
dass wir ihn meiden? Hier kann wohl kein Zweifel obwalten.
Wenn von der Natürlichkeit die Rede ist, so kommt das
Verhältniss zur Naturwissenschaft entscheidend in Betracht;
und da dürfen wir wohl zuversichtlich behaupten, dass mit den
aufgeführten naturwissenschaftUchen Anforderungen keine an-
dere psychische Gotistruction im Entferntesten so gut über-
22*
340 A. Horwicz:
einstimmt, als diejenige der Priorität des Gefühls. Sobald wir
die Entwickelungsgeschichte in Betracht ziehen ; so kann es
wohl keinem begründeten Zweifel unterliegen, dass Lust und
Unlust die früheste, noch aiif den niedersten Stufen der Thier-
weit nachweisbare Empfindungsform sei und nichts Anderes.
Herr Prof. W. will zwar auch hier schon Willen und Vor-
stellungen finden. Er sagt S. 147 : „Bei den niedersten thie-
^frischen Wesen, bei denen wir nur eben das Vorhandensein
„von Sinnesfunctionen nachweisen können, treten uns auch
„schon Bewegungen entgegen, die uns als willkürliche er-
„scheinen, ja bekanntlich schliessen wir auf den untersten
„Stufen des Thierreichs, wo sich Sinnesorgane noch nicht diife-
„renzirt haben, nur aus den willkürlichen Bewegungen auf die
„Existenz sinnlicher Vorstellungen.^' Aber das heisst eben
„willkürlich schhessen'^ Der Physiologe kann aus einer Be-
wegung zunächst überhaupt weiter Nichts schliessen^ als dass
sensible Nerven bzhtl. Sarkode gereizt wurde. Um eine Be-
wegung als eine „willkürliche*^ anzusprechen, dazu sind schon
längere Beobachtungen und zusammengesetztere Schlüsse er-
forderlich. Wenn wir auf die allerfrühesten Anfange psychi-
scher Entwickelung zurückgehen wollen, dann haben wir es
natürlich weder mit willkürhchen Bewegungen, noch mit irgend
welchen Vorstellungen zu thun. Was empfindet der sprüch-
wörtUche Wurm, wenn er getreten wird und sich krümmt?
Etwa die Vorstellung „Tritt** und den Willen „das leid^ ich
nicht**? Offenbar empfindet er weiter Nichts, als Schmerz, und
er krümmt sich, weil er nicht anders kann, weil der in seinen
Geweben gesetzte Reiz die Muskelfasern contrahirt. Ebenso,
wenn die Monere in dem sie umgebenden Medium entweder
assimilirbare Substanz findet, oder Mangel leidet, dann em-
pfindet sie zuverlässig nichts Anderes, als was das Neugeborene,
das zuerst die nährende Mutterbrust mit den reflectorisch
saugenden Lippen erfasst, Lust in dem einen, Unlust in dem
anderen Falle.
Ueberhaupt was physiologisch der früheste Zustand der
Dinge ist, das kann ja gar nicht zweifelhaft sein : Ein Reiz, der
X
Das YerhältnisB der Gefühle zu den Vorstellungen etc. 341
an das eine Ende eines sensibeln Nerven tritt , denselben in
Erregung versetzt und die Erregung desselben auf diejenigen
Gewebe y die 'mit ihm in leitender Verbindung stehen, über-
trägt. Der Reiz ist angenehm oder unangenehm, wäre er
gleichgiltig, so wäre er eben kein Reiz. Von diesem frühesten
Process der Reflexbewegung bis aufwärts zu den höchsten
Leistungen des psychischen Organismus besteht eine lange Kette
innig zusammenhängender und durch fliessende Uebergänge
verbundener Zwischenglieder. Lust und Unlust, Schmerz und
Wohlsein finden wir auf allen Stufen dieser langen und reich-
gegliederten Kette, und in jeder Phase zeigt sich dieser Factor
als der machtvollste und die übrigen Erscheinungen beherr-
schende. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass die
Ansicht, welche in diesem am frühesten erscheinenden und den
ganzen Entwickelungsgang in besonders machtvoller W^ise be-
gleitenden Factor, dem Gefühl in Verbindung mit der unmittel-
bar aus ihm folgenden Bewegung, das letzte, einfachste, in allen
Formen und Processen als Grundtypus wiederkehrende Seelen-
element gefunden zu haben glaubt, an Einfachheit und
Natürlichkeit es getrost mit jeder anderen Ansicht vom
Seelenleben aufnehmen, ja sogar einen erheblichen Vorrang be-
anspruchen darf.
Der Streit ist, wie einer der ältesten Meister der löblichen
Philosophenzunft bemerkt hat, der Vater der Dinge. Hofi'ent-
lich wird auch dieser Streit sich als ein fruchtbarer erweisen.
Mir, glaube ich, wird keiner meiner Leser den Vorwurf ma-
chen, dass ich meine Ansicht, die ich freilich für die richtige
halten muss, dem Publikum in aufdringlicher Weise als aliein
richtige anpreise. Vielmehr habe ich nie verhehlt, dass ich sie
betrachte als einen neuen Versuch der Lösung eines ebenso
schwierigen als wichtigen Problems, in Betreif dessen — ad-
huc sub judice lis est.
Magdeburg. . A. Horwicz.
344 W. Wandt:
wirft mir vor, ich hätte die Behauptung, dass der Thätigkeit
des Nachdenkens ein Gefühl vorangebe, zuerst geleugnet und
dann im nämlichen Satze selbst zugegeben^ indem ich sagte,
man merke von der supponirten Fragestellung erst dann etwas,
wenn die appercipirten Vorstellungen zu Gegenständen des Nach-
denkens gemacht werden. Ich hätte mich vielleicht deutlicher
ausdrücken können: nicht im Verlauf des Denkens als solchem,
meinte ich, bemerken wir die Fragestellung, sondern dann
etwa können wir dieselbe in das innerlich Wahrgenommene
hineininterpretiren , wenn wir über den Verlauf des Denkens
Reflexionen anstellen, indem wir uns fragen, wie er zu Stande
komme. Das ,,quod erat demonstrandum^* ist also hier nicht
am Platze. Sodann glaubt Herr Horwicz, ich schreibe ihm die
Meinung zu, die höheren (intellectuellen, ästhetischen^ sittlichen)
Gefühle giengen den einzelnen Vorstellungen voraus, aus
denen sich die VorsteUungsmassen, an die sie geknüpft sind,
zusammensetzen, so als wenn die ganze Reihe der Gefühle von
den einfachsten sinnlichen an bis zu den verwickeltsten ethi-
schen und ästhetischen fertig sein müsste, ehe unser Bewusst-
sein anfienge überhaupt Vorstellungen zu appercipiren. Es ist
mir niemals beigefallen, ihm eine so sonderbare Meinung zu-
zuschreiben; vielmehr bitte ich den Ausdruck, „sie eilten den
Vorstellungen, an die sie geknüpft sind, voraus'^ genau
in seinem wörtlichen Sinne zu nehmen. Die ästhetische
Wirkung, welche die Sixlinische Madonna auf mich macht, ist
weder an die Farbe ihres Mantels, noch an die Engel zu ihren
Füssen, noch auch an die Madonna allein gebunden, sondern
an die Gesammtheit der Vorstellungen, aus denen das Bild sich
zusammensetzt.
Die Frage nun, auf welche es mir bei der Beurtheilung der
Ansicht des Herrn Horwicz zunächst anzukommen scheint, ist
die, ob wir in derselben eine Aussage über unmittelbar ge-
gebene Thatsachen der inneren Erfahrung oder aber eine
Hypothese vor uns haben, die dazu bestimmt ist, den Zu-
sammenhang gewisser Thatsachen zu erklären. Herr Horwicz
selbst hat sich darüber nicht ganz bestimmt ausgedrückt Er
Psychologische Thatsachen und Hypothesen. 345
bezeichnet die Lehre von der Priorität der Gefühle bald ab
eine Theorie, — worunter wir doch nur eine auf die That-
sachen angewandte und durch sie legah'sirte Hypothese ver*
stehen, — bald erklärt er, das Vorangehen der Gefühle sei eine
Thatsache, an der in allen einzelnen Fällen nicht gezweifelt
werden könne. Prüfen wir daher:
1) Ist die Priorität der Gefühle eine thatsäch-
liche Wahrheit? Ich kann nicht anerkennen, dass die
Beispiele, die Herr Horwicz auch in seiner neuesten Abhand-
lung wieder beibringt, Beweiskraft besitzen. Wenn Jemand
einen Schlag ins Gesicht erhält, so soll er sich zuerst eines un-
angenehmen Gefühls und dann der Vorstellung des Schlages
bewusst werden. Ich halte es für möglich, dass von dem, was
bei einem derartigen Vorgang in unser Bewusstsein eintritt,
zuerst dasjenige, was wir Gefühl nennen, deutlicher appercipirt
wird; ich sehe aber keinen zwingenden Grund, warum dies
immer der FaD sein sollte, und die innere Wahrnehmung
scheint mir dieser Annahme einer ausnahmslosen Priorität
selbst in derartigen — offenbar für die Lehre besonders gün-
stigen Fällen — zu widersprechen. Wenn nun verschiedene
psycholo*gische Beobachter über eine so einfache Frage uneins
sein können, beweist dies freilich in betrübender Weise, ein
wie vieldeutiges und unzuverlässiges Ding die innere Wahr-
nehmung ist, aber es beweist auch, dass die von Herrn Hor-
wicz verfochtene Behauptung nicht die Gewissheit einer That-
sache besitzt.
Dass bei der Aufmerksamkeit sowohl wie bei der Repro-
duction der Vorstellungen das Interesse und demzufolge auch
das Gefühl eine Rolle spielt, leugne ich nicht. Aber einerseits
leugne ich, dass das Gefühl immer die Apperception und die Re-
production lenkt, indem mir unter bestimmten Bedingungen,
namentlich bei den Verbindungen des logischen Denkens, viel-
mehr der Wille von entscheidendem Einfiluss zu sein scheint
Anderseits leugne ich, dass eine Trennung von Gefühl und
Vorstellung in der Weise, wie es in den „psychologischen
Analysen^* geschieht, sich durchführen lasse, da das Gefühl
346 W. Wundt«
ebensosehr von dem Inhalt der Vorstellungen wie von der
augenbhcklichen Disposition des Bewusstseins abzuhängen scheint.
Als eine unmittelbare Thatsache der inneren Walu'nehmung
wird demnach die Behauptung der Priorität des Gefühls nicht
betrachtet werden können, sondern höchstens als eine Hypo-
these, welche die Prüfung zu bestehen hat, inwiefern sich die
Thatsachen aus ihr erklären lassen.
Nun habe ich ferner bemerkt, dass zur Durchführung
dieser Hypothese nebenbei noch Hülfshypothesen erforderlich
sind und in dieser Beziehung auf das rhythmische Gefühl hin-
gewiesen, dessen Entstehung offenbar das ßewusstseiii einer
Aufeinanderfolge der Vorstellungen voraussetzt. An ein ent-
wickeltes Zeitbewusstsein braucht man hierbei, wie ich glaube,
nicht zu denken. Warum man die Fähigkeit, eine neue Vor-
stellung auf eine vorangegangene ähnliche zu beziehen, dem
Kind in einer frühen Lebenszeit absprechen solle, dazu sehe ich
keinen entscheidenden Grund vorliegen. Herr Horwicz zieht
statt dessen vor, physiologische Processe, nämlich eine beson-
dere Art von Nervenfibrationen anzunehmen, welche die rhyth-
mischen Eindrücke begleiten und unmittelbar das Gefühl er-
regen sollen. Er beschwert sich über den von inir ge-
brauchten Ausdruck, wonach er „hypothetische Nervenfibrationen
erfunden" habe; Schwingungsvorgänge in den Nerven seien
allgemein von den Physiologen angenommen. Aber davon, dass
man bei den einzelnen Tonempfindungen Schwingungen in den
Nerven voraussetzt, ist hierbei nicht die Rede. Die in Wirk-
lichkeit neue Annahme ist die, dass der Rhythmus auf einer
besonderen Anordnung von Wellenzügen in den Nerven be-
ruhe, auf einer Superposition von Schwingungen, „ähnlich wie
bei den Differenz- und Summationstönen''. Hier ist mir die
Beziehung auf die Combinationstöne ganz unverständlich. Bei
ihnen erfolgt schon in der äusseren Luft eine Superposition
gleichzeitig zusammentreffender Schallwellen. Die Com-
binationstöne sind daher objective Töne und werden nicht
anders als wie alle objecliven Töne von uns empfunden. Die
Hypothese des Herrn Horwicz scheint mir aber, wenn ich ihn
Psychologische Thatsachen und Hypothesen. 347
recht verstehe, darauf hinauszulaufen^ dass in den Nerven eine
Superposition successiver Schwingungen stattfinde, die sich
dann zu einer neuen Schwingungsforra^ welche dem Rhythmus
entspreche, zusammensetzen sollen. Dies sind in der That
vollkommen hypothetische Nervenfibrationen, die nur von Herrn
Horwicz zum Zweck seiner physiologischen Erklärung erfunden
sind, und für die uns auf physiologischem Gebiet jeder An-
haltspunkt, ja jede Analogie fehlt.
Als thatsächlich erwiesen kann demnach die Lehre des
Herrn Horwicz keineswegs gelten. Der inneren Wahrnehmung
lassen sich anscheinend ebensowohl Instanzen für wie gegen
dieselbe entnehmen^ und in einzelnen Fällen, wie z. B. beim
rhythmischen Gefühl, bedarf sie zu ihrer Durchführung höchst
unwahrscheinlicher physiologischer Hülfshypothesen. Prüfen
wir daher:
2) Ist die Lehre von der Priorität der Gefühle
eine nützliche Hypothese? Wir bedürfen in der Wissen-
schaft bekanntlich auch der Hypothesen. Zunächst ist es uns
um die Thatsachen zu thun; aber um die Thatsachen in einen
Zusammenhang zu bringen, ist die Hypothese unerlässlich. Die
Deduction der Thatsachen aus der zu Grunde gelegten Hypo-
these ist sodann die Aufgabe der Theorie. In diesem Sinne
könnte nun die Lehre von der Priorität der Gefühle, da sie
eine widerspruchslose Anerkennung als Thatsache nicht finden
kann 9 den Charakter *einer Hypothese besitzen; die Unter-
suchungen des Herrn Horwicz würden dann die Theorie zu
dieser Hypothese sein. Ich sehe meinerseits in einem der-
artigen Unternehmen^ auf eine Hypothese, sobald sie nur erst
zureichend begründet ist, eine Theorie zu bauen, ein höchst
verdienstliches Werk, welches in den meisten Fällen einer blossen
Sammlung von Thatsachen vorzuziehen ist. Herr Horwicz selbst
erklärt aber, dass ihn diese Absicht nicht geleitet habe; er hat
in jeder einzelnen Untersuchung unabhängig die Ueberzeugung
von der Priorität des Gefühls sich erworben, er hat also den
inductiven Weg nicht zu verlassen beabsichtigt, und jene Ueber-
348 W, Wundt:
Zeugung betrachtet er als das schliessliche Resultat seiner In-
duction.
Gleichwohl glaube ich hier sein Werk gegen sein eigenes
Zeugniss in Schutz nehmen zu müssen, indem ich nachzu-
weisen suche, dass dasselbe, obzwar es im Einzelnen einen
inductiven Weg einzuschlagen pflegt, doch im Ganzen den
Charakter einer Theorie besitzt, welche auf eine bestimmte
Hypothese gegründet ist Er weist nämlich auch in seiner
neuesten Abhandlung mehrfach auf vier physiologische
Theoreme hin, welche er als die eigentlichen Fundamente
seiner Lehre bezeichnet Aus diesen vier Theoremen soll mit
Nothwendigkeit die Forderung hervorgehen, dass alles Psy-
chische auf ein einfachstes Element zurückgeführt werde,
welches einerseits schon in den einfachsten Thierformen nach-
zuweisen und anderseits in den Sinnesempfindungen und in den
Gemeingefühlen als ein gleichartiges Element enthalten sein
müsse. Hierdurch ist nun allerdings über die Natur dieses
Elementes noch nichts Bestimmtes ausgesagt; aber es ist doch
klar, dass, sobald nun weiterhin in den Gemeingefühlen das
Lust- und Unlustgefühl als das charakteristische Element ge-
funden ist, über jenes gemeinsame Element psychischer Ent-
wickelung kein Zweifel mehr obwalten kann. Insofern darf
man also wohl sagen: die Lehre von der Priorität des Gefühls
ist eine wesentlich aus physiologischen Theoremen deducirte
Hypothese, auf welcher dann die psychologische Theorie auf-
gebaut wird. Gegen dieses Verfahren wäre nichts einzuwenden,
wenn die Deduction der Hypothese als eine gelungene be-
zeichnet werden könnte. Selbst dass es eine andere Wissen-
schaft ist, welche zum grossen Theil die Prämissen hergiebt,
stände an und für sich nicht im Wege. Die theoretische Na-
tionalökonomie z. B. gewinnt bekanntlich einen grossen Theil
ihrer Erklärungen, indem sie Voraussetzungen der praktischen
Psychologie ihren Deductionen zu Grunde legt. Ich kann nun
aber durchaus nicht finden, dass aus den vier Theoremen, welche
Herr Horwicz anführt, dasjenige folgt, was er daraus ableitet, und
Psychologische Thatsachen und Hypothesen. 349*
ich will versuchen dies nachzuweisen, indem ich sie einzeln
durchgehe. .
1) Die Lehre von der durchgehenden Corre-
lation des Leiblichen und Geistigen sei die unmittel-
bare Anwendung des Satzes von der Erhaltung der Energie,
und sie erfordere zu ihrer Durchfuhrung die Zuruckführung
alles Seelischen auf ein einfaches Element. Hierauf erwiedere
ich^ dass erstens jene Lehre von der Correlation durchaua
keine unmittelbare Anwendung des Satzes von der Erhaltung
der Energie ist, und dass, wenn sie dies wäre, dadurch die
Zuruckführung des Seehschen auf ein einfaches Element nicht
nothwendig gefordert würde. Jene Correlation, d. h. eine
fortwährende Beziehung geistiger auf körperiiche Vorgänge,
könnte auch stattfinden, wenn gelegentlich Energie entstehen
oder verschwinden sollte. Ferner aber folgt aus dem Satz von
der Energie und dem von der Correlation zusammengenommen
nicht im mindesten ^ dass alles Psychische auf ein einfaches
Element zurückzuführen sei. Beide Sätze könnten bestehen,
wenn verschiedenen Formen der Energie ganz verschiedene
psychische Elemente entsprächen. Auch wenn die sehr ver*
breitete physikaUsche Voraussetzung, die ich gleichfalls für eine
wahrscheinliche halte, sich bestätigen sollte, dass die verschie-
denen Formen der Energie auf eine gemeinsame Grundform
zurückführbar seien^ so würde daraus jener psychologische Satz^
nicht folgen. Denn so gut Ton und Licht, obgleich sie als
physikalische Bewegungsvorgänge verwandt sind, doch von un&
verschieden empfunden werden, ebenso gut könnten den ver-
schiedenen Formen der einen Bewegungsenergie ganz ver-
schiedene psychische Elemente entsprechen, ohne dass der Satz
durchgängiger Correlation verletzt wäre. Nicht physikalische
und physiologische Gesetze veranlassen uns, die psychologischen
Thatsachen so viel als mögUch auf einfache und überein-
stimmende Elemente zurückzuführen, sondern wir werden da-
bei zunächst durch den jeder Wissenschaft innewohnenden
Einheitstrieb und dann dadurch geleitet, dass es in einer ge-
350 W. Wundt:
wissen Zahl von Fällen in der That gelungen ist, complexere
Erscheinungen aus einfacheren Elementen abzuleiten.
2) Die Lehre von der Homologie aller thieri-
sehen Organismen nöthige uns zu der Annahme, dass das
letzte einfache Element des menschlichen Seelenlebens überein-
stimmend sei mit demjenigen, welches sich in den einfachsten
Tliierformen nachweisen lasse. Ich habe gegen diesen Satz
nur einzuwenden, dass ich seine umgekehrte Formulirung vor-
ziehen würde: die einfachsten Elemente, die sich im mensch-
lichen Bewusstsein nachweisen lassen, sind mit Wahrscheinlich-
keit bei den einfachsten Thierformen vorauszusetzen. Wir
schliessen bei den Thieren aus den Bewegungsreactionen, die
sie auf äussere Eindrucke erkennen lassen, auf die psycholo-
gischen Vorgänge in ihnen, aber doch nur deshalb, weil wir
bei ähnlichen Bewegungen bestimmte psychologische Vorgänge
in uns selber finden. Bei der Frage nach der Natur der
letzteren, und demnach auch bei der Frage, was der elemen-
tarste psychologische Vorgang sei, sind wir ganz auf uns selbst
angewiesen. Zugleich muss ich trotz des Widerspruchs des
Herrn Horwicz an meiner Behauptung festhalten, dass die will-
kürliche Bewegung das einzige Merkmal sei, aus welchem wir
bei niederen Thieren auf psychische Eigenschaften schliessen ;
jede andere Bewegung lässt sich von mechanischen Reflexen
oder von Reizbewegungen, wie sie an vielen Pflanzentheilen
vorkommen, nicht mit Sicherheit unterscheiden. Ich glaube,
dass ich mich mit dieser Behauptung durchaus im Einklang
befinde mit allen Forschern, die jemals das Grenzgebiet zwischen
Pflanzen- und Thierreich zum Gegenstande ihrer Untersuchung
gemacht haben.
3) Die Lehre von der functio n eilen Indifferenz
der Nervenfasern und Nervenzellen führe zu der
Consequenz, dass die höheren psychischen Leistungen aus den
niederen gerade so durch Complication und Combination sich
zusammensetzen wie die Centralorgane, als deren Leistung sie
anzusehen sind, sich aus Fasern und Zellen zusammensetzen.
Zunächst ist, wie ich glaube, in dieser Schlussfolgerung die
Psychologische Thatsachen und Hypothesen. 351
anatomische in eine pphysiologische Parallele zu verwandeln und
das Wort „zusammensetzen" mit „entwickeln*' zu vertauschen.
Die höheren psychischen Leistungen entwickeln sich aus den
niederen, wie die Gesammtleistungen der Centralorgane aus den
Leistungen ihrer Elemente sich entwickeln. Sodann ist aber
dieser Satz nicht eine Folgerung aus der functionellen In-
differenz, sondern aus der Correlation. Aus der Indifferenz
würde weiterhin folgen — und dies scheint in der That die
wirkliche Meinung des Herrn Horwicz zu sein, — dass alle
psychischen Leistungen aus elementaren Processen
gleicher Art sich zusammensetzen. In dieser Form aus-
gedrückt, d. h. auf die entwickelten Leistungen des Central-
organs und auf die entwickelten Functionen des Bewusstseins
angewandt, ist aber der Satz physiologisch und psychologisch
nicht haltbar, und zwar deshalb, weil die functionelle Indiffe-
renz nicht bezogen werden kann auf die bleibenden Eigen-
schaften der Nervenapparate, sondern nur auf ihre ursprüng-
liche Beschaffenheit^). Eine vollständige Gleichartigkeit der
Processe in den Elementen des entwickelten Nervensystems ist
deshalb unannehmbar, weil die verschiedenen Elemente wesent-
lich verschiedenen Bedingungen äusserer Reizerregung und
wechselseitiger Verbindung ausgesetzt sind und auf diese Weise,
wie auch durch die Thatsachen bezeugt wird, verschiedene
Eigenschaften annehmen mussten. Damit fällt auch die hierauf
gebaute psychologische Folgerung bis auf die ganz allgemeine
Voraussetzung, dass die elementaren Vorgänge^ mit welchen die
psychische Entwickelung beginnt, wahrscheinlich von gleich-
artiger Beschaffenheit sein werden. Hieraus folgt aber nicht,
dass die höheren psychischen Leistungen sich aus jenen ele-
mentaren Functionen zusammensetzen. Denn Zusammensetzung
und Entwickelung sind durchaus verschiedene Begriffe. Der
Mensch z. B. entwickelt sich aus den Furchungszellen des
Dotters, er ist aber nicht aus Furchungszellen zusammengesetzt.
*) Ich darf wohl in dieser Beziehung auf die Auseinander-
setzungen auf S. 351 f. meiner physiol. Psychologie verweisen.
352 W. Wundt:
•
4)DieLehre von der individugellen Autonomie
und Gleichartigkeit der den Organismus consti-
tuirenden Factoren nöthige zu der Annahme des einen
und gleichartigen Ursprungs und Entwickelungsganges für alle
seelischen Qualitäten; eine specielle Anwendung hiervon sei
die Lehre von der Homologie der Sinnesempfindungen und Ge»
meingefühle. Dieses vierte Theorem gehört, so weit es sich auf
den gleichartigen Ursprung bezieht, eigentlich unter 3, da man,
wie wir sahen, den gleichartigen Ausgangspunkt als eiüe Folge-
rung aus der functionellen Indifferenz betrachten kann. Bass
aber auch der Entwickelungsgang wahrscheinhcher Weise ein
^einer und gleichartiger*' sei, muss ich leugnen, da verschie-
dene Producte aus einem gleichartigen Ursprung eben nur dann
hervorgehen können, wenn der Entwickelungsgang ein ver-
schiedener ist. Was die Sinnesempfindungen und Gemein-
geföhle betrifft, so wird daher ihre Beurtheilung davon ab-
hängen, ob man sie für elementare und unentwickelte oder
für zusammengesetzte und entwickelte psychische Gebilde hält
Da wir nun schwerlich erwarten dürfen, dass die einfachsten
psychischen Zustände im entwickelten menschlichen Bewusst-
sein noch anzutreffen sind, so wird man wohl berechtigt sein,
sie für relativ einfach, aber immerhin bereits differenzirt
nach verschiedener Richtung zu halten. Damit stimmt in der
That die gewöhnliche Ansicht überein, nach welcher in der
Sinnesempfindung und in der Gemeinempfindung eine be-
stimmte Empfindungsqualität und ein Lust- oder Unlustgefühl
verbunden sind, wobei in der ersteren jene, in der letzteren
dieses überwiegt. Ein Schluss auf die Priorität des Gefühls
kann hieraus in keiner Weise gezogen werden, sondern es
würde im Gegentheil, wenn überhaupt auf so unsicherer Grund-
lage ein Schluss zulässig wäre, wohl eher gefolgert werden
können, dass das Quäle der Empfindung und das Lust- oder
Unlustgefühl, die wii* in Sinnesempfindung und Gemeingefühl
als zu einem gewissen Grade einseitig ausgebildet finden, in
den ursprüngUchen Elementen der psychischen Entwickelung
noch ungetrennt enthalten seien.
\
Psychologische Thatsachen und Hypothesen. 353
Hiernach kann, wie ich glaube, der Lehre von der Priori-
tät des Gefühls auch der Charakter einer zunächst aus physio-
logischen Sätzen gefolgerten Hypothese, welche man zur Aus-
bildung einer psychologischen Theorie benutzt hat, nicht zu-
erkannt werden. Auch würde dem die Rolle, welche jene
Lehre in den psychologischen Einzeluntersuchungen des Herrn
Horwicz spielt, widersprechen : überall wird hier auf die Priori-
tät des Gefühls als auf eine Thatsache der inneren Wahr-
nehmung hingewiesen, ohne dass eine eigentliche Erklärung
der sonstigen Thatsachen des Bewusstseins aus dieser Annahme
daran geknüpft würde, wie denn überhaupt die Analysen des
Herrn Horwicz nicht sowohl den Chai^akter einer Theorie der
inneren Erfahrung als denjenigeo einer sorgfaltigen Beschrei-
bung besitzen. Darin besteht meines Erachtens gerade ihr
Vorzug. Eine Schilderung, die in die einzelnen Erscheinungen
des inneren Geschehens sich vertiefl, wird bei dem heutigen
Stand unseres psychologischen Wissens durchaus nur einen
descriptiven Standpunkt einnehmen können. Es ist, wie ich
glaube^ allein dies zu bedauern, dass sich Herr Horwicz bei
seinen sorgfaltigen Beschreibungen durch das Yorurtheil ypn
der Priorität des Gefühls dann und wann den Blick hat trüben
lassen. Gerne aber erkenne ich an^ dass auch diesem einseitigen
Hervorheben der Bedeutung der Gefühle für das Seelenleben
ein gewisses Verdienst zukommt. Man hatte sich; namentlich
unter dem Einfluss der Herbart'schen Schule, allzu sehr daran
gewöhnt y die Gefühle als blosse Producte des Yorstellungs-
mechanismus zu betrachten. Es ist darum ganz angemessen,
wenn Jemand kommt und nun einmal diese Anschauung ganz
auf den Kopf stellt. Darum ist das so gewonnene Bild frei-
lich nicht minder einseitig und thut nicht minder der inneren
Wahrnehmung Gewalt an.
Ich habe nachzuweisen versucht, dass die Lehre des Herrn
Horwicz weder eine nachgewiesene Thatsache, noch eine legi-
time wissenschaftliche Hypothese ist, deren Function darin be-
stände, einen Zusammenhang zwischen den Thatsachen her-
zustellen. Sie ist; wie ich glaube, ein Mittelding zwischen
YierteljahrBschrift f. inssenschttfi;!. Philosophie. IH. 3. 23
354 W. Wundt:
beiden and gehört dadurch einer Classe von Sätzen an, die in
der gegenwärtigen Psychologie noch eine ausserordentlich grosse
Rolle spielen^ und auf deren Gefährlichkeit aufmerksam zu
machen der Hauptzweck dieser Zeilen ist: sie ist eine hypo-
thetische oder vielmehr problematische Thatsache. In Ge-
bieten^ auf denen die Beobachtung der Thatsachen mit noch
nicht überwundenen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wo über-
dies legitime Hypothesen zur Erklärung der Thatsachen nur in
sehr geringem Umfange möglich sind, ist es eine ganz gewöhn-
liche Erscheinung, dass man, um einen leitenden Faden für die
Aneinanderreihung der Erscheinungen zu finden, diesen in
irgend einer der einzelnen Thatsachen selbst zu gewinnen sucht,
welche man nun in allen complexen Erscheinungen wiederzu-
entdecken glaubt. Ich erinnere an die älteren Schulmeinungen
der Physiologie, von denen die eine in der mechanischen
Wirkung der Körpertheile, eine andere in> dem Gegensatz von
Säure und Alkali in den Körpersäften^ eine dritte in der Irri-
tabilität das Vehikel aller Lebenserscheinungen zu sehen meinte.
Derartige Einheitsbestrebungen^ welche an die Stelle einer lei-
tenden Hypothese die unberechtigte Verallgemeinerung einer
Thatsache setzen, kommen selbst in den fortgeschritteneren
Entwickelungsstadien der Wissenschaft vor, wie sollte die Psy-
chologie davon verschont bleiben? Aber sie hat den Vortheil,
dass ihr, da sie spät kommt, warnende Beispiele aus der Ge-
schichte anderer Wissenschaften vor Augen stehen, und dass
dem Psychologen durch den Kreis seiner Beschäftigungen mehr
als dem Forscher auf anderen Gebieten die Prüfung der Frage
nahe gelegt wird, was thatsächlich gewiss, was eine zur Er-
klärung brauchbare Hypothese , und was keines von beiden^
sondern eine problematisch angenommene Thatsache sei, deren
gleichförmiges Vorkommen in einem Erfahrungsgebiet voraus-
gesetzt wird, um eine äussere Verbindung des Mannigfaltigen
herzustellen, ohne dass diese Thatsache darum einen Erklärungs-
grund des Geschehens enthielte.
Solchen Bestrebungen gegenüber, die aus dem der wissen-
schaftlichen Forschung stets innewohnenden, im gegenwärtigen
Psychologische Thatsachen und Hypothesen. 3Ö5
Fall aber doch in unrichtiger Weise sich äussernden Einheits*
bedürfniss hervorgegangen sind^ glaubte ich nun die innige Ver-
bindung jener inneren Zustande, die wir auf der einen Seite
als Vorstellungen, auf der anderen als Gefühle, Begehrungen,
Willensregungen bezeichnen, als dasjenige bezeichnen zu dürfen,
was uns zunächst in unserer inneren Wahrnehmung thatsäch-
lich gegeben ist. Herr Horwicz versichert zwar, eine That-
Sache, „die vor jeder psychologischen Untersuchung sich uns
aufdrängt*', flösse ihm nicht den mindesten Respect ein. Ich
kann aber hier diesen geringen Respect vor Wahrnehmungen,
die der wissenschaftlichen „Prüfung, Sichtung und Ordnung"
vorangehen, nicht theilen. Die Wissenschaft hat zunächst aus-
zugehen von denjenigen Wahrnehmungen, die ihr zur Prüfung
übergeben werden, und sie hat, sobald sie diese Wahrnehmungen
corrigirt, das Bedürfniss und die Berechtigung hierzu nachzu-
weisen. Sie hat dies vor allem dann nicht zu versäumen,
wenn, wie es in der Psychologie geschieht, die „Sichtung und
Ordnung^ der Thatsachen so leioht die Gefahr mit sich führt,
dass dieselben aus ihrer wirklichen Ordnung in eine künst-
liche übergeführt werden. Wenn Herr Horwicz auf das Trüge-
rische der inneren Wahrnehmung hinweist, so unterschreibe
ich dies vöUig; ich mache ihn aber darauf aufmerksam, dass
die Täuschungen der inneren Wahrnehmung vor allem da be-
ginnen, wo sich dieselbe zu einer angeblichen „inneren Be-
obachtung" zu erheben sucht, die, obgleich sie gar keine an-
deren Hülfsmittel zu verwenden weiss als das gewöhnliche Be-
wusstsein, doch mit ihrer „Sichtung und Ordnung" oft ziem-
lich willkürlich die Thatsachen des Bewusstseins zu gruppiren
sucht.
Freilich bedarf dieses gewöhnliche Bewusstsein einer sehr
scharfen Controle, wenn die Gefahr vermieden werden soll,
dass sich aus demselben irreleitende Vorstellungen in die
Wissenschaft einschleichen. Diese Controle besteht aber meines
Erachtens weniger darin, dass man den Thatbestand der un-
mittelbaren Wahrnehmung „sichtet und ordnet", — das hat in
nur allzu gründlicher Weise dereinst die Wolff'sche Psycho-
23*
356 W. Wundt:
logie gethan, — sondern vielmehr darin, dass man ihn von
den gänzlich irreleitenden Abstractionsproducten befreit, welche
aus ihm die vorwissenschaftliche Reflexion gebildet hat. Durch
jene natürliche Abstraction, welche Verstand und Willen, Vor-
stellen und Fühlen und dergl. als fest abgegrenzte Thatsachen
der inneren Erfahrung einander gegenüberstellt, ist ebenfaUs
eine Sichtung und Ordnung der letzteren zu Stande gekommen.
Es ist Herbart's grösstes Verdienst um die Psychologie, gezeigt
zu haben, wie jene Abstractionsproducte des gemeinen Bewusst-
seins in der herrschenden „Theorie der Seelenvermögen'* eine
die wirkliche Untersuchung hindernde oberflächliche Classifica-
tion der inneren Erfahrungen hervorbrachten.
Ich habe nun in meinem von Herrn Horwicz besprochenen
Aufsatze darauf hingewiesen^ dass wir, ebenso wenig wie wir
heute noch Verstand, Gedächtniss, Vl^ille u. s. w. für geson-
derte Kräfte halten, uns durch die in den Bezeichnungen der
Sprache fixirten Abstractionsproducte des gemeinen Bewusst-
seins dürfen verführen lassen, zu glauben, das Vorstellen, Fühlen
und Wollen seien vollständig isolirbare innere Vorgänge, welche
sich nur gelegentlich mit einander verbinden können. Ich
wollte damit wahrlich nicht sagen, dass wir uns künftig diese
Ausdrücke versagen sollen, um die verschiedenen Richtungen
unserer inneren Wahrnehmung zu bezeichnen. Noch weniger
dachte ich daran, jene Elemente unserer inneren Erfahrung als
„coordinirte Theilerscheinungen eines unbekanntenDritten**
aufzufassen, wie Herr Horwicz sich ausdrückt Ich wäre be-
gierig, von Herrn Horwicz zu erfahren, vermöge welcher Ideen-
verbindungen er dieses „unbekannte Dritte** in meine Aus-
einandersetzungen hineingelesen hat. Was ich als thatsäch-
lichen Inhalt des Bewusstseins anerkenne, ist lediglich dasjenige
Vorstellen, Fühlen und Wollen, das wir Alle anerkennen, kein
metaphysisches „Ding an sich**, an das Herr Horwicz in Folge
einer unbestimmten Erinnerung an Kantische Philosophie zu
denken scheint. Was ich aber leugne, wenigstens für eine un-
•
erweisbare, in einzelnen Fällen sogar direct widerlegbare Be-
hauptung halte, ist dies, dass Gefühle durchweg den übrigen
s
Psychologische Thatsachen und Hypothesen. 357
psychischen Processen vorangehen, und dass demnach Gefühle
isolirt Yorkommen können in unserem Bewusstsein. Weiterhin
bemerkte ich, dass diejenigen Processe, die wir allgemein auf das
Gefühlsleben beziehen^ also das Fühlen, Begehren, Wollen, in
Wirklichkeit nicht in der Sonderung aufzutreten pflegen, wie
wir es, durch die Abstractionen der Sprache verführt, zu
glauben geneigt sind, sondern dass dem Gefühl ebensowohl ein
Begehren wie dem Wollen ein Gefühl beigesellt zu sein pflegt.
Eben darum gelingt es nun der psychologischen Reflexion ver-
hältnissmässig leicht, einen dieser Vorgänge als den ursprüng-
lichen betrachten und die anderen aus ihm abzuleiten, entweder
aus dem Gefühl das Wollen oder aus dem Wollen das Gefühl.
Ich kann allerdings für diese Bemerkung nur, wie sich Herr
Horwicz ausdrückt, „die Selbstwahrnehmung als Trumpf ins
Gefecht führen**. Ich halte, wie ich mehrfach ausgeführt habe,
die Selbstwahrnehmung für ein sehr trügerisches Werkzeug.
Gleichwohl begreife ich nicht, wo wir die fundamentalen That-
sachen des Fühlens, Begehrens und Wollens und ihrer wechsel-
seitigen Beziehung anders hernehmen sollen als aus der Selbst-
wahrnehmung. Auch Herr Horwicz hat für seine eigene An-
sicht schliesslich keine andere Instanz als die Selbstwahr-
nehmung. Er behauptet zwar, dass sich jene Ansicht auch aus
den vier oben besprochenen physiologischen Theoremen ergebe.
Dass dieselben jedoch einen solchen Schluss nicht zulassen,
glaube ich gezeigt zu haben. Auch halte ich es für nicht wahr-
scheinlich, dass jemals aus physiologischen Sätzen rein psycho-
logische Lehren, seien es nun Thatsachen oder Hypothesen,
gefolgert werden können. Eher könnte auf diesem Wege das-
jenige entstehen, was zwischen beiden in der Mitte liegt^ aber
in wissenschaftlichen Untersuchungen so viel als möglich ver-
mieden werden sollte, eine problematische Thatsache.
Leipzig. W. Wundt.
358
Becensionen.
Lexis, W., Zur Theorie der Massenerscheinungen
in der menschlichen Gesellschaft. Freiburg i.Br.
(Fr. Wagner'sche Buchhdlg.) 1877. (III u. 95 S. gr. 8,)
2 M. 40 Pf.
Diese kleine Schrift darf als eine vorzügliche Leistung der
methodologischen Literatur der Socialwissenschaft bezeichnet
werden. Sie behandelt in vier Abschnitten ,,Die allgemeine
Eintheilung der Massenerscheinungen^S ^^Die Theorie der Massen-
erscheinungen und die Wahrscheinlichkeitsrechnung^^^ „Die abso-
luten typischen Grössen^^ endlich „Die typischen Wahrscheinlich-
keitsgrössen^^ Nach Ansicht des Eeferenten enthält das kleine
Buch das Beste und Ueberzeugendste , was über f^statistische
Gesetze^' und über den Wahrscheinlichkeitswerth der grossen
statistischen Zahlen bündig gesagt und nachgewiesen werden
kann. Höchst belehrend sind die mit mathematisch sicherer
Hand durchgeführten Specialuntersuchungen über die einzig
nachweisbaren typischen Massenwerthe normaler Dispersion,
die des Normalalters und des Geschlechtsverhältnisses der Ge-
borenen. Den typischen stellt Lexis die symptomatischen Eeihen
gegenüber. Die Grundansicht des Verfassers hierüber geht
dahin, dass die menschlichen Massenerscheinungen ganz über-
wiegend ^^symptomatische Eeihen^ ergeben, d. h. Eeihen^
;,welche einen mehr oder weniger veränderlichen gesell-
schaftlichen Zustand durch gewisse numerische Symptome
charakterisiren'^
Zur Erklärung dieser Thatsache sagt Lexis am Schluss
(S. 91 f.): „Man kann schon jetzt mit Bestimmtheit behaupten,
dass die menschlichen Massen erscheinungen ganz überwiegend
zu Eeihen dieser Art führen. Die Verkettung der mensch-
lichen Dinge wirkt ihrer Natur nach meistens auf Verände-
rungen in einem bestimmten Sinne hin ; der Zustand des vor-
hergehenden Jahres ist mitbedingend und mitbestimmend für
den neuen Zustand des folgenden , und daher sind auch die
Zahlenverhältnisse , welche die zeitlich aufeinanderfolgenden
Zustände einer gewissen Art mehr oder weniger charakterisiren.
Dicht unabhängig von einander ^ wie zufällige Modificationen
einer festen Wahrscheinlichkeitsgrösse^ sondern jedes vorher-
gehende bildet im Allgemeinen den Ausgang für die Verände-
rung des folgenden Beharrung ist im Leben der
RecensioaeD. 359
Menschheit nur die Ausnahme ^ die Eegel ist Evolution in
aufsteigender oder absteigender Eichtuhg; die menschliche
Gesellschaft ist fortwährend in Thätigkeit, um aus eigener
Kraft und mit eigener Verantwortlichkeit die Grundlagen des
Zustandes zu ändern, der übrigens; auch wenn er bestehen
bliebe, für das Individuum nicht ein zwingendes Gesetz,
sondern nur Bedingungen seines Handelns aufstellen
würde."
Dieses Ergebniss der Lexis'schen Untersuchung ^ welchem
£.ef^ent vollständig beipflichtet, ist in zweifacher Hinsicht
besonders beachtenswerth. Einmal wendet es sich gegen den
aus dem angeblichen ,,Gesetz der grossen Zahl'^ abgeleiteten
Schluss auf die blinde Nothwendigkeit menschlicher Hand-
lungen. Sodann dämpft es die überschwänglichen Erwartungen
jener social wissenschaftlichen Schriftsteller, welche eben noch
von der Statistik die Entdeckung der „socialen Gesetze'' er-
wartet haben. Der Hauptwerth der Statistik besteht nun auch
nach Lezis in der sicheren, exacten Aufdeckung der Sym-
ptome des Ganges der socialen Entwickelung. Kefe-
rent hat schon im I. Band seines Werkes ,,Bau und Leben, des
socialen Eörpers^^ den so zu sagen evolutions-symptomatischen
Werth der Statistik in die erste Linie gestellt und freut sich
nun der Bestätigung dieser Auffassung durch einen so gewiegten
und exacten Statistiker, wie Lexis es anerkannteimassen ist.
Stuttgart. A. Schaeffle.
Spencer, Herbert, Die Principien der Sociologie.
Autorisirte deutsche Ausgabe von Dr. B. Vetter. 1. Bd.
(System der synthetischen Philosophie, 6. Bd.) Stuttgart,
Schweizerbart. 1877. (VH! u. 570 S. gr. 8.) 12 M.
Li durchaus zufriedenstellender Uebersetzung erscheint hier
endlich der erste Theil der Spencer'schen Sociologie. Die
„Sociology*' ist für den Verfasser, wie für A. Comte, die Spitze
der wissenschaftlichen Pyramide, die Krönung eines natürlich
au%ebauten Systems der positiven Disciplinen. Erst nachdem
die Grundsätze der Biologie ausgearbeitet und in dem Tabellen-
werk der ,^descriptive sociology^^ die Materialien für eine »,posi-
tive'' Socialwissenschaft aufgestellt waren, konnte der Verfasser
„die Principien der Sociologie^' dem Publikum darbieten. Der
vorliegende Bftnd wurde so zum ersten Theil der letzten Serie
von „Principles", die der positivistische Philosoph in der Ency-
clopädie seiner Werke ausarbeitet.
Spencer skizzirt am Schlüsse des Bandes, was die weiteren
360 Recensionen.
Bände der „Sociology'' bringen sollen. Danach haben wir gene-
tische Erkläning der Tatsachen des Familienlebens^ des Staats-
lebenSy des kirchlichen Lebens, des Geremoniells, der Productdon,
der Sprache, der Intelligenz, der Sittengesetze, des ,,emotio-
nellen'' Seelenlebens, der ästhetischen Gefühle zu erwarten.
Und zwar verspricht der Verfasser, die Entwickelongsreihen
aller dieser Seiten des Gesellschaftslebens nicht isolirt für sich^
sondern in ihrer allseitigen „Wechselbedingtheit'' nachzuweisen.
Hiemach steht ein universeller, vom Standpunkt der Ent-
wickelungstheorie entworfener Grundriss der ganzen ^cial-
wissenschaft in Aussicht. Wir heissen ihn voraus willkommen.
Die Bruchstücke einer Entwickelungsgeschichte des Geremoniells,
welche der Verfasser im letzten Jahrgang des ^yKosmos'^ zu
veröffentlichen begonnen hat, lassen erwarten, dass die in Aus-
sicht stehenden Bände nach Form und Inhalt Bedeutendes
bringen werden.
Vorläufig haben wir es nur mit dem ersten Bande zu thun.
Hier untersucht der Verfasser, nachdem er kurz den „überorgani-
schen^^ Charakter der menschlichen Gesellschaft hervorgehoben
hat, die Entwickelungseinflüsse , die den primitiven Menschen
(die „Einheit'' des ältesten Gesellschaftszustandes) physisch,
„emotionell" und „intellectuell" beherrscht haben; S. 19 — 116
ist hierüber viel interessantes Material in fesselnder Form und
in mehrfach überzeugenden Schlussfolgerungen beigebracht.
Der übrige Theil des Bandes ist der genetischen Erklä-
rung der „primitiven Ideen", genau genommen nur der
Psychogenese der Eeligionsanschauungen des Urmenschen
gewidmet. Die erste Ausbildung der religiösen Seite des
menschlichen Geistes, das erste Stadium unserer religiösen Ver-
geistigung ist der Gegenstand, welchem mehr als 300 Seiten
spannender Beweisführung zugewendet werden. Niemand wird
diese Erörterungen, in welchen der Verfasser als Kenner der
vergleichenden Archäologie und Ethnographie sich den Tylor,
Lubbock und anderen Neueren gewachsen erweist, aus der
Hand legen, ohne die vielseitigste Anregung erhalten zu haben.
Von einem hervorragenden Geiste ist hier die religiöse Psycho-
genese angefasst, das empfindet wohl jeder Leser. Wir zweifeln
freilich, ob der Herr Verfasser, auch nur die Hälfte seiner
Leser davon überzeugen wird, dass das primitive Eeligions^
leben ganz und gar — selbst die Pflanzenverehrung ein-
geschlossen — aus dem Ahnen dienst hervorgegangen sei, dass
„Furcht vor den Todten als die alleinige Wurzel der religiösen
Gesetze^^ angesehen werden müsse, wie die Furcht vor den
Selbstanzeigen. 361
Lebenden als die alleinige Wurzel der bürgerlichen Gesetze
(S. 521). Dieser Schluss ergiebt sich unseres Dafürhaltens aus
den eigenen Prämissen der Spencer'schen Beweisführung nicht
mit zwingender Nothwendigkeit^ denn ans diesen geht blos
hervor, dass die — nach Spencer aus den Erfahrungen der Natur-
metamorphosen, der Träume, Besessenheitszustände ji. s. w.
hervorgegangene — Annahme von und Furcht vor guten und
bösen Geistern (nicht nothwendig Ahnengeistern) als Wurzel
des ältesten Glaubens und Aberglaubens anzusehen ist. Die
ünumstösslichkeit dieser Geistertheorie selbst kann hier un-
erörtert bleiben. Wir erwähnen nur, dass die von Spencer
nachgewiesene Yergötterung von Lebenden ebenfalls der aus-
schliessenden Zurückführung primitiver Beligion auf Ahnen-
cultuB entgegensteht.
Inzwischen sollen diese Bedenken nicht weiter ausgeführt
werden. Wir empfehlen dem Leser, die Quelle selbst aufzu-
< suchen und selbst zu urtheilen. In § 206 giebt der Verfasser
ein vollständiges Besumd seiner Untersuchungsergebnisse.
Stuttgart. A. Schaeffle.
Selltetaiizelgen.
(Die nSelbsUaieineii** schli«Men «ine Seoension dar betreffmden Werk» in dieser Zeit-
schrift nicht ans.)
Berg, H.; Die Lust an der Musik. Nebst einem An-
hang: Die Lust an den Farben^ den Formen und der
körperlichen Schönheit Berlin, B. Behr. 1879. (58 S.
kl. 8^) 1 Mk.
Der Verfasser 8ucht die Lust an der Musik zu erklären,
indem er mit Darwin annimmt, dass die Letztere ursprüng-
lich aus den Liebes- und Lockrufen der anthropoiden Vorfahren
des Menschengeschlechts hervorgegangen sei. Die weitere
Entwicklung der Musik leitet er aus dem Principe ab, dass im
Allgemeinen solche Töne und Tonreihen bevorzugt wurden,
welche dem Hörnerv und auffassenden Gehör das geringste
Mass von Ermüdung und Anstrengung verursachten. — In einem
Anhange ist der Versuch gemacht, den Ursprung der Freude
an den Farben, gewissen Formen und der körperlichen Schön-
heit nachzuweisen, hauptsächlich durch eine Verbindung dar-
winistischer und physiologischer Lehren.
Brooher de la Flachere, H., Les R^volutions du
droit, ätudes historiques destinöes k faciliter Tintelli-
/
I
362 Selbstanzeigen.
gence des institutions sociales. Tome 1^' : Introduction
philoBophique. Paris; Neufchätel et Gen&ve, J.Sandoz
(en 8% VI et 242 pages).
Par un concours de circonstances diverses^ le droit a cess^
d'^tre iine application du sentiment pcpulaire pour prendre an
caractere conventionnel et singulier. Un tel i^tat de choses
presente de graves dangers. Pour y remddier il faut des livres
conQus de mani^re a servir tout ä la fois de compl^ment ä
r^ucation du grand public et de point de d^part aux etudes
speciales des jurisconsultes de profession. G'est pour atteindre
ce but que Tauteur se propose de publier, en une s^rie d'^tudes
d^tach^es, lliistoire philosophique des diverses institutions
juridiques. II s'attachera moins ä präsenter des solutions
nouvelles qa^k r^sumer les travaux des hommes sp^ciaux de
maniere ä mettre en ^yidence les donn^es d*intdret g^neral et
pratique qu'ils renfennent.
Le premier yolume expose la philosophie de l'auteur, lequel
se rattache a la mdthode expdrimentale et ä l'äcole de Her-
bart. L'idde fondamentale de ce yolume est la deünition da
principe d'autorite, principe qu'on a d^naturd en le faisant
passer du domaine juridique, auquel il est destin^, au domaine
religieux. Quand on se fera une id^e juste du principe d'auto-
Tii4y de sa nature et de ses limites, il sera possible de r^soudre
le Probleme qui s^mpose a Pdpoque actuelle, o'est ä dire de
concilier Tordre mate'riel et la libertä de conscience.
Caspar!, O., Die Grund prob lerne derErkenntniss-
thätigkeit beleuchtet vom psychologischen und kriti-
schen Gesichtspunkte. Als Einleitung in das Studium
der Naturwissenschaften. 2 Bde. Mit Holzschn. Berlin^
Th. Grieben, 1876—79. (XVIII u. 251 S.; XXXH u.
364 S. gr. 8^)
Es wird versucht^ die. sog. „reine^^ Metaphysik ebensosehr
zu widerlegen wie den Skepticismus. Die Methode und Be-
weisführung ist die ,,kritische". Yerf. zeigt, wie sich dieselbe
unterscheidet von der metaphysisch-logischen und dialektischen
(der Fichte, Schelling, Hegel) und der ontologisch-mathemati-
schen (Descartes und Spinoza). Die krit. Methode der Unter-
suchung wurde angebahnt durch Hume und Kant. Der Verf.
zeigt, dass den Leitfaden zu dieser Art von objectiv wissensch«
Beweisführung ebensowohl die Natur des Intellects (des sog.
Apriori) wie andererseits die Thatsachen der Erfahrung (durch
welche sich die Apriorität restringirt) abgeben müssen. Um
aber der consequent krit. Methode Baum zu schaffen, wird
\
Selbstanzeigen. 363
der reine und extretne Apriorismus ebenso wie der reine Em«
pirismus beortheilt und in's rechte Lieht gesetzt. £b wird
erkennbar gemacht; dass die Art wie Kant die Urtheils-
funotion als Grundfunction des Intellects mit dem Zeitschema
in Beziehung setzt, bemerken lässt , dass er von der sog. On-
tologie und der raum-zeitL Substanzlehre sich nicht losmacht.
Es wird dargethan, dass wenn Kant in der transc. Analytik die
Zeit schematisch als starre continuirllche in sich identische
Beihe und gerade Linie^ und die Eelation als substanziell feste
und ontologische Ordnung concipirt, solche Bestimmungen den
negativen Instanzen und Thatsachen gegenüber nicht empirisch,
sondern überempirisch und dogmatisch-metaph. sind im Sinne
der von ihm selbst widerlegten Ontologie. Mit Hülfe dieser
Hindeutungen wird gegen Kant dargethan, wie das in's Metaph.
hinüberspielende reine Apriori die Vermittlung mit Empirie
und Thatsachen einbüsste. Es wird ferner gezeigt, wie Eant's
Lehre von Schematismus zwar ein nothwendiger und richtiger
Gedanke -war, der indessen bei dem rein apriorischen Stand-
punkte nicht zur Geltung kommen konnte. Sollte das sog.
transc. Schema und der Schematismus überhaupt daher nicht
etwas Erlogenes (Fingirtes) sein, so musste die Lehre hierüber
im consequent kritischen Sinne corrigirt und das Schema im
Hinblick auf die Instanzen der ErfSahrung und auf die Natur des
Intellects (als Apriori) richtig gestellt werden. Um diese Höhe
der Kritik zu gewinnen ist der 1. Bd. der Untersuchung
und Becognoscirung der Natur des Intellects gewidmet. Der
Leser findet hier die Frage behandelt: ob das Bing an sich
als ein metaphysisch-ontologisches Urwesen, oder als die feste
Substanz einer sog. reinen (überempirischen) Idee, oder aber
nur als sog. regulativer Grenzbegriff zu concipiren ist, der in
seiner Anwendung hinweise auf die Geltendmachung des In-
tellects innerhalb seiner normalen Grenzen. Der 2. Bd. bringt
das Problem der Causalität zur Darstellung. Die krit. Methode
der Beweisführung gewahrt hier dem Leser einen Einblick
über die Stellung und Principien der Parteien zu einander
und gegenüber der Natur des Intellects, als Grundlage des
Erkenn ens. .
Frohsohammer , J.^ 1. Die Phantasie als Grund-
princip des Weltprocesses. München^ Theod.
Ackermann 1877. (XXV, 575 S.)
2. Monaden und Weltphantasie. München, Theod.
Ackermann 1879 (X, 181 S.)
Es ist in diesen Werken der Versuch gemacht; den Welt-
364 SellMtaiizeigen.
process mit seinen äossem und inneren Bildungen, die Menschen-
natnr mit eingescbl., ans einem Grondprincip zu erklären, das
als Phantasie bezeichnet wird. Selbstrerständlich ist damit
nicht die gemeine Phantasie im gewöhnl. popul. Sinne gemeint,
sondern es will mit dieser Bezeichnung nur ansgedrückt werden,
dass man sich das wirkende immanente Weltprincip am ent-
sprechendsten dadurch yerständlich machen könne, wenn man
sich dasselbe als synthetische Macht denke nach Art der Ein-
bildungskraft oder Phantasie des Mensehen. Dabei handelt es
sich nicht darum, ein System a priori aus diesem Ghrundprincip
zu construiren, sondern es wird von Erfahrungsthatsachen aus-
gegangen und an solche allenthalben angeknüpft. Die „Phan-
tasie^' wird zunächst als Qrundpotenz des subjectiyen Geistes
betrachtet. Sie erweist sich als die Fähigkeit, das Aeusserliche
innerlich zu gestalten und dadurch zum Bewusstsein und Yer-
ständniss zu bringen; hinwiederum für Geistiges innere Bilder
zu schaffen und dadurch dasselbe zur Offenbarung zu befähigen.
Von dieser Grundfahigkeit sind alle psychischen oder geistigen
Thätigkeiten, auch die höchsten oder abstractesten bedingt und
alle Functionen des Geistes, das Erkennen, Wollen und selbst
das Gefühl sind davon abhängig. — Es wird dann der Nach-
weis versucht, dass diese synth. Macht des Mensohengeistes,
deren teleologisch-plastische Bethätigung zugleich ein Moment
der Freiheit d. h. der bestimmenden oder individuell und sub-
jectiv normirenden Macht den physikal. Gesetzen gegenüber
kund gibt — nicht ein nur abgeleitetes Product sei, sondern
einen principiellen Charakter habe und auch als objectives,
reales Princip aufgefasst werden könne. — Im 2. der drei
Bücher des Werkes handelt es sich um den Nachweis, dass
und wie das Organische und Lebendige aus dem Zusammen-
wirken des Physikalischen und der synthetischen Macht der
(objectiven) Phantasie hervorgegangen — wodurch sich eine
Verbindung mit der Descendenzlehre ergibt. Dabei handelt es
sich aber insbesondere um die Genesis des Psychischen, das
nicht aus dem Stoffe abgeleitet wird, sondern aus der Gesetz-
mässigkeit oder dem objectiven, realen Verstände in Verbindung
mit dem teleologisch-plastischen Wirken der allgemeinen G«-
staltungsmacht. Es tritt zuerst als Empfindung auf und als
dunkles Bewusstsein, in welchem die Weltvemunft sich selbst
findet und ■ ihr ideales Wesen erfährt und woraus die übrigen'
psychischen Fähigkeiten sich entwickeln. Aus dem grossen
Naturprocess geht also durch die objective Phantasie das Seelische
selbst hervor und zuletzt auch der menschl. Geist mit der
k
Selbstanzeigen. 365
freien Bubjectiven Phantasie. Das 3. Buch ist der Genesis des
letzteren gewidmet. Das allgemeine Bildungsprincip erringt
immer concretere, subjectiv selbständigere Producte^ in denen es
sich selbst potenzirt und endlich concret und frei erscheint
und wirken kann. Durch diese subjectiv und frei gewordene
Phantasie ist nun die Bildung eines psychischen Organismus
über dem physischen möglich , der sich in die Grundvermögen
des Geistes differenzirt: Erkenntnisskraft, Wille und Gemüth«
Diese werden als abgeleitete Fähigkeiten dargestellt; daher
keines von ihnen, nicht Vernunft, Verstand^ "Wille u. s. w,
als Grundprincip des Weltprocesses betrachtet werden kann,
denn sie entstehen als subjective Geisteskräfte erst in diesem
und durch denselben. So besteht die Genesis des subjectiven
Verstandes insbesondere darin, dassdie objective Gesetzmässigkeit
durch die bildende Phantasie (als Generationspotenz) concrete,
subjective Lebendigkeit erhält; und die Selbständigkeit des
Willens beruht auf dem Moment der Freiheit im allgemeinen
Weltprincip. — Die zweite Schrift enthält im 1. Theile eine
kurze übersichtliche Darstellung des Hauptinhaltes der ersten,
um das Verständniss derselben zu erleichtern und Missver-
ständnissen zu begegnen; der 2. Theil verfolgt dasselbe Ziel
dadurch, dass er das Verhältniss dieser Welterklärung durch
eine Weltphantasie zu der Monadenhypothese in ihren ver-
schiedenen Formen von Leibniz, Herbart u. s. w. bis zu
den Versuchen neuerer Naturforscher darstellt und kritisch
beleuchtet.
Hohlfeld, Paul, Die Erause'sche Philosophie in
ihrem geschichtlichen Zusammenhange und in ihrer Be-
deutung für das Geistesleben der Gegenwart dargestellt.
Gekrönte Preisschrift. Jena, H. Costenoble, 1879. (XIV
u. 146 S. gr. 8«. — 4 Mk.)
Der Verf. giebt auf Grund 16jähriger Forschung die
erste Darstellung von der allmählichen Entwickelung der
Erause'schen. Philosophie. Hierauf wird das Verhältniss Er. 's
zu andern etwa gleichzeitigen Denkern nachgewiesen. Wider-
legt wird der Irrthum, als ob Kr. von Fichte oder von Schel-
ling ausgegangen wäre , oder eine Verbindung der Lehren der
beiden Philosophen beabsichtigt hätte. Es wird vielmehr
gezeigt, dass Kr. von Kant ausgegangen ist, dessen Kategorien-
lehre er bereits als Knabe kennen lernte , und sich als Nach-
folger, Fortsetzer und Vollender der Lehre Kant's betrachtet
wissen will. Den Schluss bilden Andeutungen über die Be-
deutung der „Wesenlehre" für die Gegenwart. — Es sind nicht
866 Selbstanzeigen.
nut die mathem. und freimaurer. Druckschriften, sondern auch
die ausserordentlich umfangreichen Handschriften Er/s mit-
benutzt worden. Der nächste Zweck der Schrift ist, einen
Beitrag zur Geschichte der neueren deutschen Philosophie zvl
liefern, der letzte Zweck dagegen, eine eingehende Prüfung
der Wesenlehre zu veranlassen, von weicher bisher nur die
Eechts- und Staatslehre allgemein anerkannt ist.
Janitsch, JuliuB, Kants Urteile über Berkeley.
Ein Beitrag zur Kantphilologie. iStrassburg i. £., I. Ast-
mann 1879. (IV u. 57. S.)
Dass Kants heftige Ausfälle gegen Berkeley von grossem
Missverständniss der Lehre des Letzteren zeugen , ist nichts
Neues. Wenn trotzdem sogar die Worte, in die er seine
verkehrte Ansicht formulirte, in unserer modernen philosophi-
schen Literatur fort und fort reproducirt werden, so war es
nicht überflüssig, einmal den Quellen nachzuforschen^ aus
denen er jene Vorstellung von der Lehre des vermeinten Geg-
ners hatte schöpfen können. Das Ergebniss der vorliegenden
kleinen Schrift ist folgendes: unter dem Banne des allgemeinen
Vorurteils gegen Berkeley hatte sich Kant aus subjectiven
Nachklängen aus der Zeit seines früheren Kampfes mit dem
Idealismus und flüchtiger Kenntnissnahme gewisser sekundärer
Berichte ein Willkürgebilde geschaffen, das er den schwärme-
rischen und mystischen Idealismus B.'s taufte und als solchen
bekämpfte. Eine Kenntniss der B/schen Schriften selbst musste
dagegen bei ihm in Abrede gestellt werden.
Kelirba.ch, K.y Kritik der praktischen Vernunft von Im.
Kant. Text der Ausgabe 1788 (Ä) unter Berücksich-
tigung der 2. Ausgabe 1792 (B) und der 4. Ausgabe
1797 (D). Leipzig, Ph. ßeclam. XIV, 196 S. — 40 Pf.
Die unbedeutenden Varianten der 2. u. 4. Ausgabe (eine
3. hat wahrscheinlich nicht existirt) sind sämmtlich an-
gemerkt. Die Veränderungen, welche der Herausgeber mit
dem Originaltext vorgenommen hat, sind unter strengster
Schonung des K.'schen Sprachgebrauchs erfolgt. Ein über-
sichtliches Verzeichniss derselben, sowie ein Verzeichniss über
orthographische und interpunktioneile ist in der Vorrede des
Herausgebers enthalten. — Auf jeder Seite vorliegender Aus-
gabe ist die Paginirung der übrigen (5) Ausgaben der
Kritik der praktischen Vernunft angegeben.
Eehrbach, K., Kritik der reinen Vernunft von Im. Kant.
Text der Ausgabe 1781 mit Beifügung sämmtlicher Ab-
\
Selbstanzeigen. 367
weichungen der Ausgabe 1787. Zweite verbesserte Auf-
lage. Leipzig, Ph.RecTam. (XXVI, 702 (H) S. Kl. 8«. 1 Mk.)
Ausser der Verbesserung der Druckfehler, die in einem
„Druckfehlerverzeichnisse' in der 1. Auflage angezeigt werden
sollten, enthält die vorliegende Ausgabe noch einige Emenda-
tionen, die namentlich angeführt werden und so beschaffen sind,
dass die Integrität des K.'schen Sprachgebrauchs völlig ge-
wahrt bleibt. — Auf jeder Seite vorliegender Ausgabe ist die
Paginirang der übrigen (7) Ausgaben der Kritik der reinen
Vernunft angegeben worden.
Ledair, Anton v., Der Realismus der modernen Natur-
wifisenschafi: im Lichte der von Berkeley und Kant an-
febahnten Erkenntnisskritik. Kritische Streifzüge. Prag,
\ Tempsky. (gr. 8^, ca. 15 Bogen.)
Von einer ganz speciellen Frage der Sinnesphysiologie
ausgehend unternimmt der Verf. den Nachweis, dass die von
der modernen Naturwissenschaft selbst anerkannten principiellen
Schranken des Naturerkennens nur für den Standpmikt jenes
erkenntnisstheoretischen Bealismus bestehen, der, ohne Anstoss
za nehmen an dem Begriffe transcendenten Seins , auch die
ausschliessliche Fhänomenalität des Naturseins und Natur-
geschehens nicht anerkennt; der Verf. sucht zu zeigen, dass
in einem ganz wesentlichen Punkte, nämlich in der Frage bezügl.
der dem denknothw. Ding-an-sich, abgesehen von dem
Gedachtwerden, zukommenden Seinsfonh, — jedoch nicht
etwa mit dogmatischem Eückfall nach Fichte's Beispiel —
noch über Kant hinausgegangen werden muss, wenn
anders man sich, sei es nun in der Naturwissenschaft oder
Philos'ophie, principiell vor der Selbsttäuschung eines metaph.
Dogmatismus bewahren will. Durch das so gewonnene, auf
den Satz des Widerspruches sich stützende Erkenntnissprincip
(wonach jegliches durch das Denken mit dem Merkmal der
transcendenten Seinsform ausgestattete Beale nichtsdestoweniger
auf keine andere Bealität Anspruch hat, als die durch den
Denkact gesetzte und in dem Denkact beschlossene und somit
selbst die dürftigste Erkenntniss eines sog. transcendenten Seins
auf der Selbsttäuschung beruht, als könne man jemals über
den stets sich nur erweiternden Bereich mentaler Positionen
hinausdringen) werden die stets wiederholten Versuche der
Vergangenheit und Gegenwart, das Weltphänomen, sei es im
Sinne eines metaphysischen Bealismus oder Idealismus zu „er-
klären'', auf ihre wahre Bedeutung zurückgeführt. Ganz
besondere Sorgfalt wird dem Nachweise zugewendet, dass die
368 SelbBtanzeigen.
Sinnesphysiologie durch ihre eigenen Consequenzen direct dem
obersten Kesultate vorliegender Untersuchung entgegengefuhrt
wird, zu dessen Anerkennung die Naturwissenschaft überhaupt
durch die für ihren Standpunkt unvermeidlichen Aporien sich
indirect genöthigt sieht : dassnämlich, wie die Erkennt-
nissselbsty so auch jegliches Object der Erkennt-
niss die Action eines Bewusstseins (Jntellects)
voraussetzt.
Badestook, P., SchlafundTraum. Eine physiologisch-
psychologische Untersuchung. Leipzig, Breitkopf &
Härtel, 1879. (XH, 330 S. gr. 8».)
Es werden sowohl die physiologischen als die psy-
chologischen Eigenthümlichkeiten des Schlafes und Traumes
geschildert; die Aehnlichkeit derselben mit den einzelnen Er-
scheinungen des Wahnsinns einerseits, sowie manchen Zu-
ständen des Wachens andrerseits wird dargelegt und gezeigt,
dass die normalen und anormalen geistigen Thätigkeiten in
ihren verschiedenen Erscheinungen keine qualitativen, sondern
nur quantitative Unterschiede darbieten, in feinen Gradationen
in einander übergehen und theilweise in einander übergreifen,
so dass sich theilweises Wachen im Schlaf, Träumerei im
Wachen, Lichtblicke der höheren Geistesthätigkeiten im
Wahnsinn und intermittirendes Irresein im gesunden Zustande
finden. Besonders aber weist der Verf. auf die völker-
psyohologische Wichtigkeit der Traumvorstellungen hin;
er benutzt dazu die in den Werken Tylors u. A. angeführten
ethnographischen Details und ergänzt dieselben durch Stellen
der classischen Literatur, die er mit Hülfe eigener philologischer
Studien sammelte. Die physiologische und empirisch-psycho-
logische Forschung versucht er mit der historisch-philologischen
zu vereinigen. Die Anmerkungen bieten dem Fachmann Angabe
der Quellen und weitere Ausführungen in Betreff der Physiologie
des Schlafes, sowie der Hauptgebiete der gesammten Psycho-
logie dar. In einem Anhang werden die neueren Theorien
über die näheren Ursachen des Schlafes behandelt.
Philosophische Zeitschriften.
Philosophische Monatshefte.
Band 15, Heft 1 und 2: A. Lassen: Ueber Gegenstand
und Behandlungsart der Beligionsphilosophie. — J. Freuden-
thal: Ein ungedruckter Brief Kant's und eine verschollene
\
Philosophische Zeitschriften. 369
Schrift desselben wider Hamann. — K. Gh. Planck, logisches
Causalgesetz etc.; bespr. von A. Eicht er. — J. Neuhäusery
Aristoteles' Lehre von dem sinnl. Erkenntnissvermögen etc.;
bespr. von C. S. Bar ach. — Litteraturbericht : Döring. —
Shields. — Rosenkrantz. — Stranss. — Jodl. — Schmick. —
Elrohn. — Funcke. — Jacobson. — Bibliographie von F.
Ascherson. — Vorlesungen. — Eecenbionen- Verzeichniss. —
Ans Zeitschriften. — J. Sengler's Nekrolog von L. Weis. —
Miscelle.
Band 15, Heft 3: Imelmann: Stanley Jevons über
J. St. Mill. — R. V. Ihering, Der Zweck im Recht; bespr.:
von Lassen. •— A. Wiessner, Yom Funkt zum Geiste I Und :
Die wesenhafte oder absolute Realität des Raumes; bespr. von
L. Weis. — Kant's Kr. d. r. V., hrsg. von B. Erdmann.
Und: Erdmann, Eant's Eriticismus etc.; bespr. von Fr. Hoff -
mann. — R. Eucken, Oesch. der philos. Terminologie; bespr.
von C. Schaarschmidt. — A. Fouillee, L'idee moderne du
droit etc.; bespr. v. Jodl. — J. Bemays, Lucian und die
Kyniker; angez. von C. Schaarschmidt. — Koack^ Philo-
sophie-geschichtl. Lexicon; angez. von demselben. — Biblio-
graphie von F. Ascherson. — Recensionen-Yerzeichniss. —
Aus Zeitschriften.
Zeitsohriffc f&r Philosophie und philOBophische Kritik.
Band 74, Heft 2: H. Sommer: Die Lehre Spinoza's und
der Materialismus (2. Hälfte). — H. Ulrici: Der sog. Spiri-
tismus eine wissenschaftliche Frage. (Mit Beziehung auf die
Schriften von 1) Fr. Zöllner, Wissenschaf tl. Abhandlungen,
Tbl. 1 u. 11; 2) V.Fichte, Der neuere Spiritualismus etc.) —
Recensionen: J. Rehmke: Glossen zu E. v. Hartmann's
Phänomenologie des sittl. Bewusstseins. — H. Ulrici: Li
Sachen der wissenschaftl. Philosophie. Antwort auf den Ar-
tikel des Herrn Avenarius im 4. Heft des 2. Jahrg. dex Yiertelj.
f. w. Ph. — V. Baerenbach, Gedanken über die Teleologie
in der Natur; von H. Ulrici. — L. Weis: J. Sengler. Eine
Skizze seines Lebens und seiner Gottesidee. (1. Hälfte.) —
V. Yambühler, acht Aufsätze zur Apologie der menschl. Yer-^
nunft; von Rehmke. — Erauth, a Yocabulary of the Philos.
Sciences; von H. Ulrici. — Engels, Herrn E, Dühring's Um-
wälzung der Wissenschaft; von demselben. — Arnoldt, Eant's
Prolegomena nicht doppelt redigirt; von demselben. — Biblio-
graphie.
Yierteljahrssehriffc f. wüsentchaftl. Philosophie, m. 8. 24
370 Philosophische Zeitschriften.
Bevue Philosophique de la Franoe et de l*]&tranger.
Jahrg. 4« Heft 1 : P. J a n e t : La Perception visuelle de
la distance. — A. Espinas: La Philosophie exp^rimentale
en Italie. J. R. Ardigo. — C.-S. Peirce: La Logique de
la science (2™* art.). — Notes et documents: Le D^r-
minisme m^canique et la Libert^^ par M. Boussinesq. —
Analyses et comptes rendos: Spinoza, Dien, THomme etc., trad.
par P. Janet. — Girard de Rialle^ Mythologie compar^e, tome
l. — Espinas, Les Societ^s animales (2™* ddit.). — Byck, Die
Physiologie des Schönen. — Pessimisten-BreTier. — Bevue
des P^riodiqnes dtrangers. — Gorrespondance : Les Analyses
psy chologiques : Horwicz et Reinach. — K6crologie : G.-H.
Lowes.
Heft 2: P. Tannery: La Theorie de la connaissance
mathematiqne. — A. Espinas: La Philosophie ezp^rimentale
en Italie (fin.) — A. Penjon: La M^taphysique phdnom^niste
en Angleterre. Shadworth Hodgson (fin). — Analyses et comptes
rendus : Chauffard , La vie etc. — Caro , Le Pessimisme au
XIX* sifccle. — Erdmann, Kantus Prolegomena. — Beyue des
P^riodiques.
Heft 3: J. St. Mill: Fragments in6dits sur le socia-
lisme ( P' art.). — E. Naville: La Physiqüe et la Morale. —
A. Dastre: Le Probleme physiol. de la vie (suite). —
Guyau: H. Spencer et l'H^redite morale. — Analyses et
comptes rendus: Lamson, the life and education of Laura
Bridgman. — Taine, de rintelligence (3* ^dit.) — Penjon, Ber-
keley. — Lessewitch, Pisma o nautchnoi* filosofii. — Dühring,
krit. Geschichte der Philosophie. — Revue des P^riodiques
^trangers.
Heft 4 : A. He rzen : La loi physiqüe de la conscience. —
J. St. Mill: Fragments in^dits sur le socialisme (fin). —
Th. Reinach: Le nouveau li vre de Hartmann sur la Morale
(1*"^ art.). — Dastre: Le probleme physiol. de la vie (fin). —
P. Regnau4.: £tudes de philosophie indienne. — Analyses
et comptes rendus: Liard, la m^taphysique et la science po-
sitive. — A. Leffevre, la philosophie. — Giner, Calderon et
Soler, Lecciones sumarias de psicologia. — Glogau, SteinthaPs
psychol. Formeln. — Notices bibliographiques : Schuppe. —
M. Martin. — Waldstein. — Trezza. — Revue des P^riodiques
^trangers. — Gorrespondance. — Livres nouveaux.
La Philosophie Positive.
Jahrg. 1 1, Heft 4 : £. L i 1 1 r 6 : Casuistique historique. —
Philosophische Zeitschriften. 371
O. Wyrouboff: La philosophie matdrialiste et la Philoso-
phie positive. — H. Stupuy: Notice sur la vie et les oeuvres
de Sophie Oermain. — X.: Les missions laiques. — Gl.
Boy er: De la nature du beaiL — Mercier: Le clergd
dans rancienne France. —^ H. BoSns: Allopi^thie et Homoeo-
pathie. — G. Wyrouboff: Necrologie: G.-H. Lewes. —
£. Littr^: Varietes. — Bibliographie.
Heft 5: £. Littre: L'hypoth^se de la gen^ration spon-
tan ^e et Celle du transformisme doivent-elles ^tre incorpor^es
k la partie biologique de la philosophie positive? — E.
L e s i g n e : Du r61e de l'ezpdrience dans les anciennes con-
ceptions du monde. — Cl. Roy er: De la nature du beau. —
H. Boens: L'enseignement primaire en Belgique. — Gh.
M i s m e r : Organisation militaire. — Marc Rdgis: Gonsidd-
rations g^n^rales sur Faction scientifique des Arabes au moyen
age. — L. Arreat: La conscience dans le drame. — H.
Stupuy: Question d'esth6tique. — £. Littre: Question
de Bociologie pratique. — Ndcrologie : E. Bourdet. — Varietes,
Heft 6: £. Littr^: Distribution future des langues et
des nationalites sur le globe terrestre. — A. Bitti: ün his-
torien du positivisme. — L. Arreat: La conscience dans
le drame (suite). — £. Littr^: De la th^ologie consideree
comme science positive et de sa place dans l'enseignement laique,
par M. Vemes. — G. Wyrouboff: Bemarques sur la phi-
losophie critique en AUemagne. — G. S.: La rose. £tude
esthetique. — H. Stupuy: DW abus du mot „r^latif". —
E. Noel: Lettre ä Mr. Littr^. — Ad. F. de Fontpertuis:
La Charit^ legale et l'assistance publique en Europe. — £•
Littrd: Gomparaison de la chambre de 1871 et de la chambre
de 1877. — Varietes. — Bibliographie.
Mind.
Heft 14: G. Stanley Hall: Laura Bridgman. — J.
Sully: Harmony of Golours. — B. Hartley: The Stanhope
Demonstrator. — Bain: J. St. Mill (L). — A. Sidgwick:
Definition De Jure and De Facto. — L. S. Bevington: The
Personal Aspect of Besponsibility. — Notes and Discussions :
Mr. Le\ees' Doctrine of Sensibility, by E. Hamilton; Prof.
Glerk Maxwell on the Belativity of Motion, by J. K. Thacker;
Mr. G. S. Hall on the Perception of Golour, by Grant Allen;
Prof. Herzen on „The Physical Law of Consciousness". —
Gritical Notices: Huxley's Hume, by Bobertson; Murph/s
Habit and Intelligen ce, by Grant Allen; v. HartmannV
24*
372 PhilosophiBche Zeitschriften.
Phänomenologie des sittl. Bew., by W. G. Coupland; Jack-
son's Fifth Book of the Nicomach. Ethics, by J. A. Ste-
wart. — New Books. — Miscellaneous.
La Filosofla delle Souole Italiane.
Band 19, Heftl: T. Mamiani: AI prof. L. Ferri,
intomo al suo dettato L'Idea. — B. Bobba: La dottrina
della libertä secondo Spencer in rapporto colla morale. — F.
Bamorino: Piatone filosofo^ artista e scrittore. — T. Ma-
miani: Filosofia della realitä. — Di Giovanni: Sopra
una sentenza di Giordano Bruno. — Bibliografia : L. Ferri. —
P. Siciliani. — H, Taine. — Ad. Franck. — Fr. Harms. —
L. Caranzetti. — Periodici di filosofia. — Notizie. — Becenti
pubblicazioni.
Heft 2: L. Ferri: L'Assoluto e la mente, letteraal
Conte Mamiani. — A. Tagliaferri: Filosofia della Beli-
gione ; il filosofo nelle sue relazioni col dogmatismo religiöse. —
T. Mamiani: Breve nota all' articolo precedente. — B.
Bobba: La dottrina della libertJk secondo Spencer in rap-
porto colla morale. — G. Fontana: Süll' Idea, analisi de^
suoi caratteri. — L. Ferri: Breve nota all' articolo prece-
dente. — Bibliografia: Th. Bibot; P. B. Schuster; D. Bo-
surgi; A. Herzen; V. Di Giovanni. — Periodici di filosofia. —
Notizie. — Becenti pubblicazioni.
Bibliographische Mittheilnngen.
Aristotle's Nicomachean Ethios. Book V. Edited by Henry
Jackson, M.A. 8vo. 6s.
Aristoteles' Werke. Griechisch u. deutsch m. sacherklär. Anmerkgn.
6. u. 7. Bd. 8. Leipzigs EDgelmann. 15 M. (1-7.: 40 M. 75 Pf.)
Inhalt: 6. Politik. Griechisch u. deutsch hrsg. v. Prof. Dr. Frz.
Suse ml hl. 1. Thl. Text u. Uebersetzg. (XXVII, 801 S.) 10 M.
7. 2. Thl. Inhaltsübersicht u. Anmerkgn. (LXXVI, 888 S.) 5 M.
Amoldt, Emil^ Kant's Prolegomena nicht doppelt redigirt.
Widerlegung der Benno Erdmann'schen Hypothese, gr. 8. (78 S.)
Berlin, Liepmannssohn. 1 M.
Bahnsen, Dr. Jnl., Philosophie und IVationalitat. Rede zur
Feier d. Sedantages am 2. Septbr. 1876 geh. gr. 8. (17 S.) Lauen-
burg i. P., Feriey. 1878. 40 Pf.
Becker, Dr. Th., Flato's Charmides inhaltlich erläutert, gr. 8.
(106 S.) Halle, Pfeffer. 2 M. 40 Pf.
V
Bibliographische Mittheilongen. 373
Berg, H«5 Die Lust an der Musik erklärt. Nebst einem Anh.:
Die Lnst an den Farben, den Formen und der körperl. Schönheit,
gr. 8. (58 S.) Berlin, Behr. 1 M.
Bei^eley^s IPrinciples of haman knowledge. With Introduction,
&c. By CoUyns Simon, LL.D. Cr. 8vo. Ss.
Bemays, Jae., Xiucian und die Kyniker. Mit e. Uebersetzg. der
Schrift Lucians über das Lebensende d. Peregrinos. gr. 8. (111 S.)
Berlin, Hertz. 3 M. 20 Pf.
Bibliotibek) philosophiscliey od. Sammlung der Hauptwerke
der Philosophie alter u. neuer Zeit. Unter Mitwirkung nam-
hafter Gelehrten hrsg., beziehungsweise übers., erläutert u. m. Lebens-
beschreibungen versehen von J. H. V. Kirchmann. gr. 8. Leipzig,
Koschny. k 50 Pf. 268—274. Leibniz, Theodicee. 3.-9. Hft.
(XV u. S. 129—533 m. 2 Tab.) — 275. 276. Erläuterungen zur
Theodicee v. Leibniz.. Von J. H. v. Kirchmann. (162 S.)
Bibliothek für Wissenschaft und Literatur. 1. Bd. 2. Thl.
gr. 8. Berlin, Grieben. 7 M. Inhalt: [Philosoph. Abth. 1. Bd.
2. Thl.] Die Grundprobleme der Erkenntnissthätigkeit beleuchtet vom
psychologischen und kritischen Gesichtspunkte. Als Einleitung in d.
Studium der Naturwissenschaften. 2. Bd. Die Natur d. Intellects im
Hinblick auf die Grundantinomie d. wissenschaftl. Denkens. Mit 6
in den Text gedr. Holzschn. u. e. illustr. Taf. Von Prof. Otto
<3asparL (XXXII, 364 S.) cplt.: 12 M.
Cohen, Dr. Herm., Flaton's Ideenlehre und die Mathematik,
gr. 4. (31 S.) Marburg, Elwert*8 Verl. 1 M. 20 Pf.
Bieterici, Prof. Dr. Fr«, Die Philosophie der Araber im X.
Jahrh. n. Chr. 2. Thl. Mikrokosmus, gr. 8. (VIII, 204 S.)
Leipzig, Hinrichs* Verl. 7 M. 60 Pf. (8 Thle. cplt.: 51 M. 40 Pf.)
English Men of Xietters. Edited by John Morley: — Hume. By
Professor Huxley. Cr. 8vo. 2 s. 6 d.
Fischer, Dr. Wilh«, Bechts- und Staats-Fhilosophie. 8. (IV,
196 S.) Leipzig, Verlag f. moderne Sprachen u. Literatur. 4 M.
Frege, Privatdoc. Dr. Glob«, BegrifPiisehrift, e. der arithmeti-
schen nachgebildete Formelsprache d. reinen Denkens,
gr. 8. (X, 88 S.) Halle, Nebert. 3 M.
Guttmann, Landrabb. Dr. J., Die Beligionsphilosophie d. Abra-
ham ibn Daud aus Toledo. Ein Beitrag zur Geschichte der
jüd. Beligionsphilosophie u. der Philosophie der Araber. gr. 8.
(Vin, 240 S.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 4 M.
Hagemann, Doc. Dr. Georg, Elemente der Philosophie. I. A.
u. d. T.: Logik u. Noetik. Ein Leitfaden f. akadem. Vorlesgn., so-
wie zum Selbstunterrichte. 4. Aufl. gr. 8. (XI, 206 S.) i^eiburg
i. Br., Herder. 2 M. 25 Pf.
Härtung, Ernst Bruno, Grundlinien e. Ethik* bei Giordano
Bruno, besonders nach dessen Schrift.: Xio spaccio de la
bestia trionfante. Eine Abhandig. gr. 8. (VI, 60 8.) Leipzig,
1878 (Kdssling). 50 Pf.
Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch-
heit. Nach den besten Quellen rev. Ausg. Hrsg. u. m. Anmerkgn.
begleitet v. Heinr. Düntzer. 4 Thle. gr. 16. (200, 182, 208 u.
101 S.) Berlin, Hempel. In 1 Bd. geb. 2 M. 50 Pf.
374 Bibliographische Mittheilungen.
Jacobson, Dr. Moses, Versuch e. Psychologie d. Talmud.
Inaaguralschrift. gr. 8. (107 S.) Hamburg 1S7S. 2 M.
Jäger, Prof. Dr. Gnst«, Die Entdeckung der Seele. [Aus ,yEos-
mos".] Lex.-8. (34 S.) Leipzig, 1878. E. Günther. 75 Pf.
Janet^s (Paul) Final causes. Translated by William Affleck. Pre-
face by Bobt. Hunt, D.D., LL.D. 8vo. 12 s.
JoTons^ (W. Stanley) Elementary leseTons in Logic, Deductive
and Inductive. 7th. Edition. Fcp. 4 s. 6 d.
Kriegsmann, Qymn.-Lehr. Georg, Die Bechts- und Staatstheorie
d. Benedict v. Spinoza. Inangural-Dissertation. gr. 4. (IH S.)
Wandsbeck 1878. (Göttingen, Vandenhoeck & Bnprecht.) 80 Pf.
Lange's (F. A.) History of Materialism, and Criticism of its
Present Importance. 2nd Edit. (3 vols.) Vol. 1. Svo. lös. 6d.
Lassen, A*. lieber Gegenstand und Behandlungsart der Beli-
gionsphUosophie. [Ans: „Philos. Monatshefte".] gr. 8. (55 S.)
Leipzig, Koschny. 1 M. 20 Pf.
Last, E«, Mehr Ijicht ! Die Hauptsätze Kant's n. Schopenhaner^s in
allgemein verständl. Darleg. 8. (V, 302 S.) Berlin, Grieben. 5 M.
Lessing's philosophische Schriften. Hrsg. n. m. Anmerkgn. be-
gleitet y. Chrn. Gross, gr. 16. (3S4 S.) Berlin, Hempel. geb.
2 M. 50 Pf.
Liard (L.)* — La Science positive et la metaphysique. In-8.
Ouvrage cour. par TAcad^mie des sciences mor. et pol. 7 fr. 50 cts.
Lotze, Herrn«, System der Philosophie. 2. Thl. Metaphysik.
Drei Bücher der Ontologie, Kosmologie u. Psychologie, gr. 8. (Vllf
604 S.) Leipzig, Hirzel. 9 M.
Miehelis, Prof. Dr. Fr«, Ist die Annahme e. Baumes m. mehr
als drei Dimensionen wissenschaftlich berechtigt? Eine an
die Adresse des Hm. Prof. Dr. Zöllner zu Leipzig gerichtete Frage.
gr. 8. (48 S.) Freiburg i. Br., Wagner. 1 M.
Xathan, Jnl«, Kant's logische Ansichten und Xieistungen. In-
angural-Diss. gr. 8. (134 S.) Jena 18,78 (Neaenhahn). 2 M. 70 Pf.
Noaek, Prof. Dr. Lndw«, BOstorisch-biographisches Handwörter-
buch zur Geschichte der Philosophie. 10—12. (Schluss-)Lfg.
Lex.-8. (XX n. S. 721—936.) Leipzig, Koschny. k 1 M. 50 Pf.
Petz, Frz. S., Philosophie der Beligion, oder Studien üb. Gott
n. das Göttliche, m. steter Bücksicht auf die Lehren der grössten
Philosophen aller Zeiten, gr. 8. (IV, 160 S.) Mainz, Kirchheim. 2 M.
Pfleiderer, Prof. Dr. Edm«, Die Philosophie und das Leben.
Akademische Antrittsrede, geh. zu Tübingen am 6. Juni 1878. gr. 8.
(36 S.) Tübingen 1878, Fues. 70 Pf.
SauT^ (Henry). — De l'Union substantielle de Päme et du
Corps. B^pome au B. P. Bottala. In-8.
Schuster, weil. Prof. Paul Bob«, Gibt es unbewusste u. vererbte
Vorstellungen? Akademische Antrittsvorlesg.. geh. am 5. März
1877. Nach dem Tode d. Verf. m. seinem Bildniss (in Stahlst) und
e. Vorrede hrsg. v. Prof. Frdr. Zöllner, gr. 8. (XLIL 83 S.)
Leipzig, Staackmann. 3 M.
Shields' (Dr. Chas. W«) The final Phüosophy of the System
of perfectible knowledge &c« 8yo. 18 s.
Bibliographische Mittheilungen. 375
Speneer's (Herbert) Edacation: Intellectaal, Moral, and Physical.
Cheap Edition. Cr. 8to. 2 s. 6 d.
Spir^ A«9 neber Idealismus und Pessimiamas. Zwei populäre
Aufsätze, gr. S. (35 S.) Leipzig, Findel. 60 Ff.
Steekelmachery Dr. Mor.y Die formale Xiogik Kant's in ihren
Beziehungen zur transcendentalen. Eine von der philosoph.
Facultät der Universität Breslau gekrönte Preisschrift, gr. 8. (V,
105 S.) Breslau, Eoebner. 2 M. 80 Ff.
Taine (H.)* — De rintelligence. 3. Edition, aug. 2 volin-t2. 7 fr.
ünlTersal-Bibliothek. gr. 16. Leipzig, Ph. Reclam jun. Inhalt:
851 — 855. Kritik der reinen Vernunft. Von Imman. Kant. Text
der Ausg. 1781 m. Beifügung sämmtlicher Abweichgn. der Ausgabe
1787. Hrsg. v. Dr. Karl Kehrbach. 2. verb. Aufl. (XXVI, 703 S.)
geb. 1 M. 50 Pf.
Yerhandlungen der philosophischen Gesellschaft zu Berlin.
12. Hft. gr. 8. Leipzig, Koschny. ä 1 M. 20 Pf. Inhalt: Ueber
Anschaulichkeit in den Sinnen und Anschaulichkeit im Denken.
Vortrag, gehalten v. Privatdoc. Dr. J. H. Witte. (60 S.)
Yoit, Prof. Dr. Carl t.^ Ueber die Entwicklung der Srkenntniss.
Bede an die Studirenden beim Antritte d. Rektorates der Ludwig-
Maximilians-Universität geh. am 2S. Novbr. 187$. gr. 8. (29 S.)
München, Bieger. 1 M.
Wirth, Mor., Herrn Prof. Zollner's Hypothese intelligenter
vierdimensionaler Wesen u. seine Experimente mit dem
amerikanischen Medium Herrn Slade. Ein Vortrag, geh. im
akademisch-philosoph. Verein zu Leipzig. 2., durchgeseh. Aufl. gr. 8.
(VT, 65 S.) Leipzig, Mutze. 1 M.
Zeit- und Streit-Fragen, deutsche* Flugschriften zur Kennt-
niss der Gegenwart. Hrsg. von Frz. v. Holtzendorff. 113.
Heft. [8. Jahrg. 1. Hft] gr. 8. Berlin, Habel. 1 M. 40 Pf. In-
halt: Ueber materialistische u. idealistische Weltanschauung. Von
Dr. Max Schasler. (56 S.)
Zeller, Dr. Ed«^ Die l^hüosophie der Griechen in ihrer ge-
schichtlichen Entwicklung dargestellt. 2. Tbl. 2. Abth.
Aristoteles u. die alten Peripatetiker. 3. Aufl. gr. 8. (X, 948 S.)
Leipzig, Fues. 18 M.
ZVekler, Prof. Dr. O.^ Geschichte der Beziehungen zwischen
Theologie u. Katurwissenschaft , mit bes. Bücksicht auf
Schöpfungsgeschichte. 2. Abth. : Von Newton u. Leibniz bis zur
Gegenwart, gr. 8. (XII, 835 S.) Gütersloh, Bertelsmann. 15 M.
(cplt.: 27 M.)
Entgegnnng.
Es steht dem Herrn Professor Ulrici wahrhaftig sehr wohl an, dass
er auf die Vertheidigung, zu welcher er mich durch seine gegen mich
gerichteten ganz grundlosen und gehässigen Insinuationen undinvectiven
genöthigt hat, mir in dem jüngsten Heft seiner Zeitschrift — und zwar
376 Entgegnung. Notizen. Bitte.
Ton oben hemnter in einem Tone, als ob das Recht zweifSellos anf sei-
ner Seite wäre — mit einem Fnsstritt antwortet Dass trotz der dabei
▼on ihm an den Tag gelegten hardiease alles Das , was ich seiner so
betitelten Recension entgegenhalten mosste, wohl begründet, nnd damit
die Unentschnldbarkeit seiner an mir verübten Rechtsverletzung con-
Btatirt worden ist, davon kann derjenige sich überzeugen, der sich mit
der Leetüre der beiderseitigen Aufsfttze unter Vergleichung mit meinem
in Rede stehenden Buche befassen mag. Hiemach begreife ich es recht
wohl, wenn Herr Ulrici keine Lust gehabt hat, auf das, was ich ihm
vorhfklten musste, in eingehender sachlicher Weise zu repliciren.
Dr. A« Steudel.
Notizen.
1) Herr Dr. K* Kehrbaeh in Halle a. d. S. bittet alle Diejenigen,
welche in der Lage sind, Auskunft über das Schicksal Herbart'scher
Manuscripte zu ertheilen , ihm die bezüglichen Mittheilungen zukommen
zu lassen (Adresse: Universitätsbibliothek). An die Redactionen betr.
Zeitschriften ergeht das höfliche Ersuchen um Verbreitung dieser Notiz.
2) Herr Dr. W* Schlötel erklärt in einer neuen der Redaction
zugesandten „Berichtigung'* : er habe nie daran gedacht, dasjenige, was
er selbst 1870 eine „Lappalie*' nannte, 1878 durch Prioritätswahrung
zu schützen, sondern nur dagegen protestiren wollen, dass eine Anfangs
„vielleicht durch culposen Vertrauensmissbrauch*' gegen einen Studenten
ergänzte und nicht vollständig abgeschlossene Leistung zu einem Ver-
dienst gestempelt werde; hierdurch scheine ihm die wissenschaftl. Mo-
ral degradirt zu werden; dass der irrthümlich zur Frioritätswahrung ge-
wordene Protest unabhängig von Besprechung der Sigwart^schen Logik
zur Sprache gekommen, sei ohne sein Zuthun geschehen.
Bitte
betreffend die „Selbstanzeigen**.
Die Redaction richtet an die Herren Autoren, welche die Ver-
öffentlichung einer „Selbstanzeige** wünschen, das dringende Ersuchen:
die „Selbstanzeigen'* in dem Charakter halten zu wollen, welcher als
der allein zweckentsprechende in dieser Zeitschrift, Heft I, S. 119 f.
dieses Jahrg., ausführlicher dargelegt worden ist. Ebenso dringend wird
die Bitte wiederholt: den Raum von Vs — Vs Druckseite nicht zu über-
schreiten und, da den Herren Autoren Abzüge zur Revision nicht vor-
gelegt werden können, sowohl die Titelangabe als den Text der „Selbst-
anzeige" in deutlich lesbarer Handschrift einzusenden.
Pierer*scho Hofbnelidniclrereu Stephan Geibel A Co. in Altenbarg.
Zur zeitgenössischen Psychologie in Deutschland,
mit besonderer Racksicht auf
Riboty Th«: La Psychologie allemande contemporaine.
Paris, Germer Bailliere et Cie. 1S79.
Es ist ein charakteristisches Kennzeichen unserer unfertigen
Zeit, dass man aller Orten auf philosophischem Gebiet das Be-
dürfniss empfindet, sich aber das, was man besitzt, sowie über
das, was man etwa Aussicht hat zu erreichen, näher zu orien-
tiren. Weder in den Perioden^ die eine metaphysisch abge-
schlossene Weltauffassung in die Ergebnisse der Einzelforschung
hineinzuarbeiten haben, wie etwa das Zeitalter Wolffs war^ noch
in denjenigen, die sich dem letzten Ziel einer solchen Weltauf-
fassung nahe glauben, wie etwa das Zeitalter Hegels dies wähnte,
wird jene Neigung sich regen. Belege für die Stärke derselben
in der Gegenwart bieten zunächst die mannigfachen Abhand-
lungen über Inhalt und Ziel der zeitgenössischen philosophischen
Arbeiten in den einzelnen Ländern, die sich z. B. in den letz-
ten Jahrgängen hervorragender französischer und englischer
Fachzeitschriften finden. Andere Belege enthalten die weit zer-
streuten kleinen Arbeiten^ die den Umkreis der philosophischen
Probleme gegen die Aufgaben der anderen Wissenschaften ab-
zugrenzen versuchen. Eben hierher gehören endlich auch die
Abhandlungen und Schriften, die den gegenwärtigen Besitzstand
einer einzelnen philosophischen Disciplin nach seinem inneren
Zusammenhange darlegen wollen.
Eine solche Arbeit ist die \)ben genannte Schrifl Ribots,
dessen wertvolles Werk über die Erblichkeit uns vor wenigen
Yierteljahrsschrift f. Wissenschaft. Philosophie. III. 4. 25
378 B* Erdmann:
Jahren durch eine deutsche Uebersetzung näher zugänglich ge-
macht worden ist. Das vorliegende Werk ist nicht das erste
dieser Art, das wir Ribot verdanken. Er hat sich bekanntlich
durch eine frühere, 1875 in zweiter Auflage erschienene Arbeit
aber die englische Psychologie der Gegenwart das Verdienst
erworben, seinen Landsleuten die wesentlichen Methoden und
Ergebnisse der Associationspsychologie klar und eindringlich
vorzufuhren. Dieselbe hat, wie jeder Jahrgang der von Ribot
herausgegebenen, den Lesern dieser Zeitschrift wolbekannten
Revue philosophique zeigt, den erfreulichen Erfolg errungen,
dass jene Methoden und Resultate seitdem ein kräftiges Fer-
ment in der Entwicklung der wissenschafllichen Psychologie
Frankreichs geworden sind. Das Werk bat seine Wirkung sogar
auch auf Deutschland erstreckt. Schon Stumpf, Wundt und
Brentano^ die ersten^ die bei uns näher auf die herrschenden
psychologischen Theorien in England eingingen, mögen Ribot
manche Anregung zu danken haben. Sicher ist, dass der Zu-
wachs an Einfluss, der den .letzteren seitdem bei uns zu Teil
geworden ist, in mehr als einem Fall auf ihn zurückgeführt
werden muss.
Sofern der Erfolg der vorliegenden Arbeit Ribots in Frank-
reich lediglich durch die klaren, wissenschaftlich durchaus unbe-
fangenen und gründlichen Darlegungen derselben bedingt sein
wird, wird sie in dem gleichen Masse dazu führen, der deut-
schen Psychologie, die bisher daselbst nur in geringem Masse
und nur in vereinzelten Fällen zur Wirksamkeit gekommen ist,
Eingang zu verschaffen. Sie wird überdies wol auch den Erfolg
haben, die Ergebnisse unserer psychologischen Forschung mehr
noch als bisher der Fall gewesen ist in England einzubürgern.
Wir haben • in diesem Falle Ribot jedoch nicht bloss für
die Wirksamkeit zu danken, die er den Resultaten unserer
wissenschaftlichen Arbeit eröffnet; wir müssen auch zugleich
erfreut und beschämt sein, über seine wertvolle Zusammen-
fassung dessen, was bei uns auf psychologischem Gebiete
innerhalb der letzten Jahrzehnte Brauchbares zu Tage ge-
fördert ist.
' Zur zeitgenössischen Psychologie in Deutschland. 379
Der Plan des Buches ist allerdings nicht auf unsere ganze
zeitgenössische psychologische Bewegung gerichtet. Es behan-
delt nur diejenigen Autoren, die sich in die „ecole experimen»
lale" zusammenfassen lassen; die Vertreter der „ecole spiri-
tuaiiste^^ schliesst es aus. Der Grund dieser Ausschliessung wird
klar aus der Bestimmung des Verhältnisses beider Richtungen,
die Ribot in der einleitenden sowie in der Schlussbetrachtung
giebt. Der „alten Psychologie", wie der Verfasser sie auch
nennt, oder der metaphysischen Psychologie, wie wir sie viel-
leicht am treffendsten bezeichnen können, gehören demnach
diejenigen an, welche die Psychologie ihrem Inhalte nach auf
der Metaphysik basiren und ihrer Methode nach ausschliesslich
auf innere Beobachtung stützen, den Ergebnissen der mechanisch-
biologischen Disciplinen daher sie entweder ganz verschliessen
oder nur obenhin öffnen. Bei ihnen erscheint die Wissenschaft
deshalb in jedem einzelnen Fall äusserUch systematisch abge-
schlossen ; innerlich dagegen ist sie ein unfertiges Gemisch von
Talsachen, Analysen und heterogenen metaphysischen Hypo-
thesen (III, XIII f., XVI f., 350). Die „neue" oder experi-
mentelle Psychologie dagegen kennzeichnet sich vor allem durch
ihre Loslösung der psychologischen Probleme von der Herr-
schaft der Metaphysik. Es ist allerdings, wie Ribot andeutet,
für jede Psychologie, selbst für die experimentelle unerlässlich,
von einer metaphysischen Hypothese (über das Verhältniss der
psychischen zu den mechanischen Vorgängen) auszugehen, jedoch
sie verträgt nicht mehr jene ausschliessliche und specielle Basi-
rung, die z. B. den Ausgang von einer substantiellen Seele not-
wendig gemacht hat. Sie hat ihr Ziel vielmehr auf das Studium
der psychischen Phänomene zu beschränken geieitit; kurz, sie
ist eine „Psychologie ohne Seele" geworden. Ihr Gegenstand
wird somit durch die Nervenprocesse gegeben, sofern sie von
Bewusstsein begleitet werden können. Man kann also formuliren :
der Nervenprocess als mechanischer Vorgang büdet eins der Objecte
der Physiologie ; ebenderselbe als mechanischer und psychischer
Vorgang bildet das Object der Psychologie. Daraus aber folgt
weiter, dass für ihre Arbeit die Ergebnisse der biologischen
25*
380 B. Erdmanu:
Disciplinen die Hilfsmittel bieten, deren sie an keinem Punkte
entraten darf. Eine allgemeine metaphysische Hypothese bleibt
hiernach bestehen, — es ist für Ribot die absolutistische Annahme
eines durchgängigen ParaUelismus der mechanischen und psy-
chischen Vorgänge — ; ihre Stellung jedoch zum Aufbau der
Psychologie ist eine wesentlich andere geworden. Bildet sie
dort die Annahme, welche die Entwicklung der einzelnen Theo-
reme beherrscht, so wird sie hier zu einer möglichen letzten
Ansicht, welche die Bearbeitung der besonderen Tatsachen nicht
tangiren soll, und nur soweit als berechtigt anerkannt wird, als
sie durch die speciellen Ergebnisse getragen werden kann.
Hieraus ergiebt sich denn auch, dass der Ausschluss jener
metaphysischen Psychologie kein vollständiger ist. Er trifft nur
diejenigen, deren Lehren von den eben angeführten Gesichts-
punkten so wenig beeinflusst sind, dass die exacte Psychologie
keine Früchte von ihnen gewonnen hat Ribot rechnet hierher
deshalb nur die Arbeiten der sogenannten positiven Philosophen,
der Gruppe Fichte-Ulrici und ihrer Geistesverwandten, Herbart
dagegen und seine Schule sowie Lotze werden eingehend ge-
würdigt Der erstere beansprucht eine solche Darstellung schon
durch seine Kritik der Yermögenstheorien , obgleich dieselbe
durch seine Folgerungen aus der metaphysischen Bestimmung
des Wesens der Seele in das entgegengesetzte Extrem hinein-
getrieben ist Er darf sie aber auch fordern auf Grund seiner
allgemeinen Auffassung und Verwertung der Methode psycho-
logischer Analyse, wennschon dieselbe sowol durch die un-
verhältnissmässige Betonung der mathematischen Bestimmung
gegenüber der experimentellen Bewährung, als auch durch die
unzulässige Fundirung seiner Statik und Mechanik der Vor-
stellungen getrübt ist Lotze andrerseits hat, wie Ribot haupt-
sächlich an ihm betont, durch seine Theorie der Localzeichen
einen der nachhaltigsten Anstösse zur Ausbildung der empi-
ristischen Raumtheorie gegeben. Beider Lehren bilden daher
den Uebergang in die exacte Psychologie der Gegenwart —
Dass Ribot in seinen Angaben über die letztere die charak-
teristischen Züge clerselben getroffen habe, werden die Leser
_i
Zur zeitgenössischen Psychologie in Deutscliland. 381
dieser Zeitschrift ihm mit dem Referenten bereitwillig zu-
gestehen. Wir werden mit dem Autor sogar behaupten dürfen,
dass diese Merkmale den neueren Forschungen den Stempel
einer neuen Periode aufgedrückt haben, obgleich jedes derselben,
sowol die Beschränkung auf den gesetzlichen Zusammenhang
der psychischen Vorgänge als auch die principielle Verwertung
der physiologischen Ergebnisse zur Zeil bei uns von hervor-
ragenden Seiten noch umstritten ist. Denn die Resultate , die
in der kurzen Zeit der letzten Jahrzehnte auf diesem Wege
tatsächlich erreicht sind, sprechen zu eindringlich, als dass es
den Einwürfen, die z. B. neuerdings wieder von Lotze gegen
den ersten, und kürzhch auch von Brentano gegen den
zweiten Punkt erhoben sind, gelingen könnte, sich ernstlich
Gehör zu verschaffen. Es wird jedoch nicht überflüssig sein,
dies gegenüber so gewichtigen Urteilen noch etwas näher zu
begründen.
Lotze erinnert in seiner neu erschienenen Metaphysik
zunächst daran, dass die Psychologie so wenig jedenfalls wie
die physikalische Forschung Hypothesen entbehren könne, „zu
deren Entscheidung künftige Erfahrung vielleicht immer noch
viel, aber gewiss nicht alles wird beitragen können''; und es
wird gegenwärtig selbst unter den vorsichtigsten Naturforschern
sich niemand mehr finden, der ihm dies bestritte. Selbst das
Weitere werden wir ihm bereitwillig zugeben, und Ribot tut es
wie angedeutet mit uns, dass es unumgänglich für die Psy-
chologie bleibe, über die Verbindung psychischer und mecha-
nischer Vorgänge eine Hypothese zu Grunde zu legen, dass
wir ferner die Auswahl der möglichen Annahmen wiederum
„durch Rückgang auf die allgemeinsten Vorstellungen" be-
stimmen werden, „die uns über alles Sein und Wirken not-
wendig sind''. Der Streit beginnt erst, wenn es sich um die
Auslegung dieses Verfahrens im einzelnen handelt. Lotze be-
nutzt dasselbe bekanntlich, um aus der Tatsache der Einheit
des Selbstbewusstseins die Existenz einer für sich seienden
einheitlichen Seelensubstanz zu eruiren, der die psychischen
Functionen des Gedächtnisses, des Vorstellungsveriaufs u. s. w.
382 B. Erdmann:
als Aeusserungen ihrer eigenen Natur beigelegt werden. Da-
durch aber gerät er, so weit ich sehe, auf einen Weg, der von
der Art der Benutzung der Hypothesen auf naturwissenschaft*
liebem Gebiet weit abliegt, der überdies durch die eigenartige
Beschaffenheit der psychischen Vorgänge keineswegs gefordert
ist. Die Physiker verfahren gegenwärtig zwar ähnUch mit dem
Gesetz von der Erhaltung der Kraft; aber es geschieht dies
doch erst, seitdem auf empirischem Wege gefunden ist, dass
dasselbe für jedes Gebiet der bekannten Molecularvorgänge gilt.
Lotze dagegen hat es auch in seinen neuesten hierher gehörigen
Auseinandersetzungen durchaus verschmäht, seine Annahme
einer substantiellen, für sich seienden Seeleneinheit den schwer-
wiegenden Bedenken gegenüber zu rechtfertigen, die ihr aus
den neueren Theorien der Functionen des Gehirns erwachsen.
Und doch ist eine solche Erörterung durch seine früheren Aus-
lassungen über die Wertlosigkeit differenzirter Centralorgane für
die einzelnen Formen der psychischen Vorgänge gewiss nicht
überflüssfg gemacht. Ich brauche kaum daran zu erinnern^
dass die Ergebnisse der Untersuchungen z. B. von Nothnagel,
Hitzig, Ferrier, Goltz u. a. trotz manches Widerspruchs der-
selben unter einander und trotz mancher gerechten Einwürfe,
die sie alle erfahren haben, trotz ihrer Unbestimmtheit endlich
im einzelnen doch mehrfache Resultate aufzeigen können,
welche genügen, der Theorie der Seelensubstanz unüberwind-
liche Schwierigkeiten zu bereiten. Dahin rechne ich die GUe-
derung der Grosshirnhemisphären in eine motorische und eine
sensorische Region, sowie die Gliederung dieser selbst in spe-
zielle Centren für die Contraction besonderer Muskelgruppen
und für die Empfindungen der einzelnen Sinne. Eben liierher
gehört auch vor allen der bekannte Nachweis Brocas, dass „die
Unversehrtheit der dritten linken Stirnwindung, und vielleicht
der zweiten, unerlässlich für die Ausbildung des arücuhrten
Sprach Vermögens^ sei, den Kussmaul durch seine eingehende
und scharfsinnige Discussion der mannigfach zerstreuten, be-
zügüchen Daten noch um vieles gekräftigt und näher bestimmt
hat. Mag man diese und die ähnlichen Resultate der Gehirn-^
Zur zeitgenössischeD Psychologie in Deutschland. 383
forschung so skeptisch interpretiren als man wolle: wie sie
ohne die künstlichsten Hilfshypothesen in die Lehre einer ein-
heitlichen, substantiellen Seele eingefugt werden sollen, vermag
ich nicht einzusehen. Denn alle jene Behauptungen einer bloss
mitbedingenden Wirksamkeit der mechanischen Vorgänge in
diesen Centren sind solche Hilfshypothesen, die in dem Masse
complicirter werden müssen, als die Psychologie des Gehirns
auf dem Jetzt eingeschlagenen Wege fortschreitet. Es ist also
gewiss eine dem naturwissenschaftlichen Gebrauch der Hypo-
thesen wenig analoge Art trotz all solcher Tatsachen schlecht-
weg auf dem Beweis der Seelensubstanz aus der Tatsache der
Einheit des Selbstbewusstseins, der ganz und gar speculativ ist,
zu beharren.
Aber wir dürfen noch mehr behaupten: Die Hypothese
einer substantiellen Seele entspricht schon an sich nicht den
Anforderungen, die wir an eine naturwissenschaftliche Hypothese
zu stellen mit Recht uns gewohnt haben. Ich sehe nicht, dass
sie mehr leistet^ als jede Hypostasirung angeborener Vermögen
für verwickelte psychische Vorgänge, als etwa die Annahme
einer angeborenen Nötigung zur Ausbildung der Raumvorstellung
als solcher (nach Inhalt und Form im Sinne der Helmholtzischen
Unterscheidung), oder der Localisation der Empfindungen in
dem Raum. Es ist der Verzicht auf jede Erklärung hier wie
dort; denn begreiflicher wird uns die Tatsache der Einheit des
Selbstbewusstseins dadurch nur in dem Sinne, dass wir eine
Substanz für dieselbe hypostasiren , das Problem also nicht
lösen, ja selbst nicht klären, sondern zurückschieben. Dass
wir auf solche Hypothesen zuletzt immer angewiesen sind,
ist zweifellos; aber eine einfache Tatsache, wie z. B. die ein-
fachen Gefühle u. a. uns solche liefern, ist die Einheit des
Selbstbewusstseins doch gewiss nicht. Ich brauche hier kein
Missversländniss zu befürchten; denn ich bestreite gar nicht,
dass die Setzung einer solchen Seele an Folgen sehr reich
sein kann. Ist sie doch der Grundstein jedes Spiritualismus.
An Leistungen aber für die Erklärung des Selbstbewusstseins
384 B. £rdmann:
Steht sie trotzdem hinter den ähnlichen Annahmen angeborener.
Vermögen um nichts zurück.
Ein Umstand allerdings kommt Lotze zu gute. Keiner der
mannigfach verschiedenen entgegenstehenden Ansichten, müssen
wir zugeben, ist es bis jetzt gelungen, jene Einheit von der
Annahme aus erklärlich zu machen, dass die psychischen Vor-
gänge örtlich bestimmt sind, d. h. einer an bestimmte Centren
verteilten Molecularbewegung parallel laufen. Daraus folgt
jedoch gerade im Sinne der von Lotze angezogenen natur-
wissenschaftlichen Hypothesenbildung nur, dass jene Tatsache
bisher auf dem Wege nicht erklärlich geworden ist, der eine
grosse Zahl minder complicirter Vorgänge der Erklärung um
vieles näher geführt hat. Vi^ir dürfen überdies aber um so
sicherer hoffen, dass eine solche Ableitung sich noch finden
lassen werde, als das Theorem einer Seelensubstanz durch jeden
Schritt, der in den letzten Jahrzehnten durch die Gehirnforschung
vorwärts getan ist, an Boden verloren hat.
Ebenso wenig aber, als hiernach ein so competenter Sach-
walter wie Lotze der Psychologie ohne Seele ihr Recht streitig
machen kann, möchte es Brentano gelungen sein oder ge-
lingen können, den Schluss gegen die physiologische
Basirung der Psychologie glaubhaft zu machen, den er
aus seiner umsichtigen und eindringenden Kritik mancher
Irrtümer von Horwicz und Maudsley zieht. Brentano erkennt
bekanntlich nicht nur an, was schon Mill behauptet hat, dass
es ein sehr grosser Irrtum im Prinzip und ein sehr ernstlicher
Irrtum in der Praxis sei, die Psychologie auf Daten zu gründen,
wie sie die Physiologie bis jetzt darbietet; er behauptet sogar
überdies, dass selbst die Beimischung der physiologischen Unter-
suchung zur psychologischen in bedeutendem Umfange wenig
rätlich erscheine, da es bis zur Stunde nur wenige gesicherte
Daten der Physiologie gebe , die auf die psychischen Vorgänge
Licht werfen könnten. Dieses Urteil ist leider, wol der Natur
der Sache nach, etwas unbestimmt, so dass wir das Ausbleiben
des zweiten Bandes des Brentanoschen Werkes bedauern möch-
ten, in dem uns jedenfalls an der Behandlung speziellerer Probleme
Zur zeitgenössischen Psychologie in Deutschland. §§5
gezeigt werden würde, wie der Verfasser die Bewährung des-
selben im einzelnen zutreffend gefunden hat. Jedoch die Be-
hauptung ist immerhin bestimmt genug, um vorläuOg den ent-
schiedensten Widerspruch herauszufordern.
Ich muss mich fast scheuen, zunächst daran zu erinnern,
dass eine psychologische Theorie der Wahrnehmung gegen-
wärtig geradezu ausser Stande sein würde, nicht auf Schritt
und Tritt physiologische Data zu verwerten, selbst wenn sie
sich jedes Versuchs enthält, entwicklungsgeschichtliche Gesichts-
punkte in ihre Discussion hinein zu ziehen. Es liegt jedoch
überdies kein Grund mehr vor, sich eine solche Entsagung
gegenwärtig noch aufzuerlegen. Einige kurze Andeutungen
mögen dies erhärten. Obgleich die Ergebnisse der vergleichend
sinnesphysiologischen Forschung besonders nach Seiten ihrer
psychologischen Interpretation noch sehr unsicher sind, so lässt
sich aus ihrer Gesammtheit doch wol mit grosser Wahrschein-
lichkeit, jedenfalls aber als eine disculirbare Hypothese die An-
sicht schliessen, die bereits mehrfach erörtert ist, dass unsere
speciellen Sinnesempfindungen als differenzirte Tastempfindungen
anzusehen sind. Genauer werden wir anzunehmen haben, dass
in denjenigen Organismen, die nur über das ganze Inlegument
verbreitete Tastorgane besitzen, Tast- und Wärmempfindungen
allein (in entsprechender qualitativer und quantitativer Unbe-
stimmtheit natürlich) vorhanden sind. Aus der Art der Ent-
wicklung der Endorgane, sowie aus Reflexionen über die psy-
chische Selbständigkeit der Wärmeempfindungen dürfen wir
dann weiter schliessen, dass die Gehörs-, Geschmacks- und
Geruchsempfindungen sich aus denen des Tastsinns im engeren
Sinne, die Lichtempfindungen dagegen aus denen der (strah-
lenden) Wärme entwickelt haben. Für den allmählichen Ueber-
gang der Tastorgane in Gehörorgane haben wir in einem Falle
sogar ein sicher constatirtes Beispiel. Ist dies aber auch nur
dem allgemeinen Gedanken nach zutreffend, so scheint mir,
müssen wir noch einen Schritt weiter gehen. Einmal nämlich
sind wir doch gezwungen, wollen wir nicht eine psychische
Kluft statuiren, wo organisch-mechanische Uehergänge vorhanden
386 B. Erdmann:
sind, auch denjenigen thierischen Organismen psychisches Leben
zuzuschreiben, die noch kein differenzirtes Muskel- und Nerven-
gewebe besitzen. Andrerseits aber haben wir kein Recht, den-
selben Empfindungen und damit Vorgänge des Intellects zu-
zuerkennen. Das psychische Leben dieser niedersten Organismen
muss daher auf die Vorgänge des Fühlens und der Bewegungs-
innervationen beschränkt sein. Dieses Erfcebniss aber besagt,
dass alle unsere Empfindungen ihrer Qualität nach nichts
als differenzirte Gefühle sind, differenzirt, sofern sie bestimmten
Reizen angepasst und dadurch zu Zeichen für diese Reize ge-
worden sind ^). Für dasselbe spricht unter anderem, dass die-
jenigen Endorgane zuerst auftreten, die den gröbsten, häufigsten
und daher die Erhaltung des Organismus am leichtesten ge-
fährdenden Reizen entsprechen; dann auch, dass der Gefühls-
inhalt der Empfindungen in dem Masse abnimmt, als sie ihrer
neuen Aufgabe, Zeichen für die Beschaiffenheit der Reize zu
sein, durch Feinheit der Unterscheidung und Schärfe der
Localisation sich gewachsen zeigen. Die Gehörsempfindungen
') Es ist wol kaum notwendig, dass ich ausdrücklich erwähne,
wie weit diese Theorie sich von der Annahme Horwicz^ unterscheidet,
der alle seelischen Processe auf die Gefühle der Lust und Unlust
als die letzten, einfachsten, in allen Formen und Pro-
cessen als Grund typuswiederkehrendenSeelen demente
zurückzuführen sucht. Denn es handelt sich einmal nicht um alle
psychischen Vorgänge, sondern lediglich um die Qualität der Em-
pfindungen. Sodann ist nicht behauptet, dass die Gefühle in dem
tatsächlichen Bestände unseres psychischen Lebens diejenige Bolle
spielen, die Horwicz ihnen nach dem Angedeuteten zuweist. Materiell
genommen ist allerdings die oben vertretene Ansicht in den Theo-
remen von Horwicz enthalten. Dieselbe macht die Gefühlsvorgänge
überdies zu einem spezifischeren Rennzeichen des Psychischen, als
aus dem oben Entwickelten hervorgeht. Denn die auch von Bren-
tano eingehend motivirte Annahme, dass die Willensvorgänge als
solche nicht durch ein dem Fühlen oder Vorstellen coordinirtes Be-
standstück des Bewusstseins gegeben sind, dass ihr Bewusstseins-
gehalt somit nur durch die Innervationsgetühle u. s. w. repräsentirt
wird, scheint mir aliein den psychischen Tatsachen gerecht zu
werden.
Zur zeitgenössichen Psychologie in Deutschland. 387
bilden hier nur eine scheinbare Ausnahme. Einmal sind sie
künstlich gezüchtet; dann ist die Feinheit ihrer Localisation
dem Reichtum ihrer qualitativen Differenzen nicht proportional.
Nur liinweisen endlich will ich noch auf die Umbildung, die
von hier aus dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien zu
Teil werden rauss, eine Umbildung übrigens, die den Gedanken
J. Müllers nicht aufhebt, sondern nur neben der unmittelbaren
Beziehung auf den psychophysischen Vorgang noch eine mittel-
bare, allerdings ursprünglichere, den psychophysischen Vorgang
selbst bestimmende Beziehung auf den Reiz hinzufügt.
Es würde hier zu weit führen, diese Gesichtspunkte ins
einzelne zu verfolgen; sie genügen jedoch für sich, wie ich
glaube, um zu zeigen, dass die Theorie der Wahrnehmung nicht
bloss das Recht, sondern auch die Pflicht hat, sich sogar über
die Fragen nach dem tatsächlichen Bestand unserer Wahr-
nehmung hinaus bei jedem Schritt auf die Ergebnisse der
mechanisch biologischen Disciplinen zu stützen. Ganz Ent-
sprechendes gilt ferner vom Gedächtnjss. Es genügt für das-
selbe, auf die Untersuchungen z. B. von Bain, Hering, Ribot,
Kussmaul, Hensen u. a. hinzuweisen. Dieselben sind sich, darin
gleich und treffen darin das Rechte, dass sie das Gedächtniss
als einen Process kennzeichnen, der den mechanischen Vor-
gängen im Nervensystem überhaupt, so anhaftet, dass er aJs
eine allgemeine Function derselben angesehen werden kann.
Das mechanische Aequivalent, wenn man so sagen darf, der
psychischen Tatsache bilden nämlich teils die Gleichartigkeit der
Reize und der ihnen entsprechenden MolecuJarvorgänge , teils
die Tatsachen der Trägheit und der Einübung durch Gewohn-
heit. Eine Function der Nervenprocesse aber ist es natürlich
nur in dem Sinne der Unbestimmtheit der unabhängigen
Variabein, in dem wir von empirisch -psychologischem Stand-
punkt aus bis jetzt allein functionelle Beziehungen zwischen
Psychischem und Mechanischem annehmen dürfen.
Damit aber sind endlich Data genug gewonnen, um die
physiologischen Theorien auch für die Discussion des Asso-
ciationsprocesses verwertbar zu machen, den wir gelernt haben
388 B. Erdmann:
auf die Gesetze der Verschmelzung und Verflechtuhg, der Re-
produciion und Association im engeren Sinne und damit der
ApperceptionsYoi^änge zurückzufuhren. Selbst an mechanischen
Aequivalenten fehlt es hier nicht mehr ganz, da uns einerseits
die Theorie des Gedächtnisses, andererseits die Theorien der
Localisatiott der psychischen Functionen im Gehirn Hilfsmittel
genug geben, wenigstens allgemeine Vorstellungen über die ent-
sprechenden Molecularvorgänge zu bilden. Die Annahme aller-
dings muss bei alF solchen Versuchen festgehalten werden, dass
es abgeschmackt ist, die psychischen Processe schlechtweg nach
Analogie der parallellaufenden mechanischen, etwa der elektri-
schen oder chemischen zu erklären. Nur auf einen Punkt
möchte ich aufmerksam machen. Das Gesetz der Causalität ist
ein rein intellectuelles ; es kommt daher nicht dem psychischen
Leben als solchem zu, sondern nur denjenigen Entwicklungs-
stufen desselben, in denen Gefühle zu Empfindungen diffe-
renzirt sind. Nun ist dasselbe in* ursprünglichstem und all-
gemeinstem Sinne das Gesjetz der Localisation der Empfindungen.
Sofern wir nämlich unsere Empfindungen als Eigenschaf-
ten der Dinge objecüviren, setzen wir sie als Ursachen eben
dieser Empfindungen als Vorstellungen. V^ir yerlegen
den Ausgangspunkt der Wirkung an denjenigen Ort des Raums,
auf den wir die Empfindung projiciren. Die empirischen Be-
dingungen der Difi'erenzirung der Gefühle zu Empfindungen^
die als subjective zugleich apriorisch sind, d. i. von den eigen-
artigen Gesetzen des Psychischen abhängen, sind zugleich und
in entsprechendem Sinne die empirischen Bedingungen der Ent-
wicklung des Causalgesetzes, und damit auch des Substanzbegrifis.
Somit giebt es in der Tat, was gegen Brentano zu erweisen
war, kein allgemeineres psychologisches Problem , das gegen-
wärtig noch die Hilfe der biologischen Disciplinen entbehren
könnte, ohne seine Lösung zu gefährden. Dadurch aber haben
wir uns das Recht gesichert, der Charakteristik Ribots auch in
diesem Punkte zuzustimmen«
Nicht ebenso können wir allen den Argumenten bei-
pflichten, durch die Ribot seine Auffassung des Verhältnisses
Zar zeitgenössischen Psychologie in Deutschland. 389
der Psychologie zur Physiologie motivirt. Es ist zwar eine
nicht selten gehrauchte Wendung, dass der Uebergang der an-
organischen zu den organischen Vorgängen nicht weniger un-
erklärlich sei, als der Uebergang der mechanischen Lebens-
Vorgänge zu denen des Bewusstseins, dass also die Schwierigkeit
in beiden die gleiche sei. Das Argument hat jedoch durch die
mehrfache Variation, die ihm zu Teil geworden ist, an Beweis-
kraft nichts gewonnen. Denn dort handelt es sich um die
Transformation von Bewegungsvorgängen , deren allgemeine
Gesetze in beiden Gliedern die gleichen sind^ hier dagegen um
den Uebergang von Bewegungsvorgängen in solche, deren Zu-
sammenhang nach seinem psychischen Bestände jeden Vergleich
mit den ersteren ausschliesst Mir scheint sogar, Ribot müsse
diese Doppelheit des Mittelbegrilfs selbst zugeben; denn der
Gedanke, dass Psychisches und Mechanisches nur die beiden
Erscheinungsseiten des Wirklichen sind, dem er im metaphy-
sischen Gedankenhintergrunde zustimmt, ist nur unter dieser
Voraussetzung berechtigt
Ebenso zutreffend endlich, wie die bisher erörterte Charak-
teristik der modernen, ist Ribots Analyse der metaphysischen
Psychologie. Und gewiss kann ihm kein Vorwurf daraus ent-
springen, dass er ähnlich wie in seinem Werk über die eng-
lische Psychologie die Arbeiten der zeitgenössischen Vertreter
derselben, die für die neue Bewegung keine Triebkräfte ge-
liefert haben, von seiner Betrachtung ausschliesst. Denn er
betont selbst, dass es ihm nicht um eine historische Darstellung
des gegenwärtigen Zustandes der deutschen Psychologie zu tun
ist, die eine solche Rücksichtnahme nicht wol entbehren könnte,
sondern um eine sachliche Darstellung derjenigen Forschungen,
denen er eine grössere Wirksamkeit in seinem Vaterlande
wünscht.
In dem Bisherigen sind nur die Kennzeichen besprochen,
die nach Ribot die exacte Psychologie unserer Zeit überhaupt
bestimmen. Der Verfasser erörtert ferner den Unterschied, der
die psychologische Arbeit in England von der unsrigen
scheidet. Die erstere, die in continuirlicher Tradition durch
390 B. Erdxnann:
James Mill, Hartley, Hume und Berkeley bis auf Locke zurück
geht, lässt sich, wie Ribot findet, im weitesten und besten
Sinne als eine descriptive bezeichnen, da sie es vor allem
zu ihrer Aufgabe gemacht hat, die psychischen Phänomene zu
analysiren und nach ihren allgemeinsten Gattungsbegriffen zu
ordnen. In Folge dessen gehen denn auch die allgemeinen
Resultate bei den beiden Hills, bei Spencer, Bain, Lewes, Bai-
ley u. a. nur wenig auseinander: das Associationsgesetz nach
Contiguität und Aehnlichkeit bildet für sie alle das wesentliche
Instrument der Bearbeitung der psychologischen Begriffe (XVIII,
XXX, 358 f.; vgl. Psych, angl. contemp. 40 f., 422 f.).
Der deutschen Psychologie dagegen fehlt zunächst die
Uebereinstimmung in den grundlegenden Fragen, denn sie be-
sitzt weder eine continuirliche Tradition noch geschlossene
Schulen; alles Hierhergehörige ist neu. (XXX f.) Diese neuen
Untersuchungen enthalten ferner nur zum kleinsten Teil de-
scriptive Analysen; sie sind vielmehr, wie Ribot hervorhebt,
im eigentlichsten Sinne physiologischen Charakters, sofern
ihre Urheber, zum grossen Teil Physiologen von Fach, von
denen bestimmte einzelne Gebiete bearbeitet worden sind, das
physiologische Experiment zuerst in der Psychologie heimisch
gemacht haben. Ihr Gebiet ist daher nach Ribots Urteil ein
beschränkteres geblieben. Nur die beiden Endprocesse, die
Sensation und der Bewegungsact , sind eingehender discutirt,
im einzelnen also „die Reflexbewegungen und die Instincte, die
sinnlichen Empfindungen und die Vorstellungen von Raum und
Zeit, die Bewegungen überhaupt, die Ausdrucksbewegungen und
die Sprache, die Bedingungen des Willens und der Aufmerk-
samkeit, endlich die einfacheren Formen des Gefühls". Ver-
nachlässigt dagegen findet Ribot die centralen Acte, d. i. wie
wir sagen wurden den Apperceptionsprocess. Ihre hauptsäch-
lichen Ergebnisse liegen daher seiner Darstellung nach in der
experimentellen Ergründung der scheinbar einfachsten Bewusst-
seinstatsachen , in den Messungen des Verhältnisses zwischen
Reiz und Empfindung sowie der Dauer der psychischen Acte,
Zur zeitgenössischen Psychologie in Deutschland. 391
in der Entwicklung endlich der Localisationstheorie der sinn-
lichen Wahrnehmung.
Der Vergleich, der hiernach zwischen den beiden Richtungen
der modernen Psychologie , der physiologischen im engeren
Sinne und der descriptiven möglich ist, fällt, wie Ribot an-
erkennt, im ganzen zu Gunsten der deutschen Wissenschaft
aus. Denn dieselbe zeigt bei dem gleichen Ziel eine stärkere
Tendenz zur Exactheit, wie dies sich auch äusserlich daran
erkennen lässt, dass sie sich mehr in der Form der Erörterung
einzelner und einzelnster Fragen entwickelt Ribot betrachtet
es daher als einen Vorzug der Sache, dass er in dem vor-
liegenden Werk nicht wie bei seiner Analyse der enghschen
Psychologie gezwungen war, die Darstellung lediglich der zeit-
lichen Aufeinanderfolge und der dadurch gegebenen causalen
Abhängigkeit der einzelnen psychologischen Autoren anzupassen,
sondern diese Ordnung durch eine solche nach systematischen
Gesichtspunkten durchbrechen konnte. Historisch geordnet
sind die Abschnitte über Herbart (1 — 35), die her bar-
tische Schule, speziell Waitz, Lazarus und Steinthal
(35-59), Beneke (59—67), Lotze (67—103), Fechner
und seine Kriüker (155-215) und Wundt (215—299), dem
das umfangreichste Capitel gewidmet ist« Zwischen Lotze und
Fechner aber ist eingeschoben der Streit des Empirismus
und des Nativismus über den Ursprung der Raum Vor-
stellung und der räumlichen Locahsation (103 — 155); nach
Wundt fernei* werden die Untersuchungen über die Dauer der
psychischen Acte behandelt (299 — 339); den Schluss end-
Uch bildet, abgesehen von einer kurzen Zusammenfassung der
hauptsächUchen Resultate, eine systematisch angelegte Skizzirung
der Arbeiten von Brentano und Horwicz (339—365).
Auch mit diesen Ausführungen Ribots über das Verhältniss
der neueren psychologischen Richtungen dürfen wir uns im
ganzen einverstanden erklären. Die Kennzeichnung der deutschen
Psychologie als einer im engeren Sinne physiologischen trifft
in der That den Schwerpunkt unserer zeitläufigen Arbeit
Trotzdem jedoch möchte diese Charakteristik für das
392 B. Erdmann:
Ganze unserer zeitgenössischen Psychologie nicht so zutreiTend
sein, als es nach Ribots Darstellung der Fall sein müsste. Zum
Teil hat der Verfasser dies selbst erkannt und durch nähere
Bestimmung berichtigt. Bei der Besprechung nämlich der ein-
ander fast diametral entgegengesetzten Methoden von Horwicz
und Brentano trennt er unsere physiologische Psychologie
wieder in zwei spezieller bedingte Richtungen, in die ideologische
und die physiologische in eigentlichstem Sinne. Die erstere
aber, in die ausser Brentano etwa noch Herbart und seine
Schule sowie Beneke und Lotze hineingehören, tritt offenbar
aus dem Rahmen der Zeichnung heraus, selbst wenn man hiuzu-
nimmt, dass die Genannten ausser Brentano der metaphysischen
Psychologie beizurechnen sind.
Dazu kommt, dass Ribot nach zwei Seiten hin das Gewicht
der rein psychologischen Arbeiten etwas unterschätzt haben
möchte. Einmal nämlich besitzen wir eine nicht ganz geringe
moderne Literatur zur Theorie der Aifecte u. s. w., die ihre
erste ursprünglichere Wurzel in Schopenhauers bezüglichen An-
sichten, eine spätere schwächere sodann in Darwins Lehre hat.
Hierher gehört z. B. Dubocs Psychologie der Liebe, eine Schrift,
die ein wertvolles Beispiel einer klaren psychologischen Analyse
giebt. Ebendahin möchte ich die Arbeit von Paul Ree über
den Ursprung der moralischen Empfindungen rechnen, der,
man mag über die Berechtigung seiner Auffassung der ethischen
Wertschätzung denken, wie man will, die Anerkennung einer
sehr scharfsinnigen, psychologisch fein entwickelten Analyse
der tatsächlichen Motive unseres Handelns nicht versagt werden
kann. Es sind spezielle, von der allgemeinen Arbeit der Psy-
chologen nur gelegentlich in Angriff genommene Schachte, die
hier ausgegraben werden, und die Antriebe zu ihrer Bearbeitung
liegen durchaus, polemisch oder zustimmend, auf ethischem Ge-
biet; aber was die Arbeiter zu Tage gefördert haben, trägt die
Merkmale der modernen Art metaphysisch unabhängiger psycho-
logischer Forschung.
Auffallender jedoch ist ein zweiter Punkt. Ribot behandelt
Steinthal nur in Beziehung zu der von ihm und Lazarus
Zur zeitgenössischen Psychologie in Deutschland. 393
begründeten Abzweigung des psychologisch - historischen For-
schungsgebiet3 der Völkerpsychologie, [n Zusammenhang hier-
mit mag es stehen, dass er unter den Werken desselben die
„Einleitung ^ in die Psychologie und Sprachwissenschaft'^ nicht
nennt. Er urteilt nämlich, Steinthal sei bekannt durch sprach-
wissenschaftliche Arbeiten, denen man metaphysische Tendenzen
vorwerfe, durch Schritten nämlich „über den Ursprung, die
Entwicklung und die Klassifikation der Sprachen, sowie über
das Verhältniss der Grammatik zur Psychologie und Logik/'
Demnach möchte er in der letzteren Andeutung nicht das
eben genannte Werk vor Augen gehabt haben, sondern den
Inhalt der 1864 veröffentlichten Abhandlung über Philologie
Geschichte und Sprachwissenschaft. Denn an diese werden wir
zunächst erinnert, und andrerseits würde jene Bezeichnung
doch keine zutreffende Charakteristik dieses Hauptwerkes von
Steinthal geben. Durch eine solche enge Kennzeichnung nun
gelangt Steinthal nach seinen hauptsächlichen psychologischen
Verdiensten nicht 2ur Anerkennung. Ich halte sogar dafür, dass
jenes Werk die gehaltvollste Leistung auf rein psychologischem
Gebiete ist, die uns in dem letzten Jahrzehnt geboten wurde.
Eine Bestätigung dafür bietet die Tatsache, dass Steinthal allein
unter allen schulenbildend gewirkt hat; aus mehr als einem
Kennzeichen folgt überdies^ dass seine Wirksamkeit sich auf
weitaus die meisten jüngeren Autoren erstreckt, die psycho-
logische Fragen bei uns discutirt haben. Vor allem seine ein-
gehend entwickelte Theorie der Appercepüon giebt eine so ein-
schneidende und zutreffende Fortbildung der herbartischen
Theorie, dass sie für die nächste Zukunft ohne Zweifel die
Basis für aUe hierhergehörigen Untersuchungen bilden wird.
Aehnliches gilt im Ganzen auch von seiner Auffassung der
psychologischen Entwicklung der Menschen zur Sprache, ob-
gleich hier seine Betonung der Beflextatigkeit wol über das
Ziel hinausschiesst. Ich sehe wenigstens nicht, wie die Vor-
stellung, auf die er folgerichtig geführt wird, „dass der Ur-
mensch in grösster Lebhaftigkeit alle Wahrnehmungen, alle
Anschauungen, die seine Seele empfing, mit leiblichen Be-
'nerteljahrsschrift f. wissenschaftl. Philosophie, in. 4. 26
394 B- Erdmann:
wegungen, mimischen Stellungen, Gebärden und besonders
Tönen, ja sogar articulirten Tönen begleitete''^ mit denjenigen
immerhin minder abstracten Folgerungen vereinbar sei, die
wir aus entwicklungsgeschichtlichen Prämissen über die phy-
sische Reizbarkeit des Urmenschen abzuleiten haben. Doch
ich kann nicht versuchen, in die Discussion hierüber ein-
zutreten.
Auf seine Theorie der Apperception dagegen möchte ich
mir erlauben abzuschweifen, um an einer Probe zu zeigen, in
welchem Masse selbst die Fortbildung^ so weit sich bis jetzt
urleilen lässt, an den durch Steinthal erreichten Besitzstand
gebunden isL Steinthal unterscheidet, wie den Lesern dieser
Zeitschrift bekannt sein wird, die identificirende, subsumirende,
' harmonisirende und schöpferische Apperception. Dass die dritte
derselben, die harmonisirende, den anderen nicht coordinirt
sei, gesteht er selbst zu. Mir scheint, sie hat bei Steinthal ihre
selbständige Stellung nur dadurch e;rhalten, dass er die Sub-
sumtion nach dem Schema der formalen Logik schlechtweg als
ein Yerhältniss des Umfangs fasst, während sie doch, sofern
sie durch Verschmelzung bedingt ist, ebenso auf einer Beziehung
des Inhalts beruht. In jedem subsumirenden Urteil, z. B. Cajus
ist ein Mensch, ist der Grund der Bildung ebenso wie in jedem
identificirenden bedingt durch die Verschmelzung der in der
Perception enthaltenen Merkmale mit denen der appercipirenden
Vorstellung, sodann durch die unbewusst eintretende Repro-
<luction der in der letzteren associirten Vorstellungselemente.
Dass die Begriffe „auch ihrem Inhalte nach einander entgegen-
gesetzt, widersprechend oder mit einander übereinstimmend
oder indifferent gegen einander'' sind, beruht demnach auf
keinem eigenartigen Apperceptionsprocess .neben dem idenüfi-
«irenden oder subsumirenden. Doch nicht dies war es, was
ich hervorheben möchte. Es lässt sich nämlich unschwer
zeigen, dass Steinthal in seiner Aufzählung eine durchaus co-
ordinirte Art übergangen hat, d. i. die d e ter min ir ende
Apperception. Durch diese denken wir überall , wo uns die
percipirten Massen in der Form von Allgemeinvorstellungen,
Zur zeitgeDössischen Psychologie in Deutschland. 395
also durch Worte gegeben werden. So beim Lesen, im Ge-
spräch u. s. w. Die Verschmelzung, etwa beim Lesen der
Schilderung einer nicht namentlich genannten^ uns aber be-
kannten Landschaft, tritt dann durch die allmähliche gegenseitige
Determination der Worte ein, die je zahlreicher und passender
sie sind, um so bestimmter aus den verschiedenen gegebenen
Apperceptionsmassen die richtige reproduciren. Eben in diese
Klasse gehört auch das Raten von Rätseln, deren Lösung die
entsprechenden Apperceptionsmassen als vorher schon gegeben
voraussetzt.
Kehren wir nunmehr zu Ribots Urteil über Steinthal zu
rück, so ist noch hervorzuheben, dass gerade das besprochene
Werk unseres Psychologen am wenigsten dazu angetan ist, ihm
mit Recht den Vorwurf einer grösseren Abhängigkeit von der
Metaphysik zu machen, als die Sache fordert und verträgt. An
ausdrücklichen Abweisungen der Metaphysik hat es Steinthal
wenigstens nicht fehlen lassen. So erklärt er gelegentlich : „die
Psychologie ist durchaus Erfahrungswissenschaft und ihre Auf-
gabe kann nicht weiter reichen als bis dahin, die Bedingungen
festzustellen^ unter denen erfahrungsmässig ein bestimmter Er-
folg eintritt. Weiter reicht auch die empirische Naturwissen-
schaft nicht, und jeder Schritt weiter nach causaler oder teleo-
logischer Richtung gehört in die Metaphysik und in die
Religionsphilosophie**. Diesem leitenden Grundsatz entsprechen
denn auch die einzelnen Ausführungen vollständig genug. Ja,
man könnte sogar behaupten, Steinthal gebe hier der Meta-
physik weniger als ihr gebührt. Wenn er die Behauptung des
modernen Materialismus, die seelischen Vorgänge seien etwa
„eine Auslösung der Elektricität ganz ebenso, wie alle mecha-
nischen Vorgänge einander auslösen**, für eine blosse, durch
Experiment und Rechnung noch zu bestätigende Vermutung
erklärt, so scheint mir ein Gedanke als möglich festgehalten^
den schon die Tatsachen des Bewusstseins selbst auszu-
schliessen geeignet sind, der aber gegenwärtig gewiss jedem
Versuch eingehenderer metaphysischer Orientirung zum Opfer
fallen muss.
26*
396 B. Erdmann:
Id diesem Uebergehen Steinlhals, dessen Unzulässigkeit bei
uns keinem ernsten Zweifel begegnen möchte^ findet sich die
einzige wesentliche Lacke des Ribofschen Werks. Vielleicht
wird dieselbe dadurch erklärlich, dass diejenigen Probleme,
welche die Sprachwissenschaft der Psychologie darbietet, in
Ribots Darstellung überhaupt fast vollständig zurücktreten. So
ist auch das Werk von Kussmaul nicht näher gewürdigt, das
gewiss allen Anspruch darauf hat, als ein Beispiel für die Lei-
stungen behandelt zu werden, die der Psychologie aus den
Händen eines ebenso scharfsinnigen wie sorgsamen und psy-
chologisch wol orientirten Physiologen dargeboten werden.
Diese Lücke ist nun allerdings derart, dass ihre Ausfüllung das
Bild der zeitgenössischen deutschen Psychologie etwas ver-
schiebt und zwar zu Gunsten derjenigen Probleme, die Ribot
gegenüber der Untersuchung der beiden psychischen End-
processe, der Wahrnehmung und der Willensinnervation ver-
nachlässigt findet. Ribot hat sich dadurch zugleich eine dank-
bare Gelegenheit entgehen lassen müssen, den Vergleich der
deutschen mit der englischen Psychologie weiter zu verfolgen.
Gerade in der uns seit Herbarts Vorgang gewohnten Betrach-
tung des Apperceptionsvorganges liegt der eigentlich bezeich-
nende Gegensatz der beiden psychologischen Richtungen. Die
Associationsgesetze der AehnUchkeil und der Contiguität gelten
uns von diesem Gesichtspunkt aus^ — und derselbe ist dem
Humes, des eigentlichen Urhebers jener Gesetze, um vieles
überlegen — nur als abgeleitete Gesetze. Sie sind sogar nicht
mehr als Denkgewohnheiten der Association, von denen wir
uns durch unseren Willen in der verschiedensten Weise frei
machen können. Das allgemeinste psychische Gesetz ist viel-
mehr das der Identität, das zuletzt, wie schon Fichte klar
erkannt hatte, auf der Einheit des Bewusstseins beruht; ihm
ist jeder psychische Vorgang als solcher unterworfen. Diesem
zur Seite tritt für das Gebiet des Intellects das Gesetz der
CausaUtät, das, wie ebenfalls schon Kant, nicht erst Schopen-
hauer gesehen hat, aller Objectivirung der Empfindungscomplexe
zu Gegenständen zu Grunde hegt, also gewiss nicht aus der
.._j
Zur zeitgenössischen Psychologie in Deutschland. 397
Wahrnehmung der gleichförmigen Succession von Gegenständen
hergeleitet sein kann.
Uebrigens ist jene Verschiebung des Bildes zu Gunsten
der ideologischen Richtung , wie wir sie mit Ribot nennen
wollen, doch nicht ganz so gross^ als es nach dem Bisherigen
den Anschein haben muss. Denn andrerseits hat Ribot auch
eins der meistbearbeiteten Capitel der physiologischen Psycho-
logie, die oben schon berührte Frage nämlich nach der Art
und dem Sinn der Localisation der psychischen Vorgänge in
den Centralorganen nicht näher dargestellt. Hier liegt jedoch
eine offenbar absichtliche Unterlassung vor, da Ribot die hier-
hergehörigen Arbeiten wol kennt. Er scheint dabei von der
Ueberzeugung geleitet zu sein, dass aus diesen Untersuchungen,
deren vielfach gegensätzliche Ergebnisse noch deutlicl^ genug
das Anfangsstadium verraten, für die eigentlich psychologischen
Probleme noch nichts zu gewinnen sei. Es lässt sich dies
daraus schliessen, dass Ribot bei Besprechung des Hauptwerks
von Wundt über die hierhergehörigen einleitenden Erörterungen
als „zur Nervenphysiologie gehörigen" ganz kurz hinweggeht.
Denn es sind diese Untersuchungen an sich doch gerade in
dem von Ribot angenommenen Sinne psychologisch, da sie
überall zugleich mit der psycliischen Seite des Nervenprocesses
operiren müssen , die jeder ihrer Interpretationen zur Basis
dient. Principiell genommen gehören sie somit in den Plan
des vorliegenden Werkes hinein. Es möchten überdies aus
dem oben gegen Lotze und Brentano Erwähnten hinreichende
Gründe folgen, sie auch auf Grund ihrer tatsächUchen Leistungen
hineinzunehmen. Aber Ribots Auffassung, dass das wirklich
bisher Erreichte zu unbestimmt und geringfügig sei, um spe-
ziellere Rücksichtnahme zu verdienen, ist auch bei uns so weit
verbreitet, dass es unbilUg wäre, hier mit ihm zu rechten.
Hatten wir eben einiges hervorzuheben, was wir in Ribots
Arbeit ungern vermissen, so dürfen wir jetzt um so vollständiger
dem Anerkennung zollen, was uns tatsächlich in demselben geboten
wird. Die Analysen sind überall so klar und scharf, als die
Gedankenreihen, die reproducirt werden sollen, nur irgend zu-
398 B. Erdmann:
lassen, selbst da, wo abstract metaphysische Speculalioiien \\ie-
dergegeben werden, wie etwa die metaphysischen Voraus*
Setzungen der herbartischen Psychologie. Gelegentlich ist seine
Darstellung sogar klarer als die in den Originalwerken selbst.
z. B. Wundts, in denen nach meinem Gefühl im Yerhältniss
zu den leitenden Gedanken etwas zu viel Stoff geboten wird. Die
stilistische Einkleidung ferner ist so glatt und geschickt, wie
wir sie bei deutschen philosophischen Autoren noch immer
sehr ungewohnt sind zu finden, dagegen bei französischen Phi-
losophen nicht selten auch dann bewundern müssen, wenn die
Klarheit der Gedanken selbst hinter der Eleganz ihrer Aus-
führung weit zurückbleibt.
Nur zu wenigen einzelnen sowie zu einer allgemeinen
Frage möchte ich mir noch einige Bemerkungen erlauben.
Die letztere folge zuerst Es liegt, wie angedeutet, aus-
gesprochener Weise nur in der Absicht des Verfassers, einen
Ueberblick über den Inhalt der gegenwärtigen psychologischen
Arbeit bei uns zu geben ; er will nicht auch die Kräfte im ein-
zelnen aufzeigen, welche die historische Entwicklung derselben
bedingen. Ribot geht auf die letztere daher nur gelegentlich
ein, so S. XXX f. und S. 358 f.; und wir haben kein Rechte
ihm deswegen irgend einen Vorwurf zu machen. Für die sach-
liche Wirksamkeit der Gedanken ist die Einführung in ihren
historischen Zusammenhang nicht unbedingt erforderlich; sie
wird es erst^ wenn in dem Bewusstsein derer, auf welche die
Wirksamkeit berechnet ist, hinreichende Apperceptionsmassen
für die unbefangene Würdigung fehlen, oder wenn es gilt^
überlieferte resp. neu auftauchende Irrtümer abzuschütteln»
Das aber ist der Sache nach hier nicht der Fall. Eine Ge-
fahr allerdings wird mit diesem. Zurücktreten des geschicht-
lichen Moments stets verbunden sein, die nämlich, dass man
hin und wieder gegen die geschichtliche Gerechtigkeit verstösst,
selbst wenn die hauptsächlichen Kräfte der Entwicklung richtig
gefunden sind. Das letztere nun ist Ribot durchaus gelungen«
Mit Recht erkennt er in Job. Müller denjenigen, auf den die
ganze neue Bewegung, wenn es notwendig wäre, ihr einen be-
^
Zur zeitgenössischen Psychologie in Deutschland. 399
stimmten Anfang zu geben, zurückgeleitet werden müsste; mit
Recht weist er andrerseits auf Herbart als den philosophischen
Begründer des exacten Geistes der Psychologie hin. Auf das
nicht wenig complicirte historische Gewebe des weiteren Ver-
laufs der Wechselwirkung zwischen diesen beiden Ausgangs-
reihen^ zu denen sich. besonders seit Anfang des yorigen Jahr-
zehnts die Einflüsse des kantischen Kriticismus und seit Anfang
dieses Jahrzehnts mehrfach auch Einwirkungen der Associations-
psychologie gesellen^ geht Ribot nicht näher ein. Jedoch seine
Darstellung der sachlichen Ergebnisse zeigt, dass ihm nichts
wesentliches entgangen ist Die historische Gerechtigkeit da*
gegen, die in der richtigen Verteilung des Lichts zwischen den
zusammenarbeitenden Gedankenreihen liegt , scheint mir nicht
immer gewahrt.
Nicht genügend betont zunächst sind nach meinem Dafür-
halten die Arbeiten von E. H. Weber und von Helmhoitz.
Der erstere wird zwar mehrfach genannt , bei der Erörterung
der Theorien des Tastraums wie bei der Discussion des psy-
chologischen Gesetzes. Aber es sind beide Male nur kurze
Worte, die ihm gewidmet werden, so dass der nicht vorher
schon orientirte Leser, da ihm keine festen Handhaben ge-
boten werden, seine Bedeutung schwerlich recht zu würdigen
im Stande ist. Und doch sind jene beiden angedeuteten Ar-
beitsreihen von ihm in bestimmender Weise, die eine beson-
ders bei Wundt, die andere in dem ganzen Gebiete der
Psychophysik bis auf die Gegenwart wirksam geblieben.
Dazu kommt, dass er der einflussreichste Vertreter der beson-
ders unter den Physiologen weit verbreiteten Ansicht ist, dass
die körperlichen Gemeingefühle nur mangelhaft localisirte Tast-
empfindungen seien, eine Ansicht, in der die wesentliche Be-
ziehung zwischen Gefühl und Empfindung richtig getroffen,
allerdings aber in irrtümlichem Sinne zwischen beiden Glie-
dern verteilt ist. Die Gefühle sind nicht mangelhaft localisirte
Empfindungen, sondern die Empfindungen sind diflerenzirte,
das ist auf bestimmte Reize bezogene und allmählich locali-
sirte Gefühle.
400 B. Erdmann:
Aehnliches gilt von Helmholtz. Ribot weiss die ein-
schneidende Bedeutung seiner sinnesphysiologischen Arbeiten
zwar wol zu schätzen; aber sie werden dem Leser nicht hin-
reichend vorgeführt, um das Urteil desselben zu sichern. Die
Lehre von den Tonempfindungen ^ die doch, ganz abgesehen
von ihrem sonstigen Wert, stets ein klassisches Beispiel dafür
bieten wird, dass der Bewusstseinsinhalt der Empfindungen, ja
allgemein der psychischen Vorgänge, keinen Massstab für ihre
Einfachheit abgeben kann, wird auch nach dieser rein psycho-
logischen Rücksicht hin nicht genauer dargelegt. Helmholtz ist
ferner durch seine nicht wenigen klassischen Abhandlungen
* über die Schnelligkeit des Stroms in den motorischen Nerven
der eigentliche Begründer der seitdem durch Beiträge aller Art
so reich gewordenen Lehre von der Dauer der psychischen
Vorgänge. Und auch hier würde ihm die historische Gerech-
tigkeit mehr zu vindiciren haben, als in den kurzen Worten
Ribots (S. 303 f.) enthalten ist. Unsere deutschen Physiologen
wenigstens pflegen diesen Arbeiten mit Recht ein ungleich
grösseres Gewicht beizulegen. Noch auf einen dritten Punkt
weist Ribots Darstellung hin, nämlich auf Helmholtz* vielfach,
meist allerdings abweisend besprochene Lehre von den un-
bewussten Schlüssen. Mir scheint, auch sie hätte zum min-
desten eine allgemeine Skizze verdient, und das um so mehr,
als die Vermutung wol nicht irrig ist, dass Wundts besonders
in seinen früheren Schriften entwickelte Ansicht über die func-
tionelle Bedeutung des Syllogismus, die Ribot eingehend repro-
ducirt, historisch aus Helmholtz' Theorie entwickelt ist. Zudem
lässt sich zeigen, dass der lebhafte Widerspruch, den Helmholtz*
Ausführungen hier gefunden haben, zum grössten Teile auf
einer irrigen Interpretation derselben beruht. Dadurch näm-
lich wirken dieselben leicht fremdartig, dass in ihnen der
psychische Process, um den es sich handelt, in logischer For-
mulirung erscheint. Psychologisch genommen besteht jede
Wahrnehmung aus Apperceptionsprocessen ; aber auch jeder
Syllogismus und jeder Inductionsschluss lässt sich auf Apper-
ceptionsprocesse zurückführen. Nehmen wir als Beispiel die
\
Zur zeitgenössischen Psychologie in Deutschland. 401
bekannte Tatsache, dass Anschauungsobjecte, etwa Gebirgs-
massen, uns bei klarer Luft näher erscheinen. Hier reprodu-
cirt die gegebene Anschauung zunächst die Apperceptionsmasse,
die aus der Verschmelzung u. s. w. früherer Anschauungen
als eine unbewusst gebildete Allgemeinvorstellung in unserem
Intellect enthalten ist. Die Verschmelzung ist jedoch in dem
neuen Fall keine vollständige. Es hegt eine Differenz vor
zwischen den sonst verschwommenen und den gegenwärtig
klaren Contouren. Die dadurch bedingte Hemmung nun wird
aufgehoben durch einen neuen Apperceptionsprocess. Die ge-
gebene Differenz wird zu einer Perceptionsmasse, welche ähn-
Uche Differenzen reproducirt, die durch die Wahrnehmung
eines und desselben Objects in verschiedenen Entfernungen
gegeben waren. Diese Vorstellungsreihen bilden die neue Apper-
ceptionsmasse, die^ indem sie die Hemmung überwindet, zu der
Vorstellung der Jetzt grosseren Nähe der Gebirgsmassen führt.
Es bedarf nur der Hindeutung, dass diese sich einschiebende
Apperception wiederum in verschiedene einzelne zerfallbar ist.
Für unseren vorliegenden Zweck ist das irrelevant; für diesen
genügt der Nachweis^ dass diese beiden Processe logisch ge-
nommen als Syllogismen anzusehen sind. Die Apperceptions-
massen bilden die Obersätze^ die als AUgemei.nvorstellungen die
Perceptionsmassen als Untersätze in sich enthalten, sofern eine
Verschmelzung eintreten kann. Der erste Schlusssatz erkennt
das Object als das früher schon wahrgenommene Gebirge^ der
zweite nimmt es als jetzt näher an. Es mag zweifelhaft sein,
ob diese logische Formuhrung des Apperceptionsprocesses als
unbewussten Syllogismus resp. Inductionsschluss glücklich ist;
aber es ist gar nicht zweifelhaft; dass sie richtig verstanden
nichts besagt, was der psychologischen Theorie widerspricht.
Der Streit ist also ein Streit um Worte. Denn ganz irrelevant
ist es endlich, dass wir im psychologischen Process von Vor-
stellungen, bei der logischen Analyse dagegen von Urteilen
handeln. Die formale Einkleidung des ersteren durch Trennung
der einzelnen Elemente der Perceptions- und Apperceptions-
402 B. Erdmann:
massen macht die Gliederung in Subject und Prädicat not-
wendig.
Aehnlicb nun wie diese zuletzt besprochenen kleinen histo-
rischen Ungerechtigkeiten der Zurücksetzung liegen auch andere
der Begünstigung in der Natur des an sich durchaus berech-
tigten Verfahrens von Ribot. Der Verfasser nämlich ist von
seinem Gesichtspunkt aus vor allem angewiesen auf die Analyse
der Werke der einzelnen hervorragenden Autoren. Es wird
daher der Schwerpunkt seiner Darstellung notwendig dahin
fallen müssen, wo die umfassendste Arbeit vorhegt. Dabei aber
ist es unvermeidlich, dass manches dieser zu gute kommt, was
historisch genommen nicht ihr zugeschrieben werden würde,
dass ferner manches weniger Wesentliche zu Gunsten des
Zusammenhangs ausführUcher entwickelt wird. Mir ist dies
beides in einigem Masse bei Ribots Analyse der Arbeiten Wundts
aufgefallen. Ich denke, meine Ansicht kann nicht mis&verstanden
werden, Wundts zusammenfassendes Werk ist ohne Zweifel
weitaus die hervorragendste Leistung auf diesem engeren Ge-
biet, die uns das letzte Jahrzehnt gebracht hat; und Wundt
selbst hat durch eingehende historische Nachweisungen im
ganzen vollauf dafür gesorgt, dass jedem geschehe, was ihm
zukommt. In Ribots zusammenfassender Analyse aber treten
diese historischen Beziehungen naturgemäss zurück; und so
wird der unbefangene Sachverständige mit dem Referenten
mehrfach das Gefühl haben, als sei manches im Vergleich zu
der kurzen Darstellung der Theorien anderer, z. B. von
E. H. Weber und Helmholtz, zu ausführlich behandelt und
manches als dem Standpunkte Wundts eigentümlich charak-
terisirt, was sich schon bei anderen, z. B. bei Lotze, ebenso
oder ähnlich findet.
Doch diese Punkte sind so unwesentlich und so leicht
kenntlich, dass ich keinen Anlass finde, ins einzelne zu gehen.
Auf einen anderen Umstand darf ich dagegen hinweisen. Ribot
legt seiner Darstellung der Wundfschen Theorie neben der
physiologischen Psychologie auch die Vorlesungen über Menschen-
und Thierseele zu Grunde, und zwar so, dass ein nicht ge-
Zur zeitgenössiflclien Psychologie in Deutschland. 40S
ringer Teil derselben sich hauptsächlich oder allein auf da»
letztere Werk stützt Nun ist der Wert dieser beiden Schriften
— und Wundt wird der erste sein, dies zuzugeben — doch
ein recht ungleich grosser. Das frühere verrät durch manchen
Mangel an Klarheit der Gesichtspunkte; an Schärfe der Ana-
lyse und an Durchdringung der psychologischen und überhaupt
philosophischen Vorarbeiten, dass Wunüt damals des Stoffe»
weitaus weniger Herr war, als in dem neueren Werk. Vieles
daher, was jenem angehört, und darunter manches, was in
Ribots DarsteUung eingeflossen ist, wird Wundt selbst nicht
mehr als seine Ueberzeugung anerkennen. So die Zurück-
führung der Gefühle auf Schlüsse (Ribot S. 262 f. ; vgl Wundt
Phys. Psych. S. 460), und überhaupt die Fundation aller psy-
chischen Vorgänge auf unbewusste Schlüsse, durch die Wundt
früher die logische Interpretation des Apperceptionsprocesse&
durch Helmholtz weit über das zulässige Mass ausgedehnt hat»
So auch gewiss vieles aus seiner früheren Auffassung der ethno-
logischen Thatsachen (S. 273 f.).
Während Wundt hiernach vielleicht wünschen möchte, seine
bisher veröffentlichten Arbeiten etwas weniger ausführlich dar-
gestellt zu sehen, darf Lotze gewiss ähnlich wie Weber und
Helmholtz beanspruchen, dass seiner psychologischen Lehre
etwas mehr Raum gegeben wäre. Lotze hat auf den gegen-
wärtigen Stand der Forschung nicht bloss durch seine Theorie
der Localzeichen eingewirkt; nicht weniger wertvoll sind seine
Arbeiten gewesen durch die in vieler Hinsicht meisterhafte
Klärung der psychologischen Gesichtspunkte. Ribot hebt mit
Nachdruck Lotzes metaphysische Neigungen hervor; und ich
kann nicht umhin, mit ihm zu bedauern, dass derselbe nie den
Trieb gefühlt hat, ausser auf den Wahrnehmungsprocess auch
auf die anderen empirisch - psychologischen Probleme im ein-
zelnen einzugehen. Jene metaphysischen Neigungen sind jedoch
nicht bloss seiner Psychologie schädlich gewesen; sie haben
zugleich durch die Form ihrer Ausführung befreiend gewirkt
Denn wie überall, so bewegt sich auch hier Lotzes Discussion
in der Form der Ausschliessung möglicher Hypothesen, und
404 B. £rdmaiiii:
wie überall bei ihm, so wird auch hier den verschiedenen
Annahmen die feinsinnigste Zergliederung zu Teil, eine Zer-
gliederung, deren wertyolle Folgen weit über den nicht mehr
geringen Kreis seiner Schüler hinaus gewirkt haben.
Lotze hat sodann im speziellen noch das Verdienst, Her-
barts Reaction gegen die überlieferten Yermögenstheorien von
den metaphysischen Einseitigkeiten befreit zu haben, die ihr
die Annahme eines absolut einfachen Seelenrealen hat zu Teil
werden lassen. Seine Rettung des Gefühls und des Willens
hat deshalb nur ganz vereinzelt bisher Widerspruch bei uns
erfahren. Allerdings ist seine Wiederherstellung; der Co-
ordination von Vorstellen, Fühlen und Wollen sicher nicht das
letzte Wort der Psychologie. Sie mochte vielmehr in der
nächsten Zukunft ein mustergiltiges Beispiel dafür werden, wie
notwendig die blosse Analyse des Bewusstseinsbestandes , die
jede Hilfe der Entwicklungstheorie dauernd verschmäht, zu
Irrtümern führen muss. Ohne diese Hilfe möchte seine überaus
klare Entwicklung des Unterschiedes jener drei Vorgangsreihen
unwiderleglich geblieben sein; mit derselben fallt sie jener
Zersetzung anheim, die oben angedeutet wurde. Das Einfache
des Bewusstseinsbestandes ist nicht auch das Einfache der
psychischen Entwicklung. Die Abstractionen einer bloss vor-
stellenden und bloss fühlenden Seele, mit denen Lotze operirt,
fallen zusammen^ sobald sich zeigt, dass sie den Tatsachen der
Entwicklung ihr Recht rauben; es sind entwicklungsgeschichtUch
falsche Fictionen.
Nur zwei Bemerkungen bleiben mir noch übrig. Zu den
gelungensten Abschnitten des Ribotschen Werks gehört die
Darstellung des Streites um das psychophysische Gesetz, für
die Fechner selbst einen musterhaften Unterbau geliefert hat
Nur der neuesten Phase desselben, die allerdings erst ganz
kürzlich begonnen hat, fehlt die genügende Würdigung. Die
höchst anerkennenswerte kritische Studie G. E. Hüllers nämUch
wird nur ganz kurz berührt. Und doch möchte sie durch
ihre sorgsame und scharfsinnige Scheidung der Tatsachen von
den mannigfach verschlungenen Interpretationen derselben an-
Zur zeitgenössisclien Psychologie in Deutschland. 405
regender und klärender gewirkt haben, als irgend einer der
früheren Angriffe. Allerdings trifift Ribot hierbei kein Vorwurf.
Denn auch bei uns fehlt es noch ganz an einer Auseinander-
setzung, die dem Buche gerecht wird. Wir sind eben nicht
gewohnt, uns mit der Anerkennung der Leistung'en deutscher
Fachgenossen zu beeilen.
Auch aus dem letzten Umstand, den ich zu berühren habe,
haben wir kein Recht, ein missbilligendes Urteil über das Werk
Ribots abzuleiten. Denn auch fast alle unsere Auseinander-
setzungen über die mannigfachen noch möglichen Raumtheorien
trennen die verschiedenartigen Probleme, die hier zusammen-
kommen, nicht so scharf, als im Interesse der Verständigung
wünschenswert wäre. Ribots Discussion ist sogar nicht wenigen
der unsrigen darin überlegen, dass er die Erörterung des
Tastraumes von der des Sehraumes, so weit der Sache nach
möglich, abtrennt. Nicht ebenso aber ist eine zweite Quelle
der Unklarheiten verstopft, die sich in dieser schwierigen
Frage breit machen. Schärfer nämlich noch als jene beiden
Probleme sind die Fragen nach dem Ursprung der Raumvor-
Stellung überhaupt und nach den Bedingungen der Localisation
der Empfindungen im Raum von einander zu trennen. Streng
ausgesprochen ist diese Scheidung in den Untersuchungen von
Lotze und von Helmholtz, allerdings in sehr ungleichem Sinne.
Für Lotze liegt in der allgemeinen Frage kein Problem mehr,
da er die Entwicklung der Raumvorstellung als solcher auf die
angeborene Gesetzmässigkeit der Seele zurückführt. Für Helm-
holtz dagegen beginnen hier weitere Fragen., die allerdings
weder in seiner physiologischen Optik noch in der kleineren
Abhandlung aus seinen populären Schriften berührt werden.
Erst in den neueren Arbeiten, vor allem in dem gedanken-
schweren Aufsatz über die Tatsachen in der Wahrnehmung,
den Ribot leider nicht mehr hat benutzen können^ werden
dieselben näher präcisirt und zu beantworten unternommen.
Der enge Zusammenhang, in dem sie nach Fragestellung und
Lösung mit den mathematischen Untersuchungen über die
Axiome der Geometiie stehen, legt deshalb den Schiuss nahe,
406 B- Erdmann:
<lass sie erst auf Grund der eindringenden psychologischen
Ausführung dieser Gesichtspunkte, die wir ebenfalls fast aus-
schliesslich Helmholtz verdanken, die gegenwärtig erreichte
Klarheit bei dem Urheber selbst gewonnen haben. Wie un-
abhängig beide Fragen zur Zeit noch von einander gehalten
werden können, beweist die durch Lotzes Theorie gegebene
Tatsache, dass man in der Frage nach den Bedingungen der
Localisation Empirist, in der eigentlich psychologischen Frage
dagegen nach dem Ursprung der Raumvorstellung Nativist sein
kann. Ribot geht auf das allgemeine Problem, gemäss dem
bisherigen tatsächlichen Gang der neueren Forschungen, viel
weniger ein, als auf die abhängige Frage nach der Entwick-
lung der Localisation. Wir möchten deshalb um so mehr
wünschen, dass er diese Trennung seiner sonst so sorgsamen
Darstellung gerade dieses Streites zu Grunde gelegt hätte,
denn wir würden dann sicher die Freude haben, das all-
gemeinste Problem der sinnlichen Wahrnehmung, dessen
neueste, aus der deutschen Arbeit allein entsprossene Behand-
lung den früheren Theorien von Herbart und von Bain, trotz
der Gleichartigkeit der leitenden Gedankenreihen, ungemein
überlegen ist, in so klärender Form, wie wir nur wünschen
können, ausgeführt zu finden.
Specieller auf dasselbe bei dem vorliegenden Anlass ein-
zugehen, habe ich um so weniger ein Recht, als das eigentlich
bestimmende Material hierfür erst in der erwähnten neuesten
sinnesphysiologischen Arbeit von Helmholtz enthalten ist, die
Ribot noch nicht vorlag. Ich habe vielmehr nur noch zu
bitten, dass der Wert des Ribot'schen Werkes nicht sowol nach
den einzelnen Ausstellungen beurteilt werden möge, die ich
zu machen hatte, als nach der eingehenderen Vermittlung für
die Leser dieser Zeitschrift, die ich auf Grund der Leistung
des Autors zu Gunsten der Sache für wünschenswert halten
durfte. Es liegt bedauerlicher Weise in dem Wesen einer ein-
gehenderen Besprechung, dass das Einzelne, was Bedenken erregt,
weil es bestimmter zu motiviren ist, viel lebhafter hervortreten
Zur zeitgenÖBsiscIien Psychologie in Deutschland. 407
muss, als der Ausdruck der Belehrung und Förderung, die dem
Referenten aus dem Studium des Werks entsprungen ist.
Ich höre, dass der Arbeit Ribots, wie wir im Inter-
esse unserer Wissenschaft nur wünschen können, bald eine
deutsche Uebersetzung zu Teil werden wird. Möge der Autor
in dem Einen oder Anderen der angedeuteten Bedenken und
Wünsche einen sachlichen Anlass finden, einzelne Teile seiner
Darstellung bei dieser Gelegenheit zu verändern.
Kiel. B. Erdmann.
n
Die Emeuenmg der Atomistik in Deutschland
durch Daniel Sennert
uud sein Zusammenhang mit Asklepiades von
Bithynien.
Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts, welche über Deutsch-
land das namenlose Elend des furchtbarsten Krieges brachte»
bildet auch in der Geschichte der Wissenschaften für unser
Vaterland einen wenig erfreulichen Abschnitt. Aber während
im AUgemeinen die geistige Bewegung bei den deutschen Ge-
lehrten jener Zeit noch unter dem Drucke der scholastischen
Tradition stockt, erhebt sich in einem beschränkten Gebiete ein
Mann von grossem Ansehen unter seinen Zeitgenossen zu einer
freien und vorurtheilslosen Meinungsäusserung. Inmitten der
Schrecken des dreissigjährigen Krieges und der drohenden
Pest, welcher er selbst alsbald zum Opfer fallen sollte, ver-
öffentlicht ein weitberühmter, ohne Unterlass in Anspruch ge-
nommener Arzt seine in dreissigjährigem Nachdenken allmählich
herangereiften Ansichten über gewisse Fragen der Physik und
legt damit den Grund zur Erneuerung einer Theorie der Ma-
terie, welche für die Geschichte der Philosophie wie der Natur-
wissenschaften von grösster Bedeutung wurde.
Die Atomistik Daniel Sennert's, wie er sie in seiner „Epi-
tome scientiae naturalis" ') bereits andeutete und dann in den
^) Zuerst Wittenberg 1618. Opera omnia, Paris 1633, 1645.
Venet. 1641, 1645, 1651. Lugd. 1650, 1657, 1666, 1676. Sämmtlich
fol. Ich citire nach der letzten in 6 Bänden.
Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland. 4Q9
„Physica Hypomnemata^ ^) ausführlich darlegte und bekannte,
ist noch nicht ihrem Verdienste nach gewürdigt worden.
F. A. Lange ^) bezieht sich sogar nur auf die £pitome und
scheint die Hypomnemata gar nicht gekannt zu haben, so dass
sein Urlheil über Sennerf s Atomistik schon darum unzureichend
ausfallen mussle. Es wird nun beabsichtigt, im Nachstehenden
die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Senne)*t'schen
Atomenlehre zu lenken und zu zeigen, dass diese deutsche
Atomistik, oder richtiger Corpusculartheorie, auf einen eigen-
artigen, von dem Entwickelungsgange der Philosophie verhält-
nissmässig unabhängigen Zusammenhang mit der antiken
Atomistik hinweist, nämlich auf eine Yermittelung durch die
Geschichte der Medizin.
Daniel Sennert*) wurde am 25. November 1572 in
Breslau geboren. Sein Vater, ein geachteter Breslauer Bürger,
seines Zeichens ein Schuhmacher, starb bereits 1585, so dass
die Erziehung des dreizehnjährigen Knaben nunmehr in die
Hand seiner Mutter Catharina, geb. Helmann (sie stammte aus
Zobten in Schlesien) gelegt war, die sich derselben mit grosser
Sorgfalt annahm. Der Jüngling hatte den Wunsch, sich dem
Lehrfache in seiner Vaterstadt zu widmen und bezog daher auf
den Bath seiner Lehrer 1593 die Universität Wittenberg, wo
er zunächst hauptsächlich philosophische Studien trieb. Bald
aber mehr auf die Medizin hingewiesen, .besuchte er auch
Leipzig, Jena, Frankfurt a. 0. und hielt sich 1601 in Berlin
behufs praktischer Uebungen auf. Von hier gedachte er sich
nach Basel zu begeben, um daselbst zu promoviren; während
der Vorbereitungen hierzu wurde ihm jedoch angeboten, sich der
Promotion in Wittenberg zu unterziehen, und er beschloss auf
den Bath seines Freundes Jo. Georg Magnus („Wer weiss.
1) Zuerst Wittenberg 1836. — Opp. Tom. L
*) Geschichte des Materialismus. Iserlohn 1876. 2. A. II.
S. 316 u. 413.
*) Buchner, Orationes Panegyricae, Orat. XII. Wittenberg
1669, p. 333 ff. Daselbst auch Buchner^s Kede an Sennert's Grabe,
p. 432. — Vita Dan. Sennerti in Opp. Lugd. 1676.
Vierteljahrsschrift f. wissenscliaftl Philosophie, m. 4. 27
410 K- La88witz:
wozu es gut sein möcht") nach Wittenberg zu gehen, wo er
noch in demselben Jahre die Doctorwürde erlangte. Hier ge-
fiel er so, dass er schon im folgenden Jahre an Joh. Jessenins'
Stelle und auf dessen eigene Empfehlung zum Professor an
der Universität gewählt und bestätigt wurde. Bald wuchs
sein grosser Ruf als Arzt weit über Deutschlands Grenzen
hinaus Und führte ihm von allen Seiten, auch aus fernen Län-
dern und den einflussreichsten Kreisen, Hilfesuchende zu. Der
Kurfürst Johann Georg von Sachsen ernannte ihn zum Leibarzt
mit der Erlaubniss, seinen Wohnsitz in Wittenberg beizubehalten.
Bei all der überaus reichen Beschäftigung, welche die Zeit des
berühmten Mannes in Anspruch nahm, blieb er doch ipmer
in jeder Noth zu helfen bereit; so auch während der häufig
in Wittenberg herrschenden Pestepidemien. Im Jahre 1637
ergriff ihn selbst die schreckUche Krankheit; er starb am
21. Juü 1637.
Nicht seine Verdienste um die Heilkunde sind es, welche
uns hier beschäftigen; diese bestanden vornehmlich darin, dass
er zuerst das Studium der Chemie als einen Theil des medi-
zinischen Studiums einführte und zur Anerkennung der Ver-
dienste der Paracelsisten um die Chemie und die Bereitung der
Heilmittel wesentlich beitrug. Nur die atomistischen Lehren
Sennerfs sollen im Nachstehenden dargelegt werden.
Sennert's naturwissenschaftliches Hauptwerk „Epitome
sdentiae naturalis^^ unterscheidet sich zwar seiner ganzen .An-
ordnung nach im Allgemeinen nicht von den Compendien der
Physik, wie wir sie das ganze 16. und 17. Jahrhundert hin-
durch in steter Eintönigkeit finden. Doch enthält es bereits
vollständig die Keime seiner atomistischen Theorie und ist wohl
geeignet, erkennen zu lassen^ wie allmählich der atomistische
Gedanke in Sennert sich zu immer grösserer Klarheit und
Reife entwickelt hat Die ersten Spuren davon finden sich ge-
legentUch der Besprechung der Frage ^ ob das Continuum bis
ins Unendliche theilbar sei oder nicht. Hier^) setzt Sennert
^) Epitome Phys. Lab. 1. cap. 5. p. 11.
i
Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland. 411
auseinander, dass man durchaus die Theilung des Conlinuums
ins Unendliche im mathematischen Sinne von der reellen
physischen Theilung unterscheiden müsse. Die erstere existire
unbedingt im Sinne eines successiven Fortschreitens bis ins
Unendhche (p. 12); doch habe Aristoteles Unrecht, wenn er
•die für den mathematischen Körper geltenden Betrachtungen
auf den physischen anwende, und begehe damit selbst den Fehler,
um dessentwillen er Piaton getadelt und Demokritos, der ihn
vermieden, gelobt habe. Sicher hätten doch Demokrit und
andere vor Aristoteles, wenn sie von Untheilbarem sprechen,
nicht das mathematische Continuum, sondern nur den phy-
iiischen, naturlichen Körper gemeint. Nur um die Frage, ob
der natürliche Körper thatsächlich aus untheilbaren Partikeln
bestehe, könne es sich handeln, und diese sei von jenen Philo*
sophen dahin beantwortet worden^ dass die Körper aus un-
Iheiibaren Körperchen entstehen^ bestehen und wieder in sie
aufgelöst werden, und dass die Elemente, oder was man sonst
als Erstes der Mischung ansehen wolle , in die kleinsten Theil*
€hen, zu welchen die Physik bei der Erzeugung und Zerlegung
der Körper gelangen könne; aufgelöst werden, aus deren Zu-
sammentreten wiederum die zusammengesetzten Körper ent-
stehen. Dabei sehe er nicht ein, wieso in dieser Meinung eine
Absurdität liegen solle; vielmehr folgten derselben sowohl
Galen als alle diejenigen Philosophen und Aerzte, welche
annahmen, dass die Elemente in den Mischungen unverändert
beharren. Da nämlich eine bestimmte Begrenzung und Ge-
stalt zum Begriff des Körpers gehöre, so sei jöder Körper
uothwendiger Weise endlich und an gewisse bestimmte Grenzen
der Grösse oder Kleinheit gebunden. In der Gesammtheit der
Welt wie in jeder Species der Naturdinge gebe es in Wirklich-
keit (actu) ein Grösstes und Kleinstes. Doch stammt die be-
schränkte Grösse der Elemente nicht aus deren Natur selbst,
sondern ist eine Folge der Einwirkungen der äusseren Körper,
welche die Ausdehnung der Elemente bestimmt. Wie die Ele-
mente nicht ins Unendliclie vermehrt werden können, so können
sie auch nicht ins Unendliche getheilt werden, sondern indem
27*
412 K. LasB.witz:
sie sich untereinander mischen, werden sie in Ofii^goTara ^ogca^
wie Galen (De elemenüs, 1. I, cap. ult.) sagt, d. h. in sehr
kleine Theilchen zerlegt, so dass die Körper von Natur in
noch kleinere Theile nicht getheilt werden können, wesshalb
die Alten jene Theilchen Atome nannten.
Dies sind die ersten, allerdings noch sehr schwachen
Spuren einer Wiederaufnahme der Atomistik oder, besser ge-
sagt, der Aufstellung einer modificirten Corpusculartheorie. In
der Epitome selbst freilich macht Sennert noch keinen Ver-
such, die Naturerscheinungen atomistisch zu erklären, sondern
er beschränkt sich darauf^ den Vorgang der „Mischung^* auf dem an*
gegebenen Wege anschaulicher zu machen. Aber schon in der
Schrift „De consensu et dissensu Galenicorum et Peripateticorum
cum Chymicis^, cap. XII; p. 230 u. 231, tritt der atomistische Er*
klärungsversuch chemischer Vorgänge entschiedener auf, und über-
all zeigt sich, dass der anfangs nur schüchtern angedeutete Ge-
danke in Sennert selbst lebendig war und weiterreifte, bis er
am Ende seines Lebens auch seinen angemessenen Aus-
druck fand.
Es waren namentlich zwei Punkte , in denen Sennert von
der traditioneUen Aristotelischen Physik abwich, indem er näm-
lich lehrte^), 1) dass die Formen aus der Materie entständen»
und 2) dass bei jeder Mischung neue Formen entständen und
dass, während die früheren Grade bestehen bleiben, andere
hinzukommen und mit diesen immer neue Qualitäten erzengen«
Diese Neuerungen, insbesondere aber seine Paracelsistischen
Neigungen *) und seine Behauptung der Urzeugung, zogen ihm
von seinen Gegnern, unter denen sich Freitag in Groningen
und Zeisold in Jena besonders hervorthaten, masslose Angriffe
zu, so dass er selbst schwankend wurde, ob er seine in Vor-
bereitung begriffenen Hypomnemata pbysica herausgeben sollte ^).
^) Hypomnemata. Praefatio.
^) De Chymicoram cum Aristotelicis et Galenicis consensu et
dissensu. Opp. Tom. I.
^) Epistolarum Centur. II. £p. 87. Brief an Döring vom
31. Dec. 1635.
Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland. 413
Doch entschliesst er sich zu der Herausgabe, weil er die Noth-
wendigkeit einsieht; seine Ansichten, welche von Anderen falsch
berichtet und verdreht worden sind, öffentlich zu declariren
und zu vertheidigen*). Denn er werde falschlich ein Neuerer
und Gründer einerneuen „Sennert-Paracelsischen" Secte^) ge-
nannt, weil es berühmte Professoren gäbe, die mit Paracelsus
«durchaus keine Gemeinschaft hätten und doch mit seinen
{Sennerfs) Behauptungen übereinstimmten. Und muthig weist
er die Berufung auf die unbedingte Autorität des Aristoteles
zurück. „Yeritas enim est adaequatio notionum, quae sunt
in intellectu, non cum alterius hominis notionibus, sed
cum rebus."
Gleichzeitig hatte er, da ihn Freitag der Ketzerei und
<]^otteslästerung verdächtigt hatte, von acht theologischen Facul-
täten ein Gutachten eingefordert, ob es Ketzerei und Blas-
f)hemie sei; zu behaupten, dass die Seelen derThiere von Gott
■aus nichts geschaffen seien, und ob aus Genesis I, 24 sich die
von Freitag gezogene Folgerung ergebe, dass die Seelen der
Thiere aus der Materie hervorgegangen seien*). Beide Fragen
wurden im Laufe der Jahre 1635 bis 1637 von sämmtlichen
Facultäten im Sinne Sennert's entschieden.
So war Sennert's Name in Aller Munde; bei Freund und
Feind durfte man auf seine neue Veröffentlichung gespannt sein,
4ie überall einen grossen und interessirten Leserkreis fand.
In derselben legte er die Gedanken dar, welche er bei sorgfal-
tigerer Erwägung einiger streitiger Capitel der Physik gefasst hatte.
Zwar hätte er, wie er sagt *), diese Ueberlegungen vor ungefähr
<1reissig Jahren schon begonnen und später in seiner Epitome
veröffentlicht, aber die Leetüre anderer Autoren, namentlich
*) Hypomn. Praefatio.
') Job. Freitag. Novae seetae Sennerto-Paracelsicae .... de-
tectio et solida refutatio. Amst. 1636.
') De origine et natura animarum in brutis sententiae dar.
virorum in aliquot Grermaniae academicis etc. — Opp. Tom. I.
p. 285 ff.
^) Hypomn. physicorum Prooemium. ...
414 ^* LasBwitz:
er
die derjenigen Aerzte, welche die Physik besonders sorgfälti
bebandelt haben und darum auch schlechthin Physiker heissen,
ferner die Betrachtung der Natur selbst, die Beschäftigung mit
chemischen Versuchen und, mit einem Worte, die Berück-
sichtigung einer reichen Erfahrung haben ihn einsehen lassen,,
dass er das, was er zu wissen glaubte, noch keineswegs
wisse. Dennoch glaube er, dass das Meiste, was er in jener
Schrift gegeben habe, mit der Natur übereinstimme ^ Einiges
aber auch entweder richtiger, oder deutlicher gesagt wei'den
könne. ,
Von diesen ausdrücklichen Verbesserungen seines ersten
physikalischen Werkes gehe ich nun auf die Darstellung der
Atomenlehre näher ein, welcher er in Hypomnema III ein be-
sonderes Capitel widmet^).
Es muss nothwendiger Weise gewisse einfache Körper be-
sonderer Art geben, aus welchen die zusammengesetzten Körper
entstehen und in welche sie sich wieder auflösen. Diese ,iEin-
facben** sind natürliche, d. h. physische, nicht mathematische^
Minima, minima naturae, atomi, atoma corpuscula, adficna
adiaigeraf corpora indivisibilia und so klein, dass sie mit den
Sinnen nicht wahrnehmbar sind. Ihnen gegenüber sind die
Sonnenstäubchen schon zusammengesetzte Körper, Sie repräsen-
tiren den höchsten Grad der Theilung, über welchen di&
Natur nicht hinausgehen kann^ und sind andrerseits wieder der
Anfang aller Nalurkörper (p. 116).
Es müssen jedoch Atome verschiedener Art, und zwar in
einer doppelten Beziehung, unterschieden werden ; erstens nämlich
nach den Elementen und zweitens nach den zusammengesetzten
*) Opp. Tom. L p. 115 ff. — Dass „die von Demokrit, Epikur,
Lucrez und später auch andern Philosophen und Aerzten angenom-
menen Atome keineswegs zu läugnen seien'', wird auch ausgesprochen
in dem 6. Buche Practicae Medicinae, das 1635 herausgegeben wurde.
Opp. Tom. VL p. 211. Pract üb. VL Ps. IL Cp. 1. Dann heisst
es weiter: Hae atomi et minima corpuscula a corporibus, a quibus
fluunt, nonnisi magnitudine differunt et eandem essentiam, qualitatea
et vires cum üs habent.
Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland. 415
Körpern. Gemäss der Yersohiedenheit der Elemente giebt es
vier Arten von Elementaratomen, atomi igneae, aereae^ aqueae,
terreae.
Die zweite Art der Atome kann man als „prima mixta^
bezeichnen ^) ; es sind dies diejenigen, in welche die zusammen-
gesetzten Körper bei der Auflösung und Mischung zertheilt
werden und durch deren gegenseitige Verbindung wieder neue
Körper sich bilden. Bei allen Gährungen^ Scheidungen und
Kochungen, sowohl bei den natürlichen als bei den künst-
lichen, findet nichts anderes statt, als dass die Körper bis
auf ihre kleinsten Theile gebracht und diese • wieder aufs in-
nigste mit einander verbunden werden.
Alle Atome haben von der Natur ihre bestimmten Gesetze,
je nach ihrer Eigenart; so sind zweifelsohne die Feueralome
bedeutend feiner als die Erdatome^ obwohl diese von uns nicht
gesehen werden können. Die Formen, welche die Species der
Dinge bestimmen, bleiben unverändert auch in ihren kleinsten
Theilen, in den Atomen. Wenn Silber und Gold legirt werden,
so vereinen sich ihre Atome aufs innigste, aber jedes behält
seine bestimmte Form^ d. h. Gold bleibt Gold und Silber bleibt
Silber^ was man daraus erkennt, dass beim Zusatz von Salpeter-
säure das Silber aufgelöst wird, das Gold aber in Pulverform
zurückbleibt (p. 119). Die „Form*^ besitzt nämlich an sich
weder Grösse noch Theiibarkeit ; sie ist ihrem Wesen nach
gleich vollkommen in der kleinsten wie in der grössten Masse;
nin minima atomo ignis vel aquae, forma ignis vel aquae aeque
perfecta est ac in magna eorundem mole^. Sie füllt ihre Materie
vollkommen aus^ d. h. sie richtet sich nach ihrer Ausdehnung ;
sie ist zwar nicht divisibilis, aber multipUcativa, d. h. bei der
Theilung des Körpers, an welchen sie gebunden ist, verviel-
fältigt sie sich mit 'der Zahl der Theile^).
Es können nunmehr durch das Zusammenströmen der
^) p. 118. Sunt seeundo alteria8/pra,eter elementares, generis
atomi (quas si quis prima mizta appellare velit, suo sensu utatur),
in quae, ut similaria, alia corpora composita resolvuntur.
') Hypomn. L cap. 3. p. 107.
416 K. Lasswitz:
Atome die scheinbar verschiedeDsten Körper entstehen ^). Das
Feuer kann verschiedene Namen annehmen, z. B. als Licht,
und doch bleibt es an sich eins; es bleiben immer dieselben
Feueratome. Alle Veränderungen der Körper entstehen da-
durch, dass die Atome eines fremden Körpers sich betheiligen;
so ist die Erwärmung des Wassers die Folge des Zuströmens
der Feueratome. Es werden somit alle Veränderungen der
Qualitäten zuräckgeführl auf eine Ortsveränderung, eine Be-
wegung der Atome. Denn die Atome der Elemente diffundiren
nicht nur und treten in andere Körper ein, sondern sie bilden
auch Mischungen unter einander (Berufung auf Lucrez üb. 2).
Aber nicht nur die chemischen Vorgänge, auch die Aggregat-
zustände erklären sich atomistisch. Die Exhalationen und
Dämpfe bestehen aus Atomen. Die Wolken sind, ebenso wie
der Rauch, nicht continuirUche Körper, sondern bestehen aus
Tausenden von Myriaden von Atomen, die sich erst bei der
Bildung des Regens und Schnees wieder vereinigen. Die Con-
densation beruht also auf der Wiedervereinigung der aus-
einander getretenen Atome. Denn wenn das Wasser verdampft,
so verwandelt es sich nicht etwa in Luft, sondern es sondert
eigene Dämpfe aus, ebenso wie der Weingeist Weingeistdämpfe,
das Quecksilber Quecksilberdämpfe aussendet.
Wie man sieht, stellt hier Sennert eine höchst fortgeschrit-
tene Ansicht über den Zusammenhang der Aggregatzustände
auf, wie sie in der Regel erst van Helmont oder Gassendi zu-
geschrieben wird und von der z. B. bei Bacon noch keine
Spur vorhanden ist. Sennert's oben angeführten Sätze von
der Erhaltung der Formen in den Theilchen der Materie führ-
ten ihn wohl auf diesen richtigeren Weg in der allgemeinen
Physik.
Was nun die Ursache des Zusammenströmens und der
Vereinigung der Atome zu den Körpern betrifft, so weicht
Sennert im Anschluss an Aristoteles wesentlich von Demokrit
ab, indem er annimmt, dass nicht der Zusammenfluss der
*) Hjpomn. III. p. 117.
Die EraeueruDg der Atomistik in Deutschland. 417
Elemente an sich, sondern der Einfluss ihrer Formen die Ver-
einigung hervorruft. Je nachdem es in der Natur der Formen
liegt, ziehen die Elemente sich an; es ist nur nöthig, dass die
Formen der kleinsten Atome zusammentreten. Die Mischungen
hängen von der specifischen Form der Körper als erster Ur-
sachC; in gewisser Hinsicht jedoch auch von der Uebereinstim-
mung der Atome ab. Gott hat die Formen so eingerichtet,
dass sie die Elemente passend in den Verbindungen ordnen ^).
Damit hängt zusammen, dass sich Sennert aufs entschiedenste
gegen den Materialismus der Atomisten wendet und es für einen
Wahnsinn erklärt, die herrliche Welt aus dem blinden Con-
fluxus der Atome hervorgehen lassen zu wollen^).
Endlich nimmt Sennert auch Atome an, aus welchen die
lebenden Wesen bestehen; ja es ist möglich, dass sich in
solchen kleinsten Atomen die Seele voll und ganz erhält^); es
giebt also beseelte Atome^ und auf ihre Annahme hat sogar
Fortuninus Licetus seine Theorie der Urzeugung gegründet
Als solche Atome betrachtet Sennert den Samen ^).'
Käme es darauf an, aber den wissenschafdichen WertJi
der Sennert'schen Atomistik, welche ich hier dargestellt habe,
ein Urtheil abzugeben, so dürfte dies freilich wenig glänzend
ausfallen. Denn noch haben wir es mit einem ersten Versuch
zu thun, das Vertrauen zu der Atomistik der Alten wieder zu
beleben und diese so fruchtbare Hypothese an geeigneter Stelle
zur Erklärung zu verwerthen. Es ist ein Versöhnungsversuch
zwischen Demokrit und der scholastischen Physik, so wie das
ganze Wirken Sennert's als Akademiker als ein Versöhnungs-
versuch zwischen Galen und Paracelsus aufgefasst werden
kann. Sennert war eine eklektische Natur. Eine consequente
Durchführung der Atomistik durch das gesammte Gebiet der
Physik können wir bei ihm nicht finden. Zur Erklärung der
*) Hypomn. III. Cap. 2. p. 121.
*) Epitome Physicae IIb. II. cap. 1, p. 19.
^) Hypomn. III. op. 1. p. 119: ipsa anima interdum in talibus
minimis corpusculis integra latere et sese conservare potest.
*) Hypomn. V. cap. 7. p. 160.
418 K- Lasswitz:
Erscheinungen bedarf er seiner minima corpuscula, welche ihre
ganz bestimmten Eigenschaften besitzen und bewahren ; es sind
qualitative Atome, oder besser Corpuskeln, um nicht durch jene
Bezeichnung immer an die Atome des Demokrit zu erinnern,
welche durchaus etwas Anderes sind. Sennert's Atome unter-
scheiden sich lediglich durch ihre Grösse von den Körpern,
von denen si^ stammen, und haben sonst alle Eigenschaften
mit ihnen gemeinsam^). Daher können sie natürlich nur sehr
wenig erklaren. Die Vorstellungen über ihre Grundeigenschaflen
sind nicht immer so klar, als es wünschenswerth wäre, aber
sie sind in höchstem Grade anregend, und das ist das Wich-
tigste. So ist es z. B. schwer zu sagen, in welchem Yerhäit-
niss die Elementaratome zu den Corpuskeln der zusammen-
gesetzten Körp«r stehen. Sennert lässt es dahingestellt, ob man
diese Theilchen der zusammengesetzten Körper prima mixta
nennen solle, d. h. ob man sie aus den Elementaratomen zu-
sammengesetzt denken solle. Doch da die Elemente immer das
Ursprüngliche bleiben , so wird man wohl das Richtige treffen,
wenn man sich diese prima mixta als Molekel, die aus Elemen-
taratomen bestehen, vorstellL Darauf weist auch die Bemer-
kung hin, dass diese Körperchen zwar minima genannt werden,
es aber absolut genommen nicht sind, sondern nur sui ge-
neris minima, d.h. solche, aus welchen die Körper zunächst
bestehen und in welche sie aufgelöst werden, ohne in die Ele-
mente selbst zu zerfallen ^). Demnach ist hier eine Vorstellung
gebildet, welche in mancher Hinsicht dem Begriffe des Mole-
küls in der modernen Chemie entspricht. Die Atome der Ele-
mente vereinigen sich zu Molekeln, die ihrerseits den physischen
Körper bilden. Dass diese Elemente die vier Grundkräfle der
Alten sind, kann der Bedeutung dieser Sennert'schen Einsicht
natürlich keinen Abbruch thun. lieber die Existenz eines leeren
Raumes zwischen den Theilchen spricht sich Sennert nicht aus.
*) Pract. Lib. VI. Ps. II. c. 1. Opp. Tom. VI, p. 211.
S. Anm. 1, S. 414.
>) Hypomn. III. cap. 2. p. 122.
J
Die ErneueruDg der Atomistik in Deutschland. ' 419
Er nahm einen solchen wohl kaum an, vielmehr lässt er nach
der Vereinigung det* Atome ein Continuum entstehen; er denkt
sich Atom dicht an Atom gelagert.
Man sieht aber auclf , dass eine blosse Verwechselung der
Atome des Demokrit mit den Corpuskeln bei Sennert keines-
wegs vorliegt (wie sie Brucker^) ihm vorwirft), sondern das»
Sennert die zusammengesetzten Corpuskeln von den Elementar-
atomen wohl unterscheidet. Nur kommt es ihm viel weniger
auf die absoluten Atome und deren Bewegung an (weil er ja
überhaupt der rein materialistischen und mechanistischen Welt-
anschauung des Demokrit und Epikur fern steht), sondern auf
die relativen Minima der Theilung, auf die Molekel, die er zur
Erklärung der chemischen Vorgänge braucht. Daher bedarf es
auch keiner weiteren Diskussion der Atomistik Sennert's in
Bezug auf ihren philosophischen Werth; vielmehr liegt die
Bedeutung derselben auf Seiten der Geschichte der theoretischen
Physik und Chemie. Die Corpusculartheorie Sennert's
ist ein massgebender Wendepunkt in der Entwickelung der
theoretischen Naturwissenschaft; ihre Wirkungen erstrecken
sich durch ein ganzes Jahrhundert, bis die Nachfolger New-
ton's es vorzogen, von der natürlichen Anschaulichkeit zu einer
mystischen Kraft überzugehen und eine mathematische Fiction
zu hypostasiren. Die sogenannte Corpuscularphilosophie muss
auf Sennert als ihren Urheber zurückgeführt werden. Dass
Sennert der geeignete Mann war, einen so grossen Einfluss
zu gewinnen, werde ich am Schluss noch erörtern. Zunächst
soll es noch meine Aufgabe sein nachzuweisen, wodurch Sen-
nert seinem Gedankengange nach auf seine Corpusculartheorie
geführt wurde und wie dieselbe historisch für ihn ver-
mittelt ist.
Bereits oben wurde angedeutet, dass die Corpuscular-
theorie Sennert's aus dem Bedürfniss hervorgegangen ist, die
„Mistio" zu erklären. Der Process derselben bildet eine alte
Streitfrage der scholastischen Naturphilosophie, welche mit
*) Historia eritica philos. Lips. 1766. Tom. IV. p. 503.
420 ' ^* Lasswitz:
mistio jene Art der Entstehung eines neuen Körpers bezeich-
net, die wir gegenwärtig eine chemische Verbindung nennen.
£s handelt sich nämlich darum, ob die Theile in der Verbin-
dung ihre Eigenschaften behalten oder nicht. Aristoteles ^) ist
der Ansicht, dass die Theile in der Mischung (ßl^ig) ihre
Eigenschaften verlieren. Die entgegengesetzte Ansicht hatte da-
her von jeher einen ketzerischen Anstrich. Doch beruft sich
Sennert seinerseits auf Hippokrates, Scaliger, Philoponus, Alber-
tus, Aureolus, Avicenna, Fernehus.
Auch diejenigen Physiker, welche annehmen, dass die
Elemente in den Verbindungen ihre Eigenschaften verlieren,
geben doch alle zu, dass die in die Verbindung eintretenden
Körper bei dieser Gelegenheit in sehr kleine Theile getheilt
werden*). Ebenso, wie die Vorstellung einer Theilung der
Materie in minimale Partikel, war auch die Annahme allgemein
verbreitet, dass die Theilchen sich bis zur wechselseitigen Be*
rührung nähern müssten. So sagt Scaliger % der übrigens auch
von den Gegnern für sich angezogen wird % die mistio sei motus
corporum minimorum ad mutuum contactum, ut fiat unio.
Bis zur Theilung und Berührung der Theilchen sind alle einig.
Fraglich ist es nun, ob diese Theilchen ihre Selbständigkeit be-
halten. Wird diese Frage, abweichend von Aristoteles, be-
jaht, wie es bei Sennert geschieht, so ist damit der wichtigste
Schritt zur corpuscularen Theorie der Materie gethan. Indem
sich nun Sennert nach Autoritäten für die Constanz der Kör-
pertheilchen umsieht, geräth er auf die Atomisten des Alter-
^) Il€Qi yEviaetag tcai (p^oQag, I, 1]0. M£^cg itnl rdiv [Atjnöiv
akloiod-^yTtov %vtaaig,
2) Dies ergeben alle Lehrbücher jener Zeit, so z. B. Gilberti
Jacchaei Institutiones phys. ed. Job. Zeisold. Jena 1646. Lib. 6.
cap. 2. p. 495.
°) Exotericarum exercitationum lib. XV. De subtilitate ad
Hier. Cardanum. Franc. 1582. Exerc. 101. p. 345. Das vielbenutzte
Schulbuch von Reyher, Margarita philosophica , 3. A. Gotha 1654,
sagt p. 117: Requisita mixtionis sunt 1) contactus, 2) actio et passio,
3) alteratio, 4) generatio et corruptio.
*) £xerc. 16, wogegen eben Sennert Exerc. 101 zu Felde führt.
\
Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland. 421
thums und wird zum Erneuerer der Atomistik. Ja er wun*
dert sich, dass man die letztere als eine neue Lehre ansehen
will, da sie doch schon von so vielen Philosophen vor Aristo-
teles gelehrt wurde, ja seihst schon von dem Phönicier Mochus
vor dem Trojanischen Kriege vorgetragen worden sein soll.
Dies ist offenbar der einfache Gedankengang, welcher
Sennert zum Nachsinnen über die Atome gefuhrt hat^). Dass
aber gerade er für die Atome sich erwärmen konnte, dafür
liegt noch ein besonderer Grund vor in seiner Eigenschaft als
Arzt und genauer Kenner der medizinischen Schriften. Denn
gerade bei den Medizinern hatte sich die atomistische Tradition
in einer besonderen Form lebendiger erhalten und war nie so
vollständig verloren gegangen, wie bei den Philosophen.
Schon im Epitome^) beruft sich Sennert auf Avicenna
(„cujus sententia a plerisque medicis doctissimis approbatur**),
welcher der Ansicht gewesen sei, dass die Elemente in den
Verbindungen ihre Formen beibehalten^). Bedenkt man^ dass
^) Es lässt sich das am besten erkennen aus: De cons. et diss.
chymicorum etc. cap. 12. p. 230, 231, grössten Theiis wiederholt in
Epitomes physicae auctuarium cap. 3. p. 99.
») p. 36.
') Von Atomen ist bei Ibn-Sina nirgends die Hede, jedoch
hat die Atomistik bemerkenswerther Weise bei den arabischen
Scholastikern eine Stätte gefunden. Die Seote der Mutakallim*8
nahm Atome und ein Yacuum an. Ich gebe hierüber den Bericht des
Maimonidesim „More Nevochim**, vorbehaltlich einer Vergleichung
mit der französischen Ausgabe von Munk, nach der lateinischen
Uebersetzung von Buxtorf (Basel, 1629), welche allerdings ihrerseits
erst aus dem Hebräischen des Samuel Aben Tybbon stammt. Dem-
nach sahen die Mutakallim alle Körper als aus Atomen entstanden
an, welche ihrer ausserordentlichen^ Kleinheit wegen weder eine
Theilung zulassen noch Grösse besitzen; sondern wenn viele von
ihnen in Eins zusammentreten und sich gegenseitig vereinen, dann
wird dieses Compositum ein Quantum und das Atom selbst ein
Körper, so dass, wenn nur zwei derartige Atome sich verbinden,
jedes von ihnen ein Körper wird. Die Atome sind sämmtlich ähn-
lich und gleich und besitzen' keinerlei Unterschiede. Alle Körper
sind aus diesen Einzeltheilchen zusammengesetzt durch Verbindung
(nicht durch Veränderung oder Mischung, sondern durch Verbindung
422 K. Lasswitz:
Avicenna Jahrhunderte hindurch die unbedingte Herrschaft
unter den Jüngern der Arzneikunst behauptet hat, so ist es
erklärlich, dass gerade die Mediziner geneigt waren , in dieser
Frage Aristoteles Opposition zu machen. So vertheidigt der
berühmte französische Arzt Fernelius^) (t 1558), auf wel-
chen sich Sennert^) demnächst stützt, die Ansicht von der
Integrität der Elemente und ihrer Formen in den
Verbindungen so lebhaft, dass er die entgegengesetzte Meinung
für kindisch und nichtig erklärt. Aber Fernel giebt uns an
einer anderen Stelle^), wo er über Demokrit spricht, zugleich
einen weiteren Hinweis. Er sagt, Demokrifs Secte habe nicht
nur in der Philosophie, sondern auch in der Medizin bis
heutigen Tages berühmte Nachahmer und Anhänger ge-
funden. Anhänger der Atome seien diejenigen Aerzte, welche
sich methodici nennen. Demokrit würde uns auslachen, wenn
er unsere Ansichten über die Elemente hörte.
Nächst FerneUus ist die zweite medizinische Autorität, auf
oder Zusammenlagerung , so dass sie ihre Formen behalten). Ent-
stehen ist also lediglich Zusammentreten und Vergehen Trennung
der Theilchen. Endlich nehmen sie nicht an, dass jene Partikel
von Ewigkeit her existiren, wie dies Epikur und andere Anhänger
•der Atomen lehre thun , sondern Grott schaffe sie immer aufs neue,
wann es ihm beliebt, und beraube sie auch wieder ihres Seins und
verwandle sie in nichts. Einen leeren Raum nehmen sie an, weil
Bewegung sonst nicht möglich wäre. — Höchst eigenthümlich ist es,
dass die Mutakallim^s auch die Zeit und die Bewegung atomistisch
d. h. discontinuirlich fassen. Die Zeit besteht nach ihnen aus ein-
zelnen Momenten und die Bewegung ist eine ruckweise; verschieden
schnelle Bewegungen unterscheiden sich nur durch die Zahl der
zwischen den Bewegungsimpulsen liegenden Ruhepausen. (More
Nevochim, 1. Theil, Cap. 73, p. 148, 149.)
* ^) Physiol. cap. 6. lib. 2. Univ. med. ed. Plant. Lutet* 1567,
fol. p. 78.
«) Epitome p. 36.
') De abditis rerum causis. Paris 1560. praef. lib. 2. p. 195.
Atomos amplexati sunt, qui se methodicos medicos appellarunt;
terram, aquam, aerem et ignem dogmatici. Utrique sua principia
tam arcte tenent tamque accurate defendunt, nihil ut gigni fierive
putent, quod non statim causis illis acceptum ferant.
Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland. 423
welche Sennert als einen ausdrucklichen Anhänger der Corpus-
culartheorie sich stützt^), Hieronymus Fracastorius, eben»
falls ein berähmter Arzt^ der 1485 bis 1553 lebte und zu
Verona wirkte. Gelegentlich der Untersuchung, wie bei der
Bildung der Körper die Vereinigung des Aehnlichen, d. h. die
Ordnung der zusammengehörigen Theilchen zu Stande kommt,
stellt Fracastorius die Ansicht auf, dass die Corpuskeln, so lange
si^ den ihnen zukommenden Platz nicht gefunden haben, in
lebhaftester Bewegung umherirren. Man könne also den Grund
der Anziehung des AehnUchen in der Bewegung der Theil-
chen im Ganzen suchen ^). Der dritte Gewährsmann Sen-
nert's ^) endlich ist der Jesuit Franciscus A q u i 1 o n i u s (1566 bis
1617), welcher sich in seinem Buche über die Optik für die An-
nahme gewisser Minima der Grösse erklärt ^). Er Ihut dies bei
*) Pract. lib. 6. ps« 2. cap. 1. p. 211. An dieser schon oben
citirten Stelle unterscheidet Sennert die Atome von gewissen species
spiritales, welche von den Körpern ausströmen und eigenthümliche
Wirkungen hervorbringen, zu denen vielleicht die sog. magnetischen
gehören.
^) Fracastorius. Opp. omnia. Venet 1555. p. 81. 82. De sym-
pathia et antipathia cap. 5: Antiqui quidem, utDemocritus etEpicu-
rus, qoios e nostris Lucretius secutns est, effluziones corporum, quas
Atomos appellabant, principium ejus attractionis ponebant; quae
quidem effluxiones ne neganda quidem sunt (ut moz ostendemus),
modus autem, quem ipsi tradebant, sat rudis et ineptus erat: quem
quoniam tum Alezander Aphrodisiensis, tum et Galenus satis aperte
reprobant, a nobis praetermittetur . . . dicimus, ab uno ad aliud re-
ciproce transmitti ea corpuscula, e quibus totum quoddam sit atque
unum, verum difforme in partibus.
») Hypomn. p. 116 u. 119.
^) Aquilonius. Optica. Antw. 1613. Lib. 5. praepos. 8: Cor*
porum naturalinm minima dantur, quae nimirum, si amplius diri-
dantur, formam essentiamque deperdunt Uti namque corpora ad
naturalem subsistentiam nonnuUam ezposcnnt quantitatis molem,
cum ipsa nil aliud sit, quam ipsius substantiae cororpeae modulus,
ita et quantitates, nisi aliquo ezcellentiae gradu praeditae sint,
sponte depereunt. — Am Ende des Buches sagt Aquilonius , dass
die Wärme sich, wie die Grerüche, durch die Luft als materielle
Ausströmung fortpflanze.
424 ^* Lasswitz:
Gelegenheit der Frage nach der Abnahme des Lichtes mit der
Entfernung, indem er den Einwurf zu entkräften sucht, dass
bei einer allmählichen Abnahme des Lichtes mit der Entfernung
dasselbe niemals verschwinden könne. Es gäbe nämlich einen
gewissen kleinsten Grad, unterhalb desselben die Körper ihrem
Wesen nach nicht bestehen könnten.
Das sind diejenigen Quellen, welche Sennert unter den
Neuerern als Empfehlung für die Atomistik zu Gebote standAi.
Bei seinem eifrigen Bestreben, Autoritäten für jede neue
Ansicht anzuführen, hätte es Sennert sicherlich nicht unter-
lassen, seinen Gewährsmann zu nennen, wenn ihm noch irgend
eine atomistisch angehauchte Stelle in einem Schriftsteller be-
kannt gewesen wäre. Bezieht^) er sich doch sogar auf Titel-
mann (t 1550 od. 1553), welcher sich gegen die Integrität
der Formen in den Mistis erklärt, weil derselbe die Bemerkung
macht, dass uns die Ansichten der Alten über die Atome,
wenn wir sie richtig verstünden, vielleicht nicht so unbillig
erscheinen würden*), und auf Pererius, weil dieser den
Aristoteles für nicht immer ganz gerecht hält und meint, dass
ein so gescheuter und im übrigen von Aristoteles so gelobter
Mann wie Demokrit doch keinen offenbaren Unsinn vorbringen
dürfte^). Es ist sicher, dass Sennert weder die Monadologie
Bruno's von Nola gekannt hat; noch die sich widersprechenden
Bemerkungen des Bacon von Yerulam ^) über die Atome, noch
^) Hypomn. p. 115.
^) Titelmann. Compendium philos. natur. Libri XII. Lugd.
1574. lib. 5. cap. 15. p. 134.
*) Pererius, Compend. de rer. nat. prineip. lib. 4. cap. 16. —
Physic. lib. 4. cap. 4. (Dieses Citat nach Sennert.)
^) Im.Novum Organum will Bacon zwar eine praktische
Corpusculartheorie für physikalische Erklärungen gelten lassen, er-
klärt sich aber ausdrücklich gegen die Atomistik Demokrit's, ins-
besondere gegen die mechanische Naturansicht, sowie gegen das
Vacuum und für eine vollkommene Plicabilität der Materie (Lib. 2.
Art. 8. Art. 48.)* Uebrigens solle man mit der atomistischen und
anderen Betrachtungsweisen wechseln (lib. I Art. 57).
In den Cogitationes de natura rerum kommt er diesem
Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland. 425
die von Sebastian Basso ') aufgestellte Atomistik, welche übri-
gens ins Jahr 1621 tallt und also jünger als die ersten Schriften
Sennert's, wenn auch älter als die Hypomnemata ist Während
Basso's Werk höchstwahrscheinlich Gassendi die Anregung zu
seinem Studium des Epikur gegeben hat, finden wir Sennert
allein gestützt auf die Quellen aus dem Alterthum, Aristoteles
und Lucrez, und die sparsamen Notizen, welche sich bei Pli-
nius und einzelnen Kirchenvätern über Demokrit oder die alte
Atomistik finden; ausserdem aber auf die Schriften der Medi-
ziner, insbesondei*e Galen, der freUich selbst ein Gegner der
Atomistik ist Aber die Nachrichten des Aristoteles über die
Atome standen ja aller Welt zur Verfügung ; wenn nun Sennert
darauf verfiel, gerade hier gegen Aristoteles Fronte zu machen,
so hatte dies seinen Grund in der Kenntniss Sennert^s von den
Theorieen der Mediziner, nämlich der Methodiker. Wir finden
hier einen Boden, der für das Gedeihen des atomisüschen Ge-
dankens besonders geeignet war.
Die methodische Schule, als deren eigentlicher Stifter
Themison gilt, schreibt sich der Theorie nach bereits von
Asklepiades aus Prusa in Bithynien her, dem berühmten Zeit-
genossen des Cicero und Pompejus. Asklepiades ist der Ver-
treter einer eigenthümlichen Atoraenlehre, deren Ursprung we-
niger bei Epikur als bei Heraklides von Pontus, vielleicht schon
Wahlspruche nach und spricht sich für die Atome aus (Vol. UI.
cap. I). Sie sollen jedoch nicht unveränderlich sein. Er erklärt
zwei Auffassungen des Begriffs „Atom'* für zulässig, je nachdem
man die Atome als die kleinsten Theile der Körper betrachtet,
welche die Grenze der Theilung darstellen, oder als dasjenige, was
keinen leeren Raum mehr enthält. Einen untermischten leeren
Baum müsse man annehmen, da man sonst nicht begreifen könne,
dass die Materie bald einen grösseren, bald einen kleineren Raum
einnehme; denn eine gewisse natürliche Verdichtung oder Verdün-
nung sei unverständlich. — Dies steht in directem Widerspruch
zu Nov. Organ, lib. 2. art. 48. — Näheres darüber bei anderer Ge-
legenheit. — Die erste ausführliche Ausgabe des Novum Organon
stammt aus dem Jahre 1620, ist also ebenfalle jünger als Sennert's
erste Schriften.
*) 8. Brucker, Hist crit. philos. Tom. 4. p. 467 u. 513.
Vierteljahrsschrift f. Wissenschaft!. Philosophie. III. 4. 28
426 ^ LasBwitz:
bei Ekptiantos zu suchen ist^ ). Er ging in der Heilkunde
davon aus, dass der Körper aus unzähligen, durch die Ver-
bindung der Atome gebildeten, mit Empfindung versehenen
Kanälen (TtoQOt) bestehe, auf deren normaler Weite mit Bezug
auf die normale Grösse, Menge, Anordnung und Bewegung der
Atome die Gesundheit beruhe. Asklepiades nannte seine Atome
oyxoi^ und verstand darunter etwas Anderes als Demokrit;
doch ist es schwer, sich ein klares Bild von dem Wesen dieser
oyKOc zu machen, da die Quellen darüber sehr spärlich fliessen
und bis auf eine einzige nur ganz kurze Erwähnungen geben *).
Nach Asklepiades sind die Atome oder Corpuskeln (joyxoi) —
Cälius AureUanus gebraucht beide Ausdrucke nebeneinander —
an und für sich beti-achtet; d. h. so lange sie noch nicht zur
^) Vgl. hierüber Zeller, Philosophie der Griechen II, a, 686.
III, a, 352.
*) Folgendes sind die Stellen, welche ich ermitteln konnte:
DionysiuB Alexandrinas Episcopus, bei Euseb. praepar. evang.
lib. 14. cap. 23. p. 773: ^Ovofia dk avrolg (xatg ajofioig) aXXo *HQaxXMrig
&ifi€Vog, lxdXe<T€v oyxove^ nuQ* ov xal HoicXrintaSfis 6 iar^os ixXtjQO'
vofifiae t6 ovofia.
Seztus Empiricus, Ez recens. Beckeri. Berlin 1842. p. 126
(Fyrrh. Hypoth. III, 32.) ^HQaxXBCSrig Ji 6 Hovrixog xal IdaxXrjnidSfig
o Bi&vvos uvd^iJLovg oyxovg; p. 462. (adv. phys. I, 363) dasselbe;
p. 540 (adv. phys. II, 318): *0 fikv ^Ava^yo^ag li ofioCtov roTg
yBvvtofAivoig^ ol 6k n^Qi töv drifjLQX^vxov xal ^EnCxov^ov ü dvofAoloyv
re xal dnad-^v^ tovriari, räv drofAtav^ ol 6k ns^l rov Üovtixöv
^HqaxX^lSriv xal ldaxXrjnid6riV i$ dvofjLoCtov fikv nadTirdiv <fe, xad-d-
7i€Q Tüiv dvdQfjuav oyxtov ; p. 335 (adv. dogm» II, 220) : [Gewisse kör-
perliche Zustände erscheinen] yiaxXijTtid^y <»g ivordaewg votitcÜv oyxtov
iv vorjToTg dQaitofiaaiv] adv. matbem. 5. p. 698.* . ort ndvro&ev vygot
fiäQfi xal nvevfiatog ix Xoytp d-eoD^riTcHv oyxtov avvriQdviarat 6i aitSvog
dvriqEfxr^XbiV,
S. Clementis Becognit. Patres Apostollci ed. Coteler, Ant-
werpen 1698. Tom. I. p. 562. Asclepiades oncos, quod nos tumores
vel elationes possumus dicere.
Galenus. De theriac. ad Pisonem cap. 9, ed. Kühn 3d. XIY,
p. 250. (ed. Bas. T. IV, p. 463); Introductio seu medicus, ed. K. XIV,
698 (ed. Bas. IV, 375) : Kard 6k tov uiaxXrjntd6fiv aroi/eia dvd-Qfanov
oyxot &QttvOTol xa\ noQoi, De historia philos. K. XIX, 244 (Bas.
Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland. 427
Bildung der Körpei*welt zusammengetreten- sind, ohne jede sinn-
liche Qualität, nur vom Verstände zu erkennen {yovjfvoi)^ nur
nach ihrer Grösde und Gestalt von einander verschieden {avo^
fiotOL) und nur in Bezug auf diese veränderlich {rtad^tfcol^
^gavaTol). Diese Körperchen passen in ihrer Anordnung
bei ihrer gegenseitigen Aneinanderlagerung nicht zu einander
(avaq^oi) und zersplittern sich daher, da sie in ewiger Bewe-
gung begriffen sind (dC alwvog avrjQeiirjfcpi) durch ihre wechsel-
seitigen Stösse in zahllose Bruchstücke {d^Qavaiiaxaj ^r^Y(ji(nä).
Diese nach Gestalt und Grösse verschiedenen Splitter bilden
nun durch ihr Zusammenströmen und Aneinanderhaften ^e nach
ihrer Menge und Ordnung diejenigen Körper, welche durch die
Sinne walirnehmbar sind.
Hieraus ergiebt sich, dass die Urkörper des Asklepiades
von den Demokritischen Atomen sich zwar dadurch unter-
scheiden, dass sie nicht untheilbar sind, weshalb sie auch oyY.oi
IV, 428), wo für avaQfjLoarovg zu lesen ist avixQf^ovg. Daselbst p. 257 :
SQavajLiccTa ßQttxi^Tttxa ri xißriyfjLOJa, — De elementis K. I, 416 (Bas.
I, 47) avagfxtt üxo$x^ia, — De morborum diff. K. VI, p. 839
<Bas. 199).
Endlich CaeliusAurelianus. De morbis aeutis et chronicis
libri VIII. Ed. Amman. Amstelod. 1755. Üb. 1. cap. 14, p. 41:
Primordia corporis primo constituerat atomos, corpuscula in-
tellectu sensa, sine ulla qualifate solita, atque ex initio comitata,
aetemum se moventia, quae suo ineursu offensa mutuis ictibus in in-
^nita partium fragmenta solvantur, magnitudine atque schemate
difPerentia, quae rursum eundo, sibi adjecta, vel conjuncta, omnia
faciant sensibilia, vim in semet mutationis habentia, aut per magni-
tudinem sui aut per multitudinem aut per schema aut per ordiuem.
Nee, inquit, ratione carere videatur, quod nullius faciant qualitatis
Corpora. Aliud enim partes, aliud universitatem sequitur; argentum
denique album est, sed ejus affricatio nigra ; caprinum comu nigrum,
£ed ejus alba serrago.
Vgl. ferner; Chr, G. Gumpert. Asclepiadis Bithyni fragmenta.
Vinariae 1794.
Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzney-
kunde. 2. Th. Halle 1823. 8. 10 ff.
Zell er, Die Philosophie der Griechen. 3.Th. I, S. 352. 2. A.
Leipzig 1865.
28*
428 ^* Lasswitz:
und nicht aroiioi heisseU; dass sie aber im Uebrigen ebenso
eigenschaftslos sind wie die des Demokrit und Epikur. Sie
besitzen keine sinnlichen Qualitäten. Dass sie avof^otov und
Tta&rjTot genannt werden, bezieht sich nicht auf qualitative
Unterschiede und Veränderungen, sondern ledigUch auf die Ver-
schiedenheit ihrer Gestalt und Grösse und ihre Brüchigkeit^
da ja Sext. Emp. phys. II, 318 die Demokritischen Atome auch
ävofioia nennt. Es ist mir daher unverständlich, warum Zeller
die Angabe des Cälius Aureliänus, dass die oyiioc qualitätslos
seien, für irrthümlich hält, zumal jene Stelle des Cälius Aure-
liänus die einzige Quelle ist, welche uns im Zusammenhang
über die sonst nur in vereinzelter Anführung vorkommenden
griechischen Bezeichnungen belehrt, und da Galen (ed. Kühn I,.
416) ausdrücklich das Recht, die atomistischen Theorieen gleich-
massig zu behandeln, daraus herleitet, dass alle das erste Ele-
ment als qualitätslos annehmen. Aus dieser Stelle bei Galen
ergiebt sich auch, dass der Vorwurf, Galen habe die oynov
avaqijiov von den axoiiov nicht zur Genüge unterschieden ^\
nicht gerecht ist. Galen macht diesen Unterschied in der
Nebeneinanderstellung überall und nennt in der von Sprengel
angezogenen Stelle^) die avaqiJLOi nicht unveränderlich, aber
er hebt hervor, dass er die Unterschiede der atomistischen
Systeme von seinem Standpunkt aus und für seine Zwecke der
Untersuchung für unwesentlich hält; wenn man Alles, sagt er^)^
was jene Secten gemeinsam haben, herausnehme, so sei es
nicht nöthig, ihre Unterschiede gesondert weiter zu verfolgen.
In der That unterscheidet sich, wie gesagt, Asklepiades
von Epikur in Bezug auf seine Urkörper nur dadurch, dass
er sie in Bruchstücke sich zersplittern lässt Da diese That-
Sache der Brüchigkeit feststeht, so kann ich mich auch
mit der von Zeller gegebenen Uebersetzung von avag^og
*) Sprengel, a. a. 0. S. 13.
8) So De morb. diff. ed. Kühn VI, p. 839 : sl fih i$ avaQfiioVy
r SXios l| dna&d)V Ttvtov avyxeiTat, —
^) Ed. Kühn, I, 416. De elementis.
Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland. 429
nicht befreunden. Zeller sagt 0» OLvaqiiog beisse ,,unzusanimen-
gefugt, aus keinen Theilen bestebend**. Das ist freilieb etymo-
logisch richtig, aber etymologisch lässt das Wort auch noch
andere Auffassungen zu; hier kann nur der Sprachgebrauch
entscheiden, über diesen aber wissen wir fast gar nichts und
sind allein auf die lateinische Stelle von Cälius Aurelianus an-
gewiesen. Nun findet sich hier aber kein Ausdruck, welcHer
sich als Uebersetzung von avaQfxog in dem Sinne von Zeller
deuten Hesse, es ist nichts davon gesagt, dass die corpuscula
aus keinen Theilen bestanden; vielmehr widerspricht diese
Uebersetzung gerade der wesentlichen Eigenschaft der oynoc,
im Gegensatz zu den aro^ov theilbar und brüchig zu sein.
Sprengel übersetzt „formlos**, was doch nur heissen könnte,
dass den Theilchen keine bestimmte Form zukommt und dem-
nach mit avoiJLOioq in eine Linie zu stellen wäre. Kühn über-
setzt „incompactus^ , also nicht fest zusammengefügt,
locker, ebenso wie das bei Anderen sich findende incompactilis.
Gegen diese AufTassung lasst sich nichts einwenden, da aller-
dings die Leichtigkeit der Zersplitterung das Unterscheidungs-
merkmal von den absolut harten und festen Atomen ist. Ich
würde also die avaqixoi oynoc als „lockere Urkörperchen** be-
zeichnen, wenn nicht noch eine zweite Auffassung möglich
wäre, welche ebenfalls viel für sich hat. Die Eigenschaft
avaQfxog, die „lose Zusammenfügung** kann sich auch statt auf
die Natur der einzelnen Theilchen auf ihren Zusammenhang
und ihre Anordnung beziehen, so dass avagfxog die Bedeutung
hätte: nicht zu einander passend, nicht in Ordnung befindlich
(so bei Jakobitz und Seiler). Damit stimmt auch die ebenfalls
vorkommende Uebersetzung „incompositus**, was nicht „un-
zusammengesetzt" heisst, sondern „nicht wohlgeordnet, nicht in
geschlossener Ordnung'^ So nennt Le Giere ^) die oyxov
„Clements detaches, ou, qui ne s^accordent pas". Die avag/^ov
oynoL wären also Körperchen, welche oh'ne Ordnung, nicht
an einander geschlossen, im Räume vertheilt sind und
^) Philosophie der Griechen, 2. A. II, A. S. 686.
') Histoire de M^decine. II, 3, 5. (Bei Gumpert, a. a. 0.)
430 K* Lasswitz:
sich daher bei ihrer ewigen Bewegung an einander abreiben.
Dies stimmt vorznglich zu den Worten des Cälius: „ex initia
comitata, aeternum se moyentia, suo incursu offensa'^; wobei
man das „ex initio comitata'* auf eine ursprünglich regelmässige,
aber durch die Bewegung gestörte Anordnung (daher avagfiogy
beziehen könnte. Es ist klar, dass diese Vorstellung genau die
des Descartes von der Zersplitterung seiner ursprünglich den
Raum gleichmässig ausfällenden Theilchen der „zweiten Ma-
terie" wäre. .
Ob man nun die ovaQfxoi opLOi des Asklepiades als leicht
zerreibliche, lockere, oder als unzureichend angeordnete fasst,
jedenfalls hat man hier eine Form der Atomistik, welche einen
deutlichen Uebergang zwischen der consequenten Atomistik de»
Demokrit und der Corpuscularphilosophie des 17. Jahrhunderts
mit ihren yeränderlichen Atomen bildet. Es kommt hier nicht
darauf an, den philosophischen Wert der Heraklidisch-Askle-
piadeischen Corpusculartheorie zu kritisiren, sondern nur ihre
historische Bedeutung hervorzuheben. Und diese Hegt klar in
dem Umstände vor Augen, dass die Atomistik von der Medizin
aufgegriffen wurde und so auf einem Nebenwege in der Ge-
schichte der Wissenschaften ungestört fortwandeln konnte, wäh-
rend ihr Aristoteles die grosse Heerstrasse der Philosophie ver-
sperrt hatte.
Denn wenn wir bedenken, dass Caelius Aurelianus, der-
jenige Methodiker, welchem wir die einzige ausführliche Nach-
richt über das System und die Atomistik des Asklepiades ver-
danken, ein ausführliches Lehrbuch hinterlassen hat, welches
das ganze Mittelalter hindurch im Gebrauch und neben dem
Herbarium des Dioskorides und den Werken des Hippokrates
und Galen den Mönchen besonders empfohlen war^), so liegt
hier eine stete Tradition atomistischer Lehren vor, welche für
die Mediziner als theoretische Grundlage eine Autorität besass»
die der von Aristoteles verworfenen philosophischen Atomistik
^) Cassiodorus delnstit divin. liter. cap. 31. Opp. ed. Garetus.
1679. Tom. II, p. 556: Legite Hippoeratem atque Galenum Latina
lingua conrersoB .... deinde Aiurelii Coelii de medicina . . .
Die Erneuerung der Atomistik in Deutschland. 4g 1
vollständig abging. Spricht doch auch Galen ^ obwohl er ein
Gegner der Atomistik ist und hauptsächlich die Körperlichkeit
der Qualitäten bei den Stoikern bekämpft ^); soviel von den
Atomen, dass die Aufmerksamkeit der Aerzte immer wieder
auf dieselben gelenkt werden musste, zumal sein aus dem Hippo-
krates entnommener Hauptgrund, den er gegen die Atome an-
fuhrt, vielmehr auf das Eleatische Sein als auf die Atome passt
und leicht zu widerlegen ist. Er behauptet nämlich, dass der
Mensch nie krank werden könnte, wenn er wirklich ^^ins^^
wäre, d. h. nur aus einer Substanz, wie die Atome, bestände^),
Sennert sagt sogar von Galen, dass er die Atome nicht ganz
habe verwerfen können^). Ueberhaupt waren die Lehren der
Methodiker auch den Aerzten des 16. und 17. Jahrhunderts
wohl bekannt. Leonhard Fuchs in Ingolstadt und Tubingen
(t 1565), auch als Botaniker bekannt, trug viel dazu bei, unter.
Discreditirung der Araber die Principien der älteren griechischen
Aerzle wieder zur Anerkennung zu bringen ; er erwähnt häufig
die Methodici und erörtert ihre Grundsätze^), ja er braucht
gelegentlich eine ganze Seite, um ihre Lehre von den Atomen
zurückzuweisen^) durch denselben Grund (dass der Mensch
nämlich, wenn er aus Atomep bestände^ keinen Schmerz empfin-
den könnte), welchen schon Galen dem Hippokrates verdankt.
Er legt also der Atomenlehre doch Bedeutung bei, während
sein Zeitgenosse FerneH) derselben sogar zustimmte zu einer
^) Sprengel, Beiträge z. Geschichte der Medizin. Halle 1794.
«) De morb. diff. (Kühn VI, 839) 5 De constit. artis med. ad
Patrophilum lib. (K. I, 37), und an anderen Stellen.
*) Epitomes physicae auctuarium. Opp. p. 98. „Neque mini-
mas particulas Galenus ipse rejicit; etsi enim 1. 1. de elementis cap. 2.
contra Democritam disputet ac, si ea mens foit Democriti, quam ibi
proponit Galenus, a Galeni partibus contra Democritum libenter
stemus; tamen Atomos simpliciter rejicere non potest. (Folgt Be-
rufung auf 1. I, de elem., cap. ultimum.)
*) Institutiones medicinae etc. libri V. Basel. Vorrede datirt
V. 1. Juni 1565. p. 47.
'^) A. a. O. lib. 1, sect. 2, p. 57.
«) S. A. 1. S. 422.
432 K* Lasswitz:
Zeit, wo wir nach atomistischen Regungen in der Philosophie
noch vergebens suchen.
Es soll nun nicht behauptet werden, dass Sennert die
Atomistik des Asklepiades selbst genauer gekannt habe; aber
es ist ganz sicher, dass die medicinische Tradition ihn befähigte,
der Frage nach den Atomen unbefangener gegenüberzustehen,
ja dass er in der atomistischen Neigung der methodischen
Schule seinen wichtigsten Stützpunkt fand. Und somit haben
wir in der That in Asklepiades ein noch nicht beachtetes Mittel-
glied zwischen der alten Atomistik und der Corpusculartheorie,
deren Erneuerung Sennert's zweifelloses Verdienst ist.
Es darf nicht unterschätzt werden, dass gerade Sennert
es wagte, zuerst die Atomistik öffentlich yorzutragen, mag
auch ihre theoretische Bedeutung bei ihm noch eine geringe
sein. Denn Sennert war ein Mann, dessen Ansehen, wie aus
den Zeugnissen ^) seiner Zeitgenossen hervorgeht, ein ausser-
ordentliches war. Hochgeachtet wegen der Festigkeit seines
Charakters^ beliebt wegen der Milde seiner Gesinnung, weit-
bekannt als Lehrer und Gelehrter und weltberühmt durch seine
Geschicklichkeit als Arzt besass er eine gewichtige Autorität.
Patin ^) sagt, dass von allen neueren Aerzten der einzige
Fernelius ihm zu vergleichen sei. Büchner^) rühmt von Sen-
nert; dass der Ruf seines Namens durch die ganze gebildete
Welt gedrungen sei ; nicht nur das gesammte Deutschland, auch
Belgien und England haben ihn geehrt, vor allem aber Frank-
reich und Italien. Man erzählt, dass die Italiener bei Nennung
seines Namens den Hut abzogen^), und sicher ist, dass die
Aerzte von Padua auf die Anfrage des Grafen Sapieha, Gross-
fähnrich von Litthauen; erwiderten, dass Sennert in Wittenberg
der einzige sei, der ihm helfen könne. Wenn ein solcher
^) Judicia virorum aliquot clarissimorum. Vorgedruckt den
Opp. 1666 und 1676. Vergl. ferner: Thomas Pope-Blount: Censura
celebriorum authorum. Genev. 1696. p. 921.
*) Nach Zedler's Universallexicon. Leipzig und Halle 1743.
^) Orationes Panegyr. Anm. 3. S. 409.
*) Zedier, a. a. 0.
Die ErneueruDg der Atomistik in Deutschland. 433
Mann eine unbeachtete oder als verboten angesehene Lehre er«
neuerte, so musste dies naturgemässjeinen bedeutenden Eindruck
hervorbringen und die Aufmerksamkeit auf dieselbe iii un-
gewöhnlichem Grade lenken. Damit ist der Atomistik Bahn
gebrochen und bald entstehen Nachfolger dem ersten Bekenner.
Sennert's eifrigster Schüler ist Johannes Sperling, Professor
der Medizin zu Wittenberg, der in seinen Institutiones physicae,
die zuerst 1653, dann in vielen neuen Auflagen zu Wittenberg
erschienen , den Atomen das 2. Gapitel des fünften Buches ^)
widmet und damit die Atomenlehre zuerst in ein
Lehrbuch derPhysik einführt. Dieses Lehrbuch war aber,
wie schon aus der grossen Anzahl seiner Auflagen hervorgeht,
ausserordentlich verbreitet und wurde in den meisten Schulen
Deutschlands den Vorlesungen zu Grunde gelegt^). Seine
Gründe für die Atomistik bieten allerdings nichts Neues ; son^
dern sind durchweg aus Sennert entlehnt (den er übrigens in
kräftigster Weise gegen Freitag vertheidigt hatte) ^), aber wichtig
ist die Verbreitung, welche auf diese Weise Sennert's Lehre in
Deutschland unter der studirenden Jugend gewann. So fest-
gewurzelt waren die peripatetischen Vorurtheile in den Schulen,
dass es der wackeren Arbeit dieser Männer bedurfte, um der
wiederauflebenden Naturwissenschaft den Boden ihres Gedeihens
zu bereiten. Aber ihre Früchte machten sich auch bald in
den Ansichten der deutschen Physiker, so z. B. bei dem be-
rühmten Bürgermeister von Magdeburg, Otto von Guericke^),
geltend, der sichtlich von Sennert beeinflusst ist. Freilich hatte
schon im Anfang des Jahrhunderts in Itahen der grosse Galilei
den Weg der Erfahrung praktisch betreten, den — unter eigen-
1) Inst. phys. 6. A. Wittenb. 1672. p. 714 ff.
') Chr. Vatör, Physiol. prooem. p. 3, angeführt bei Brucker,
Hist crit. phil. V, p. 619.
') Defensio Tractatus de origine formarum pro Daniele Sennerto
et contra Job. Freitag. Wittenbergae 1638. lieber die Atome s. p. 432.
lieber die Kräftigkeit des persönlichen Angriffes lassen die Zart-
heiten der Vorrede keinen Zweifel. Man vergl. z. B. den Scbluss.
^) Ezperimenta nova Magdeburgica de vacuo spatio. Amstel.
1672. Lib. n. cap. 12. p. 70.
434 K* Lasswitz: Die Erneuerung der Atomistik etc.
tfaumlicher Yerkennang von Galilei's Verdiensten — Bacon in
England von allgemeinstem- Gesichtspunkte aus lehrte; freilich
gewann Gassendi fast gleichzeitig mit Sennert in Frankreich
grösseren Ruhm durch ähnliche Bestrebungen ImAnschluss an
Epikur und unmittelbar darauf bricht der gewaltige Geist eines
Descartes der Philosophie völlig neue Bahnen. Trotzdem kann
wenigstens die deutsche Physik sich rühmen, in Bezug auf die
Theorie der Materie den Weg der Erneuerung durchaus selbst-
standig eingeschlagen und die Periode der Corpuscularphilosophie
eröffnet zu haben.
Aber auch auf weitere Kreise hat Sennert anregend ge-
wirkt. Boyle, den manr: mit Recht als den ersten Physiker und
Chemiker im modernen Sinne betrachtet, beweist durch seine
lebhafte Polemik gegen Sennert, dass dessen Einfluss ein all-
gemein anerkannter war. Und dies gilt besonders auch von
Italien. Der Umstand, dass Sennert die Atome nicht im Sinne
Demokrit^s^ sondern nur als physikalische Minima, als Corpuskeln
(s. übrigens hierüber S. 419, 420) eingeführt habe, veranlasste
den Italiener Jo. Chrysostomus Magnenus ^), in einem besonderen
Werke eine erneute Darstellung der Atomistik zu geben , in
welcher er das Demokritische System in angemessener Weise
modificirte. An dieser Stelle kann auf die Atomistik des Mag-
nenus nicht näher eingegangen werden.
Gegenüber diesen Ausfuhrungen, welche die Bedeutung
Sennert's als Schöpfer der Corpuscularphilosophie darlegen, ist
offenbar das anfangs angeführte abföllige Urtheil Lange's nicht
aufrechtzuerhalten; vielmehr zeigt sich, dass Zeller ^) Recht hat,
bei der Erwähnung von Sennert das Urtheil des Leibniz^) für
seine Bedeutung anzuführen, nach welchem die Corpuscular-
philosophie wesentlich zur Schwächung der peripatetischen Lehre
beigetragen habe.
Gotha. K. Lasswitz.
^) Democritus reviviscens. Hagae Comit. 1658. (In der Wid-
mung an den Senat von Mailand.)
^) Geschichte der Philosophie seit Leibniz. Münch. 1873. S. 74.
^) Th^odic^e. Discours de la Conformit^ etc. § 12.
Drei Grundfragen des Idealismus.
Erster ArtikeL
I. Beweis des Idealismns.
1. Vorbemerkungen.
Funfsig Jahre lang^ von Kant bis Hegel, bat in Deutsch-
land auf philosophischem Gebiete angeblich der Idealismus ge-
herrscht. Das war allerdings ein unechter Idealismus, welcher
nicht auf einer Erforschung der Thatsachen, sondern auf An-
nahmen a priori beruhte. Nichtsdestoweniger kann es Einen
Wunder nehmen, wenn man sieht, dass die idealistische Tradition
so vollständig ausgestorben ist, dass gegenwärtig selbst manchen
philosophisch Gebildeten die idealistische Lehre fast als eine Ver-
rücktheit erscheint. Bedenkt man überhaupt, dass schon
Descartes es gewusst und gesagt hat, dass aus den Thatsachen
der Erfahrung kein gültiger Schluss auf das Dasein wirklicher
Körper ausser uns gezogen werden kann — Descartes gründete
seinen Glauben an die Realität der Körper lediglich auf die
Wahrhaftigkeit Gottes — und dass sodann Berkeley vor hun-
dertfünfzig Jahren schon die idealistische Lehre zur allgemeinen
Y Kenntniss gebracht hat und dieselbe seitdem ein stehender
Gegenstand der Controverse geblieben ist, — so muss man
sich wundern, dass der Streit zwischen dem Idealismus und
dem Realismus immer noch nicht beendet ist. Denn es han-
delt sich hier nicht um abstracte Principien, deren Verständniss,
436 A. Spir:
noch um yerborgene Naturvermögen, deren Ergründung schwer
wäre, sondern bloss um Thatsachen und Inductionen aus That-
Sachen, deren Constaürung keine Schwierigkeit bietet. Ganze
Bibliotheken fast sind über die Methoden des richtigen Den-
kens geschrieben worden und es ist dennoch bis jetzt nicht
entschieden, was in einer so einfachen und uns so nahe liegen-
den Fra^e das Richtige sei!
Um diesem Uebelstand nach Kräften abzuhelfen, will ich
hier versuchen , den Beweis des Idealismus so klar und präcis
zu führen, dass mit Leichtigkeit und voUkomm^er Gewissheit
entschieden werden kann, auf welcher Seite die Wahrheit liegt.
Dabei werde ich jedes überflüssige Wort möglichst vermeiden,
denn in solchen Fällen kommt es nicht auf die Menge der
Worte, sondern bloss auf das Gewicht der Gründe an.
Unter der Aussenwelt kann zweierlei verstanden werden:
1) Entweder die Körper, die wir selbst thatsächlich wahr-
nehmen, nämlich sehen, betasten u. s. w.
2) Oder Aussendinge, welche nicht selbst wahrgenommen
werden, also von jenen factisch wahrgenommenen durchaus
verschieden und an sich unerkennbar sind , aber] nach der
Voraussetzung unsere Empfindungen bevrirken.
Der hauptsächlichste Grund der Aterwirrung in unserer
Frage ist der, dass man eine bloss vorausgesetzte oder gedachte
Aussenwelt von der thatsächlich wahrgenommenen nicht unter-
scheidet, obgleich man im Allgemeinen bereitwilh'g zugiebt, dass
eine wirkliche Aussenwelt nicht wahrgenommen werden kann.
Es wird sich nun aber zeigen, dass dies zwei durchaus ver-
schiedene Dinge sind, und der Beweis ]muss darum in zwei
Theile zerfallen, nämUch:
1) In den Beweis, dass die factisch von uns wahrgenom-
menen Körper aus nichts Anderem als unseren eignen Sinnes-
empfindungen bestehen, und
2) in den Beweis, dass es auch keine unbekannte Aussen-
dinge als Ursachen unserer Empfindungen giebt.
Beweis des Idealismus. 437
2. Beweis, dass unsere Sinnesempfindungen selbst
dasjenige sind, was wir als Körper ausser uns
wahrnehmen.
a) Der experimentelle Beweis.
1) Thatsache: Wenn wir mit einem Auge z. B. ein
Haus betrachten und das Auge von der Seite mit dem Finger
drücken, so wird dadurch das gesehene Haus zur Seite ver-
schoben. Druckt man das Auge von der rechten Seite, so ver-
schiebt sich das Haus nach rechts hin; druckt man das Auge
von der linken Seite, so verschiebt sich das Haus nach
links hin.
Inductiver Schluss daraus: Dasjenige, was wir al»
ein Haus sehen, ist nichts Anderes^ als unsere eignen Farben-
empfindungen. Unsere Farbenempfindungen scheinen uns selbst
ausser uns, im Räume zu liegen.
2) Thatsache: Wenn wir eine kleine Kugel mit ge-
kreuzten Fingern berühren, so fühlen wir zwei Kugeln unter
den Fingern.
Inductiver Schluss daraus: Dasjenige, was wir al&
zwei Kugeln fühlen, ist nichts Anderes, als unsere Tast-
und Muskelempfindungen.
Somit ist experimentell bewiesen, dass die Körper, die
wir factisch sehen und betasten^ aus unseren Farben-, Tast-
und Muskelempfindungen bestehen.
Hier werden dem Leser sofort tausendfaltige Einwendungen
einfallen, tausend Gründe zum Beweis, dass das gesehene Haus
und die betastete Kugel doch ja etwas von unseren Empfin-
dungen durchaus Verschiedenes seien. Allein ich bitte Folgen-
des zu bedenken: Die Entscheidung darüber, welcher Schluss
aus den Thatsachen der richtige sei, ist nur dann mögUch^
wenn man zu allererst die Thatsachen selbst genau, wie sie
sind, constatirt Die genaue Constatirung der Thatsachen lehrt
aber, wie eben gezeigt worden, dass unsere Farben- und
Tastempfindungen selbst dasjenige sind, was wir als Körper
438 A. Spir:
ausser uns sehen und fühlen. Welche Schlüsse sich daraus
ergeben, das werden wir weiter unten prüfen^).
Nun lässt es sich noch ferner experimentell beweisen, dass
in unserer Körperwahrnehmung gar nichts Anderes als unsere
Sinnesempfindungen gegeben und enthalten sein kann.
Wenn wir äussere Gegenstände selbst wahrnehmen könnten,
so müssten diejenigen unter denselben Gegenstände unserer
unmittelbaren Wahrnehmung sein, welche uns am nächsten
liegen und unsere Wahrnehmung unmittelbar bedingen. Die
uns am nächsten liegenden und uns allein unmittelbar afficiren-
den äusseren Gegenstände sind nun unsere Nerven und unser
Gehirn. Allein wir sind so weit entfernt, etwas von diesen
nächstliegenden Gegenständen unmittelbar wahrzunehmen, dass
wir vielmehr das Dasein derselben nur aus äusseren Erfahrungen
erschliessen können. Was wir unmittelbar wahrnehmen, sind
nicht unsere Nerven und unser Gehirn, sondern Körper, welche
ausser unserem Leibe liegen. Aber wirkUche ausser un-
serem Leibe liegende Gegenstände können nicht selbst wahr-
genommen werden, weil zwischen denselben und unserer
Wahrnehmung die Sinnesorgane in der Mitte stehen. Damit
ist also experimentell bewiesen, dass was wir ausser uns als
Körper wahrnehmen, nicht wirkliche äussere Dinge, sondern
nur unsere eignen Sinnesempfindungen sein können.
ß) Der analytische Beweis.
Nunmehr will ich den umgekehrten Beweis führen, dass
wenn man aus den von uns wahrgenommenen Körpern Alles
das abzieht oder abstrahirt, was unsere eigne Empfindung ist,
in denselben gar nichts Wirkliches mehr übrig bleibt.
Hier werde ich mir erlauben, eine kurze Stelle aus meinem
Werke „Denken und Wirklichkeit" anzuführen, weil ich das
dort Gesagte nicht besser mit anderen Worten zu sagen weiss.
,,Da die Körper ihrem Begriffe nach Substanzen, äussere
^) Die oben angeführten zwei inductiven Schlüsse dienen bloss
dazu, den wahren Thatbestand selbst zu constatiren.
Beweis des Idealismus. 439
und Yon uns unabhängige Gegenstände, also von unseren
Empfindungen durchaus verschieden sind, so ist die erste
Forderung des logischen Denkens die, den Körpern an sich
keine Qualität beizulegen, welche in unseren Empfindungen ge-
geben ist. Das ist denn auch die erste Berichtigung, welche
die wissenschaftUche Theorie in unserer Vorstellung der Körper
vornimmt. Die Körper können demnach an sich weder farbig
noch leuchtend, weder warm noch kalt, weder süss noch sauer
sein, überhaupt gar keine empfundene Qualität besitzen. Da aber
alle realen Qualitäten in unseren Empfindungen gegeben sind,
so sind also die Körper an sich qualitätlos. Als ihre einzige
Eigenschaft bleibt das Dasein im Räume, die Erfüllung des
Raumes und die Einwirkung auf einander übrig'' (II, 91).
Aber die Eigenschaft eines Dinges, einen Raum zu erfüllen,
räumlich ausgedehnt zu sein, ist logisch widersprechend. Denn
das Ausgedehnte ist zusammengesetzt und doch aus nichts zu-
sammengesetzt, da alle seine Bestandtheile , man mag sie so
klein denken, wie man will, selbst ausgedehnt und ins Unend-
liche theilbar, also wiederum zusammengesetzt sind. Der Wider-
spruch in dem Wesen des Ausgedehnten ist übrigens schon
von Anderen so oft nachgewiesen worden, dass ich ihn nicht
weiter zu beleuchten brauche. Die Erfüllung des Raumes, diese
Grundeigenschaft der Körper, ist somit keine reale Qualität^).
Aber ein Ding, welches keine reale Qualität besitzt, ist gar kein
wirkliches Ding, sondern ein blosser Gedanke, eine Abstraction.
Die Körper unserer Erfahrung sind also, allen Empfindungs-
inhalt abgerechnet, blosse Vorstellungen in uns.
„Allein die Körper wirken ja,*' wird man sofort einwen-
den, „und wenn wir auch nicht wissen, wie sie an sich, in
ihrer nichtwahrnehmbaren Qualität beschaffen sein mögen, so
^) Ausserdem ist es unmittelbar klar, dass die blosse Eigen-
schaft eines Dinges, einen Raum zu erfüllen, keine reale Qualität
ist. Denn dieselbe besagt bloss, dass etwas einen Raum erfülle,
enthält aber keine Andeutung darüber, was dieses Raum-
erfüllende sei.
440 A. Spir:
erfahren wir doch ihre Wirkungen und diese lassen keinen
Zweifel an ihrer Realität aufkommen.'^
Hier bitte ich, die schon erwähnte Verwechselung der yon
uns factisch wahrgenommenen Körper mit irgend einer bloss
vorausgesetzten, unbekannten Aussenwelt nicht zu begehen. Ob
unsere Wahrnehmung eine Wirkung vieler unbekannten Aussen-
dinge sei oder nicht, das ist eine Frage, welche erst in dem
nächsten Abschnitt erörtert wird. Was aber die factisch von
uns erkannten Körper betrifft; so wissen wir, dass dieselben
keine, weder eine wahrnehmbare noch eine nicht wahrnehm-
bare, Qualität besitzen, also bloss Vorstellungen in uns sind.
Sagej; dass wir die Körper erkennen und zugleich nicht wissen^
wie sie an sich beschafibn sind, heisst sagen, dass wir die
Körper zugleich erkennen und nicht erkennen, was wider-
sprechend ist. Denn das Ansich eines Dinges ist eben das
Ding selbst, das eigne Wesen desselben. Giebt man zu, dass
wir die äusseren Dinge nicht, wie sie an sich sind, erkennen^
so giebt man eben damit zu, dass wir die äusseren Dinge
selbst gar nicht, sondern etwas yon denselben durchaus
Verschiedenes erkennen, nämlich ihre Wirkungen in uns. Aber
wir glauben in unserer gewöhnlichen Erfahrung nicht blosse
Wirkungen der Körper, sondern die Körper selbst wahrzu-
nehmen, während uns factisch nichts als Wirkungen (richtiger
Empfmdungen) gegeben sind, und so stellt es sich wieder
heraus, dass wir, wie es schon oben experimentell bewiesen
worden ist, nicht wirkUche Körper, sondern den Inhalt unserer
Empfindungen als Körper wahrnehmen und erkennen.
y) Das Resultat.
Durch das Vorhergehende ist der Reweis erbracht worden,
dass dasjenige, was wir factisch als eine Körperwelt wahrnehmen,
aus nichts Anderem als unseren Sinnesempfindungen besteht
Wenn man also eine wirkliche Aussenwelt annimmt, so muss
man darunter eine Welt ganz unbekannter, von den Körpern
unserer Erfahrung verschiedener Gegenstände verstehen, von
denen wir nicht wissen^ was sie sind, noch wo sie sind, noch
Beweis des Idealismus. 44|
wie sie wirken. Damit wird aber die Frage aus dem Gebiete
der Erfahrung in das Gebiet der Metaphysik verlegt Die
Frage, ob eine unbekannte Aussenwelt existire oder nicht, ist
für die Erfahrung und die Naturwissenschaft vollkommen gleich-
gültig. Denn ob man diese Frage bejahen oder verneinen
muss, die Thatsachen bleiben davon unberührt, werden dadurch
in keiner Weise aflicirt. So lange unsere Empfindungen nur
in derselben Ordnung und nach denselben Gesetzen auftreten,
wie jetzt, werden sie auch factisch als dieselbe Körperwelt, wie
jetzt, wahrgenommen, die Ursache der Empfindungen mag sein,
welche sie will.
Das ist es jedoch gerade, was man im Grunde nie ein-
sieht. Man glaubt vielmehr immer!, dass, wenn keine wirk-
lichen Körper vorhanden wären, auch keine Körperwahr-
nehmung wie die unsere möglich gewesen wäre. Allein dieser
Glaube wird, wie oben gezeigt worden, durch die Thatsachen
vollständig widerlegt. Man braucht nur zu bedenken, dass
Alles, was wir durch die fünf Sinne wahrnehmen, ja aus nichts
Anderem als unseren Sinneseindrücken besteht und bestehen
kann, — so wird klar, dass, um unsere Körperwahrnehmung
zu ermöglichen, es durchaus nicht nöthig ist, dass wirkliche
derselben entsprechende Körper vorhanden seien, sondern bloss^
dass unsere Sinnesempfindungen genau in derselben Ordnung
und Succession auftreten wie jetzt. In der That, wie könnten
wir die Körper vermissen, so lange wir genau dieselben Sinnes-
eindrücke haben, wie wenn wirkliche Körper vorhanden wären,
oder richtiger gesagt, wie bei unserer gewöhnlichen Körper-
wahrnehmung? Liefern doch Träume, Hallucinationen und
Sinnestäuschungen den unwiderleglichen factischen Beweis da-
für, dass der Schein der Körperwahrnehmung in Abwesenheit
wirklicher Körper sehr wohl möglich ist» dass also der Inhalt
der Körperwahrnehmung stets derselbe ist, gleichviel ob wirk-
liche Körper ausser uns vorhanden sind oder nicht. Die in
den Träumen und Hullucinationen liegende Täuschung würde
ja offenbar gar nicht möghch sein, wenn der Inhalt der Wahr-
VierteljabTSScbrift f. wisseiiBclittftl Flulosophie. m. 4. 29
442 ^ Spir:
nehmung bei denselben ein anderer wäre als im normalen und
wachen Zustande des Geistes.
Das ist also eine fundamentale und keinem Zweifel unter-
liegende Thatsache, dass unsere Körperwahrnehmung
(objectiv) lediglich durch die Ordnung und Gesetz-
mässigkeit unserer Empfindungen bedingt ist.
Diese Thatsache kann nicht mehr in Frage stehen, nach-
dem der doppelte, experimentelle und analytische, Beweis ge-
liefert worden ist, dass unsere Sinnesempfindungen selbst das-
jenige sind, was wir als Körper ausser uns wahrnehmen. In
dem Streit zwischen dem Idealismus und dem Realismus kann
es sich also nicht mehr um diesen Punkt handeln; der Streit
dreht sich nunmehr um eine ganz andere Frage^ nämlich die
folgende :
Ob die gegebene Ordnung und Gesetzmässigkeit unserer
Empfindungen selbst lediglich durch die Einwirkung von Dingen
ausser uns erkläit werden könne, eine Vielheit wirklicher
Aussendinge nothwendig voraussetze oder nicht?
Mit dieser Frage wollen wir uns jetzt beschätligen.
3. Beweis, dass es keine unbekannten Aussen-
dinge als Ursachen unserer Empfindungen giebt.
o) Der metaphysische Beweis.
Damit auch nur der Versuch gemacht werden kann, die
obige Frage im Sinne des Realismus zu beantworten, muss man
die vorausgesetzten unbekannten äusseren Dinge nach Analogie
der Körper unserer Erfahrung denken. Denn wenn man diese
Analogie als ungültig abweisen wollte, dann würde uns jeglicher
Grund und Anlass fehlen^ von den vorausgesetzten Aussendingen
und deren Vl^irksamkeit überhaupt irgend etwas zu behaupten.
Um aber beweisen zu können^ dass die Ordnung und Gesetz-
mässigkeit unserer Empfindungen durch die Einwirkung von
Körpern entstehe, muss man in erster Linie zeigen, wie es
überhaupt zu denken ist, dass Körper auf ein empfindendes
Wesen einwirken, Empfindungen hervorbringen können. Die
Beweis des Idealismus. 443
Körper wirken durch Stoss und Drück^ kann ein empfindendes
Wesen gestossen oder gedrückt werden?
Man sieht, was auf den ersten Blick das Allernächste und
Aliereinfachste zu sein scheint, nämlich unsere Körperwahr-
nehmung oder die sie bedingende Ordnung und Gesetzmässig-
keit der Empfindungen durch die Einwirkung von Körpern
ausser uns zu erklären, ist in der That das Unbegreiflichste von
Allem. Selbst zwischen Körpern ist die einfachste mechanische
Wirkung durch Stoss und Druck nicht denkbar ohne eine Vermitt-
lung, ohne eine Anpassung derselben an einander, welche so
weit entfernt ist, in ihrem individuellen Wesen selbst zu liegen,
dass sie vielmehr ihrem Begriffe widerspricht ^). Noch weniger
sind aus dem individuellen Wesen der Körper oder Körper-
atome solche Wirkungen zu erklären, wie sie die organische
Natur bietet. Vollends aber, wenn es sich um die Frage han-
delt, wie ein Körper Empfindungen in uns, oder wie umgekehrt
ein Gefühl oder ein Willensentschluss in uns Bewegungen in
den Körpern bewirken könne, wird es klar, dass dies
schlechterdings nicht denkbar und möglich ist ohne ein ver-
mittelndes einheitliches Princip, welches die Welt der Körper
(genauer der Aussendinge, wenn nämlich solche existiren) und
die der Geister, die ihrer Natur nach in keine unmittelbare
Berührung kommen können, untereinander verbindet Auch
sehen wir ja factisch, dass unsere Beziehungen, zur Aussenwelt
durch einen sehr kunstvoll organisirten Leib vermittelt w^deu,
was die Rolle eines einheitlichen wirkenden Princips bei diesen
Beziehungen ausser Frage stellt. Dieses einheitliche Princip —
man nenne dasselbe Kraft, Weltgeist oder wie immer sonst —
^) Dass das Gesetz des Stosses eine innere Rücksicht oder
Anpassung der Körper aneinander implicirt und dass alle innere
Rücksicht und Verbindung der Körper untereinander ihrem Begriffe
widerspricht, kann ich hier natürlich nicht beweisen. Beide Beweise
habe ich jedoch in dem 2. Bande meines Werkes Denken und
WirkL gegeben, den ersteren auf S. 127—28, den letzteren auf
S. 1 1 8 (der 2. Aufl.).
29*
444 A. Spir:
ist also dasjenige, was die Ordnung und Gesetzmässigkeit un-
serer Empfindungen unmittelbar bewirkt.
ß) Der indnctive Beweis.
Aber das Resultat^ welches wir soeben auf dem Umwege
der metaphysischen Betrachtung erreicht haben, wird auch
durch directe Induction aus den Thatsachen festgestellt.
Thatsache ist, wie bewiesen worden, dass wir den Inhalt un-
serer Sinnesempfindungen selbst als Körper ausser uns wahr-
nehmen und dass unsere Körperwahrnehmung darum (objectiv)
lediglich durch die Ordnung und Gesetzmässigkeit der Empfin-
dungen bedingt ist. Dies impHcirt aber offenbar, dass auch umge-
kehrt die Ordnung und Gesetzmässigkeit unserer Empfindungen
ihrer Erkenntniss als Körper ausser uns angepasst und conform
ist. Wir könnten doch offenbar den Inhalt unserer Empfin-
dungen nicht als Körper ausser uns erkennen^ wenn dieselben
nicht von Natur so organisirt wären, um dieser Erkenntniss
factisch zu entsprechen. Auf dieser Natureinrichtung der
Empfindungen beruht denn auch die (empirische) Wahrheit und
Gültigkeit unserer Körperwahmehmung.
Indessen so klar dies im Allgemeinen ist, so will ich es^
doch an einem besonderen Fall erläutern. Es ist oben ex-
perimentell bewiesen worden, dass dasjenige, was wir als Körper
ausser uns sehen, unsere eignen Farbenempfindungen sind.
Denn die gesehenen Gegenstände werden, wie erwähnt, durch
den Druck des Fingers auf das Auge hin und her bewegt.
Nun wird niemand behaupten, dass unsere Farbenempfindungen
selbst räumlich ausgedehnt seien, dass man dieselben mit dem
Metermaass messen oder von einem Ort zum anderen schieben
könnte. Wie könnten wir also unsere Farbenempfindungen als
ausgedehnte Körper ausser uns sehen, wenn dieselben nicht
yon Natur zu dieser Art der Wahrnehmung geeignet wären?
Man wird hier leicht versucht, diese Organisation der Gesichts-
empfindungen durch die Structur des Auges zu erklären. Aber
ich bitte dieses zu bedenken: Der Act des Sehens kommt nicht
im Auge zu Stande; die Structur des Auges mag sein, welche
Beweis des Idealismus. 445
sie will, Thatsache ist, dass wir Yon Innen nicht das Mindeste
dayon sehen und erkennen können. Die Structur des Auges
und die Vorgänge in demselben kann man nur von Aussen
erkennen, wenn man ein lebendes Auge vermittelst des Augen-
spiegel» beschaut oder ein herausgenommenes Auge in seine
Theile zerlegt Von Innen ist uns nichts gegeben als unsere
Farbenempfindungen und die Thatsache^ dass dieselben dazu
geeignet sind, als Körper im Raume*wahrgenommen zu werden^
während andere Empfindungen^ z. B. die des Schalls, dazu nicht
geeignet sind. Die Versuche, unser Sehen durch die Structur
des Auges zu erklären, beruhen eben auf der Verkennung des
Umstandes, dass wir nicht die Vorgänge im Auge, sondern die
ausser dem Auge liegenden Gegenstände selbst sehen, oder
richtiger — da wirkliche äussere Gegenstände nicht unmittelbar
gesehen werden können — unsere eignen Farbenempfindungen
als Körper ausser uns sehen. Der Umstand, dass wir die ge-
sehenen Körper auch betasten können, bedeutet ebenfalls, dass
die Gesetze, nach welchen der Zusammenhang zwischen unseren
Gesichts- und Tastempfindungen geregelt ist, durch die Rück-
sicht auf die Wahrnehmung der Empfindungen als Körper
ausser uns bedingt sind.
Die Thatsache, dass wir den Inhalt unserer Sinnes-
empfindungen als eine Körperwelt wahrnehmen, implicirt also
zwei innere Facta, welche sich gegenseitig bedingen. Unsere
Körperwahrnehmung ist lediglich durch die Ordnung und Ge-
setzmässigkeit unserer Empfindungen bedingt und eben darum
ist auch umgekehrt die Ordnung und Gesetzmässigkeit der
Empfindungen durch die Rucksicht auf die Wahrnehmung der-
selben als Körper bedingt.
Nunmehr könnte ich es getrost dem Leser selbst über-
lassen, zu entscheiden, welcher Schluss aus diesen Facten in-
ductiv sich ergiebt. Alle Induction ist das Schliessen aus dem
beständigen Zusammenvorkommen von Thatsachen und Er-
scheinungen auf eine Verbindung derselben untereinander. Nun
haben wir zwei innere Facta constatirt, welche sich gegenseitig
mit Nothwendigkeit bedingen. Also kann die Induction aus
446 A. Spir:
diesen Facten nichts Anderes ergeben, als eine innere Verbin-
dung derselben, d. h. einen einheitlichen Naturgrund»
ein allgemeines wirkendes Princip, das die Sinnesempfindungen
jedes einzelnen Subjects nicht nur, sondern auch die erken-
nenden Subjecte alle unter einander yerbindet und die Gesetz-
mässigkeit und Uebereinstimmung ihrer Wahrnehmungen erzeugt
Denn wir nehmen Alle in unseren resp. Sinneseindrücken eine
und dieselbe allen gemeinsame Aussenwelt wahr. Dieses Prin-
cip ist also dasjenige, was in Wahrheit alle die Wirkungen
hervorbringt, welche uns von Körpern herzurühren scheinen.
Dagegen stehen die Thatsachen einem Schluss auf eine
Vielheit Ton Aussendingen als Ursachen unserer Empfindungen
durchaus entgegen. Selbst wer annehmen möchte, dass
äussere Dinge die Ursachen unserer Empfindungen sind, wird
nicht behaupten, die äusseren Dinge seien auch Ursache davon,
dass wir den Inhalt unserer Empfindungen selbst als eine
Körperwelt ausser uns wahrnehmen. Allein die Ordnung und
Gesetzmässigkeit der Empfindungen ist, wie erwähnt worden,
gerade dieser Erkenntniss angepasst und conform, weil ja
sonst die besagte Erkenntniss factisch unmöglich sein würde.
Also können viele äussere [Dinge ebenso wenig die Ordnung
und Gesetzmässigkeit unserer Empfindungen bewirken, als sie
unsere Wahrnehmung selbst bewirken, oder anstatt unserer
wahrnehmen können.
y) Das Schlussergebniss.
So stehen nunmehr die folgenden drei Cardinalsätze des
Idealismus fest:
1) Den realen Inhalt der Erfahrung bilden unsere Sinnes-
empfindungen; unsere Sinnesempfindungen sind selbst dasjenige,
was wir als Körper ausser uns wahrnehmen (sehen, be-
tasten u. s. w.).
2) Unsere Körperwahrnehmung ist (objectiv) lediglich durch
die Ordnung und Gesetzmässigkeit unserer Sinnesempfindungen
bedingt
Beweis des Idealismus. 447
3) Die Ordnung und Gesetzmässigkeit unserer Empfin-
dungen wird ihrerseits nicht durch viele äussere Dinge , son-
dern durch einen einheitlichen Naturgrund bewirkt, welcher
die erkennenden Subjecte und deren Empfindungen untereinander
verbindet
Diese Sätze stehen in jedem Falle fest, gleichviel ob es
wirkliche Dinge ausser uns giebt oder nicht Aus denselben
wird ersichtlich, dass wirkliche äussere Dinge mit unserer
Körperwahrnehmung nichts zu thun haben, zu deren Erklärung
vollkommen unnöthig sind, und dass mithin nichts, was in unserer
Erfahrung vorkommt, das Dasein wirklicher Dinge ausser uns
beweisen kann.
3. Erläuternde Bemerkungen.
Durch die gegebene Begründung der obigen drei Sätze ist
der Streit zwischen Idealismus und Realismus ein für allemal
entschieden. Nachdem gezeigt worden ist, dass die Annahme
einer wirklichen Aussenwelt erstens nie bewiesen werden und
zweitens zur Erklärung der Tbatsachen der Erfahrung nichts
beitragen kann, muss Jedermann einsehen, dass diese Annahme
eine müssige ist Doch wird die wahre Einsicht trotz aller
inneren Evidenz wenig einleuchten, wenn man nicht zeigt, wo-
durch dieselbe für das Bewusstsein verdeckt und so zu sagen
maskirt wird.
Maskirt wird hier die wahre Einsicht eben durcl^ die
Natur der Erkenntniss, um deren Erklärung es sich handelt
Der Inhalt unserer Sinnesempfindungen wird von uns selbst als
eine Welt von Körpern, d. h. von Substanzen erkannt Nun
liegt es in dem Begriffe einer Substanz, erstens, dass dieselbe
unentstanden und unvergänglich ist Die vorhandene Summe
der Substanzen muss also unvermehrbar und unverminderbar
sein. Eine Vielheit von Substanzen muss ferner, wenn an-
schaulich vorgestellt, im Räume ^) vorgestellt werden, mithin
^) ,,Da Substanzen, d. i. selbstexistirende , unbedingte Wesen
in keinem ursprünglichen Zusammenhang untereinander stehen und
448 A. Spir:
solchen Gesetzen unterthan sein, nach welchen räumliche Elemente,
wie Lage, Entfernung, Richtung, Geschwindigkeit, Hasse u. a.
das Bestimmende sind. Soll also unsere Körperwahrnehmung
möglich sein, so müssen unsere Empfindungen in solcher Ord-
nung und Succession auftreten, dass sie uns ohne factischen
Widerspruch als eine Welt erscheinen, welche mechanischen
und physikalischen Gesetzen unterthan ist. Aber wir, die er-
kennenden Subjecte sind selbst innerlich nicht den mecha-
nischen und physikalischen Gesetzen unterthan; auf uns sind
räumliche Bestimmungen, wie Figur, Masse, Entfernung u. s. w.
nicht anwendbar. Damit wir in die Gesetzmässigkeit der er-
scheinenden räumlichen Welt aufgenommen und eingereiht wer-
den können, mässen wir also in einer besonderen Verbindung
mit einem besonderen Körper erscheinen, welcher unsere Be-
ziehungen zu der äbrigen Körperwelt vermittelt. Diese Rolle
spielt unser Leib, dessen Zusammenhang mit unseren inneren
Zuständen nach besonderen, von den physikalischen verschie-
denen Gesetzen geregelt ist, nach denen jede Affection des
Leibes eine Empfindung in uns, sowie auch umgekehrt ein
Gefühl oder ein Willensentschluss in uns Bewegungen im Leibe
zur Folge hat, was Alles mechanisch und physikalisch gar nicht
erklärt werden kann. So muss es uns scheinen, dass wir die
Körper zugleich unmittelbar wahrnehmen und aus deren Ein-
wirkungen auf unseren Leib mittelbar erschliessen. So kommt
es, dass wir von der Körperwelt jederzeit so viel sehen, als die
deren Verhältnisse also nach keiner Seite hin vorausbestimmt und
unabänderlich festgesetzt sind, so muss eine Mehrheit von Sub-
stanzen in einem Medium vorgestellt werden , welches die Möglich-
keit aller äusseren Verhältnisse zulässt, also die Totalität aller
möglichen Richtungen enthält'^ (Denken und Wirkl., U, 20).
Diese Eigenschaft des Raumes, die Totalität aller möglichen Rich-
tungen zu enthalten, bewirkt, dass jeder Körper nach allen Seiten
hin durch den Raum von anderen Dingen getrennt ist, was dessen
Selbständigkeit denselben^ gegenüber begründet. Was die anderen
geometrischen Eigenschaften des Raumes betrifft, so gehören die-
selben zu der Natureinrichtung, zu der „Form** unserer Anschauung,
welche nicht weiter erklärt werden kann.
Beweis des Idealismus. 449
Sehkraft unserer Augen reicht und der Umfang unseres Seh-
feldes fasst; soTiel betasten, als unsere Hände greifen, so viel
durchlaufen, als unsere Pässe tragen können u. s. w. Es muss
uns scheinen, dass unsere Empfindungen nicht, wie es in Wahr-
heit der Fall ist, durch einen einheitlichen nicht wahrnehmbaren
Naturgrund, sondern durch die vielen wahrgenommenen Kör-
per bewirkt werden, deren Gruppirung um uns her nach Zeit
und Ort wechselt. Es müssen also in unserer Erfahrung Wir-
kungen eintreten können, die uns bei Unkenntniss der Um-
stände oder der Naturgesetze in ihrem ganzen Umfang uner-
wartet und überraschend sind, jedoch bei näherer Untersuchung
sich aus diesen erklären lassen. Dies verbürgt die (empirische)
Gültigkeit nicht allein der physikalischen Naturgesetze, sondern
auch der Theorieen, welche zur Erklärung derselben dienen,
wenn diese Theorieen — wie z. B. die mechanische Wärme-
theorie — den Ergebnissen der Wahrnehmung und dem Be-
griffe der Körper conform sind.
Diese folgerichtige Organisation des Scheins ist es nun,
was dessen für die Meisten unüberwindliche Gewalt ausmacht.
Selbst diejenigen, welche einsehen, dass unsere Körperwahr-
nehmung an sich ein blosser Schein ist, d. h. ohne directe,
innere Beziehung zu einer wirklichen Körperwelt steht, nehmen
doch infolge davon gerne an, dass die Wirklichkeit diesem
Schein entspreche, dass unsere Wahrnehmung, wie es ein Schrift-
steller ausgedrückt hat, „durch einen Kunstgriff der Natur derart
organisirt ist, um (äusseren) Objecten zu entsprechen^ ^). Man
bedenkt nicht, dass ohne diese folgerichtige Organisation des
Scheins derselbe gar nicht möglich gewesen wäre, die Täuschung
gar nicht entstehen und btötehen könnte, welche uns in un-
^) „Ni la perception ezt($rieure, ni les autres prises de connais-
sance ne sont des actions simples qui s'appliquent et se terminent
ä des objets diff^rents d'elles-m^mes. Ce sont des simulacres, des
fantdmes, oa semblants de ces objets, des hallacinations le plus
sonvent vraies, et, par an artifice de la nature, arrangöes
de fa^on k correspondre aux objets. *' Taine, De Tln-
telligence. 1870, I, 413—14.
450 A. Spir:
seren Sinnesempfindungen eine Welt von Körpern zeigt. Diese
falgerichtige Organisation des Scheins ist so weit entfernt , eine
nothwendige Beziehung auf eine entsprechende wirUiche Aussen-
weit vorauszusetzen, dass sie dieselbe vielmehr, wie im vorher-
gehenden Abschnitt gezeigt worden, ausschliesst Die Voraus-
setzung, dass dem Schein die Wirklichkeit entspreche, dass
jederzeit an dem Orte, wo uns ein Körper zu liegen scheint,
ein wirkliches, obgleich unerkennbares Aussending sich befinden,
und dass jede wahrgenommene Bewegung der scheinbaren
Körper von einer nicht wahrgenommenen Bewegung der wirk-
lichen Aussendinge begleitet werden müsse, ist ein gar curioses
Widerspiel der gewöhnlichen Anschauungsweise. Nach der ge-
wöhnlichen Ansicht sind die wirklichen Aussendinge und die
Vorgänge in denselben die Ursachen unserer Wahrnehmungen ;
nach jener Voraussetzung dagegen müssten unsere Wahr-
nehmungen die eigentliche raison d^etre der Aussendinge
und der Vorgänge in denselben sein. Darnach müsste eine
uns unbekannte Aussenwelt existiren und hin und her bewegt
werden ledigUch aus purer Gewissenhaftigkeit, damit ja unsere
Wahrnehmungen nicht ohne entsprechende Gegenstände in der
Wirklichkeit bleiben, obgleich zwischen beiden keine directe
Beziehung besteht. Diese Annahme zu widerlegen, ist offenbar
unnötbig; dieselbe beweist bloss, dass selbst diejenigen, welche
den natürlichen Schein zum Theil durchschaut haben, sich
nicht immer von demselben zu befreien vermögen. Allerdings
ist die Natur Meisterin in der Täuschung, aber das ist doch
kein Grund^ un^ von ihr in alle Ewigkeit dupiren zu lassen.
Wenn indessen unsere Körperwahrnehmung in dem Sinne
ein blosser Schein ist, dass derselben keine wirklichen im
Räume existirenden Substanzen entsprechen, so ist sie doch
nicht ein blosser Schein in dem Sinne, dass ihr gar keine
Objecte in der WirkUchkeit entsprächen. Unsere Wahrnehmung
hat vielmehr wirkliche entsprechende Objecte, nämlich unsere
Sinnesempfindungen. Einer der Hauptgründe des gewöhnlichen
realistischen Glaubens ist die Neigung, nur Körperliches als real,
unsere Empfindungen dagegen als etwas Unreales anzusehen.
Beweis des Idealismus. 451
Man hält es für einerlei, ob etwas als Empfindung in uns oder
bloss in unserer Vorstellung existirt Nun sind die Sinnes-
empiindungen freilich nicl^t real in dem Sinne unseres Be-
griffs Ton dem Realen; dieselben sind keine unbedingten und
beharrlichen Dinge ^ keine Substanzen, — aber sie haben die
gleiche Art der Realität, welche auch uns selbst und überhaupt
allen Objecten der Erfahrung eigen ist, nämlich Realität als
Phänomena, als empirische Objecte, welche von unserer blossen
Vorstellung derselben verschieden sind. Auch ein Schmerz-
gefühl in uns ist keine Substanz, aber wird deshalb Jemand
dasselbe für unreal halten? Ist es etwa einerlei^ ob wir einen
Schmerz selbst fühlen oder an einen solchen bloss denken?
Aber die gleiche Art und Natur von Realität, wie ein Schmerz-
gefühl, hat auch eine Empfindung der Farbe, des Tons, des
Geschmacks und andere. Die Neigung, diese Art von Realität
gleich nichts zu achten^ hat eben denselben inneren Grund^
kraft dessen wir auch in unseren Sinnesempfindungen eine
Welt von Substanzen (von Körpern) erkennen, nämUch den,
dass wir der Natur und dem Grundgesetze unseres Denkens
gemäss nur die normale Art der Existenz, d. h. nur das Sein
einer beharrlichen, sich selbst gleichen Substanz zu begreifen
vermögen und zu allen blossen Erscheinungen und Successio-
nen daher Substanzen als deren Träger hinzudenken. Daher
kommt es^ dass wir auch unser inneres Wesen^ unser Ich oder
Selbst als eine Substanz erkennen, wie wir die Empfindungen
der äusseren Sinne (welche einen uns fremden Inhalt dar-
bieten) als eine Welt uns fremder, äusserer Substanzen er-
kennen. In Wahrheit ist aber weder in der inneren noch in
der äusseren Erfahrung eine wirkliche Substanz anzutreffen,
sondern bloss Empfindungen, Gefühle^ Vorstellungen und ähn-
Ucbe Phänomena, welche stets kommen und gehen. Alles in
der Welt der Erfahrung ist ein blosses Schweben und Ge-
schehen, obgleich allerdings der Inhalt der Erfahrung so orga-
nisirt ist, dass wir in demselben beharrliche Substanzen zu er-
kennen glauben.
Es ist freilich unbegreiflich, dass die Natur systematisch
452 ^' Spir: Beweis des Idealismus.
auf Täuschung eingerichtet ist, dass wir mit Naturnoth-
wendigkeit Dinge zu sehen, zu betasten und zu bewegen
scheinen , welche in Wahrheit nicht, so, wie wir sie Yorstellen,
existiren. Aber eine Unbekanntschaft mit dem Wesen der uns
umgebenden Wirklichkeit zeigt sich eben in der Voraussetzung
(welche den eigentlichen, tief»*en Grund des Realismus bildet),
dass die gegebene Wirklichkeit begreiflich sein müsse und dass
dieselbe gar durch die Annahme von Dingen ausser uns er-
klärt werden könne. Wie wenig dies der Fall ist, haben die
vorhergehenden Erörterungen gezeigt. Durch die Annahme
wirklicher Aussendinge werden die Thatsachen nicht erklärt,
sondern zu der yorhandenen factischen Unbegreiflichkeit eine
neue ersonnene Unbegreiflichkeit hinzugefügt, welche ausser
ihrer Nutz- und Grundlosigkeit noch den schweren Nachtheil
hat, logische Widersprüche zu impliciren. In einem folgenden
Artikel werde ich zeigen, dass die empirische Natur der Dinge
überhaupt eine abnorme und darum keiner endgültigen Er-
klärung fähig ist.
Stuttgart A. Spin
Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes.
Erster Artikel.
l.ThomasHobbesist einer yon den Philosophen, welche
den Bestrebungen des 17. und 18. Jahrhunderts ihre Wege ge-
wiesen haben. Der Kern dieser Bestrebungen ist ihre Feind-
schaft gegen das Mittelalter und gegen die geistige Macht, welche
dasselbe beherrscht hatte, die katholische Kirche; ihr Ziel, auf
der neuen Grundlage wissenschaftlicher Erkenntniss eine neue
geistige Macht zu schaffen, welche jene nicht nur zu yernichten^
sondern auch zu ersetzen stark sein sollte. Demgemäss kann
die Geschichte der neueren Philosophie als ein Kampf theils
gegen den Inhalt, theils gegen die Formen der kirchlichen
Philosophie, der Scholastik und als eine allmähliche Eroberung
des Gebietes derselben angesehen werden. Von der Tiefe dieses
principiellen Gegensatzes hat gerade Hobbes ein sehr starkes
Bewusstsein und er bestimmt sich nach demselben den Umfang
und das Ziel seiner Aufgabe.
2. Das Wesen jener kirchlichen Philosophie lässt sich
zum Behuf dieser Erörterung genügend bezeichnen in einigen
Ausdrücken ihres Meisters, des heil. Thomas von Aquino^)»
Er sagt: 'die heilige Wissenschaft, welche behandle was höher
sei als die Vernunft, könne zwar einiges annehmen von den
^) Welche ich dem Buche des Katholiken K. Werner 'd. heil.
Thomas von Aquino' (3 Bde. Regensb. 1858 f.) entnehme.
454 F. Tönnies:
philosophischen Disciplinen^ jedoch nicht als ob sie nothwendig
ihrer bedürfe, sondern zur grösseren Verdeutlichung dessen,
was in ihr selber geboten werde; denn sie empfange nicht
ihre Principien von den andern Wissenschaften, sondern un-
mittelbar von Gott durch Offenbarung; und folglich en)it)fange
sie nicht von den andern Wissenschaften als von Ueberlegenen,
sondern benutze sie als Untergebene und als Mägde; wie die
Architektonik Handlanger benutze und die Staatskunst Soldaten . . .
Von jener alleinherrlichen Offenbarungs Wissenschaft aber heisst es
ein andermal , es könnten wohl einige wahrscheinliche Grunde auf
die Verdeutlichung ihrer Wahrheit fähren, zur Uebung und
zum Tröste der Gläubigen, aber nicht zur Widerlegung
der Gegner; weil eben die Unzulänglichkeit der Gründe sie
mehr in ihrem Irrthume bestärken würde, sofern sie dächten,
dass wir um so schwächlicher Gründe willen der Wahrheit des
Glaubens zustimmen . . . / Gar keine wissenschaftliche, son-
dern eher eine Art von künstlerischer Absicht lag jener Wort-
architektonik zu Grunde : es war die Philosophie eines Lebens,
welches keine Wissenschaft brauchte, auf den stetigen und ge-
schlossenen Formen von Ackerbau und Handwerk und auf fest
organisirten Herrschaftsverhältnissen beruhend.
3. Die neue Zeit, welche die Bedürfnisse wachsender Be-
völkerung durch Verbesserung der Productionsinstrumente und
durch Ausdehnung des Handelsverkehres zu befriedigen genöthigt
war und dadurch die Grundlagen der mittelalterlichen Cultur
erschütterte, konnte zu ihren Zwecken die Producte klöster-
licher Beschaulichkeit oder akademischer Disputirkunst nicht
benutzen, sondern bedurfte praktischer d. h. die wirklichen
irdischen Dinge und das wirkliche irdische Geschehen genau
darstellender Wissenschaft. Aus diesem Verlangen und nicht
aus den Ansprüchen häretischer Logik und Metaphysik gingen
die kräftigsten unter den zahlreichen Angriffen hervor, welche
während des 15. und 16. Jahrhunderts wider das System der
Schulweisheit gerichtet wurden. Diese Angiiffe verbreiteten
eine misstrauische und feindselige Stimmung, jedoch ist zu
Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes. 455
vermutlien, dass die grossartige katholische Reaction, weiche
sich verkörperte im Jesuitismus, derselben theils durch Cod-
cessionen, theils durch Zwangsmittel völlig Herr geworden
wäre, wenn nicht alsbald die positiven Wissenschaften, und
zwei vor allen andern, starker geröstet sich vorgeschoben
hätten.
4. Von der ersten, der Astronomie, ist es überflüssig,
hier zu reden; da ihre mächtige Wirkung auf die Zer^öm-
merung der mittelalterlichen Weltbetrachtung und auf die Aus-
bildung der neuen Gedanken immer hervorgehoben wird. In
verzerrter Gestait, als Astrologie^ genügte sie den mittelalter-
lichen Bedürfhissen, als welche nicht auf stetige rationale Be*
herrschung, sondern auf gelegentliche zaubernde Bestechung
der Natur gerichtet waren; ihr ernsteres Studium entsprang
aus den Interessen der immer grössere Lebenskreise bewegen-
den Seefahrt. Die damit eng verbundene Entwicklung der
Manufactur, weiche Einzelwerkzeuge in Massenwerkzeuge oder
Haschinen umzuwandeln trachtete, gab Anregung und Förderung
für die andere Wissenschaft, die Mechanik. Wie die Maschine
zur ökonomischen, so war die Mechanik, ihre Darstellerin, zur
wissenschaftlichen Weltherrschaft berufen. Sie wurde zuerst
mit Eifer und Verstandniss gepflegt in den wirthschafllich am
weitesten entwickelten italischen Städten. Aber früh auch
blähte sie auf in den Niederlanden, in Frankreich und in
England. So finden wir schon im 16., jedoch besonders zu
Anfang des 17. Jahrhunderts in diesen Ländern, zuerst für die
Probleme der Statik, dann auch für die dynamischen, ein
erstaunlich lebhaftes Interesse und eine geradezu musterhafte
sachliche Hingebung. Und wie jede grosse Bestrebung ein
schöpferisches Genie hervorzubringen pflegt, so geschah es
auch hier. Die neue Wissenschaft wurde epochemachend durch
Galilei. Sie wurde durch Galilei philosophisch.
5. Die traditioneile Historiographie der Philosophie hat
Galilei unter den Tisch geschoben; ein künftiger Geschichts-
schreiber dieser Historiographie mag untersuchen wesshalb. Es
werden ja an den Namen der Philosophie die manm'gfaltigsten
456 F- Tönnies:
Begriffe angeknüpft; in verschiedenen Ländern yerschiedene,
in jedem Lande zu andern Zeiten andere. Der Geschichts-
forscher aber muss sich einen deutlichen und strengen Begriff
bilden, dem Torherrschenden sprachlichen Gebrauche der Zeiten
und der Länder gemäss, von denen er handelt. Er wird fin-
den, dass die scholastische Periode mit ihrer Gegnerin , der
Aufklärung, über das formale Bereich jenes Begriffes im We-
sentlichen einig gewesen sei; wonach er den Complex bezeich-
nete aller Wissenschaften^ welche allgemeine und nothwendige
Wahrheiten hervorbrächten. Will man nun, um die Geschichte
der Philosophie nicht in eine Geschichte der Einzelwissenschaften
aufzulösen, mit diesem Inhalte die bei uns überwiegende Vor-
stellung verbinden, so kann man von philosophischer Behand-
lung einer Wissenschaft sprechen und darunter solche ver-
stehen, welche ihr eigenes Gebiet auf seinen Zusammenhang
hin mit einem aus den Erzeugnissen aller gestalteten Universal-
bilde betrachtet und es für die Vervollkommnung desselben
fruchtbar zu machen bemüht ist. Ja, man wird auch garnichts
einwenden dürfen, wenn ein Geschichtsschreiber der Philosophie
die Einzelwissenschaften nur darstellt, insoweit sie an einem
solchen Weltbilde mitgearbeitet haben^ und etwa nur noch die-
jenigen Wissenschaften als ganz und gar philosophische ansieht,
welche noch nicht einen selbständigen Platz eingenommen und
darum auch noch nicht einen für die Gesammtanschauung
gleichgültigen oder minder wichtigen Inhalt gewonnen haben.
Nun ist es sichere historische Thatsache, dass wenigstens bis
zum Ende des vorigen Jahrhunderts Physik für eine philo-
sophische Wissenschaft ist erachtet worden; ferner dass seit
Anfang des 17. Jahrhunderts jeder Versuch, eine wissenschaft-
liche Weltanschauung auszubilden, mit den Ergebnissen und
Hypothesen der neuen Lehre von der Bewegung der Körper
so oder so sich hat auseinandersetzen müssen; endlich dass
der Urheber dieser Lehre nach ihren Hauptumrissen, und der
zugleich die vorher über ihren Gegenstand herrschenden Mei-
nungen von Grund aus zerstörte, Galilei gewesen ist.
Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes. 457
6. Galilei vernichtete die Physik der Schulen. Gar viele
hatten vor ihm einzelne Theoreme derselben mit Leidenschaft
bekämpft, aber den meisten blieben doch ihre Grundbegriffe
als denknoth wendig feststehen. Auch waren diese ja durch
Disputationen ebensogut zu behaupten als zu bestreiten — wer
hatte denn Thatsachen gezeigt und mit andern Mitteln erklärt,
welche jene durch Alterthum und durch metaphysische Brauch-
barkeit geheiligte Welterklärung unmöglich machten? Und es
war doch ein grosses und für Menschen sehr bestechendes
Princip mit allseitiger Consequenz darin durchgeführt; nämlich
der Begriff des Zweckes. Er hatte für das christliche Mittel-
alter seinen inneren Ursprung aus dem jüdischen Theismus;
äusserlich aber stammte er aus der griechischen Philosophie.
Das Wort, welches Aristoteles von seinem Vorgänger Anaxagoras
sagt, der sei mit jenem Begriff unter die hellenischen Denker
wie ein Nüchterner unter Trunkene getreten, gewinnt, von hier
aus gesehen, eine universalhistorische Beleuchtung. In der
neuen Zeit ist der gegenständliche Vorgang der umgekehrte,
aber auch der Gegensatz ist ein anderer: Galilei trat unter die
Gelehrten, wie ein Wissender unter Unwissende. Sein Fall-
gesetz und sein Wurfgesetz zeigten^ dass die für selbstverständ-
lich und unerlässlich gehaltenen Eintheilungen der Körper in
schwere oder erdige, und leichte oder feurige; der Bewegungen
in natürliche und gezwungene, unbrauchbar, indem die angeb-
lichen Unterschiede, darauf sie sich gründeten, in Wirklichkeit
nicht vorhanden seien. Galilei stellte sich den Erscheinungen
gleichsam sprachlos gegenüber. Er dachte und sagte, dass
Mas wahre Buch der Philosophie das Buch der Natur sei,
welches immer aufgeschlagen vor unsern Augen liege, es sei
aber in andern Lettern geschrieben als in denen unseres
Alphabets ; die Lettern seien Triangel, Quadrate, Kreise, Kugeln,
Kegel, Pyramiden und andere mathematische Figuren' ^). Darum
kann man das Buch nur lesen mit Hülfe der Mathematik
^) Opere ed. Alberi VII, 354 f. Ich citire nach: H. Martin,
Galil^e, habe aber die Stellen selbst verglichen.
Vierteljahrsschrift f. wissanschaftl. Philosophie. III. 4. 30
458 F. Tönnies:
(Opere XI, 21) und Piaton ist zu loben wegen seines Aus-
spruchs, dass das Studium der Mathematik den philosophischen
Studien vorangehen müsse (XIII, 93). So wurde mittelbar die
Mathematik die eigenthch revolutionäre Wissenschaft; wie auch
Spinoza sagt: die Wahrheit wäre dem Menschengeschlecht in
Ewigkeit verborgen geblieben ^ wenn nicht die Mathematik/
welche nicht mit Zwecken, sondern nur mit den Begriffen und
Eigenschaften der Figuren sich beschäftigt, eine andere Norm
der Wahrheit den Menschen gezeigt hätte (Eth. I, 36 appendix).
Galilei hat die Anwendung der Mathematik auf Physik nicht
erfunden; man hatte längst gepflogen, nach dem Vorgänge der
Alten, zumal des Archimedes, statische Probleme an geome-
trischen Figuren sich zu verdeutlichen und daran zu lösen*
Aber ihrer Anwendung auf die Lehre von den Bewegungen hat
Galilei zuerst einen festen Boden gegeben und ebendamit diese
Lehre neugeschaffen. Und zwar geschah dies durch zwei
grosse und glückliche Abstractionen , welche für den Philo-
sophen schon im Anfange seiner Laufbahn zu Axiomen
geworden waren. Durch die erste wird gesetzt, dass die Wir-
kung jeder einfachen Kraft eine Bewegung in gerader Linie,
mithin jede Curvenbewegung das Resultat zusammengesetzter
Kräfte sei. Die andere ist das Gesetz, dass, wie ein ruhender
Körper in seinem Zustande, so auch ein bewegter in gerad-
liniger Bewegung, mit gleichmässiger Geschwindigkeit zu be-
harren tendire, und dass diese Tendenz nur durch äussere
Kraft aufgehoben werden könne. Dieser Fundamentalsatz der
Mechanik ist von Galilei schon in der gegen 1590 geschriebenen,
aber nicht gedruckten Abhandlung de motu gravium aufgestellt,
dann aber 1632 in dem Dialog über die Weltsysteme und 1638
in den Dialoghi delle nuove scienze der Gelehrtenwelt öffentlich
vorgelegt worden ^). Vergleicht man das Princip mit der scho-
lastischen vis inertiae, welche jeden Körper seinem Elemente,
d. i. dem Zustande der Ruhe zustreben lässt, so sieht man den
mechanistischen Grundcharakter der neuen gegenüber dem
^) 8. Martin, Gallige p. 316.
AnmerkuDgen über die Philosophie des Hobbes. 459
teleologischen der alten Physik in hellem Lichte. Diese will
Qualitäten classificiren , jene Quantitäten vergleichen; ^messen
alles was messbar ist, und versuchen messbar zu machen was
€s noch nicht ist', mit diesen Worten bezeichnet Galilei die
Autgabe seiner Wissenschaft (Martin, Galilee,*p. 282).
7. Ich habe die bisherigen Anmerkungen für nöthig ge-
halten, um in die folgenden einzuführen. Denn gerade in
jener neuen Wissenschaft, durch deren Begründung Galilei die
scholastische Physik überwand, hat auch das gesamrate Denken
des Hobbes seine Wurzeln. Die Richtigkeit dieser Behauptung
wird gezeigt werden. Die Geschichtsbücher freilich, zumal die aus
diesem Jahrhundert, bringen Hobbes in einen anderen Zusam-
menhang. Er soll ein Schuler des Bacon von Yerulam gewesen
sein, dessen ^Empirismus' er fortgebildet, den er durch poli-
tische Philosophie ergänzt habe, u. dgl. m. Dies ist eine selt-
same und gänzlich unwahre Fabel. Sie hat ihren Ursprung
in zwei Umständen : 1) Bacon und Hobbes waren beide Eng-
länder und noch einigermaassen Zeitgenossen; 2) aus der vita
Hobbesii hat sich von Glied zu Glied (oft mit heftigen Aus*
schmückungen) die Notiz vererbt, dass Hobbes dem Bacon
beim Uebersetzen einiger Schriften geholfen, und dass dieser
von jenem gesagt habe, er fasse seine Gedanken mit einer
Leichtigkeit auf wie kein anderer. « Ueber die Quelle und den
Werth dieser Nachricht will ich mich hier nicht verbreiten;
dass auf sie und auf den ersten Umstand hin behauptet wird,
der eine sei in seinem Denken von dem andern abhängig, ja
sein Schüler gewesen, das ist offenbar nicht zu billigen. In-
dessen es hat noch eine andere Sache dazu mitgewirkt, näm-
lich die, dass überhaupt über die Bedeutung Bacons für die
Naturwissenschaft und für die gesammte Philosophie sehr wenig
begründete Vorstellungen in Umlauf gekommen sind; zuerst
durch die Schuld der philosophisch recht kurzsichtigen Mit-
glieder der Royal Society in England, welche den natur-
forschenden Grosskanzler gleichsam als ihren Schutzheiligen ver-
ehrten; dann aber durch die französische Encyklopädie, dieses
Agitationswerk einer durch und durch unhistorischen Geistes-
30*
460 F. Tönnies:
richtang; der es aber doch nimmermehr eingefallen wäre, als
ein Anhängsel Bacon's Thomas Hobbes zu behandeln. Schon
Hume nahm Gelegenheit, jene falsche Schätzung Bacon's zu
berichtigen und Galilei als den Vater der modernen Natur-
wissenschaft hervorzuheben. Hobbes und seine Denkgenossen
scheinen den Lord-Kanzler wegen seiner belletristischen Schrift-
stellerei (in den Essays^ dem Wisdom of Ihe Ancients u. s. w.)
als einen Mann von aufgeklärfen und zum Theil originellen
Meinungen hoch genug geschätzt zu haben ; aber Wissenschaft-
liches von ihm zu lernen, konnten nur die Zurückgebliebenen
geneigt sein. Das Beste was er geleistet hat, der wenn auch
schwächliche Versuch, eine Theorie der inductiven Methode auf-
zustellen^ konnte garnicht in eine ungünstigere Periode fallen
als in diese Blüthezeit der mathematischen Deduction, in der
man aber über die Nothwendigkeit planmässige Beobachtungen
und Experimente zu machen, längst einig war und beides treff-
lich verstand ; für die logische Theorie dieser Praxis sich je-
doch so wenig interessirte, als es die Naturforscher während
der beiden folgenden Jahrhunderte gethan haben. In einer
Kritik, welche ein berufener Vertreter der mathematisch-physi-
kaUschen Studien kurz nach dem Erscheinen des Novum Or-
ganum über dieses Buch geschrieben hat ^), heisst es, der Autor
„hätte die Gelehrten der verschiedenen Nationen um Rath an-
gehen sollen, ehe er eine Masse von Regeln^ von Ermahnungen
und von Instanzen vorlegte, für die kein Bedürfniss vorhanden
ist, entweder weil sie schon in Uebung sind unter den Ge-
lehrten, oder weil sie unnütz sind — dies ist die Ursache ge-
wesen, dass sehr viele aus seinem Buche über den Fortschritt
*) Nämlich der unermüdliche Vermittler zwischen den Forschern
jener Zeit, und spätere intime Freund des Hobbes, Marin Mersenne,
vom Orden der fratres minimi, im 16. Kapitel seines Buches ^La
y^rit^ des Sciences, contre les Sceptiques ou Pyrrhoniens' ; Paris
1625. Dieses Buch ist, wie alle Schriften Mersenne's, überaus selten
und soviel ich sehe, ganz unbekannt; ich benutzte das Exemplar
der Bodleiana zu Oxford. Was noch weiteres darin über Bacon ge-
sagt wird, ist gleichfalls sehr scharf und treffend.
AnmerkuDgen über die Philosophie Mes Hobbes. 461
der Wissenschaften sich garnichts gemacht haben". Bacon
£tebt eben als Nichtmathemaüker gänzlich ausserhalb der philo-
sophischen Bewegung jener Zeit; erst als deren mächtiges An-
wachsen es erschwert hatte, ihre Entwicklung zu übersehen,
konnte man wähnen, dass er ein Bahnbrecher oder Wegweiser für
dieselbe gewesen sei. Insonderheit ist es auch falsch, ihn als Ur-
heber der erapiristischen Erkenntnisstheorie zu bezeichnen, in
welcher dann Hobbes, Locke, Hume ihm sollen gefolgt sein —
Bacon kennt noch gar kein erkenntnisstheoretisches Problem,
wenigstens bleibt es bei ihm gänzlich in Dämmerung; wenn er
von Erfahrungen zu Axiomen hinauf- anstatt yon Axiomen zu
Folgerungen hinabsteigen will, so hatte er gut reden, der sich um
Geometrie nicht kümmerte; ob und wie Wissenschaft möglich
sei, welche der aus Definitionen und Axiomen demonstrirenden
Geometrie an Gewissheit gleichkomme? das ist doch die Central-
frage der Erkenntnisstheorie gewesen. Thomas Hobbes war
einer der ersten in der neuen Epoche, welche um ihre Lösung
sich bemühten.
8. Hobbes war schon in jungen Jahren über die Verkehrt-
heit der scholastischen Philosophie, die er vorher mit grossem
Eifer studirt hatte, ins Klare gekommen. Er wandte sich dann
historischen und politischen Studien zu, deren erste Frucht
seine Uebersetzung des Thukydides war. Erst im Jahre 1628,
40 Jahre alt, lernte er die Elemente des Euklid kennen; dieses
Ereigniss scheint er selber als einen Wendepunkt seines Lebens
angesehen zu haben. Indessen sind sichere Spuren vorhanden,
dass er schon früher Mathematik betrieben hatte; auch ist
Grund zu der Vermuthung, dass er mit dem Charakter und
mit den Ergebnissen der neuen Astronomie und Physik bereits
bekannt war; zu einem überaus eifrigen Gelehrten auf diesem
Gebiete, der mit den ersten Forschern aller Länder brieflichen
Verkehr hatte, dem Baronet Charles Cavendish, stand er in
nahen persönlichen Beziehungen; das Studium des Euklid be-
.deutet, dass er nunmehr diesen Disciplinen, an denen er alle
freidenkenden Männer seines Zeitalters theilnehmen sah, auch
selber mit aller Energie sich zuwandte. Er gewann damals
462 F. Tönnies:
wohl gleich die Ueberzeugung, dass die wissenschaftliche F o r m^
wie sie in den euklidischen Elementen vorliege, nämlich De-
monstration durch syllogistische Verbindung von Deßnitionen
und etwa noch anderen principiellen Sätzen, als einzig mög-^
liehe auf alle Gegenstande des Erkennens auszudehnen sei»
Insbesondere würden sich Moral und Politik (darauf sein In-
teresse am intensivsten gerichtet war), bislang die Schauplätze
leidenschaftlicher, rhetorischer Urtbeile, durch strenge Anwen-
dung jener Methode zur Gewissheit erheben lassen. Wie er
sich damals diese Aufgabe ferner klar gemacht, insbesondere
wie er rieh die Unterschiede dieser Methode von jener de»
scholastischen Philosophirens vorgestellt habe, lässt sich nicht
sagen. Sachlich war sein Denken, wie es scheint, von
Untersuchung der Begriife 'gut' und 'schlecht' auf Begriife
überhaupt, von da auf die Natur der Sinnesqualitäten , und
also auf die der Wahrnehmung geführt worden. Nun bildete
er sich um die Mitte des 4. Jahrzehnts den Plan, seine Ge-
danken über diese Gegenstände in den Zusammenhang eine»
einheitlichen, demonstrirten Systems der Wissenschaft zu setzen..
Dass dieses möglich sei, sagte ihm die Ueberzeugung, welche
schon im Jahre 1684 'tief in seiner Seele sich befestigt hatte:
dass in der Natur alles mechanisch geschehe' (viL
Hobb. auct. p. 27), d. h. dass, während nach Aristoteles immer
viererlei Veränderungen : der Substanz, der Qualität, der Quan-
tität und des Ortes als ebensoviele verschiedene Arten der Be-
wegung waren betrachtet worden, vielmehr alle Veränderung
auf eine einzige, nämlich die örtliche Bewegung als die allein
der sinnlichen Erfahrung bekannte Form sich müsse zurück-
führen lassen. Zur Erforschung der Natur dieser Bewegung^^
hatte GalUei die neuen Wege gewiesen; den bis dahin gültigen
Unterschied zwischen natürlichem und gewaltsamem Ursprung
derselben hatte er aufgehoben, indem er jenen auch auf von
aussen bewegende Kräfte zurückführte. Als solche Kräfte aber
sind aus intimer Erfahrung nur die des menschlichen Körpers
bekannt; dieser aber muss, um einen fremden (leblosen —
nur mit diesen beschäftigt sich ja zunächst die Mechanik)
Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes. 463
Körper zu bewegen, in Berührung mit demselben treten.
In diesem Umstände ist die psychologische Erklärung
zu suchen y dass man bei Verallgemeinerung der mecha-
nischen Principien auch diese Vorstellung von nothwendiger
Berührung verallgemeinerte und als denknothwendig betrachtete.
Dass aber für Hobbes gerade in dem Einflüsse Galilei's — den
er übrigens im Jahre 1636 persönlich besuchte — das ent-
scheidende Moment zur Gestaltung seiner Weltanschauung lag,
dies hat er selber deutlich genug kundgegeben, was in einer mit
dergleichen Bekenntnissen so wortkargen Zeit um so mehr von
Gewicht ist Sehr häufig wird man in seinen Werken betont
finden, dass alles auf die Natur der Bewegung ankomme, wer
die nicht yerstehe, verstehe nichts von Physik, und Physik be-
deutet für ihn eigentlich die ganze Wissenschaft Nun aber an
bedeutender Stelle (de corp. ep. dedic.) sagt er nachdrücklich:
Mer uns zuerst die Eingangspforte der gesammten Physik er-
schlossen hat, nämlich das Wesen der Bewegung, war in un-
^ Sern Tagen Galilei; so dass man nach meiner Meinung vor
sein Auftreten den Beginn des Zeitalters der Physik nicht an-
setzen darf (vgl. exam. et emend. math. hod. p. 56 ed. 1668).
In diesem Zusammenhange, wo er sonst noch Copernicus,
Harvey, Mersenne und Gassendi als seine Vorgänger nennt,
sagt er, wie mir deucht, auch über sein Verhältniss zu Bacon
durch sein Schweigen genug.
9. Hobbes war nun zunächst hauptsächlich bemüht zu
erforschen, 'was für eine Bewegung es sein möchte, welche die
Wahrnehmung; den Verstand, die Phantasmen und andere
Eigenthümlichkeiten der lebendigen Wesen bewirke' (vita p. 4).
Innerhalb dieser Untersuchungen, aber noch ehe die mecha-
nistische Tendenz zu völliger Entschiedenheit gekommen war,
fallt ein kleiner ungedruckter Tractat ^), eingetheilt in drei
Sectionen, deren jede wieder aus Trinciples' und 'Conclusions',
^) Enthalten^ in einem Manuscript - Bande, bezeichnet Thilo-
sophical Tracts, coUected bj 7?homas Hobbes*, den ich im British
Museum fand (Harl. 6796); das hier bedeutete Stück trägt keine
464 F. Tönnies;
meist in kurzen Sätzen, besteht Hier ist noch die scholastische
Theorie der Species zur Erklärung der Sinneswahrnehmung
beibehalten; aber der Act der Wahrnehmung selber, sowie der
Act des Yerstehens sollen als Bewegungen der animalischen
Geister erwiesen werden, und diese werden als räumlich be-
wegt, d. i. empfangene Bewegung mittheilend bezeichnet; und
die Gegenstände der Wahrnehmung, als Licht, Farbe, Wärme
seien nichts als die verschiedenen Wirkungen äusserer Dinge
auf die animalischen Geister, durch verschiedene Organe; was
in der eigenthümllchen Weise begründet wird, dass wenn sie
den Species inhärente Qualitäten wären, Wärme auch gesehen
werden, Licht auch gefühlt werden müsste. Es ist unmöglich,
das Jahr zu bestimmen, in welchem dieser Tractat verfasst
wurde; er ist jedenfalls die früheste philosophische Arbeit des
Hobbes; er hat später behauptet, schon im Jahre 1630 dem
Grafen Wilhelm von Newcastle gegenüber „Licht für eine Ein-
bildung im Geiste'* erklärt zu haben, ^verursacht durch Bewe-
gung im Gehirn, welche Bewegung wiederum verursacht sei
durch die Bewegung der Körper, welche wir leuchtende nen-
nen' (Engl. Works ed. Molesw.VlI, p. 468: er ruft jenen Edel-
mann selber zum Zeugen dafür an). Im Verfolge dieser Ge-
danken gab sich dann Hobbes im Laufe der dreissiger Jahre
eifrigen Bemühungen um die mechanistische Behandlung der
Optik hin; welche eine lebhafte Förderung erhielten durch das
Erscheinen der Descartes'schen Dioptrique (1637). Hier fand
Hobbes auch eine der seinigen verwandte Ansicht über die
sinnlichen Qualitäten ; mit einer Polemik gegen die scholastische
Doctnn; vielleicht hat er erst nach diesem Vorgänge den Be-
griff und Ausdruck Species fahren lassen und erst von nun
an die Propagatipn der Bewegung vom Object durch ein
Medium zum Sinnesorgan als alleinige Ursache der Wahrneh-
mung angenommen. Uebrigens aber fühlte er sich zu einer
besondere Signatur; dass es aber von Hobbes «tamme, geht, —
abgesehen von dem Titel des ganzen Bandes — für mich aus dem
Inhalte und aus der Handschrift: hervor.
Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes. 465
Bekämpfung vieler einzelner Punkte jenes Werkes veranlasst;
Descartes erhielt seine Einv^ürfe durch Vermittlung Mersenne's
und beantwortete sie in dem hochfahrenden Tone, der ihm
eigen war, sobald er etwas wie Rivalen witterte; man findet
die Briefe, die sich hauptsächlich auf technisch-mathematische
Fragen beziehen, in den Ausgaben der Descartes^schen Correspon-
denz und im Y. Bande der Opera latina Hobbesii ed. Molesworth.
Aber in weitläufiger Ausfuhrung überliefert die Polemik des
Hobbes gegen die Descartes'sche Dioptrik ein zweiter un-
gedruckter Tractat, welcher in lateinischer Sprache das ganze
Gebiet der Optik behandelt^); von Interesse ist daraus etwa
Folgendes: er stellt hier seine eigene Theorie der sinnlichen
Wahrnehmung der Descartes'scben scharf gegenüber, da diese
den Gegenständen, z. B. den leuchtenden Körpern nicht eine
Bewegung, sondern nur eine Action oder eine Neigung zur
Bewegung zuschreibe; dies sei ohne Sinn, da mit dem Aus-
drucke sich keine Art von sinnlicher Vorstellung verbinden
lasse; und eine Tendenz zur Bewegung (conatus) sei nicht
anders denkbar denn als Theil der Bewegung selber, wenn
auch noch so geringen Quantums; Bewegung ohne bestimmte
Richtung gebe es nicht Hier steht Hobbes offenbar als con-
sequenter Vertreter des mechanistischen Gedankens gegen den
Rest des scholastischen Begriffs von potentiell Seiendem bei
Descartes. Es ist wiederum nicht zu sagen, in welches Jahr
dieses Manuscript zu setzen sei; ziemlich sicher aber doch vor
1644, da die Citate aus Descartes in einer lateinischen Ueber-
setzung gegeben sind , die mit der in jenem Jahre publicirten
gar nicht übereinstimmt Uebrigens hat Hobbes auch später
noch hervorgehoben, dass seine Wahrnehmungstheorie eben
wegen dieses Punktes von der Descartes'schen verschieden sei
(Engl. Works VH, p. 340).
10. Die Ereignisse der Zeit veranlassten, dass Hobbes kurz
vor dem Jahre 1640 an eine Ausarbeitung seiner moralischen
^) Enthalten in demselben Manuscript-Bande , wie der vorhin
genannte.
466 F. Tod nies: Anmerkungen üb. d. Philosophie des Hobbes.
und politischen Theorie, deren Grundzüge ihm wahrseheinlich
langst feststanden, heranging; er vollendete die Arbeit im Mai
jenes Jahres und nannte sie: Elements of law, natural and
politic ^).
(Fortsetzung im nächsten Heft.)
^) Sie wurde in vielen Abschriften verbreitet und 10 Jahre
später Hessen einige Verehrer des Verfassers ohne dessen Ein-
willigung die ersten la Kapitel des ersten Theiles unter dem Titel
^Human Natura', den Best des Werkes bald darauf u. d. T. 'De
corpore politico* im Buchhandel erscheinen; so getrennt befinden
sich jetzt beide Schriften in der Sammlung *T. H.'s moral and
political works', London 1750, und in der Gesammtausgabe *£nglish
works ed. Molesworth*, London 1835 ff. Vol. IV. Die erste ist je-
doch, wie mir eine OoUation mehrerer Manuscripte des ganzen Werkes,
welche sich im British Museum befinden, ergeben hat, nach einem sehr
fehlerhaften, zum Theil verstümmelten Exemplar gedruckt; der Text
der zweiten ist besser, aber doch gleichfalls an vielen Stellen cor-
rupt. Diese letztere hat im Wesentlichen denselben Lihalt, der zu-
erst im Jahre 1642 zu Paris lateinisch als „dritter Abschnitt der
Elemente der Philosophie: über den Bürger^' erschien.
Husum. F. Tönnies.
Bergmann's „Reine Logik'' und die ,,Erkenntniss-
fheoretisciie Logik'' mit ihrem angeblichen
Idealismus.
Es wird psychologisch erklärlich scheinen^ dass ich, je
mehr Bergmann mit mir in wichtigen Fragen übereinstimmt
und je mehr Anerkennung mir sein Werk zu verdienen scheint,
desto mehr Gewicht auf die Bifferenzponkte lege und den
Wunsch habe, auch diese, wo möglich, zu beseitigen. Hinzu-
kommt die Eigentbümlichkeit dieser Differenzen. Was er
nämlich abweichend von mir behauptet, will sich nach meinem
Dafürhalten mit dem^ was wir gemeinschaftlich lehren , nicht
vertragen, und so hätten wir in diesem beide Unrecht, wenn
er in jenem Eecht hätte. Daher meine Kampflust. Die fol-
genden Erörterungen wollen also nicht als Eecension der Berg-
männischen Logik gelten, sondern ausschliesslich als Angriff
resp. Yertheidigung gegen einen solchen ^ nur freilich als ein
Angriff^ welcher sich nicht nur mit Hochschätzung des Geg-
ners verträgt y sondern aus ihr entspringt. Üebrigens habe
ich in der Yertheidigung und Erläuterung meiner Ansichten
Bemerkungen nicht unterdrücken können, die nicht B. , son-
dern im Allgemeinen die principiellen Gegner meines Stand-
punktes treffen y zu welchen ich B. nicht rechnen kann. Sie
sind leicht herauszuerkennen.
B.'s Logik steht ganz auf metaphysischen Voraussetzungen.
S. 171 lehrt offen diese Abhängigkeit; S. 189 spricht von
„den metaphysischen Wurzeln der Bejahung nnd Yemeinung'^
und von „einer Natur der Dinge, welche den Grund für den
Gegensatz der Gültigkeit und Ungültigkeit der Yorstellungen
enthält''; und ähnlich S. 212, 216 f. u. a. v. 0. Ich wende
mich nicht gegen diese Ansichten selbst, sondern behaupte nur^
dass ihre Verwendung in B.'s Logik im Widerspruch steht mit
468 W. Schuppe:
dem Grundprincip , welches ei anerkennt, indem er, überein-
Btimmend mit mir^ den Grandbegriff der Existenz imBewusstsein
findet. Dass alles Sein, welches nur für den Anschauenden
ist, von ihm für Schein erklärt wird , während ich von jenem
ersten Begriffe der Existenz einen zweiten unterscheide, den
des blossen Objectseins, sei an dieser Stelle als minder
wesentlich ausser Acht gelassen. Ich frage nur, welchen
Sinn hat es, im Begriffe der Existenz diesen ersten absolut
sichern Anhalts- und Ausgangspunkt zu finden? überhaupt
einen solchen zu suchen? und zwar auf dem Gebiete des-
jenigen, was zwar nicht mit Händen greifbar ist, aber doch
unmittelbar erfahren wird? und was besagt die Gonsequenz,
welche B. anerkennt, däss in diesem eigentlichen Sinne
Existenz nur solches haben kann, was in gleicher Weise wie
wir sich selbst anschaut, d. h. Bewusstsein hat? Das ist nicht
Metaphysik, sondern Erkenntnisstheorie. Es sei mir gestattet,
den einzig vorhandenen Grund für dieses Verfahren in Erin-
nerung zu bringen. Wer es verschmäht, den lieben Gott oder
das Absolute oder die Materie zur Voraussetzung zu machen
und sich in erster Linie nach einem Begriffe der Existenz
umsiebt, hat schon im Princip die Erkenntnisstheorie als Fun-
dament anerkannt Aus ihr ergiebt sich sogleich, dass es ab-
solut sinnlos wäre, in abstracto nach den Merkmalen des
Existenzbegriffes zu suchen, um nachträglich darunter zu sub-
fiumiren, was diese Merkmale an sich erkennen Hesse. Die
Existenz ist kein den anderen Merkmalen der Dinge coordinir-
bares, kein gleich ihnen wahrnehmbares und inhaltliches Prä-
dicat, und da sie nicht einer von den gegebenen Wabr-
nehmungsinbalten ist, so kann der Inhalt des Existenzbegriffes
nur eine bestimmte Relation der Wahrnehmungsinhalte zum
Subjecte sein. Das weiss B. Cf. S. 158 — 161. Die Existenz eines
Gegenstandes ist ihm S. 42 sein Verknüpftsein mit dem vor-
stellenden Ich in der Einheit der Welt. Wie ganz anders
seine Wort« auch lauten, es kommt doch in der Sache darauf
hinaus, dass Existenz Bewusstsein und seinen Inhalt bedeutet.
Die eigne Existenz hat unnöthige Schwierigkeiten gemacht.
Man meinte, wenn ich nur insofern bin, als ich mich eben in
meinem Bewusstsein finde und habe, so sei das defijiiendum in
dem Possessivum vorausgesetzt und das seiende Subject sei in
infinitum immer wieder seinem Bewusstseinsinhalte , in wel-
chem seine Existenz liegen solle, gegenübergestellt und somit
ausserhalb desselben. S. 89 argumentirt B« ganz ebenso.
Bergmann*8 Reine Logik etc. 469
„Wenn wir nichts^ sagt er, was ein anderes Dasein als das-
jenige eines Gebildes (diese Bezeichnung hat Nebenbedeutungen^
weiche nicht in meinem Gedankengange liegen) unseres Be-
wusstseins führe, ohne Widerspruch denken hönnen, so darf
auch unser Bewusstsein selbst nur als Inhalt unseres
Bewusstseins gedacht werden und ebenso un^er Bewusstsein
von unserem Bewusstsein u. s. f. in inf. Benn wenn wir
diese Beihe mit einem uubewussten Bewusstsein beschlössen,
so verwickelten wir uns in den Widerspruch, dass wir von
einem Bewusstsein, über welches wir dächten und welches wir
als Object unseres Denkens in unserem Bewusstsein hätten,
prädicirten, es sei nicht darin." Das wäre nun freilich ein
Widerspruch, aber ich verwickle mich nicht in ihn und be-
streite andererseits auch, dass der von B. aus meiner Voraus-
setzung gefolgerte Rückgang in inf. die deductio ad absurdum
ist, für welche er ihn hält. Auch das bekannte Herbart'sche
Kunststück beruht auf solchem Rückgange in inf. und B.
beseitigt dasselbe in einer meines Erachtens nicht stichhaltigen
Weise. Wenden wir uns zuerst zu diesem. Ich bemerke im
Voraus, es handelt sich um die principielle Frage, woher wir
ein Kriterium für Denkbarkeit und TJndenkbarkeit haben, also
um das Fundament der Erkenntnisstheorie, und verweise
(ausser a. St.) auf S. 697 — 699 meiner Erk. Logik. „Man be-
achtet nicht, heisst es S. 697, dass auch das bewusste Ich
als Subject, ohne seinen Bewusstseinsinhalt gedacht, nur ein
Abstractnm ist, sondern denkt es sich, auch unter Abstrac-
tion von dem Bewusstseinsinhalte (ich muss hier hinzusetzen,
„und von sich als dem Objecte, als welches es sich in und
mit seinen Bestimmungen findet'^ ^^^ ^in selbständig subsisti-
rendes concretes Einzelding. Man lässt nicht von der Nei-
gung, dem Bewusstsein Vorschriften zu machen und es sich
ganz und gar nach Analogie der körperlichen Dinge, welche
es in seinem Inhalte vorfindet, resp. aus gegebenen Sinnes-
eindrücken denkend schafft, vorzustellen. Nach diesen soll es
sich richten. Dann werden die Objecte als wirklich existi-
rende Dinge (und in unserem Falle auch das Ich als sein
eigenes Object) auf die eine Seite gestellt und das Bewusst-
sein (resp. das Ich als Subject) auf die andere, so dass sie,
wie etwa zwei Steine oder zwei Bäume neben einander stehen
und sich räumlich gegen einander abschliessen.*' Es ist ab-
solut dieselbe Auffassung, welche die unlösbare Schwierigkeit
wie das Denken aus sich heraus zu den Dingen kommen und
sie, gewissermassen in seinen Bereich ziehend, zu seinen Ob-
470 W. Schuppe:
jecten machen könne, missyerständlich geschaffen hat, nnd
welche (von dem ^,räumlich^^ am Schlüsse der citirten Worte
sehe ich natürlich ab) den Widerspruch im Ichbegriffe ge-
funden hat. Dass das Bewusstsein das Ich als Subject und
als Object zeigt, soll nothwendig machen, dass jenes Subject
um denkbar zu sein, durch ein Object und jenes Object durch ein
Subject ergänzt werde, was natürlich in inf. so fortgehen
müsste, wenn die erste Forderung der Ergänzung überhaupt
richtig wäre. Nachdem B. diesem Subject-Object m. E. irr-
thümlich den Begriff der causa sui, als derselben Beurtheilung
unterliegend, zur Seite gestellt hat, föhrt er Seite 80 fort:
„Wollte jemand sagen, dem zuerst gesetzten Subject-Objecte
sei weder ein Subject vor- noch ein Object nachzusetzen, indem
das Subject, auf welches das zuerst gesetzte Object zu be-
ziehen sei, eben mit diesem identisch sei, und ebenso das Ob-
ject, auf welches das zuerst gesetzte Subject zu beziehen sei^
identisch mit diesem, so würde er damit Unmögliches zu
denken zumuthen. Ebenso wenig wie ich einen zugleich
tragenden und getragenen Stein zu denken im Stande bin,
ohne ihn auf etwas zu beziehen, was er trägt, und auf etwas,
wovon er getragen wird, kann ich es umgehen, über die
Setzung, die ich zuerst im Begriffe von Ich ffnde, nach beiden
Seiten hin hinauszugehen.*' Nach diesen beiden Citaten wird
man wenigstens zugeben müssen, dass ich die Ansicht meiner
Oegner im Voraus richtig, selbst bis auf den gewählten Ver-
gleich richtig, gekennzeichnet habe. Die vermeintliche Denk-
unmöglichkeit, und die Nothwendigkeit jener Ergänzung ist nur
vorhanden, wenn man das Ich als Subject und das Ich als
Object einander als concreto Existenzen gegenüberstellt, wie
zwei Steine. Aber es ist das nun einmal die Art des Be-
wusstseins, dieses mit nichts anderem Vergleichbaren, des
grössten, des einzigen Wunders, dass es Momente in sich
zeigt, welche sich durchaus gegenseitig fordern und ihrem
Begriffe nach einschliessen. Ob das möglich ist oder nicht,
wonach will man das beurtheilen? Wenn Bewusstsein that-
sächlich vorhanden ist, so ist es möglich, und es heisst die
Erkenntnisstheorie umkehren, wenn man, was ihm möglich
sein soll, danach bemessen will, was den Steinen möglich ist.
Wer diesen Massstab zum principiellen macht, kommt über-
haupt nicht zum Bewusstsein, sondern muss nach Art der
Materialisten dabei verharren , unser Denken mit räumlichen
Bewegungen ; das Bewusstsein mit einer vermutheten in sich
zurückkehrenden Bewegung, das Ich mit seinem Leibe zu
Bergmannes Reine Logik etc. 471
identificiren. Ist denn B. consequent, wenn er die Beseitigung
jenes Widerspruches S. 82 darin findet, ,,da8s das Object,
welches zum Subject gehört, und ebenso das Subjeot, welches
zum Objecte gehört, ohne Aufhebung der Identität beider
mittelst des Zeitbegriffes geschieden sind?'' Ich will mich auf
eine specielle Polemik gegen diesen Gedanken nicht einlassen,
nur das betone ich^ dass diese Möglichkeit doch gewiss auch
nicht den körperlichen Bingen abgesehen ist. Sie ist gegen-
über dem Verhalten dieser letzteren gerade so undenkbar, wie
die^ dass das Subject, im Acte des Bewusstseins sich mit allen
Bestimmtheiten in seinen Zuständen als Object findend, mit die*
sem Objecte identisch ist, und dass das Subject die Ergänzung
durch ein Object, welche es seinem Begriffe nach verlangt,
eben in diesem Objecte findet, welches es selbst ist, und um-
gekehrt. Gegen die Logik verstösst dieses wunderbare Ver-
hältniss erst dann, wenn man das Ich als Subject und das
Ich als Object wie selbständige Dinge denkt, welche, jedes
für sieh in den Bewusstseinsinhalt aufgenommen und wohl unter-
schieden, hinterdrein identificirt werden sollten. Sie werden
aber von vornherein schon mit der Bestimmung aufgenommen
und fixirt, dass jedes ohne das andere undenkbar ist, dass
dieses unterschiedene Subject und Object nur abstracte
Momente des einen untrennbaren Ganzen sind, dass dieses
Subject, um zu sein, was es ist, nicht nach dem allgemeinen
Begriffe eines Subjectes, eben blos ein Object, und das Object
ein Subject verlangte, so dass es genügte, wenn man jenes
durch den allgemeinen Gedanken eines Objectes, dieses durch
den eines Subjectes ergänzt, sondern dass dieses* Subject eben
sich selbst als Object verlangt und dieses Object sich selbst
als Subject. Logik wird durch dieses Grundfactum eben erst
möglich. — Es ist offenbar eine Consequenz derselben Grund-
auffasBung^ wenn B., wovon wir oben ausgingen^ S. 89 gegen
die Lehre, dass, was wir denken, eo ipso Object und somit
innerhalb, nicht ausserhalb des Bewusstseins sei, den Einwand
erhob, dass ja dann unser Bewusstsein selbst nur als Inhalt
unseres Bewusstseins gedacht werden dürfe u. s. f. in inf.,
was eine richtige deductio ad absurdum sei. Dem gegenüber
erlaube ich mir nur die hierauf bezüglichen Worte aus meiner
Erk. Logik S. 697 herzustellen. „Wenn also die Annahme
wirklicher Existenz anderer Ich durchaus einen Transscensus
involviren soll, so kann der Grund hiervon doch nur die An-
sicht sein, dass wirkliche Existenz es ihrem Begriffe nach in
sich schliesse, ausserhalb der Erscheinungen und des Gedachten,
472 W. Schuppe:
d. h. also überhaupt ausserhalb unseres Bewusstseinsinhaltes
zu sein. Ich will nun nicht aufs Neue darauf hinweisen^ dass
diese Bestimmung die Existenz principiell zu einem Laute ohne
Sinn und Inhalt macht, und femer darauf, dass dann auch
wohl eines jeden eigene Existenz, die doch nur in seinem Be-
wusstsein besteht oder von der er doch nur durch und in sei-
nem Bewusstsein weiss, eine „blos" gedachte, aber keine wirk-
liche Existenz ist, sondern die Grundvoraussetzung aufdecken,
Ton welcher jene Bestimmung nur die unvermeidliche Conse-
quenz ist,'* worauf die oben schon citirten Worte folgen. Aber
es ist so wenig nöthig, unser Bewusstsein selbst immer wieder
nur als Inhalt unseres Bewusstseins zu denken, als das Fac-
tum des Bewusstseins, oder, um mit B. zu reden, der Selbst-
anschauung den unerträglichen Widerspruch in sich schliesst,
welcher in dem Auseinander treten der beiden Momente dessel-
ben, des Subjectes und des Objectes, und ihrer Identität ge-
funden worden ist, und nur von demjenigen Standpunkte aus
gefunden werden kann, welcher das Bewusstsein principiell
nicht als Urthatsache, als Fundament und Ausgangspunkt an-
erkennt, sondern — von unser n Erfahrungen an den äusseren
Dingen ausgeht und diesen Massstab dann an die unbegreif-
liche Erscheinung des Bewusstseins anlegt, um sie natürlich
unbegriffen zu lassen. B. aber rechne ich es als Inconsequenz
an, letzteres principiell zu verneinen und doch die Conse-
quenzen des verneinten Standpunktes zu acceptiren. B. argu-
mentirt, was real sein solle, könne nicht Bewusstseinsinhalt
sein, denn sonst wäre ja das Ding von allersicherster Realität,
nämlich unser eigenes Bewusstsein Bewusstseinsinhalt, und
ich, die Meinung, welche Realität nur ausserhalb des Bewusst-
seins denken lässt, erweise sich schon dadurch als unhaltbar,
dass ja sonst unser Bewusstsein selbst, von dem wir doch,
laut einfachstem Sinne des Wortes, nur durch es selbst wissen,
indem wir uns wissen und anschauen und in dem unsere
Existenz besteht, nicht die verlangte Realität hätte. Ich stütze
mich auf das unläugbare Factum, um diejenige Ansicht, nach
welcher es nicht bestehen könnte, als unhaltbar zu kenn-
zeichnen, B. stützt seine Ansicht darauf, dass ja sonst jenes
Factum, in welchem er eine Absurdität findet, zugestanden
werden müsste. Nun könnte ich zu der Untersuchung über
den Existenzbegriff zurückkehren, welche ich um des erörter-
ten Einwandes willen abbrechen musste. Aber ich will erst
noch B.'s Polemik gegen meinen angeblichen Idealismus, der
zum Solipsismus führe, und seine Yermeidung des letzteren^
Bergmann's Reine Logik etc. 473
welche mit jenem Einwände im engsten Zusammenhange steht,
prüfen.
Dass nach dem überlieferten Sinne des Wortes meine
Lehre nicht als Idealismus bezeichnet werden kann^ kann ich
hier unmöglich aufs Neue ausführen. Es hängt eben Alles
an den Begriffen subjectiv und objectiv, ideal und real, wel-
chen ich festen Sinn zu geben versucht habe. Das Ergebniss
ist, dass wenigstens nach meiner ausführlich begründeten Auf-
fassung der Sache die Begriffe Bewusstseinsinhalt - sein und
Eealität sich nicht ausschliessen. Bewusstsein habe ich mit
Denken im A.llgemeinen identificirt und die besonderen Arten
und Bestimmungen des Denkens können somit bei mir nicht
aus diesem ihrem allgemeinen Charakter heraustreten. Es
kann also keinem Zweifel unterliegen, dass ich Alles, was Ob-
ject des Denkens ist, eo ipso zum Bewuestseinsinhalte rechne.
B. heftet seine Polemik an dieses Wort. Aber auch wenn ich
es Preis gäbe^ so bliebe doch auch das AUerrealste und Selb-
ständigste, wovon er spricht und was ich mit ihm denke,
immer noch Object unseres Denkens. Und wenn aus der blossen
Bestimmung Bewusstseinsinhalt Solipsismus gefolgert werden
kann, so kann er sicher ebenso gut aus dem Objektcharakter
gefolgert werden. Seine Unterscheidung leistet meines Erachtens
nicht, was er von ihr .erwartet, aber sie braucht es auch
glücklicher Weise nicht zu thun. Denn wenn er auf meine
Begriffsbestimmungen und Unterscheidungen eingeht, so wird
er die Befürchtung des Solipsismus, gleich mir, für gänzlich
ungerechtfertigt halten. Die gemeinhin behauptete Unverein-
barkeit der Begriffe Bewusstseinsinhalt (in meinem Sinne) und
Eeales kommt nur daher, dass man meinem Begriffe des Be-
wusstseins, ohne es zu merken, den überlieferten Begriff der
Seele substituirt, wobei alles Das, was ich eifrig direct be-
kämpfe, stillschweigend wieder wie unerschütterliche Prämisse
behandelt wird , nämlich dass „innerhalb des Bewusstseins^'
gleich sei „innerhalb der Seelenmonas^' und so subjectiv, etwa
wie ein blosses Gefühl, alles wirklich Existirende aber eo ipso
ausserhalb der Seele, in welcher natürlich niemals wirkliche
Dinge, sondern blos luftige Abbilder oder Zeichen von ihnen
Platz haben. Zum Yerständniss meiner Ansicht ist vor Allem
nöthig, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass das
Ganze des Bewusstseins unmöglich und undenkbar wäre, wenn
es keinen Inhalt hätte, d. h. also wenn das Ich als Object
wieder nur das leere Ich wäre, als welches das abstracto Be-
griffsmoment des Ich als Subject zu denken ist, dass also das
Vierteljahrssclrnft f. wiasenscbaftl. Philosophie. III. 4. 31
474 W. Schuppe:
Ich seiner nur hewusst werden, d. h. sich selbst finden kann
in seinen Zuständen und Bestimmungen, in seinem Leibe in
der räumlich und zeitlich ausgedehnten Welt. Diese partici-
pirt daher an der Bealität, welche ich (und im Princip auch
B.) im Bewusstsein finde, weil sie conditio sine qua non,
gradezu ein , Begriffsmoment desselben ist. Und nun ist zu
unterscheiden. Bei der unendlichen Yerschiedenartigkeit der
Bewusstseinsinhalte , trotz welcher unaufhörlich die Identität
des Ich, als welches das Ich (als Subjeot) sich in ihnen findet,
festgehalten wird, tritt diese Identität natürlich als das wesent-
liche Charakteristicum hervor, und so wird der Begriff des
Bewusstseins gefasst, bei welchem zwar nicht die Bestimmung
getroffen wird, dass jeder Inhalt weggedacht werde, wol aber
an den Inhalt gar nicht gedacht wird, sondern ausschliesslich
das blosse Sich -wissen ins Auge gefasst wird. Dass dieses
aber wieder ein abstractes Moment ist, kann den landläufigen
Miss Verständnissen gegenüber gar nicht genug betont werden.
Dieses blosse Sich -wissen oder Seiner -bewusst- sein ist, ohne
Bewusstseinsinhalt gedacht, grade so unreal und abstract, wie
das blosse Wissen ohno Object. Das Bewusstsein in diesem
Sinne lässt als Inhalt seines Begriffes nur den formalen leeren
Ichbegriff erkennen und ^wird somit eigentlich zu dem ab-
stracten Momente des Ich als Subject (dem Subject xorr
€^o%ijv). So kommt es, dass dem Ich begreiflicher Weise ein
Nichtich, dem Bewusstsein ein Ausserhalb des Bewusstseins
gegenübergestellt wird. Aber wer kann denn verhindern, dass
wir den Blick von jener allerdings sehr nahe liegenden und
deshalb jedem sehr geläufigen Abstraction zu dem thatsäch-
lichen Ganzen hinwenden und verstehen, dass Alles, was wir
in und um uns finden, als Inhalt des Bewusstseins, als be-
griffliches Moment desselben zum Ich gehört? Weil die ein-
zelnen Inhalte wechseln und so verschieden sind, deshalb,
meint man, ist jeder eben zum Begriff des Bewusstseins un-
wesentlich, da es auch ohne ihn existiren kann. Aber doch
nur die specifischen Differenzen dieser Inhalte sind für den
abstracten Allgemeinbegriff Bewusstsein unwesentlich, nicht
aber das allgemeine Moment des Inhaltes überhaupt, und auch
nicht die specifischen Bestimmtheiten für das bestimmte Indi-
viduum (Erk. Log. S. 221. 82 u. 83. 568). Und warum will
man ferner nicht auf die in diesem so grell hervortretenden
Unterschiede achten, um sogleich zu finden, dass der Schein
eines Ausserhalb des Bewusstseins, welches doch gewusst würde,
eben nur auf einige dieser Unterschiede zurückzuführen ist?
Bergmann'8 Beine Logik etc. 475
Da lässt sich das Fühlen und Wollen und das Denken als
solches von seinen Objecten unterscheiden ^ ohne dass diese
dadurch aufhörten Bewusstseinsinhalt zu sein^ und ebenso lässt
sich in diesem jegliches nach seiner Abhängigkeit oder Un-
abhängigkeit von jeglichem Anderen bestimmen, so können wir
<die Denkinhalte unabhängig finden von • unserem Fühlen und
Wollen und von allen unseren individuellen Eigenthümlich-
keiten, so unterscheiden wir den eignen Leib von Allem, was
ihn umgiebt; und so auch die blosse Baumerfülluzig eines an-
deren Menschenleibes von dem^ was wir als ein Ich; welches
«ich in ihm finde, erschliessen. Dieses ist vollste Bealität^ —
es wird ja als das, was wir selbst sind, erschlossen, — und
doch im Inhalte des Bewusstseins des Schliessenden , nicht
ausserhalb. Ich bin £. dankbar, dass er mir Gelegenheit ge-
geben hat, hier, nach seiner Anleitung, eine üngenauigkeit
meiner Darstellung in der £rk. Log. zu verbessern. Dort be-
tone ich immer nur das Object-sein, welches = Bewusstseins-
inhalt-sein sei, und erwecke somit den Schein, als müsse, auch
nach meiner Voraussetzung ^ was als zugleich Subject-sein zu
dem Object-sein hinzugedacht wird, mit der Bestimmung,
ausserhalb des Bewusstseins versehen sein. . Allein dieses zu-
gleich Subject-sein ist auch gedacht, Object meines Denkens
und deshalb in meinem Sinne des Wortes Bewusstseinsinhalt.
Es bedarf also der ausdrücklicheren^ bestimmteren Unterschei-
dung der Bewusstseinsinhalte. Es handelt sich um den Begriff
der Existenz und dem entsprechend um den bestimmten Sinn
der Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Die Sinneseindrücke
(darunter verstehe ich die schon localisirten Empfindungen),
welche als unmittelbar Gegebenes, als Empfindungsinhalt auf-
treten, können, wenn wir von dem Bewusstsein gänzlich ab-
strahiren, dessen Inhalt sie sind, so wenig gedacht werden, als
das Specifische einer Farbe, z. B. des Eothen , noch denkbar
ist, wenn wir Dasjenige, was das generische Moment der
Farbe ausmacht, nicht mitdenken dürfen. Der Begriff der
Existenz dieser Data ist ohne das empfindende Subject ein
inhaltsloser Laut. Wenn ich aber nach erfahrungsmässig con«
statirtem Causalzusammenhange aus solchen Daten auf ein
Etwas schliesse, dessen Begriff auch in einer Erfahrung, näm-
lich in meinem Bewusstsein gegeben ist, nämlich auf ein Ich,
welches ganz, wie ich, sich in seinem Leibe und in dieser
Welt findet, welche deshalb in derselben Weise Inhalt seines
Bewusstseins sind, so verliert der Begriff seiner Existenz eben
deshalb noch nicht seinen Inhalt, wenn ich auch davon ab-
31*
476 W. Schuppe:
strahire, dass ich es erschlosseii habe. Ich würde zwar nichts
von ihm wissen^ wenn ich es nicht erschlossen hätte, und
wenn ich die klare Fiction durchführen will; dass ich es nicht
erschlossen habe, so kann ich auch nicht mehr festhalten, das»
ich von seiner Existenz weiss, aber sein Begriff hat doch auch
dann immer noch einen Inhalt. Natürlich muss ich diesen
Inhalt denken, um yon dieser Existenz sprechen, um sie be-
haupten zu können, aber das ist ganz so wie die Abhängig-
keit meiner eignen Existenz Ton meinem Mich -selbst -denken.
Darum handelt es sich nicht, sondern nur um den wichtigen
Unterschied zwischen diesen Existenzen und den Sinnes-
eindrücken, dass, nicht zwar die thatsächliche Anerkennung
dieser Existenzen, wohl aber der Inhalt dieses Begriffes von
der subjectiven Thätigkeit meines Schliessens auf ihn un-
abhängig ist, während der Begriff der Sinneseindrücke zugleich
mit der Abstraction von dem Subjecte, dessen Bestimmtheiten
sie sind, seinen ganzen Inhalt verliert, also so undenkbar
wird, wie das Specifische ohne das Qenerische. Ihr Begriff
ist also inhaltlich abhängig von dem des Empfindens, in wel-
chem ihre Existenz besteht, während die erschlossenen Ich
der Nebenmenschen nicht in ihrem begrifflichen Inhalte, son-
dern nur thatsächlich von dem Erschlieesen abhängen. That-
sächlich existiren also können meine Nebenmenschen allerdings
nicht ohne mich. Das erläutere ich durch B.'s eigene Worte
S. 88, weil „zur Ichheit das Verknüpf tsein mit anderen Wesen
zu einer höheren Einheit, der Einheit der Welt gehört/', ein
Gedanke, welchen ich mehrfach ausgesprochen hab^, der übri-
gens wohl von Niemandem für ganz neu gehalten werden wird
und der, — worauf ich Gewicht lege — nicht etwa nur aua
meiner erkenntnisstheoretischen Ansicht sich als ein Postulat
ergiebt, sondern ganz unabhängig von dieser auch von anderen
Seiten sich darbietet und ihr zu Hilfe kommt. Die erschlos-
senen anderen Ich gehören also, als mein Bewusstseinsinhalt,
zu mir und sind mir grundwesentlich, so wie ich zu ihnen.
Dasselbe ergiebt sich auch in einer den gefürchteten Solip-
sismus ausschliessenden Weise aus dem Begriffe der Noth-
wendigkeit, welche allen Bewusstseinsinhalt beherrscht, worüber
ich das Oapitel in meiner Erk. Log. zu vergleichen bitten
muss. Es kommt schliesslich darauf hinaus, dass ich, nicht
von metaphysischen, sondern, — was überaus wichtig ist —
von erkenntnisstheoretisch - logischen Voraussetzungen aus, die
Welt durchaus nur als ein Ganzes auffassen kann (Erk. Log»
§151. S. 78). — Der erörterte Unterschied im Objectsein
Bergmannes Keine Logik etc. 477
nnd somit im Abhängigkeitsyerhältniss hat auch schon über
die Bedeutuijig der B/schen Begründung entschieden.
Ich hatte erklärt, dass die Begriffe Bewusstseinsinhalt und
Realität einander nicht ausschliessen, B. erklärt, dass sie ein-
ander doch ausschliessen und zwar, weil er Realität mit Selb-
ständigkeit, Bewusstseinsinhalt-sein mit Unselbständigkeit gleich-
setzt, und zu dieser Qleichsetzung kommt er, weil er unter
Bewusstseinsinhalt nur die Objecto der Anschauung versteht^
nicht die des Denkens , und jene S. 91 ausdrücklich so be-
stimmt, „ein innerhalb des- Bewusstseins sei eben ein Gebilde
des Bewusstseins, von welchem nichts übrig bleibt , wenn man
Ton der Form^ die ihm das Bewusstsein gegeben hat, ab-
fitrahirt".
Hier zeigt sich, dass 6. zu der Consequenz meines Solip-
sismus nicht von meinen, sondern von seinen Voraussetzungen
aus gekommen ist. Die Einschränkung 4es Bewusstseinsinhalts
auf die angegebenen „Gebilde^' ist mit !N^ichts bewiesen, aber
diese Bestimmung ist auch in sich selbst sehr anfechtbar. Sie
lässt sich ja nicht einmal auf die Sinnebeindrücke anwenden,
Yon deren Unselbständigkeit 6. doch überzeugt ist. Diese
sind doch gewiss nicht eine Form^ welche das Bewusstsein
irgend einem Stoffe gegeben hat. Die Verwandlung von An-
regungen, welche die Seele empfängt, in localisirte Sinnes-
empfindungen ^ setzt ganz und gar den überkommenen
Seelenbegriff voraus, welchen 6. mit mir bekämpft, und hat
mit dem Bewusstsein nichts zu thun. Sehen wir uns nach
Formen um, welche das Bewusstsein einem Stoffe giebt^ so
bietet sich nur die Einheit, zu welcher es die Sinnesdata zu-
sammenfasst, in welchen Zusammenfassungen die Dinge von
empirischer Realität bestehen. Es scheint mir aber nicht
richtig, dass von diesen nichts übrig bleibe, wenn man von
dieser Form abstrahirt, und ebenso wenig, dass, auch wenn es
so wäre, hieraus die Unrealität derselben folge. Jedenfalls
bleiben die blossen Sinneseindrücke als der Stoff übrig, aus
welchem die Dinge geformt waren, und wenn auch von den
Dingen als solchen nichts übrig bleibt, d. h. eben keine Dinge
mehr da sind, so überlege man doch, was das heisst, ^,wenn
man abstrahirt^M Bei B. ist die Dingheit das Werk der ge-
heimnissvollen Anschauung, bei mir ist sie das Ergebniss einer
Reihe von Denkoperationen auf Grund des Oausalitätsprincipes.
Diese Denkacte vollziehen sich mit absoluter ITothwendigkeit
und sind deshalb objectiv gültig^ und „wenn man von ihnen
abstrahirt^S so kann es doch nur geschehen mit dem klaren
478 W. Schuppe:
BewuBstsein , dass man als nicht seiend oder nicht geschehen
fingirty was unmöglich nicht sein oder nicht geschehen kann.
Dasselbe gilt von den Schlüssen auf die Existenz anderer
Ich. Wenn die Einbeziehung dieser in den Bewusstseinsinhalt
Bedenken an ihrer Bealität hervorzurufen geeignet wäre, sp-
müsste nach meiner Auffassung der Sache dasselbe Bedenkeii
auch die Dinge von empirischer Eealität treffen, und wenn
B. nur an jenem Anstoss nimmt, so würde ich von meinem
Standpunkte aus auch an diesem in gleichem Grade Anstoss
nehmen. Ich veranschauliche meinen Begriff vom Bewusst-
seinsinhalte und der Realität des darin Enthaltenen folgender*
massen. Man denke sich in der Mitte einer Linie ein Zeichen
für das Subject, welches nach der gemeinen Auffassung als
Seele gedacht wird, bestehend in einem stark hervortretenden
schwarzen senkrechten Strich, welcher das Bewusstsein be-
deutet. Dieses ist, nach meiner Darstellung, ohne die Welt
seiner Objecte, ein Abstractum, der Begriff des Subject-Objects^
während die gemeine Auffassung bei seiner sog. substantiellen
Verschiedenheit von den Objecten es auch ohne diese wie
eine concreto Existenz darstellt. Von diesem senkrechten
Striche aus gehen nach beiden Seiten feiner gezeichnete Halb-
kreise, welche als der Inhalt des Bewusstseins Dasjenige um-
fassen, was Zugestandenermassen nur psychische Eegung ist^
die Gedanken, Gefühle und Willensacte. Zur Bezeichnung der
Eealität der Aussenwelt werden nun irgend welche Gestalten
als die Welt der Dinge und Mitmenschen rechts und links
neben diesen Kreis gestellt. Der Idealismus, welchen ich ab-
lehne, streicht diese aus, indem er diese Dinge für blosse Ge-
bilde der Seele erklärt, und setzt irgend welche Andeutungen
derselben in den zuerst beschriebenen Kreis hinein. Ich hin-
gegen lasse sie in ihrer Stellung unberührt, ändere auch
nichts an der Bedeutung derselben, sondern bekämpfe den
Seelenbegriff, hebe die Halbkreise auf, welche die Abgeschlossen-
heit der Seele als einer Substanz darstellen sollten und lasse
nach beiden Seiten hin die ganze Fülle von Objecten, er-
schauten und erschlossenen, durch Linien, welche von den
Endpunkten der Senkrechten ausgehen, umfasst sein. Die
Verschiedenheit der Stellung und Bedeutung dieser Inhalte
graphisch daxzustellen, dazu will ich meine Phantasie nicht
anstrengen. Nur andeuten will ich, dass innerhalb dieses
Ganzen die Verbindung und Zugehörigkeit der Sinnesdaten zum
Bewusstsein in anderer Weise als die kategoriale Function,
wodurch sie zu Dingen werden, und wieder in anderer Weise
Bergmannes Reine Logik etc. 479
die reproducirten Yorstellungen , die abstracten Begriffe, und
die Gefühle und Willensregungen veranschaulicht werden könn-
ten. Jedes erschlossene Ich im Inhalte des Bewusstseins ist
natürlich ein gleiches Centrum und umfasst alles Andere in
derselben Weise. Diese Darstellung hat natürlich nur den
Zweck und nur den Werth, meine Auffassung gegen den Vor-
wurf des Idealismus und mit ihm des Solipsismus zu sichern.
Sie basirt nur auf den erkenntnisstheoretischen Begriffen des
Subjectes und des Objectes und ihrer absoluten Zusammen-
gehörigkeit und hat auch nur den Werth, die erkenntnisstheo-
retische Grundfrage nicht eigentlich zu lösen , sondern durch
Aufdeckung des Missyerständnisses, welches ihr zu Grunde
liegt, zu beseitigen. Metaphysische Einsicht soll und kann sie
nicht gewähren, aber sie könnte als die gesicherte Grundlage
für metaphysisch - speculative Versuche benutzt werden. Es
kümmert mich also auch gar nicht, ob sie sonst noch von ir-
gend welcher Verwendbarkeit ist, und ich bitte meine Gegner,
nur die Fragen zu unterscheiden, 1) ob sie an sich wahr ist
und 2) ob sie fruchtbar ist. Gegenwärtig habe ich nur ein
Interesse, ihre Wahrheit zu behaupten, gebe sie gar nicht als
eine Erklärung aus, sondern nur als präcisen unab weislichen
Ausdruck für den factischen Sachverhalt. Ob es nützlich ist,
diesen anzuerkennen, will ich nicht erörtern und verweise auf
die ausführlicheren Erwägungen und die Zurückweisung der
vermutheten Einwände in meinem Buche.
Ich kehre nun zu meinem ursprünglichen Gedankengange
zurück, welchen ich durch die Beseitigung von Einwänden
unterbrechen musste. Es handelte sich um die Bedeutung und
Consequenz davon, dass B. im Existenzbegriff einen festen
und klaren Anhalts- und Ausgangspunkt suchte und denselben
im Bewusstsein, d. i. in der eignen Existenz fand. Eine kurze
Erwägung des Existenzbegriffes selbst sollte uns zeigen, welche
Voraussetzungen diesem Verfahren nothwendig zu Grunde
liegen, und jene Erwägung hatte uns so weit geführt, dass
alle Existenz in einer Belation zum Ich bestehe. Die eigne
Existenz haben wir nur im Bewusstsein, d. i. in der Selbst-
anschauung, d. i. in dem Sich-selbst-ünden , sich selbst Object
sein, — einem mit nichts Anderem vei^leichbaren und erklär-
baren Vorgang. Die Existenz aller andern Dinge aber ist
ganz klar auch in B.'s Sinne eine Relation auf das Ich, wie
es sich in seinen Zuständen , mit seinen Bestimmungen als
seinem Bewusstsein sinhalte findet. Demnach ist» evident, dass
die blosse „Eelation^^ unmöglich für sich allein den Inhalt des
480 W. Schuppe:
ExieteBzbegriffes ausmachen kann^ so wie ja anch die blosse
Existenz nicht existirt, d. h. ein ganz leerer Begriff ist, son-
dern dass nur irgendwie Beschaffenes existirt und dass somit
auch der Begriff der Relation der allgemeinsten Vorstellung
und Andeutung des Eelatums nicht entbehren kann. Mit an-
dern Worten: Eine eigentliche Definition von Existiren iat
unmöglich, an Stelle der Definition tritt sofort die Angabe der
Arten mit ihren charakteristischen Unterschieden, und zwar
sind es die obersten, welche eine vollkommene Eintheilung
darstellen, mit der absoluten Gewissheit ^ dass nichts ausge-
lassen ist, wenn wir Existenz nur als Bewusstsein und Be-
wusstseinsinhalt (natürlich in meinem, nicht in B's Sinne) auf-
fassen, und letzteren sofort in das erschlossene fremde Be-
wusstsein und das unmittelbar Gegebene der Sinne eintheilen.
Das heisst aber nichts Anderes^ als im Interesse er-
kenntnisstheoretischer Grundlegung sich an die
TJrthatsachen der innersten Erfahrung halten
und diese anerkennen. "Wenn nun auch B. über die
Bedeutung des Wortes Bewusstseinsinhalt und über Anschauung
und Denken anderes lehrt^ als ich, so steht er doch schon da-
durch, dass er keine Existenz kennt, die weder Object noch
Subject wäre, sondern nur Bewusstsein und solches, was in
ihm ist, ganz und gar auf dem dargelegten Standpunkte und
hat ihn, ganz so wie ich ihn als den einzigen Rechtsgrund
für seine Annahme erörtert habe^ vorausgesetzt. Erkennte er
ihn nicht as, so wäre letztere Annahme willkürlich, so wäre
sie Dogma und unbeschadet ihrer materiellen Wahrheit in
Hinsicht auf die Methode grade so viel werth, als wenn jemand
sein Philosophiren mit der Mittheilung eröffnete: ,,Es giebt
einen Gott, welcher Himmel und Erde geschaffen hat", oder: „Es
giebt unräumliche Reale von absoluter Einfachheit!" u. dergl.
Ich zweifle demnach nicht daran, dass B. in der That jenen
Standpunkt principiell anerkennt, mache ihm nun aber den
Vorwurf, dass er ihn nicht consequent festhält.
Die oben verhandelten Einwände , deren Erledigung un-
sere Erörterungen unterbrach, enthalten schon diese Inconse-
quenz. Vor Allem aber ist der Antheil, welchen die Meta-
physik an seiner Logik hat, meines Erachtens ganz und gar auf ihre
Rechnung zu setzen. Alles Dasjenige ^ um dessen willen es
sich eigentlich allein verlohnt, Logik zu treiben, d. i. die Er-
klärung des Begriffes des Dinges mit seinen Eigenschaften
und, was es heisse, ein Prädicat auf ein Subject beziehen, wird
der Metaphysik überwiesen. Gleich der erste Schritt ist
Bergmann's Reine Logik etc. 481
charakteristisch. Jener Standpunkt Hess aus dem nach-
gewiesenen Grunde nur Bewusstsein als Existenz setzen.
Yerträgt es sich aber mit ihm^ wenn es nicht der Erfahrung
bedarf, nicht des nur erfahrungsmässig constatirbaren Zusammen-
hanges; um bewusste Existenzen anzunehmen? Die Phänomene
sind B. eo ipsa nicht reale Existenzen, aber sie werden in Zu-
sammenhang gebracht mit metaphysischen Wesen, denen Be-
wusstsein zugesprochen wird, ohne dass irgend ein erfahrungs-
mässiges Symptom eines solchen vorhanden ist, und dann wird
dieses ihr Bewusstseiui damit es uns nicht allzusehr befremde,
so herabgedrückt, dass wir kein Kriterium mehr für sein
Vorhandensein haben, mir eigentlich der Begriff desselben
wieder zu zerrinnen scheint. Ich will über diese Monaden
selbst hier nicht streiten. Wenn irgend eine Erwägung uns
die Annahme derselben logisch unabweislich erscheinen lassen
könnte; so wäre auch ihre Unfruchtbarkeit nicht mehr ein
zulässiger Einwand. Hier aber werden sie um ihrer vermeint-
lichen Leistungen willen eingeführt, welche ich nicht anerkennen
kann. Wären es noch die directen Einwirkungen der andern
Monaden auf die Seelenmonas, welche diese zur Erzeugung des
Weltbildes veranlassten! Nicht etwa auf die den Leib aus-
machenden Atome würden dann Monaden einwirken, denn jene
gehören schon zu dem von der Seele Erzeugten (wenn nicht
etwa das Atom selbst zur Monade werden soll), sondern der ge-
setzliche Zusammenhang zwischen den äusseren Reizen und den
Bewegungen der Nervenmoleküle in unserem Leibe^ von welchen
die bewusste localisirte Empfindung abhängt, wäre gesetzlicher
Zusammenhang unter den Phänomenen, aber er wäre begründet,
so wie sie selbst; durch die im Jenseits vor sich gehenden
directen Einwirkungen von Monaden auf die Seele. Hier ist
der Begriff der Seele unentbehrlich und er wird auch conse-
quenter Weise von Lotze festgehalten. Aber bei 6. sind die
Sinnesdata, aus welchen die Körper bestehen ^ auch als rein
subjective Empfindungen gefasst, und doch läugnet er diese
SeelC; indem er, mit mir, Seele und bewusstes Ich gleichsetzt^ —
wie mir scheinen will, wiederum eine Inconsequenz. Mit
dieser Monadenlehre — (wenn ich von dem bekämpften Begriffe
der Monaden selbst absehe) verträgt sich meine Logik. Jene
dienen dem rein metaphysischen Interesse und meine Logik
bemüht sich, den Begriff der phänomenalen Dinge und Ereig-
nisse klar zu machen^ welcher ja in keinem Falle entbehrlich
ist. Ob jemand einmal den stringenten Beweis finden wird für
jene Existenzen, welche den letzten Grund für die von der
482 W. Schuppe:
Seele erzeugte Welt der Erscheinungen und damit natürlich
auch für diejenigen Einheiten^ zu welchen das Denken aus sich
selbst diese Erscheinungen yerbindet, abgeben sollen, kann ich
von meinem Standpunkte aus mit Euhe abwarten; die Ergeb-
nisse meiner Urtheils- und Begriffslehre werden davon nicht
berührt und bleiben in ihrer Geltung für die wahrnehmbare
Welt ganz dieselben, ob ein solcher letzter Grund für diese
angenommen wird, oder nicht. Bei B. ist das anders. Solche
Einwirkungen lehrt er nicht, und doch soll jedes Atom Zeichen
eines solchen metaphysischen Wesens sein. Das Hesse sich
allenfalls noch verstehen ^ wenn er meinte, jedes einzelnen
kleinsten Theilchens Yorstellung in uns käme auf Bechnung
der Einwirkung je einer bestimmten Monade auf die Seele^
und die Erscheinungswelt setze sich wirklich aus solchen
Stückwirkungen zusammen. Aber das meint er nicht. S. 165
heisst es : „Wir verknüpfen die Merkmale dadurch ^ dass wir
ein sie verknüpfendes Object setzen.^^ Dieses Object sind nicht
die phänomenalen Dinge , die Körper, denn diese können das
nicht, sondern die realen, d. h. die Monaden. Diese (S. 166)
verknüpfen die Vielheit ihrer Merkmale zur Einheit durch
Selbstanschauung y in der Weise, welche in unserem Ich offen
vor uns liegt. Aber^ frage ich, was haben denn diese Monaden
für Merkmale? Es könnten doch nur innere Zustände sein,
unserem Denken^ Fühlen und Wollen analog. Mögen sie diese
in sich zur Einheit verknüpfen, was hat das mit der Einheit
zu thun, zu welcher die sinnlich wahrnehmbaren Merkmale
verknüpft sind? Auch dass wir unsere Empfindungen als
unsre Zustände zur Einheit im Ich verknüpfen, hat nichts da^
mit zu thun, denn es handelt sich um die Einheiten, welche
je ein Comp lex der localisirten Empfindungen, einer neben
dem andern, ausmacht, das Haus hier und neben ihm ein Baum
und vor ihm ein Hund u. s. f.; jedes eine Einheit. Die
zur Einheit verknüpften Merkmale der Monaden, d. h. ihre
inneren Zustände sind doch nicht identisch mit unsern sub*
jectiven Empfindungen, aus welchen wir die Einheiten der
phänomenalen Dinge machen. Möglich, beinahe wahrscheinlich
ist es mir, dass ich B. missverstehe, aber mir scheint dies
alles vorgetragen zu werden, um den Sinn der Prädicirung,
^jene Einheit in der Vielheit, jene Identität im Unter-
schiede der • Merkmale , welche wir als die Bedeutung des
Etwas-Seins gefunden haben^', zu erklären, Cf. S. 155 f. 159
und schon 119 (das „objeotiv bestimmt"). Ich verstehe nicht,
wie dies „dem Interesse der Logik^ den Gegensatz von Wahr-
Bergmannes Beine Logik etc. 483
heit und Irrthum zu begreirai^^ ( — welcher ja auch für mich
das Problem ist, dessen Lösung eigentlich das ganze System
der Logik gewidmet ist — ) genügen soll, wenn nicht vorher
und unabhängig yon aller Metaphysik der logische Begriff der
Zusammengehörigkeit von Phänomenen festgestellt ist, was aber
S. 143 gradezu ausgeschlossen wird. Die metaphysische An-
nahme soll also den logischen Begriff der Einheit der phäno-
menalen Dinge ersetzen. Die Prädicirung wird als Iden-
tificirung des S, welches das constituirende Merkmal C hat^
mit dem S, welches das ergänzende Merkmal P hat, gedeutet;
wobei der Begriff des Merkmale -Habens natürlich unerklärt
vorausgesetzt ist. Aber wir würden B. Unrecht thun, wenn
wir ihn eines so groben logischen Fehlers beschuldigten.
Denn die logische Erklärung hält er offenbar für unmöglich
und schiebt das ganze Geheimniss des Merkmale-Habens in die
Metaphysik. Die besprochene „Identität im Unterschiede der
Merkmale*' ist ihm S. 131 sofort „ein metaphysisches Verhält-
nisses welches, „weit entfernt, undenkbar zu sein, vielmehr die
Bedingung aller Vor stellbarkeit und Denkbarkeit ist*'. Die
Identität wird gar nicht als logische Kategorie eingeführt, denn
in diesem Sinne ergäbe sich ja nur die Aussage, dass S zwei
Merkmale, G und P, habe. Das causale Verhältniss unter ihnen
deutet B. durch die Ausdrücke „nachgezogen werden und mit-
gesetzt sein'* an, ohne des Rechtes und Sinnes solcher Ver-
knüpfung Erwähnung zu thun. Aber er scheint mir auch gar
nicht gewillt zu sein^ den inductiv feststellbaren Zusammen-
hang geltend zu machen, sondern will diese Zusammengehörig-
keit sogleich durch die metaphysische Identität im Unterschiede
erledigt sehen. Aber dann muss doch wohl auch „der Gegen-
stand*' (S. 129) schon das ens metaphysicum sein und dann
begreife ich nicht , wie die sinnlich wahrnehmbaren C und P
Merkmale desselben sein können.
Mit dieser eigenthümlicheu Auffassung der Aufgabe und
Stellung der Logik hängt es offenbar zusammen, dass B. es
unterlässt, die einfachsten logischen Functionen vorher darzu-
stellen, ehe er an die Erklärung der complicirteren Erscheinungen
geht, so dass mehrfach im Laufe der Untersuchung — nach
meiner Auffassung wenigstens — plötzlich neue unlegitimirte
Begriffe auftauchen. Schon das häufige „Setzen" ist mir zum
Anstoss, da ich nicht klar sehen kann, in welchem Verhält-
nisse dasselbe zu den Thätigkeiten des Sy nthetirens , Ana-
lysirens und eigentlichen Urtheilens steht. Auch wurde oben
schon erwähnt, wie zur Erklärung des Prädicirens die Iden-
484 W. Schuppe:
tität in einer Weise verwendet wird, welche den rein logischen
Sinn derselben voraussetzt. Von meinem Standpunkte aus
muss ich sogleich fragen: wie wird aber Identität ausgesagt?
Ist die Identifioirung, als welche die Prädicirung gedeutet
wird, nicht auch eine Prädicirung, welche Subjeot und Prädicat
hat? Wäre B. hierauf eingegangen, so wäre es ihm unmöglich
geworden, seine Gründe für die Qualitätslosigkeit der Prädi-
cirung vorzubringen. Bei mir wird die Bedeutung und Stel-
lung der ^Negation aus der Grundauffassung des ürtheils und
des Identitätsprincipes in einer Weise klar, welche mir seine
Bedenken auszuschliessen scheint. Erst S. 252 beginnt eine
Erörterung der Principien der Identität und des Widerspruchs ;
,,die XJebereinstimmung einer Vorstellung mit sich selbst, heisst
es da, soll Identität, ihr Widerstreit mit sich selbst Wider-
spruch genannt werden.*^ Aber hier ist der logische Begriff
der Identität vorausgesetzt^ um das sog. Identitätsprincip auf
einen der möglichen Fälle seiner Anwendung einzuschränken.
Aber auch das Ziel wird dabei nicht erreicht, denn ich Wenig-
stens muss bestreiten, dass die Richtigkeit der Vorstellung,
wenn wir sie als ihre Uebereinstimmung mit sich selbst fassen,
zu einer „inneren Eigenschaft'^ derselben würde. Letztere
besteht nur in dem, was Andere causalen Zusammenhang und
Zusammengehörigkeit der Merkmale nennen.
Gleiches passirt bei der Unterscheidung von Prädiciren
und ürtheilen. Die „Anschauung'^ geht diesen Functionen
vorher als „die Auffassung eines Gegenstandes als eines seien-
den oder etwas seienden, irgend wie beschaffenen'^ wobei offen-
bar grade das, dessen Erklärung das Ziel meiner Logik ist,
und von dessen Erklärung das richtige Verständniss aller über
Dinge und ihre Eigenschaften handelnden ürtheile und Schlüsse
abhängt, vorausgesetzt ist. Die Vorstellung, d. i. die Prädi-
cirung, analysirt diese Synthese, bemerkt, findet, hebt ein Merk-
mal hervor. Aber das soll noch nicht ürtheilen sein. Dieses
Prädiciren oder Beziehen eines Prädicates auf sein Subject ist
weder bejahend noch verneinend; erst das Urtheil im eigent-
lichen Sinne bringt die Qualität in irgend einer Modalität
hinzu, indem es aus einem „kritischen Verhalten^' über Gültig-
keit oder Ungültigkeit entscheidet, diese Prädicirung bestätigt
oder verwirft. Aber was ist Entscheiden ? was Bestätigen und
Verwerfen? worin besteht das „kritische Verhalten"? was ist
Synthesiren und Analysiren? Das sind alles im gemeinen
Sinne des Wortes schon Ürtheile. Was ist aber das Urtheil
bei B. ? Nicht etwa, worauf man entgegnend verfallen könnte,
Bergmannes Reine Logik etc.
485
die FrädiciruDg des Gültig oder Ungültig von einer andern
Prädicirung, der einer Eigenschaft nämlich oder des Existenz*
prädicates von einem Dinge. B.tnv^eiss genau ^ wie unhaltbar
diese Definition wäre. Er definirt es also als jene noch
qualitätslose Prädicirung, aber „verbunden'^ mit dem
kritischen Verhalten, welches sich als Bestätigung oder Ver-
werfung, Bejahung oder Verneinung ausdrücke. Aber was
heisst „verbunden'^? Worin besteht denn die neue Einheit,
welche nun das kritische Verhalten mit der Prädicirung ein*
geht? Ich fürchte, sie ist weiter nichts, als der Ausdruck für
das Ganze, welches in abstracto Momente zerlegt worden war,
welche missverständlicher Weise wie concreto Existenzen be-
handelt wurden. Demnach ist die B.'sche Prädicirung nur
das abstracto Moment des Materials, bestehend im Subjects-
und Prädicatsbegriffe , der dem bejahenden und verneinenden
Urtheile gemeinsame Bestandtheil, und hinzukommt das andere
für sich allein ebenfalls nur abstracto Moment der Bejahung
und Verneinung, d. h. desjenigen, worin nun die XJrtheils-
beziehung eigentlich erst besteht. B. wird gegen diese Auf-
fassung protestiren, aber ich erwarte Belehrung und spreche
meine Ansicht vorläufig dahin aus : entweder ist seine Prädicirung
in Wirklichkeit noch nicht Prädicirung, oder seinUrtheil ist doch
eine Prädicirung über eine Prädicirung. Soll das Bestätigen und
Verwerfen im gewöhnlichen Sinne genommen werden, so kann
Bestätigtes und Verworfenes auch nur ein echtes Urtheil, d. i.
eine Prädicirung mit Qualität, sein. Denn eine blosse Vor-
stellung (im gewöhnlichen Sinne) kann man weder bejahen,
noch verneinen, es sei denn, dass sie heimlich nur als abge-
kürzter Ausdruck für ein echtes Urtheil angesehen wird. Die
Beziehung des Prädicates aufs Subject will in ihrem Sinne
verstanden sein, ehe sie bestätigt oder verworfen werden kann.
Aber das blosse „Sichbegegnen^' von Vorstellungen (im ge-
wöhnlichen Sinne), ihr blosses Nebeneinandertreten nach
Associationsgesetzen wäre nur der psychologische Anlass dazu,
dass jemand im bestimmten Augenblicke ein Urtheil gerade
über diese und nicht über andere Dinge fällt, einem Subjecte
gerade dieses und nicht ein anderes Prädicat, welches ihm
auch zukommt, zuspricht. In diesem blossen Zusammengerathen
von Vorstellungen liegt noch nicht das Mindeste, wodurch die
eine den Charakter als Subject der andern und die andere
den als Prädicat der ersten erhielte. Subject und Prädicat
sind Begriffe, welche nur aus dem Ganzen des (echten) Ur-
theils verstanden werden können. Sollte also die Prädicirung
486 W. Schuppe: Bergmann's Beine Logik etc.
bejaht oder verneint werden können, so müsste sie als nur
vorläufige, mehr yermuthungsweise Verbindung gelten, aber
diese wäre in meinen Augen «ine psychologische Dichtung, wenn
sie nicht gleich für echtes Fragen, Zweifeln und Bedenken er-
klärt wird. Dass aber letztere das ürtheil, d. h. Prädicirung
mit Qualität einschliessen, brauche ich wohl nicht auszufuhren.
Und endlich : was meint denn dieses Bestätigen oder Verwerfen
der Prädicirung? etwa dass sie die Anschauung richtig oder
unrichtig analysirt hat? dass in der Anschauung wirklich das
hervorgehobene Merkmal war oder nicht? Gewiss nicht. Es
entscheidet^ ob die Anschauung selbst gültig ist oder nicht, in
einem ganz neuen Sinne des Wortes, und bekommt somit in
der Beziehung auf das wirkliche Sein ein ganz neues Object,
wobei der Sinn des Urtheils in logischer Beziehung voraus-
gesetzt ist. Ich bestreite nun gar nicht, dass der Anspruch,
Wirklichkeit auszusagen, zum Sinne des Urtheiles gehört (cf.
£rk. Log. XXI bes. § 151), nur gehört dieser Anspruch so
wesentlich schon zur Beziehung des Prädicats auf das Subject,
dass ich mir letztere ohne jenen nicht denken kann. Doch mit
dieser Behauptung ist auch mein Begriff von Wirklichkeit und
die ganze Bedeutung des Causalitätsprincipes in der Logik zur
Verhandlung gestellt, und da diese Auseinandersetzung ohne
dies schon einen zu grossen Umfang gewonnen hat, so sei
hiermit geschlossen. Sollte ich B. missverstanden haben, so
entschuldige mich sowohl, wie ihn, wenn seine Darstellung
einen Theil der Schuld tragen sollte, die Schwierigkeit der
Sache. Die zu erwartende Aufklärung wird nicht nur mir,
sondern vielleicht noch manchem Leser seines Buches, und —
was die Hauptsache ist — den verhandelten Fragen selbst
zu Gute kommen.
Greifswald. W. Schuppe.
Becensionen.
Ueberhorst, Dr. Karl : Eant^s Lehre von dem Verhältniss der
Kategorien zur Erfahrung. Göttingen 1878. Deuer-
lich'sche Buchhandlung (8. 1,60.).
Diese Schrift von 56 Seiten, aber reich an Inhalt, ver-
sucht die noch immer nicht ausgetragene Frage der Kantischen
Kategorienlehre, durch „genaue Darstellung der berühmten
Theorie" zu fördern. Doch scheint die Darstellung grade in
Reeensionen/ 487
den Cardinalpunkten auf Irrthum zu beruhen. Leider ^at der
Yerfasser auch die in Bezug auf das VerBtändniBs des Grund«
Problems werthvollen Hinweise Cohen's und F. A. Lange's bei
Seite liegen lassen. "Wir beabsichtigen hier nur eine berich-
tigende Darstellung dessen, was uns als der Hauptpunkt er-
scheinty zu geben und verweisen im Uebrigen auf die in dieser
Zeitschrift erschienene Selbstanzeige ^) und das Schriftchen selbst.
Das Problem Xant's besteht nach dem Yerfasser darin,
„die Erkenntniss der Dinge an sich selbst aufzugeben, und
zur Entstehung der Erfahrungswelt nicht blos die Empfindung,
die Zeit und den Baum, sondern auch die reinen Yerstandes-
begriffe mit beitragen zu lassen **. Bei dieser Fassung tritt
die transcendentale Frage nicht genügend hervor. „Entstehung
der Erfahrungswelt" ist ein missverständlicher Ausdruck. Kant
will ja ganz einseitig die apriorischen Formen, durch welche
Erfahrung erst möglich ist, aufsuchen und ableiten^ nicht aber
„die Erfahrung; worin sie angetroffen werden" *), entwickeln ®).
Hier ist bereits ein Missverständniss versteckt, das bei
der Definition der Kategorien genau hervortritt. Es ist die
falsche, oder doch einseitige Fassung des Wortes „Begriff '^
S. 5 wirft Yerfasser Kant einen Grundirrthum in Bezug auf
Hume vor, und sagt er substituire diesem fälschlich die Mei-
nung ^ „dass der Begriff der Ursache und Wirkung keine
von aller Erfahrung unabhängige objective Giltigkeit besitze,
dass derselbe daher nicht dem reinen Denken entstamme".
Hume sagt dieses indess in der That, nur in umgekehrter
Folge, wie Kant auch.
Kant hat unter „Begriff" ein Doppeltes verstanden, zu-
gleich: a) die zur Bildung eines Objects meiner Erkenntniss
nöthige Form des Denkens, d. i. der Thätigkeit selbst, b) die
Yorstellung, die ich abstrahirend mir von dieser Form der in
mir stattfindenden Thätigkeit mache. Ad a). „Eeiner Begriff
ist allein die Form des Denkens eines Gegenstandes über-
haupt" (Kr. II, 75), also die Form des Denkens, nicht des
gedachten Gegenstandes. Ob sie nicht auch Form des letzteren
sei, berührt uns hier nicht. Ebenso II, 93: „Der Yerstand
») II. Jahrg. III. H. S. 369.
«) Krit. d. r. Yern. IL Aufl. S. 128.
^) Ueberh. S. 50 meint dagegen, „dass strenge genommen aus
den Kantischen Principien folgt, dass die Kategorien erst am Stoff
unserer Sinne zur Entwicklung kommen*^ Diesen Satz stellt sich
Kant gar nicht als Problem, sondern setzt ihn mit dem ersten Satz
der Kritik IL Aufl. als etwas Selbstverständliches voraus.
488 Becensionen.
urtheilt durch Begriffe^^ aber b) bo, y,da8s er sie auf eine Yor-
Btellung von dem Oegenstand bezieht, sie sei Anschauung oder
selbst schon Begriff^^ Hier ist Begriff bereits die fertige
Vorstellung, nicht blos die Form der Thätigkeit der Synthesis.
Nachdem ich aber diese blosse Form der Thätigkeit, die Arten
wie ich denken muss, wie auch das Kind bereits denkt, ohne
dass es dies weiss, selbständig erkannt habe und nunmehr
bewusst mit ihnen operire, denke ich im Kantischen Sinn
durch Begriffe. Hier fallen also a) und b) zusammen. Weil
aber Kant^ seiner Aufgabe gemäss, von dem bewussten Denken
redet, so entsteht der Schein, als denke er sich unter Begriff
blos die fertige Vorstellung. So entstände freilich ein unhalt-
barer „Kationalismus^', und es wäre eine neue Kritik der rei-
nen Vernunft von Nöthen, welche die Formen der lebendigen
Thätigkeit aufwiese, durch die jene todten Begriffe verknüpft
sind. Nun können wir uns diese freilich nie an der Thätig-
keit selbst vorstellen, so wenig wie die Bewegung eines. Ge-
schosses. Wie wir uns hier nur die Linie, die es beschreibt,
vorstellen, so dort nur eine fertige Vorstellung, einen Begriff.
Aber dieser starre Begriff ist doch nur Ausdruck für die Form
des Beweglichen, was in mir vorausgeht und die gleiche
Thätigkeit, an der er ursprünglich Form ist, bringt ihn selber
als Begriff erst zu Stande. So kann ich von Begriffen reden,
indem ich, und das ist grade ihre „transcendentale'* Bedeutung,
nicht die fertige Vorstellung, sondern die Form der Thätigkeit
meine, die durch jene Vorstellung ausgedrückt ist« „Die reine
Synthesis, allgemein vorgestellt, giebt den reinen Verstandes-
begriff" (II, 104). „Der Verstand aber bringt durch Hand-
lungen^' (II, 105) i. e. durch Thätigkeiten etwas zu Stand.
„Die Synthesis findet nach Begriffen^^ statt (II, 195), d. h«
offenbar: gemäss den Thätigkeiten, die eine Erkenntniss „des
Gegenstandes überhaupt^' ermöglichen. ,
Darum ist die Kategorien - Deünition des Verfassers, nach
der die Kategorien „die Begriffe von den allgemeinsten for-
malen Unterschieden der Dinge sind'', unhaltbar. Bei dieser
Definition bleibt die obige transcendentale Fassung des Wortes
„Begriff *' ganz ausser Acht, und damit das Fundament des
Kantischen Systems unverstanden. Es handelt sich um den
Ursprung der reinen Verstandesbegriffe. Nach diesem Ge-
sichtspunkte sind die Kategorien Begriffe von den Formen der
allgemeinsten Thätigkeiten des Verstandes, durch welche erst
Dinge als Gegenstände unserer Erkenntniss zu Stande kom-
men. Die von Dr. Ueberhorst angeführten Beispiele beweisen
Becensioneo. 489
grade für uns^ vorausgesetzt| dass man sich nicht durch falsche
Deatung der Worte: ,, Dinge überhaupt ^^ ^Gegenstände
überhaupt^, irre gemacht hat, und an concreto Einzeldinge
statt an die Bedingungen der Dinge denkt, sofern sie erkannt
werden sollen. Kant umschreibt selbst^) den Ausdruck „Ob-
jecto überhaupt*' mit ,36dingungen, Urtheile als objectiv giltig
zu bestimmen". Eiehl's, von Ueberhorst mit Eecht verworfene
Auffassung, kommt wenigstens in diesem Stücke der Wahrheit
etwas näher. „Die logische Function wird" nach EiehP)
„zur Kategorie, wenn sie statt auf Begriffe, auf Gegenstände
der Anschauung angewendet wird". Sie sind doch hier we-
nigstens etwas, was angewendet wird. Indess sind sie
thatsächlich auch vorhanden, wenn sie auf blosse Begriffe und
Ideen angewandt werden. Hier vermengt Eiehl zwei Fragen,
die nach dem Ursprung und die nach der objectiven Giltigkeit.
Sodann aber wird weder die logische Function zur Kategorie^
wie Eiehl meint, noch sind die Kategorien in des Verfassers
Sinn die verschiedenen Arten der psychischen Function des
Yerstandes (S. 15), so nahe sie sich auch damit berühren^).
Das fertige Urtheil ist etwas Gegenständliches, aber eben nur
die Darstellung von etwas Beweglichem, wodurch es zu Stande
kommt. Hierzu gehört die urtheilende Handlung, das Urtheilen.
Diese vollzieht sich aber nicht als Sprung. Sie bedarf einer
verknüpfenden Sjnthesis ; sie bedarf ferner, dass diese Synthesis
bewusst sei. Was verknüpft nun in dem Urtheil: Alle A
sind B? Doch wohl dasjenige, was in A und B gemeinsam
gedacht wird, worin beide ihre Einheit finden. Einheit ist
also die diesem Urtheil zu Grunde liegende Kategorie. Wo-
durch ist das Urtheil „A ist B" verknüpft? Durch den Ge-
danken eines Etwas, das einem andern inhärirt, also durch
^) Prolegomena 1783. S. 120 § 39.
^) Der philosophische Kriticismus, I. Leipzig 1876. 222.
°j Es ist übrigens nicht ganz ersichtlich, was Verf. darunter
versteht. Krit II, 143 heisst es : die Kategorien seien „die logischen
Functionen zu urtheilen, sofern" etc., psychisch ist aber nicht ohne
weiteres = logisch; das Bewusstsein kann fehlen. Auf S. 13 ist
Verf. dem Bichtigen sehr nahe, verliert es aber wieder durch den
Gedanken, dass ihnen die Bedeutung zukomme, „vorhandene
Synthesen begrifflich wiederzugeben**. Es handelt sich ja grade
um die Frage bewusster Erkenntniss : Wie sind synthetische Urtheile
a priori möglich? Damit, dass bereits vorhandene Zusammenhänge
begrifflich werden, ist wenig gethan. Wir wollen neue Zusammen-
hänge machen, d. 1. synthetisch urtheUen.
VieTteljahrsschrift f. wissenschaftl. PMlosophie. III. 4. 32
490 Recensionen.
die Kategorie von Substanz und Accidens. Die Ableitung
springt in die Augen.
Wir resümiren: Das, was als Verknüpfungsform auftritt,
ist =39 Kategorie, sofern es bewusst ist. Das verknüpfende
Handeln ist XJrtheilen, sofern es bewusst ist. Die bewusste
Form ist Begri£P, durch weilchen geurtheilt wird. 'Das lo-
gische Ürtheil ist nichts als der bewusste Ausdruck für die
Thätigkeit der ohne dasselbe blinden „Function der Seele".
So ißt es dieselbe Handlung, welche in der „blinden Function"
und im bewussten Urtheil zu Grunde liegt. Darum ist es
auch ^^dieselbe Function, welche den verschiedenen Vorstellungen
in einem XJrtheile", und „der blossen Synthesis verschiedener
Vorstellungen in einer Anschauung" Einheit giebt*).
Damit fallt des Verfassers Bekämpfung des eben an-
geführten Satzes (S. 22, 24 f.). Der in der Kritik (H, 105)
diesem folgende Satz beweist dies direct. Der Sinn desselben
ist, dass dieselben Thätigkeitsarten, die sich logisch im ana-
lytischen Ürtheil projiciren, auch den „transcendentalen In-
halt", d. i. die „Beziehungen" (Cohen), die Begriffe, durch
welche geurtheilt wird, herstellen. Sie bringen also die Vor-
stellungen der (transcendentalen) Formen zu Stande; und auf
Grund dieser Formen ist jene analytische Thätigkeit erst
möglich.
Dieses zu Grunde liegende synthetische Ürtheil ist aber
sowohl Erkenntnissgrund als Kealgrund. Der Verfasser wirft
(S. 26) Kant vor, er habe in der zweiten Auflage der Kritik
beide fälschlich vermengt. Nun ist aber jenes synthetische
ürtheil nur auf Grund der Einheit der Apperception möglich,
und „macht" so in Wahrheit einen Zusammenhang nach
Gesetzen. Würde es diese nicht machen, also nicht, formal
betrachtet, Bealgrund unserer Erkenntniss sein, so möchten
uns wohl Erscheinungen gegeben sein, aber es wäre uns nicht
^) n. A. S. 105. L A. S. 79. Der Satz lautet weiter dahin,
dasB aiese Einheit „allgemein ausgedrückt der reine Verstandes-
begriff'' heisse. Also : Function = Einheit der Handlung (U, 93). Die
Einheit, welche daraus resultirt, allgemein ausgedrückt, d. i. be-
wusst geworden = Kategorie. Man vergleiche dazu die Ausfuhrun-
fen Conen's (Kant's Theorie d. Erfahr. S. 136): „Die Kategorien
ilden also die Beziehung der Einheit der Apperception und der
Synthesis der Einbildungskraft. In ihr recosnoscirt die Apper-
ception die Identität der durch alle die vornergenannten Formen
der Synthesis gebildeten Vorstellungen." Das ist, mit anderen
Worten ausgedrückt, unser Resultat
Beoendonen. 491
möglich, irgend welche Beziehungen zwischen denselben zu
finden^ da diese ja' in ihnen selbst nicht vorhanden sind.
Dinge wären dann für uns nicht vorhanden» sondern nur ein
verwirrender Wechsel aller möglichen Empfindungsbilder. Wir
mögen uns sträuben, wie wir wollen; wenn wir mit den bis-
herigen erkenntnisstheoretischen Mitteln gegen Kant äussern,
eine solche selbst gemachte Objectivität sei doch keine „wirk-
liche" Objectivität, sondern etwas Subjectives, das uns nur Ob-
jecto vorspiegle, so erhebt sich sofort die Gegenfrage: Wie
will ich von etwas, was nicht in mir ist, etwas erkennen?
Ist aber nur das mir Gegebene erkennbar, so ist es auch nur
nach den Gesetzen erkennbar, unter denen das Subject zu er-
kennen vermag, die es also in das Object hineinlegen muss,
damit es ihm Object werde. Diese haben daher für meinen
Erkenntnissgegenstand objective Giltigkeit, und der Erkenntniss-
grund ist formal betrachtet Bealgrund. Kur diesen Eealgrund,
nicht aber denjenigen, der das Dasein der Materie der Er-
kenntniss verbürgt, will Kant hier untersuchen. Ob er damit
recht gethan, ist freilich eine andere Frage.
Nun werden wir leicht verstehen, wie es kommt, dass
der Yerfasser Kant ein Missverständniss Hume's vorwerfen
kann. Hume sagt^): ^,Ich wage es als einen ausnahmslosen
Satz hinzustellen, dass die Kenntniss dieser Beziehung (von
Ursache und Wirkung) in keinem Falle durch ein Denken a
priori erreicht wird, sondern dass sie lediglich aus der Er-
fahrung stammt/f Wäre die „Xenntniss dieser Beziehung''
durch's Denken erreicht, so wäre diese, wie aus dem Ausdruck
einleuchtet, reiner Begriff im Eantischen Sinn^ Dieser Begriff
wird nun nach Hume nicht durch das Denken erreicht > son-
dern „der wahre und richtige Name" für das, wodurch er er-
reicht wird, „ist der Glaube" (Unters. S. 47). Dieser unter-
scheidet sich nach Hume von der Einbildungskraft dadurch,
dass er den Aussagen des Urtheils grössere Stärke als diese
giebt. Dies grössere Gewicht rührt daher, dass „der Fortschritt
der Gedanken" „mit einem den Sinnen gegenwärtigen Gegen-
stande beginnt^' (Unters. S. 51). Das heisst in Eant's Sprache:
Der Begriff ist ^,ein Bastard der Einbildungskraft, die durch
Erfahrung geschwängert" ist^). Man hat sich, sagt Hume
weiter, „gewöhnt", die Vorstellung des gegenwärtigen Gegen-
^) Untersuchungen über den menschlichen Verst, übers, von
Kirchmann, S. 27.
«) Prolegomena, Riga 1783. Einl. S. 8.
32*
492 Recensionen.
Standes mit der »^eines andern Gegenstandes^' „zu verbinden'^
(UnterSi 8. 51 u.). Kant sagt: „gewisse Vorstellungen" wer-
den „unter das Gesetz der Association gebracht" (1. c). „So
gebt (nach Hume) der Fortschritt von der Ursache zur Wir-
kung nicht von der Vernunft aus, sondern beruht gänzlich auf
Gewohnheit und Erfahrung^' (1. c.)> Bann aber besagt der
Satz Kant's nicht im Mindesten mehr, als Hume sagen will.
Er drückt den Gedanken genauer aus, als des Verfassers Para-
phrase (S. 53), die das Verhältniss der Association der blossen
Einbildung und der des Glaubens gar nicht berührt. Bass
dieser aber in der Fassung Eant's subjective Zuthaten zu
Hume erblickt, liegt darin^ dass er den Verstandesbegriff Kant's
zum formalen Unterschied der Binge macht. Bann wäre er
freilich etwas ganz andres als „Beziehung" und deren ^^Kennt-
niss^^^ und die neue Frage Kantus nach dem Ursprung dieses
Begriffs bliebe unverstanden. Auf dieser Verkennung der
transoendentalen Frage beruht denn auch die falsche Beutung
der Schemata. Eine Besprechung derselben würde aber hier
zu weit fuhren.
Bie Arbeit des Verfassers kann danach ^ ein so redliches
Bemühen sie auch bekundet, nach unserem Bafürhalten zu
einer positiven Förderung des Verständnisses für Kant nicht
dienen. Eine positive Förderung lässt sich, wie wir glauben,
nur dann erhoffen, wenn man auf dem Weg, den Cohen an-
gebahnt hat, durch genaue Untersuchung der Bedeutung ein-
zelner Begriffsbestimmungen bei Kant weiterschreitet. Besu-
mirende Zusammenfassungen werden sich dann von selbst er-
geben^ und mehr Gewähr für Richtigkeit haben, als wenn man
von vorn herein, wie der Verfasser, ganze Gedankengruppen
darstellen will.
Worms a/Bh. F. Staudinger.
O Fositivismo. Bevista de philosophia dirigida por Theo-
philo Braga e Julio de Mattos. Primeiro Anno.
No !• Porto 1878.
„Bie Principien einer Philosophie, welcher die geistige
Führung der neuen Generation vorbehalten ist, populär zu
machen, zu entwickeln und auf alle wissenschaftliche Fragen
der Zeit anzuwenden,^^ ist der Zweck dieser neuen Zeitschrift,
deren erstes Heft uns vorliegt. Bie darin gegebenen Artikel
rühren von Schriftstellern her, die nicht nur in ihrem eignen
Lande, sondern theilweise auch in der Fremde wohlbekannt
sind. Sie sind nicht ausschliesslich philosophischen Inhalts,
Becensionen. 493
denn es findet sich auch eine philologische Abhandlung über
eine Episode des Bämayäna^ eine kunsthistorische über den
Maler Gräo-Yasco , und eine ethnologische über den Ursprung
und die Verbreitung der Volksmärchen. Die rein philosophischen
Aufsätze werden eröffnet durch den Einfdhrungsartikel :
Disciplina mental (p. 1 — 15), wahrscheinlich von Herrn
de Mattos herrührend, in welchem Artikel Stellung und Auf-
gabe der Philosophie, d. h. der Philosophie Auguste Gomte's,
discutirt werden. Der philosophische Fortschritt besteht in
der Elimination der philosophischen Systeme oder Schulen, die
im Laufe der geschichtlichen Entwickelung sich gebildet haben
durch eine übereilte und willkürliche Synthesis der Erkennt-
nisselemente. Durch den Schein eines logischen Zusammen-
hangs erhielten sich diese Schöpfungen einer grübelnden
Imagination und wurden so umfangreich und complicirt, wie
die alten Epen, welche durch die Tradition aus dem indischen
Mythus hervorgingen. Die Bildung solcher Systeme entspricht
einem Bedürfnisse der menschlichen Intelligenz, sie repräsentirt
den beständig wiederholten Versuch, die Erkenntniss durch
Vereinfachung zu concentriren , durch Auffindung der Einheit
in der Mannigfaltigkeit. Mit den Wissenschaften hatten jene
Speculationen nichts zu thun, und doch konnten einzig diese
die Basis zu einer haltbaren Synthesis des Universums bilden,
welche zu Stande kommt durch die gleichzeitigen Processe der
Deduction^ in der ,,Mesologie", und der Induction, in der Psycho-
logie, von denen jene mit der Erkenntniss der objectiven Welt,
diese mit der der subjectiven Welt zu thun hat. Die Tren^
nung zwischen diesen beiden Gebieten ist eine durchaus künst-
liche^ das Ich ist keine abstracte Wesenheit oder Essenz, die
durch Speculation zu ergründen ist^ sondern die Erkenntniss
der subjectiven Welt kann nur geschehen durch Deduction aus
der Erkenntniss der objectiven Welt; daher ist dieselbe erst
möglich geworden durch den Ausbau der Einzel Wissenschaften^
welcher für unser Jahrhundert charakteristisch ist. Sie ist
möglich geworden einmal, weil das Ich in unlösbaren Be-
ziehungen zu der Katur steht, die den Gegenstand der
Wissenschaften bildet; sodann, weil der dogmatische Theil
der Wissenschaften in vollständigster Weise alle Phasen
des menschlichen Denkens zur Darstellung bringt (eaempüßca
iodos 08 recursos da racioncdidade)^ endlich, weil die
gewaltigen Deductionen der Wissenschaften sich auf die
Inductionen ganzer Jahrhunderte gründen ; wie sie das Leben
eines Einzelnen nie ansammeln konnte ; weil sie also bedingt sind
494 Recensionen.
durch die Solidarität zwischen dem Individaum und der Gat>
tung, zwischen dem individuellen oder psychologischen Ich,
und dem collectiven Ich. Die Anlagen des Individuums sind
beschränkt, die der Gattung eines Wachsthums ins Unbestimmte
fähig, und nur durch die Entwickelung der letzteren konnten
geistige Schöpfungen , wie die der Sprache, des Mythus, der
Kunst, des Bechts, zu Stande kommen, Erscheinungen, welche
die alten Metaphysiker dem einzelnen Ich zuschrieben und aus
den allgemeinen Frincipien des Wahren, Schönen, Guten u. s. w.
zu erklären suchten. Die dynamischen Erscheinungen, in denen
das collective Ich sich manifestirt, werden gesammelt von der
Geschichte, während die Biologie es mit den statischen Er-
scheinungen zu thun hat. Die von diesen beiden Wissen*
Schäften aufgefundenen Gesetze werden dazu beitragen, die
Vergötterung der grossen Persönlichkeiten (o feiichismo das
aitds indimduoMdadea) zu beseitigen, und damit die Gesellschaft
zu befreien von dem störenden Einflüsse solcher Männer wie
der Napoleons u. a. Auch im Leben der Völker ist alles lang*
same Entwickelung, Nur treten im Leben des collectiven Ich
nicht minder als beim individuellen Ich zeitweilig Störungen
ein, Hallucinationen. Diese bilden , wie besonders Littre her-
vorgehoben hat, einen Factor, mit dem die Geschichte rechnen
lernen muss, um gewisse abnorme Erscheinungen in der Ent*
Wickelung der Gesellschaft (Flagellanten, Hexenwesen u. dgl.)
erklären zu können. — Alle biologischen Erscheinungen sind
aber im Grunde nur Functionen von Bewegungen. Die Modifi-
cationen der Bewegung bilden das gemeinsame Princip für die
Erklärung aller Erscheinungen; darin ist die philosophische
Einheit gegeben, die zugleich den nothwendigen Zusammenhang
der Einzelwissenschaften begründet. Die abstracten und all-
gemeinen Gesetze der Bewegung untersucht die Mathematik;
das Princip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung^
das der Coexistenz und Unabhängigkeit der Bewegungen hat
die Astronomie bestätigt; die Physik fand schon frühzeitig die
Thatsache der Undurchdringlichkeit, wenn auch viel später erst
das Gesetz der Unzerstörbarkeit der Materie, das die Chemie
durch die Analyse bestätigt und durch das Gesetz der Ver-
theilung der Kräfte vermehrt; die Biologie gewinnt aus den
Erscheinungen der organischen Transformation die Deduction
der Bewegung im Sinne des kleinsten Widerstandes, wodurch
wiederum die Specification der Functionen erklärt wird, die
Sociologie entdeckt durch historische Betrachtung die Verviel-
fiiltigung der Wirkungen, oder wie Spencer es ausdrückt, den
Recensionen. 495
XJebergang von der Homogenie zur Heterogenie, und findet
daraus die Thatsache des Fortschrittes. Dieser Summe Ton
inductiven Grundlagen gegenüber begreift man die Nothwendig-
keit des philosophischen Processes, der in dieser Mannigfaltig-
keit die Einheit zu suchen hat. Die philosophische Synthesis
wird erst definitiv , wenn sieh bei ihren Deductionen der
Kaum durch die Zeit ersetzen lässt, wie bei der Untersuchung
der verschiedenen Gleichgewichtszustände der Materie, oder
die Zeit durch den Eaum, wie bei der Eeconstruction der or-
ganischen Entwickelung. Aus dieser Relativität der Begriffe
entspringt eine tiefgehende geistige Disciplin: der subjective
Begriff des Baumes tritt unter den positiven Begriff des Mit-
tels^ der subjective Begriff der Zeit erhält einen philosophischen
Charakter in der Idee der Entwickelung, und der positive
Begriff des Determinismus ermöglicht die Klarheit der dyna-
mischen Weltansicht, womit die traditionellen Abstractionen
der Causalität, der Zweckmässigkeit, des Zufalls und des Ver-
hängnisses als phantastisch abgewiesen werden.
An dem soeben skizzirten Artikel erscheint uns, abgesehen
von mancherlei ^Nachlässigkeiten in Bezug auf Schärfe und
Durchsichtigkeit des Ausdrucks, die zuversichtliche Art auf-
fällig, mit welcher dem Dogmatismus der alten philosophischen
Systeme gegenüber Sätze aufgestellt werden, die ihrerseits
nicht minder den Charakter des Dogmas tragen. Es mag dies
daher kommen, dass der beschränkte Umfang einer solchen
einleitenden Abhandlung die Begründung dieser Sätze unmög-
lich machte; ohne Zweifel hängt es aber auch mit dem Cha-
rakter des „Positivismus" zusammen. Behauptungen, wie über
die unbegründete Verehrung grosser Männer, als abnormer
Elemente in der Entwickelung der Gesellschaft, können wohl
nur cum grano salis genommen werden. Derselbe Gedanke
wiederholt sich übrigens in dem kleinen Aufsatze von Con-
siglieri Pedroso : „Das Zufällige in der Geschichte" (p. 16 — 19):
Der Einfluss socialer Perturbationen auf die Geschichte der
Gesellschaft sei nur oberflächlicher Natur; es werde dadurch
die menschliche Entwickelung zwar verzögert, manchmal wohl
auch beschleunigt, aber doch nicht wesentlich abgelenkt oder
umgekehrt. Ueber den „Determinismus in der Psychologie"
handelt J. de Mattos p. 20 — 40 : Nach einer kurzen Dar-
stellung der Physiologie der Nerven, im Anschluss an Luys,
Etudes de physiologie et pathologie cSrSbrales, wird die Ansicht
begründet, dass der Willensact seinem Wesen nach nur ein
complicirter Eeflez sei, daher wie alle Befleze abhängig von
496 Erwiderung.
den Sensationen^ daher bedingt sei, also eine aatomatische
Gmndlage habe. Damit erscheint der Determinismus als eine
unbestreitbare Wahrheit, welcher nnr das Yorurtheil, die Un-
möglichkeit, in allen Fällen den Complex der bedingenden
Einflüsse zu erkennen, und der Schein, als ob verschiedene
Individuen unter gleichen Einflüssen zu verschiedenen, ja ent-
gegengesetzten Willensacten veranlasst würden, sich entgegen-
stellen. Für diesen Determinismus (nicht Fatalismus) trägt
nun auch die Strafe nicht mehr den theologisch-metaphysischen
Charakter der Züchtigung, sondern sie erhält die Bestimmung,
die bei einem Menschen entweder durch Vererbung oder durch
jeweilige äussere Umstände gegebenen Antriebe zum Handeln
entweder zu hindern, so lange sie nur virtuell sind, oder zu
bekämpfen, wenn sie bereits eflectiv sind: sociale Hygieine
und Therapie. — Derselbe Verfasser giebt endlich, p. 64 — 73,
in dem Aufsatze „Die Beligion der Zukunft'' eine Kritik des
gleichnamigen Hartmann'schen Buches. Den Fantheismus H.*8
könne die Zukunft nicht annehmen, weil diese Beligionsform,
wie Littr^ sagt, sobald sie aus ihrer Unbestimmtheit heraustritt^
zu einer Art Fetischismus führen würde, ohne irgend eine der
Gompensationen zu besitzen, wie die älteren Formen desselben.
Da überhaupt die Eeligionen künftig nicht mehr auf die geistigen
Fähigkeiten werden einwirken können und diese Eolle den
Wissenschaften überlassen müssen, so bliebe der Beligion der
Zukunft die ausschliessliche Mission, die Gefühle zu leiten
(mbordinar) und altruistische Gesinnungen zu pflegen; das
kann aber nur die auch von St. Mill verkündete Beligion der
Humanität.
So weit das 1. Heft der neuen portugiesischen philo-
sophischen Zeitschrift ; wie man aus dem Beferat ersieht, bringt
sie in der That, was ihr Titel verspricht: „positive Philo-
sophie*', aber freilich nur in dem Sinne, den A. Gomte diesem
Begriffe gegeben hat.
Weimar. H. Wernekke.
Erwidernng
auf eine «Becension^ des Prof. ülrici,
Das ungehörige Verfahren, die Besprechung eines oder
einzelner nach Willkür aus einer wissenschaftlichen Arbeit
Erwiderung. 497
herausgegriffener Punkte ohne Eücksicht auf ihre Stellung in
dem Plane des Ganzen der Welt als Becension dieser Arbeit
anzubieten y ist aus der Praxis des Recensentengewerbes nur
zu bekannt. Es ist auch bekannt, dass Prof. Ulrici sich nicht
scheut^ dieses ungehörige Verfahren zu dem seinigen zu
machen.
Der 74. Band der Zeitschrift für Philosophie und philo-
sophische Kritik kündigt eine Becension meiner Schrift über
die Beziehungen zwischen Kategorien und Urtheilsformen an.
Es war meine Absicht gewesen zu zeigen, dass eine Congruenz
zwischen Kategorien und Urtheilsformen weder principiell zu
erweisen sei, noch in der That bestehe, und dass deshalb das
Princip der metaphysischen Deduction der Kategorien hinfallig,
die Deduction selbst unzureichend und falsch sei. Um die
Bedeutung der Kategorie für Bildung der Anschauung zu er-
weisen, hatte ich in der Einleitung eine kurze Darstellung der
Lehre von der Objectivirung der Empfindung gegeben und mich
dabei nach meiner ausdrücklichen Erklärung (S. 29 m. S.) im
Wesentlichen den Ausführungen Lotze's angeschlossen, welche
den Process der Objectivirung als einen aus mehreren Yer-
standesacten bestehenden erweisen. Als ein Beispiel dafür, bis
zu welchen Ausschreitungen die einseitige Betonung eines
dieser Yerstandesacte auf Kosten der anderen führen könne,
hatte ich die Ulri einsehe Lehre von der unterscheidenden
Denkthätigkeit angeführt, und es wird sich sogleich heraus-
stellen, mit welchem Rechte.
Hier knüpft die „Recension" in der Zeitschrift für Philo-
sophie an. Sie führt aus, dass ich die Lotze'schen Anschauungen
etwas schlechter als Lotze selbst dargestellt, dass „die Ver-
kennung eines positiven Moments im Begriff des Unterschiedes
das TtqÜTOv xpevdog in Lotze's Logik und Erkenntnisstheorie
sei'', dass aber „trotz dieses Fehlers Lotze und sonach auch der
Verfasser (i. e. meiner Abhandlung) im Grunde mit der Ulrici'-
schen Auffassung der Art und Weise, wie unsere Empfindungen
objectivirt und damit zu Vorstellungen werden, übereinstimmen'^ :
um so erstaunlicher sei es, dass ich die Ulrici'sche Lehre als
übertrieben und einseitig schlechthin verwerfe. Mit der Pole-
mik gegen meine Beurtheilung dieser Lehre schliesst die
9,Recension''. Prof. Ulrici war schon nach diesem Wenigen zu
der Ueberzeugung gelangt, dass ich keine Beurtheilung und
Widerlegung meiner eigenen Ansichten verdiene. Nur dass
damit auch der Artikel des Prof. Ulrici in der Zeitschrift für
Philosophie^ der meine Arbeit zum Gegenstande hatte; das
498 ErwiderUDg.
Becht verlor^ Recension zu heissec, dass eine Abwehr meiner
Angriffe das Höohete war, dessen ich gewürdigt werden durfte,
dies hatte der Verfasser der „Eecension^' in seiner Entrüstung
übersehen.
Ich gehe jetzt auf die Gründe ein, um derentwiUen meine
Ansichten des Vorzugs verlustig gegangen sind, von Prof. Ulrici
widerlegt zu werden. Es heisst darüber (Zeitschr. für Philos. etc.
Bd. 74, S. 199):
^;Ein Philosoph, der die auf Beweise gestützten Ansichten
Anderer so ungenau citirt, so falsch auffasst und so willkürlich
bei Seite schiebt , verdient keine Beurtheilung und Wider-
legung seiner eigenen Ansichten. Es ist wenigstens Niemandem
zuzumuthen, die vielen Gitate des Verf. aus Eant's u. A.
Schriften, von deren kritischer Darlegung aus er seine Auf-
fassung vom Wesen der Kategorien und deren Beziehungen
zu den Urtheilsformen entwickelt, nachzuschlagen und sich zu
vergewissern^ ob sie genau wiedergegeben und richtig aufge-
fasst sind.'*
Ich kann nicht glauben, dass in diesen beiden Sätzen
die verläumderische Anschuldigung enthalten sein * solle ^ ich
habe aus Absicht oder Nachlässigkeit den Wortlaut einer
citirten Stelle geändert oder eine auf dieselbe bezügliche
falsche Angabe gemacht — ein Sinn, den der unbefangene
Leser leicht deü obenstehenden Worten geben kann. Es kann
damit nur gesagt sein sollen^ ich habe die betreffende Stelle
wohl richtig und genau citirt, aber die Wahl dieser Stelle sei
so getroffen, dass sie eine von Prof. Ulrici selbst verlassene
und in späteren Schriften verbesserte Ansicht desselben ent-
halte oder dass in ihr unbestimmt bleibe, was an anderen
^Stellen der Ulrici'schen Schriften in einem bestimmten Sinne
gedeutet werde. Aber auch in dieser Weise aufgefasst, ent-
hält die Anschuldigung, die in den angeführten Worten der
Becension liegt^ nach den eigenen Angaben des Prof. Ulrici
eine Unwahrheit. Es handelt sich um eine von mir citirte
Stelle aus einem Vortrag, den Prof. Ulrici in der Philosophen-
Versammlung zu Gotha im Jahre 1847 gehalten, und der ab-
gedruckt ist in der Zeitschrift für Philosophie etc. Bd. 19.
Ich habe dieselbe in meiner Schrift (S. 38 u. 39) wörtlich so
wiedergegeben, wie sie in der Zeitschrift für Philosophie Bd. 19,
S. 120 und 12 t zu lesen ist, wörtlich so wie sie Prof. Ulrici
selbst hat in der Becension (S. 196) wieder abdrucken lassen.
Dieselbe legt nach der Aussage der „Becension*' (S. 197) in
„kurzen, scharf pointirten Sätzen^' die Ansicht des Prof. Ulrici
ErwlderuDg. 499
dar, und eben deshalb war sie für mich von Werth. Denn
da es mir nicht auf eine detaillirte Darstellung der XJlrici'schen
Erkenntnisstheorie, sondern nur auf den Grundgedanken der-
selben ankam, so knüpfte ich an eine kurze , scharf pointirte
Fassung dieses Grundgedankens seine Besprechung an. Dass
dieser Grundgedanke derselbe ist, der auch den ausgeführten
Entwicklungen der XJlrici'schen Theorie zu Grunde liegt, be-
weisen die in der ,^Recension'' angezogenen Schriften. Auch
habe ich mich wohl auf den Vortrag aus dem Jahre 1847
berufen, ich habe mich aber nicht auf ihn allein be-
rufen, sondern um die XJebereinstimmung der in ihm ent-
wickelten Anschauung mit anderen Aeusserungen des Prof.
TJlrici zu zeigen, auch auf seine Logik S. 59 ff. (vgl. m. S.
S. 39 Anm.). Ferner ist aber gerade aus der von mir ange-
führten Stelle dasjenige zu ersehen, worauf es nach des Prof.
TJlrici Meinung für die Auffassung derselben wesentlich an-
kommt, dass nämlich unter „all unser Denken, Wahrnehmen etc."
verstanden sei : „all unser bewusstes Denken, Wahrnehmen etc.''
Was die aus dem „Grundprincip der Philosophie" von der
„Eeoension^' angeführte Stelle belegen soll, das ergiebt sich
nach den Worten der „Recension" (S. 197) aus der von mir
citirten Stelle von selbst, dass nämlich „nicht die Empfindung
als solche , sondern das bewusste Empfinden und Fühlen von
der unterscheidenden Thätigkeit abhängig" gemacht werde..
Ich habe also die betreffende Stelle nicht nur vollkommen ge-
nau citirt, sondern auch so ausgewählt, dass, wie die „Hecen-
sion" sagt, in ihr die erkenntnisstheoretische Grundansicht des
Prof. Ulrici in einem kurzen scharf pointirten Satze ausge-
sprochen ist, dass, wie ebenfalls die „Eecension'' sagt, aus ihr
sich von selbst ergiebt, was für die Auffassung dieser Stelle
wesentlich ist; ich habe endlich gezeigt, dass sie mit anderen
Auslassungen des Prof. Ulrici, in vollkommener Uebereinstim-
mung sich befindet.
Die Becension behauptet nun weiter, ich habe die von
mir angezogene Stelle des XJlrici'schen Vortrags falsch aufge-
fasst und zwar deshalb, weil, obgleich sich aus der Stelle von
selbst ergebe, dass unter „alles Empfinden" ^,alles bewusste
Empfinden" zu verstehen sei, ich dennoch auch das unbewusste
Empfinden mit darunter begriffen habe. (S. 197.) Ist denn
das aber wahr? und auf welcher Seite ist hier das Missver-
ständniss? Ich habe an der Behauptung, dass alles Empfinden
auf der unterscheidenden Thätigkeit des Geistes beruhe, die
Ausstellung zu machen gehabt, dass in ihr eine Verwechslung
500 Erwiderung.
zwischen psychologischein Bewusstsejn und Selbstbewusstsein
enthalten sei, d. h. also, dass in ihr psychologisch bewusste
Empfindungen mit solchen verwechselt seien, die mit Selbst-
bewusstsein verbunden sind, ich habe also überhaupt nur von
bewussten Empfindungen gesprochen , nur bewusste Empfin-
dungen in den Kreis meiner Erörterungen gezogen, ich habe
also die Stelle aus dem Vortrage des Prof. ülrici genau so
aufgefasst, wie er sie selbst aufgefasst, und dass ich sie so
aufgefassty ergab sich aus meiner Kritik dieser Stelle „von
selbst".
Und nun zu dem dritten Vorwurfe der „Recension", ich
habe eine auf Beweise gestützte Ansicht des Prof. ülrici will-
kürlich bei Seite geschoben. Gesetzt das wäre wahr, so wäre
ich nach den Proben, die ich eben von der gewissenlosen
Polemik des Prof. ülrici gegeben, der Verpflichtung überhoben,
ihm deswegen Rechenschaft zu geben: scheut er es ja nicht,
sich der Verleumdung als Waffe zu bedienen. Aber auch
diese dritte Behauptung der „Eecension" ist eine Unwahrheit.
Denn wenn ich hier davon absehe, wie es um die ,,Beweise''
des Prof. ülrici steht: willkürlich bei Seite geschoben hätte
ich die Ansicht nur dann, wenn ich die Gründe nicht angegeben
hätte, welche mir ihre Unzulänglichkeit darzuthun scheinen,
wenn ich sie einfach mit unbegründeten und unbegründbaren
Behauptungen abgethan hätte, kurz, wenn ich so verfahren
wäre, wie Prof. ülrici in der „Recension*' verfährt. Ich habe
aber den Grund angegeben für die behauptete üntauglichkeit
der Ulrici'schen Lehre von der unterscheidenden Denkthätig-
keit, und dieser Grund ist, dass sie das psychologische Be-
wusstsein mit dem Selbstbewusstsein des denkenden Wesens
vermischt. Dagegen führt Prof. ülrici an, er habe in seiner
Psychologie Bewusstsein und Selbstbewusstsein ausdrücklich
unterschieden. Was ist aber damit gewonnen? Es können
diese Begriffe in der ülrici'schen Psychologie wohl formell
unterschieden sein, und trotzdem können sie in seinem von
mir citirten Vortrage, sie können in seinem ganzen System,
sie können in dieser Psychologie selbst factisch verw'eohselt
und vermengt sein, und so ist es in der That. Denn eben
in dieser Psychologie heisst es (1. Aufl. S. 320)^), dass das
Bewusstsein das Selbstbewusstsein involvire.
Zum Schluss nur noch eine kleine Berichtigung in Bezug
auf eine „ungenaue" Angabe des Prof. ülrici. Die „Recension"
^) Die 2. Auflage war mir nicht zugänglich.
Selbstanzeigen. 501
fängt mit den Worten an : ,,Der Verfasser dieser Abhandlung
schliesst sich an H. Lotze an*' und in dieser Allgemeinheit ist
diese Behauptung ebenfalls unwahr. Vielmehr stehen all meine
Auseinandersetzungen über die Beziehungen zwischen Katego-
rien und Urtheilsformen, welche den grössten und wesentlichen
Theil meiner Schrift ausmachen, ausser jeder Beziehung zu
Arbeiten Lotze's aus dem einfachen Grunde , weil mir keine
Untersuchungen dieses Forschers über den gleichen Gegenstand
bekannt sind. Hält man die ,,XJngenauigkeit" dieser Angabe
zusammen mit der Thatsache, dass meiner Kritik der Ulrici*-
sehen Urtheilslehre , die sich am Ende meiner Schrift (S. 111
bis 114) findet, in der „Recension" mit keinem Worte Er-
wähnung geschieht, während doch die Kritik der Lehre von
der unterscheidenden Denkthätigkeit zu verblendeter Leiden-
schaftlichkeit gereizt hatte, so gewinnt die Annahme grosse
Wahrscheinlichkeit^ dass Prof. Ulrici meine Schrift nicht nur
nicht beuitheilt und widerlegt, sondern nicht einmal gelesen
habe. »^N'icht einmal gelesen" — und doch „reoensirt."
Göttingen. J. Jacobson,
Selbstanzeigen.
Baerenbach, Fr. von. Herder als Vorgänger Dar»
win'e und der modernen Naturphilosophie.
Beiträge zur Geschichte der Entwickelungslehre im
18. Jahrhundert. Berlin 1877. Th. Grieben.
Der Verfasser, welcher die vorbereitende und bahnbrechende
Bedeutung Herder's auf einigen bedeutungsvollen Forschungs-
gebieten eindringlich erörtert, unternimmt es mittels vergleichen-
der Zusammenstellung markanter Aussprüche aus den Werken
Herders, wie der bedeutsamsten Vertreter der modernen Ent-
wickelungstheorie und der Darwin'sehen Zuchtwahllehre nach-
zuweisen, dass Herder vornehmlich in seinen „Ideen zu einer
Philosophie der Geschichte der Menschheit^' die philosophischen
Grundgedanken jener Theorien (zum Theile wohl angeregt
durch Kant und Goethe, gewiss aber nicht ohne Originalität)
anticipirt hat.
Baerenbach, Pr. von. Gedanken über die Teleo-
logie in der Natur. Ein Beitrag zur Philosophie der
Naturwissenschaften. Berlin 1878. Th, Grieben.
Die gründlichere erkenntnisstheoretische Untersuchung de»
502 Selbstanzeigen.
Zweckbegriffs föbrt den Verfasser zu dem Ergebniss, dass auch
eine wissenschaftliche Philosophie, welche sich die Entwicke-
lung und Lösung immanenter Probleme zur Aufgabe gestellt
hat, sowohl die Teleologie als heuristische Maxime (Kant) als
auch eine objective ^^den Erscheinungscomplexen immanente,
natürliche Teleologie^' anzunehmen veranlasst sei. Der Ver-
fasser kritisirt die Teleophobie des Materialismus und einiger
Naturforscher und führt zunächst den erkenntnisstheoretischen
Nachweis^ dass eben die Entwickelungslehre und insbesondere
die Zuchtwahltheorien Darwin's keineswegs die vermeintliche
Theorie der Zwecklosigkeit, sondern in unzweideutiger Weise
eine Theorie der immanenten natürlichen Teleologie enthalten,
die allerdings von den traditionellen teleologischen Irrvorstellun-
gen und „Weltansichten** toto genere verschieden sei,
Bilharz; Alf. Der heliocentrische Standpunkt
der Weltbetrach tu n^. Grundlegungen zu einer
wirklichen Naturphilosophie. Mit 13 Holzechn. Stutt-
gart, Cotta. (XVI und 326 S. 8».)
Das Sein tritt in das Bewasstsein des Erkennenden, wel-
cher am Sein participirt, aber nicht das ganze Sein ausfüllt,
unmittelbar oder durch innere Erfahrung als partielles Sein,
als individuelles Sein, als umgrenztes Sein, als gehemmtes
Sein , daher Drang zu Sein oder Wille zum Leben , kurz als
„Wille", dem ein anderer Drang zu Sein oder Wille entgegen-
steht. — Ist der Individualwille des erkennenden Subjects =
subjectiver Wille, weil Wollen und Erkennen im Ich oder dem
„Subjectpunct^* identisch vereinigt sind, so ist der entgegen-
stehende Wille = objectiver Wille, und so erhält man zwei
ganz verschiedene Subject-Object-Relationen , von denen die
eine die Welt des Bewusstseins, die andere die Welt des
Seins ausmacht und welche beide in dem „Pivotbegriff" des
Subjects zusammenstossen. — Die Grenze zwischen subjectivem
und objectivem Willen ist die reale Grundlage des Baumes,
der subjective Eaum also die nach innen gewendete (negative)
Hälfte derselben. Zeit ist der reciproke Werth des objec-
tiven Willens oder der Kraft. Beide werden im Denkact, der
hierdurch sich mit einem Willensact als identisch erweist,
nach auswärts umgedreht, und so wird das mit dem objectiven
Willen vollkommen übereinstimmende hüllenhafte , leere Vor-
stellungsgebilde hergestellt. — Hierdurch erweist sich die
Metaphysik als eine der Wissenschaft der sinnlichen Erfah-
rung vollkommen ebenbürtige — mit bestimmtem Forschungs-
feld (dem Subject), mit bestimmtem Umfang (ebendemselben,
Selbstaozeigea. 503
den die Welt des Binnlichen Erkennens hat), einem bestimm-
ten Inhalt (dem Willen und dessen Dependenzbegriffen) und
auch mit bestimmter Denkform^ nämlich der des logischen
Widerspruchs oder der contradictori sehen Attribute.
Denn indem die für äussere Erfahrung gültige Causalität
ebendesswegen für die innere nicht gelten kann, wir aber
doch die gsinz auf Causalität gebaute Sprache nicht missen
können y so vermag nur die Zulassung des contradictorischen
Gegentheils einer Bestimmung den begangenen unvermeidlichen
Fehler auszugleichen, — Indem hier der Widerspruch legitim
gemacht wird, löst sich das Problem der Willensfreiheit, und
in dem auf den immanenten Gegensatz im metaphysischen
Wesen sich gründenden „ethophysi sehen" Gesetz der Er-
haltung des Willens ist das Fundament der Moral ^ als einer
immanenten Wissenschaft, aufgefunden.
JjBBSy Ernst. Idealismus und Positivismus. Eine
kritische Auseinandersetzung. Erster, allgemeiner und
f rundlegender Theil. Berlin, Weidmännische Buchhand-
mg, 1879. 275 S.
Unter Anknüpfung an Piatons Theaetet und den in
diesem Dialog dargestellten Gegensatz gegen die sensualisti-
schen, heraklitisirenden imd relativistischen Leh-
ren, welche daselbst mit dem Namen des Protagoras be-
zeichnet worden sind, werdender platonische „Idealis-
mus** und sein Widerspiel — für das letztere wird der Ter-
minus „Positivismus" verwerthet — in ihren ursprüng-
lichen Gestalten vorgeführt und in die hervorragendsten und
der wissenschaftlichen Berücksichtigung werthesten Entfaltungen
und Weiterbildungen verfolgt, welche bisher stattgefunden haben.
Die Voraussetzung ist, dass die Geschichte der Philosophie
keinen fundamentaleren Gegensatz aufzuweisen hat,
als den, welcher mit diesen beiden Standpunkten gegeben ist.
Es wird eine kritische Auseinandersetzung zwischen
ihnen beabsichtigt. Die philologisch-historischen Fra-
gen, wie z. B. die, in wie weit die Lehren, welche Piaton be-
kämpft, wirklich protagoreischen Ursprungs seien, werden nur
80 weit erörtert, als es der philosophischen Aufgabe dien-
lich zu sein scheint. Der vorliegende erste Theil hält
sich, nachdem das Thema ausgesponnen ist, vorzugsweise an
die allgemeinen und principiellen Gharakterzüge des
aufgestellten Gegensatzes. Unter den Flatonikem sind an
erster Stelle Aristoteles und Kant berücksichtigt; nächst
ihnen Descartes, Leibnitz, Fichte, Schelling, He-
504 Philo8ophi8che Zeitschriften.
gel, Cousin, Hamilton and Andere. Den beiden folgenden
Theilen ist es aufbehalten ^ die kritisohe Auseinandersetzung
zwischen den beiderseitigen Principien in das Gebiet der Ethik
und Wissenschaft sichre zu verfolgen. Doch drängt
schon jetzt die Discussion der zu Gunsten des Platonismua
Torgebrachten allgemeinen Argumente^ sowie die Dar-
legung der hinter ihm treibenden Gefühle und Bedürf-
nisse und der sichtbar gewordenen praktischen Folgen
zu dem Ergebnisse dass der platonische Idealismus zwar
psychologisch sehr wohl begreiflich und dem mensch-
lichen Gemüthe in hohem Grade sympathisch, aber auch
wissenschaftlich durchaus unbegründbar und zu nicht
geringem Theile culturgefährlich sei; und dass anderer-
seits kein Grund zu finden ist, der nöthigte, den Boden des
Positiyismus zu verlassen; dass insonderheit keines der dem
gebildeten Menschengeiste werthvollen und unentbehrlichen
Ideale in Gefahr geräth, wenn man die platonisch-
romantische Flucht in ein „höheres^', unerfahr-
bares Sein von sich fem hält.
Philosophische Zeitschriften.
Philosophische Monatshefte.
Band 15, Heft 4 und 5: H. Hoff ding: Die Philosophie
in Schweden. — E. Wille: Ueber das Nirgendssein der
Vorstellungen. — W. Schuppe, Erkenntnissth. Logik; bespr.
von J. Witte. — M. Kahler, Das Gewissen; bespr. von
G. Knauer. — F. v. Baerenbach, Grundlegung der krit.
Philosophie; bespr. von A. Richter. — Th. Vogt, J. Kant
über Pädagogik; bespr. von C. S. Bar ach. — Litteratur-
bericht: Huber; Spir; Lyng; Windelband; Siebeck; Sobczyk;
Confucius, deutsch von Plaenckner; Vogel. — Bibliographie
von F. Ascherson. — Vorlesungen. — Aus Zeitschriften. —
J. Huber's Nekrolog von F. Jodl. — Miscellen.
Zeltschrift für Philosophie und philosophische Kritik.
Band 75, Heft 1: G. Glogau: üeber die psychische
Mechanik. — K. Falckenberg: Ueber den intelligiblen
Charakter. — L. Weis: J. Sengler (2te Hälfte). — Eecen-
sionen: E. Zeller, Vorträge und Abhandlungen. II.; von Fr.
Hoffmann. — Fr. v. Baerenbach, Prolegomena zu einer
Philosophische Zeitschriften. 505
anthropologischen Philosophie ; von demselben. — Schriften zur
Aesthetik: S. A. Byk, Die Psychologie des Schönen; K. Eöst-
lin, lieber den Schönheitsbegriff; S. Eubinstein, Psychologisch-
ästhetische Essays; C. IN'eudecker; Studien zur Geschichte der
deutschen Aesthetik seit Kant; von M. Carriere. — M. La-
zarus, Geist und Sprache; von G. Glogau. — R. Avenarius,
Philosophie als Denken der Welt etc.; von J. Rehmke. —
Herder's sämmtl. Werke, hrsg» von B. Suphan, Bd. I u. II;
von Fr. v. Baerenbach. — V. di Giovanni, H^tmann e
Miceli; von H. XJlrici. — Kaufs Kr. d. Urtheilskraft und
Kr. der prakt. Vernunft, hrsg. von K. Kehrbach; von dem-
selben. — C. Goebel, Prof. Helmholtz* Rede über das Denken
in der Medicin und die Aufgabe der Philosophie; und 0. Cas-
pari, Virchow und Haeckel vor dem Forum der methodologischen
Forschung; von demselben. — In Sachen der wissenschaftlichen
Philosophie. Erklärung von H. Ulrici. — Entgegnung von
Th. V. Varnbüler. — Notizen. — Bibliographie,
Bevue Philosophique de la France et de l'Etranger.
Jahrgang 4, Heft 5: D. Nolen": Les maitres de Kant. I. —
Straszewski: Herbart : sa vie et sa philosophie d'apräs des
publications r^centes. — Th. Beinach: Le nouveau livre de
Hartmann sur la morale (2® art.). — Analyses et comptes ren-
dus: Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung. Spir,
Denken und Wirklichkeit; Dupont White, Fragments philoso-
phiques; Herzen, La condizione fisica della coscienza. — Eevue
des periodiques etrangers.
Heft 6: G. S^ailles: La science et la beaut^: Travaux
r^cents sur l'esth^tique. — Th. Bein ach: Le nouveau livre
de Hartmann sur la morale (fin). — Straszewski: Her-
bart (fin). — Notes et documents: Histoire de la Sensation
^lectrique, par G. Pouche t. — Analyses et comptes rendus:
Franck, Philosophes modernes; Maillet, L^essence des passions;
Mac Cosh, The laws of discursive thought. — Correspondance :
La conscience et la desintegration, par A. H e r z e n. — Revue
des periodiques. — Une enquete esthdtique: Les sons et les
Couleurs.
Heft 7: A. Fouill^e: La philosophie des idees-forces
(1®^ art.), — L. Liard: Theorie de la science et de Tinduc-
tion d'apres Whewell. — A. Baudouin: Histoire critique de
Jules Cdsar Vanini (1®' art). — F. Paulhan: L'erreur et la
s^lection (1^ art.). — Analyses et comptes rendus : E. Egger^
Observations et rdflexions. sur le d^veloppement de l'intelli-
gence et du langage chez les enfants; A. Baiu; Education as
VierteljahrsscliTift f. wissenschaftl. Philosophie. III. 4. 33
506 Philosophische Zeitschriften.
a Bcience; Fr. Harms ^ Die Philosophie in ihrer Geschichte;
H. Siebeck, La conscience consid^r^e comrae limite de la con-
naissance naturelle; H. Berg^ Le plaisir musical; J. Lnys, Etüde
Bur le d^doublement des Operations cdr^brales etc. — Notices
bibliographiques : Eunape; Frege; Jellinek; Herzen.
Heft 8: D. Nolen: Les maitres de Kant IL Newton. —
L. Carrau: Le dualisme de Stuart Mill. — A. Baudouin:
Histoire critique de Vanini (2® art.). — F. Paulhan: L'erreur
et la s^lection (2 ® art.). — Analyses et comptes rendus : Asti^,
Melanges de th^ologie et de philosophie; Windelband , Ge-
schichte der neueren Philosophie (t. I.) ; G. Martins, Zur Lehre
vom Urtheil; Turbiglio, Le antitesi tra il medioevo e Teta
moderna. — Revue des periodiques ^trangers.
La Philosophie Positive.
Jahrgang 12, Heft 1: H. Stupuy: Deux mesures oppor-
tunes. — £. Littr^: Gomment, dans deux situations histo-
riques, les S^mites entrerent en comp^tition avec les Aryens
pour rh^g^monie du monde, et comment ils y faillirent. —
R. Jeudy: Faits psychometriques. — L. Arr^at: La con-
science dans le drame (suite). G. S. : La rose. Eltude esthe-
tique (fin). — H. Boens: La criminalit^ au point de vue so-
cialogique. — E. dePompery: Un cas de socialisme pra-
tique. — A. Wilhem: Les deux morales de Tetat. — P.
Petroz: Salon de 1879. — ]fe. Littr^: Exp^rience r^tro-
spective au sujet de notre plus r^cente histoire. — Biblio-
graphie.
Mind.
Heft 15: Grant Allen: The Origin of the Sense of
Symmetry. — W. James: The Sentiment of Bationality. —
C. Kead: K. Fischer on English Philosophy. — J. N, Key-
nes: On the Position of Formal Logic. — A. Bain: J. St.
Mill. (n.) — F. C. Edgeworth: The Hedonical Calculus. —
Notes: The so-called Idealism of Kant, by H. Sidgwick;
AUeged Suicide of a Dog, by H. Maudsley; Experiments
with Human Beings, by G. C. Robertson. — Critical No-
tices: Grant Allen's Colour-Sense, by J. Sully; Courtney*s Meta-
physics of J. S. Mill, by G. C.Robertson; Sigwart's Logik,
by J. Venu; Lotsij's Spinoza's Wijsbegeerte, by F. P o 1 1 o c k. —
New Books. — Miscellaneous.
La Filosofla delle Souole Italiane.
Band 19, Heft 3: T. Mamiani: Della preghiera religiosa
e come e quando sia efficace. — L. Ferri: ll trattato di
Cicerone sui doveri. — Fr, L. Pull^: Dei sistemi filosofici
Bibliographische Mittheilangen. 507
deir India. — B. Bobba: La dottrina della libertä secondo
Spencer in rapporto coUa morale. — Bibliografia : A. L. Kym ;
C. Cantoni; G. Barco; A. Conti e G. Bossi; E. 0. Burman;
L. Polacco; A. Torre; F. v. Baerenbach. — Periodici di filo-
Bofia. — Notizie. — Becenti pubblicazioni.
Bibliographische Mlttheilnngen.
Alaax (J. •£•).! — De la Metaphyedque ooncdderee comme scienoe.
In-8. 7 fr. 60.
Aristote — M^tapbysique« traduite en f^ancais, aveo des notes
perp^tuelles« par Barthelemy-Saint-Hilaire. 3 vol. iii-8. 30 fr.
Aristotelis physica. Reo. Card. Prantl. 8. (VI, 211 S.) Leipzig,
Teubner. 1. 50.
Bacon (Francis). — Aocount of Life and Times of. Extracted
trom Occasional Writings bj James Spedding. 2 vols. Cr. 8to. 11, 1 s.
Bacon's Essays. Text only, with Index. Bj Edwin A. Abbott,
D.D. ISmo. 28. 6(2.
Bacon's Essays, XXXII— LYIIL With Introduotion and Notes
by Rev. Henry Lewis. Fcp. Is. ßd, Complete, fcp. 2 s. ßd,
Bahnsch, Dr. Frdr. des Epicureers Fhilodemus Schrift Ilegl
arifXBCtov xal arifÄSuoaetov. Eine Darlegg. ihres Gedankengehalts,
gr. 8. (38 S.) Lyck, Wiebe. 1. —
Bain's (Dr. Alexander) Education as a Science. Cr. 8yo. 5 s.
(International Scientific Series.)
Baltzer, Ed., Empedocles* Eine Studie zur Philosophie der
Griechen, gr. 8. (III, 163 S.) Leipzig, Eigendorf. 2. 40.
Bartels, Dr. Erich, üb. Systembildung. Philosophische Studie,
gr. 8. (63 S.) Berlin, Grieben. 1. 20.
Bechtel, Fritz, üb. die Bezeichnungen der sinnlichen Wahr-
nehmungen in den indogermanischen Sprachen, gr. 8. (XX,
168 S.) Weimar, Böhlau. 5. —
Bergmann, Prof. Dr. J., allgemeine Logik. [In 2 Thln.] 1. Tbl.
A. u. d. T.: Keine Logik, gr. 8. (VIII, 434 S.) BerKn,
Mittler & Sohn. 8. —
Berkeley's Abhandlungen üb. die Principien der menschlichen.
Erkenntniss. Ins Deutsche übers, u. m. erläut. u. prüf. Anmerkgn.
versehen v. weil. Prof. Dr. Frdr. Ueberweg. 2. Aufl. 8. (XW,
149 S.) Leipzig, Koschny. 1. —
Berkeley — Selections from. With Introduction and Notes by
Alexander Campbell Fräser, LL.D. 2nd Edit Cr. Svo. 7 a. 6(2.
Bianconi (G. Giuseppe). La teoria darwiniana e la creazione
detta indipendente« seconda edia. riveduta» con 21 tavole;
in-8, pag. 464. Bologna 1879. L. 10. —
33*
508 Bibliographische Mittheilungen.
Billiarz, Dr. Alf., der heliooentrlBche Standpunkt der Welt-
betrachtung. Grnndlegangen zu e. wirkl. Naturphilosophie. Mit
13 Holzscbn. gr. 8. (XVI, 326 S.) Stuttgart, Cotta. 6. —
Broehard, Prof. Tict«, de assensione Stoici quid senserint dis-
quisivit. gr. 8. (53 S.) Farisiis (Nancy, Berger-Levrault & Co.)
1. 92.
Carpenter's (Dr. William B.) Frinciplea of Mental Fhysio-
logy. 5th Edition. Cr. 8vb. 12 s.
Carran (L.)« — liltudes sur la theorie de l'evolution aux
Points de vue psychologique , religieux et moral. In- 12.
3 fr. 50.
Class, Prof. Dr. G«, üb. d. Frage nach dem ethischen Werth
der Wissenschaft. Akademische Antrittsvorlesg. gr. 8. (16 S.)
Erlangen, Deichen. — 30.
Conrtney's (W. L.) The Metaphysics of John Stuart Mill.
Cr. 8vo. 5 s. 6(2.
Bahn, Prof. Dr. Felix , die Vernunft im Recht. Grundlagen der
Bechtsphilosophie. gr. 8. (XII, 220 S.) Berlin, Janke. 4. —
Barwin's (Charles) The Descent of Man. 2nd Edition. Cr.
8vo, 9 s.
Benls (J*). — Histoire des theories et des idees morales dans
l'antiquite. 2e Edition. 2 vol. in-8. 10 fr.
Espinas Dr. Alfr.» die thierischen Oesellsohaften. Eine ver-
gleichend-psycholog. Untersuchg. Nach der vielfach erweit. 2. Aufl.
unter Mitwirkg. d. Verf. deutsch hrsg. v. W. Schlosser. Autoris.
Ausg. gr. 8. (Xni, 561 S.) Braunschweig, Vieweg & Sohn. 10. —
Feehner, Gust* Thdr«^ die Tagesansicht gegenüber der Nacht-
EDSicht. gr. 8. (VI, 274 S.) Leipzig, Breitkopf & Härtel. 5. 50.
Feuerbaeh^ Ludwig. Ausspruche aus seinen Werken, gesammelt
V. Leonore Feuerbach. 8. (IX, 165 S.) Leipzig, O. Wigand.
2. —
Flint's (Dr. Bobert) Anti-Theistic Theories: being the Baird
Iiecture for 1877. Cr. 8va. 10 s. 6(2.
Focke^ Bud.) der Causalitätsbegriff bei Fichte. Inaugural-Disser-
tation. gr. 8. (59 S.) Königsberg (Härtung). 1. 65.
Franck (Ad.)* — Fhilosophes modernes etrangers et fran9ai8.
In-12. 3 fr. 50.
Frantz^ Const«^ Schellings positive Philosophie, nach ihrem In-
halt, wie nach ihrer Bedeutung f. den allgemeinen Umschwung der
bis jetzt noch herrschenden Denkweise, f. gebildete Leser dargestellt.
1. allgemeiner Thl. gr. 8. (XVI, 275 S.) Köthen, SchetÜer's
Verl. 5. —
Oermain (Sophie). — Oeuvres philosophiques, suivies de pens^es
et de lettres in^dites, et d'une notice par H. Stupuy. In-12. 4 fr.
Gnyan. — La morale anglaise oontemporaine. Morale de Tuti-
lit^ et de T^volution. In-8. 7 fr. 50.
Hellenbach , Lazar B.^ die Vorurtheile der Menschheit. 1. Bd.
gr. 8. (VII, 364 S.) Wien, Bosner. 6. —
Bibliographische Mittheilongen. 509
Hennlngr, Arendt der Sceptioismas Montaigne's u. seine ge-
BChichtliche Stellung. Inaugural - Dissertation, gr. S. (51 S.)
Jena, (Nenenhahn). 1. —
Holf^ann^ Prof. Dr. Frz«^ philosopbisohe Schriften. 6. Bd. gr. 8.
(VIT, 472 S.) Erlangen, Deichert. 6. -
Uohlfeld; Dr. Panl^ die Krause'sche Philosophie in ihrem ge-
schichtlichen Zusammenhange u. in ihrer Bedeutung f. das
Geistesleben der Gegenwart. Von der philosoph. Facultät der
Universität Jena gekrönte Freisschrift, gr. 8. (XIV, 146 S.) Jena,
Costenoble. 4. —
Jalfre (le B* P«). — Cours de phüosophie adapte au Pro-
gramme du baocalaur^at ^s lettres. In-8. 7 fr.
Janitsch^ Jul.^ Elant's Urteile über Berkeley. Ein Beitrag zur
Kantphilologie, gr. 8. (57 S.) Strassborg, Astmann. 1. 20.
Isnard (\e Dr. F^lix). — Spijritualisme et materialisme. In- 12.
3 fr.
Last) £•) Mehr Iiioht! Die Hauptsätze Kant's n. Schopenhaner's in
allgemein yerständl. Darlegg. 3. Anfl. 8. (304 S.) Berlin, Grieben.
5. —
Le Bon (le Dr. Gnstaye)* — L'Homme et les societ^s, leurs
origines et leur histoire. Premiere partie. Developpement phy-
siqne et intellectuel de Thomme. Avec 87 gravures. Liyr. I. Gr.
in-8. 1 fr.
LeibniZ) Gottfr. Wilh«, philosophische Schriften. Hrsg. von
C. J. Gerhardt. 2. Bd. 4. (594 S.) Berlin, Weidmann. 18. —
Letoameau (Ch.)« — Science et materialisme. In- 12. 4 fr. 50. —
Lowes' (George Henry) Problems of Life and Mind. 3rd Se-
rieö. Problem the First: The Study of Psyohology. 8vo. 7«. 6d
Littr^ (£•)* " Conservation, r^volution et positivisme. 2. Edi-
tion angment^e. In- 12. 5 fr.
Mandsley's (Dr. H.) The Pathology of Mind. 3rd. Edition. 8yo.
185.
Maudsley (Henry), — Physiologie de l'esprit. Trad. de l'anglais
par Alexandre Herzen. In-8. Cart. 10 fr.
Melzer^ Dr. Ernst, die Lehre v. der Autonomie der Vernunft
in den Systemen Kant's u. Oünther's. Nebst e. Anh. üb.
£. y. Hartmann*8 ,, Phänomenologie d. sittl. Bewusstseins*^ gr. 8.
(II, 105 S.) Neise, Gravenr's Verl. 1. —
Möbias, Prof. Dr. Karl, üb. die Goethe* sehen Worte: „Leben ist
die schönste Erfindung der Natur u. der Tod ist ihr Kunst-
griff viel Leben zu haben". Rede beim Antritt d. Rectorats an
der kÖDigl. Universität zu Kiel, geh. am 5. März 1879. 4. (16 S.)
Kiel, Universitäts-Buchhandlung. 1. —
Molesehott, Jae., die Einheit der Wissenschaft aus dem G-e-
siohtspunkte der Lehre vom Leben. Antrittsrede znr Eröffng.
seiner Vorlesgn. üb. Physiologie an der Sapienza in Born , geh. am
11. Jan. 1879. 8. (40 S.) Giessen, Roth. 1. -^
Nietzsche» Frdr., Menschliches, Allzumenscblichee. Ein Buch
'
510 Bibliographische Mittheilungen.
f. Areie Geister. Anhang: Vermischte Meingn. n. Spräche, gr. 8.
(163 S.) Chemnitz, Schmeitzner. 5. —
Noir^9 Lndw«, Max Müller u. die Sprach-Philosophie. Mit dem
(rad.) Bilde M. MüUer's. gr. 8. (VII, 107 S.) Mainz, v. Zabem. 2. 40.
Peip^ weil. Prof. Dr. Alb«^ Beligionsphilosophie. Nach dessen
akadem. Vorlesgn. hrsg. y. Dr. Thdr. Hoppe, gr. 8. (XII, 464 S.)
Gütersloh, Bertelsmann. 8. —
Penjon (A.). — O. Berkeley, 6vSque de Cloyne, sa vie et ses
Oeuvres. In-8. 7 fr. 50.
Perty^ Prof. Dr. Max, Erinnerungen aus d. Leben e. Natur- u.
Seelenforschers d. 19. Jahrh. gr. 8. (VIII, 486 S. m. Portr. in
Stahlst.) Leipzig, C. F. Winter. 7. —
Peschel) Dr. Max, Aphorismen zur kantiechen Philosophie.
nebst Andeutg. e. positiven metaphys. Standpunktes, gr. 8. (52 S.)
Basel, Schwabe. 1. 20.
Pfleiderer, Prof. Dr. Edm., zur Ehrenrettung d. Eudämonis-
mus. gr. 4. (32 S.) Tübingen (Fues). 1.' 20.
Philp, Bnd«, Lebensphilosophie. Vortrag. 8. (31 S.) Hermann-
Stadt, Michaelis. — 70.
Prenss, Wilh. H«, die psychische Bedeutung d. Lebens im
Universum. Besnltate e. philosoph. Natnrforschg. üb. den kosm.
Ursprung d. Lebens, d. Entstehg. d. Menschen u. der Arten im Thier-
u. Pflanzenreiche, gr. 8. (IV, 54 S.) Oldenburg, Schulze. 1. —
Proelss, Bob«, vom Ursprung der menschlichen Erkeimtniss.
Eine psychologische Untersuchg. gr. 8. (XVI, 282 S.) Leipzig,
Schlicke. 8. —
Badestocjc, Panl, Schlaf u. Traum. Eine physiologisch-psycholog.
Untersuchg. gr. 8. (XI, 330 S.) Leipzig, Breitkopf & Härtel. 7. —
Begnaud (P.). — Mat^riaux pour servir k l'histoire de la
Philosophie de l'Lide. 2« partie. In-8. 10 fr.
Blbot (Th.). — La Psychologie allemande contemporaine
(iicole experimentale). In-8. 7 fr. 50.
Biehl, Prof. A*9 der philosophische Kriticismus u. seine Be-
deutung f. die positive Wissenschaft. 2. Bd. 1. Tbl. Die
sinnl. u. log. Grundlagen der Erkenntniss. gr. 8. (VII, 292 S.)
Leipzig, Engelmann. 7. —
Sammlung physiologischer Abhandlungen, hrsg. v. W. Preyer.
2. Serie. 5. Hft. gr. 8. Jena, Fischer. 1. 60.
Inhalt: Wie orientiren wir uns im Baum durch den Gesichtssinn? Von
Dr. Aug. Classen. (46 S. mit 1 Tab.)
Sammlung von Vorträgen. Hrsg. v. W. Frommel u. Frdr. Pf äff.
1. Bd. 5. Hft. gr. 8. Heidelberg, C. Winter.
Inhalt: Ueber den Werth d. Lebens. Von Prof. Dr. C. Schaarschmidt.
(24 S.) —60.
SeMeiermaelier's, Fr«, Beden üb. die Beligion. Erit. Ausg. Mit
Zugrundelegg. d. Textes d. 1. Aufl. besorgt v. Dr. G. C h. B e r n h. P ü n j er.
gr. 8. (XVI, 306 S.) Braunschweig, Schwetschke & Sohn. 4. 80.
Sehmidy ülr« Bud., der Streit wider den unbewussten Atheis-
mus dieser Zeit, auf Veranlassg. y. Otto Pfleiderer's neuester Be-
Bibliographische Mittheilungen. 511
ligionsphilosophie n. Vortrag üb. Christenthum u. Natarwissenschaft
fortgesetzt. 2. verm. Ausg. gr. 8. (34 S.) München, Th. Acker-
mann. — 40.
Schwegler's (Dr. Albert) Handbook of History of Philosophy.
Translated bj J. Hutchison Stirling, M.D. 7th. Edit Fcp. 6 s.
Sosmini Serbati's, Antonio, philosophisches System. Uebers. aus
dem Ital. nach der neuesten Ausg. gr. 8. (IV, 136 S.) Begensburg,
Manz. 2. —
Sieiliani (Pietro). Socialismo, Darwinismo e sociologia
moderna; in-16, pag. 98. Bologna 1879. L. 1. 25.
Siebeck, Prof. Dr. Herrn., über das Bewusstsein als Schranke
der Natur-iEirkenntniss. Programm zur Bectoratsfeier der Uni- .
versität Basel, ^gr. 4. (28 S.) Basel 1878. (Gotha, F. A. Perthes.)
Sigwart, Dr. €hrph., der Begriff d. WoUens u. sein Verhält-
niss zum Begriff der Ursache. 4. (42 S.) Tübingen (Fues).
1. 20.
Sigwart, Prof. Dr. Chrph«, Beiträge zur Lehre vom hypothe-
tischen Urtheile. gr. 4. (66 S.) Tübingen, Fues. 2. —
Strauss u. Tomey, Tict. t., Essays zur allgemeinen Religions-
wissenschaft, gr. 8. (224 S.) Heidelberg, C. Winter. 6. —
Stricker, Prof. Dr. S., Studien üb. das Bewusstsein. gr. 8.
(VI, 99 S.) Wien, Braumüller. 2. 40.
Susemihl, Franc, de recognoscendis ethicis Nicomacheis dis-
sertatio II. 4. (19 S.) Berlin, Calvary & Co. 1. 20.
TeiehmttUer, Prof. Dr. Gust«, neue Studien zur G-esohiolite
der Begriffe. 3. Heft. Die prakt. Vernunft bei Aristoteles, gr. 8.
(XVn, 453 S.) Gotha, F. A. Perthes. 9. -
Teichmüller, Prof. G., über die Unsterblichkeit der Seele.
2. Aufl. gr. 8. (XVI, 244 S.) Leipzig, Duncker & Humblot 4. 40.
TIberghien (G.) — Psychologie ^lementaire. La Science de
Täme dans les limites de Tobservation. 3. Edition. In-8. (Bruxelles.)
6 fr.
Tsehofen, Joh.Mich«, die Philosophie Arthur Schopenhauer's
in ihrer Relation zur Ethik, gr. 8. (77 S.) München, Th.
Ackermann. 1. 40.
Ulrici, Prof. Dr. H., der sogenannte Spiritismus e. wissen-
scbaftliche Frage. [Aus: „Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik*^.]
gr. 8. (34 S.) Halle, Pfeffer. — 80.
Ulrici, Prof. Dr. H«, üb. den Spiritismus als wissenschaftliche
Frage. Antwortschreiben auf den offenen Brief d. Herrn Prof.
Dr. W. Wundt. gr. 8. (28 S.) Halle, Pfeffer. — 60.
Verhandlungen der philosophischen Gesellschaft zu Berlin. 13. u.
14. Heft. gr. 8 Leipzig, Koschny. 1. 20.
Inhalt: Ueber die neneste Schrift E. v. Hartmann^s: Phänomenologie d.
sittlichen Bewnsstseins. Prolegomena zu jeder künftigen Ethik. Ein Vor-
trag, geh. am 10. Noybr. 1878 in der „Philosoph. Gesellschaft*' zu Berlin
von J. H. T. Eirchmann. Nebst der dabei stattgefnndenen Dis-
cossion. (79 S.)
512 Bibliographische MittheiluDgen*
Toity Prof. Dr. Carl t«; üb. die JSntwioklung der Erkenntniss.
Kede an die Studirenden beim Antritte d. Rectorates der Ludwig-
Maximilians-UniTersität, geh. am 23. Novbr. 1878. gr. 8. (29 S.)
München, Bieger. 1. —
Wegener^ Dr. Ed«^ zum Zusammenliang v. Sein u. Denken*
Ein Beitrag zur Theorie e. vierten Hanmdimension. gr. 8. (23 S.)
Leipzig, Mutze. 50. —
Wegweiser zur Philosophie Arthur Schopenhauer's. gr. 8. (52 S.)
Chemnitz, Schmeitzner. 1. —
Wimmer^ J.^ zur Frage üb. die Abstammung d. Menschen.
Erkenntnisstheoretisches u« Psychologisches, gr. 8. (14 S.) Leipzig,
O. Wigand. —50.
Wnnder) Herrn« L.^ Annaeus Seneca quid de dis senserit
exponitur. 4. (21 S.) Grimma (Gensei). — 80.
Wnndt^ Prof. W«^ der Spiritismus. Eine sogenannte wissenschaftl.
Frage. Offener Brief an Herrn Dr. Herm. Ulrici in Halle, gr. 8.
(31 S.) Leipzig, Engelmann. — 50.
Zlmmermami^ Bob.^ Lambert, der Vorgänger Kant's. Ein Bei-
trag zur Vorgeschichte der Kritik der reinen Vernunft. [Ans:
„Denkschr. d. k. Akad. d. Wiss."] Imp.-4. (78 S.) Wien, Gerold's
Sohn. 3. •—
Der frühe redactionelle Abschlnss vorliegenden Heftes hat verhin-
dert, die Erwiderung des Herrn Ad. Horwicz auf den Artikel
des Herrn W. Wundt „Psychol. Thatsachen und Hypothesen" unseren
geehrten Lesern bereits in diesem Hefte mitzutheilen ; die Veröffent-
lichung wird nun sofort im nächsten Heft erfolgen.
Der Herausgeber.
Bitte
betreffend die „Selbstanzeigen".
Die Bedaction richtet an die Herren Autoren, welche die Ver-'
Öffentlichung einer „Selbstanzeige" wünschen, das dringende Ersuchen:
die „Selbstanzeigen" in dem Charakter halten zu wollen, welcher als
der allein zwe(;kentsprechende in dieser Zeitschrift, Heft I, S. 119 f.
dieses Jahrg., ausführlicher dargelegt worden ist Ebenso dringend wird
die Bitte wiederholt: den Baum von Vs — V2Sl^"^^'^s®**® nicht zu über-
schreiten und, da den Herren Autoren Abzüge zur Revision nicht vor-
gelegt werden können, sowohl die Titelangabe als den Text der „Selbst-
anzeige" in deatlich lesbarer Handschrift einzusenden.
Pierer^Bche Hofbuclidnickerei. Stephan Geibel & Co. in Altenbarg.